AUDIODESKRIPTION UND KULTUR- SPEZIFISCHE ELEMENTE VON ZWEI FILMEN ÜBER DIE DDR: GOOD BYE, LENIN! (2003) UND DAS LEBEN DER ANDEREN (2006)

Aantal woorden: 17.795

Fien De Bruycker Studentennummer: 01401228

Promotor: Prof. dr. Hildegard Vermeiren

Masterproef voorgelegd voor het behalen van de graad master in het vertalen

Academiejaar: 2017 – 2018

AUDIODESKRIPTION UND KULTUR- SPEZIFISCHE ELEMENTE VON ZWEI FILMEN ÜBER DIE DDR: GOOD BYE, LENIN! (2003) UND DAS LEBEN DER ANDEREN (2006)

Aantal woorden: 17.795

Fien De Bruycker Studentennummer: 01401228

Promotor: Prof. dr. Hildegard Vermeiren

Masterproef voorgelegd voor het behalen van de graad master in het vertalen

Academiejaar: 2017 – 2018

Verklaring i.v.m. auteursrecht De auteur en de promotor(en) geven de toelating deze studie als geheel voor consultatie beschikbaar te stellen voor persoonlijk gebruik. Elk ander gebruik valt onder de beperkingen van het auteursrecht, in het bijzonder met betrekking tot de verplichting de bron uitdrukkelijk te vermelden bij het aanhalen van gegevens uit deze studie.

Het auteursrecht betreffende de gegevens vermeld in deze studie berust bij de promotor(en). Het auteursrecht beperkt zich tot de wijze waarop de auteur de problematiek van het onderwerp heeft benaderd en neergeschreven. De auteur respecteert daarbij het oorspronkelijke auteursrecht van de individueel geciteerde studies en eventueel bijhorende documentatie, zoals tabellen en figuren.

VORWORT Gern möchte ich beim Anfang dieser Masterarbeit einigen Personen danken, die mir bei dieser Masterarbeit begleitet haben.

Erstens möchte ich meiner Promotorin, Prof. Dr. Hildegard Vermeiren, für die gute Betreuung meinen Dank aussprechen. Sie stand immer bereit und hat mir hindurch der Arbeit viele Hinweise gegeben. Daneben möchte ich auch Herrn Christophe Wybraeke für die Sprachberatung danken.

Zweitens möchte ich mir bei meinen Befragten und Frau Constanze Glien für ihre Zeit und Mühe bedanken. Ohne ihre Mitarbeit war diese Studie nicht gelungen.

Zuletzt möchte ich meinen Eltern und meinen Freunden für die Motivierung und Unterstützung danken.

Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen beim Lesen dieser Masterarbeit.

INHALTSVERZEICHNIS

1 Einführung ...... 13 2 Theoretischer Hintergrund ...... 17 2.1 Audiodeskription ...... 17 2.1.1 Umschreibung ...... 17 2.1.2 Geschichte der Audiodeskription und Einführung in Deutschland ...... 17 2.1.3 Grundlegende Konzepte der Audiodeskription ...... 19 2.2 Genre ...... 22 2.2.1 Umschreibung ...... 22 2.2.2 Genre und Audiodeskription ...... 22 2.2.3 Komödie ...... 23 2.2.4 Drama ...... 23 2.2.5 Richtlinien in Bezug auf Genre ...... 24 2.2.5.1 Richtlinie 1 ...... 25 2.2.5.2 Richtlinie 2 ...... 26 2.2.5.3 Richtlinie 3 ...... 26 2.3 Kulturspezifische Elemente ...... 27 3 Methodologie ...... 31 3.1 Filme genauer erklärt ...... 33 3.1.1 Korpus ...... 33 3.1.2 Filminhalt Good Bye, Lenin! (2003) ...... 34 3.1.3 Filminhalt Das Leben der Anderen (2006) ...... 34 3.1.4 Presseberichten und Rezensionen ...... 35 3.2 Kulturspezifische Elemente ...... 37 3.2.1 Good Bye, Lenin (2003) ...... 38 3.2.1.1 Richtlinie 1 ...... 38 3.2.1.2 Richtlinie 2 ...... 50 3.2.1.3 Richtlinie 3 ...... 52 3.2.2 Das Leben der Anderen (2006) ...... 53 3.2.2.1 Richtlinie 1 ...... 53 3.2.2.2 Richtlinie 2 ...... 65 3.2.2.3 Richtlinie 3 ...... 67 3.3 Hypothese ...... 69 3.4 Umfrage ...... 70 3.4.1.1 Good Bye, Lenin! (2003) ...... 71

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3.4.1.2 Das Leben der Anderen ...... 73 4 Schlussfolgerung ...... 75 5 Diskussion ...... 79 6 Literaturverzeichnis ...... 81 7 Anlagen ...... 83 7.1 Umfrage ...... 83 7.2 Audiodeskription Good Bye, Lenin! (2003) ...... 86 7.3 Audiodeskription Das Leben der Anderen (2006) ...... 131

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ABSTRACTS Nederlands: Deze studie onderzoekt de weergave van cultuurspecifieke elementen in de audiodescriptie van twee films over de Duitse Democratische Republiek (DDR): Good Bye, Lenin (2003) en Das Leben der Anderen (2006). Er werd gezocht welke cultuurspecifieke elementen in de twee films voorkomen, hun beschrijvingen werden uit de audiodescriptie gefilterd en ze werden in drie categorieën ingedeeld: symbolische objecten, filmtaal en stereotype figuren. Na de analyse werd verondersteld dat de audiodescriptie deze elementen niet voldoende beschreef. Om deze hypothese te bekrachtigen of te weerleggen werden twee Duitstaligen verzocht de audiodescriptie van de twee films te beluisteren en een vragenlijst in te vullen. Uit hun antwoorden bleek dat ze de films en de cultuurspecifieke elementen goed begrepen hadden, maar vooral omdat die informatie uit andere akoestische kanalen duidelijk werd. Daarom worden enkele richtlijnen voorgesteld, zodat deze elementen in de toekomst voldoende aandacht krijgen in de audiodescriptie. Ten eerste zou de audiodescriptor zich in de cultuurspecifieke elementen moeten verdiepen om ze beter te kunnen weergeven aan het blinde publiek. Daarnaast zou hij meer subjectieve adjectieven moeten gebruiken en als laatste zou hij meer aandacht moeten schenken aan de beschrijving van de cultuurspecifieke elementen en de minder relevante beschrijvingen weglaten. (195 woorden)

Deutsch: Diese Studie untersucht die Wiedergabe kulturspezifischer Elemente in der Audiodeskription von zwei Filmen über die Deutsche Demokratische Republik (DDR): Good Bye, Lenin! (2003) und Das Leben der Anderen (2006). Es wurde gesucht welche kulturspezifischen Elemente in den beiden Filmen erscheinen, ihre Beschreibungen wurden aus der Audiodeskription gefiltert und sie wurden in drei Kategorien aufgeteilt: symbolische Objekte, Filmsprache und stereotype Figuren. Nach der Analyse wurde angenommen, dass die Audiodeskription diese Elemente nicht ausreichend beschrieben hat. Um diese Hypothese zu bekräftigen oder zu widerlegen, wurden zwei Deutschsprachige gebeten, sich die Audiodeskription von den zwei Filmen anzuhören und eine Umfrage auszufüllen. Ihren Antworten zeigten, dass sie die Filme und die kulturspezifischen Elemente gut verstanden hatten, jedoch vor allem, weil die Information aus anderen akustischen Kanälen deutlich wurde. Deshalb werden einige Richtlinien vorgeschlagen, sodass diese Elemente in Zukunft in der Audiodeskription ausreichend berücksichtigt werden. Erstens sollte der Audiodeskriptor sich intensiver über die kulturspezifischen Elemente informieren, indem er sie dem blinden Publikum besser wiedergeben kann. Zweitens sollte er mehr subjektive Adjektive brauchen und zuletzt sollte er die Aufmerksamkeit mehr auf die kulturspezifischen Elemente lenken, und die weniger relevanten Beschreibungen weglassen. (185 Wörter)

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1 EINFÜHRUNG In Deutschland lebten Anfang der 1990er Jahre mehr als 150.000 blinde und 500.000 sehbehinderte Menschen. Diese Zahl ist nur eine Schätzung, denn diese Gruppe wird in Deutschland nicht gezählt. Die Weltgesundheitsorganisation WHO schätzte diese Zahl der betroffenen Personen jedoch höher (Allgemeiner Blinden- und Sehbehindertenverein , 2017). Heute ist die Zahl noch höher, denn eine steigende Lebenserwartung und die alternde Gesellschaft führen zu einer Zunahme der Sehgeschädigten und Blinden (Deutscher Blinden-und Sehbehindertenverband, 2018).

Ihre Behinderung beschränkt jedoch nicht solche Aktivitäten, die Sehende auch unternehmen. Genauso wie Menschen ohne visuelle Begrenzung machen sie Urlaub, treiben sie Sport und besuchen sie Konzerte, Museen und Ausstellungen. Denn auch sehbehinderte und blinde Menschen möchten die diversen Kulturangebote der Gesellschaft erleben (Dosch, 2004).

Neben den blinden- und sehbehinderten-spezifischen Angeboten und dem Programmangebot der verschiedenen Radiostationen in den Bereichen Bildung, Unterhaltung und Information, werden auch visuelle Medien wie Fernsehen, Kino, Video oder Theater in Anspruch genommen. Denn gleich nach dem Radio ist das Fernsehen die zweitwichtigste Informationsquelle für sehbehinderte Menschen (Dosch, 2004).

Oft gehen aber viele Informationen verloren, die für das Verständnis des Themas oder für den weiteren Verlauf der Handlung wichtig sind, weil das gesprochene Wort häufig nur noch eine sehr untergeordnete Rolle spielt in der überwiegend visuellen Ausrichtung von Spielfilmen, Dokumentarfilmen, Reportagen oder Fernsehspielen (Dosch, 2004). Mit anderen Worten, in solchen Filmen sind neben den Dialogen auch die Umgebung und Atmosphäre zentral. Ziel dieser Filme ist nicht nur, den Fernseher zu unterhalten, sondern auch gewissermaßen ein möglichst wahrheitsgetreues Bild des Films zu zeigen. Das führt natürlich zu Schwierigkeiten für sehbehinderte und blinde Menschen. Um diesem Publikum trotzdem ein gutes Bild des Dekors und der Atmosphäre zur Verfügung zu stellen, werden kurze Beschreibungen der Ereignisse im Film in den Dialogpausen eingesprochen. Dieser Service heißt Audiodeskription (AD) und Filme mit AD verschafft werden ‚Hörfilme‘ genannt.

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In einer Audiodeskription kann selbstverständlich nicht alles, was auf dem Bild zu sehen ist, auch beschrieben werden, denn meistens gibt es dafür zu wenig Zeit. Der Audiodeskriptor steht demzufolge vor einer großen Herausforderung, denn er soll auswählen was er beschreiben und weglassen wird und infolgedessen entscheiden, welche Informationen das blinde oder sehbehinderte Publikum bekommt.

In der Übersetzungswissenschaft wurde mehrmals bewiesen, dass die Übersetzung kulturspezifischer Elemente zu Schwierigkeiten führen kann. In den letzten Jahren wurden bereits auch Untersuchungen nach der Audiodeskription dieser Elemente geführt. Es handelt sich in diesen Studien meistens um die Audiodeskription eines anderssprachigen Filmes, die auch die sprachlichen Informationen bei der Synchronisierung berücksichtigen soll.

Ziel dieser Masterarbeit ist zu untersuchen, inwieweit die Audiodeskription den kulturspezifischen Elementen in zwei Filmen über die Deutsche Demokratische Republik (DDR) berücksichtigt. Die Studie wird der Frage nachgehen, ob die DDR-kulturspezifischen Elemente in der Audiodeskription ausreichend beschrieben werden, sodass sich ein blindes oder sehbehindertes Publikum auch eine akkurate Vorstellung über die DDR bilden kann. Dies wird anhand eines deutschen Korpus, nämlich der Audiodeskription der Filme Good Bye, Lenin! (2003) und das Leben der Anderen (2006) untersucht. Diese Filme handeln beide von der DDR, sie werden aber einem anderen Genre zugeordnet. Good Bye, Lenin! gilt als Tragikomödie, während Das Leben der Anderen als Melodram betrachtet wird.

Für diese Untersuchung wird die Audiodeskription der beiden Filme abgetippt, um die Kulturspezifika genauer aus der Audiodeskription filtern zu können. Anhand verschiedener Veröffentlichungen über die DDR werden die Elemente bestätigt oder verworfen und nochmal nachgeprüft von einer Informantin, der noch in der DDR gewohnt und gelebt hat. Um die Ergebnisse verifizieren zu können, werden zwei westdeutsche Personen gebeten sich die beiden Audiodeskriptionen anzuhören, ohne das Bild zu sehen. In der Umfrage wird unter anderem gebeten, die Atmosphäre der beiden Filme zu beschreiben und das Gefühl und das Erlebnis, das ihnen die Audiodeskription vermittelt, zu umschreiben. Daneben werden sie auch gebeten die Rolle einiger Elemente im Film zu erklären, und sich ein allgemeines Urteil der Audiodeskription zu bilden.

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In dieser Arbeit wird zuerst der theoretische Hintergrund beschrieben. In diesem Kapitel wird das Konzept der Audiodeskription erklärt, eine kurze Geschichte zur Audiodeskription gegeben und einige grundlegende Konzepte auseinandergesetzt. Danach wird der Begriff Genre erläutert, das Verhältnis zwischen Genre und Audiodeskription verdeutlicht, das Genre der beiden Filme illustriert und Richtlinien in Bezug auf das Genre auseinandergesetzt. Im letzten Absatz dieses Kapitels wird das Phänomen der kulturspezifischen Elemente erläutert.

Im Kapitel Methodologie wird die Wahl des Korpus verdeutlicht, ein kurzer Inhalt der beiden Filme gegeben und Presseberichte über die Filme dargestellt. Danach werden für beide Filme die kulturspezifischen Elemente aufgelistet anhand den Richtlinien aus Kapitel 2, und wird die dazugehörende Audiodeskription kommentiert. Dann wird die Hypothese gestellt und in einem weiteren Schritt wird sie mit den Umfragen bestätigt oder verworfen. Die zwei letzten Kapitel behandeln die Schlussfolgerung und die Diskussion.

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2 THEORETISCHER HINTERGRUND 2.1 Audiodeskription 2.1.1 Umschreibung Audiodeskription (AD) ist ein Verfahren, das visuelle Künste und Medien für blinde und sehbehinderte Menschen zugänglich macht (Remael, Reviers, & Vercauteren, 2014). Bei diesem Service werden optische Informationen (z.B. in einem Film, einem Theaterstuck, in einer Oper oder in einem Museum) zunächst in einen geschriebenen Text transferiert, der dann wiederum akustisch präsentiert wird (Benecke, 2014). Diese Masterarbeit wird sich nur mit der AD von Filmen beschäftigen.

Eine AD enthält vor allem Informationen zur Handlung, zum Aussehen der Personen, zu deren Gesichtsausdrücken und Körpersprache sowie zu den Kostümen und Schauplätzen. Bei der Erstellung einer AD sollen verschiedene Aspekte berücksichtigt werden. Viele der vorhandenen Informationen sollen aufgenommen werden, damit Blinde und Sehbehinderte das Ausgangsmaterial gut und umfassend erleben und genießen können, dabei darf eine AD aber die vorhandenen akustischen Informationen nicht behindern. Gesprochene Dialoge und wichtige Ton- und Musikeffekte sollen möglichst unverändert bleiben. Das bedeutet, dass die Audiodeskription in die verbleibenden Lücken passen muss, das heißt also in den Dialog- oder wichtigen Musikpausen (Benecke, 2014). Da aber die Beschreibung der Ereignisse, Handlungen, Mimik und Umgebungen kurz gehalten werden soll, werden dem Publikum in manchen Fällen bestimmte unbekannte Sachen unzureichend erklärt.

2.1.2 Geschichte der Audiodeskription und Einführung in Deutschland Die Audiodeskription wurde in den USA durch Gregory Frazier erstellt. Er entwickelte bereits Mitte der 70er Jahre eine Theorie, die visuelle Medien für Sehgeschädigte zugänglich machen konnte. In den 80er Jahren hat er sie zusammen mit August Coppola näher ausgearbeitet und verschiedene Anwendungsgebiete untersucht. In Europa wurde die Methode erst im Sommer 1989 beim Filmfest in Cannes der Öffentlichkeit vorgestellt. Angeregt von Berichten über die Präsentation bei diesem Filmfest gründeten Andrea Hartwig, Bern Benecke, Robert Müller und Elmar Dosch die Münchner Filmbeschreibergruppe in Deutschland (Dosch, 2004).

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Das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) strahlte 1993 den ersten Hörfilm im deutschen Fernsehen aus. Vier Jahre später lancierten der Bayerische Rundfunk (BR) und ARTE als erste Sender eine regelmäßige Produktion von Hörfilmen. Im Jahr 1998 realisierte der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) das Projekt Hörfilm, aus dem 2001 die Deutsche Hörfilm gGmbH (DHG) hervorging. Das Projekt errichtete den Hörfilm in der deutschen Medienlandschaft und beschleunigte seine Ausbreitung. Seit 2002 lobt der DBSV Jahr für Jahr die besten Produktionen mit Audiodeskription mit dem Deutschen Hörfilmpreis (hörfilm.info, s.d.).

In den folgenden Jahren beteiligten sich weitere regionale Sendeanstalten an der Produktion und Ausstrahlung von Hörfilmen. Zurzeit strahlen ausschließlich die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender eine AD aus. Dazu gehören momentan die ARD, ZDF, ARTE, 3sat, NDR, MDR, RBB, HR, SWR, WDR, BR, EinsFestival, EinsPlus, ZDFneo, ZDRinfo, KIKA in Deutschland, wie auch ORF 1 und ORF 2 in Österreich und SRF in der Schweiz (hörfilm.info, s.d.).

2014 wurden in der ARD 38 Prozent des Hauptabendprogramms mit einer AD gesendet. Im ZDF laufen sogar alle Vorabendserien mit einer Audiodeskription. Mittlerweile werden auch Sportübertragungen und Quiz- und Unterhaltungssendungen mit einer Live-AD ausgestrahlt. Auch die Zahl der Filme, die bereits zum Kinostart über eine AD verfügen, hat stark zugenommen. Denn die Novellierung des Filmfördergesetzes 2014 verpflichtet die Herstellung einer barrierefreien Fassung aller von der Filmförderungsanstalt (FFA) und des Deutschen Filmförderfonds (DFFF) geförderten Filme (hörfilm.info, s.d.).

Der Entwicklung des Hörfilms ist aber noch lange nicht vollendet. Der Audiodeskriptionsanteil am gesamten Programm ist noch immer verhältnismäßig klein trotz der Zunahme des barrierefreien Kino-und Fernsehangebotes. Um den Bedürfnissen des blinden und sehbehinderten Publikums Rechnung zu tragen wird mehr Programm mit AD benötigt. Der DBSV engagiert sich daher weiter für die Ausbreitung des Hörfilmangebotes (hörfilm.info, s.d.).

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2.1.3 Grundlegende Konzepte der Audiodeskription Um den Audiodeskriptoren zu helfen, die Audiodeskription zu erstellen, wurden weltweit bereits verschiedene Richtlinien (auch als Guidelines bezeichnet) verfasst. Dosch und Benecke, die Pioniere der Audiodeskriptionserstellung im deutschsprachigen Raum, haben in ihrem Buch, wenn aus Bildern Worte werden (2004), einige Richtlinien beschrieben. In seiner späteren Publikation Audiodeskription als partielle Translation (2014) erwähnt Benecke:

Bei der Erstellung von Audiodeskription konnten zwar in der Praxis der zurückliegenden Jahre schon viele Erfahrungen gesammelt und in Form von Guidelines auch weitergegeben werden. Eine Methode, die dem Autor der Audiodeskription ein nützliches Handwerkszeug für seine Arbeit an die Hand gibt, fehlt aber bislang. Diese Situation zu ändern ist das Anliegen dieser Arbeit. (Vorwort, Para. 2)

In seiner Arbeit schlägt er also ein Verfahren vor, „das zunächst die im Rahmen der AD notwendigen Auswahlkriterien transparent und nachvollziehbar mache und daneben auch Unterstützung bei den Fragen leiste, in welche der Lücken die Information eingefügt werden könne, mit welchen Worten diese Information zu geschriebenem Text werde und wie dieser Text gesprochen und mit dem vorhandenen Ton wieder eine Einheit bilden könne“ (Benecke, 2014, S. 2).

Er verweist in seiner Arbeit aber auch auf das Forschungsprojekt ADLAB1, an dem renommierte Universitäten und Fernsehsender aus sechs Ländern teilnehmen, und welches bislang „das engagierteste Projekt zur Schaffung eines europäischen Standards für Audiodeskription darstellt“ (Benecke, 2014, S. 12). Deshalb basiert diese Studie auch auf den grundlegenden Konzepten und Richtlinien, die im Forschungsprojekt ADLAB beschrieben werden.

Die Schweiz und Österreich haben keine eigenen Richtlinien für eine Audiodeskription auf Deutsch. Die Schweiz hat nur eine charte suisse de l’audiodescription (s.d.), aus dem einige Richtlinien ins Deutsche übersetzt sind, mit dem Namen Schweizer Charta der Audiodeskription (s.d.).

Die Richtlinien, die in der Studie ADLAB aufgelistet werden sind das Ergebnis eines dreijährigen Forschungsprojekts zur Audiodeskription für Blinde und Sehbehinderte, das von der Europäischen Union im Rahmen des Lifelong Learning Programme (LLP) finanziert wurde.

1 Audio Description: Lifelong Access for the Blind (Remael, Reviers, Vercauteren, 2014) 19

Der Grund für den Start dieses Projektes war die Notwendigkeit, eine Reihe von verlässlichen und konsistenten, forschungsbasierten Richtlinien zu definieren und zu erstellen, um Kunst- und Medienprodukte durch die Bereitstellung von Audiodeskription für Blinde und Sehbehinderte zugänglich zu machen. Diese Richtlinien wenden sich an professionelle Audiodeskriptoren und Studenten, um ihnen zu helfen, qualitativ hochwertige Dienstleistungen zu schaffen (Remael et al., 2014).

Diese Studie wird aber im Folgenden nur die grundlegenden Konzepte der Audiodeskription die auf diese Untersuchung zutreffen und die Richtlinien in Bezug auf Genre (Kapitel 2.2.5) behandeln, weil nur die für die Untersuchung nach dem Verhältnis zwischen Audiodeskription und den kulturspezifischen Elementen in einem Genre wichtig sind. Die anderen Richtlinien (z.B. für Handlungen, usw.) sind für diese Studie weniger relevant. In den folgenden Absätzen werden einige grundlegenden Konzepte der AD erwähnt.

In erster Linie müssen die Audiodeskriptoren sicherstellen, dass ihre Audiodeskription (in Kombination mit dem ursprünglichen Ausgangstext) alle notwendigen Hinweise enthält, damit das blinde und sehbehinderte Publikum für jedes in der Geschichte stattfindende Ereignis einen Kontext schaffen kann (Remael et al., 2014). Wenn es dann noch Zeit gibt, kann der Audiodeskriptor es sich erlauben, Kleidung, Möbel oder Farben zu beschreiben. Möglicherweise kann er auch noch kleine Nebenhandlungen erwähnen, die die eigentliche Geschichte nicht unbedingt voranbringen, die aber dazu beitragen, den Gesamtton des Films einzufangen (Benecke, 2004).

Andererseits ist AD bestrebt, ihrer Zielgruppe ein Erlebnis zu bieten, das mit dem der sehenden Zielgruppe vergleichbar ist. Das Anschauen von Filmen und Fernsehserien ist auch eine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit: Das Erleben eines Films gibt blinden und sehbehinderten Menschen einen Einblick in die soziale Welt der nicht-sehgeschädigten Leute. Folglich wird von der AD erwartet, dass sie das Ausgangstext-Genre und die spezifische Geschichte, die sie erzählt, respektiert und den akustischen Filmkanälen erlaubt, ihren Beitrag zu leisten (Remael et al., 2014).

Ereignisse dürfen nicht verkürzt werden, indem der Audiodeskriptor sie zusammenfasst. Statt „Er wird zusammengeschlagen“ soll das Ereignis Schritt für Schritt beschrieben werden: „Der Mann schlägt ihm mit der Faust ins Gesicht, stößt ihn zu Boden und tritt mit dem Fuß in seinen

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Bauch“. Mit anderen Worten, die Ereignisse sollen nicht interpretiert, sondern beschrieben werden (Benecke, 2004). Aber obwohl diese Objektivität ein Ziel der AD ist, ist sie jedoch immer bis zu einem gewissen Punkt subjektiv, da sie auf der Beschreibung des Audiodeskriptors basiert. Eine Ausgewogenheit zwischen der persönlichen Interpretation und Ausdrucksweise (Subjektivität) und einer mehr textbasierten Interpretation und Ausdrucksweise (Objektivität) zu finden, die Raum für weitere Interpretationen durch die blinden und sehbehinderten Nutzer lässt, ist Teil der Beherrschung der Entscheidungsprozesse und der Schreibkompetenz bei der AD (Remael et al., 2014).

Wenn der Audiodeskriptor Fachbegriffe benutzen möchte, weil sie die Audiodeskription erleichtern, z.B. Geräte die einen bestimmten Namen haben, soll er zuerst sicher sein, dass blinde und sehbehinderte Menschen diesen Begriff auch kennen. Deshalb sollte er beim ersten Verwenden eine kurze Definition oder Erläuterung geben (Benecke, 2014).

Außerdem ist das Ansehen eines Films oft eine Freizeitbeschäftigung. Das bedeutet, dass sich die AD nicht nur auf die Bereitstellung der als fehlend erachteten Informationen konzentriert, sondern auch darauf, eine angenehme Erfahrung für ihre Nutzer zu schaffen, ohne ihre Informationsverarbeitungskapazitäten zu überfordern (Remael et al., 2014).

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2.2 Genre 2.2.1 Umschreibung Maszerowska (2014) beschreibt Genre als eine Klassifikation von Filmen, die nach bestimmten, sich wiederholenden formalen, ästhetischen oder narrativen Merkmalen identifiziert sind. Es gibt viele verschiedene Genres im Kino: Komödie, Melodrama, Action, Thriller, Western, usw. Maszerowska weist aber darauf hin, dass es heutzutage jedoch immer schwieriger wird, einen bestimmten Film einem bestimmten Genre zuzuordnen. Die meisten Filme mischen Elemente aus verschiedenen Genres und schaffen so neue Definitionen und hybride Kategorien z.B. Romantikkomödien und Science-Fiction Horrorfilme.

2.2.2 Genre und Audiodeskription Maszerowska stellt fest, dass die Fähigkeit, den jeweiligen Film als repräsentativ für ein bestimmtes Genre zu klassifizieren, von relativer Bedeutung sei für die Erstellung des eigentlichen AD-Skripts. Das heißt, das Genre sei beim Schreiben wichtiger für die globalen Strategien als für die spezifischen, und eine Verweisung auf ein Genre sei in der AD selten, außer in Fällen von Intertextualität. Dennoch könne die Feststellung, dass der Film zu einem bestimmten Genre gehöre, den Verfassern der Audiodeskription helfen, Prioritäten zu setzen (Maszerowska, 2014). Diese Stellung wird durch Fryer (2016) bestätigt. Das Genre könne einem Beschreiber helfen, die relevanten visuellen Elemente einzugrenzen und auszuwählen: bestimmte Elemente können in einem Genre relevanter sein als in einem anderen. Sie fügt hinzu, dass Genre auch wichtig sei für die Erwartungen des Publikums.

Dosch (2004) stellt weiterhin fest, dass es bei der Audiodeskription und beim Genre von großer Bedeutung sei, dass die Sprache bzw. die Wortwahl der Beschreibung dem Ton des Films angemessen seien. Schriftdeutsch sei nicht praktisch, denn Film bedeute Bewegung und wirkliches Leben. Das behindere jeden Text, der zu trocken oder formal sei. Daneben verlange eine Literaturverfilmung nach einer anderen Sprache als eine Komödie. Wesentlich sei hier, dass man sich immer wieder in den Tonfall der Dialoge und die Stimmung des Films hineinhöre, um mit der richtigen Sprache den Film zu beschreiben.

Um untersuchen zu können, ob die Audiodeskription dem blinden oder sehbehinderten Empfänger das Erlebnis des Films nachvollziehbar machen kann, ist es wichtig, in den nächsten Absätzen die typischen Charakteristiken des Genres, zu denen die Filme gehören, zu nennen.

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2.2.3 Komödie Komödien sind Filme, die das Publikum zum Lachen bringen sollen. Sie sind fröhliche Dramen, die zum Spaß, zur Unterhaltung und zum Provozieren von Vergnügen geschaffen wurden. Das Genre übertreibt humorvoll die Situation, die Sprache, die Handlung und die Figuren. Komödien beobachten die Defizite, Schwächen und Frustrationen des Lebens und sorgen für Fröhlichkeit und eine kurze Flucht aus dem Alltag. Sie haben meist Happy Ends, obwohl der Humor eine ernste oder pessimistische Seite haben kann (AMC Filmsite, 2018).

Eine Tragikomödie wird als eine Kombination aus Drama und Komödie betrachtet , und bringt den Zuschauer trotz des Ernstes der Geschichte zum Lächeln durch die komischen Momente. Die Tragikomödie hat durchaus kein Happy End, aber im Gegensatz zu einer Tragödie endet sie nicht unbedingt mit dem Sterben der Hauptfigur. Manchmal gibt das Ergebnis der Geschichte einen „Hoffnungsschimmer für die Zukunft“ (Film-genres, 2008).

Eine Satire ist eine spezielle Art der Komödie. Eine Satire ist in der Regel eine humorvolle oder anarchische Parodie, die den Stil, die Konventionen, Formeln, Figuren (durch Karikatur) oder Motive eines ernsten Films oder Genres verkörpert, punktiert, verspottet und/oder imitiert (AMC Filmsite, 2018).

Good Bye, Lenin! wird als Komödie betrachtet, enthält aber Elemente der Tragikomödie und sogar der Satire. Im Laufe des Films wechseln Humor, Spannung und Ernst sich ab (Moles Kaupp, 2003).

2.2.4 Drama Drama-Filme werden betrachtet als ernsthafte Präsentationen oder Geschichten mit Settings oder Lebenssituationen, die realistische Figuren im Konflikt mit sich selbst oder mit anderen darstellen. Ein dramatischer Film zeigt uns Menschen von ihrer besten und schlimmsten Seite. Dramatische Filme sind wahrscheinlich das größte Filmgenre, weil sie ein breites Spektrum an Filmen umfassen. Dramatische Themen sind oft aktuelle Themen, gesellschaftliche Missstände und Probleme, Sorgen oder Ungerechtigkeiten wie Drogenabhängigkeit, politische Unruhen, Machtkorruption, Alkoholismus, sexuelle Ungleichheit, korrupte gesellschaftliche Institutionen, Gewalt gegen Frauen oder andere explosive Themen der Zeit (AMC Filmsite, 2018).

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Melodramatische Filme handeln von den „Widersprüchen des Lebens“ einzelner Personen oder Gruppen. Gewalt, Unterdrückung und Familientragödien stehen neben der wahren, meistens unerreichbaren Realisierung. Im Melodram wird fast immer mit stillen Mitteln gearbeitet, um die Botschaft zu vermitteln. Zuschauer, die sich mit einer der Hauptfiguren identifizieren, werden gerührt von den dargestellten Gefühlen. Liebesfilme mit unglücklichem Ausgang sind ebenfalls Melodramen (Film-genres, 2008).

Das Genre vom Film Das Leben der Anderen wird von der Bundeszentrale für politische Bildung als „historisches Gesellschaftsdrama“ betrachtet, das inhaltlich und dramaturgisch Politdrama und Liebesgeschichte kombiniert (2007). Laut Lenssen „enthalte der Film die Spannungsmittel eines Thrillers und der Gefühlsaufladung eines Melodramas, und der Zugriff auf den historischen Stoff mache den Film universell verständlich und international einsetzbar“ (2010, S. 284).

2.2.5 Richtlinien in Bezug auf Genre Im Kapitel 2.3.1 wurden schon einige grundlegenden Konzepte der Audiodeskription erwähnt. Im EU-Projekt ADLAB (2014) erklärt Maszerowska auch die Richtlinien in Bezug auf das Genre. Obwohl Maszerowska diese Richtlinien beschrieben hat, um dem Audiodeskriptor zu helfen in der Suche, nach welchen Elementen er beschreiben soll, um das Genre des Filmes gut wiederzugeben, sind sie aber auch ein Hilfsmittel, um die kulturspezifischen Elemente aus dem Film zu filtern. Deshalb werden sie in diesem Kapitel erwähnt, und später in der Untersuchung (Kapitel 3.2) verwendet.

Wie bereits erwähnt soll der Beschreiber jene Informationen zur Verfügung stellen, zu denen die Zuschauer keinen Zugang haben, damit sie die Geschichte, die das Ausgangsmaterial erzählt, möglichst komplett rekonstruieren können. Diese Aufgabe besteht aus zwei Teilen: Der Beschreiber soll zunächst den ST („source text“, Ausgangstext) analysieren, um herauszufinden, welche Geschichte die Filmemacher erzählen wollen, und mit welchen Prinzipien und Techniken sie das tun. Dann soll er entscheiden, welche narrativen Elemente in den TT („target text“, Zieltext) bzw. das AD-Skript übernommen werden, und wie sie deren Beschreibung formulieren möchten. Bei der Erstellung der AD sollte der Audiodeskriptor die folgende Checkliste berücksichtigen (Maszerowska, 2014).

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2.2.5.1 Richtlinie 1 Ausgangstext Das Genre ist auf vielen Erzählebenen sichtbar. Der Audiodeskriptor soll beim Betrachten des Films auf Elemente der Ikonographie achten. Symbolische Objekte oder Einstellungen und typische Auffälligkeiten können verwendet werden, um den Bildcharakter zu verstärken. Zum Beispiel ein Raumschiff oder eine Zeitkapsel in einem Science-Fiction Film, militärische Uniformen in einem Kriegsfilm, und ein blutverschmierter Dolch in einem Horrorfilm. Andere Requisiten können auf die Epoche oder die historische Periode hinweisen, in der die Handlung eines Films spielt (Maszerowska, 2014).

Zieltext, AD-Skript Der Audiodeskriptor soll also bestimmen, welche Elemente der Ikonographie auf dem Bildschirm erscheinen und beobachten, ob sie nur visuell dargestellt werden oder auch im Dialog, in der Off-Screen-Erzählung, im Voiceover usw. erwähnt werden. Er soll darüber hinaus entscheiden, ob er das Element beschreiben wird oder nicht, und welche Strategie er verwenden wird: eine allgemeine Beschreibung des Elements, das sich implizit auf das Genre bezieht (z.B. ein blutiger Dolch, ein futuristisches Raumschiff), oder eine explizite und erklärende Beschreibung, wenn die Zeit das erlaubt. Wenn das Element bereits verbal erwähnt wird, kann er es aus der AD auslassen, es sei denn, das Element ist für das Genre des Films besonders relevant und er möchte es expliziter darstellen. Der Beschreiber soll daneben bestimmen, welche genre-spezifischen Requisiten verwendet werden und, ob er deren Namen kennt. Er soll daneben entscheiden, ob er sie beschreiben will und welche Strategie er anwenden möchte. Er kann das Objekt einfach benennen, eine verallgemeinernde Beschreibung oder einen Namen geben und das Objekt erklären. Denn eine Requisite, die auf den ersten Blick unwichtig aussieht, kann in einem bestimmten Genre wichtig sein. Die letzte Option ermöglicht dem Audiodeskriptor zusätzliche Informationen über Objekte bereitzustellen, die sonst unklar bleiben könnten (Maszerowska, 2014).

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2.2.5.2 Richtlinie 2 Ausgangstext Der visuelle Stil oder die Filmsprache des Films kann ein wichtiger Hinweis sein. Der Beschreiber soll auf die Beleuchtung, den Schnitt, den Bildaufbau und die Kameraeinstellungen achten. Sie sind wichtig, wenn es darum geht, kohärente Beschreibungen zu erstellen, die den visuellen Eindruck des Bildes auf das Erzählgenre abstimmen. Zum Beispiel wird eine Komödie oft in High-Key-Beleuchtung gedreht, um die heitere Atmosphäre zu verstärken (Maszerowska, 2014).

Zieltext, AD-Skript Der Beschreiber soll bestimmen, welche Elemente des visuellen Stils oder der Filmsprache des Films sich auf sein Genre beziehen. Zum Beispiel wird ein Großteil der spannenden Handlungen eines Kriminalfilms nachts auf der Straße stattfinden, vielleicht in einem heruntergekommenen Stadtviertel der Stadt. Eine bestimmte Stimmung kann durch lebhafte oder düstere Farben wiedergegeben werden. Wenn diese Eigenschaften für die Geschichte entscheidend sind, soll er Wörter verwenden, die das Gefühl solcher Szenen getreu wiedergeben (Maszerowska, 2014).

2.2.5.3 Richtlinie 3 Ausgangstext Einige "reine" Genrefilme zeigen auch bestimmte prototypische oder sogar stereotype Figuren, die bestimmte Persönlichkeiten und Verhaltensmuster repräsentieren. In einem Kriminalfilm gibt es beispielweise einen Bösewicht und einen guten Menschen, eine Romanze zeigt ein verliebtes Paar, und ein Abenteuerfilm kann z. B. eine Gruppe von Freunden darstellen, die sich auf eine Reise begeben (Maszerowska, 2014).

Zieltext, AD-Skript Der Beschreiber soll die Art und Weise, wie Figuren dargestellt werden, bestimmen, und prüfen, ob es einen direkten Bezug zum Genre des Films gibt. Häufig werden Bösewichte in schummrigem Licht und in schäbigen Umgebungen dargestellt. Der Beschreiber soll entscheiden, ob er diese Eigenschaften direkt ausdrücken wird, z.B. indem er die Bewegungen, Gesten oder Mimik der Figur beschreiben wird oder, ob er die Beziehung zum Genre indirekt darstellen wird, z.B. indem er die grimmige Einstellung beschreiben wird (Maszerowska, 2014). 26

2.3 Kulturspezifische Elemente Wie gesagt handeln die beiden Filme von der damaligen DDR. Sie wurden nach der Wende gedreht und handeln somit von der Vergangenheit. Um solch einen Film verwirklichen zu können, sollen erstens ausführliche Forschungen angestellt werden, denn es ist natürlich wichtig, die historischen Ereignisse korrekt und wahrheitsgetreu darzustellen. Good Bye, Lenin! (2003) zeigt zum Beispiel auch dokumentarisches Filmmaterial, um den Rahmen der erzählten Zeit möglichst authentisch wiederzugeben (Moles Kaupp, 2003). Darüber hinaus ist es von großer Bedeutung, dass die Zuschauer die Atmosphäre des Lebens in der DDR beim Fernsehen erleben können. Die Atmosphäre des Films wird zum Teil ermöglicht durch die kulturspezifischen Elemente. Sie zeigen sich aber in großem Maße im Bild, deshalb ist es bei einem sehgeschädigten Publikum noch schwieriger, das korrekte Erlebnis zu vermitteln.

Um überprüfen zu können, ob die Audiodeskription die kulturspezifischen Elemente der DDR ausreichend wiedergibt, werden die Elemente aufgelistet und auseinandergesetzt in Kapitel 3.2, aber zuerst soll der Begriff genauer erklärt werden. Viele Linguisten haben das Phänomen bereits erforscht, deshalb werden in den folgenden Absätzen verschiedene Interpretationen wiedergegeben.

Chiaro definiert kulturspezifische Elemente als „Entitäten, die für eine bestimmte Kultur typisch seien und entweder ausschließlich oder überwiegend visuell, ausschließlich verbal oder sowohl visuell als auch verbal sein können“ (2009, S. 156). Die Übersetzung kulturspezifischer Elemente stelle also eine enorme Herausforderung für den Übersetzer dar, da er die Kommunikation zwischen Mitgliedern verschiedener Kulturen erleichtern müsse und die kulturelle Kluft zwischen ihnen überbrücken müsse. Er fungiere sozusagen als ein Kulturmittler (Maszerowska, 2014).

Pedersen betrachtet „außersprachliche kulturgebundene Referenzen“ (extralinguistic cultural- bound references, ECR) als „Übersetzungskrisepunkte“ (translation crisis points) und definiert sie als „Übersetzungsprobleme“ und „Wendepunkte, an denen die Übersetzer aktive Entscheidungen treffen müssen“ (2005, S. 1). Sie entstehen, wenn ein Element in der Ausgangskultur, aber nicht in der Zielkultur bekannt sei. Pedersen fügt hinzu, dass je mehr sich die Kulturen voneinander differenzieren, desto problematischer die Übersetzung der kulturgebundenen Referenzen werde (2009, S. 46-47).

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Da jetzt die allgemeine Betrachtungsweise der Kulturspezifika bekannt ist, wird auf die kulturspezifischen Elemente, die typisch sind für die DDR, eingegangen. Dafür soll die DDR aber kurz erklärt werden.

Am Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 wurde das besiegte Deutschland in vier Besatzungszonen aufgeteilt; die sowjetische Zone im Osten und die amerikanische, britische und französische Zone im Westen. Diese Teilung sollte verhindern, dass Deutschland als (militärische) Macht wiederauferstände. 1949 wurde als Protest gegen die Gründung der Bundesrepublik Deutschlands im Westen unter dem Einfluss der Sowjetunion die Deutsche Demokratische Republik (DDR) gegründet. Die DDR profilierte sich als ein sozialistischer ‚demokratischer‘ Arbeitsstaat, legte aber seinen Bürgern ein autoritäres, eher diktatorisches Regierungssystem auf mit unbegrenzter Macht der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Unterstützt von der Sowjetunion hatte die SED in den Nachkriegsjahren eine zentrale Machtposition in Ostdeutschland aufgebaut (Jekino, s.d.).

Besonders in den ersten Jahren ihres Bestehens fand die DDR eine gewisse Unterstützung in der Bevölkerung. Die SED behauptete eine antifaschistische Bewegung zu sein, die das "Gute" der deutschen Gesellschaft repräsentierte. Vor allem für Intellektuelle und Künstler war dies zunächst die Hauptattraktion der DDR. Doch bald fühlten sich viele DDR-Bewohner durch den Druck des repressiven Regierungssystems in ihrer Freiheit bedroht und eine massive Flucht in den Westen begann. Insbesondere in Berlin entstanden viele Probleme zwischen Ost und West. Viele Ost-Berliner flohen nach West-Berlin, was dazu führte, dass die Bevölkerungszahl in der sowjetischen Besatzungszone stark abnahm. Als Lösung wurde 1961 die Berliner Mauer gebaut (Jekino, s.d.).

Im Jahr 1971 führte , der SED-Leiter, eine „Abgrenzungspolitik“, die unter anderem zahlreichen Intellektuellen und Künstlern Schweigen auferlegten . Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS, Stasi), 1950 gegründet, wurde in den 70-er Jahren darüber hinaus immer mächtiger. Die Geheimpolizei und der Nachrichtendienst entwickelten sich zu einem weitverzweigten, personalstarken Überwachungs- und Repressionsapparat, dem im Jahr 1989 etwa 91.000 hauptamtliche Mitarbeiter und rund 190.000 Inoffizielle Mitarbeiter (IM) angehörten (Jekino, s.d).

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Vor allem Künstler waren ein problematisches Volk für das DDR-Regime. Einerseits mussten sie geschätzt werden, weil sie die Visitenkarte für die Außenwelt waren: sie halfen den Vorwand der Gedankenfreiheit aufrechtzuerhalten. Andererseits mussten sie streng kontrolliert werden und die "staatsbedrohlichen Individuen" zum Schweigen bringen. Denn nur Kunst, die das sozialistische Ideal widerspiegelte, wurde toleriert (Jekino, s.d.).

Nach dem Bau der Berliner Mauer verschlechterte sich die kommunistische DDR immer mehr. In den achtziger Jahren stiegen die Staatsschulden weiter und die Infrastruktur und Industrie waren veraltet. Mitte der achtziger Jahre wurde deutlich, dass die DDR nicht mehr lange überleben sollte. Die anhaltenden Probleme leiteten im Jahr 1989 zu Reformen unter der Leitung Gorbatschows, des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), und führten schließlich zum Fall der Mauer und zum Ende der DDR (Jekino, s.d).

Die Thematik der DDR im Film ist in den letzten Jahrzehnten ein erfolgreiches und beliebtes Thema in Deutschland, weil das Bedürfnis besteht, die deutsch-deutsche Geschichte zu verarbeiten. Sowohl Dokumentarfilme als auch Spielfilme über die DDR wecken die Aufmerksamkeit, und nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern und sogar in den USA sind derartige Filme beliebt. Die dokumentarische Genauigkeit ist sicherlich von Bedeutung, denn es gibt ein weltweites Interesse an der deutschen Wiedervereinigung als politisches Ereignis (Devos, 2007).

Die Geschichte der DDR wurde in großem Maße dokumentiert und wird heutzutage sogar in Museen dargestellt. Nicht nur der Diktatur, sondern auch dem Alltag wird Aufmerksamkeit gewidmet. Das DDR Museum in Berlin ist eines der meistbesuchten Museen und eines der meistbesuchten zeithistorischen Museen Deutschlands. Es hat sich herausgestellt, dass Jugendliche noch zu ungewiss über ihre eigene Geschichte sind und gerade deshalb sind Museen und andere Träger der Aufarbeitung verpflichtet, auf objektive Art und Weise alle Facetten der DDR zu zeigen. Zur Dauerausstellung des DDR Museums wurde auch das Büchlein DDR-Führer (Menn, Rückel, Strohl, Voit, & Wolle, 2012) geschrieben. Es ist ein Katalog, der Besucher des DDR Museums durch den untergegangenen DDR-Staat führt. Er gilt sozusagen als „Reiseführer“, der interessierte Personen auf eine spannende Reise in die DDR einlädt (Rückel, 2012).

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Die Themen, die in dieser Publikation erwähnt werden, können mit Richtlinie 1 (siehe Kapitel 2.2.5.1) in Verbindung gebracht werden. Diese Richtlinie stellt klar, dass der Audiodeskriptor Elemente der Ikonographie, symbolische Objekte, Einstellungen, typische Auffälligkeiten und Requisiten beachten soll (Maszerowska, 2014). Deshalb wird für der Suche nach den kulturspezifischen Elementen, die in den Filmen vorkommen, diese Publikation konsultiert.

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3 METHODOLOGIE Ziel dieser Studie ist zu untersuchen, ob die DDR-kulturspezifischen Elemente aus den Filmen Good Bye, Lenin! (2003) und Das Leben der Anderen (2006) in ihrer Audiodeskription ausreichend beschrieben werden, sodass sich ein blindes oder sehbehindertes Publikum auch eine akkurate Vorstellung über die DDR bilden kann.

Es sind bereits viele Studien über das Thema Audiodeskription verfasst worden. Meistens wird untersucht, wie die Audiodeskription zustande kommt. In solchen Studien werden oft verschiedene Strategien und Methoden dargestellt, die erklären, auf welche Weise ein Film am besten audiodeskribiert wird. Benecke, zum Beispiel, hat in seiner Arbeit Audiodeskription als partielle Translation (2014) das Audiodeskriptions-Entwicklungsmodell ADEM erklärt. In seinen Studien geht er aber nicht auf kulturspezifische Elemente im Film und die diesbezüglichen Probleme der Audiodeskription ein.

Matamala und Rami sprechen in ihrer Studie Análisis comparativo de la audiodescripción española y alemana de Good-bye Lenin (2009) kulturspezifische Elemente in der Audiodeskription hingegen an. Sie haben untersucht, wie einige kulturelle Bezüge aus Good Bye, Lenin! (2003) in der deutschen Audiodeskription als auch in der spanischen Audiodeskription des auf Spanisch synchronisierten Films übermittelt wurden, unter Berücksichtigung des unterschiedlichen Kulturraums. Sie waren interessiert, wie die gleichen Elemente übertragen werden und welche Techniken angewandt werden, um die Distanz zum spanischen Zuschauer auszugleichen. In dieser Studie wird jedoch nicht deutlich, auf welche Weise sie die kulturspezifischen Elemente wählen.

Diese Studie wird hier teilweise fortgefahren, sie wird jedoch keine anderssprachigen Audiodeskriptionen miteinander vergleichen, sondern untersuchen, inwiefern die Audiodeskription die kulturspezifischen Elemente wiedergibt. Die Studie basiert auf einem Korpus, nämlich zwei preisgekrönten Filmen, die unterschiedlichen Genres angehören. Dafür wurde das AD-Skript der beiden Filme manuell transkribiert. Für die beiden Filmen wurde das AD-Skript zusammen mit dem Dialog (in kursiv) in einer deutlichen Tabelle gefasst, weil der ‘geschriebene’ Film sich bei der Untersuchung auf diese Weise leichter folgen lässt. Bei der AD von Good Bye, Lenin! (2003) wurde das Voiceover fett geschrieben. Jede Aussage der Audiodeskription wurde auch mit einer Zeitangabe markiert. Wenn etwas nicht deutlich war,

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wurde das als ‚###‘ in der Transkription bezeichnet. Die beiden Transkriptionen sind in den Anlagen 7.2 und 7.3 von dieser Studie hinzugefügt. In den Aussagen der Audiodeskription dargestellt in Kapitel 3.2, werden die Dialoge aus der Tabelle weggelassen.

In diesem Kapitel werden die Filme zuerst genauer erklärt und danach werden die kulturspezifischen Elemente aufgelistet und kommentiert. In einem weiteren Schritt wird die Hypothese aufgestellt und die ausgefüllten Umfragen analysiert.

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3.1 Filme genauer erklärt 3.1.1 Korpus Wie bereits erwähnt basiert diese Untersuchung auf einem Korpus, nämlich auf dem AD-Skript von den DDR-Filmen Good Bye, Lenin! (2003) und Das Leben der Anderen (2006). Diese Filme wurden anhand einer Reihe von Faktoren ausgewählt.

Erstens fiel die Entscheidung aus rein praktischen Gründen auf diese zwei DDR-Filme: sie sind nämlich beide mit einer Audiodeskription versehen. Darüber hinaus sind die beiden Filme von kulturspezifischen Elementen überfüllt, welche für diese Studie selbstverständlich eine sehr wichtige Rolle spielen.

Zweitens gehören sie zu den beliebtesten Filmen über die DDR. Das Leben der Anderen, zum Beispiel, erreichte mit zwei Millionen Zuschauern den dritten Platz in der Skala der erfolgreichsten deutschen Filme (Lenssen, 2010). Außerdem werden die beiden Filme zu pädagogischen Zwecken verwendet: als historisches und filmanalytisches Lehrmaterial, speziell für den Geschichtsunterricht (Lenssen, 2010), aber auch, um Jugendliche und Anderssprachige auf eine entspannende Weise über die DDR, die Stasi und ihre Überwachung und Bespitzelung zu unterrichten. Zu den beiden Filmen wurde sogar ein Filmheft publiziert, das im Unterricht benutzt werden kann.

Daneben erhielten die beiden Filme auch sehr viel Medienaufmerksamkeit und gewannen zahlreiche Filmpreise. Good Bye, Lenin! bekam neunmal den Deutschen Filmpreis, u.a. in den Kategorien ‚bester Film‘ und ‚beste Regie‘. Das Leben der Anderen wurde mit Auszeichnungen überhäuft. Der Film erhielt den Bayerischen Filmpreis in vier Kategorien, den höchsten deutschen Filmpreis Lola in sieben Kategorien, den Europäischen Filmpreis, den Debütpreis der deutschen Filmkritik und schließlich sogar den Oscar für den besten fremdsprachigen Film (Lenssen, 2010).

Schließlich haben die beiden Filme ein unterschiedliches Genre, welches eine vergleichende Betrachtung der Thematik erlaubt. Im Kapitel 3.1.4 werden Meinungen und Rezensionen der Filme präsentiert, die als wichtig für die Studie betrachtet werden, weil sie Das Leben der Anderen mit Good Bye, Lenin! vergleichen.

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3.1.2 Filminhalt Good Bye, Lenin! (2003) Der Film beginnt im Sommer 1978 und erzählt die Geschichte der Familie Kerner. Vater Robert, Mutter Christiane, Schwester Ariane und Hauptfigur Alex führen ein ruhiges, glückliches Leben in Ostberlin. Nach der ihres Mannes aber versinkt die Mutter Christiane in Trauer. Sie spricht nicht mehr und wird in einem psychiatrischen Zentrum aufgenommen. Nach einigen Wochen kehrt sie nach Hause zurück und ist eine ganz andere Frau geworden. Sie verbannt ihren Mann aus dem Leben und “heiratet das sozialistische Vaterland“, wie ihr Sohn Alex ironisch bemerkt. Elf Jahre später findet der 40. Jahrestag der DDR statt. Aktivistin Christiane ist auf dem Weg zum Festakt im Palast der Republik, als sie zufällig beobachtet, wie Alex in einer Demonstration verhaftet wird. Sie erlitt einen Herzinfarkt und liegt im Koma. Die Ärzte haben wenig Hoffnung: selbst wenn sie jemals wiedererwachen würde, könnte jede Aufregung zu ihrem Tod führen. Christiane verschläft den Fall der Mauer, wacht jedoch nach acht Monaten trotzdem wieder auf. Für Alex bedeutet das, er sollte das vereinigte Deutschland vor ihr geheim halten. Zusammen mit seiner Schwester und ihrem Freund bringt er die „verwestlichte“ Wohnung wieder in ihren alten Zustand und beginnt seine Suche nach den verschwundenen ostdeutschen Produkten (Moles Kaupp, 2003). Daneben kombiniert er zusammen mit seinem Freund alte DDR-Nachrichten mit neuem Filmmaterial, um Fernsehen für seine Mutter zu ermöglichen und die Lüge aufrechtzuerhalten. Im Film wird mit einem Voiceover gearbeitet. Das Voiceover ist Alex‘ Stimme, die über sein Leben, den Alltag und einige Ereignisse im Film erzählt.

3.1.3 Filminhalt Das Leben der Anderen (2006) Der Film spielt im Jahr 1984 in Ost-Berlin, wo die Bevölkerung von der Stasi unterdrückt wird. Offizier Gerd Wiesler wurde angewiesen, den linientreuen Erfolgsautor Georg Dreyman und seiner Freundin Christa-Maria Sieland, eine Schauspielerin, abzuhören. Die Stasi stattet seine Wohnung mit Abhörgeräten aus, und Wiesler setzt sich auf dem nackten Dachboden und lauscht, in der Hoffnung das Paar auf westdeutsche Sympathien zu erwischen. Wiesler, unverheiratet und praktisch ohne Privatleben, wird über seine Kopfhörer mit der seltsamen Welt der Liebe, der Literatur und des freien Denkens konfrontiert. Als er entdeckt, dass seine Aufgabe kein politisches, sondern ein persönliches Motiv hat, beginnt er an der Gerechtigkeit seines Handelns zu zweifeln und begeht das Undenkbare: er schützt den Autor und seine Freundin vor dem repressiven Regime (Jekino, s.d.). Er lässt das Beweismaterial verschwinden um das Paar in Sicherheit zu bringen, was jedoch zum Unfalltod oder Selbstmord der labilen Christa-Maria führt (Lenssen, 2010). Vier Jahre später fällt die Mauer und Dreyman findet 34

heraus, dass er abgehört wurde. Er beschließt, die Akten zu lesen. Als er entdeckt, dass er vom Stasi-Mann HGW XX/7 geschützt wurde, sucht er ihn auf. Wiesler wurde mittlerweile entlassen. Dreyman sieht Wiesler auf der Straße, spricht ihn aber nicht an. Stattdessen schreibt er einen Roman, „HGW XX/7 gewidmet, in Dankbarkeit“.

3.1.4 Presseberichten und Rezensionen In einem Spiegel-Artikel vom 15.03.2006 mit dem Titel Das Leben der Anderen - Stasi ohne Spreewaldgurke beschreibt Mohr den Film als „einer der spannendsten deutschen Filme der jüngsten Zeit, der unprätentiös und eindringlich vom Leben und Leiden im Schatten der Stasi erzählt“. Der Film wurde daneben auch mit anderen Filmen verglichen, unter anderem auch mit Good, Bye Lenin!. Mohr schreibt dazu: „Nach , Good Bye, Lenin!, NVA und Der rote Kakadu sei Das Leben der Anderen der erste deutsche Spielfilm, der sich durchgehend ernsthaft, ohne Trabi-Nostalgie, Spreewaldgurken-Romantik und anderen folkloristischen Klamauk mit dem Kern der 1989 untergegangenen Deutschen Demokratischen Republik auseinandersetze - der systematischen Einschüchterung, Drangsalierung und Unterdrückung ihrer Bürger im Namen der Staatssicherheit (…). Das Leben der Anderen werke wie eine ruhige, beinah asketische Versuchsanordnung zwischen Liebe und Staatsmacht, Freiheit und Verrat, Kunst und Politik, Leben und Tod. Ein Stasi-Kammerspiel, das mit erstaunlich wenigen, äußerlich sichtbaren (Wiedererkennungs-)Effekten auskomme”.

Auch Lenssen (2010) teilt diese Meinung. Laut ihr „habe Florian Henckel von Donnersmarcks Drehbuch DDR-Geschichte aufgegriffen, einen Themenbereich, der im Kino der Nachwendeära nur selten und seit der Jahrtausendwende vornehmlich als Farce behandelt worden war (z.B. in Sonnenallee, Good Bye, Lenin! oder NVA)“. Sie fügt hinzu, dass „sich sein Blick zurück in die Diktatur explizit auf das Thema Stasi-Bespitzelung fokussiere, das bis dahin zumeist als anekdotisches Element am Rande bearbeitet worden sei“ (S. 282).

Zu einer ähnlichen Aussage kommt von Schulz in einem Artikel aus die Welt (25.02.2007). Er lobt den Film jedoch nicht, weil er laut ihm die Wirklichkeit verfehlt: „Der deutsche Beitrag „Das Leben der Anderen“ habe keinen Oscar verdient. Streng genommen auch keinen deutschen und europäischen Filmpreis. Erfolg und Zulauf verdanke er der Tatsache, dass es ihm gelungen sei, die bedrückende Atmosphäre eines totalitären Überwachungsstaates auf die Leinwand zu bringen. Nach all den zum Schießen komischen Klamotten von „Goodbye Lenin“, „Sonnenallee“ und „NVA“ keine große Kunst. Es wuchs vielmehr die Befürchtung, die größte 35

Gefahr in der DDR hätte darin bestanden, sich totzulachen. Gäbe es einen Preis für die Bemühung um Ernsthaftigkeit, wäre die Anerkennung gerechtfertigt“.

In einem anderen Artikel aus die Welt (11.06.2010) schreibt Bales: „Ganz ohne Folklore werde hier ein DDR-Bild vermittelt, wie man es noch nicht gesehen habe“, wobei er mit „Folklore“ auch auf die Atmosphäre von Good Bye, Lenin! deutet.

Aus diesen Reviews und Kommentaren zu den Filmen stellt sich wiederum heraus, dass die Filme zu einem ganz anderen Genre gehören. Logischerweise sehen die Szenen in beiden Filmen unterschiedlich aus, und das sollte sich normalerweise auch in der Audiodeskription zeigen. Good Bye, Lenin! erzählt eine folkloristische Geschichte der DDR als einen sicheren, vertrauten Staat, der zu einem Gefühl der „Ostalgie“ führt. Das kann alles so wiedergegeben werden, weil der Film sich am Ende der DDR und am Anfang der Wiedervereinigung abspielt. Dass die DDR bereits untergegangen ist, erlaubt die Lockerheit des Themas. Das Leben der Anderen zeigt dagegen den unheimlichen Alltag in der 70er Jahren, als der Staatsapparat DDR seine Bevölkerung noch sehr stark unterdrückte. In diesem Film steht also die Repression der DDR im Mittelpunkt.

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3.2 Kulturspezifische Elemente Anhand des Buches DDR-Führer (Menn et al., 2012), ein Katalog, der Besucher des DDR Museums durch den untergegangenen Staat DDR führt, wurden Fakten, Kulturspezifika und Gewohnheiten des DDR-Alltags aufgelistet und mit den Elementen in den Filmen verglichen. Dann wurden Elemente, die sowohl im Katalog beschrieben, als auch in den Filmen zu sehen sind, aus der Liste gefiltert. Diese Elemente wurden in einem weiteren Schritt genauer untersucht, um feststellen zu können, ob sie wirklich kulturspezifische Elemente sind. Das geschah über persönliche Kommunikation mit Constanze Glien, einer Bekannten, die in der DDR aufgewachsen ist und die diese Elemente also bekräftigen oder verwerfen kann. Auch die Studie von Matamala und Rami war ein Hilfsmittel, die kulturspezifischen Elemente aus dem Film zu filtern. Einige Elemente, die dort untersucht wurden, wurden ebenfalls anhand des DDR-Führers geprüft und demzufolge in dieser Studie besprochen.

Im weiteren Verlauf werden die ausgesuchten Elemente anhand der drei Richtlinien aus Kapitel 2.2.5 klassifiziert. In Good Bye, Lenin! (GBL) wurden bei der ersten Richtlinie vor allem DDR- spezifische Objekte gefunden, die zu der lockeren Atmosphäre beitragen, während in Das Leben der Anderen (DLDA) vor allem die DDR-spezifische Unterdrückung der Stasi in den Vordergrund tritt. Bei der zweiten Richtlinie wird für die beiden Filme über die Tag- und Nachtangabe und die Beleuchtung gesprochen, und bei der dritten Richtlinie wird für die beiden Filme eine prototypische Figur besprochen.

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3.2.1 Good Bye, Lenin (2003) 3.2.1.1 Richtlinie 1 3.2.1.1.1 Datsche Als Mutter Christiane sich auf dem Weg der Besserung befindet, beschließt Alex einen Familienausflug zur Datsche zu unternehmen. Eine Datsche war in der DDR die Bezeichnung für ein Landhaus, und wurde für viele Familien zum „Symbol des Rückzugs ins Private“. Die Datsche war ein Ort, an dem man sich zusammen mit Freunden, Nachbarn und Kollegen erholen konnte und der harten Realität des DDR-Regimes kurz entfliehen konnte. Urlaub in der Datsche galt demnach als „Flucht in die Idylle“ (Menn et al., 2012). Die Datsche gilt als „DDR- Pendant zur Laube in einer westdeutschen Kleingartenanlage. Oft hatte sie auch das Format eines Wochenendhäuschens“ (Moles Kaupp, 2003).

Die Datsche wird in der Audiodeskription nicht erklärt, und kann also bei einem Publikum ohne DDR-Hintergrund zu Verständnisschwierigkeiten führen:

1:27:30 Vor der Datsche.

Laut Constanze Glien, sei eine Datsche äußerst DDR-spezifisch. Ehemalige DDR-Bürger kennen sie demnach, jedoch ist die Datsche laut ihr nicht mehr so bekannt unter der Jugend. Sie bezweifelt ebenso, ob die Datsche bei einem gesamtdeutschen Publikum bekannt sei. Sie bestätigte auch, dass eine Datsche der Ort gewesen sei, an dem man sich erholen und ausruhen konnte, ohne Sorgen der Stasi-Unterdrückung. (C. Glien, persönliche Kommunikation, 3. April 2018).

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3.2.1.1.2 Die jungen Pioniere Im Film wird ab und zu ein Rückblick in Alex‘ Jugend gezeigt. Er war ein junger Pionier.

0:05:31 An einem kleinen Bahnhof. Alex in blauer Pionieruniform strahlt in die Kamera. Vor einem Brunnen. Christiane dirigiert einen Chor. Die Kinder tragen blaue Käppis und Halstücher.

Die enge Verzahnung der Schule mit Staat und Partei gehörte für die Kinder und Jugendlichen zum Alltag. Die Mitgliedschaft war freiwillig, aber Eltern, deren Kinder nicht Mitglied werden sollten oder wollten, wurden häufig unter Druck gesetzt. Kinder wurden im 1. Schuljahr Mitglieder der ‚jungen Pioniere‘, im 4. Schuljahr ‚Thälmann-Pioniere‘ und in der 8. Klasse Mitglieder der Freien Deutschen Jugend (FDJ) (Kerbel, 2016). Als Pionier oder Mitglied der FDJ sollte man teilnehmen an Aktivitäten neben dem Unterricht. Als Uniform trugen sie Pionierhalstücher und Pionierhemden bzw. FDJ-Hemden. Die Jugendorganisationen der DDR betonten den Einsatz für den Frieden und Menschenrechte. Für den Staat waren diese Gruppen wichtige Ansatzpunkte bei der Erziehung der Kinder und Jugendlichen zu sozialistisch denkenden Bürgern (Kerbel, 2016). Das zweite Mal, dass eine Referenz zu den Pionieren gezeigt wird, ist, als Alex auf dem Trödelmarkt zwei Pionierhalstücher kauft. Die AD lautet:

0:51:04 ‚Die Junge Welt‘. Er weist auf blaue Pionierhalstücher. 0:51:48 Er gibt zwei Schülern die Halstücher.

Er wird sie später zwei Jungen aus der damaligen Klasse von Lehrerin Christiane geben, da sie in Pionieruniform ein sozialistisches Lied für Christiane singen müssen. Auf diese Weise bleibt Christiane überzeugt von der noch bestehenden DDR.

0:56:07 In Christianes Zimmer. Die beiden Schüler stehen mit blauen Halstüchern vor ihrem Bett. Klapprath hält sich mühsam aufrecht. Alex grinst tapfer. Neben ihm stehen Lara, Frau Schäfer, Ganske, der Weißhaarige Mehlert, Rainer und Ariane.

Im Film singen die jungen Pioniere das Lied „Bau auf! Bau auf!“. Das Lied hatte zum Zweck, den Wiederaufbau der zerstörten Städte zu loben. DDR-Städte mussten nämlich die Kriegsschäden noch lange ansehen. Gesänge und Parolen versuchten den Wiederaufbau zu rühmen. Das Lied „Bau auf! Bau auf! Freie Deutsche Jugend, bau auf!“ wurde „zum Ohrwurm der frühen Jahre“. Anfangs wurde allerdings mehr zu Repräsentationszwecken gebaut (Menn

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et al., 2012). Die jungen Pionieren und die FDJ sangen aber noch viele andere Lieder für die Organisation und den Sozialismus (C. Glien, persönliche Kommunikation, 3. April 2018). Die AD sagt jedoch nichts über die Lieder, sie beschreibt nur die Handlungen.

0:56:32 Christiane hebt dirigierend die Hände, lächelt glücklich und klatscht. Alex strahlt.

Wir können feststellen, dass der Audiodeskriptor sich dafür entschieden hat, nicht mehr darüber zu sagen, weil dieses DDR-typische Element seiner Meinung nach aus den Szenen ausreichend deutlich wird.

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3.2.1.1.3 Nahrungsmittel Im Laufe des Films ist Alex ständig auf der Suche nach Spreewaldgurken und anderen typischen DDR-Nahrungsmitteln wie Tempo Bohnen, Mocca Fix Gold Kaffee, usw. Diese Produkte sind typische DDR-Produkte, und somit nach der Wende schwierig zu finden. Deshalb sucht er auch nach leeren Packungen, sodass er die neuen (importierten oder westlichen) Nahrungsmittel in diese alten Gläser umfüllen kann.

Der DDR-Staat fand es wichtig, die Grundbedürfnisse der Bevölkerung zu versorgen. Solche Artikel waren also zu niedrigen Preisen erhältlich. Darüber hinaus gehende Konsumgüter waren jedoch sehr teuer und Luxusartikel sogar nur in speziellen Läden erhältlich. Sie wurden mit dem Namen ‚Exquisit‘ (Kleidung), ‚Delikat‘ (Nahrung und Genussmittel) oder ‚Intershop‘ (West-artikel für ausländische Besucher) benannt (Moles Kaupp, 2003). Meistens werden die Nahrungsmittel in den Dialogen erwähnt, einige Szenen sind aber auch mit einer AD versehen:

0:40:41 Er betrachtet ein Glas Moskauer Gurken. 0:41:36 In der Küche. Gläser stehen in einem Topf mit kochendem Wasser. Alex nimmt sie heraus, stellt sie auf ein Handtuch und klebt ein Etikett mit der Aufschrift ‚Delikatess Sauerkraut‘ daran. Er führt Speisemöhren und Erdbeeren in andere Gläser um. Konzentriert schüttelt er Kaffee aus einer grünen Verpackung in eine Goldene und gießt Apfelsaft in eine Flasche mit der Aufschrift ‚Apfelnektar‘. Auf dem Tisch vor ihm stehen Gläser und Dosen aller Art. Ariane kommt. 0:42:25 Sie beißt in eine Schnitte mit frischen Gurken. Ariane legt Wäsche zusammen. 0:47:47 Er tritt auf den Balkon, lugt aus eine weitere Glastür zu Lara im Schlafzimmer und schüttelt eine Packung Bohnen. 0:49:45 Sie beißt genüsslich in eine Gewürzgurke. 1:15:06 Mühsam kämpft er sich aus der Wanne. Sein Blick fällt auf ein Schraubglas mit Pinseln darin. Auf dem Etikett steht ‚Spreewald Konserve: Delikatess Gewürzgurken‘. 1:15:18 Auf der Straße. Alex saust auf seinem Moped an die Mauer entlang. Auf dem Gepäckträger das Gurkenglas. 1:15:39 Genüsslich isst sie Gewürzgurken. Alex schläft in einem Sessel.

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Die Suche nach diesen Nahrungsmitteln spielt im Laufe des Films eine besonders bedeutungsvolle Rolle. Erstens, weil sie sich deutlich auf ein Gefühl von Ostalgie beziehen: DDR-Einwohner haben mehr als 40 Jahre keine anderen Nahrungsmittel gekannt, bis plötzlich Gurken aus der ganzen Welt eingeführt werden können. Zweitens führen die fehlenden Nahrungsmittel natürlich auch zu lustigen Szenen, die dazu beitragen, die Atmosphäre des Films leicht zu halten. Hier hat der Audiodeskriptor sich also zu Recht dafür entschieden, die Spreewaldgurken, andere Nahrungsmittel und Packungen ausreichend wiederzugeben, um dem blinden oder sehbehinderten Zuschauer eine ähnliches Erlebnis zu vermitteln.

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3.2.1.1.4 Kinderprogramm Im Film wird die Kindersendung Unser Sandmännchen häufig gezeigt. Sowohl die kleine Alex und Ariane, als auch die Kinder von Robert gucken sich das Programm an.

Jeden Abend um zehn vor sieben trat das Sandmännchen vor die Kamera. Das Sandmännchen war eine 25 cm große Trickpuppe mit Spitzbart und Zipfelmütze. Die Figur überbrachte den Kindern einen Abendgruß und schickte sie dann ins Bett (Menn et al., 2012). Unser Sandmännchen war eine Erfindung aus der DDR, wurde aber auch in der BRD gezeigt, allerdings sah die Puppe anders aus und die Sendung hieß Das Sandmännchen. Nach der Wende wurde der langbärtigen Trickfilm-Star aus dem Osten adaptiert und noch heute ist er im Fernsehen, unter dem Namen Das Sandmännchen, anzuschauen (kindernetz.de, 2018). Die Audiodeskription über das Sandmännchen lautet:

1:36:35 Im Fernseher läuft ‚das Sandmännchen‘. Alex tritt lächelnd ein. Ein blonder Fünfjähriger und eine Siebenjährige mit roten Zöpfen sehen vom Bildschirm auf. 1:39:10 Alex starrt zum Bildschirm. Darauf steht Abendgruß. Im Garten. Robert erklimmt die Bühne und geht zum Mikrofon. Er gestikuliert fahrig.

Es ist wichtig zu bemerken, dass in der Audiodeskription die Sendung mit das Sandmännchen statt unser Sandmännchen benannt wurde. Der Grund dafür ist, dass sich diese Szene bereits nach dem Mauerfall abspielt und wie oben erwähnt übernahm die Sendung nach der Wende die Westdeutsche Bezeichnung das Sandmännchen. Im zweiten Ausschnitt wird nur der Abendgruß genannt, hier wahrscheinlich mit dem Zweck, die für das Publikum bekannte Sachen nicht unnötig zu verdeutlichen. Der Audiodeskriptor geht wahrscheinlich davon aus, dass der Abendgruß für die Mehrheit der Zuschauer bekannt ist.

In der Sendung treten noch einige andere Figuren, zum Beispiel Pittiplatsch und Schnatterinchen. Auch im Film kommt Pittiplatsch ins Bild. Pittiplatsch oder kurz Pitti ist ein kleiner schwarzer Kobold, der neugierig, verschmitzt und durchaus liebenswert ist. Seine Aktionen sind gut gemeint, meistens allerdings nicht ganz berechnet und leider gehen sie auch oft schief (Rundfunk Berlin-Brandenburg, 2015). Genauso wie das Sandmännchen, Schnatterinchen und die anderen Trickfilmfiguren, kann Pittiplatsch auch als Spielzeugfigur gekauft werden. Im Film steht Pittiplatsch in Alex‘ Zimmer. Die Audiodeskription lautet:

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0:09:18 Ariane geht. Alex schlupft mit Paula auf dem Arm in sein dämmeriges Zimmer zurück und sinkt wieder aufs Bett. Paula starrt gebannt auf ein vibrierendes Regalbett. Eine Spielzeugfigur ‚Pittiplatsch‘ kippt um.

In der AD wird über Pittiplatsch nur gesagt, dass er eine Spielzeugfigur ist. Vielleicht wurde sich für diese kurze Erklärung entschieden, weil auch davon ausgegangen wird, dass er in ganz Deutschland bekannt ist. Das ist eine gute Entscheidung, denn Maszerowska (2014) stellt in Richtlinie 1 klar, dass der Audiodeskriptor das Objekt nicht nur einfach benennen kann, sondern auch eine verallgemeinernde Beschreibung oder einen Namen geben kann, weil eine Requisite, die auf den ersten Blick unwichtig aussieht, trotzdem wichtig sein kann.

Im Film spielt das Sandmännchen außerdem eine wichtige Rolle als Kosmonaut. Im Jahr 1978 flog Sigmund Jähn nämlich als erster Deutscher ins All und zauberte während der Live- Übertragung aus dem Kosmos das Sandmännchen aus der Tasche. Sein russischer Kollege holte danach seine Puppe Mascha zum Vorschein (Rundfunk Berlin-Brandenburg, 2015).

0:04:31 Alex in Schlafanzug sitzt blinzelnd vor dem Bildschirm. Er hat braune Haare, ernste dunkle Augen und ein rundes Gesicht. Siegmund Jähn lässt zwei Puppen in der Schwerelosigkeit der Raumkapsel schweben. Das DRR-Sandmännchen und die Russische Mascha. 0:07:28 Alex‘ Rakete zischt in die Luft. In der Kapsel sitzt eine Sandmännchen Puppe. Alex lächelt seiner Mutter zu, die drückt ihm die Daumen. Seine Rakete verschwindet am blauen Himmel. 1:38:13 Alex sieht zum Bildschirm. Das weißbärtige Sandmännchen steckt in einem Astronautenkostüm.

Diese Szene ist für ein ostdeutsches Publikum also mit hoher Wahrscheinlichkeit deutlich. Für ein westdeutsches Publikum kann sie aber zu Verständnisschwierigkeiten führen. Die Audiodeskription spricht deshalb von dem DDR-Sandmännchen und der russischen Mascha, mit dem Zweck diese Szene deutlicher zu machen.

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3.2.1.1.5 Nachrichtensendung Denis, der Freund von Alex, fälscht im Film drei Mal Beiträge für die Aktuelle Kamera, die tägliche Nachrichtensendung des DDR-Fernsehens. Zuerst zeigt er alte Nachrichten des vorigen Jahres, aber jedes Mal, wenn Mutter Christiane etwas sieht, was sie nicht sehen dürfte, kommt Denis mit seiner eigenen Version der Nachrichtensendung. Er möchte später „mal so richtige Spielfilme“ machen, und sieht dies als seine Chance.

Die Aktuelle Kamera-Sendung begann um halb acht, pünktlich zwischen der Tagesschau der ARD und Heute im ZDF. Auf diese Weise mussten die DDR-Bürger weder auf sozialistische noch auf kapitalistische Nachrichten verzichten und konnten direkt vergleichen (Menn et al., 2012).

0:53:54 Im Nebenzimmer. Alex nimmt eine Videokassette von einem Stapel. Darauf steht ‚Aktuelle Kamera‘. Er schiebt sie in den Rekorder und sieht auf die Armbanduhr. Es ist halb acht. Er druckt auf die Playtaste. 0:54:13 Christiane starrt mit offenem Mund zum Fernseher. Alex kommt, und läuft rasch zum Videorekorder zurück. Auf dem Bildschirm erscheinen die Buchstaben AK. 1:03:18 Abends. Im Fernseher tickt eine Uhr auf wenige Sekunden vor halb acht.

Mehr als ‚Aktuelle Kamera‘, und Uhrzeit wird hier nicht erwähnt. Im Folgenden wird die Audiodeskription von einer Szene in der solch ein Betrag gefälscht wird, gezeigt:

1:21:14 Bei Denis. Er sitzt am Tisch, rückt Mikrofone zurecht und kontrolliert sich auf einem Bildschirm. 1:21:24 Alex richtet eine Kamera auf ihn. 1:21:29 Denis drückt seinen Schnurbart fest. 1:21:39 Ein Foto löst sich von der Wand hinter ihm. Es zeigt die Karl-Marx-Allee. Denis springt auf und befestigt es erneut. Seine Anzugjacke ist hinten mit Nadeln zusammengesteckt. Er trägt keine Hose. Rasch setzt er sich wieder.

Das Moment, in dem sich das Foto von der Wand löst, gerade wenn die Kamera Denis filmt, ist zudem ein Beispiel einer komischen Szene. Solche komischen Szenen tragen dazu bei, GBL heiter zu halten. Auch der Audiodeskriptor hat beschlossen, zu erwähnen, dass Denis keine Hose trägt und dass sein Anzug viel zu groß ist. Denn auch dies ist wichtig für den Hörer, er darf und soll schließlich auch lachen.

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3.2.1.1.6 Stadt Der Film fängt mit einer Reihe von verschiedenen Bildern der DDR-Stätte in Berlin an. Bereits der Beginn des Films stellt also eine Herausforderung bei der Audiodeskription dar. Trotzdem gelingt es dem Audiodeskriptor eine gute Beschreibung der Szene herzustellen:

0:00:57 Vor dem Fernsehturm am Berliner Alexanderplatz. Der kleine Alex zeigt stolz sein T-Shirt mit einer startenden Rakete und der kurulischen Aufschrift UDSSR und DDR. Postkartenansichten von Ostberlin. Der Alexanderplatz mit dem Haus des Lehrers. Die Weltzeituhr mit einem Modell des Sonnensystems. Die schnurgerade Karl-Marx-Allee mit endlosen Sandsteinfarbenen Häuserblöcken. Das flache Gebäude der Mokka Milch und Eisbar. Davor parken Trabis und Wartburgs. Der schnörkellose Bau des Kinos international. Ein Filmplakat mit Lenins Porträt hängt daran. Eine riesige Bronzestatur von Lenin in energischer Pose. Eine Bogenbriefmarke der DDR mit Weltraumkapseln und Raketen. Davor dreht sich die Bronzebürste des ernstblickenden Lenin. Er hat eine hohe Stirn, eine Schnauze und einen spitzen Kinnbart.

Anfang des Filmes ist die Mauer noch nicht gefallen, deshalb enthält die Stadt noch Elemente der DDR, die auch in der AD beschrieben werden:

0:08:03 Er rülpst. An den Häusern hängen Transparente: ‚40 Jahre DDR‘. DDR Fahnen mit Hammer und Sichel werden aufgestellt. Eine Militärparade. Die Soldaten blicken zu Honecker und Gorbatschow auf der Ehrentribüne. 0:08:29 Militärfahrzüge rollen an der Tribüne vorbei. Die Panzer sind mit Raketen bestückt. Am achtgeschossigen Plattenbau bedeckt eine lange rote Stoffbahn eine Fensterreihe. Hinter der Stoffbahn ein Zimmer in rotes Licht getaucht. 0:15:11 Früher Morgen, auf der Straße. Alex rennt die Treppe zu einer S-Bahnstation hinauf. Ein rotes Transparent mit der goldenen Aufschrift ‚40 Jahre DDR‘ schmückt einen Gleisübergang. Die rot-gelbe S-Bahn fährt ein.

Ein sehr DDR-typisches Gebäude war ein Plattenbau. „Am Rande der Großstädte wurden in den 70er-Jahren Neubauviertel in Plattenbauweise aus dem Boden gestampft“ (Menn et al., 2012, S. 52). Dieses Gebäude kam häufig im Bild vor, und auch die Audiodeskription erwähnt es jedes Mal. Im Folgenden wird ein Überblick der AD über die Plattenbauten gegeben:

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0:25:15 Heller Tag. Vor einem Plattenbau. Alex und Denis holen Satellitenschüssel aus ihrem Transporter. Im Hausflur. 0:36:30 Vor dem Plattenbau. Der Krankenwagen fährt rückwärts auf die Haustür zu. Alex weist den ein. Er öffnet die Heckklappe. Lara die Haustür. 0:40:49 Vor den Mülltonnen des Plattenbaus. Alex kommt mit einem einkaufsnett voll Gläser. Zu einem älteren Herrn: 1:00:39 Am Plattenbau wird ein riesiges Coca-Cola Transparent entrollt. 1:02:15 Verwackelte Videoaufnahmen. Vor dem Plattenbau mit dem Coca-Cola Transparent. Denis hält ein Mikrofon und tanzt im Kunstlederjacke und Bügelfaltenhose vor dem Eingang herum. 1:22:42 Menschen winken aus einem vollbesetzten Zug. Vor einem Plattenbau.

Nach der Wende hat sich das Straßenbild enorm geändert. Das zeigt sich auch in der AD:

1:18:39 Die Männer tragen ein Regal ins Haus und geben den Blick auf die Straße frei. Die blausilbernen Girlanden eines Gebrauchtwagenhandels flattern im Wind. Christiane steht zögernd auf. Sie blinzelt in die Sonne und harrt Richtung Straße. An einer Litfaßsäule klebt ein Werbeplakat von IKEA. Mit staksigen Schritten geht Christiane näher heran. Auf dem blauen Plakat ist ein weißes Regal abgebildet. Daneben steht ‚Billy: 98 D-Mark‘. Unglaublich lächelnd schaut sie zum Gebrauchtwagenhandel hinüber. Interessenten betrachten einen BMW und überprüfen durch rütteln die Stoßdämpfer. 1:19:25 Auf der Straße. Christiane hält ihren Mantel festgeschlossen und durchquert mit kleinen Schritten eine Grünanlage. Langsam geht sie an zwei Plakatwänden vorbei und streift die Dessous und Autowerbung mit kurzem Blick. Auf ein großes Gebäude fällt der Schatten eines Hubschraubers von dem einer Last herabhängt. Christiane beobachtet, wie der Hubschrauber hinter einem Haus hervorkommt. An ihm hängt die obere Hälfte einer riesigen Leninstatur.

Wir können feststellen, dass der Audiodeskription sich bemüht hat, das Straßenbild der DDR so detailliert wie möglich zu beschreiben. Jedoch führt dies dazu, dass viele Informationen in einer kurzen Zeit gegeben werden, und der Hörer demzufolge überwältigt wird.

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3.2.1.1.7 Wohnungseinrichtung Als Alex und Denis Christianes Zimmer wieder im DDR-Stil einrichten sollen, gibt die Audiodeskription eine sehr detaillierte Beschreibung. Alles wird sehr schnell beschrieben, was wahrscheinlich dazu führt, dass ein sehgeschädigte Person von diesen Informationen überfordert ist:

0:33:51 Christianes Zimmer ist leer. An den Wänden hängen gelbgemusterte Tapeten. Zeitraffer. Alex und Denis schleppen Möbel herein. Ein Brauner Sekretär kommt in die Ecke, ein Orientteppich aufs Parkett. Eine fünfarmige Lampe an die Decke. Vors Fenster geschlagene Vorhänge. Auf das Bett eine Tagesdecke mit Rüschen. Außerdem ein Vermona Klavier, eine Kommode, Stehlampen, Bücher und ein Foto mit Che Guevara. Denis spielt wild auf einer Gitarre. Alex auf dem Vermona Klavier. Alex bricht die Antenne vom Radio ab. Er geht zum Kopfende des Bettes und schaut zum Fenster hinaus. Ein Plattenbau versperrt die Sicht. Zufrieden hocken sie sich aufs Bett und rauchen.

Im DDR-Führer wird gesagt, dass „die Wohnung liebevoll und aufwändig gestaltet wurde. Sitzgarnituren mit einem verstellbaren Multifunktisch und einer Klapp-Couch, die sich zum Bett verwandeln ließ, waren sehr beliebt. Es gab dicke, weiche Teppiche, schwere Übergardinen und Stores aus Tüll. „Karat“ dürfte selbstverständig nicht fehlen, die Schrankwand fürs Wohnzimmer, die sich die meisten nur per Kredit leisten konnten. Viele Wohnungen im ganzen Land waren gleich geschnitten, was dazu führte, dass auch die Möbel nach Einheitsmaß produziert wurden. Praktisch, aber die Wohnungen sahen von innen sehr ähnlich aus“ (Menn et al., 2012, S. 57). Auch die Audiodeskription beschreibt, wenn die Zeit es zulässt, manchmal die Wohnungseinrichtung:

1:17:30 Im Flur. An den Wänden hängen Tapeten mit einem Muster aus grünen Kreisen. Christiane nimmt einen Trenchcoat vom Garderobehaken und zieht ihn über ihr blaues Nachthemd. Ihr Haar hängt in langen Strengen heran. Vorsichtig öffnet sie die Wohnungstür und blickt sie ins Treppenhaus. Die Fahrstuhltür gegenüber schwenkt auf. 1:17:47 Im Fahrstuhl. Christiane drückt auf einen Knopf. Ihr Blick fällt auf ein an der Wand geschmiertes Hakenkreuz. Sie schaut verstört.

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0:46:36 Alex öffnet die Wohnungstür. Vorsichtig beschritten sie den schmalen dunklen Flur. Auf den Boden unter dem Briefschlitz liegen haufenweise Briefe. Alex knipst das Licht an und lächelt. Langsam gehen sie durch die verlassene Wohnung. Im

Schirm der Deckenlampe liegen tote Insekten. Lara streicht über einen ### Wandspiegel. Neugierig öffnet sie die Schiebetür zum Nachbarraum, tritt ein und macht das Licht an. Lächelnd schüttelt sie den Kopf und streift durch das Schlafzimmer mit Kachelofen. Mäntel hängen am einfachen Kleiderschrank. Auf dem Bügelbrett liegt Wäsche. Das Breitebett ist bezogen. Alex macht das Licht in einem weiteren Flur an. Er schlendert an Kunstdrucken mit nackten Frauen entlang und betritt die Küche. Lara im Schlafzimmer beugt sich zum grauen Telefon mit Reibscheibe und nimmt den Hörer ab.

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3.2.1.2 Richtlinie 2 3.2.1.2.1 Beleuchtung In GBL scheint es fast immer sonnig zu sein. Das soll auch so sein, um den Film locker, leicht und entspannend zu halten. Schlechtes Wetter ist nämlich häufig eine Hinweis darauf, dass etwas Schlimmes passieren wird, oder es wird als Kennzeichen für eine unheilige oder böse Szene verwendet. Diese Helle soll sich auch in der AD zeigen, was auch hier so ist, weil da die AD die Sonne erwähnt, wenn sie ins Bild kommt:

0:37:01 In Christianes Zimmer. Alex öffnet die Vorhänge. Christiane liegt im Bett. Sie blinzelt ins Sonnenlicht und setzt sich kurz um. 0:48:07 Alex schlägt langsam die Augen auf und blinzelt schlaftrunken in die Sonne. Liebevoll betrachtet er die schlafende Lara und streicht sanft über ihr Haar. Sein Blick fällt auf seine Armbanduhr. 1:18:39 Die Männer tragen ein Regal ins Haus und geben den Blick auf die Straße frei. Die blausilbernen Girlanden eines Gebrauchtwagenhandels flattern im Wind. Christiane steht zögernd auf. Sie blinzelt in die Sonne und harrt Richtung Straße. 1:20:08 Die Leninstatur schwebt näher heran. Das Sonnenlicht lässt die Bronze schimmern. Lenins ausgestreckte Rechter weist auf Christiane. Die höhlt sich noch fester in ihrem Mantel, weicht ein paar Schritte zurück und betrachtet ihn Fassungslos. 1:31:05 Das Licht der Tiefstehenden Sonne fällt warm auf ihre Gesichter. Lara streichelt Alex‘ Nacken und zieht seinen Kopf zärtlich an ihre Schulter. Aneinander gelehnt blicken sie auf den See.

Nur einmal im Film kommt Regen vor, nämlich, als Alex das Bild von Honecker nach draußen setzt, als dieser von seinem Amt zurücktritt. Wahrscheinlich war es die Absicht der Filmemacher, auf diese Weise diese Szene als eine schwierige Periode in der DDR zu verdeutlichen. Auch die AD erwähnt den Regen:

0:17:21 Alex stellt ein Honecker Bild in den strömenden Regen.

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3.2.1.2.2 Tag-Nacht Wenn sich im Film eine Szene sich irgendwo draußen oder am nächsten Tag abspielt, benennt die Audiodeskription das als ‘heller Tag’. Im ganzen AD-Skript wird dies zehn Mal genannt. Einige Beispiele der AD:

0:54:56 Heller Tag. Vor Klappraths Wohnung. 1:05:54 Heller Tag. Alex und Ariane packen die Ostmarkbündel aus dem Tresen einer Bank. 1:13:51 Heller Tag. In der verlassenen Wohnung. Alex‘ Beine und Oberkörper sind eingegipst. 1:23:23 Heller Tag. Die Kerners am Fenster.

Wenn es Nacht ist, erwähnt die AD dies als ‘es ist Nacht’:

1:06:57 Es ist Nacht. Alex wirft das Geld vom Hochhausdach.

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3.2.1.3 Richtlinie 3 Richtlinie 3 stellt fest, dass einige Filme auch bestimmte prototypische oder stereotype Figuren mit bestimmte Persönlichkeiten und Verhaltensmuster repräsentieren. Der Audiodeskriptor soll also die Art und Weise, wie solche Figuren dargestellt werden, bestimmen, und entscheiden, ob er diese Eigenschaften direkt ausdrücken wird, z.B. die Bewegungen, Gesten oder Mimik der Figur, oder die Beziehung zum Genre indirekt darstellen wird.

In GBL gilt Mutter Christiane als prototypische oder sogar stereotypische Figur, weil sie sehr stark an den Sozialismus glaubt bzw. zu glauben scheint. Am Ende des Films stellt sich jedoch heraus, dass sie nur SED-Mitglied ist, weil sie sonst als alleinerziehende Mutter das Regime nicht überleben könnte.

Die Audiodeskription hat nichts spezifisch über Christiane als überzeugte Sozialistin erwähnt. Jedoch ist ihre sozialistische Überzeugung dem sehbehinderten Publikum klar, weil Alex im Voiceover viel über ihre sozialistische Tätigkeiten erzählt, z.B.: „Meine Mutter wurde Förderin des gesellschaftlichen Fortschritts. Eine leidenschaftliche Aktivistin für die einfachen Bedürfnisse der Bevölkerung und gegen die kleinen Ungerechtigkeiten des Lebens“. Darüber hinaus wird es wiederum aus den Dialogen deutlich. Die einzige Referenz auf die sozialistische Mutter ist am Anfang des Films, als sie einen Chor der Jungen Pioniere dirigiert und als sie für eine feierliche Auszeichnung in Berlin in der Nachrichtensendung erscheint, aber dies wird bloß erwähnt, weil es ins Bild kommt, und der Audiodeskriptor nur die Ereignisse auf dem Bild beschreibt:

0:05:31 An einem kleinen Bahnhof. Alex in blauer Pionieruniform strahlt in die Kamera. Vor einem Brunnen. Christiane dirigiert einen Chor. Die Kinder tragen blaue Käppis und Halstücher. 0:05:51 Christiane, ein rotes Tuch um den Hals, singt strahlend mit. 0:06:48 Alex weist aufs Fernsehbild. Christiane im Kostüm geht mit anderen eine Treppe hinauf.

Entsprechend kann der Schluss gezogen werden, dass der Audiodeskriptor sich dafür entschieden hat, nicht ausführlicher über die stereotype Figur im Film zu berichten, weil ihre Überzeugung für das sehbehinderte Publikum bereits deutlich genug ist. Darüber hinaus handelt der Film mehr von Alex als von ihr, und somit bleibt ihre Figur einigermaßen im Hintergrund.

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3.2.2 Das Leben der Anderen (2006) 3.2.2.1 Richtlinie 1 3.2.2.1.1 Unterdrückung der Stasi Wie oben bereits erwähnt war das Ministerium für Staatssicherheit (Stasi) die geheime Polizei der DDR, die im Auftrag der Sozialistische Partei Deutschland (SED) Dissidenten verfolgten. In diesem Film spielt die Stasi eine sehr bedeutende Rolle. In GBL standen vor allem die Ostprodukte und der gewöhnliche DDR-Alltag im Mittelpunkt, während es in DLDA vielmehr um die Unterdrückung der Bevölkerung geht.

Der Film fängt sofort mit einer furchtbaren Szene an. Hauptstasimann Wiesler verhört einen Mann, der zur Republikfluchthilfe verdächtigt wird. Zur gleichen Zeit lehrt er seinen Studenten diese Verhörtechniken in einem Hörsaal. Die Audiodeskription versucht alles zu beschreiben. In diesem Schnitt sind jedoch viel Szenenwechsel enthalten, deshalb könnte es sein, dass der Hörer Teilen des Films nicht gut folgen kann. Die Audiodeskription sieht folgendermaßen aus:

0:00:11 Ein Uniformierter führt einen dunkelhaarigen Mann durch einen langen Gang mit Linoleumboden. Zu beiden Seiten viele Türen. An der Wand leuchten Warnlampen rot auf. 0:00:24 In einem quer verlaufenden Gang wird ein Gefangener vorbeigeführt. 0:00:30 Sie bleiben vor einer Tür stehen. 0:00:34 Ein Tonbandgerät wird eingeschaltet. 0:00:39 Hinter einem Schreibtisch sitzt ein Mann mit Halbglatze in Uniform. 0:00:42 Der Dunkelhaarige setzt sich auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch. 0:00:45 Der Dunkelhaarige schiebt erst die linke, dann die rechte Hand unter seine Oberschenkel. Der Hauptmann nickt dem Uniformierten zu, der geht. 0:01:14 An der Wand hängt ein Porträt von Erich Honecker. 0:01:37 Der Hauptmann macht Notizen. 0:02:03 In einem Hörsaal. Ein Tonbandgerät wird ausgeschaltet. 0:02:15 Im Gefängnis. 0:02:18 Der Hauptman löst einen Kollegen ab. 0:02:23 Der Raum ist schwach beleuchtet. Es ist Abend. 0:02:25 Der Häftling nimmt die Hände vom Gesicht. 0:02:27 Der Häftling kippt zur Seite, wird wiederaufgerichtet.

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0:02:38 Im Hörsaal steht der Hauptmann an der Tafel. Darauf steht OPK: Operative Personenkontrolle. 0:02:51 Auf einem Sitzplan mach der Hauptmann unter dem Namen des Studenten ein Kreuz. 0:03:26 Der Hauptman schreibt ohne aufzublicken mit. 0:03:31 Der Häftling hält den Kopf gesenkt. 0:04:14 Erschrocken blickt der Häftling auf. 0:04:32 Er greift zum Stift. 0:04:39 Wieder im Hörsaal. 0:04:49 Im Verhörzimmer. Der Hauptmann hebt die Sitzfläche vom Stuhl des Häftlings und löst an der Unterseite Schraubenmuttern. 0:05:56 Mit Handschuhen zieht er den orangenfarbigen Bezug von der Sitzplatte aus Holz. 0:05:10 Den Stoff steckt den in Einweckglas und spannt eine Klammer über den Deckel.

Später im Film wird Christa verhaftet. Sie soll wegen des Spiegel-Artikels Dreymans verhört werden. Die Audiodeskription verweist hier zu Recht auf die früher erwähnte Sitzplatte, weil es hier eine wichtige Angabe ist, dass Christa wirklich als Häftling betrachtet wird:

1:31:01 Ein Uniformierter fährt Christa durch einen Gang. 1:31:09 In einem Verhörzimmer. 1:31:15 Grubitz nimmt hinter einem Schreibtisch Platz. 1:31:19 Christa setzt sich auf einem Stuhl davor. Die Sitzfläche ist mit orangenem Stoff bespannt. Christa legt ihre Hände auf die Oberschenkel.

Im Film sind die Handlungen der Stasi unmenschlich, kühl und durchdacht. Zum Beispiel, als die Stasi Dreymans Wohnung verwanzt, geht alles sehr rasch, jedoch auch sehr kontrolliert. Die Art und Weise, wie die Audiodeskription diese Szene beschreibt, passt zu der Situation; schnell und genau. Hier können wir auf die These von Dosch zurückverweisen, nämlich, dass es wesentlich sei, dass man sich immer wieder in den Tonfall der Dialoge und die Stimmung des Films hineinhöre, um mit der richtigen Sprache den Film zu beschreiben (2004).

0:18:45 Es ist Tag. Dreyman kommt aus dem Hauseingang. Herbstlaub liegt auf den Grünflächen vor dem Haus. Gegenüber parkt ein dunkelgrauer Kleinbus. Wiesler steht verdeckt dahinter und beobachtet wie Dreyman sich entfernt. Dann klopft er

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an den Bus. Männer in grauen Anoraks und Lederhandschuhen steigen aus. Sie tragen Ledertaschen. Der Trupp geht auf Dreymans Haus zu. Einer trägt eine Klappleiter aus Holz. Voran läuft der Einsatzleiter in einer braunen Kunstlederjacke. Wiesler folgt den Männern. Hände in Handschuhen öffnen mit einem Vibrationskolben das Sicherheitsschloss. Nacheinander kommen die sechs Männer ins Treppenhaus. Die Leiter wird vor dem Hauseingang aufgestellt. Vor einer Wohnung gibt einer der Männer dem Einsatzleiter eine Polaroid Kamera. Ein anderer öffnet mit einem Schlüssel das Türschloss. 0:19:38 Im Wohnungsflur. Der Einsatzleiter stellt die Kamera auf ein Schränkchen, er und Wiesler halten Stoppuhren. 0:19:46 Von einem Lichtschalter wird die Abdeckung entfernt. Über einem anderen Lichtschalter wird durch ein Loch in der Wand ein Kabel hinter der Tapete nach unten geschoben. Drähte werden mit einander verbunden. Im Flur hantiert der Einsatzleiter an der Wand über dem Türöffner. Wiesler hält ein großes gefaltetes Papier in den Händen. Er schaut darauf und geht vom weitläufigen Wohnzimmer mit hoher Decke und Parkettfußboden ins Arbeitszimmer. Er faltet das Papier zusammen. Am Schreibtisch zieht er Schubladen heraus. Darin Ausgaben der ‚FAZ‘ und des ‚Spiegel‘. Er betrachtet ein schwarz-weiß Porträtfoto von Christa auf dem Schreibtisch. In einem angrenzenden Zimmer fährt ein Mann neben einem Türrahmen mit einem Detektor über die Wand. 0:20:35 Ein Blick durch einen Türspion: Dreymans Wohnungstür öffnet sich. Der Einsatzleiter späht ins Treppenhaus. Wiesler kommt aus der Wohnung und geht die Treppe weiter nach oben bis zum Dachboden. Er öffnet die Tür mit einem Werkzeug. Wiesler steht unter dem Gebälk des Dachstuhls und blickt sich auf dem leeren geräumigen Dachboden um. Durch eine fensterreihe scheint Tageslicht herein. 0:21:05 In Dreymans Wohnung. Der Einsatzleiter und Wiesler holen ihre Stoppuhren hervor. Eine dunkelhaarige Frau Mitte fünfzig späht durch den Spion in ihrer Wohnungstür. 0:21:18 Im Okular des Spions: Wiesler verlässt als letzter Dreymans Wohnung. Er sieht herüber und bemerkt im Spion eine Bewegung. Die Dunkelhaarige schreckt zurück. Wiesler kommt direkt auf ihre Tür zu. Der Einsatzleiter stellt sich hinter ihn. Sie zuckt zusammen.

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Die Filmabsicht hier war es, dem Fernseher ein sehr schockierendes Gefühl zu geben. Das wird ermöglicht durch die Weise, wie alles ins Bild gebracht wird. Das Ziel des Audiodeskriptors war hier, auch dem Hörer dieses Gefühl möglichst genau zu vermitteln. Dies gelingt der Audiodeskription großenteils, indem auch mit sehr kurzen, detaillierten Sätze gesprochen wird. Diese Technik wird nochmal im Film benutzt, nämlich als die Stasi in Dreymans Wohnung auf der Suche nach der geheimen Schreibmaschine ist, um beweisen zu können, dass Dreyman den Artikel geschrieben hat:

1:33:25 Eine Einsatztruppe der Staatssicherheit nähert sich Dreymans Haus. Die Männer tragen lange Mäntel. Einer geht mit einem Vibrationskolben zur Haustür. Grubitz deutet auf die offene Tür. Sechs Männer marschieren ins Haus. 1:33:38 Wiesler schreckt auf und greift sich an die Kopfhörer. Er zieht zum Monitor: darauf Grubitz vor der Haustür. Er winkt Wiesler zu. 1:33:49 Langsam geht Grubitz auf die andere Straßenseite. 1:33:56 Erstaunt blickt Dreyman Richtung Flur. Er rutscht auf die Bettkante und drückt seine Zigarette aus. Dreyman eilt zu Türschwelle und fährt prüfend mit der Hand über das Holz. 1:34:09 Grubitz in ein Funkgerät. 1:34:18 Dreyman öffnet die Tür. 1:34:30 Der Kommandoführer geht in den Flur. 1:34:40 Die Männer verteilen sich in der Wohnung. Drei gehen über die Türschwelle ins Wohnzimmer. Dabei gibt das Holz leicht nach. Der Kommandoführer verschwindet in Christas Zimmer mit der Chaiselongue. Dreyman schließt die Wohnungstür und bleibt im Flur stehen. 1:34:55 Auf dem Dachboden. Alle Pegelanzeigen schlagen aus. Wiesler hört konzentriert zu. 1:35:01 Der Deckel des Flügels wird hochgeklappt. Die Gegenstände darauf rutschen runter. Das Bettzeug wird zur Seite geworfen. Ein Schränkchen wird durchsucht. Wieder geht einer der Männer über die Türschwelle. Bücher werden aus Regalen gezogen und aufs Parkett geworfen. Die Polsterung des Sofas wird aufgeschlitzt, das Füllmaterial quillt hervor. Der Kommandoführer öffnet eine silberne Dose auf dem Schreibtisch.

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Im Film werden Szenen gezeigt, die ein gutes Bild darüber vermitteln, wie gewissenhaft vorgegangen werden sollte in der DDR, denn überall konnte man ausspioniert werden. Ein Beispiel dafür ist, als Dreyman sein Manifest über die offiziell geheim gehaltene Selbstmord- Statistik in der DDR veröffentlichen möchte und deswegen die Zusammenarbeit mit dem Spiegel-Redakteur möglichst geheim bleiben sollte (Mohr, 2006). In dieser Szene geht es um ein Geheimfach in einer Aktentasche. Auch die Audiodeskription gibt eine detaillierte Beschreibung der Handlung:

1:24:32 Es ist Tag. In Dreymans Arbeitszimmer stellt Hessenstein seine Aktentasche kopfüber auf den Schreibtisch. Am Taschenboden zieht er aus einer Mittelnaht ein Metallstab heraus. In der Öffnung lässt er Dreymans Manuskriptseiten verschwinden. Dann schiebt er den Metallstab wieder in die Naht hinein. Der Boden schließt sich. Hessenstein dreht die Tasche um und gibt Dreyman die Hand.

Die Schreibmaschine, mit der Dreyman den Artikel schreibt, soll ebenso gut versteckt werden, und hier beschreibt die Audiodeskription die Szene auch genau:

1:15:45 Aus einem Präsentkorb mit Jacobs-Kaffee, Bananen und Ananas zieht Hessenstein eine Tortenschachtel. 1:15:52 Er klappt sie auf, hebt die Torte heraus, darunter eine flache Schreibmaschine. 1:22:24 Dreyman entfernt eine breite Türschwelle. Im Hohlraum darunter versenkt er die flache Schreibmaschine und liegt das Manuskript darauf. Er baut die Türschwelle wieder ein. 1:23:13 Dreyman steht vom Schreibtisch auf. In der einen Hand das Manuskript, in der anderen die flache Schreibmaschine. Er geht ins Wohnzimmer und hockt sich vor der Türschwelle zum Flur. Mit einem Werkzeug hebt er die Schwelle heraus, lehnt sie an den Türrahmen und verstaut die Schreibmaschine und die Manuskriptseiten im Hohlraum. Dreyman sieht zur Wohnungstür und hält inne. Christa kommt herein. Verwundert blickt sie zu ihm, senkt den Blick und schließt die Tür. Rasch verschwindet sie im Schlafzimmer. Dreyman schüttelt den Kopf und liegt die Schwelle wieder über den Hohlraum.

Eine Türschwelle war laut Constanze Glien typisch für die Plattenbauten, man konnte sie einfach hochziehen in diesen Gebäuden (persönliche Kommunikation, 3. April 2018).

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Um Christa zur Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen zu führen, wird ein ‚Barkas‘ benutzt. Dies ist ein typischer Kleintransporter der DDR. Im Film ist er als Fischtransporter getarnt, weil der wirkliche Häftlingstransport geheim bleiben sollte. Die Tarnung wird auch in der Audiodeskription erwähnt. Die AD erklärt ebenso, dass der Barkas ein Kleinbus ist, mit der Absicht, die Szene für jeden verständlich zu machen. In diese Situation hat der Audiodeskriptor ein der grundlegenden Konzepte der Audiodeskription beachtet: wie in Kapitel 2.1.3 erwähnt, stellt Benecke (2014) fest, dass wenn der Audiodeskriptor den Namen eines Fachbegriffs verwenden möchte, er beim ersten Verwenden eine kurze Definition oder Erläuterung geben soll. Der Audiodeskriptor hat sich zu Recht dafür entschieden, denn als einen Sprecher des Deutschen gefragt wurde, ob er das Wort ‚Barkas‘ kenne, antwortete er, er habe dies noch nie gehört.

1:30:41 Ein Barkas mit Kastenaufsatz fährt durch eine bewachte Schranke. Der Kleintransporter hält in einem Innenhof. Neben einer Schiebetür an der Seitenwand des Kastens steht ‚Fischfisch‘. Ein Mann in grauer Kunstlederjacke springt heraus. Er hält Christas Handtasche und fasst sie am Arm. Christa trägt Handschellen. 1:43:38 Ein Uniformierter fährt Christa am Arm aus dem Gebäude in den engen Innenhof. An allen Zugängen stehen Wachposten. Der Barkas mit der Aufschrift ‚Frischfisch‘ kommt angefahren. Grubitz im Mantel nähert sich Christa. Der Uniformierte öffnet die Schiebetür.

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3.2.2.1.2 Kunst Lenssen (2010, S. 288) erwähnt, dass „Kunst heilen könne und als Handlungsanleitung unmittelbar human wirken könne“. Laut ihr verstehe „der Regisseur Henckel von Donnersmarck diese idealistische Vision als Kern seiner ästhetischen Aussage. Das Kunsterlebnis sei bei ihm Synonym für ein Erweckungserlebnis“.

Theater galt als eine sehr beliebte Freizeitaktivität. Im Film handelt es sich um ein Arbeiterstück, geschrieben von Dreyman. Laut Constanze Glien ist solch ein Stück sehr DDR- spezifisch, denn Arbeiter wurden als herrschende Klasse dargestellt im Gegensatz zu dem Westen, in dem immer noch die Großgrundbesitzer an der Macht waren. Studierende wurden in der DDR mehr oder weniger entsorgt. Die Partei wollte Bauern und Arbeiter an die Macht bringen, deshalb war im SED-Logo auch ein Hammer für die Handwerker und eine Sichel für die Bauern. Sie fügt hinzu, dass Minister und SED-Leute das Besuchen eines Stückes genossen, und andere Leute das demzufolge auch sollten (persönliche Kommunikation, 3. April 2018).

Die Audiodeskription versieht die Szene mit einer ausführlichen Beschreibung der Ereignisse. Sie erwähnt das Dekor, die Kleidung der Arbeiterinnen und die Handlungen. Der Schwerpunkt dieser Szene im Theater liegt aber nicht auf der Tatsache, dass es ein Arbeiterstück ist, sondern auf der Beobachtung Dreymans und den Gesprächen zwischen den Stasimännern, ob sie Dreyman bespitzeln werden oder nicht. Die Dialoge sprechen selbstverständlich für sich, aber die Beobachtung wird von der Audiodeskription trotzdem gut beschrieben, indem z.B. das Opernglas und was dadurch gesehen wird, erwähnt wird:

0:06:16 In einem Theater. Der Leiter der Kulturabteilung und der Hauptmann nehmen in einer Loge Platz, beide mit Anzug und Schlips. 0:06:26 Er reicht ihm ein Opernglas. 0:06:33 Der Hauptmann sieht durch das Opernglas hinunter zu Hempf, einem massigen Mann mit hohen Geheimratsecken, dann blickt er in den Rang zu einem dunkelhaarigen Mann Ende dreißig. 0:06:43 Der lächelt ins Publikum. 0:06:59 Dreyman hat platzgenommen. Das Saallicht geht aus. 0:07:04 Der Vorhang öffnet sich. Auf der Bühne stehen Arbeiterinnen in grauen Kitteln und mit Kopftüchern an zwei Fließbändern. Kartons sind aufgestapelt. Im

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Hintergrund die Projektion eines Stahlgerüsts. Eine Arbeiterin bricht zusammen. 0:07:26 Marta setzt sich auf. 0:07:40 Gebannt sieht der Hauptmann über das Opernglas zur Bühne. 0:07:54 Marta starrt geradeaus. 0:08:00 Langsam steht sie auf. 0:08:04 Der Hauptmann beobachtet abwechselnd Dreyman, die Bühne und Hempf. Aufmerksam sieht Dreyman rauchend dem Stück zu. Marta sitzt auf einem Stuhl, die Arbeiterinnen am Boden um sie herum. Im Rang: ein Mann mit Brille umarmt Dreyman und geht. Marta stößt einen Mann in die Kartonstapel. Hempf sitzt unruhig auf seinem Platz. Ausgelassen tanzt Marta mit einer Arbeiterin im Kreis. Dreyman lacht. Der Vorhang schließt sich. 0:08:44 Der Leiter der Kulturabteilung schaut gelangweilt auf seine Uhr. An seinem Revers ein Abzeichen. 0:08:50 Der Hauptmann senkt das Opernglas. 0:09:09 Mit einer Schachtel Zigaretten verlässt er die Loge. Wiesler greift zum Programmheft. Auf dem Umschlag steht: ‚Georg Dreyman - Gesichter der Liebe‘. Wiesler schlägt das Heft auf, auf einer Seite Porträts der Hauptdarstellerin Marta und von Dreyman, dazu Texte. Er sieht zu Dreyman hinüber. In der offenen Tür zum Rang steht die Hauptdarstellerin. Dreyman umfasst ihre Hüfte, die beiden küssen sich und lachen. Unten im Parkett setzt sich der Leiter der Kulturabteilung zu Minister Hempf. Neben Hempf sitzt ein junger Mann. 0:09:50 Hempf blickt zu Dreyman nach oben, der setzt sich wieder auf seinen Platz. Wiesler beobachtet die Männer im Parkett.

Ein anderes Beispiel der Kunst ist die Musik. In dramatischen oder traurigen Szenen spielt die Hintergrundmusik eine sehr wichtige Rolle. Sie verstärkt nämlich noch mehr die triste, düstere und bedrohliche Atmosphäre im Film. Aber ‚Die Sonate vom guten Menschen‘, ein Klavierstück von Dreyman gespielt, gilt als wirklicher Wendepunkt des Stasihauptmannes Wiesler und Dramatikers Dreyman. Dreyman hatte das Notenheft nämlich von seinem Freund Jerska bekommen, der sich gerade umgebracht hat. Als Dreyman das Klavierstück spielt, ändert sich sowohl seine als auch Wieslers Ansicht über die Partei und die DDR. Die Audiodeskription erzählt den Vorgang objektiv und neutral, doch wirkt die Beschreibung traurig und mitfühlend, vor allem weil sie mit der Musik zusammengeht:

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0:49:38 Auf dem Dachboden. An einem Gerät blinkt ein Knopf. Daneben steht ‚Amt extern‘. Wiesler greift zu einem Hörer. 0:49:45 Dreyman kommt zum Telefon. 0:49:50 Wiesler hält den Hörer ans Ohr. 0:49:57 Dreymans Gesicht erstarrt. 0:50:15 Sein Brustkorb hebt und senkt sich. Er geht zum Flügel und setzt sich auf den Hocker. Schwermütig blickt er vor sich hin. Christa kommt ins Zimmer. Dreyman greift in einen Stapel Notenhefte und zieht die Sonate vom guten Menschen hervor. Dreyman spielt auf dem Flügel. Christas Hand liegt auf seiner Schulter. 0:51:12 Wiesler sitzt reglos vor der Schreibmaschine. Er hat die Kopfhörer auf. Er schluckt. Eine Träne läuft über seine Wange.

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3.2.2.1.3 Stadt Im Gegensatz zur Audiodeskription von GBL wird ‚Plattenbau‘ hier nur einmal erwähnt. Kurz danach wird für ‚Plattenbau‘ ‚Hochhaus‘ benutzt. Vielleicht mit der Absicht das Phänomen ‚Plattenbau‘ auf diese Weise zu erklären:

0:16:13 Ein hoher Plattenbau ragt in den Nachthimmel. 0:16:19 Wiesler steigt aus. Er geht auf das Hochhaus zu. Vor dem Eingang parken ein Trabant und ein Wartburg.

Die Audiodeskription gibt nicht viele Beschreibungen über die Stadt, weil sich nur wenige Szenen in der Stadt abspielen. Nur als ein fahrendes Auto gefilmt wird, wird eine Beschreibung der Umgebung gegeben. Die Beschreibungen bleiben jedoch sehr prägnant:

0:53:44 Die dunkelblaue Volvo-Limousine hält vor einem Gebäude mit grauer Fassade. 1:29:21 Grubitz setzt sich ihm schräg gegenüber auf die Bank. Der Wagen fährt über den weitläufigen Hof, vorbei an parkenden Wartburgs. Der mehrstöckige Gebäudekomplex hat eine graue Fassade und gleichförmige Fensterreihen. 1:51:18 Eine Kamerafahrt unter Bäumen. Die kahlen Baumkronen ragen dunkel in den graublauen Himmel. Sonnenlicht lässt einige Äste golden leuchten. Wieslers Wartburg fährt durch eine Siedlung mit Einfamilienhäusern und hält vor einem Grundstück. 2:03:20 Hinter der Seitenscheibe eines Autos sitzt Dreyman auf der Rückbank. Im Fenster spiegelt sich die monumentalen Stalinbauten der Karl-Marx-Allee. Wohnblocks mit vorgebauten Ladenzeilen im Erdgeschoss. Dreyman sieht hinaus und stutzt. Eine Männerhand drückt Werbeprospekte nach inne in Hausbriefkästen. Es ist Wiesler. Er trägt einen grauen Blouson und eine dunkle Hose. Er kommt aus einem mit Graffiti besprühten Hauseingang. Dreyman beobachtet wie Wiesler auf dem breiten Gehweg zum nächsten Hauseingang geht. Er zieht einen Einkaufsroller, ein Gestell mit zwei Rädern und einer Tasche, hinter sich her. 2:04:47 Das Auto fährt an Wiesler vorbei. Der geht an einem imposanten Säulenportal vorüber, das Teil eines Wohnblocks ist. Dreyman dreht sich lange zu ihm um. Das Auto entfernt sich immer weiter. Hinter der Fensterscheibe sitzt Dreyman mit bedrückter Miene. Im Glas spiegeln sich die Fassaden der Stalinbauten mit Balkonen und Erkern. Die Fassaden sind mit Keramikplatten verkleidet.

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3.2.2.1.4 Wohnungseinrichtung Die Einrichtung von Dreymans Wohnung kommt sehr spät zur Sprache, weil es erst dann Zeit dafür gibt. Der Film enthält nämlich von Anfang an sehr viele Dialoge.

0:31:48 Im Wohnzimmer. Dreyman packt Geschenke aus. Christa liegt auf dem Sofa. An der Wand darüber ein riesiges abstraktes Gemälde. 0:47:19 Wiesler betritt Dreymans Wohnung. Im Durchgang zwischen Wohn- und Arbeitszimmer bleibt er stehen und sieht sich im Arbeitszimmer um. Tageslicht fällt herein. Die Wände in beiden Zimmern sind Ockerfarben, die Decken weiß. Langsam geht Wiesler zum Schreibtisch, die Hände in den Jackentaschen. Auf dem Tisch liegen die Salatgabel und der goldene Füllfederhalter, daneben Zeitschriften. Lange lässt Wiesler seinen Blick darauf ruhen. Im Schlafzimmer hockt er sich neben das Bett. Zaghaft legt er seine Hand auf das Laken.

Wichtig sind hier die Farben. Die Wohnungen von Dreyman und anderer Künstler sind kreativ, nonkonformistisch und gemütlich eingerichtet. Die Zimmer sind farbig und künstlerisch. Sie stehen im deutlichen Kontrast zu Wieslers Wohnung, zum Dachboden und zu den Stasigebäuden. Hierunter wird Wieslers Wohnung beschrieben:

0:16:29 In Wieslers Neubauwohnung. Im Flur hängt er seinen grauen Anorak auf einem Bügel an die leere Garderobe. Wiesler lockert seinen Schlips, macht Licht im Wohnzimmer und geht in die Küche. An den Wänden im Wohnzimmer Strukturtapete, mitten im Raum ein braunes Sofa, davor ein Couchtisch und ein Fernseher. Vor der breiten Fensterfront hängen weiße Gardinen und dunkelbraune Vorhänge. In der Wand zur Küche ist eine Durchreiche mit Schiebefenstern aus Glas. Wiesler steht neben der braun emaillierten Spüle. Vor sich einen Teller, er drückt Tomatenmark auf das warme Essen und verrührt alles. Dann geht er ins Wohnzimmer zum Fernseher. An der Wand dahinter eine dunkelbraune Schrankwand, daneben steht die Tür zum Bad offen. Er setzt sich auf das Sofa.

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Auch die Dachbodeneinrichtung ist eine grimmige Umgebung:

0:24:44 Auf dem Dachboden. Die Fenster sind mit Platten zugenagelt. Eine Neonröhre leuchtet über zwei Tischen und einem Rollwagen mit elektronischen Geräten die übereinanderstehen. Wiesler geht auf den Arbeitsplatz zu. Davor ein Drehstuhl. Er schaltet eine Tischlampe ein, nimmt einen Bogen Papier und schwand ihn in eine Schreibmaschine. Auf einem Monitor sieht er wie Dreyman auf die Haustür zukommt. Wiesler setzt sich Kopfhörer auf. 0:38:25 Auf dem Dachboden. Wiesler zeichnet den Grundriss von Dreymans Wohnung mit Kreide auf den Holzboden. Er steht auf und geht langsam durch ein Zimmer mit der Beschriftung CMS. Wiesler hat die Kopfhörer auf.

Der Einrichtung der Stasigebäude wird nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt. Hier wäre es besser, die Umgebung detaillierter zu beschreiben, weil dieses Gebäude und vor allem wie es aussieht im Film sehr wichtig ist.

0:00:11 Ein Uniformierter führt einen dunkelhaarigen Mann durch einen langen Gang mit Linoleumboden. Zu beiden Seiten viele Türen. An der Wand leuchten Warnlampen rot auf. 0:00:24 In einem quer verlaufenden Gang wird ein Gefangener vorbeigeführt. 0:33:57 In einem Archiv. Wiesler blättert in einem Karteikasten. Grubitz geht zu ihm. Wiesler zieht eine Karte heraus. 0:34:11 Wiesler steckt die Karte zurück. Sie durchqueren das hallenartige Archiv mit zahllosen elektronischen Karteikästen aus Stahl. 0:34:18 In der Kantine. Über der Ausgabe steht: Linseneintopf 0,6 Mark. Grubitz und Wiesler gehen mit Tabletts zwischen langen Tischen hindurch. Wiesler geht zu einem Tischende. 1:37:52 Wiesler kommt durch einen langen Gang mit Linoleumboden. Vor einer Tür bleibt er stehen und zögert.

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3.2.2.2 Richtlinie 2 3.2.2.2.1 Beleuchtung Einem sehenden Publikum fällt auf, dass die meisten Szenen in DLDA sich in dunklen Umgebungen abspielen. Auch die Presse hat darüber Berichtet: „In grauen, trostlosen Farben erzählt Das Leben der Anderen vom Eindringen in das Leben des Künstlerpaares (Bales, 2010). Nur einige Male kommt die Sonne ins Bild:

0:17:30 Es ist Tag. Die Sonne scheint. Dreyman spielt mit drei Kindern Fußball auf einer regennassen Straße. Am Rand parken wenige Autos. Wiesler steht vor einem Hauseingang und beobachtet Dreyman. 1:51:18 Eine Kamerafahrt unter Bäumen. Die kahlen Baumkronen ragen dunkel in den graublauen Himmel. Sonnenlicht lässt einige Äste golden leuchten. Wieslers Wartburg fährt durch eine Siedlung mit Einfamilienhäusern und hält vor einem Grundstück.

In anderen Fällen wird die Beleuchtung nur kurz erwähnt. Auch hier wäre es besser, die Beleuchtung ausführlicher zu beschreiben, weil sie sehr wichtig ist, um die richtige Atmosphäre zu schaffen.

0:02:23 Der Raum ist schwach beleuchtet. Es ist Abend. 0:39:22 Sie sitzt neben Hempf auf der Rückbank. Der nehmt ihr die Mütze ab und wirft sie auf die Bank vor ihnen. Christa sieht starr geradeaus. Hempf streicht ihr übers Haar. Dann über die Lippen. Das Licht der Straßenlaternen erhellt ihre Gesichter.

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3.2.2.2.2 Tag-Nacht Wichtig aufzumerken ist, dass eine neue Szene draußen oder am nächsten Tag in GBL als ‘heller Tag’ beschrieben wird, während sie in das Leben der Anderen als ‘es ist Tag’ benannt wird. Dieser subtile Unterschied könnte ein Hinweis auf das Wetter und die Atmosphäre sein. In GBL scheint immer gutes Wetter zu sein, während in DLDA alles eher dunkel dargestellt wird.

1:12:59 Es ist Tag. Wieslers Kollege sitzt am Arbeitsplatz. Wiesler kommt zu ihm. 1:36:55 Es ist Tag. Am Ehrenmal.

Im Film spielen sich viele Szenen nachts auf der Straße ab. Um solch eine Szene zu beschreiben, wird ‚es ist dunkel‘, oder ‚es ist Nacht‘ erwähnt:

0:15:59 Es ist Nacht. Ein PKW fährt in einem mehrspurigen Kreisverkehr um einen Platz herum. 0:18:24 Es ist dunkel. Eine Volvo-Limousine mit verdunkelten Scheiben fährt an Wiesler vorbei und hält in einiger Entfernung. Wiesler blickt zum Wagen. Eine Frau steigt aus dem Fond. Die Limousine fährt davon. Die Frau überquert die Straße, Wiesler sieht ihr nach und notiert sich das Autokennzeichnen. 0:52:24 Es ist dunkel. Wiesler geht auf das Hochhaus zu. 0:58:29 Auf der Straße. Es ist dunkel. Wiesler entfernt sich mit gesenktem Kopf vom Haus. Rückwärts laufend sieht er an der Fassade hoch. Eine Passantin geht den Burgersteig entlang. Wiesler erschrickt und dreht sich abrupt um. Die Frau weicht ihm aus. Er überquert die Straße. Immer wieder guckt er zum Haus zurück. Hinter eine Hausecke versteckt er sich und beobachtet Dreymans Haus weiter. Neben Wiesler stützt sich ein Mann gebückt an die Wand. 1:56:53 Es ist dunkel. Dreyman im Mantel kommt am Eingang des Theaters ‚die Volksbühne‘ vorbei.

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3.2.2.3 Richtlinie 3 Als stereotype Figur gilt hier Stasi-Hauptmann Wiesler. Er steht für eine uneingeschränkte Loyalität zu der Partei und dem Regime ist und für seine Verhörtechnik bekannt. Er wirkt wie ein Roboter, ein treuer Soldat des Kommunismus (Jekino, s.d). Er leitet den Fall Dreyman und verbringt seine Tage lauschend auf dem Dachboden von Dreymans Wohnung. Jedoch genauso wie bei der sozialistischen Christiane nimmt seine Figur plötzlich eine überraschende Wendung. Er beginnt am repressiven Regime zu zweifeln, und fühlt sich immer mehr in das unterdrückende Leben des Künstlerpaares ein. Von diesem Moment an lässt er seine Emotionen sprechen und versucht das Paar zu schützen.

In den ersten ca. 45 Minuten des Films ist Wiesler noch ein linientreuer Stasi-Agent. Das kann das Publikum aus den Dialogen ableiten, aber auch aus der Beschreibung der Anfangsszene, in der Wiesler jemanden auf grausame Weise verhört und Dreymans Wohnung verwanzt (siehe dazu das Kapitel über die Unterdrückung der Stasi). Später wird mehr über ihn gesagt, z.B. wie er aussieht und was er trägt. Selbstverständlich wird nichts wörtlich über seine Überzeugung erwähnt, weil auch ein sehendes Publikum das selbst herausfinden soll, z.B. anhand der Dialoge oder Handlungen.

0:17:51 Dreyman hebt eine Holzkiste mit Flaschen und Gemüse hoch. Wiesler sieht von gegenüber wie Dreyman auf eine Haustür zugeht. Er macht sich Notizen. Wiesler ist Mitte vierzig, hager und mittelgroß. In seinem länglichen Gesicht stehen die Augen eng beieinander, tiefe Falten ziehen sich von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln. Er trägt den Anorak und graue Handschuhe. Hinter einem Fenster küssen sich Dreyman und Christa. Wiesler schaut auf seine Uhr und schreibt in sein Notizheft.

Die Audiodeskription beschreibt jedoch häufig seine Gesichtsausdrücke. Zu Recht, denn sie sind unentbehrlich für seine ernste Figur:

0:33:52 Wiesler macht mit unbewegter Miene seinen Anorak zu. 0:36:54 Nur Wiesler bleibt ernst. 0:38:01 Stiegler lächelt unsicher. Wiesler schaut Grubitz nachdenklich an. 0:47:09 Wiesler sitzt mit hoch gezogener Hose auf dem Sofa, abwesend blickt er ins Leere.

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Je später im Film, desto emotionaler werden seine Ausdrücke. Wie oben erwähnt, gilt vor allem die ‚Sonate vom Guten Menschen‘ als Wendepunkt. Diese Szene zeigt zum ersten Mal, dass Wiesler gleichwohl Gefühle hat. Es ist also notwendig, dass in dieser Szene auch über Wieslers Reaktion erzählt wird. Das tut die Audiodeskription auf folgende Weise:

0:51:12 Wiesler sitzt reglos vor der Schreibmaschine. Er hat die Kopfhörer auf. Er schluckt. Eine Träne läuft über seine Wange.

Als Wiesler erfährt, dass Minister Hempf vor allem Dreyman überwachen lässt, um Christa für sich zu gewinnen, will er sie vor ihm schützen. Er lauscht über die Kopfhörer dem Gespräch zwischen Dreyman und Christa über Hempf, und wird dadurch gerührt. Die Audiodeskription beschreibt hier auch seinen Gesichtsausdruck und seine späteren Handlungen:

0:57:01 Wiesler hört gebannt mit. Seine Hände liegen auf der Tastatur der Schreibmaschine. 0:57:40 Zögernd nimmt Wiesler die Kopfhörer ab und gibt sie seinem Kollegen. Der setzt sie auf und nimmt Wieslers Platz ein. 0:57:58 Der Kollege hantiert an Geräten. Wiesler beobachtet ihn unschlüssig. 0:58:06 Die Hände in den Jackentaschen steht Wiesler reglos neben dem Arbeitsplatz. 0:58:12 Wiesler geht. Vor der Tür bleibt Wiesler stehen. Aufgewühlt sieht er vor sich hin. Er atmet heftig.

Nachdem er das erste Mal in seinem Bericht lügt, hat sein Wandel wirklich angefangen.

1:12:50 Wiesler blickt von seinem Bericht auf. Mit verhärteter Miene starrt er ins Leere. Das Bild wird schwarz.

Wir können also feststellen, dass der Audiodeskriptor sich dazu entschlossen hat, die Gesten und Mimik der stereotypen Figur zu beschreiben, ohne seinen Wandel zu explizit bekannt zu geben. Das ermöglicht dem Publikum, den Verlauf des Filmes genauso wie ein sehendes Publikum zu erfahren, und selbst über die Figur nachzudenken und sich ein Urteil zu bilden.

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3.3 Hypothese Nach dieser Untersuchung kann festgestellt werden, dass die Audiodeskription nur in geringem Maße über die kulturspezifischen Elemente berichtet. Der Grund dafür könnte sein, dass viele Dinge bereits aus den Dialogen, oder in GBL auch aus dem Voiceover deutlich werden.

Wenn dies nicht der Fall ist, wird in einigen Fällen ein erklärendes Adjektiv gegeben, um den Gegenstand zu erläutern, z.B. beim ‚Barkas‘ (der Kleintransporter). Der bedeutendste Grund dafür kann zu einer der grundlegenden Konzepte der Audiodeskription zurückverlinkt werden, und zwar, dass gesprochene Dialoge und wichtige Ton- und Musikeffekte möglichst unverändert bleiben sollen, und demnach die Audiodeskription in die verbleibenden Lücken passen muss (Benecke, 2014). Der Audiodeskriptor hat also nicht die Zeit, diese Elemente ausführlich zu erklären. Darüber hinaus ist es wichtig, dass die Audiodeskription die Informationsverarbeitungskapazitäten der Nutzer nicht überfordert und infolgedessen dem Publikum Raum lässt, den Film zu genießen.

Wenn es aber der Audiodeskription nicht gelingt, manche Elemente zu erklären, wie gut kann ein sehbehindertes Publikum sich denn eine korrekte Vorstellung der DDR-kulturspezifischen Elemente in diesen Filmen machen?

Die Hypothese ist, dass sie nicht alle Elemente so verstehen werden, wie ein sehendes Publikum es würde. Aus früheren Studien hat sich schon herausgestellt, dass Sehgeschädigte oder Blinde manchmal Schwierigkeiten haben, den kompletten Erzählstrang eines Films zu verstehen. In diesen kulturgeprägten Filmen ist dies ganz besonders schwierig, weil es sich um komplexe Dokumentationen handelt.

Um dies zu untersuchen, wurden zwei Befragte gebeten, eine Umfrage auszufüllen. Ihre Antworten werden im folgenden Kapitel ausarbeitet.

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3.4 Umfrage Um überprüfen zu können, ob die Audiodeskription die Atmosphäre und die kulturspezifischen Elemente der beiden Filme ausreichend beschrieben hat, wurde eine Umfrage hergestellt und ausgefüllt von zwei Deutschen. In der Umfrage werden die Teilnehmer unter anderem gebeten, den Film einem bestimmten Genre zuzuordnen und das Gefühl und das Erlebnis, das ihnen die Audiodeskription vermittelt, zu umschreiben. Daneben werden sie auch gebeten, die Rolle einiger kulturspezifischer Elemente im Film zu erklären, und sich ein allgemeines Urteil der Audiodeskription zu bilden.

Befragte A ist 21 Jahre alt und kommt aus Köln, Nordrhein-Westfalen. Befragter B ist 27 Jahre alt und kommt aus Dortmund, Nordrhein-Westfalen. Die Absicht war, dass sich die Befragten die Audiodeskription der beiden Filme anhören, und danach die Umfrage ausfüllen.

Den Befragten wurden die Audiodeskription der beiden Filme und die Umfrage per E-Mail zur Verfügung gestellt. Ihnen wurde Zeit gelassen, sich die Filme ruhig anzuhören und ohne starken Zeitdruck die Umfrage auszufüllen. Im Voraus wurde ihnen nur das Ziel dieser Arbeit und die Absicht der Umfrage mitgeteilt.

Bei der Umfrage war es von großer Bedeutung, den Befragten offene Fragen zu geben. Aus ihren Antworte sollte sich nämlich herausstellen, inwiefern sie die Filme verstanden haben, und, ob sie die kulturspezifischen Elemente und die Atmosphäre, die der Film seinem Publikum vermitteln möchte, auch wirklich in der Audiodeskription verstanden und gespürt haben. Die Umfrage ist in Anlage 7.1 aufzufinden.

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3.4.1.1 Good Bye, Lenin! (2003) Die beiden Befragten hatten den Film zuvor noch nie gesehen. Sie hörten sich die Audiodeskription also wirklich blind an. Mit anderen Worten, sie hatten noch keine visuelle Vorstellung des Films im Kopf.

Beide Befragten konnten genau erklären, worum es im Film ging. Bei der Frage, ob sie in einem bestimmten Moment Schwierigkeiten hatten, den Verlauf des Filmes zu verstehen, antwortete Befragte A, sie habe dem Anfang des Filmes sehr schwer folgen können, da die Szene und der Schauplatz so häufig gewechselt habe.

Eine weitere Aufgabe war, die Rolle einiger kulturspezifischen Elemente zu erklären. Auf diese Weise konnte geprüft werden, ob sie diese Elemente ausreichend verstanden haben. Befragte A antwortete sehr bildgetreu auf ‚die Datsche‘. Für sie habe die Datsche ein typisches DDR- Symbol dargestellt und im Film sei sie als Ort einer glücklichen Kindheit dargestellt geworden. Sie habe also wirklich mitbekommen, dass die Datsche DDR-spezifisch ist. Befragter B hatte nur die Datsche erklärt. Auch auf die Frage, das Sandmännchen zu erklären, hat Befragte A erwähnt, es sei ein Symbol für die DDR. Beim Befragten B habe das Sandmännchen scheinbar nur eine Rolle am Ende des Films gehabt. Bei der Erklärung der ‚Spreewaldgurken‘, antwortete Befragter B, sie stehen stellvertretend für die Liebe einiger DDR-Bürger zu ihrem System und den Produkten. Gerade für die ältere Generation sei in der kommunistisch angehauchten DDR ein geregelter Alltag enorm wichtig gewesen und habe für Sicherheit gesorgt. Befragte A sieht ihre Rolle im Film zu Recht als ‚ironisch‘, was also auf das Leichte, das Komische des Films deutet.

Auf die Aufforderung, über das Bild der Umgebung und die Vorstellung während des Filmes zu erzählen, wurden zwei bildgetreue Antworten gegeben. Befragte A behauptete: „Der Film hat eine typische DDR/Ost-Atmosphäre, vermittelt beispielsweise durch die Plastikwindeln oder das braune Sofa und ich habe mir die Schauplätze/Anziehsachen/etc. so vorgestellt, wie man die DDR aus dem Fernseher oder aus Geschichtsbüchern kennt. Die Farben der Einrichtung in der Wohnung eher braun und orange und den Plattenbau bzw. die Stadt in Grautönen. Die Kleidung habe ich mir ebenfalls wie die typische 80er-Jahre Kleidung und im Allgemeinen eher altmodisch und weniger stylisch vorgestellt, da selbst die Figuren im Film die Kleidung für ihre Passform oder ihr Aussehen kritisiert haben“. Befragter B antwortete: „Vor dem Mauerfall wirkt im Film alles sehr in grau und Brauntönen gehalten und die

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Einrichtungen und Kleidungen müssen alle eine bestimmte alte Optik aufweisen. Danach ist es so als würde mit dem Mauerfall der Westen völlig neue Farbpaletten und Freiheit mitbringen, die besonders das Individuum herausstechen lassen“.

Daneben wurden die Befragten gebeten, ihr Gefühl über den Film zu formulieren. Auch hier haben die beiden Befragten sich ein sehr gutes Bild des Films vorstellen können. Befragte A schrieb; „Der Film vermittelt mir ein nostalgisches Gefühl und lässt die DDR nicht absolut schlecht wirken, wie es in manchen anderen Filmen der Fall ist“. Und Befragter B antwortete: „Obwohl einige dramatische Szenen drin enthalten sind, vermittelt der Film überwiegend eine sehr freudige Atmosphäre. Welche wohl nicht zuletzt dich die neu erhaltenen Freiheiten der DDR-Bürger herrührt“.

Obwohl die „blinde“ Vorstellung der DDR im Film sehr nahe am eigentlichen Fernsehbild liegt, gibt Befragte A jedoch zu, dass sie mit dem durchgehenden Informationsfluss der Audiodeskription leicht überfordert gewesen sei. Es sei oft sehr schnell, zu schnell für das ungeübte Ohr gewesen und sie habe sich die Informationen nicht merken können und nicht vor ihrem inneren Auge verbildlichen können. Neben dem schnellen Tempo sei ihr die Stimme etwas monoton vorgekommen. Sie fand die AD im Allgemeinen gut, jedoch erschienen manche Infos ihr eher unwichtig und ihrer Meinung nach hätte gegebenenfalls mit weniger Text gearbeitet werden können, um dem Zuhörer so mehr Zeit zu bieten, sich die Szenen vorzustellen.

Aus dieser Umfrage lässt sich also feststellen, dass die ‚blinden‘ Befragten sich entgegen den Erwartungen im Allgemeinen ein ziemlich gutes Bild von der Atmosphäre und den DDR-kulturspezifischen Elemente machen konnten. Jedoch hat die Audiodeskription nicht ausführlich über die kulturspezifischen Elemente berichtet und manche Szenen sind nicht angekommen, wie sie sollten, z.B. weil die AD zu viele Informationen in einer zu kurzen Zeit gab, und weil im Film bereits viele andere verbale Kanäle aktiv waren: die Dialoge, das Voiceover und manchmal im Hintergrund der Fernseher.

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3.4.1.2 Das Leben der Anderen Die beiden Befragten hatten auch diesen Film zuvor noch nie gesehen. Sie hörten sich die Audiodeskription auch hier wirklich blind an. Mit anderen Worten, sie hatten noch keine visuelle Vorstellung des Films im Kopf.

Auch für diesen Film konnten die beiden Befragten richtig erklären, worum es ging. Bei der Frage, ob sie in einem bestimmten Moment Schwierigkeiten hatten, den Verlauf des Filmes zu verstehen, antwortete Befragte A, sie habe des Öfteren Schwierigkeiten gehabt, die Stimmen der Männer in Dialogen zu unterscheiden. Sie denkt aber, an solchen Stellen sei es schwierig die Audiodeskription zu erweitern. Befragter B antwortete, es sei ihm am Anfang unklar gewesen, worauf man überhaupt hinauswollte oder welche Personen wichtig waren und welche unwichtig. Er denkt aber, es liege vor allem daran, dass man es nicht gewohnt sei, solche Informationen nur über auditive Reize aufzunehmen, jedoch merk er an, dass es doch recht schnell ginge, wenn man einmal damit vertraut sei.

Wie oben erwähnt gab es in diesem Film im Gegensatz zu GBL nicht so viele DDR-typische Gegenstände. Jedoch wurden die Befragten aufgefordert, die Rolle der ‚Sonate des guten Menschen‘, des Theaters, der Schreibmaschine und des Spiegel-Artikels zu erklären. Auch hier punkteten die Befragten. Die beiden konnten die Rolle aller Elemente richtig erläutern.

Auf die Bitte, etwas über das Bild der Umgebung und die Vorstellung während des Filmes zu erzählen, wurden wiederum zwei bildgetreue Antworten gegeben. Befragte A schrieb: „Ich habe mir den Film sehr düster vorgestellt, da er direkt mit der Befragung im Gefängnis begonnen hat und auch bei den Beschattungen habe ich mir eine zwielichtige, dunkle Atmosphäre und Szene vorgestellt. In meiner Vorstellung war die meiste Kleidung ebenfalls dunkel. Da öfter von vorgezogenen Gardinen die Rede war, habe ich mir das Licht eher gedimmt vorgestellt. Da es sich bei Dreyman um einen kreativen Schriftsteller und Kritiker des Systems handelt, habe ich mir sein Haus nicht im typischen DDR-Look vorgestellt, sondern eher etwas moderner“. Befragter B antwortete: „Da man schon viele Filme dieser Art gesehen hat, kam man unwillkürlich auf eine kalte Umgebung die eher in Grau- und Brauntönen gehalten wird. Die Kleidung wird überwiegend konformistisch sein, sprich, dass viele Menschen die gleiche Kleidung trugen und nur wenig Platz war für besonderes Herausstechen so wie man es heutzutage kennt“.

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Das Gefühl, das der Film ihnen vermittelt, war auch hier sehr getreu und die beiden Antworten waren sehr ähnlich. Der Film vermittelt den beiden Befragten ein Gefühl von Unbehagen, weil „die zentralen Themen Beschattung, Verhörmethoden, Seitensprünge und Selbstmord waren.“ „Die Wandlung des Charakters Wieslers hat den Film aufgeheitert und den Glauben an das Gute im Menschen aufrechterhalten und durch die Widmung des Autors an Wiesler ruft der Film gegen Ende ein angenehmes rührendes Gefühl hervor“.

Auf die Bitte, noch weitere Anmerkungen zur Audiodeskription zu geben, waren die Meinungen geteilt. Befragte A antwortete, dass es manchmal schwierig zu verstehen gewesen sei, wer gerade in der Szene redet, da viele Männer vorkommen, die alle ähnliche Stimmen und berufliche Positionen haben. Sie selbst habe etwas länger gebraucht, bis sie die Männer unterscheiden habe können. Befragter B antwortete jedoch, dass die Sprache, das Tempo und die Tonart für das Thema durchaus passend gewesen seien.

Im Allgemeinen fand Befragte A diese Audiodeskription besser als die von GBL, da sie das Gefühl gehabt habe, dass tatsächlich nur das Nötigste erzählt worden sei und sie trotzdem den Film verstehen und dem Verlauf folgen konnte. Es gab ihrer Meinung nach genug Zeit, um die Information zu verarbeiten. Auch Befragter B habe sich durchaus so gut wie alles vorstellen können und würde es auch als eine gute Audiodeskription bezeichnen.

Unabhängig vom schwierigen Folgen am Anfang wurde diese AD also als eine gute AD empfunden. Schwierigkeiten zum Behalten von Namen, Stimmen oder Anderem stellt bei jedem Film, der mit ähnlichen Figuren arbeitet, ein traditionelles Problem in der AD dar. Sie zeigen sich also nicht nur in diesem Film. Die Unterdrückung der Stasi und die grimmige Atmosphäre haben sich gut in der AD gezeigt, und dem Publikum mehr oder weniger das Bild der DDR als repressives Regime vermittelt. Deshalb kann festgehalten werden, dass auch diese Audiodeskription die DDR-Elemente ziemlich gut beschrieben hat. Diese AD scheint also besser gelungen zu sein als die AD von GBL, jedoch ist dies wahrscheinlich zurückzuführen auf die Tatsache, dass die Atmosphäre dank der Hintergrundmusik oder der Stille schneller und einfacher vermittelt wurde und die AD kein Voiceover oder keine Rückblenden berücksichtigen sollte.

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4 SCHLUSSFOLGERUNG Ziel dieser Masterarbeit war zu untersuchen, ob die DDR-kulturspezifischen Elemente aus den Filmen Good Bye, Lenin! (2003) und Das Leben der Anderen (2006) in ihrer Audiodeskription ausreichend beschrieben werden, sodass sich ein blindes oder sehbehindertes Publikum auch eine akkurate Vorstellung über die DDR bilden kann.

Dafür wurde die Audiodeskription der beiden Filme manuell ausgetippt und in einer übersichtlichen Tabelle mit Zeitangabe dargestellt (siehe Anlagen 7.2 und 7.3). Danach wurden die DDR-kulturspezifischen Elemente anhand der Publikation DDR-Führer und persönlicher Kommunikation mit einer ehemaligen DDR-Einwohnerin aus den beiden Filmen gefiltert. Die Elemente wurden in einem nächsten Schritt anhand der Richtlinien aus Kapitel 2.2.5 aufgelistet. Richtlinie 1 handelte unter anderem von symbolischen Objekte, Richtlinie 2 von Filmsprache, und Richtlinie 3 von stereotypen Figuren (Maszerowska, 2014). Für jedes Element wurde in der Tabelle gesucht, was die Audiodeskription darüber sagt. Diese Ausschnitte wurden in der Untersuchung kopiert und kommentiert.

Um zu überprüfen, ob die Elemente ausführlich beschrieben werden, und, ob die Audiodeskription dem blinden oder sehbehinderten Publikum ein akkurates Bild der DDR in den beiden Filmen vermitteln kann, wurde eine Umfrage hergestellt. Zwei Deutsche haben sich die Audiodeskription der beiden Filme angehört, ohne das Bild zu sehen. Sie wurden gebeten, einige offene Fragen über die AD zu beantworten, die Rolle einiger kulturspezifischen Elemente im Film zu erklären und eigene Kommentare über die AD zu geben. Die Antworten wurden im Kapitel 3.4 kommentiert, und die Umfrage ist in Anlage 7.1 aufzufinden.

Aus ihren Antworten wurde klar, dass die Audiodeskription gar nicht so schlecht abschneidet wie vorher gedacht. Die Befragten haben den Verlauf des Films verstanden, haben die Elemente erklären können, konnten sich ein Bild machen und die Atmosphäre wurde ihnen auch gut vermittelt. Diese korrekte Vorstellung über die DDR wird jedoch nicht nur durch die Audiodeskription erreicht. Auch die Dialoge, die Filmmusik und andere akustische Kanäle haben ihren Beitrag geleistet. Das sollte auch so sein, denn es gehört zu den grundlegenden Konzepten der AD (Remael et al., 2014).

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Aber obwohl diese Kanäle bei der Vermittlung helfen, beschränken sie auch die Audiodeskription in ihrer Beschreibung oder Erklärung. Sie lassen der Audiodeskription dafür nämlich keine Zeit. Die blinden oder sehbehinderten Zuschauer sind bereits von allen akustischen Kanälen überwältigt, sodass die Audiodeskription nicht noch mehr Informationen geben kann. In einigen Fällen wird kurz ein erklärendes Adjektiv gegeben, was jedoch nicht genügt, den Elementen die Beachtung zu geben, die sie verdienen.

Good Bye, Lenin! enthält viele DDR-typische Objekte, die zur lockeren Atmosphäre der Komödie beiträgt. Viele dieser Elemente werden aus den Dialogen oder aus dem Voiceover deutlich. Es ist für die Audiodeskription nicht mehr erforderlich, viel mehr darüber zu erzählen. Darüber hinaus handelt es sich in diesem Film um das Leben nach der Wiedervereinigung Deutschlands, bzw. um die Zeit nach der DDR. Der Film enthält viele Rückblenden, welche eine zusätzliche Herausforderung für die AD darstellen. Vor allem bei solch einem kulturellen Film, in dem zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart gewechselt wird. Auch das Voiceover stellt in diesem Film eine zusätzlichen Herausforderung dar: die Zeit, die das Voiceover benötigt, kann die Audiodeskription nicht benutzen. Das Voiceover kann hingegen Sachen erklären, die sonst nicht deutlich werden, auch nicht für ein sehendes Publikum.

In Das Leben der Anderen kommen weniger DDR-typischen Objekte vor, in diesem Film steht nämlich vor allem die Unterdrückung durch das diktatorische Regime als Kennzeichen der DDR. Aber auch in diesem Film werden einige DDR-Elemente eher aus den Dialogen deutlich. Darüber hinaus trägt vor allem die Musik zur Vermittlung der düsteren Atmosphäre bei. Die Audiodeskription soll diese Vermittlung also nicht mehr berücksichtigen. Was die AD wohl tun konnte, aber nicht tat, ist mehr über die unheimliche Umgebung erzählen. Zu den grundlegenden Konzepten gehört zwar, dass die Audiodeskription die Objektivität bewahren soll, aber die Frage bleibt offen, ob es wirklich subjektiv ist, wenn der Audiodeskriptor z.B. das Gefängnis Hohenschönhausen als ‚eklig‘ und ‚beängstigend‘ beschreibt. Immerhin ist dies gerade das, was der Filmemacher seinem Publikum zeigen möchte. Schließlich wird den Hörern nur etwas über den Boden und die Beleuchtung im Gefängnis mitgeteilt. Das genügt jedoch nicht immer, um ihnen ein Bild darüber, wie es damals war, zu vermitteln. In solchen kulturgeprägten Filmen sollten die wichtigen Elemente vielmehr in den Vordergrund der AD gestellt werden.

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Es kann schlussgefolgert werden, dass der Audiodeskriptor möglicherweise sein Bestes gegeben hat, jedoch die kulturspezifischen Elemente nicht genug berücksichtigt hat. Das ist schade, denn genau diese Filme haben die Absicht, ihrem Publikum Wissen über die Kultur, den Alltag, die Produkte und die Unterdrückung in solch einer Diktatur zu vermitteln.

Es stellt sich heraus, dass die Befragten anderer Meinung sind. Sie haben jedoch den Film nicht gesehen, und können also nicht das wirkliche Bild mit der AD vergleichen. Wir haben die beiden wohl vergleichen können, und sind der Ansicht, dass die AD die Elemente besser beschreiben konnte. Es lohnt sich also, einige Richtlinien für die Audiodeskription von Filmen mit vielen kulturspezifischen Elementen vorzuschlagen.

Erstens sollte der Audiodeskriptor sich über die kulturspezifischen Elementen im Film informieren lassen, und vielleicht genauer untersuchen, welchen Effekt die Filmemacher bei ihrem Publikum bewirken möchten. Auf diese Weise könnte er die Elemente genauer beschreiben oder erklären, und so dem blinden oder sehbehinderten Publikum helfen, diese Elemente besser zu verstehen.

Zweitens sollte der Audiodeskriptor weniger neutral und objektiv über die Elemente im Film sprechen. Er könnte z.B. statt objektive Adjektive wie ‚dunkel‘ mehr subjektive Adjektive wie ‚beängstigend‘ benutzen, obwohl das den allgemeinen Richtlinien widerspricht. In solchen Situationen sollten sie akzeptiert werden, weil sie zur korrekten Wiedergabe der Elemente und Atmosphäre im Film beitragen.

Zuletzt sollte der Audiodeskriptor die Aufmerksamkeit mehr auf die Elemente lenken, und die weniger relevanten Beschreibungen weglassen. Auf diese Weise wird der begrenzten Zeitraum besser genutzt.

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5 DISKUSSION Wir könnten diese Studie erweitern, und die zwei Befragten hinterher die Filme anschauen lassen, sodass sie ihre blinde Vorstellung mit dem wirklichen Bild vergleichen können, und befragen, was sie mehr oder anders erwartet hatten. Auf diese Weise könnte ein noch plausibleres Urteil dazu beitragen, Richtlinien herzustellen.

Für diese Untersuchung wäre es auch interessant gewesen, die deutsche Bekannte ebenso die Audiodeskription hören zu lassen, um ihrer Meinung dazu herauszufinden. Sie ist nämlich in der DDR aufgewachsen, und weiß somit besser, welche Elemente im Film wichtig sind, um sie in der AD zu erwähnen, und kann hinterher auch besser urteilen, ob sie ausreichend beschrieben waren oder nicht. Es genügt also nicht allein, deutschsprachig zu sein. Es wäre besser, wenn Menschen mit eigenen Erfahrungen aus der DDR den Audiodeskriptoren helfen könnten.

Allerdings ist die Übermittlung kulturspezifischer Elemente in der Audiodeskription sehr wichtig, und diesbezügliche Richtlinien sind noch nicht ausreichend beschrieben. Deshalb müssen in Zukunft weitere Untersuchungen in Bezug auf diese Problematik geführt werden, sodass dem Audiodeskriptor dabei geholfen werden kann, die Elemente ausreichend in seiner Audiodeskription wiederzugeben.

Sollte diese Studie also weiterverfolgt werden, könnte es neben den oben erwähnten Bemerkungen auch wichtig sein, mehr Befragte die Umfrage ausfüllen zu lassen, unter denen Menschen aus verschiedenen Altersstufen und Regionen in Deutschland. Auf diese Weise kann ein noch besseres Ergebnis erreicht werden. Darüber hinaus wäre es auch von Vorteil, blinde bzw. sehgeschädigte Menschen die Audiodeskription hören zu lassen und sie zu bitten, auf die Kulturspezifika zu achten. Dadurch, dass diese Personen tagtäglich mit der Herausforderung, nichts sehen zu können, konfrontiert werden, können sie wahrscheinlich ein besseres Urteil darüber fällen, welche Elemente fehlen oder verändert werden sollten. Auch die kulturspezifischen Elemente aus den beiden Filmen konnten weiter studiert und analysiert werden. Anhand anderer Publikationen könnten mehrere kulturspezifische Elemente in den Filmen gefunden werden. Zuletzt könnten auch andere Hörfilme über die DDR berücksichtigt werden. Das alles könnte zu einer noch präziseren Studie über die Wiedergabe der DDR- typischen Elemente in der Audiodeskription beitragen.

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6 LITERATURVERZEICHNIS Allgemeiner Blinden- und Sehbehindertenverein Berlin. (2017). Zahlen und Fakten. Abgerufen am 10.04.2018 auf www.absv.de American Movie Classics Company LLC. (2018). Comedy Films. Abgerufen am 05.04.2018 auf www.filmsite.org American Movie Classics Company LLC. (2018). Drama Films. Abgerufen am 05.04.2018 auf www.filmsite.org Arndt, S. (Produzent), & Becker, W. (Regisseur). (2003). Good Bye, Lenin! [Spielfilm]. Deutschland: X Verleih. Bales, R. (11.06.2010). „Das Leben der Anderen“. Die Welt. Abgerufen auf www.dw.de Benecke, B. (2014). Audiodeskription als partielle Translation. Münster: LIT Verlag. Berg, Q., Wiedemann, M. (Produzent), & Henckel von Donnersmarck, F. (Regisseur). (2006). Das Leben der Anderen [Spielfilm]. Deutschland: Buena Vista International Film Production. Chiaro, D. (2009). Issues in audiovisual translation. In J. Munday (Ed.), The Routledge companion to translation studies (pp. 141-165). London: Routledge. Abgerufen auf cw.routledge.com Deutscher Blinden-und Sehbehindertenverband. (2018). Zahlen und Fakten. Abgerufen am 10.04.2018 auf www.dbsv.org Devos, E. (2007). Prozesse der Film-Untertitelung gezeigt an einem deutsch französischen Beispiel. Abgerufen am 24.04.2018 auf www2.hu-berlin.de Dosch, E., Benecke, B. (2004). Wenn aus Bildern Worte werden. München: Bayerischer Rundfunk. Film-genres.de. (2008). Melodram. Abgerufen am 11.04.2018 auf www.film-genres.de Film-genres.de. (2008). Tragikomödie. Abgerufen am 12.04.2018 auf www.film-genres.de Fryer, L. (2016). An Introduction to Audio Description: A practical guide. London: Routledge. Abgerufen auf https://books.google.be Heßling, C. (s.d.). DDR-Erinnerungen Ampelmännchen, Spreewaldgurken und das Sandmännchen. Abgerufen am 02.04.2018 auf www.kindernetz.de Hörfilm.info. (s.d). Über die Audiodeskription. Abgerufen am 02.04.2018 auf www.hoerfilm.info Jekino, Lesseninhetdonker, Filmfestival Opendoek. (s.d.). Das Leben der Anderen. Abgerufen auf www.mooov.be Kerbel, B. (01.07.2016). Wie der sozialistische Staat die Bildungseinrichtungen prägte. Abgerufen am 03.04.2018 auf www.bpb.de Lenssen, C. (2010). Die Stasi im Kino der Gefühle. Das Leben der Anderen (2005/2006) – Filmische Erinnerungsstrategien im Kontext der Medienkultur. In C. Gansel & P. Zimniak (Eds.), Das „Prinzip Erinnerung“ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989 (pp. 281 – 288). Güttingen: V&R unipress GmBH. Abgerufen auf https://books.google.be Maszerowska, A., Matamala, A. & Orero, P. (2014). Audio Description: New Perspectives Illustrated. Amsterdam: John Benjamins Publishing Company. Matamala, A., Rami, N. (2009). Análisis comparativo de la audiodescripción española y alemana de ‚Good-Bye Lenin‘. Abgerufen auf https://recyt.fecyt.es/ Menn, A., Rückel, R., Strohl, K., Voit, J. & Wolle, S. (2012). DDR-Führer – Reise in einen vergangenen Staat. Berlin: DDR Museum Verlag GmbH. 81

Mohr, R. (15.03.2006). „Das Leben der Anderen„ Stasi ohne Spreewaldgurke. SPIEGEL. Abgerufen auf www.spiegel.de Moles Kaupp, C. (2003). Good Bye, Lenin!. Bundeszentrale für politische Bildung. Abgerufen auf www.bpb.de Pedersen, J. (2011). Subtitling Norms for Television. An exploration focusing on extralinguistic cultural references. Amsterdam: John Benjamins Publishing Company. Remael, A., Reviers, N. & Vercauteren, G. (2014). Pictures painted in words: ADLAB Audio Description guidelines. Abgerufen auf www.adlabproject.eu Rundfunk Berlin-Brandenburg. (23.06.2015). Pittiplatsch, Schnatterinchen und Moppi. Abgerufen am 04.04.2018 auf www.sandmann.de Rundfunk Berlin-Brandenburg. (24.04.2015). Mascha. Abgerufen am 02.04.2018 auf www.sandmann.de Schulz, W. (25.02.2007). "Das Leben der anderen" hat keinen Preis verdient. Die Welt. Abgerufen auf www.welt.de

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7 ANLAGEN 7.1 Umfrage

UMFRAGE : GOOD BYE, LENIN! (2003) & DAS LEBEN DER ANDEREN (2006)

Mein Name ist Fien De Bruycker und ich bin eine Masterstudentin im Masterstudiengang Übersetzen (Deutsch-Englisch-Niederländisch) an der Universität Gent. Für meine Masterarbeit untersuche ich das Verhältnis zwischen Audiodeskription und Genre von zwei DDR-Filmen: Good Bye, Lenin! (2003) und Das Leben der Anderen (2006). Ich möchte nachprüfen, ob die Audiodeskription beider Filme einem blinden oder sehbehinderten Publikum ein passendes Bild des Genres vermittelt. Um die Ergebnisse verifizieren zu können, habe ich diese Umfrage erstellt. Ihre Antworten werden vertraulich behandelt und nur für die Zwecke dieser Studie verwendet. Ich danke Ihnen für Ihre Mitarbeit.

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ANWEISUNGEN

Sie sollen sich die Audiodeskriptionen anhören, ohne sich das Bild anzugucken. Sie können während der Aufnahmen und zwischen den Aufnahmen Pausen einlegen. Ich bitte Sie, immer mit vollständigen Sätzen zu antworten. Sie können wählen, welchen Film Sie sich zuerst anhören. Wenn Sie die Umfrage abgeschlossen haben, können Sie Ihre Antworten an die folgende Adresse senden: [email protected]

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Good Bye, Lenin! (2003) 1. Haben Sie Good Bye, Lenin! (2003) bereits gesehen? ☐ Ja ☐ Nein 2. Beschreiben Sie bitte mal kurz, worum es im Film geht:

3. Haben Sie in einem bestimmten Moment Schwierigkeiten gehabt, den Verlauf des Filmes zu verstehen? Wenn ja, bei welche(r/n) Szene(n)? Und woran liegt das Ihrer Meinung nach? War die Audiodeskription unklar?

4. Bitte erklären Sie die Rolle der folgenden Elemente im Film: a) Die Datsche b) Sigmund Jähn c) Das Sandmännchen d) Spreewaldgurken Wenn Sie bestimmte Elemente dieser 4. Frage nicht erläutern können, ist der Grund dafür dann, dass: ☐ Sie es sich nicht mehr erinnern können? ☐ die Audiodeskription diese Elemente nicht ausreichend erklärt hat?

5. Bitte erzählen Sie mir etwas über Ihr Bild der Umgebung während des Filmes. Wie haben Sie sich den Film vorgestellt? (Denken Sie an Farben, Kleidung, Wohnungseinrichtung, usw.)

6. Welches Gefühl vermittelt Ihnen dieser Film?

7. Welchem Genre würden Sie diesen Film zuordnen und warum?

8. Haben Sie noch weitere Anmerkungen zur Audiodeskription? (Denken Sie an die Sprache, die Beschreibung der Handlungen/Personen/Umgebung, das Tempo der Beschreibung, usw.)

9. Was halten Sie im Allgemeinen von dieser Audiodeskription?

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Das Leben der Anderen (2006) 1. Haben Sie Das Leben der Anderen (2006) bereits gesehen? ☐ Ja ☐ Nein 2. Beschreiben Sie bitte mal kurz, worum es im Film geht:

3. Haben Sie in einem bestimmten Moment Schwierigkeiten gehabt, den Verlauf des Filmes zu verstehen? Wenn ja, bei welche(r/n) Szene(n)? Und woran liegt das Ihrer Meinung nach? War die Audiodeskription unklar?

4. Bitte erklären Sie die Rolle der folgenden Elemente im Film: a) Die Sonate vom guten Menschen b) Das Theater c) Die flache kleine Schreibmaschine d) Der Spiegel-Artikel Wenn Sie bestimmte Elemente dieser 4. Frage nicht erläutern können, ist der Grund dafür dann, dass: ☐ Sie es sich nicht mehr erinnern können? ☐ die Audiodeskription diese Elemente nicht ausreichend erklärt hat?

5. Bitte erzählen Sie mir etwas über Ihr Bild der Umgebung während des Filmes. Wie haben Sie sich den Film vorgestellt? (Denken Sie an Farben, Kleidung, Wohnungseinrichtung, usw.)

6. Welches Gefühl vermittelt Ihnen dieser Film?

7. Welchem Genre würden Sie diesen Film zuordnen und warum?

8. Haben Sie noch weitere Anmerkungen zur Audiodeskription? (Denken Sie an die Sprache, die Beschreibung der Handlungen/Personen/Umgebung, das Tempo der Beschreibung, usw.)

9. Was halten Sie im Allgemeinen von dieser Audiodeskription?

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7.2 Audiodeskription Good Bye, Lenin! (2003)

Zeit Good Bye, Lenin! 0:00:01 Das Logo von Warner Brothers Pictures. Die goldglänzenden Buchstaben WB auf einem dreieckigen Schild. Im Hintergrund ein Himmel mit dicken weißen Wolken. 0:00:13 Ein gelbes X. Filme Creative Pool. X Verleih präsentiert eine X Filme Creative Pool in Koproduktion mit dem westdeutschen Rundfunk. In Zusammenarbeit mit Stiftung Nordrhein-Westfalen. Filmforderungsanstalt, Filmboard, Berlin Brandenburg BKM. 0:00:25 Ein verwackelter Amateurfilm zeigt einen Garten. Ein Neunjähriger schiebt eine etwa Elfjährige in einer Schubkarre. Einblendung: ‚unsere Datsche, Sommer ‚78‘. (Vater) Guck mal her. Hier in die Kamera. 0:00:38 Der Junge winkt strahlend. Am Kaffeetisch. Er stibitzt Kuchen. Rasch flitzt er davon. Er liegt in einer Hängematte. Das Mädchen Ariane schleicht sich heran und schaukelt ihn wild. (Vater) Alex halt dich fest. - (Alex) Papa, hilf mir! 0:00:57 Vor dem Fernsehturm am Berliner Alexanderplatz. Der kleine Alex zeigt stolz sein T- Shirt mit einer startenden Rakete und der kurulischen Aufschrift UDSSR und DDR. Postkartenansichten von Ostberlin. Der Alexanderplatz mit dem Haus des Lehrers. Die Weltzeituhr mit einem Modell des Sonnensystems. Die schnurgerade Karl-Marx-Allee mit endlosen Sandsteinfarbenen Häuserblöcken. Das flache Gebäude der Mokka Milch und Eisbar. Davor parken Trabis und Wartburgs. Der schnörkellose Bau des Kinos international. Ein Filmplakat mit Lenins Porträt hängt daran. Eine riesige Bronzestatur von Lenin in energischer Pose. Eine Bogenbriefmarke der DDR mit Weltraumkapseln und Raketen. Davor dreht sich die Bronzebürste des ernstblickenden Lenin. Er hat eine hohe Stirn, eine Schnauze und einen spitzen Kinnbart. Goodbye Lenin mit Daniel Brühl als Alex und als Christiane. Sowie Maria Simon, Chulpan Khamatova, Florian Lukas, und anderen. 0:02:18 Ein Schwarzweißfernseher zeigt Bilder einer Rakete vor dem Start. Alex und seine Schwester Ariane hocken gebannt vor dem Bildschirm. (Fernseher) Langsam, behutsam, geradezu sanft... wird der riesige Koloss... Auf den Startplatz gestellt. Hier nun auf dem Startplatz erweist sich das Resultat... der großen Gemeinschaftsarbeit. Um das bekannte Wort zu verdeutlichen, jeder liefert jeder Qualität... - (Alex) Da ist er! 0:02:45 Alex winkt einem Kosmonauten zu. (Fernseher) Hier ist es in Vollendung zu sehen. Ich melde: Ich bin zum Flug mit dem Raumschiff SOJUS 31... als Mitglied der internationalen Besatzung bereit. Am 26. August 1978 waren wir auf Weltniveau. 0:02:58 Die Rakete startet. Sigmund Jähn, Bürger der DDR, flog als erster Deutscher ins All. Mit unserer Familie aber ging es an diesem Tag so richtig den Bach runter. (Mann) Das ist der dritte Aufenthalt Ihres Mannes im kapitalistischen Ausland. Er vertritt seinen Chef, Prof. Klinger. Sind Ihnen Westkontakte lhres Mannes bekannt?

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0:03:15 Im Flur. (Christiane) Nein. - (Mann) Frau Kerner, wie würden Sie den Zustand Ihrer Ehe beschreiben? 0:03:18 Alex’ Mutter folgt den beiden Männern durch die Wohnung. (Mann) Hat lhr Mann mit Ihnen über eine Republikflucht gesprochen? Frau Kerner... Hat er das mit Ihnen abgesprochen? 0:03:26 Alex haucht auf und starrt wieder zum Fernseher. In der Küche. Alex‘ Mutter Christiane hockt angespannt am Tisch. (Mann) Gestatten Sie mir, dem Zentralkomitee der kommunistischen Partei... - (Christiane) Haut ab! Lasst mich in Ruhe! Während Sigmund Jähn in den Tiefen des Kosmos tapfer die DDR vertrat, ließ sich mein Vater im kapitalistischen Ausland von einer Klassenfeindin das Hirn wegvögeln. Er kam nie mehr zurück. 0:03:48 In einer Klinik. Alex malt, Ariane spielt Melodika. Meine Mutter wurde so traurig, dass sie aufhörte zu reden. Sie sprach einfach nicht mehr. Nicht mit uns, nicht mit anderen. 0:03:57 Die Uhrzeiger rückt vor. Christiane Kerner im Nachthemd huckt apathisch auf der Bettkante. Alex sieht von seiner gemalten Rakete auf und geht zu ihr. (Alex) Bitte, Mama, komm zurück. Es ist so langweilig bei Frau Schäfer. 0:04:07 Er umarmt sie. (Alex) Mama, ich hab dich lieb. 0:04:13 Sie rührt sich nicht. 0:04:14 Auf dem Klinikflur. Die Schwester schließt die Tür zum Krankenzimmer und führt Alex und Ariane hinaus. 0:04:20 Bei Frau Schäfer. Vorm Fernseher. (Fernseher) Der Sandmann hat sich den Bedingungen im Weltraum hervorragend angepasst. Aber die größte Überraschung war die, dass er sich mit Mascha sehr gut bekannt gemacht hat. 0:04:31 Alex in Schlafanzug sitzt blinzelnd vor dem Bildschirm. Er hat braune Haare, ernste dunkle Augen und ein rundes Gesicht. Siegmund Jähn lässt zwei Puppen in der Schwerelosigkeit der Raumkapsel schweben. Das DRR-Sandmännchen und die Russische Mascha. 0:04:45 Bei den Kerners. (Fernseher) Wir haben sogar an Bord eine kosmische Hochzeit gefeiert. In wenigen Minuten fliegt der Sandmann gemeinsam mit Mascha zurück zur Erde. Ich hoffe, es wurde delegiert, so dass Sie das deutlich gesehen haben. Nach 8 Wochen kam Mutter nach Hause. Sie war wie verwandelt. (Kinder) Überraschung! - (Christiane) Meine Süßen. 0:05:52 Ariane hält ein Schild ‚Hallo Mama‘. Alex steckt in einer selbstgebastelten Rakete. (Christiane) Mein Alex. Mein kleiner Kosmonaut. 0:04:59 Sie lässt Ariane los und drückt Alex an sich. Rasant dreht sie sich mit ihm. 0:05:06 Im Schlafzimmer. Christiane räumt das zweite Bettzeug weg und stopft Krawatten in einem Sack mit der Aufschrift ‚Solidarität mit Mozambique‘.

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0:05:14 Ein verwackelter Amateurfilm zeigt die Kerners in einer Dampf-Eisenbahn. Einblendung: Pionierpark, Frühling ’79. Wir sprachen nie mehr von Vater. Meine Mutter verheiratete sich von da an mit unserem sozialistischen Vaterland. 0:05:31 An einem kleinen Bahnhof. Alex in blauer Pionieruniform strahlt in die Kamera. Vor einem Brunnen. Christiane dirigiert einen Chor. Die Kinder tragen blaue Käppis und Halstücher. Da diese Beziehung keine sexuelle war, blieb viel Elan und Tatkraft für uns Kinder und den sozialistischen Alltag übrig. 0:05:51 Christiane, ein rotes Tuch um den Hals, singt strahlend mit (Lied) Uns're Heimat das sind nicht nur die Städte und Dörfer.... 0:05:54 Im Wohnzimmer. Christiane hockt an einer Schreibmaschine. Vor ihr sitzt eine Hochschwangere in einem geblümten grellgrünen Kleid. (Lied) ...ist das Gras auf der Wiese, das Korn auf dem Feld und die Vögel in der Luft und die Tiere der Erde... Meine Mutter wurde Förderin des gesellschaftlichen Fortschritts. Eine leidenschaftliche Aktivistin für die einfachen Bedürfnisse der Bevölkerung und gegen die kleinen Ungerechtigkeiten des Lebens. (Christiane) Eingabe. Betrifft: Schreiend bunte Um-stands-klei-dung. Punkt. 0:06:25 Sie lächelt zufrieden. (Fernseher) Nun ein Bericht über die feierliche Auszeichnung. (Christiane) Jetzt kommt's! 0:06:33 Die Kerners vorm Fernseher. (Fernseher) Arbeiter und Angestellte, Wissenschaftler und Genossenschaftsbauern, Künstler und Veteranen der Arbeit kamen heute nach Berlin, um hier die höchsten Auszeichnungen unseres Landes entgegenzunehmen. (Alex) Da bist du Mama. 0:06:48 Alex weist aufs Fernsehbild. Christiane im Kostüm geht mit anderen eine Treppe hinauf. (Fernseher) ... Und Würdigung außerordentlicher Verdienste beim Aufbau und bei der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaftsordnung. Traditionell am Vorabend des Nationalfeiertages zeichnet das ZK der SED verdienstvolle Persönlichkeiten aus. 0:07:02 Alex und andere Kinder in Raumanzügen. Nach langem, unermüdlichem Training war es so weit. Ich, Alex Kerner, flog als zweiter Deutscher ins All. Tiefer und weiter als je ein Mensch zuvor. (Alex) Rakete gezündet! 0:07:18 Die Spielzeugrakete steigt hoch. Ich stellte mir vor, wie ich zum Wohle der Menschheit den Kosmos erforsche, auf unseren Planeten herunterblicke und stolz meiner Mutter zuwinke. (Alex) Rakete gezündet! 0:07:28 Alex‘ Rakete zischt in die Luft. In der Kapsel sitzt eine Sandmännchen Puppe. Alex lächelt seiner Mutter zu, die drückt ihm die Daumen. Seine Rakete verschwindet am blauen Himmel. 0:07:38 Einblendung 10 Jahre später - 7. Oktober 1989. Ein etwa Zwanzigjähriger in Jeans und Parker hockt auf einer Bank vor einem achtgeschossigen Plattenbau und trinkt Bier. Es

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ist Alex. Er hat hellbraunes Haar, dichte dunkle Brauen, hohe Wangen, Knochen und schmale Lippen. Er schleudert die leere Flasche in einen Mülleimer. 10 Jahre später 7. Oktober 1989. Test, eins, zwo... Die DDR wurde 40. Ich hatte arbeitsfrei bei der PGH Fernsehreparatur ‚Adolf Hennecke‘ und fühlte mich auf dem Höhepunkt meiner männlichen Ausstrahlungskraft. 0:08:03 Er rülpst. An den Häusern hängen Transparente: ‚40 Jahre DDR‘. DDR Fahnen mit Hammer und Sichel werden aufgestellt. Eine Militärparade. Die Soldaten blicken zu Honecker und Gorbatschow auf der Ehrentribüne. Links, zwo, drei! Die Zeit roch nach Veränderung, während vor unserem Haus ein überdimensionierter Schützenverein seine letzte Vorstellung gab. 0:08:29 Militärfahrzüge rollen an der Tribüne vorbei. Die Panzer sind mit Raketen bestückt. Am achtgeschossigen Plattenbau bedeckt eine lange rote Stoffbahn eine Fensterreihe. Hinter der Stoffbahn ein Zimmer in rotes Licht getaucht. [Geklopf] (Ariane) Alex! 0:08:45 Alex liegt angezogen auf seinem Bett. [Geklopf] (Alex) Was? 0:08:49 Eine junge Frau Ariane öffnet die Tür. (Ariane) Du, Alex, da ist 'n Mädel draußen. Soll ich die wieder wegschicken? 0:08:53 Sie hält ein Baby im Arm. (Alex) Was für ‚n Mädel? - (Ariane) Keine Ahnung. Aber die macht 'n guten Eindruck. 0:08:58 Ariane ist Anfang 20, hat schulterlange blonde Locken, volle Lippen und ein energisches Kinn. (Ariane) Hast du schon wieder in Klamotten gepennt? 0:09:04 Er späht an ihr vorbei. (Alex) Wo ist der Besuch? 0:09:07 Sie reicht ihm das Baby. (Ariane) Der Besuch heißt Paula und ist ein Rendezvous, wie verabredet. - (Alex) Oh, nein! Doch, Brüderchen. - Kann sich dein Ex nicht kümmern? Der hat heute Bereitschaftsdienst. 0:09:18 Ariane geht. Alex schlupft mit Paula auf dem Arm in sein dämmeriges Zimmer zurück und sinkt wieder aufs Bett. Paula starrt gebannt auf ein vibrierendes Regalbett. Eine Spielzeugfigur ‚Pittiplatsch‘ kippt um. 0:09:29 Im Wohnzimmer. Die Kaffeetassen klirren Frau Schäfer über einen Notizblock. (Frau Schäfer) Wir waren: Denn eine Frau… - (Christiane) von einem bestimmten Alter kann und will die Slips, die angeboten werden, nicht mehr tragen. 0:09:36 Christiane bügelt und diktiert.

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(Christiane) Punkt. Auch in der DDR gibt es nicht nur junge Eisprinzessinnen und exquisit schlanke Genossinnen. Punkt. - (Frau Schäfer) Das ist gut. 0:09:47 Alex kommt. (Alex) Ihr seid nicht unten? Läuft schon. - (Christiane) Ist ja nicht zu überhören! Dann beeilt euch. Könnte das letzte Mal in der alten Besetzung sein. - (Ariane) Wo ist Paula? 0:09:57 Ariane: (Ariane) Schläft die schon wieder? 0:10:00 Frau Schäfer: (Frau Schäfer) Vielleicht seh‘ ich eure Mutter im Fernsehen. - (Alex) Aus ‘m Palast? 0:10:05 Alex betrachtet eine Einladung. (Christiane) Da kannst du aber mit der Lupe suchen. 0:10:07 Er stellt den Fernseher an. Die Parade wird übertragen. (Christiane) Ich weiß gar nicht, ob ich da hingehe. Alle hohen Tiere von der Partei sind da. Kenn ja keinen. - (Alex) Da stehen sie rum und feiern sich selbst, die ganzen alten Säcke. Musst ja nicht hingucken. - Mama, merkst du nicht, was da passiert? Und du? Was willst du? Abhauen? Es wird sich nischt ändern, wenn alle abhauen. Weiter geht's. 0:10:16 Sie spuckt aufs Bügeleisen. (Christiane) Es kann ja nicht möglich sein, 0:10:39 Frau Schäfer notiert. (Christiane) dass die etwas kräftigeren Arbeiter und Bäuerinnen durch unsere Modekombinate noch im 40. Jahr des Bestehens unserer Republik bestraft werden! Mit sozialistischem Gruß... Hanna Schäfer. 0:10:49 Alex schaut verdrossen. 0:10:55 Es ist Abend. Eine Laterne beleuchtet die dunkle Straße. Eine Menschenmenge zieht langsam über den Asphalt. Am Abend des 7. Oktober 1989 fanden sich mehrere hundert Menschen zum Abendspaziergang zusammen, um sich im Vorwärtsschreiten für grenzenloses Spazierengehen einzusetzen. 0:11:14 Einige tragen Transparente. Alex schlendert mit und isst einen Apfel. Er skandiert (Alex) Pressefreiheit! Pressefreiheit! 0:11:17 und verschluckt sich. Hustend bleibt er stehen. An der Kreuzung vor ihm stürmen Volkspolizisten zusammen und bilden eine Kette. Mannschaftswagen fahren auf. Ungerührt geht die Menge weiter auf die Kreuzung zu. Alex hustet immer noch. Eine junge dunkelhaarige Freu klopft ihn mit beiden Händen auf den Rücken. (Lara) Husten! Stark husten! 0:11:43 Atemlos sieht er sie an. (Lara) Geht's wieder? 0:11:46 Sie hat große dunkle Augen und ein Grübchen am Kinn.

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(Lara) Geht's? - (Alex) Danke schön. 0:11:51 Sie lächelt und geht. Er folgt ihr. 0:11:55 In einem Taxi. Christiane sitzt im Fond. Sie ist Mitte vierzig und zierlich, hat hellbraunes schulterlanges Haar und einen scharfgeschnittenen Mund. Der Taxifahrer nimmt eine Kurve. (Taxifahrer) Da vorn sind ja noch mehr Grüne. 0:12:04 Volkspolizisten kommen ihnen entgegen. Einer schlägt auf ihrer Kühlerhaube. (Taxifahrer) Ist ja gut. - (Polizei) Kette bilden! Keine Gewalt! Keine Gewalt! 0:12:10 Das Taxi hält. 0:12:11 Hundertschaften von Volkspolizisten springen aus dem Mannschaftswagen und drängen die Demonstranten zurück. Alex in der Menge schaut wild um sich. 0:12:19 Im Taxi. Christiane sieht verwirrt hinaus. (Taxifahrer) Wenn Sie die U-Bahn nehmen, dann schaffen Sie's vielleicht noch. 0:12:23 Sie nickt. An der Kreuzung vor ihnen stört sich die Menge. 0:12:27 Kleinlaster mit rotweißgestreiften Räumschilden halten auf die Demonstranten zu. Alex und die junge Frau werden auf verschiedenen Seiten gedrängt. (Alex) Wie heißt du? - (Lara) La... 0:12:40 Die Polizeikordons und die Laster mit den Räumschilden schieben die Menge zurück. Ein Demonstrant hält ein Transparent hoch: ‚keine Gewalt‘. Einige der Demonstranten versuchen aus der Menge auszubrechen. Polizisten setzen ihnen nach, packen sie und werfen sie zu Boden. Christiane mit weißes Stola über dem roten Abendkleid geht langsam durch eine Absperrung hindurch. Fassungslos betrachtet sie das Geschehen. Polizisten prügeln mit Schlagstocken auf am Boden liegende an. Christiane beobachtet ungläubig wie ein Demonstrant von Polizisten über den Boden geschleift wird. Ein Polizeiwagen fährt vor. Sie wendet den Kopf. Ein anderer Demonstrant wird von Zivil- und Sicherheitskräften verprügelt. (Christiane) Hören Sie auf damit! 0:13:25 Sie tritt auf die Straße. (Lasterfahrer) Pass doch auf! 0:13:27 Ein Laster fährt knapp an ihr vorbei. Auf der anderen Straßenseite wird Alex abgeführt. Christiane geht sehr langsam auf ihn zu. Alex bemerkt sie und will sich losmachen. Sie bricht auf der Straße zusammen. Alex reißt sich los und stürmt zu ihr. Die Männer holen ihn rein und packen ihn. (Alex) Meine Mutter liegt da vorn! Da liegt meine Mutter! - (Mann) Bleib stehen! 0:13:47 Verzweifelt windet er sich in ihrem Griff. Sie hieven ihn auf einen Laster. Christiane legt bewegungslos. Der Laster fährt los. Alex starrt auf seine Mutter. Menschen sturmen achtlos an ihr vorbei. 0:13:59 Zwei Männer zerren Alex zu anderen auf eine Sitzbank. (Alex) Jetzt lass mich raus, du Arschloch! Da vorne liegt meine... 0:14:05 Ein Mann in Jeansjacke boxt Alex in den Magen. Alex geht zu Boden und übergibt sich vor den Füßen des Mannes. Die gefangenen im vollbesetzten Laster starren ihn an.

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0:14:17 Im Gefängnis. Eine endlose Zahl von Menschen steigt langsam eine Eisentreppe hinauf. In einem großen vergitterten Raum am Fuß der Treppe stehen aufgereiht weitere gefangene Demonstranten. Alle haben die Hände hinterm Kopf verschränkt. Der Mann in der Jeansjacke geht hinter alle Gefangenenreihe entlang und dreht Alex herum. (Mann) Alexander Kerner? - (Alex) Ja. 0:14:40 Der Mann führt ihn aus der Reihe hinaus und gibt ihm einen Zettel. (Mann) Ihre Mutter. 0:14:50 Alex starrt darauf und sieht den Mann ratlos an. Der schiebt ihn Richtung Ausgang. Ein Schließer öffnet die Gittertür. Alex stürmt mit versteinerter Miene hinaus. Die Tür hinter ihm wird wieder verschlossen. 0:15:11 Früher Morgen, auf der Straße. Alex rennt die Treppe zu einer S-Bahnstation hinauf. Ein rotes Transparent mit der goldenen Aufschrift ‚40 Jahre DDR‘ schmückt einen Gleisübergang. Die rot-gelbe S-Bahn fährt ein. Alex hastet darauf zu. 0:15:23 Im Krankenhaus. Alex tritt in den gelbgrün gestrichenen Gang der Röntgenabteilung. Er marschiert hastig den Flur entlang. An seinem linken Auge prangt ein Fellchen. Er schaut in einen weiteren Gang. Ariane sitzt auf einem Stuhl an der Wand. Vor ihr steht ein Arzt. Alex eilt zu ihnen. (Alex) Was ist mit Mutter? 0:15:45 Sie steht auf und umarmt ihn weinend. Er löst sich von ihr. (Alex) Was ist los? - (Ariane) Mama hatte 'n Herzinfarkt. 0:15:54 Der Arzt kommt. (Arzt) Leider kamen die Wiederbelebungsmaßnahmen sehr spät. Ihre Mutter liegt im Koma. 0:16:00 Alex starrt ihn verständnislos an. (Alex) Wann kann man mit ihr sprechen? - (Ariane) Alex, Mama liegt im Koma! - (Arzt) Wir wissen noch gar nicht, ob ihre Mutter jemals wieder aufwacht. 0:16:15 Im Krankenzimmer. Christiane liegt reglos im Bett. Der Schlauch eines Beatmungsgerätes steckt in ihrem Mund. Alex tritt ein. Vorsichtig schließt er die Tür hinter sich und nähert sich langsam dem Bett seiner Mutter. Sie rührt sich nicht. Um sie herum stehen medizinische Apparate. Eine Kanüle steckt in ihrer Hand. Alex mustert sie mit großen Augen. Er schluckt, nimmt behutsam ihre Hand in die seine und setzt sich auf die Bettkante. (Alex) Hörst du mich, Mama? 0:16:43 Verzweifelt beugt er sich zu ihr. (Alex) Du musst aufwachen. Aber Mutter fest. 0:16:49 Alex tritt in den Klinikhof. In ihrem tiefen, nicht enden wollenden Schlaf kreiste sie wie ein Satellit um das menschliche Treiben auf unserem kleinen Planeten und in unserer noch kleineren Republik. 0:16:59 In der Fernsehwerkstatt. Alex mit Kollegen vorm Bildschirm.

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(Fernseher) Die 9. Tagung stimmte Honeckers Bitte zu, ihn aus gesundheitlichen Gründen von den Funktionen zu entbinden und dankte für sein politisches Lebenswerk. Gratulation! Ihr Schlaf verdunkelte den Abgang des werten Genossen Erich Honecker, Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzender des Staatsrates der DDR. 0:17:21 Alex stellt ein Honecker Bild in den strömenden Regen. (Radiobericht) Berlin. Heute Abend ist die Mauer gefallen. 0:17:30 Auf eine Tribüne. Helmut Kohl, Walter Momper und Willy Brandt singen. Mutter verschlief ein klassisches Konzert vor dem Rathaus Schöneberg. 0:17:41 An der Berliner Mauer. Und den Beginn einer gigantischen und einzigartigen Altstoffsammlung. 0:17:50 Menschenmassen auf der buntgemalten Westseite. Ein Bagger reißt ein Mauer Segment ein. Auf der Ostseite wird ein Wachturm umgestürzt. Menschen schütteln rhythmisch die Fäuste. Aus den Fenster der Stasizentrale flattern Papiere. Mutter schlief weiter. Tief und fest. 0:18:07 Am Grenzübergang. Alex kommt auf seinem Moped angefahren. Sie verpasste meinen ersten Ausflug in den Westen und wie einige Genossen pflichtbewusst uns Arbeiter und Bauern schützten. 0:18:17 Der Grenzer mustert ihn streng. Natürlich entgingen ihr auch meine ersten kulturellen Entdeckungen in einem neuen Land. 0:18:23 Alex betritt einen rotbeleuchteten Sexshop. Wie hypnotisiert starrt er mit einigen Landsleuten auf einen Bildschirm. Darauf sprüht sich eine Frau Sahne auf ihre riesigen Brüste. Mutters tiefe Ohnmacht erlaubte ihr nicht, an den ersten freien Wahlen teilzunehmen. 0:18:39 Helmut Kohl dringt sich durch eine Menschenmenge. Hände strecken sich ihm entgegen. (Menschen) Helmut! Helmut! Helmut! Sie verschlummerte, wie Ariane ihr Studium der Wirtschaftstheorie schmiss. (Ariane) Guten Appetit und danke für lhren Besuch! Und ihre ersten praktischen Erfahrungen mit der Geldzirkulation machte. Arianes neuer Lover zog bei uns ein. Rainer, Klassenfeind und Grilletten-Chef. 0:19:02 Bei den Kerners. Sie räumen um. (Ariane) Die Möbel aus dem Schlafzimmer kommen dann runter in die Mieterbox. Ihr entging die zunehmende Verwestlichung unserer 79-m²-Plattenbauwohnung. (Ariane) Der alte Krempel mit dem roten Punkt drauf kommt runter auf den Sperrmüll, ja? 0:19:19 Reiner und Ariane beim Bauchtanz. Und Rainers Begeisterung für die Sitten und Gebräuche des Morgenlandes. 0:19:25 Alex steht in die Tür und sieht sie mit offenen Mund zu. 0:19:29 In der Klinik. Alex an Christianes Bett. In ihre Nacht drang nicht die große hormonelle Verzückung, in die ich beim Anblick einiger schöner Beine geraten war.

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0:19:37 Fasziniert starrt er den Gang hinaus. Krankenschwestern in Knielangen durchscheinenden Kitteln gehen hin und her. Alex beugt sich weiter vor. Dabei reißt er den Schlauch aus dem Tropf seiner Mutter. Hastig hält er die unten offene Flasche zu und handelt hilflos nach dem dünnen Schlauch. Eine junge Schwester kommt. (Alex) Scheiße! - (Lara) Was machen Sie da? Mir ist die Infusion... Und in ihre Träume drang auch nicht der erste Arbeitstag von Schwester Lara, Austauschengel aus der Sowjetunion. 0:20:04 Sie sehen sich an. Es ist die dunkelhaarige von der Demonstration. (Lara) Da bist du ja wieder. - (Alex) Hallo. Ich hab mir Sorgen um dich gemacht. - Ja, die haben mich eingebuchtet. 0:20:19 Lara geht. Alex sieht sie ihr mit großen Augen nach. Durch den weißen Kittel schimmern ihre schlanken Beine. 0:20:25 Vor den neuen Wache. Unter den hohen Säulen marschieren Wachsoldaten im Stechschritt. Mutter verschlief den Siegeszug des Kapitalismus. (Soldat) Ablösung! 0:20:33 Ein grauer Trabi fährt vorbei. Ein Wartburg und große Laster im rotweisen Coca-Cola Design kommen ihm entgegen. Und die Terminkoordination meiner Besuche im Krankenhaus. 0:20:47 In der Klinik. Alex steht vor dem Dienstplan der Schwestern für den April 1990. Sein Finger hält bei Laras Namen. Eifrig notiert er ihre Früh- und Spätschichten. 0:20:55 An Christianes Krankenbett. Alex betrachtet seine reglos daliegende Mutter. 0:21:00 Im Klinikflur. Er linst durch eine Glastür. Lara lehnt am Balkon des Schwesterzimmers und raucht. Alex beobachtet sie mit liebevollem Lächeln. 0:21:07 An Christianes Bett. (Alex) Weißt du, was mir aufgefallen ist? Wenn sie gute Laune hat, trägt sie ihre Haare immer offen. Bei schlechter Laune steckt sie sie hoch. Und sie kaut an den Fingernägeln, immer bei der Visite. Findest du nicht auch, dass sie ein wunderschönes Lächeln hat? 0:21:26 Lara strahlt. Alex liegt seinen Kopf an die Schulter seiner Mutter. Ihr Schlaf ignorierte, wie Helden der Arbeit arbeitslos wurden. 0:21:35 In der Werkstatt Die PGH Fernsehreparatur ‚Adolf Hennecke‘ wurde abgewickelt. 0:21:38 Alex packt. Ich war der Letzte und ich machte das Licht aus. 0:21:41 Die Werkstatt wird dunkel. Dann kam der Aufschwung. Im Ost-West-Team praktizierte ich die Wiedervereinigung. Satellitenschüsseln ließen unsere Landschaften erblühen. (Chef) Denis Domaschke? 0:21:50 In einer Firma. Ein Blonder. (Denis) Domaschke. Denis Domaschke.

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0:21:55 Auf zwei Gläsern steht ‚o‘ und ‚w‘. Der Chef zieht daraus Zettel. (Chef) Alexander Kerner? - (Alex) Hier. Na, komm ran. Nicht so schüchtern. 0:22:02 Sie geben sich die Hand. Beide tragen rote Overalls. (Chef) Und vertragt euch, Mädels. 0:22:07 Darauf sind Satellitenschüsseln abgebildet. (Alex) Tag. - (Kollegen) Hallo. 0:22:11 Die neuen Kollegen schütteln sich die Hände. Der Chef zieht einen weiteren Namenszettel. (Chef) Knut Vogel? 0:22:18 In der Klinik. Lara wäscht Christianes Arm. Ein Kassettenrecorder an eine Zeit Schaltuhr startet. (Alex) Hallo, Mama. Dr. Wagner sagte, wir sollen mit dir sprechen. Wenn ich nicht persönlich da sein kann, dann geht's auch so, dachte ich mir. Es ist jetzt... 5 Uhr. Da sind die meisten Ärzte schon weg und du hast endlich deine Ruhe. Schwester Lara, die dich gewaschen hat, wird auch weg sein. Könntest du sie sehen, würdest du bestimmt aufwachen. 0:22:43 Lara grinst. (Alex) Ich soll dich auch von Ariane grüßen, die das mit dem Band Blödsinn findet. Sie kümmert sich gerade um Paula. Die kriegt Zähne und schreit viel. Mutter verschlief meine unaufhaltsamen Fortschritte bei Lara. Nach 4 Früh- und 35 Spätschichten folgte unser erstes romantisches Rendezvous. 0:23:04 In einem Klub mit schrill bunte Beleuchtung. Der Barkeeper reicht Alex zwei Flaschen Bier. Auf eine Bühne spielt eine Band ins Gorilla Kostümen. Der Sänger trägt eine Maske mit buntem Rüssel und langen Rasta Locken. Der halbnackte Bassist ist kalkweise geschminkt. Über ihn hängen aufgeblasene Kondome. Alex und Lara gehen zwischen den Tanzenden Gästen hindurch. (Alex) Laut hier! 0:23:28 Lara hebt zustimmend den Daumen und winkt strahlend zur Musik. Sie packt Alex am Arm und zieht ihn mit sich durch die Menge. Lara in Jeans und kurzer Jacke ist etwa zwanzig, zierlich und hat lange braune Locken. Alex trägt einen geringelten Pulli. (Alex) Unsere Russisch-Lehrerin kam aus Minsk und wog 'ne Tonne. - (Lara) Und das ist alles, was du von russischen Frauen weißt? 0:23:55 Sie durchqueren einen anderen Raum. Die Wände sind mit schwarzen Figuren bemalt. Auf eine schwarz-weißen Couch eine ebenso bemalte nackte Frauenfigur. Der Wind der Veränderung blies bis in die Ruinen unserer Republik. Der Sommer kam und Berlin war der schönste Platz auf Erden. Wir hatten das Gefühl, im Mittelpunkt der Welt zu stehen. Dort, wo sich endlich etwas bewegte. Und wir bewegten uns mit. 0:24:17 In einem Zimmer mit fehlender Außenwand. (Lara) Schade, dass sie von all das nichts mitbekommt. 0:24:20 Sie sitzen an der Kant und lassen die Beinen bummeln.

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(Alex) Na ja, ist vielleicht auch besser so. Alles, woran sie glaubte, löste sich einfach in Luft auf. - (Lara) Und dein Vater? 0:24:26 Sie raucht einen Joint. (Alex) Der war Arzt. Er ist in den Westen abgehauen. Hat sich nie mehr gemeldet. 0:24:33 Sie tauschen einen kurzen Blick. Er nimmt einen Zug. Sie lächelt sanft, greift nach dem Joint und inhaliert tief. Gedanken verloren sieht sie vor sich hin und stößt den Rauch wieder aus. Alex betrachtet sie hingerissen. Sie bemerkt seinen Blick und schaut ihn fragend an. Er lächelt verlegen und erzählt etwas. Sie lacht ausgelassen. Alex und Lara sitzen dicht neben einander im zweiten Stock der Häuserruine und sehen in die Nacht. Die gesamte Fassadenwand fehlt. Das Zimmer hinter ihnen ist in warmes Gelb getaucht. Das Nachbarzimmer scheint blau. Die Zukunft lag in unseren Händen, ungewiss und verheißungsvoll. 0:25:15 Heller Tag. Vor einem Plattenbau. Alex und Denis holen Satellitenschüssel aus ihrem Transporter. Im Hausflur. (Denis) Guten Tag. Firma X TV, wir wollten nur... 0:25:25 Eine alte Frau verneint. An der nächsten Tür: Asiaten öffnen. (Alex) Tagchen. Brauchen Sie eine SAT-Anlage? - (Asiaten) Kein Money! - (Denis) Kein Money? 0:25:31 Ein Dicker öffnet. (Alex) Mögen Sie Fußball? - (Denis) Dann hätten wir was! 0:25:37 Zu einem Bärtigen. (Denis) Guten Tag. Firma X TV, wir... 0:25:42 Er will die Tür Schließen. (Denis) Firma X TV! 0:25:44 Denis blockiert sie. (Denis) Haben Sie Interesse an einer SAT-Anlage? 0:25:47 Auf einem Balkon. (Denis) Hier ist Vietnam 1, da Vietnam 2 und hinten der vietnamesische Sportkanal. - (Mann) Alles klar! 0:25:51 Sie fahren davon. Am Hochhaus hinter ihnen blinken die neuen Satellitenschüssel. (Denis) Auf die Fußball-WM! 0:25:58 Abends bei Denis. (Alex) Auf die Zukunft! - (Denis) Auf uns! 0:26:01 Sie geben sich die Hand (Denis) Genosse. 0:26:03 und Stoßen an. 0:26:06 Vorm Fernseher. Einblendung: ‚SO 36 Film Präsents Family Moments‘. Bilder einer Hochzeit. (Denis) Im Moment läuft das noch so 'n bisschen nebenbei. 0:26:15 Sie betrachten Videoaufnahmen einer Taufe. (Denis) Und später mal...

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0:26:21 Denis raucht. (Denis) da mach ich mal so richtige Spielfilme. 0:26:24 Alex lächelt und hält mühsam die Augen auf. (Denis) Unterm selben Label, versteht sich. Pass mal auf, ich zeig dir mal was. 0:26:27 Denis legt eine andere Kassette in seinen Profirekorder. (Denis) Da bin ich im Moment dran. Pass mal auf. 0:26:33 Er betätigt den Vorlauf. Ein Hochzeitspaar tanzt rasch. (Denis) Noch nicht gucken. 0:26:39 Alex schließt die Augen. (Denis) Noch nicht gucken, warte... 0:26:41 Eine Hochzeitskutsche geht los. Zeitlupe. Die Braut wirft den Brautstrauß hoch in die Luft. Er dreht sich mehrfach vor den blauen Himmel. Alex Kopf ist nach vorn gesunken. Der Brautstrauß wirbelt Richtung Erde. Das folgende Bild zeigt eine Torte mit brennenden Kerzen. Denis, Mitte 20, klein und dünn lehnt sich stolz zurück und gibt Alex einen Klaps. (Denis) Haste 's erkannt? 0:27:01 Der fällt schlaftrunken auf und schaut fragend. Denis spült das Band zurück und startet erneut. Alex sieht mit zusammengekniffenen Augen auf den wirbelnden Brautstrauß. Die Torte wird ins Bild gehalten. Denis dreht sich zu ihm um. Alex blickt verständnislos. (Denis) Das ist der berühmte Schnitt aus 2001, mit den Knochen. Die Torte ist quasi das Raumschiff. 0:27:23 Alex nickt mit offenem Mund und starrt zum Bildschirm. Der Brautstrauß wirbelt, die Kerzen der Torte brennen. (Denis) Haste's jetzt erkannt? Ja? - (Alex) Genial. 0:27:33 Denis schenkt Schnaps nach. Auf dem Bildschirm tanzt das Brautpaar. Denis schlägt weh den Takt. Alex sitzt neben ihm und schläft. Denis versetzt ihm einen Klaps. Alex öffnet mühsam die Augen. (Alex) Genial. 0:27:47 Früher Morgen. Am Grenzübergang. Punkerinnen posieren mit einem Grenzer. Ein andere fotografiert sie. Alex zeigt seinen Pass. Der Grenzer winkt ihn durch. (Mann) So, nun lacht alle mal ganz schön. Anfang Juni 1990 waren die Grenzen unserer DDR nichts mehr wert. 0:27:59 In der Klinik. Neben Christianes Bett steht eine Vase. Lara erneuert den Tropf. Mutter schlief weiter. Ich aber entsann mich des alten Genossen-Wortes: „Wir lösen Probleme im Vorwärtsschreiten“ und handelte. 0:28:11 Alex kommt. Behutsam berührt er von hinten Laras Schulter. Sie schaut auf und lächelt ihn an. Alex tritt dicht an sie heran. Sie mustert ihn liebevoll, legt zart ihre Hand auf seine Schulter und küsst ihn. Christiane liegt mit geschlossenen Augen. Ihr Mund zuckt, sie runzelt kürz die Stirn. Lara und Alex küssen sich zärtlich. Christianes Finger zittern immer stärker. Alex setzt zu einem neuen Küss an. [Vase bricht] Sie fahren aus einander. Die Vase liegt zerbrochen am Boden. Alex beugt sich über das Bett. (Alex) Mama? Mama! 0:28:50 Lara drückt den Ruf Knopf. Christiane starrt zur Decke.

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(Alex) Hörst du mich? 0:28:52 Sie sieht Alex an und lächelt. 0:28:54 Im Sprechzimmer. Der Arzt mustert Ariane und Alex über seine Brille hinweg. (Arzt) Das Erwachen ihrer Mutter ist ein Wunder. Sie könnte sich aber verändert haben. - (Alex) Was meinen Sie? Es gibt Fälle, da erkannten Patienten ihre eigenen Kinder nicht wieder. Amnesie. 0:29:07 Alex schaut zu Lara. (Lara) Gedächtnisverlust. 0:29:15 Der Arzt blickt vorwurfsvoll. (Lara) Entschuldigung. - (Arzt) Geistige Verwirrung, Vermischung von Langzeit- und Kurzzeitgedächtnis, Geschmacks- und Geruchsirritation, verzögerte Wahrnehmung. Wir wissen nicht, wie stark das Gehirn geschädigt wurde. Die Palette ist ebenso lang wie ungewiss. Es tut mir leid, das sagen zu müssen. Ihre Mutter ist immer noch sehr gefährdet. Ich kann Ihnen kaum Hoffnungen machen, dass sie die nächsten Wochen überleben wird. 0:29:37 Alex und Ariane tauschen einen besorgten Blick. Lara schaut mitfühlend. Alex schluckt. (Alex) Na ja... Können wir sie denn... mit nach Hause nehmen? - (Arzt) Ausgeschlossen. Sie ist hier viel besser aufgehoben. Es ist auch einfacher für Sie. Einen zweiten Infarkt wird sie nicht überstehen. Sie müssen jegliche Aufregung von Ihrer Mutter fernhalten. Und wenn ich das sage, dann meine ich jedwede Aufregung, Herr Kerner. 0:30:14 Bitter betrachtet er ein Stück Mauer auf dem Tisch. (Arzt) Es ist lebensbedrohlich. 0:30:19 Alex greift zur Bildzeitung. (Alex) Und das hier? 0:30:22 Die Schlagzeile: Mach’s gut, Deutschland. (Alex) Ist das kein Grund zur Aufregung? Meine Mutter hat von der Wende nichts mitbekommen. Hier erfährt sie alles sofort. 0:30:33 Im Krankenzimmer. (Ariane) Deine Enkeltochter. 0:30:37 Ariane hält ihre Mutter Paula hin. (Paula) Mama. 0:30:41 Christiane lächelt. An ihren Hals klebt ein dickes Mull Pflaster. Sie schaut zu Alex. (Christiane) Was ist passiert? - (Alex) Du bist umgekippt. Vor 8 Monaten. Vor 8 Monaten? Kann mich gar nicht erinnern. - Das ist normal so. Das kommt schon wieder. Du musst nur Geduld haben. Und was... was war da? - Ja, das war... Das war im Oktober. Ich glaub, du wolltest einkaufen gehen. Und da war so 'ne Riesenschlange vor der Kaufhalle. Und dann war's so heiß, da bist du einfach umgekippt. Im Oktober? - Es war ein ganz besonders heißer Oktober. Damals. Ja. Und dann?

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- (Ariane) Du warst im Koma, Mama. 0:31:35 Abwartend sehen sie ihre Mutter an. (Christiane) Ich will nach Hause. 0:31:42 Alex blickt entschlossen. (Alex) Ich verspreche dir das. Wir wollen doch deinen Geburtstag feiern. Wie jedes Jahr. 0:32:49 Im Klinikflur. (Ariane) Das ist Wahnsinn! - (Alex) Wir lassen sie nicht im Stich! Mama ist todkrank! Hier ist sie viel besser aufgehoben! Sei doch einmal realistisch! Sei du doch mal realistisch. Was, wenn sie kein Einzelzimmer mehr hat? Oder wenn sich jemand verplappert? Hier hört sie sofort, was draußen los ist. Das verkraftet sie nicht. 0:32:13 Bei den Kerners. Alex schaut sich um. (Alex) so, der ganze Krempel muss hier raus. 0:32:18 Er geht zum Fenster mit den roten Jalousien. (Alex) Sind Mamas Gardinen noch im Keller? - (Ariane) Das ist jetzt nicht dein Ernst. Sind ja reingedübelt. 0:32:27 Alex reißt an den Jalousien. Sie fällen herab. (Ariane) Na, bravo! - (Alex) Dann muss das wohl neu verputzt werden. 0:32:32 Reiner liegt nackt auf einer Sonnenbank. (Ariane) Was hat der vor? - (Alex) Kannst du dir das nicht denken? Was soll er sich denken können? - Dass ihr das Zimmer räumen müsst. 0:33:07 Das Rollo fällt Rainer auf dem Fuß. (Alex) Oder soll Mama im Keller wohnen? - (Rainer) Ich zahl die Miete für diese Wohnung! 47 Mark 80! Das reicht im Westen nicht mal für 'ne Telefonrechnung! - Im Osten wartest du 10 Jahre auf 'nen Telefonanschluss! 0:33:18 In der Küche. (Alex) Mama muss das Zimmer so vorfinden, wie sie es verlassen hat. Der Arzt sagte, sie soll im Bett liegen, ja? Gut. Es geht also nur um dieses eine Zimmer. Bis es ihr wieder bessergeht. - (Ariane) Der Arzt sagte, Mama wird wohl... Das sagtest du schon vor 3 Monaten, als du die Apparate abschalten wolltest. - Das war 'ne andere Situation! Was willst du ihr denn sagen? Dass du dein Studium geschmissen hast, weil du jetzt Hamburger verkaufst? 0:33:22 Paula im Kinderwagen grinst. (Alex) Guten Appetit und danke, dass Sie sich für Burger King entschieden haben. 0:33:29 Unsanft haut sie ihm gegen den Kopf und geht. Die etwa einjährige Paula sieht ihr verdutzt nach.

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0:33:36 Im Keller. Alex öffnet die Tür. Er und Denis starren in den mit alten Möbeln vollgestellten Raum. (Denis) 8. Stock? - (Alex) Jep. Fahrstuhl? - Kaputt. Scheiße. - Real existierende. 0:33:51 Christianes Zimmer ist leer. An den Wänden hängen gelbgemusterte Tapeten. Zeitraffer. Alex und Denis schleppen Möbel herein. Ein Brauner Sekretär kommt in die Ecke, ein Orientteppich aufs Parkett. Eine fünfarmige Lampe an die Decke. Vors Fenster geschlagene Vorhänge. Auf das Bett eine Tagesdecke mit Rüschen. Außerdem ein Vermona Klavier, eine Kommode, Stehlampen, Bücher und ein Foto mit Che Guevara. Denis spielt wild auf einer Gitarre. Alex auf dem Vermona Klavier. Alex bricht die Antenne vom Radio ab. Er geht zum Kopfende des Bettes und schaut zum Fenster hinaus. Ein Plattenbau versperrt die Sicht. Zufrieden hocken sie sich aufs Bett und rauchen. Mein Leben veränderte sich gewaltig. Und der Tag, an dem Mutter nach Hause kam, rollte mit der Unerbittlichkeit eines tonnenschweren russischen Panzers auf uns zu. 0:34:36 Heller Tag. (Ariane) Was schnüffelst du in meinem Schrank? - (Alex) Das ist aus der Altkleidersammlung. Wie läufst du überhaupt rum? Wär schön, wenn du mal mitdenken würdest. 0:34:44 Ariane fischt einen Polyesterpulli auf dem Kleiderhaufen. (Ariane) Guck mal. 0:34:49 Zu Paula. (Ariane) So ‘n Schrott hatten wir an. 0:34:51 In der Klinik. Alex bei einem Arzt. Der reicht ihm ein Formular. (Arzt) Hier unterschreiben. Die Krankengymnastin kommt dreimal die Woche. Haben Sie noch Fragen? 0:35:00 Alex schüttelt den Kopf. (Arzt) Ihre Mutter geht auf eigene Verantwortung. Sie wissen ja, was ich davon halte. - (Alex) Wo ist eigentlich der letzte Arzt? Dr. Wagner ging nach Düsseldorf. - Verstehe. Und Sie? Wann hauen Sie ab? Sie erzählen mir was von Verantwortung. 0:35:16 Er gibt ihm das Formular zurück. Der Arzt mustert ihn starr. (Arzt) Legen Sie sich bitte mal kurz hin. - (Alex) Wieso? Bitte. Legen Sie sich kurz hin. 0:35:28 Irritiert steht Alex auf. Auf der Liege. Der Arzt beugt sich über ihm, holt weit mit dem Arm aus und schlägt auf Alex Brustkorb. (Arzt) Bei einem weiteren Herzstillstand: Kurze kräftige Schläge auf die Brust. 0:35:40 Sanitäter schieben Christiane auf der Klinikflur entlang. (Alex) Vorsichtig! Sie darf nicht aufwachen!

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- (Sanitäter) Alles klar, Chef! 0:35:47 Zu Lara. (Alex) Ariane und ich machen einen Zeitplan. Die Krankengymnastin ist auch noch da. Einer ist immer bei ihr. Das schaffen wir. 0:35:55 Im Krankenwagen. Ein der Sanitäter dreht am Radio. (Radio) Die meisten DDR-Bürger tauschten ihre Ersparnisse bereits bargeldlos um. Die Frist läuft noch knapp 2 Wochen. Beeilen Sie sich. Wie Gorbatschow sagte: Wer zu spät kommt... 0:36:03 Alex schaut besorgt. (Alex) Entschuldigung? Entschuldigung! Können Sie das Radio bitte leiser stellen? Meine Mutter braucht Ruhe. - (Sanitäter) Alles klar, Chef. 0:36:15 Alex lächelt seine Mutter an. Zart umschließt er Laras Hand. Seine Mutter bemerkt es. (Christiane) Willst du uns nicht vorstellen? - (Alex) Ah ja, natürlich! Das ist Lara. Hallo, Lara. 0:36:28 Christiane lächelt müde. 0:36:30 Vor dem Plattenbau. Der Krankenwagen fährt rückwärts auf die Haustür zu. Alex weist den ein. Er öffnet die Heckklappe. Lara die Haustür. 0:36:39 Die Sanitäter schieben Christiane durch den Flur zu dem Fahrstuhl. Er hält die Fahrstuhltür auf. Frau Schäfer in pink farbigen Leggings und weitem T-Shirt kommt in den Flur. (Frau Schäfer) Hallo, Christiane! 0:36:51 Alex schließt rasch die Fahrstuhltür hinter sich. (Frau Schäfer) Alex! Was ist denn los? Hallo? Alex! 0:36:57 Der Fahrstuhl fährt nach oben. 0:37:01 In Christianes Zimmer. Alex öffnet die Vorhänge. Christiane liegt im Bett. Sie blinzelt ins Sonnenlicht und setzt sich kurz um. (Christiane) Hat sich ja gar nichts verändert hier. 0:37:09 Er blickt unschuldig. (Alex) Was soll sich auch verändert haben? Ach ja, wenn dir langweilig ist, dann kannst du jetzt Kassetten hören. Das Radioteil ist leider kaputt. Aber das repariere ich noch. - (Christiane) Alex? 0:37:23 Er stellt den Rekorder weg und beugt sich zu ihr. (Christiane) Schön, wenn man weiß, dass man nicht alleine ist. 0:37:30 Er knetet seine Hände und nickt. (Christiane) Als euer Vater damals... 0:37:36 Sie wendet den Blick von ihm ab. (Christiane) Als er plötzlich weg war... 0:37:44 Alex sieht sie unverwandt an. (Christiane) Ich hab nicht geglaubt, dass ich das schaffen würde. Ich hab euch das nie erzählt. In meinem Kopf war der Gedanke, mir was anzutun. 0:37:57 Alex blinzelt mehrmals und senkt den Blick. Sie lächelt liebevoll. (Christiane) Aber ihr habt mich jeden Tag besucht. Und du hast von der Schule erzählt und von Sigmund Jähn.

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- (Alex) Das hast du mitbekommen? 0:38:11 Sie betrachtet die Bettpfanne auf der Kommode. (Christiane) Es tut mir leid, dass ich euch so viel Arbeit mache. Kann nicht mal allein aufs Klo. - (Alex) Mama... Das macht doch nichts. Das Wichtigste ist, dass du jetzt erstmal gesund wirst. Ich geb mir Mühe. - Du musst dich jetzt ausruhen. 0:38:31 Er streichelt ihre Hand und steht auf. (Alex) Ich geh noch kurz was einkaufen, aber Ariane ist noch da. 0:38:37 Er geht zur Tür. (Christiane) Ach Alex. 0:38:40 Fragend dreht er sich um. Ich hab Heißhunger auf Spreewaldgurken. Bringst du welche mit? - (Alex) Kein Problem, Mama. Das dachte ich jedenfalls. 0:38:51 In der Kaufhalle. Alex in blauem Hemd betrachtet überrascht die leere Regale. Ende Juni 1990 leerten sich die Kaufhallen unseres sozialistischen Vaterlandes. 0:39:01 In der Tiefkühltruhe liegt ein einziges Hähnchen. Und aus dem Land hinter der Mauer kam echtes Geld. 0:39:08 Auf der Transitstrecke. Ein Auto der Volkspolizei begleitet einen westdeutschen Geldtransporter. Während sich die Bürger vor den Sparkassen der Republik mit gewohnter Geduld in langen Schlangen einreihten, suchten wir fieberhaft Mutters Sparbuch. 0:39:22 Bei den Kerners. Alex durchwühlt die Wäsche und linst hinter den Schrank. Ariane sucht im Schubladen zwischen Hausbuch und Fotoalben und beim Weihnachtsschmuck. Mühsam späht sie auf dem Wohnzimmerschrank. Von allen ersehnt, überflutete die D-Mark unsere kleine Menschengemeinschaft. 0:39:40 Eine Menschenmenge. Hundertmarkscheine werden hochgehalten. Aus dem offenen Schiebedach eines Wagens schwenkt ein Mann eine Deutschlandfahne. (Menschen) Halleluja, Halleluja, Halleluja, D-Mark! So ein Tag, so wunderschön… Getauscht wurde 2:1. Deutschland gewann 1:0. 0:39:59 Ein Fußballspiel. (Radiobericht) Unhaltbar! Deutschland führt 1:0 durch Matthäus! 0:40:06 Bilder von jubelnden Menschen auf der Straße. 0:40:10 Heller Tag in der Kaufhalle. Unglaublich sieht sich Alex zwischen den vollen regalen um. Ein Mensch in gelben Vogel Kostüm stapft mit Luftballons daran entlang. Eine Verkäuferin ### Waren aus. (Alex) Mocca Fix? Filinchen Knäcke? - (Verkäuferin) Haben wir nicht mehr. Spreewaldgurken? - Auch nicht. Junge, wo lebst du? Wir haben jetzt die D-Mark. Und da kommst du mir mit Mocca Fix und Filinchen? Über Nacht hatte unsere graue Kaufhalle sich zu einem bunten Waren-Paradies verwandelt.

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0:40:41 Er betrachtet ein Glas Moskauer Gurken. Und ich wurde als Kunde zum König. (Verkäuferin) Die sind aus Holland. 0:40:49 Vor den Mülltonnen des Plattenbaus. Alex kommt mit einem einkaufsnett voll Gläser. Zu einem älteren Herrn: (Alex) Tag, Herr Ganske. 0:40:58 Alex öffnet die Mülltonne und sieht kurz hinein. Er öffnet eine zweite und betrachtet die leeren Gläser darin. Ganske beobachtet ihn mit bitterer Miene. (Ganske) So weit haben die uns schon... dass wir im Müll rumfischen müssen. - (Alex) Herr Ganske, haben Sie noch Spreewaldgurken? Was? - Spreewaldgurken! Tut mir leid, junger Mann. Ich bin selbst arbeitslos. 0:41:31 Ganske geht weiter. Alex sieht ihm nach. (Alex) So 'n leeres Glas wird es auch tun. 0:41:36 In der Küche. Gläser stehen in einem Topf mit kochendem Wasser. Alex nimmt sie heraus, stellt sie auf ein Handtuch und klebt ein Etikett mit der Aufschrift ‚Delikatess Sauerkraut‘ daran. Er führt Speisemöhren und Erdbeeren in andere Gläser um. Konzentriert schüttelt er Kaffee aus einer grünen Verpackung in eine Goldene und gießt Apfelsaft in eine Flasche mit der Aufschrift ‚Apfelnektar‘. Auf dem Tisch vor ihm stehen Gläser und Dosen aller Art. Ariane kommt. (Ariane) Ich wollte Rainer heute Mama vorstellen. - (Alex) Später. 0:42:06 Er füllt Honig um. Ariane nickt unentschlossen. (Alex) Wir wollen sie mal nicht überfordern. - (Ariane) Vielleicht hast du ja Recht. 0:42:13 Sie setzt sich zu ihm. Er schraubt das Honigglas zu. 0:42:17 In Christianes Zimmer. Alex schenkt Saft ein. (Alex) Spreewaldgurken hatten Lieferschwierigkeiten. Leider. - (Christiane) Macht nichts. Die sind ja auch gut. 0:42:25 Sie beißt in eine Schnitte mit frischen Gurken. Ariane legt Wäsche zusammen. (Christiane) Kinder, ihr müsst euch nicht die ganze Zeit um mich kümmern. Das ist mir unangenehm. - (Alex) Mama. Nein, wirklich. Vielleicht… Stellt ihr mir den Fernseher ans Bett. Dann komm ich schon prima allein klar. - Fernsehen ist noch zu anstrengend. Wieso denn? Warum soll ich denn nicht Fernsehen gucken können? - Wir werden es den Arzt fragen. 0:42:49 Alex hockt auf dem Bett. Unbehaglich sieht er zu Ariane. (Alex) Mama, wir müssen was mit dir besprechen. Das ist nämlich so... Wir wollten dich fragen, ob... - (Ariane) Wir brauchen 'ne Vollmacht für dein Konto. 0:43:05 Christiane blickt aufmerksam. (Christiane) Was ist los? Braucht ihr Geld?

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- (Alex) Nein. Nein. Es ist nur so, du kannst ja nicht mehr selber zur Bank gehen. Und da wär's einfach besser, wenn... 0:43:20 Er reicht ihr ein Blatt Papier. (Alex) wenn du das hier unterschreiben würdest. - (Ariane) Ja, und... 0:43:25 Ariane zieht einen Stift hervor (Ariane) vielleicht am besten gleich. 0:43:27 und gebt ihn ihrer Mutter. Die setzt ihn an und lässt ihn wieder sinken. (Christiane) Aber hat das nicht Zeit? 0:43:39 Alex schaut betreten. Ariane in blauem Polyester Pulli dreht sich weg. (Christiane) Ihr verheimlicht mir doch irgendwas. Ist was passiert? Habt ihr Schulden? - (Ariane) Vertrau uns bitte, es ist wichtig. Bevor ich euch mein ganzes Geld überlasse, darf ich doch wenigstens erfahren wofür, oder? - (Alex) Na gut. Es sollte eigentlich 'ne Überraschung werden, aber wir haben 'ne Benachrichtigung bekommen. Aus Zwickau. Wir können unseren Trabant abholen. Schon nach 3 Jahren? - (Ariane) Und dafür brauchen wir das Geld, das du zurückgelegt hast. 0:44:10 Christiane greift zum Apfelnektar und grinst schelmisch. (Christiane) Ihr denkt doch nicht... dass ich mein Geld auf der Bank hab. 0:44:18 Alex richtet sich angespannt auf. (Christiane) Ich hab‘ es versteckt. 0:44:23 Sie trinkt. (Alex) Und wo? - (Ariane) Wo? 0:44:29 Freudestrahlend sieht sie Alex an, liegt die Zunge zwischen die Lippen und blickt starr. (Christiane) Ich hab ‚s vergessen. 0:44:36 Ariane und Alex rühren sich nicht. (Christiane) Total vergessen, ist alles weg. - (Alex) Mama, denk mal nach. 0:44:45 Ariane setzt sich neben Alex auf die Bettkante. Christiane schaut mit großen ängstlichen Augen. (Christiane) Vater kommt heute aber spät nach Hause, findet ihr nicht? 0:44:55 Sie wendet sich an Ariane. Die lächelt mühsam und täuscht mit Alex einen besorgten Blick. Christiane bemerkt den Blickwechsel. Beschämt schaut sie vom einen zum anderen und schließt die Augen. Als sie sie wieder öffnet stehen Tränen darin. Sie beißt sich auf die Lippen. Ariane beugt sich zu ihr. (Ariane) Mama… Das ist doch nicht so schlimm. Bald geht's dir wieder besser. 0:45:31 Alex lächelt aufmunternd. (Alex) Wir feiern doch bald deinen Geburtstag. Wie jedes Jahr. Mit der Hausgemeinschaft. Wir haben ihn doch immer gefeiert. 0:45:39 Ariane wirft ihm einen irritierten Blick zu. Christiane lächelt tapfer. (Fernsehbericht von oben) Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit der Tagesschau. 0:45:47 Ihre Miene erstarrt. Sie schaut ungläubig zur Decke.

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(Christiane) Genosse Ganske guckt Westen? 0:45:52 Ariane zieht sich vom Bett zurück. Alex zupft nervös an seinem Hals und grinst verschwörerisch. (Alex) Genosse Ganske hat sich verliebt. Beim Ungarn-Urlaub. In 'ne Rentnerin aus... München. Seitdem hat seine Partei-Liebe etwas gelitten. - (Christiane) Ach. Tja. 0:46:10 Er stopft sich eine Schnitte in den Mund. (Alex) Bist du fertig? 0:46:15 Abenddämmerung. Alex saust auf seinem Moped durch eine Türeinfahrt und hält vor Lara. (Alex) Tut mir leid, bin wieder zu spät. - (Lara) Da oben ist sie. 0:46:21 Eine Wohnung. (Lara) Sogar mit Balkon. Da einige Mitbürger erst gar nicht aus ihrem Ungarn-Urlaub zurückkamen, entspannte sich die Wohnungslage in der Hauptstadt merklich. Überall gab es verlassene Wohnungen, in die wir nur einziehen mussten. (Lara) Der Typ ist seit letztem Jahr im Westen. Ein Kollege hat mir den Tipp gegeben. 0:46:36 Alex öffnet die Wohnungstür. Vorsichtig beschritten sie den schmalen dunklen Flur. Auf den Boden unter dem Briefschlitz liegen haufenweise Briefe. Alex knipst das Licht an und lächelt. Langsam gehen sie durch die verlassene Wohnung. Im Schirm der Deckenlampe liegen tote Insekten. Lara streicht über einen ### Wandspiegel. Neugierig öffnet sie die Schiebetür zum Nachbarraum, tritt ein und macht das Licht an. Lächelnd schüttelt sie den Kopf und streift durch das Schlafzimmer mit Kachelofen. Mäntel hängen am einfachen Kleiderschrank. Auf dem Bügelbrett liegt Wäsche. Das Breitebett ist bezogen. Alex macht das Licht in einem weiteren Flur an. Er schlendert an Kunstdrucken mit nackten Frauen entlang und betritt die Küche. Lara im Schlafzimmer beugt sich zum grauen Telefon mit Reibscheibe und nimmt den Hörer ab. (Lara) Wahnsinn! Das funktioniert! - (Alex) Wahnsinn! Tempo-bohnen! 0:47:38 Er öffnet den Vorratsschrank. (Alex) Globus grüne Erbsen! Das gibt's ja gar nicht. Mocca Fix Gold! Da hab ich schon die ganze Zeit nach gesucht! 0:47:47 Er tritt auf den Balkon, lugt aus eine weitere Glastür zu Lara im Schlafzimmer und schüttelt eine Packung Bohnen. Sie öffnet ihm die Tür (Alex) Kann ich die haben? 0:47:59 schubst ihn aufs Bett und wirft sich neben ihn. 0:48:07 Heller Tag. Der Balkon geht zum Hof hinaus. ### rammt sich von der Hauswand herab über die Brüstung. Auf dem Balkon schlafen Alex und Lara unter weißer Bettwäsche. Sie liegen Stirn an Stirn und halten sich an den Händen. Alex schlägt langsam die Augen auf und blinzelt schlaftrunken in die Sonne. Liebevoll betrachtet er die schlafende Lara und streicht sanft über ihr Haar. Sein Blick fällt auf seine Armbanduhr. (Alex) Ich muss los. 0:48:30 Sie kuschelt sich dichter an ihn heran.

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(Lara) Weiterschlafen. 0:48:36 Er küsst lächelnd ihre Stirn und steht auf. Nur mit Shorts bekleidet läuft er im Schlafzimmer und greift zu seinem Hemd. 0:48:45 Bei den Kerners. Christiane im blauen Nachthemd schläft mit lichtgeöffnetem Mund. Alex steht mit einem Frühstückstablett und Zahnputzbecher vor ihr und sieht auf sie herab. Christiane blinzelt. (Alex) Morgen, Mama. - (Christiane) Morgen, Alex. 0:49:00 Er stellt das Tablett ab. (Christiane) Hast du's eilig? - (Alex) Ich muss zur Arbeit. Alex, denkst du bitte an den Fernseher? - Lass uns später drüber reden. Ach, und wegen meinem Geburtstag... Ladet Klapprath ein. Und 'n paar Schüler, ja? 0:49:15 Auf einem Balkon. (Alex) Als wären die Scheiß-Gurken nicht genug. Jetzt will sie auch noch fernsehen. 0:49:19 Alex und Denis. (Denis) Ja, Houston, wir haben ein Problem. 0:49:22 Denis schraubt an einem Satellitenschüssel. (Denis) Ja, und jetzt? - (Alex) Hast du keine Idee? Ich mein das Bild. 0:49:31 Er weist zum Fernseher. In der Wohnung. Ein dickes Ehepaar schaut auf das grobkörnige Bild der Fußballübertragung. Alex hockt sich davor. (Denis) Jetzt? - (Alex) Nee. Lange hielt das Ding ja nicht. - (Mann) Halbfinale! Ich geh zu Pollnicks. - (Frau) Na, dann geh doch! 0:49:45 Sie beißt genüsslich in eine Gewürzgurke. (Alex) Entschuldigung. Sind das Gurken aus 'm Spreewald? - (Frau) Nee, aus Holland. 0:49:54 Auf dem Hof von XTV. Alex und Denis halten. (Denis) Zeig ihr doch was Altes. - (Alex) Wie jetzt? 0:49:59 Sie holen ihren Taschen aus dem Wagen. (Denis) So altes Ost-Fernsehzeug auf Video. - (Alex) Nachrichten vom letzten Jahr? Merkt sie doch. Glaube ich nicht, war doch immer derselbe Quatsch! 0:50:09 Drinnen. (Alex) Woher soll ich die Videos kriegen? - (Denis) Ich hab nicht mal 'n Rekorder. Schlimm genug. 0:50:13 Die Kollegen sehen Fern. (Denis) Und? Wie steht's? 0:50:15 Im Fernseher ein Elfmeter.

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(Fernseher) Beckenbauer, Rudi Völler... Sie wollen 's nicht sehen... Deutschland ist im Endspiel! 0:50:27 Die Kollegen spritzen mit Bier. Alex und Denis grinsen sich an. Während die Weltzeituhr am Alexanderplatz auf Mutters Geburtstag zuraste, vereinte ein kleiner runder Ball die gesellschaftliche Entwicklung der geteilten Nation und ließ zusammenwachsen, was zusammen gehörte. 0:50:44 Ein Trödelmarkt. Ich mühte mich wie ein Held der Arbeit ab, um bis zu diesem Tag in Mutters Zimmer eine allseitig entfaltete DDR wieder auferstehen zu lassen. 0:50:55 Zeitungen. (Alex) Sind die Kreuzworträtsel schon ausgefüllt? - (Verkäufer) Unberührt wie Jungfrau. Super. Nehm ich alle. 0:51:04 ‚Die Junge Welt‘. Er weist auf blaue Pionierhalstücher. (Alex) Und die auch noch. 0:51:08 Im Hausgemeinschaftsraum. Frau Schäfer Ganske und ein weißhaariger. (Mehlert) Meine Tochter haben sie auch entlassen. Von einen Tag auf der anderen. Danke, Wiedersehen. - (Ganske) Und dafür haben wir 40 Jahre... 0:51:21 Ganske. (Ganske) Das Fernsehballett werden sie jetzt auch abwickeln. - (Mehlert) Hängst du nur noch vor der Glotze? - (Alex) Um noch mal auf meine Mutter zu kommen, 0:51:28 Alex bringt Schnaps. (Alex) Das Problem ist: Sie hat von der Wende nichts mitgekriegt. - (Mehlert) Beneidenswert. Sie feiert ja nächste Woche Geburtstag. Und sie würde sich über Besuch freuen. 0:51:40 Sie trinken. 0:51:42 Vor der polytechnischen Oberschule. (Alex) Habt ihr das jetzt wirklich verstanden? Ich will kein falsches Wort hören. 0:51:48 Er gibt zwei Schülern die Halstücher. (Schüler) Und unsere 20 Mark? - (Alex) Erst die Arbeit. Die ersten Gäste waren eingeladen. Andere mussten erst noch überzeugt werden. Viele aus der Polytechnischen Oberschule ‚Werner Seelenbinder‘ zogen sich plötzlich ins Private zurück. So auch Dr. Klapprath. Einst Schulleiter und verdienter Lehrer des Volkes. (Klapprath) Wir waren alle wertvolle Menschen. 0:52:10 Im Klappraths Wohnung. (Klapprath) Nicht wahr Alex? 0:52:14 Sie hocken im verqualmten Wohnzimmer. (Klapprath) Ich hab deine Mutter bewundert. Sie war eine hervorragende Pädagogin. Und ein hervorragender Mensch. - (Alex) Deshalb wurde sie auch kaltgestellt. Einigen Genossen im Kollektiv war sie zu idealistisch. Seit dein Vater...

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0:52:35 Er sieht Alex vielsagend an. (Klapprath) lhr Idealismus in Ehren, aber im Schulalltag, da kann das manchmal problematisch werden. - (Alex) Da habt ihr sie einfach abserviert. 0:52:47 Klapprath blickt hilflos. Er ist Anfang 60, hager und sehr blass. Der Raum ist voller Bücher. Vor ihm leere Bierflaschen. (Alex) Sie sind ihr trotzdem was schuldig. - (Klapprath) Ja. 0:52:55 Klapprath schenkt sich Wodka ein. 0:52:56 Bei den Kerners. Rainer macht sich Notizen. Er ist sehr groß und hat abstehende Ohren. (Alex) Du bist Dispatcher. Merk dir das! - (Rainer) Im Osten? Ja, klar im Osten. Du organisierst den Einkauf für ein -Restaurant. Schreib mal auf: Schulausbildung EOS Juri Gagarin. Und bei den Pionieren warst du Gruppenratsvorsitzender. - Was? Gruppenratsvorsitzender. - (Ariane) Mir reicht's! Ich steck meine Tochter nicht mehr in Windeln aus Plastik. Das geht zu weit! 0:53:25 Ariane wirft mit den Windeln nach den Männern und setzt Paula in einen Laufstall. (Alex) Haste? - (Rainer) Ja, Gruppenratsvorsitzender. 0:53:33 Im Transporter. Denis. (Denis) Hier, 30-mal ‚Aktuelle Kamera‘, 10-mal ‚Schwarzer Kanal‘, 6-mal ‚Kessel Buntes‘ und 4-mal ‚Ein Tag im Westen‘. Alles überspielt. Gesponsert von der Landesbildstelle und einem äußerst charmanten Denis. - (Alex) Hoffentlich geht es gut. 0:53:45 Abends. Im Christianes Zimmer. Alex zieht ein Kabel vom Fernseher zu Tür. (Christiane) Was kriechst du da am Boden rum? - (Alex) Das ist das Kabel für die TV-Antenne damit du fernsehen kannst. 0:53:54 Im Nebenzimmer. Alex nimmt eine Videokassette von einem Stapel. Darauf steht ‚Aktuelle Kamera‘. Er schiebt sie in den Rekorder und sieht auf die Armbanduhr. Es ist halb acht. Er druckt auf die Playtaste. (Fernseher) Wir haben die Fußball-WM. Ein Geschenk! Es gibt keine bessere Zeit, den Osten mit SAT-Anlagen zu versorgen. 0:54:13 Christiane starrt mit offenem Mund zum Fernseher. Alex kommt, und läuft rasch zum Videorekorder zurück. Auf dem Bildschirm erscheinen die Buchstaben AK. (Christiane) Was war das? - (Alex) Keine Ahnung. Interferenzen. Kann vorkommen. 0:54:23 Er setzt sich zu ihr aufs Bett. (Fernseher) Guten Abend, meine Damen und Herren, zur ‚Aktuellen Kamera‘. Schwere Provokation gegen die Grenze. Protest im Bundeskanzleramt der BRD. Chip-Macht DDR. Auslandspresse würdigt Leistungen...

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(Christiane) Draußen geht's voran und ich fühl mich hier so nutzlos. Kannst du nicht 'n Zettel unten ran hängen, ans Brett der Hausgemeinschaft? Wer Probleme hat, kann zu mir kommen. Eingaben kann ich auch im Bett schreiben. - (Alex) Ich weiß nicht. Du darfst dich nicht so anstrengen. 0:54:56 Heller Tag. Vor Klappraths Wohnung. (Klapprath) Morgen, Alex. Schon soweit? 0:55:01 Klapprath im Bademantel schwankt und haucht Alex an. Der weicht zurück und folgt ihm mit gerunzelter Stirn in den Flur. Klapprath steuert auf eine Schnapsflasche zu. (Klapprath) Auch 'n Schluck? - (Alex) Ach du Scheiße. Scheiße. Scheiße, ne? Scheiße! Mensch, verdammte Scheiße! 0:55:25 Er stürzt auf einen Tisch voller Flaschen. Im Badezimmer. Alex drückt Klappraths Kopf unter die Brause. Der wehrt sich unbeholfen. 0:55:34 Im Wohnzimmer. Alex hat Klapprath im Anzug und Krawatte von hinten untergefasst und geht mit ihm auf und ab. (Klapprath) Mir ist schlecht. 0:55:41 Klapprath plumpst mit Alex auf einen Stuhl. 0:55:45 Auf dem Moped. Klapprath klammert sich an Alex. Während sich viele schon lautstark für die Meister von morgen hielten, Während sich viele schon lautstark für die Meister von morgen hielten, drangen aus Mutters Schlafzimmer Klänge von gestern. 0:55:56 Im Kreisverkehr. Aus Wartburgs und Trabants werden deutsche Fahnen gehalten. Klapprath würgt. 0:56:07 In Christianes Zimmer. Die beiden Schüler stehen mit blauen Halstüchern vor ihrem Bett. Klapprath hält sich mühsam aufrecht. Alex grinst tapfer. Neben ihm stehen Lara, Frau Schäfer, Ganske, der Weißhaarige Mehlert, Rainer und Ariane. (Schüler) [Singend] Und die Vögel… in der Luft und die Tiere der Erde... und die Fische im Fluss sind die Heimat... Und wir lieben die... 0:56:32 Christiane hebt dirigierend die Hände, lächelt glücklich und klatscht. Alex strahlt. (Christiane) Das war wunderschön. Danke. Danke, Kinder. Das habt ihr noch bei mir gelernt, hm? 0:56:46 Sie nicken eifrig. Alex zupft an Klapprats Arm. Klapprath nimmt einen Präsentkorb. (Klapprath) Liebe Christiane! Wir sind hier... heute... hier, weil du Geburtstag hast. Und... ich möchte dir... im Namen der Parteileitung... alles Gute wünschen. Und... der Korb. Für dich. 0:57:18 Er stellt ihn aufs Bett. (Christiane) Das ist lieb von euch. Danke schön. 0:57:26 Sie beobachtet die Lebensmittel. (Christiane) Klapprath. Rosenthaler Kadarka... Mocca Fix Gold... Globus grüne Erbsen. - (Klapprath) Die Kollegen und... die Genossen...von der POS ‚Werner Seelenbinder‘... die sprechen ihren besonderen Dank aus für all die Jahre, Christiane, die du... für sie... als... gute Kollegin... und... liebe Genossin... warst... ähm... Und ich wünsch dir jedenfalls alles Gute zum Geburtstag und bleib wie du bist... Christiane.

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0:58:11 Alex klatscht als erster. Klapprath atmet erleichtert aus. Ganske im Pullunder. (Ganske) Liebe Genossin Kerner... Alles erdenkliche Gute... und... Gesundheit... und dass alles wieder so wird, wie's mal war. 0:58:35 Christiane schaut gerührt um ihr und streckt die Hand aus. (Christiane) Lara, komm mal her. 0:58:41 Lara in unförmige gestreifte Bluse setzt sich lächelnd zu ihr aufs Bett. (Christiane) Das hier ist Lara. Eine Schwesternschülerin aus der SU. Ihr Papa ist Lehrer für Taubstumme. 0:58:55 Lara sieht verdutzt zu Alex. (Christiane) Heirate ihn bloß nicht zu früh. - (Alex) Mama. (Christiane) Auch, wenn das dann mit der Wohnung eher klappt. Mein Alex kann ein ganz schöner Sturkopf sein. Und Rainer... das ist der neue Freund von meiner Ariane. Er... er arbeitet als... - (Alex) Dispatcher. - (Rainer) Genau, ich bin Dispatcher. Ich war ja selber mal bei den... Herzliches Glückauf... Pioniere! Ich war selber mal bei den Freien Deutschen Pionieren... Danke, Rainer. Als Gruppen... äh... Gau... Gruppenvorstand... früher... - (Alex) Danke! - (Rainer) Seid bereit, seid bereit! - (Alex) Danke, Rainer! 0:59:55 Ariane grinst verlegen. (Alex) Ja, Mama. Wieder ist ein Jahr rum. Was hat sich verändert? Eigentlich nicht viel. Paula bekam ihre Zähne und 'n neuen Papa. Und ich... ja. Wir können heute leider nicht rübergehen ins Café Moskau, um auf dich anzustoßen, aber wir sind ja alle zusammen. Und das ist das Wichtigste. Wir machten es dir nicht immer leicht, aber du warst immer für uns da. Und jedenfalls, mir fällt keine bessere Familie ein als unsere. 1:00:26 Christianes Blick wird starr. (Alex) Und dafür wollte ich dir danken. Mama, du bist die beste Mutter der Welt. - (Christiane) Alex? Und wir lieben dich alle. - Alex? Was ist denn? 1:00:36 Sie weist aus dem Fenster. (Christiane) Was ist denn das? 1:00:39 Am Plattenbau wird ein riesiges Coca-Cola Transparent entrollt. (Alex) Das ist... - (Mehlert) Ja, was soll das? - (Klapprath) Ich weiß ja auch nicht, was die Genossen da wieder, also... - (Mehlert) Das ist ja aus dem Westen. - (Frau Schäfer) Das ist 'ne Luftspiegelung. 1:00:55 Klapprath zieht energisch die Vorhänge zu. (Alex) Das wird schon seine Richtigkeit haben. - (Ariane) Beruhig dich, Mama, bitte!

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1:01:04 Christiane sieht fassungslos zu Alex. Lara geht. Alex schiebt die beiden Schüler vors Bett. (Alex) Jungs, jetzt singt doch noch was. Lara! Warte kurz, ich... Lara? - (Frau Schäfer) ‚Bau auf, bau auf‘. 1:01:19 Im Flur. Lara zieht wütend den Rock auf. (Alex) Was ist denn los auf einmal? 1:01:24 Darunter trägt sie einen anderen Rock. 1:01:26 Im Christianes Zimmer. Die Schüler drehen sich ratlos weg. Christiane schaut irritiert. (Schüler singen) Bau auf. Für eine bessere Zukunft... bauen wir die Heimat auf... 1:01:32 Im Flur. (Lara) Mir tut deine Mutter leid. Es ist mir zu gruselig, was du da machst. 1:01:36 Sie befreit sich aus der Bluse. Darunter hat sie ein dunkles T-Shirt an. (Lara) Und was für ein Blödsinn, dass mein Vater Lehrer für Taubstumme ist. Er war einfacher Koch, das weißt du genau. 1:01:46 Sie steckt die Haare hoch. (Alex) Sie freute sich aber darüber. Was hätte ich ihr denn sagen sollen? Dass er tot ist? In ihrer Lage? 1:01:50 Langsam dreht sie sich zu ihm um. (Lara) Du meinst, wenn man sowieso lügt, ist es auch egal. 1:01:55 Sie geht. (Alex) Lara! 1:02:02 Er sieht ihr betrübt nach und schließt die Tür. 1:02:06 In Christianes Zimmer. Die Gäste umringen sie mit erhobenen Weingläser. (Freunden) Hoch soll sie leben, hoch soll sie leben, dreimal hoch! 1:02:13 Christiane lächelt bemüht. 1:02:15 Verwackelte Videoaufnahmen. Vor dem Plattenbau mit dem Coca-Cola Transparent. Denis hält ein Mikrofon und tanzt im Kunstlederjacke und Bügelfaltenhose vor dem Eingang herum. (Alex) Noch 'n Stück nach hinten. 1:02:28 Alex filmt ihn mit einer Videokamera. (Alex) Noch 'n Stück. 1:02:31 Denis stößt gegen einen Mann im Anzug. (Denis) Passen Sie doch auf! Sie sehen doch, dass wir hier drehen! - (Mann) Kann ich mal Ihre Genehmigung sehen? Hat man Sie nicht informiert? - Mich? Wer denn? (Denis) Wie hieß der noch mal? - Irgendwas mit ‚M‘. Ich werde mal nachfragen. Solange wird hier gar nichts gedreht! 1:02:49 Er drückt die Kamera beiseite und stürmt zum Eingang. (Denis) Logo im Bild? Schärfe auf mich? - (Alex) Ja. 1:02:57 Denis sieht zum Himmel. (Denis) Wir warten noch auf Abendsonne. - (Alex) Übertreib's nicht, der Typ kommt gleich.

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Wart's mal ab. Abendsonne kommt richtig geil. 1:03:07 Sie hocken sich auf die stufen. Als ich an dem Tag in die Wolken starrte, wurde mir klar, dass die Wahrheit nur eine zweifelhafte Angelegenheit war, die ich Mutters gewohnter Wahrnehmung leicht angleichen konnte. 1:03:18 Abends. Im Fernseher tickt eine Uhr auf wenige Sekunden vor halb acht. Ich musste nur die Sprache der ‚Aktuellen Kamera‘ studieren und Denis' Ehrgeiz als Filmregisseur anstacheln. 1:03:27 Christiane und Alex starren gebannt zu Denis auf dem Bildschirm. (Fernseher) Heute besuchte Günther Mittag, Sekretär für Wirtschaft im ZK der SED, den Coca-Cola Konzern in West-Berlin. Grund des Besuchs des Genossen sind Einzelheiten des abgeschlossenen Handelsabkommens zwischen Coca-Cola und dem VEB Getränkekombinat Leipzig. West-Berliner Sicherheitsbeamte behindern die Arbeit des Fernsehens der DDR. Zu peinlich ist wohl den kapitalistischen Pressezensoren die Niederlage des mächtigen Coca-Cola Konzerns im Patentverfahren mit dem VEB Getränkekombinat Leipzig. - (Denis) Bitte lassen Sie das Fernsehen der DDR störungsfrei arbeiten! - (Mann) Ich rufe jetzt die Polizei! (Fernseher) Ein Gutachten internationaler Wissenschaftler bestätigte nun endlich dem Kombinat, wonach der originäre Geschmack von Coca Cola bereits in den 50er Jahren in den Laboratorien der DDR entwickelt wurde. (Christiane) Coca-Cola ist 'n sozialistisches Getränk? Ich dachte, Cola gab's schon vorm Krieg. - (Alex) Verstehst du nicht, Mama? Der Westen hat uns jahrelang beschissen! 1:04:29 Christianes Blick schweift nachdenklich in die Ferne. (Fernseher) Bis Ende August wurden 593 Rauschgiftopfer registriert. 60% mehr als im Vorjahr. (Christiane) Jetzt weiß ich's wieder! 1:04:36 Sie sieht ihn fest an. (Alex) Was? - (Christiane) Wo ich das Geld versteckt hab. 1:04:41 Angespannt werdet er sich ihr zu. (Christiane) Im Wohnzimmer. In der kleinen Kommode. In der linken Schublade unterm Wachspapier. - (Ariane) Der Krempel mit rotem Punkt kommt auf den Sperrmüll. Wie ich das nur vergessen konnte. 1:04:55 Sie lächelt stolz. Alex‘ Kopf sinkt gegen die Wand. 1:04:59 Alex stürmt aus dem Haus. Denis springt von einer Bank auf. (Denis) Hey, hier bin ich! - (Alex) Ach, hallo! 1:05:04 Denis im College Jacke und Jeans hastet Alex hinterher. (Denis) Und? 1:05:09 Er hat kurzes Haar und ein schmales Gesicht. (Denis) Hat sie's geschluckt? - (Alex) Ja, klar.

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Echt? Sie hat's wirklich geschluckt? - Wenn ich's doch sage. 1:05:16 Alex untersucht den Sperrmüll auf dem Parkplatz. Ganske schlupft vorbei. Er ist Mitte 60, leicht gebeugt und hat eine Glatze. (Ganske) So weit haben die uns schon! - (Alex) Schönen Abend, Herr Ganske. (Ganske) Die haben uns verraten und verkauft! - (Denis) Die Unschärfe hat sie nicht irritiert? - (Alex) Nein. (Ganske) Und dafür haben wir 40 Jahre... - (Denis) Man könnte ein Studio nachbauen. Mit so 'ner Blue Box hat man ganz andere Möglichkeiten. Was... machst du da? 1:05:40 Alex läuft zwischen Schränken und Kommoden herum. Er öffnet eine Schublade, zieht sie rückartig heraus und entfernt den eingelegten Boden. Die Schublade ist voller Geldbündel. Triumphierend stimmt er sie hoch. 1:05:54 Heller Tag. Alex und Ariane packen die Ostmarkbündel aus dem Tresen einer Bank. (Bankangestellte) Und? Was sollen wir damit machen? - (Alex) Ja, umtauschen. 1:06:01 Der Bankangestellte steht auf. (Bankangestellte) Tut mir leid, die Umtauschfrist ist seit 2 Tagen abgelaufen. - (Alex) Es ist aber ein Ausnahmefall. - (Ariane) Wir haben es erst heute gefunden. - (Alex) Für uns ist es auch ok, wenn Sie 1:4 umtauschen, oder 1:5... Es gibt keine Fristverlängerung. Und Bargeld tauschen wir sowieso nicht um. - (Alex) Das geht nicht! - (Ariane) Es muss möglich sein! Sie haben es gehört. Die Zeit ist um! - (Alex) Deine Zeit ist gleich um, Idiot! Das sind 30.000 Mark! Das war unser Geld, verdammte 40 Jahre lang! Jetzt willst du Westarsch mir sagen, das ist nichts mehr wert? Bitte verlassen Sie sofort unser Institut. 1:06:33 Sicherheitskräfte stellen sich hinter Alex. (Alex) Finger weg! 1:06:36 Zu den anderen Bankkunden (Alex) Und was glotzt ihr so? Das war doch auch euer Geld! 1:06:40 Die Sicherheitskräfte schieben ihn zu Tür hinaus. Ariane folgt ihnen. (Alex) Finger weg! Ihr Arschlöcher! 1:06:49 Alex schleudert seinen Beutel mit dem DDR-Geld gegen die Tür. (Ariane) Spinnst du, oder was? 1:06:57 Es ist Nacht. Alex wirft das Geld vom Hochhausdach. Ich fühlte mich wie der Kommandant eines U-Bootes der Nordmeer-Flotte, dessen kampferprobte Stahlhaut leckgeschlagen war. Kaum hatte ich ein Leck geschlossen, brach ein neues auf. Ariane versagte mir Waffenbrüderschaft, der Klassenfeind hisste die Cola-Flagge und ein frischer Westwind blies mir Mutters Ostgeld um die Ohren. 1:07:17 Lara mit offenem Haar sitzt am Rand des Daches und baumelt mit den Beinen.

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(Alex) Was soll denn das? - (Lara) Schrei mal. Wozu? - Du musst Luft rauslassen. Ventile aufmachen. Schrei einfach mal! 1:07:28 Er wirft einen letzten Geldschein vor, beugt sich vor und winkelt wie ein Affe die Armen an. Verdutzt blickt er über die Dächer der Stadt. Feuerwerkskörper zischen in die Luft und werden zu bunten Funkenkaskaden. Alex und Lara legen sich bäuchlings an den Rand des Daches und betrachten lachend das Feuerwerk. Auf Balkonen werden Deutschlandfahnen geschwenkt, aus einigen sind ### Zirkel herausgeschnitten. Im Sommer 1990 überzeugte die deutsche Nationalmannschaft mit Planübererfüllung und wurde Fußballweltmeister. 1:08:02 Im Christianes Zimmer. Frau Schäfer notiert. Und Mutter ging es immer besser. (Christiane) Der mit der Größe 48 bezeichnete Pullover hat die Breite einer Größe 54 und die Länge einer Größe 38. Punkt. 1:08:13 Christiane mustert den Pulli. (Christiane) Ich weiß nicht, wie die Mitarbeiter von Milena zu diesen Abmessungen kommen. In der Hauptstadt leben keine so kleinen und viereckigen Menschen. Punkt. - (Frau Schäfer) Christiane, das ist gut. Wenn wir schuld daran sind... Wenn... wir schuld daran sind... mit unseren Körpergrößen der Planerfüllung nicht nachkommen zu können, Komma... bitten wir dies zu entschuldigen. Punkt. In diesem Fall... werden wir uns bemühen, Komma, in Zukunft kleiner und viereckiger zu werden. Punkt. Mit sozialistischem Gruß. 1:08:58 Frau Schäfer führt die linken Hand vor der Stirn. (Frau Schäfer) Hannah Schäfer. 1:09:03 Im Hausflur. Alex geht zum Wohnungstür. Frau Schäfer kommt ihn entgegen. (Alex) Tag, Frau Schäfer. - (Frau Schäfer) Es ist schön, mit deiner Mutter zu reden. Man hat das Gefühl, es ist so wie früher. Hier ein paar kleine Änderungen und der geht heut noch zum OTTO-Versand. 1:09:17 Sie geht mit dem Brief. Alex haucht auf. Hastig stürmt er durch die Wohnung ins Zimmer seiner Mutter. Zwei jungen mit blauen Halstücher stehen am Bett. Sie sehen zu ihm. Er stellt sein mit Gläser gefüllten Netz ab. (Christiane) Ich hab netten Besuch bekommen. Frank und Christian aus meiner ehemaligen Klasse. - (Alex) Hallo. - (Schüler) Hallo. - (Alex) So, Frau Kerner muss sich jetzt ausruhen. 1:09:40 Er schiebt die beiden hinaus. (Alex) Tschüss. - (Christiane) Alex, warum denn? 1:09:45 Grob stößt er sie zu Wohnungstür. (Alex) Jetzt verschwindet! - (Schüler) Und die 20 Mark? Was für 20 Mark?

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- Sascha sagte, wir bekommen dafür 20 Mark! Shhh. 1:09:56 Mehlert kommt mit einem Toaster. (Alex) Tag, Herr Mehlert. - (Mehlert) Tag, Alex. Probleme mit dem Toaster? Meine Mutter wird sich freuen, gehen Sie durch. 1:10:03 Alex zuckt einen Zwanziger. (Alex) So, und jetzt raus hier! Und sagt euren Kumpels, ich will hier nie wieder 'n Pionier sehen. 1:10:09 Er schiebt sie zur Tür hinaus. Wütend geht er in die kleine Küche. Rainer schneidet Tomaten. (Alex) Bist du eigentlich bescheuert? 1:10:19 Rainer kaut mit verständnislose Miene. (Alex) Du kannst doch nicht einfach die Jungs hier rein lassen! - (Rainer) Wieso denn? Sie hat sich doch gefreut. 1:10:24 Alex schlägt auf die Anrechte. (Rainer) Euch Ossis kann man nichts recht machen! Hauptsache, ihr habt was zu meckern. Du bist genau wie deine Mutter mit ihren bescheuerten DDR-Eingaben. - (Alex) Meine Mutter meckert nicht! Sie versucht, durch konstruktive Kritik die Verhältnisse der Gesellschaft schrittweise zu verändern. Aha. - Aber das interessierte euch ja nie! Nö. 1:10:41 Ariane kommt. (Ariane) Hast du's noch nicht gemerkt? Wir sind im sozialistischen Veteranenclub. 1:10:46 Alex öffnet eine Bierflasche. (Ariane) Guten Abend. Wie wär's, wenn du Eintritt nimmst? - (Rainer) Genau, Eintritt! Na, du sei bloß still. Der hat sich 'n Trabbi gekauft. - (Alex) Echt? - (Rainer) 'N Kombi. Paula kriegt noch 'n Schaden, wenn das hier so weitergeht. - (Alex) Ach komm! 20 Jahre DDR haben uns auch nicht geschadet. Was ich an dir stark bezweifele. 1:11:09 Sie öffnet eine Cola-flasche und lasst sie fallen. (Ariane) Scheiße! 1:11:14 Verärgert fasst sie sich an der Stirn und läuft hinaus. Alex folgt ihr. Rainer liegt ein Tuch über die Cola-Plätze am Boden. 1:11:25 Im Badezimmer. Ariane liegt ihren Kopf in den Nacken. Alex kommt. Sie sieht ihn an. Blut rinnt aus ihre Nase. (Alex) Was ist los? Schon wieder Nasenbluten. 1:11:41 Er befeuchtet einen Lappen, setzt sich zu ihr auf den Rand der Badewanne und hält ihr den Lappen an dem Nacken. (Alex) Ich weiß, es ist im Moment etwas stressig. Mir wäre es ja auch lieber, wenn wir nicht die ganze Zeit...

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- (Ariane) Ich hab Papa gesehen. Vorhin. 1:11:52 Er nimmt den Lappen weg. (Alex) Wo? - (Ariane) Auf Arbeit. Ich hab sofort seine Stimme erkannt. Was hat er gesagt? (Vater) Dreimal Cheeseburger und zweimal Pommes mit Majo, bitte. 1:12:09 Bei der Bestellannahme der Burger King. Ariane fährt hoch und betrachtet ein Auto auf dem Monitor. (Ariane) Äh... Drei Cheeseburger, zweimal Pommes und Majo. 1:12:20 In ein Mikro. Sie beobachtet auf einem zweiten Monitor wie den Wagen zu ihr vorfährt. Ariane trägt ein rotweiß gestreiftes Hemd, eine gelbe Kappe und Krawatte. Unauffällig schaut sie zum Fahrer. 1:12:33 Im Badezimmer. Alex schluckt und streichelt ihren Nacken. (Alex) Ja, und... Wie sieht er aus? - (Ariane) Fährt so einen Volvo Kombi und trägt 'ne Brille mit Goldrand. Was hast du zu ihm gesagt? - Guten Appetit und danke, dass Sie sich für Burger King entschieden haben. 1:12:53 Bei Burger King. Mit gesenktem Kopf hält sie zwei Tüten hinaus. (Ariane) Guten Appetit und danke, dass Sie sich für Burger King entschieden haben. 1:12:59 Ihr Vater reicht die Tüten nach hinten und fährt los. Im Fond sitzen zwei kleine Kinder. 1:13:04 Im Bad. Alex und Ariane blicken traurig. Rainer lugt hinein. Langsam kommt er näher, lehnt sich am Waschbecken und betrachtet Ariane mitfühlend. 1:13:18 Es ist Abend. Alex steht in seinem dunklen Zimmer. Auf dem Bücherregal hinter ihm liegt eine rote Spielzeugrakete. Irgendwo in dieser Stadt lebte mein Vater. Ich sah sein Bild vor mir. Ein fetter Kerl, der ständig Cheeseburger mit Pommes in sich hineinstopfte. 1:13:32 Ein sehr dicker Mann liegt halbnackt in einem Liegestuhl und beißt in einen riesigen Hamburger. Im Pool schwimmt eine Palmeninsel aus buntem Kunststoff. Er lebte in seiner Welt und ich in meiner. Er hatte nichts mit mir zu tun und ich nichts mit ihm. 1:13:45 Alex sieht auf seinem Fenster. Zeitraffer. Autos rasen mit gleisenden Scheinwerfern vorbei. 1:13:51 Heller Tag. In der verlassenen Wohnung. Alex‘ Beine und Oberkörper sind eingegipst. (Lara) Still halten! Sonst geht's nicht. - (Alex) Sag mal, dauert das noch lange? 1:14:03 Lara gipst sein linkes Bein ein. (Alex) Ich muss nämlich in 2 Stunden spätestens zu Hause sein. - (Lara) Du musst immer in 2 Stunden irgendwo sein. Das wird langsam langweilig. Na, prima. Ich hab 'ne kranke Mutter, 'n anstrengenden Job und 'ne beleidigte Freundin. - Ich hab in 2 Tagen Prüfung. Das machst du doch mit links. Das bisschen Eingipsen. - Dann kann ich ja aufhören mit lernen. 1:14:34 Sie schleudert die Binden in die Wanne und geht hinaus.

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(Alex) War doch nur gut gemeint. Ich glaube eben an dich. 1:14:41 Er will vom Wannenrand aufstehen. (Alex) Lara, jetzt hör auf mit dem Scheiß! - (Lara) Du musst es deiner Mutter sagen! Was? - Du musst es deiner Mutter sagen! 1:14:50 Er rutscht ab Nicht wegen mir, wegen ihr! 1:14:54 und plumpst in die Wanne. Seine eingegipste arme stehen eingewinkelt ab. (Alex) Lara! - (Lara) Was? Scheiße! Lara! 1:15:06 Mühsam kämpft er sich aus der Wanne. Sein Blick fällt auf ein Schraubglas mit Pinseln darin. Auf dem Etikett steht ‚Spreewald Konserve: Delikatess Gewürzgurken‘. 1:15:18 Auf der Straße. Alex saust auf seinem Moped an die Mauer entlang. Auf dem Gepäckträger das Gurkenglas. Das Leben in unserem kleinen Land wurde immer schneller. Irgendwie waren wir alle wie kleine Atome in einem riesigen Teilchenbeschleuniger. 1:15:30 In Christianes Zimmer. Doch fern von der Hektik der neuen Zeit lag ein Ort der Stille, der Ruhe und der Beschaulichkeit, in dem ich endlich mal ausschlafen konnte. 1:15:39 Genüsslich isst sie Gewürzgurken. Alex schläft in einem Sessel. (Christiane) Tja, Paula. Früher war unser Alex nicht so müde, wenn er von der Arbeit kam. 1:15:46 Paula in dickem Plastikwindel spielt auf eine Decke am Boden. Sie steht auf und stapfst lächelnd Richtung Fenster. Christiane strahlt. Er schläft zusammengesunken. Rasch stellt sie das Gurkenglas ab. Paula weist nach oben zum Fenster. Ein riesiger rotweißer Zeppelin mit der Aufschrift ‚Test The West‘ gleitet am Fernsehturm vorbei. Die braunhaarige Paula dreht sich auf wackeligen Beinchen um und sieht zu Christiane. Die lächelt sie an, wirft einen raschen Blick zu Alex und schiebt langsam die Bettdecke zur Seite. Vorsichtig rutscht sie zur Bettkante. Paula hockt am Boden und zeigt auf den Zeppelin. Er entfernt sich langsam. Christiane steht schwankend auf. (Christiane) Unsere Paula lernt laufen, Alex! - (Paula) Da! Da! Da! Siehst du? Bei mir geht's auch. 1:16:31 Sie macht ein paar unsichere Schritte auf Paula zu. Die geht dicht ans Fenster und sieht dem Zeppelin nach. Er erreicht die Kante eines Haushauses. Christiane hat nur Augen für Paula. (Christiane) Paula! Siehst du? 1:16:43 Sie erreicht das Fenster. Der Zeppelin verschwindet hinterm Haus. (Christiane) Meine kleine Paula. Komm mal her zu Oma. Na, komm her, komm. 1:16:51 Sie fasst Paulas Händchen und durchquert mit ihr langsam den Raum. (Christiane) Jetzt zeigen wir dem Alex mal, was wir können, hm? So… 1:17:00 Christiane setzt Paula auf die Decke vor dem Bett und hätschelt ihre Locken. (Christiane) Jetzt wollen wir mal sehen, wie weit die Oma kommt.

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1:17:10 Christiane erhebt sich mühsam auf der Hocke, wirft einen prüfenden Blick zu Alex und schlupft in Filzpantoffeln zur Tür. Sie winkt Paula zu und geht hinaus. Paula stapft ihr ein Stück nach, und plumpst hin. Alex zuckt zusammen und schläft weiter. 1:17:30 Im Flur. An den Wänden hängen Tapeten mit einem Muster aus grünen Kreisen. Christiane nimmt einen Trenchcoat vom Garderobehaken und zieht ihn über ihr blaues Nachthemd. Ihr Haar hängt in langen Strengen heran. Vorsichtig öffnet sie die Wohnungstür und blickt ins Treppenhaus. Die Fahrstuhltür gegenüber schwenkt auf. 1:17:47 Im Fahrstuhl. Christiane drückt auf einen Knopf. Ihr Blick fällt auf ein an der Wand geschmiertes Hakenkreuz. Sie schaut verstört. 1:17:56 Vorm Haus. Zwei junge Männer. Einer von ihnen mit Zopf kommen ihr entgegen und tragen eine Kiste hinein. (Mann) Hi. - (Christiane) Tag. 1:18:59 Irritiert betrachtet sie die beiden und geht mit steifen Schritten die Eingangsstufen hinunter. Vorm Haus stehen Tische, Bücher, Schränke, eine Lampe mit Tigermuster. Christiane stützt sich schwach auf ein Regal. Darin lehnt ein buntes Jesusbild. Ein Mann bringt einen Hometrainer. (Christiane) Junger Mann, kann ich mich mal 'n Moment setzen? - (Mann) Aber sicher. 1:18:22 Sie sinkt auf einen Metallsessel. Der junge Mann mit dem Zopf bringt eine Stehlampe mit einem zotteligen pinkfarbenen Schirm. Christiane mustert die Lampe verblüfft. (Christiane) Sie sind nicht von hier, oder? - (Mann) Nee, aus Wuppertal. 1:18:36 Ihr Mund klappt auf. (Christiane) Aus ‘m Westen? 1:18:39 Die Männer tragen ein Regal ins Haus und geben den Blick auf die Straße frei. Die blausilbernen Girlanden eines Gebrauchtwagenhandels flattern im Wind. Christiane steht zögernd auf. Sie blinzelt in die Sonne und harrt Richtung Straße. An einer Litfaßsäule klebt ein Werbeplakat von IKEA. Mit staksigen Schritten geht Christiane näher heran. Auf dem blauen Plakat ist ein weißes Regal abgebildet. Daneben steht ‚Billy: 98 D-Mark‘. Unglaublich lächelnd schaut sie zum Gebrauchtwagenhandel hinüber. Interessenten betrachten einen BMW und überprüfen durch rütteln die Stoßdämpfer. 1:19:14 Im Christianes Zimmer. Paula spielt auf der Decke. Alex reibt sich schlaftrunken die Augen und lächelt sie müde an. Er setzt sich auf, blickt zum Bett und erstarrt. 1:19:25 Auf der Straße. Christiane hält ihren Mantel festgeschlossen und durchquert mit kleinen Schritten eine Grünanlage. Langsam geht sie an zwei Plakatwänden vorbei und streift die Dessous und Autowerbung mit kurzem Blick. Auf ein großes Gebäude fällt der Schatten eines Hubschraubers von dem einer Last herabhaut. Christiane beobachtet, wie der Hubschrauber hinter einem Haus hervorkommt. An ihm hängt die obere Hälfte einer riesigen Leninstatur. 1:19:47 In der Wohnung. (Alex) Mama? 1:19:49 Alex rennt zum Wohnungstür und stürmt die Trappen hinab.

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1:19:53 Christiane starrt auf die Leninstatur. Der Hubschrauber fliegt in die Trägerhöhe über die breite Straße. 1:20:03 Alex stolpert im Treppenhaus über einen leeren Kinderwagen und rennt weiter. 1:20:08 Die Leninstatur schwebt näher heran. Das Sonnenlicht lässt die Bronze schimmern. Lenins ausgestreckte Rechter weist auf Christiane. Die höhlt sich noch fester in ihrem Mantel, weicht ein paar Schritte zurück und betrachtet ihn Fassungslos. 1:20:26 Alex stürmt aus dem Haus. Er läuft an dem Umzugswagen vorbei durch die schmale Grünanlage. Ariane kommt mit zwei Einkaufstüten aus einer Fußgängerunterführung heraus. Alex streift die Zweige eines Baumes und entdeckt seine Mutter. Sie steht orientierungslos mitten auf der Straße. Der Hubschrauber mit der Leninstatur verschwindet hinter einem Hochhaus. Alex stürmt zu Christiane. (Alex) Mama, was machst du denn? (Christiane) Mama! 1:20:57 Ariane rennt herbei. (Ariane) Was ist mit dir passiert, Mensch? Du kannst doch nicht einfach aufstehen! 1:21:02 Sie führen ihre Mutter weg. Christiane schaut verwirrt zum Himmel. 1:21:06 Im Fahrstuhl. Alex und Ariane stützen ihre Mutter. (Christiane) Was ist hier eigentlich los? 1:21:12 Betreten sehen sie weg. 1:21:14 Bei Denis. Er sitzt am Tisch, rückt Mikrofone zurecht und kontrolliert sich auf einem Bildschirm. (Denis) Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands 1:21:24 Alex richtet eine Kamera auf ihn. (Alex) Ton ist in Ordnung. - (Denis) Ok. 1:21:29 Denis drückt seinen Schnurbart fest. (Denis) Ja. Von mir aus können wir. - (Alex) Kamera läuft. 3, 2, 1... Berlin. 1:21:39 Ein Foto löst sich von der Wand hinter ihm. Es zeigt die Karl-Marx-Allee. Denis springt auf und befestigt es erneut. Seine Anzugjacke ist hinten mit Nadeln zusammengesteckt. Er trägt keine Hose. Rasch setzt er sich wieder. (Alex) Läuft noch. - (Denis) Berlin. Auf einer historischen Sondersitzung des Zentralkomitees der SED... 1:21:58 Im Christianes Zimmer. Die Kerners hocken vorm Fernseher. (Fernseher) … Hat der Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzender des Staatsrats der DDR, Genosse Erich Honecker, in einer großen humanitären Geste der Einreise der seit 2 Monaten in den DDR-Botschaften Prag und Budapest Zuflucht suchenden BRD-Bürgern zugestimmt. Honecker sieht in dieser Entwicklung eine Wende der Ost-West-Beziehungen und versprach jedem Einreisenden ein Begrüßungsgeld von 200 Mark. 1:22:21 Eine Menschenmenge trampelt einen Zaun nieder. (Fernseher) Arbeitslosigkeit, mangelnde Zukunftsaussichten und die zunehmenden Wahlerfolge der neonazistischen Republikaner haben die verunsicherten BRD-Bürger in

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den letzten Monaten dazu bewogen, dem Kapitalismus den Rücken zu kehren und einen Neuanfang im Arbeiter- und Bauernstaat zu versuchen. 1:22:42 Menschen winken aus einem vollbesetzten Zug. Vor einem Plattenbau. (Fernseher) Hier parken sie, die neuen DDR-Bürger aus der BRD. Die einreisewilligen BRD-Bürger wurden zunächst in den Berliner Bezirken Mitte und untergebracht. 1:22:55 Christiane schaut verblüfft. (Fernseher) Das ZK der SED rief aufgrund der historischen Situation die Aktion ‚Solidarität West‘ ins Leben, um die Wohnraumlenkung für die neuen Mitbürger zu gewährleisten. Irgendwie muss ich zugeben, dass sich mein Spiel verselbstständigte. Die DDR, die ich für meine Mutter schuf, hätte ich mir vielleicht so gewünscht. (Fernseher) Bürger, die bereit sind, einen Flüchtling aus der BRD aufzunehmen, melden sich bei ihrem Abschnittsbevollmächtigten. 1:23:23 Heller Tag. Die Kerners am Fenster. (Christiane) Wie viele sind es schon? 1:23:27 Auf der Straße fahren Wagen aus Ost und West. (Alex) Keine Ahnung. Zehn-, zwanzigtausend? - (Christiane) Schaut euch das an. Die Menschen wollen in unser Land. Wo sollen die alle wohnen? 1:23:39 Ein Sightseeing Bus fährt vorbei. (Alex) Da findet sich schon was. Hast ja gehört, die kümmern sich drum. 1:23:42 Christianes Augen leuchten. (Christiane) Nee, Kinder. Hier sind wir gefordert. Da müssen wir helfen. - (Ariane) Wie stellst du dir das vor? Ich meine, hier ist kein Platz mehr. 1:23:53 Ihre Mutter schaut nachdenklich. (Christiane) In der Datsche. - (Ariane) In der Datsche? Wir können sie doch wiederherrichten. Ich wollte sowieso mal wieder rausfahren. 1:24:03 Im Wohnzimmer. (Ariane) Na, gratuliere. Das hast du super gemacht. Jetzt will sie auch noch zur Datsche. 1:24:08 Alex löffelt in Westmarmelade in leere Gläser. (Ariane) Du musst ja die ganze Stadt umdekorieren. Fang am besten gleich damit an. Aber eins sag ich dir, ich mach da nicht mehr mit. 1:24:18 Sie bindet Paula ein Lätzchen um. Rainer futtert Paula. (Rainer) Wir suchen uns 'ne größere Wohnung. In spätestens 4 Wochen sind wir hier raus. 1:24:27 Alex lässt das Honigglas sinken. (Alex) Wie bitte? 1:24:30 Er sieht zu Ariane. (Ariane) Ich bin schwanger. 1:24:32 Er wirft den Löffel ins Glas und stützt resigniert den Kopf in die Hände. (Alex) Schon wieder? Sag mal, könnt ihr nicht aufpassen? 1:24:40 Sie trinkt wütend auf einer Wasserflasche.

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(Alex) Reicht euch Paula nicht? Und Mama? Ihr könnt mich nicht allein lassen! - (Ariane) Dann nimm 'n paar Flüchtlinge auf. Du bist so zynisch. Dir wär's am liebsten, wenn sie stirbt. 1:24:55 Er steht auf, rempelt Ariane grob aus dem Weg und geht. Sie sieht ihm betreten nach. Und so war die Einheit in unserer kleinen Familie wieder hergestellt. 1:25:12 Eine Ärztin weist auf ein pulsierendes grünes Ultraschallbild. (Ärztin) Das ist lhr Kind. Und das ist das Herz. 1:25:19 Ariane auf der Liege betrachtet es fasziniert. (Ariane) Das ist ja Wahnsinn. 1:25:23 Sie lächelt Rainer zu. Ein gesamtdeutsches Baby war unterwegs. Und gesamtdeutsche Verträge wurden unterzeichnet. In Moskau rechnete man aus, dass 2 plus 4 eins ergibt und trank mit Krimsekt gesamtdeutsche Brüderschaft. Wir in Berlin unternahmen unseren ersten gesamtdeutschen Ausflug. 1:25:44 Rainers blauer Trabant fährt eine Allee entlang. Im Wagen. Christiane auf dem Beifahrersitz hat die Augen verbunden. (Christiane) Ich bin doch kein kleines Kind mehr. Nun nehmt mir das Tuch ab. - (Alex) Nicht schmulen! 1:25:57 Auf dem Rücksitz: Alex Lara und Ariana. (Christiane) Wohin fahren wir? - (Ariane) Überraschung bleibt Überraschung! 1:26:03 Christiane atmet tief ein. (Christiane) Der Trabbi riecht noch so neu. Welche Farbe hat er denn? - (Alex) Du hast 3 Jahre gewartet, da kommt's auf 'ne halbe Stunde nicht an. [Sie singen auf Russisch] 1:26:31 Das Laub der Bäume ist herbstlich bunt. Alex öffnet das Holzgatter zu einem bewaldeten Grundstück. Der Trabant holpert über den schmalen Weg zwischen den dichtstehenden Bäumen und Büschen hindurch. Vor ihn liegt ein kleines Holzhaus mit spitzem Dach. Alex öffnet die Beifahrertür. (Alex) Mama? 1:26:55 Er fasst ihre Hand und hilft ihr aus dem Wagen. Rainer nimmt Paula auf den Arm. Alex führt seine Mutter vor das Auto und befreit sie von der Augenbinde. Christiane im braunen Leinenkleid blinzelt und strahlt. (Christiane) Ist der schön. Himmelblau. - (Alex) So, jetzt dreh dich mal um. 1:27:22 Sie betrachtet das hinter Büschen liegende Häuschen und lehnt sich glücklich an Alex. (Christiane) Oh, mein Gott, der Garten. 1:27:30 Vor der Datsche. (Christiane) Weißt du noch, wie Alex sich auf dem Klo eingeschlossen hat? 1:27:33 Ariane grinst. (Christiane) Wir haben geklopft und geklopft. Keine Antwort. - (Alex) Ich bin aus ein Loch im Dach rausgeklettert und die Aufregung vom Baum beobachtet. - (Ariane) Und ich hab mir wieder vor Lachen in die Hosen gemacht.

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1:27:46 Ariane hockt im Gras. Alex und Lara sitzen auf einer Bank. Christiane im Liegestuhl. Rainer schlägt nach Insekten. (Christiane) Was passierte eigentlich in den 8 Monaten, die ich verschlafen hab? 1:27:57 Rainer setzt sich zu Ariane. (Ariane) Und, schläft sie? 1:28:02 Lara sieht Alex auffordernd an. (Christiane) Ihr seid erwachsen geworden, das ist es wahrscheinlich. 1:28:08 Sie lächelt Alex zu. (Christiane) Du wirst deinem Vater immer ähnlicher. 1:28:12 Alex im Jeans und karierten Hemd sieht betreten zu Boden und wechselt mit Lara einen Blick, die nickt aufmuntert. Er schaut weg. Sie stupft ihn mit den Ellbogen an. (Alex) Mama... - (Christiane) Ich hab euch die ganze Zeit belogen. Es ist alles ganz anders als ihr denkt. Mama, was redest du da? - Euer Vater... 1:28:31 Sie blickt zu Ariane. Die starrt sie gebannt an. (Christiane) Euer Vater blieb nicht wegen einer anderen Frau im Westen. Das war gelogen. Und dass er sich nie mehr gemeldet hat... 1:28:45 Ihr Blick wandert zu Alex. Er sitzt wie versteinert. (Christiane) Das war auch gelogen. Er hat mir Briefe geschrieben. Und euch auch. Die liegen alle... hinterm Küchenschrank. 1:28:57 Ariane rutscht unbehaglich hin und her. Christiane nimmt einen Schluck Saft und blickt traurig. (Christiane) Die haben ihm die Arbeit so schwer gemacht. Nur weil er nicht in der Partei war. Das war fürchterlich. Nach außen ließ er sich nichts anmerken. Aber ich hab's gewusst. Ich... ich hab's gewusst und konnte ihm nicht helfen. Und dann... dann kam plötzlich dieser Kongress in West-Berlin. Wir hatten nur 2 Tage Zeit zum Überlegen. Euer Vater wollte im Westen bleiben und ich... Ich sollte dann mit euch nachkommen. 1:29:38 Alex mustert sie verblüfft. In ihren Augen stehen Tränen. (Christiane) Tja, ich hab es nicht geschafft. Ich... ich hatte wahnsinnige Angst. Ihr wisst ja nicht, wie das ist. Einen Ausreise-Antrag stellen mit 2 Kindern. Man kann nicht sofort raus. Da muss man warten, ewig! Manchmal sogar Jahre. Und euch... Euch hätten sie mir wegnehmen können. Versteht ihr? 1:30:08 Ariane betrachtet ihre Mutter verletzt. (Christiane) Ich bin nicht gegangen. Das war der größte Fehler meines Lebens. Das weiß ich jetzt. Ich hab euch belogen. Verzeiht mir bitte. 1:30:36 Erschöpft lehnt sie sich zurück. Alex stellt sein Glas weg, steht mit unbewegter Miene auf und marschiert davon. Lara folgt ihm zögernd. Ariane betrachtet ihre Mutter mühsam beherrscht. Christiane blickt vor sich hin. (Christiane) Mein lieber Robert... Ich hab so oft an dich gedacht. Ich würd dich so gern noch mal wiedersehen. 1:31:05 Ihre Miene ist voller Schmerz. Sie schließt die Augen. Ariane lehnt sich an Rainer und birgt ihren Kopf an seine Schulter. Alex kauert zwischen Bäumen an einem See und

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sieht auf das stille Wasser hinaus. Lara kommt und hockt sich neben ihn. Sie sehen sich an. Das Licht der Tiefstehenden Sonne fällt warm auf ihre Gesichter. Lara streichelt Alex‘ Nacken und zieht seinen Kopf zärtlich an ihre Schulter. Aneinander gelehnt blicken sie auf den See. Am gleichen Abend ging es Mutter plötzlich schlechter. 1:31:50 Ein Rettungswagen rast durch einen Tunnel. Im Wagen liegt Christiane. In ihrer Nase ein Beatmungsschlauch. Alex hält ihre Hand. 1:32:00 In der Küche der Kerners. Ariane reißt die Schubladen aus den Schränken. 1:32:07 Der Rettungswagen fährt über die dunkle Autobahn. 1:32:12 Ariane schaufelt mit beiden Händen einen Hängeschrank leer. Sie nimmt einen Kochlöffel und bricht damit die Rückwand auf. 1:32:20 In der Klinik. Die Sanitäter und Alex schieben Christiane hastig den Gang entlang. 1:32:23 In der Küche. Ariane reißt die Rückwand auf dem Schrank. Eine große Menge Briefe kommen zum Vorschein. Atemlos sinkt sie damit zu Boden. 1:32:33 Christiane liegt auf der Intensivstation. Sie ist umgeben von medizinischen Geräten. Eine Schwester sieht nach ihr. 1:32:39 Ariane hält einen an Christiane adressierten Briefumschlag in der Hand. Er ist ungeöffnet. Sie kauert am Boden die Briefe auf ihrem Schoß und krümmt sie schluchzend. 1:32:55 Christiane liegt reglos im Krankenbett. Alex sitzt im Sprechzimmer. Der Klinikarzt kommt. (Arzt) Ihre Mutter hatte einen weiteren Infarkt, genau wie ich befürchtet habe. Im Moment ist sie einigermaßen stabil. Aber ich fürchte... Wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen. Es tut mir leid. 1:33:12 Alex sieht ihn mit großen Augen an und wendet langsam den Blick ab. 1:33:17 Auf dem dämmerigen Gang der Klinik. (Alex) Die Ärzte können sich irren. - (Ariane) Alex, mach dir nichts vor. 1:33:22 Ariane reicht ihm einen Brief. (Ariane) Hier, ich hab sie gefunden. Er wohnt in Wannsee. Ich weiß, es ist ihr letzter Wunsch. Aber ich pack das nicht, zu ihm zu fahren. 1:33:32 Alex betrachtet den Umschlag und sieht sie an. (Alex) Mutter stirbt nicht. 1:33:38 Sie gibt ihm einen Küss und drückt ihn kurz an sich. (Ariane) Tschüss. 1:33:43 Sie dreht den Kinderwagen und geht. Alex läuft mit hängenden Schultern den leeren Gang entlang. 1:33:51 Im Krankenzimmer. Christiane liegt reglos im Bett, einen Schlauch in der Nase. Alex sitzt neben ihr und fasst nach ihrer Hand. Es ist Nacht. Alex wandert im dunklen Krankenzimmer auf und ab, die Hände in den Hosentaschen. Er sitzt am Bett und spielt mit dem Brief in seiner Hand. Vornübergebeugt schläft er an einem kleinen Tisch. 1:34:10 Heller Tag. Christiane schlägt langsam die Augen auf. (Christiane) Jetzt könnt ihr doch jemanden aufnehmen. 1:34:19 Er richtet sich auf und sieht sie übermüdet an. (Alex) Aufnehmen? Wen?

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- (Christiane) Jemanden aus dem Westen. 1:34:29 Sie schließt die Augen. Er lächelt mühsam. 1:34:35 Auf dem Gang. Alex kauert vornübergebeugt auf einem Stuhl. Unter Tränen sieht er auf. Lara im Schwesternkittel kommt und hockt sich vor ihn. Sie umfasst seine Hände und streicht über seinen Arm. (Lara) Du musst schlafen. Wenn du willst, kannst du dich im Schwesternzimmer hinlegen. 1:34:55 Er schaut zögernd auf und nickt. Sie streicht über seine Haare und drückt ihn an sich. Er schluchzt an ihre Schulter. Sie hält ihn fest. 1:35:14 Der Himmel über dem Klinikhochhaus wird dunkel. Der Eingang des Krankenhauses ist von Neonröhren hell erleuchtet. Alex reibt sich die Augen, tritt auf die Straße und sieht zum Taxistand hinüber. An einem der Taxis lehnt ein dunkelhaariger Mann ende vierzig in hellblauer Windjacke und raucht. Da war er. Das Idol meiner Jugend. Wie ein beschworener Geist aus meiner Kindheit. Sigmund Jähn. Er gab keine Autogramme, redete nicht zu Pionieren über das Universum, die Freiheit in der Schwerelosigkeit oder die Unendlichkeit des Kosmos. Er fuhr ein kleines, stinkendes Lada-Taxi. (Taxifahrer) Wohin soll's denn gehen? 1:35:51 Alex steigt ein und starrt ihn an. (Alex) Nach Wannsee. - (Taxifahrer) Ich weiß, was Sie denken. Das denken viele. Aber ich bin's nicht. So flogen wir durch die Nacht. Wie durch die Weiten des Kosmos. Lichtjahre entfernt vom Sonnensystem, vorbei an fremden Galaxienmit unbekannten Lebensformen, landeten wir in Wannsee. (Alex) Können Sie einen Moment warten? 1:36:10 Er steigt aus und sieht sich in der ruhigen Wohnstraße um. (Alex) Dauert nicht lang. 1:36:15 Der Taxifahrer nickt. Alex hält den Brief in der Hand und schaut angespannt zur gegenüberliegenden Straßenseite. 1:36:22 An der Tür. Ein Mann mit Brille und halb Glatze öffnet. (Alex) Guten Tag. - (Mann) Hallo. Komm rein. 1:36:28 Im Flur stehen Partygäste mit Drinks in der Hand. (Alex) Ist Herr Kerner da? - (Mann) Buffet ist draußen. 1:36:35 Alex folgt unsicher ihrem Fingerzeig. Überall im Haus unterhalten sich gediegen gekleidete Gäste. Er nickt eine Frau im roten Kleid zu, tritt zögernd ins Wohnzimmer und wirft einen Blick in den großen Garten. Auf einer Bühne spielt eine Band. Er streift weiter durchs Zimmer. Erneut zieht er hinaus in den geschmückten Garten mit kleinen Stehtischen. Ein Mitfünfziger im dunkelgrauen Anzug begrüßt Gäste. Er küsst zärtlich eine Brünette. Alex starrt den Mann mit offenem Mund an. Das Paar flaniert weiter zwischen den Gästen umher. Alex haucht auf und wendet den Kopf. Langsam verlässt er das Wohnzimmer, geht mit suchendem Blick ein Paar schritte und öffnet eine angelehnte Tür. Im Fernseher läuft ‚das Sandmännchen‘. Alex tritt lächelnd ein. Ein

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blonder Fünfjähriger und eine Siebenjährige mit roten Zöpfen sehen vom Bildschirm auf. (Alex) Hallo. - (Kinder) Hallo. Darf ich mit das Sandmännchen gucken? - (Mädchen) Erst wenn du sagst, wie du heißt. Alexander. 1:37:41 Sie klopft auf den Platz neben sich. Er setzt sich auf die Couch zu ihn. (Mädchen) Guck mal, das Sandmännchen ist heute Astronaut. 1:37:49 Eine Spielzeugrakete startet. (Alex) Wo ich herkomme, heißt es Kosmonaut. - (Mädchen) Wo kommst du denn her? Aus 'nem anderen Land. 1:37:57 Der Mann im dunkelgrauen Anzug kommt. (Vater) Na, ihr Bärchen. - (Kinder) Hallo, Papa. Hallo. 1:38:03 Alex nickt verlegen. (Vater) Wie geht's euch? - (Kinder) Gut. 1:38:06 Er setzt sich zu ihn. Das Mädchen grabbelt sich auf seinen Schuss, der Junge umarmt ihn. (Vater) Na, sind Sie auch Sandmännchen-Fan? - (Alex) Ja, schon. 1:38:13 Alex sieht zum Bildschirm. Das weißbärtige Sandmännchen steckt in einem Astronautenkostüm. (Vater) Entschuldigung, kennen wir uns? - (Alex) Ja, wir kennen uns. Ja. Ich komm nicht drauf. Helfen Sie mir doch. - (Junge) Der heißt Alexander. 1:38:28 Alex‘ Vater blickt verwirrt umher. Er hat braune Haare, tiefliegende dunkle Augen und einen schmalen Mund. Unglaublich starrt er Alex an. (Vater) Alex… 1:38:36 Der blickt unverwandt zurück und atmet rascher. (Gast) Robert. Robert! 1:38:42 Der Vater löst den Blick. (Gast) Wir warten hier alle auf dich. - (Frau) Robert, komm doch mal! Wir wissen doch, du versteckst dich bei diesen Gelegenheiten gern auf dem Klo. [Gelächter] 1:38:50 Im Garten. Ein Gast spricht ins Mikrofon. Die Kinder stehen auf und ziehen ihren Vater an den Händen. (Kinder) Papa, du musst deine Rede halten. - (Gast) Robert, jetzt komm raus. - (Vater) Ich komm gleich wieder.

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1:39:00 Alex nickt. Robert betrachtet ihn aufgelöst, steht auf und geht hinaus in den Garten. (Gast) Ah, ich sehe ihn! Du hast uns aber ganz schön warten lassen. 1:39:10 Alex starrt zum Bildschirm. Darauf steht Abendgruß. Im Garten. Robert erklimmt die Bühne und geht zum Mikrofon. Er gestikuliert fahrig. (Vater) Ja, ich danke euch, dass ihr alle gekommen seid. 1:39:21 Alex tritt auf die Terrasse. Vielen Dank und... 1:39:24 Sein Vater sieht zu ihm hinüber und lächelt unsicher. (Vater) viel Vergnügen. Danke. 1:39:30 Im Fernsehzimmer. Alex hockt mit verschränkten Armen auf der Couch. Er sieht auf. Robert kommt zögernd hinein und setzt sich neben ihn. winkt ab. (Vater) Es tut mir leid, dass wir heute dieses Fest hier haben. Hätte ich gewusst, dass du kommst, dann... 1:39:46 Alex schüttelt rasch den Kopf und winkt ab. (Alex) Komisch, ich hab mir immer vorgestellt, du hast 'n Swimmingpool. - (Vater) Wir haben 'n See in der Nähe. Mein Gott, ich hab dich nicht mal erkannt. 1:39:59 Ergriffen schaut er zu Boden und schluckt. (Alex) Jetzt hab ich wohl zwei neue Geschwister, hm? 1:40:08 Robert schaut geradeaus und knetet seine Hände. An seiner Rechten schimmert ein schmaler Ehering. (Vater) Ich hab 3 Jahre lang jeden Tag auf 'ne Nachricht von euch gewartet. Jeden Tag. Nichts hab ich mir sehnlicher gewünscht. 1:40:27 Er presst die Lippen zusammen. Durchs Fenster lugt die kurzhaarige Brünette, seine Frau, misstrauisch zu ihnen herein. Robert senkt angespannt den Blick. (Vater) Warum bist du gekommen? 1:40:40 Alex sieht seinen Vater prüfend an und holt tief Luft. (Alex) Mama liegt im Sterben. Sie hatte einen Herzinfarkt. Sie will dich noch mal sehen. 1:40:55 Robert mustert ihn erschüttert und starrt wieder geradeaus. 1:41:04 Im Taxi. Alex sitzt im Fond und sieht hinaus in die Nacht. Der Mond steht groß und voll am Himmel. Wolken ziehen darüber hinweg. (Alex) Wie war es denn da oben? - (Taxifahrer) Da oben? 1:41:15 Die Blicken von Alex und Taxifahrer treffen sich im Rückspiegel. (Taxifahrer) Ach so... da oben. Wunderschön war es da oben. 1:41:25 Er lächelt Alex an. (Taxifahrer) Nur sehr weit weg von zu Hause. 1:41:29 Heller Tag. In Christianes Krankenzimmer. Lara sitzt bei ihr und gestikuliert wild. Christiane richtet sich auf. (Lara) Die Mauer gibt's nicht mehr. Es gibt keine Grenze mehr! Es ist nicht schlimm. Es ist alles ein Land! 1:41:43 Auf dem Gang. (Vater) Das stimmt alles nicht. - (Alex) Deshalb musst du mitspielen. 1:41:48 Robert trägt einen Blumenstrauß. (Vater) Und warum kam ich zurück in die DDR? 126

- (Alex) Ich weiß es nicht. Lass dir was einfallen! 1:41:54 Sie erreichen die Tür von Christianes Krankenzimmer. Robert schaut unbehaglich. (Vater) Das ist absurd. Ich kann das nicht. - (Alex) Du musst dich einmal überwinden, danach ist es ganz einfach 1:42:05 Alex tritt ein. Lara steht rasch von der Bettkante auf und streicht sich verlegen eine Haarstrenge aus der Stirn. Christiane atmet schnell und sieht nervös von Alex zu Lara. Alex schließt die Tür hinter sich. Er geht zum Fußende des Bettes und sieht seine Mutter erwartungsvoll an. Sie trägt ein rosa geblümtes Nachthemd und ist zart geschminkt. Verlegen benetzt sie die Lippen und schaut unsicher auf. 1:42:31 Auf dem Gang. Robert sitzt nervös auf einem Stuhl, den Blumenstrauß in der Hand. Ariane kommt mit Paula auf dem Arm. Er sieht kurz zu ihr und gleichmutig wieder weg. Ariane starrt ihn tiefbewegt an. Er schaut erneut auf, stützt, und erhebt sich zögernd. Ariane presst Paula an sich und geht rasch davon. Er folg ihr ein paar Schritte. Hilflos sieht er ihr nach. 1:43:02 Im Krankenzimmer. Christiane setzt sich entschlossen auf. (Christiane) Ich will aufstehen. 1:43:07 Sie fährt sich durchs Haar. (Christiane) Wie sehe ich aus? 1:43:11 Ihr Blick irrt nervös umher. 1:43:14 Auf dem Gang. Robert sitzt angespannt neben der Tür. Alex und Lara kommen aus dem Zimmer. Fragend sieht Robert seinen Sohn an. (Alex) Du kannst jetzt. 1:43:25 Er nickt und will hineingehen. (Alex) Und bitte denk dran, kein Wort! - (Vater) Ja, ja. 1:43:32 Behutsam öffnet er die Tür, bleibt kurz darinstehen, und schließt sie hinter sich. (Alex) Worüber habt ihr eigentlich gesprochen? - (Lara) Ist das jetzt wichtig? 1:43:50 Er späht durch das Sichtfenster ins Krankenzimmer hinein. Christiane sitzt aufrecht auf dem Bett. Ihre Haare sind hochgesteckt. Robert steht mit ernster Miene vor ihr. Sie sehen sich unverwandt an. 1:44:02 Im Park der Klinik. Alex und Lara sitzen auf einer Bank. (Alex) Wie lange ist er schon bei ihr? - (Lara) Über eine Stunde. 1:44:10 Er knetet nervös seine Hände. (Alex) Hoffentlich verplappert er sich nicht. 1:44:17 Lara dreht sich zu ihm und betrachtet ihn lange. Der Sommer war vorbei. Ich beschloss, dem ganzen Spuk ein Ende zu machen. Einmal noch sollten wir den Geburtstag unseres sozialistischen Vaterlands feiern. Aber im Gegensatz zur Wirklichkeit als einen würdigen Abschied. 1:44:35 An einem Imbiss. Alex in Gespräch mit dem Taxifahrer. Auf dem Trödelmarkt. Alex kauft eine Hellgraue Uniform. Ein einem Lesesaal. Der Taxifahrer sitzt in der Uniform an einem Tisch. Alex stellt eine weiße Leninbüste ins Bücherregal hinter ihm. (Bibliothekar) Pst!

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1:44:50 Der Bibliothekar. Denis stellt vor den Taxifahrer ein Mikrofon, daneben die Büsten von Marx und Lenin. Er richtet die Kamera auf ihn. Alex neben Denis hält Textaffen. (Denis) Ja? Kamera läuft. Auf 3 geht's los. 1:45:03 Der Taxifahrer setzt sich aufrecht hin, lächelt und liest ab. Liebe Bürgerinnen und Bürger der Deutschen Demokratischen Republik. 1:45:13 Die Leser im Saal schauen irritiert. (Taxifahrer) Wenn man einmal das Wunder erlebt hat, unseren blauen Planeten aus der Ferne des Kosmos zu betrachten... 1:45:20 Am Schneidetisch. Denis hantiert an Regeln und spült Videobänder vor und zurück. Alex schreibt. 1:45:26 Im Krankenzimmer. Christiane schläft. Alex reißt die Blätter eines Wandkalenders ab. Weil Mutter ihn gar nicht erwarten konnte, verschoben wir den Jahrestag der DDR vom 7. auf den 2. Oktober 1990. Den Vorabend der Wiedervereinigung. 1:45:41 Der Kalender zeigt den siebten Oktober. Alex schiebt einen Fernseher über den Gang in Christianes Zimmer. 1:45:45 Denis rast auf Alex‘ Moped durch einen Tunnel. Er sitzt weit vorgebeugt und rückt den roten Sturzhelm zurecht. 1:45:52 Vor der Klinik. Alex wandert in der Dunkelheit ungeduldig auf und ab. Denis fährt vor. (Alex) Und? - (Denis) Hier. Mein bisher bester Film, Alter. 1:46:02 Er zieht eine Videokassette hervor. Alex packt sie. (Denis) Jammerschade, dass den außer deiner Mutter nie jemand sehen wird. - (Alex) Danke. Ohne dich hätte es niemals... Ja, ist gut jetzt. Hier. Zisch ab, bevor 's sentimental wird. 1:46:13 Er gibt ihm einen Videorekorder. Alex geht. (Denis) Und erzähl mir, wie's gelaufen ist! 1:46:18 Denis im Fernseher. (Fernseher) Anlässlich des Jahrestages der DDR ist Erich Honecker am heutigen Tag von all seinen Ämtern zurückgetreten. 1:46:26 Christiane stützt. (Christiane) Was? (Fernseher) Unsere Freunde in aller Welt seien versichert, dass der Sozialismus In seiner Rede auf dem Empfang zur Feier des Jahrestages der DDR im Palast der Republik begründete Erich Honecker seinen Entschluss damit, dass die in der DDR in den letzten Monaten erreichten Veränderungen sein politisches Lebenswerk würdig abschließen. Erich Honecker gratulierte dem neuen Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzenden des Staatsrats der DDR: Sigmund Jähn. (Christiane) Was, der Jähn? (Fernseher) Sigmund Jähn war 1978 als erster deutscher Kosmonaut im All. 1:46:56 Sie verkneift sich ein Grinsen. (Fernseher) Das neue Staatsoberhaupt wandte sich noch am Abend an die Bevölkerung der DDR. 1:47:03 Alex lächelt stolz. (Fernseher) Liebe Bürgerinnen und Bürger der Deutschen Demokratischen Republik. 1:47:08 Ariane verbirgt ihr Lachen. Alex blickt strafend.

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(Fernseher) Wenn man einmal das Wunder erlebt hat, unseren blauen Planeten aus der Ferne des Kosmos zu betrachten, sieht man die Dinge anders. 1:47:17 Christiane sieht wissend zu Alex. (Fernseher: Jähn) Dort oben in den Weiten des Weltalls kommt einem das Leben der Menschen... klein und unbedeutend vor. Man fragt sich, was die Menschheit erreicht hat. Welche Ziele hat sie sich gestellt und welche hat sie verwirklicht? Unser Land hat heute Geburtstag. Aus dem Kosmos gesehen ist es ein sehr kleines Land. Und doch kamen im letzten Jahr Tausende Menschen zu uns. Menschen, die wir früher als Feinde sahen und die heute hier mit uns leben wollen. Wir wissen, unser Land ist nicht perfekt. 1:47:47 Lara blickt liebevoll zu Alex. (Fernseher: Jähn) Aber das, woran wir glauben, begeisterte immer wieder viele Menschen aus aller Welt. Vielleicht haben wir unser Ziel manchmal aus den Augen verloren. Doch wir haben uns besonnen. Sozialismus heißt nicht, sich einzumauern. Sozialismus heißt, auf den anderen zuzugehen, mit dem anderen zu leben. Nicht nur von einer besseren Welt zu träumen, sondern sie wahr zu machen. 1:48:08 Christiane betrachtet dankbar ihren Sohn. (Fernseher: Jähn) Sondern sie wahr zu machen. Ich habe mich daher dazu entschlossen, die Grenzen der DDR zu öffnen. 1:48:13 Sie schaut bemüht erstaunt. (Fernseher) Schon kurz nach der Maueröffnung haben Tausende Bürger der BRD die Möglichkeit genutzt, der DDR einen ersten Besuch abzustatten. 1:48:21 Sie lächelt. Menschenmassen vor und auf der Mauer. (Fernseher) Viele wollen bleiben. Sie suchen nach einer Alternative zum harten Überlebenskampf im Kapitalismus. (Christiane) Ist das nicht wundervoll? (Fernseher) Nicht jeder möchte bei Karrieresucht und Konsumterror mitmachen. Nicht jeder ist für die Ellenbogenmentalität geschaffen. 1:48:40 Menschen spazieren vom Brandenburger Tor Richtung Osten. Alex tauscht mit seiner Mutter einen lächelnden Blick. Sie strahlt. (Fernseher) So ein Tag, so wunderschön wie heute. Diese Menschen wollen ein anderes Leben. Sie merken, dass Fernseher, Videorekorder und Autos nicht alles sind. Sie sind bereit, mit nichts anderem als gutem Willen, Tatkraft und Hoffnung ein anderes Leben zu verwirklichen. 1:49:07 Alex schaltet den Fernseher aus. Christiane lehnt in ihrem Kissen und lächelt ihn erschöpft an. (Christiane) Wahnsinn. 1:49:13 Alex grinst stolz. Vor dem Reichstag eine riesige Menschenmasse. Von der Tribüne winken Kohl, Brandt, Von Weizsäcker, Genscher, Lafontaine, de Maizière. Das Brandenburger Tor erstrahlt im Licht explodierender Feuerwerkskörper. 1:49:40 Lara und Alex stehen arm in arm auf einem Balkon der Klinik. Die Raketen zerstieben in Kaskaden roter weißer gelber und blauer Funkensterne. Zärtlich küsst Alex Lara auf die Wange. 1:50:01 Im Krankenzimmer. Durch die dünnen Vorhänge leuchtet das Feuerwerk und taucht den Raum in wanderndes rotes und grünes Licht. Christiane richtet sich mühsam auf und

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sieht zum Fenster. Ihre Augen strahlen. Auf ihren Lippen liegt ein leichtes Lächeln. Sehr langsam sinkt sie zurück ins Dunkel. 1:50:15 In einem schmalen Treppenhaus. Klapprath hastet die Stufen zum Dach hinauf. Auf dem Flachdach. Alex füllt Asche aus eine Urne in eine Spielzeugrakete. Meine Mutter überlebte die DDR genau drei Tage. Ich glaube, es war schon richtig, dass sie die Wahrheit nie erfahren hat. Sie ist glücklich gestorben. 1:50:33 Er setzt die bunte Plastikspitze auf und schraubt sie fest. Sie hat sich gewünscht, dass wir ihre Asche in alle Winde streuen. 1:50:40 Klapprath kommt. Das ist in Deutschland verboten. Im Westen wie im Osten. Das war uns egal. 1:50:44 Er gibt Alex Streichhölzer und stellt sich zu den anderen: den Nachbarn, Robert und Lara, Denis, Ariane mit Paula und Rainer. Alex bückt sich, entzündet die Rakete und geht zu Lara. Die Rakete steigt mit gelbem Feuerschweif senkrecht in den schwarzen Nachthimmel und explodiert. Für Sekunden stehen zwei weiße Funkensterne am Himmel und lösen sich auf. Alex und die anderen schauen ergriffen. Ganske hustet. Irgendwo da oben schwebt sie jetzt und schaut vielleicht auf uns hinab. Und sieht uns als winzige Punkte auf unserer kleinen Erde. Genau wie damals Sigmund Jähn. 1:51:30 Fernsehbild. Jähn lässt die Puppen schweben. Das Land, das meine Mutter verließ, war ein Land, an das sie geglaubt hatte. 1:51:39 Straßen in Ostberlin. Und das wir bis zu ihrer letzten Sekunde überleben ließen. 1:51:43 Parkende Trabis und Wartburgs. Ein Land, das es in Wirklichkeit nie so gegeben hat. 1:51:49 Ein Strandbad am See. Ein Land, das in meiner Erinnerung immer mit meiner Mutter verbunden sein wird. 1:51:59 Christiane posiert mit Alex, Ariane und anderen Kindern vor einem Fotoapparat mit Selbstauslöser. Sie tragen Badekleidung und Ketten aus Muscheln und bunten Papierblumen. Ariane steckt die Zunge heraus. Der kleine Alex schaut hingebungsvoll zu seine Mutter auf. Sie lächelt selbstbewusst in die Kamera. 1:52:23 Ein fünfzackiger roter Stern leuchtet auf schwarzem Grund. Das war der deutsche Spielfilm Goodbye Lenin. Aus dem Jahr 2002. Ein Film von Wolfgang Becker. Drehbuch Wart Lichtenberg. Co-Autor Wolfgang Becker. Mit Daniel Brühl als Alex, Katrin Sass als seine Mutter Christiane, Chulpan Khamatova als Lara, Maria Simon als Ariane, Florian Lukas als Denis, Alexander Beyer als Rainer, Burghart Klaussner als Robert, Michael Gwisdek als Klapprath, Christina Schaun als Frau Schäfer, Jörgen Holz als Herr Ganske und vielen anderen.

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7.3 Audiodeskription Das Leben der Anderen (2006)

Zeit Das Leben der Anderen 0:00:02 Weiße Buchstaben erscheinen auf schwarzem Grund. ‚Buena Vista international‘. Die Buchstaben verschwinden, das Bild ist schwarz. (Sprecher) November 1984, Berlin Hohenschönhausen 0:00:11 Ein Uniformierter führt einen dunkelhaarigen Mann durch einen langen Gang mit Linoleumboden. Zu beiden Seiten viele Türen. An der Wand leuchten Warnlampen rot auf. (Wachmann) Stehen bleiben! Blick nach unten! 0:00:24 In einem quer verlaufenden Gang wird ein Gefangener vorbeigeführt. (Wachmann) Weiter gehen! (Sprecher) Untersuchungsgefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit 0:00:30 Sie bleiben vor einer Tür stehen. (Wachmann) Anrede ‚Herr Hauptmann‘. 0:00:34 Ein Tonbandgerät wird eingeschaltet. (Wiesler) Herein! 0:00:39 Hinter einem Schreibtisch sitzt ein Mann mit Halbglatze in Uniform. (Wiesler) Setzen Sie sich. 0:00:42 Der Dunkelhaarige setzt sich auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch. (Wiesler) Hände unter die Schenkel, Flächen nach unten. 0:00:45 Der Dunkelhaarige schiebt erst die linke, dann die rechte Hand unter seine Oberschenkel. Der Hauptmann nickt dem Uniformierten zu, der geht. (Wiesler) Was haben Sie uns zu erzählen? - (Häftling) Ich hab' nichts getan. Ich weiß nichts. Sie haben nichts getan, wissen nichts? Sie glauben also, dass wir unbescholtene Bürger einfach so einsperren aus einer Laune heraus? - Nein, ich… Wenn sie unserem humanistischem System so etwas zutrauen, dann hätten wir schon Recht sie zu verhaften, auch wenn sonst gar nichts wäre. 0:01:14 An der Wand hängt ein Porträt von Erich Honecker. (Wiesler) Wir wollen ihrem Gedächtnis ein wenig nachhelfen, Häftling 227. Ihr Freund und Nachbar, ein gewisser Pirmasens Dieter hat am 28. September Republikflucht begangen und wir haben Grund zu der Annahme, dass ihm geholfen wurde. - (Häftling) Ich weiß darüber gar nichts. Er hat mir nicht mal gesagt, dass er rüber wollte. Ich hab's erst im Betrieb erfahren. 0:01:37 Der Hauptmann macht Notizen. (Wiesler) Beschreiben Sie mir doch bitte einmal, was sie an diesem 28. September gemacht haben. - (Häftling) Das hab' ich doch schon zu Protokoll gegeben. Bitte noch einmal. - Ich war mit meinen Kindern im Treptower Park spazieren. Dort traf ich meinen alten Schulfreund Max Kirchner. Wir gingen zusammen zu ihm nach Hause und haben bis in die späten Abendstunden Musik gehört. Er hat ein Telefon, sie

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können ihn anrufen. Er wird ihnen das alles bestätigen. Ich kann Ihnen gern die Nummer geben. 0:02:03 In einem Hörsaal. Ein Tonbandgerät wird ausgeschaltet. (Wiesler) Die Gegner unseres Staates sind arrogant. Merken Sie sich das. Wir müssen Geduld haben mit ihnen. Etwa 40 Stunden Geduld. (Sprecher) Stasihochschule Potsdam-Eiche (Wiesler) Spulen wir ein wenig vor. 0:02:15 Im Gefängnis. (Häftling) Ich möchte schlafen. 0:02:18 Der Hauptman löst einen Kollegen ab. Bitte lassen sie mich schlafen. 0:02:23 Der Raum ist schwach beleuchtet. Es ist Abend. (Wiesler) Die Hände unter die Schenkel. 0:02:25 Der Häftling nimmt die Hände vom Gesicht. Schildern Sie mir noch einmal wie Sie den 28. September verbracht haben. 0:02:27 Der Häftling kippt zur Seite, wird wiederaufgerichtet. (Häftling) Bitte...ich will nur eine Stunde...nur ein bisschen...schlafen. - (Wiesler) Sagen sie mir noch einmal, was sie an diesem Tag gemacht haben. 0:02:38 Im Hörsaal steht der Hauptmann an der Tafel. Darauf steht OPK: Operative Personenkontrolle. (Häftling weint) - (Student) Warum müssen sie Ihn so lange wachhalten? Ich meine...das ist doch unmenschlich. 0:02:51 Auf einem Sitzplan macht der Hauptmann unter dem Namen des Studenten ein Kreuz. (Wiesler) Ein unschuldiger Häftling wird mit jeder Stunde, die man ihn länger da behält, zorniger, wegen der Ungerechtigkeit, die ihm widerfährt. Er schreit und tobt. Ein Schuldiger wird mit den Stunden ruhiger und schweigt oder weint. Er weiß, dass er zurecht dort sitzt. Wenn sie wissen wollen, ob jemand schuldig ist oder unschuldig, gibt es kein besseres Mittel als ihn zu befragen bis er nicht mehr kann. (Häftling) Schulfreund Max Kirchner. Wir sind zu ihm nach Hause gegangen. 0:03:26 Der Hauptman schreibt ohne aufzublicken mit. Und haben Musik gehört bis in die späten Abendstunden. 0:03:31 Der Häftling hält den Kopf gesenkt. Er hat ein Telefon, sie können ihn Anrufen. Er wird das alles bestätigen. (Wiesler) Fällt Ihnen etwas auf an seiner Aussage? - (Student) Er sagt das gleiche wie am Anfang. Er sagt dasselbe wie am Anfang. Wort für Wort. Wer die Wahrheit sagt, kann beliebig umformulieren und tut das auch. Ein Lügner hat sich genaue Sätze zurechtgelegt, auf die er bei großer Anspannung zurückfällt. 227 lügt. Wir haben zwei wichtige Indizien und können die Intensität erhöhen. (Wiesler) Wenn Sie uns den Namen des Fluchthelfers nicht nennen, muss ich noch heute Nacht ihre Frau verhaften lassen. 0:04:14 Erschrocken blickt der Häftling auf. (Wiesler) Jana und Nadja kommen in eine staatliche Erziehungsanstalt. Wollen Sie das?

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- (Häftling weint) Wie heißt der Fluchthelfer? Wer war es? - Gleske Noch mal, deutlicher! 0:04:32 Er greift zum Stift. (Häftling) Gleske, Werner Gleske. - (Wiesler) Werner Gleske. 0:04:39 Wieder im Hörsaal. (Wiesler) Ruhe. Ruhe! Hören Sie. 0:04:49 Im Verhörzimmer. Der Hauptmann hebt die Sitzfläche vom Stuhl des Häftlings und löst an der Unterseite Schraubenmuttern. (Wiesler) Kann mir jemand sagen, was das ist? 0:05:56 Mit Handschuhen zieht er den orangenfarbigen Bezug von der Sitzplatte aus Holz. (Wiesler) Die Geruchskonserver für die Hunde. Sie ist bei jedem Gespräch mit Untersuchungshäftlingen abzunehmen und nie zu vergessen. 0:05:10 Den Stoff steckt den in Einweckglas und spannt eine Klammer über den Deckel. Bei Verhören arbeiten sie mit Feinden des Sozialismus. Vergessen Sie das nie. Guten Tag. 0:05:23 In der Tür lehnt ein kräftiger Mann mit schmalem Oberlippenbart im Anzug. Er klatscht. (Grubitz) Das war gut, das war richtig gut! 0:05:30 Die Studenten verlassen den Hörsaal. (Grubitz) Erinnerst du dich noch wie wir hier zusammen saßen, vor 20 Jahren? 0:05:39 Der Hauptmann packt seine Sachen zusammen. (Grubitz) Weißt du, dass sie mir eine Professur angetragen haben? 0:05:45 Der Hauptmann hält kurz inne und sieht ihn an. (Grubitz) Du siehst, es kommt nicht nur auf gute Noten an im Leben obwohl meine ja dank Dir gar nicht so schlecht waren. - (Wiesler) Was steht an? Warum glaubst du eigentlich immer, dass ich mit einem Hintergedanken zu dir komme? Ich wollte dich nur ins Theater einladen. - Ins Theater? Ich habe gehört, dass Minister Bruno Hempf heute Abend ins Theater geht. Da sollte ich als Leiter der Abteilung für Kultur Präsenz zeigen. Es geht um 19 Uhr los. 0:06:09 Er gibt ihm eine Karte. (Grubitz) Wir sollten gleich aufbrechen. 0:06:12 Das Bild wird schwarz. Weiße Buchstaben in Schreibmaschinenschrift erscheinen. (Sprecher) Das Leben der Anderen 0:06:16 In einem Theater. Der Leiter der Kulturabteilung und der Hauptmann nehmen in einer Loge Platz, beide mit Anzug und Schlips. (Grubitz) Minister Bruno Hempf auf 1 Uhr, Parkett. 0:06:26 Er reicht ihm ein Opernglas. (Grubitz) Du weißt, dass er beim MFS war bevor sie ihn in die Kulturabteilung des ZK holten? Hat ziemlich aufgeräumt in der Theaterszene damals.

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0:06:33 Der Hauptmann sieht durch das Opernglas hinunter zu Hempf, einem massigen Mann mit hohen Geheimratsecken, dann blickt er in den Rang zu einem dunkelhaarigen Mann Ende dreißig. (Grubitz) Georg Dreyman, der Dichter. 0:06:43 Der lächelt ins Publikum. (Wiesler) Das ist genau der arrogante Typ, vor dem ich meine Studenten immer warne. - (Grubitz) Arrogant aber linientreu. Ich mein', wenn alle so wären wie der, wär' ich arbeitslos. Das ist so ziemlich unser einziger Autor, der nichts Verdächtiges schreibt und den man trotzdem im Westen liest. 0:06:59 Dreyman hat platzgenommen. Das Saallicht geht aus. (Grubitz) Pass mal auf. 0:07:04 Der Vorhang öffnet sich. Auf der Bühne stehen Arbeiterinnen in grauen Kitteln und mit Kopftüchern an zwei Fließbändern. Kartons sind aufgestapelt. Im Hintergrund die Projektion eines Stahlgerüsts. Eine Arbeiterin bricht zusammen. (Frau) Mein Liebes Kind was hast du? Ein neues Gesicht? Sprich Marta, bitte sprich! - (Marta) Dein Arthur… 0:07:26 Marta setzt sich auf. (Marta) …lebt nicht mehr. - (Frau) Arthur? Kannst du dich das eine Mal nicht irren? Nein, Schwester, glaube mir. Er ist gestürzt in seinen Tod. 0:07:40 Gebannt sieht der Hauptmann über das Opernglas zur Bühne. (Marta) Das große starke Rad hat ihn zermahlen. Ich sehe es... und würd' doch jeden Schrecken lieber sehen. 0:07:54 Marta starrt geradeaus. (Marta) Warum bleibt mir dies Sehen nicht erspart? 0:08:00 Langsam steht sie auf. (Marta) Elena? 0:08:04 Der Hauptmann beobachtet abwechselnd Dreyman, die Bühne und Hempf. Aufmerksam sieht Dreyman rauchend dem Stück zu. Marta sitzt auf einem Stuhl, die Arbeiterinnen am Boden um sie herum. Im Rang: ein Mann mit Brille umarmt Dreyman und geht. Marta stößt einen Mann in die Kartonstapel. Hempf sitzt unruhig auf seinem Platz. Ausgelassen tanzt Marta mit einer Arbeiterin im Kreis. Dreyman lacht. Der Vorhang schließt sich. 0:08:44 Der Leiter der Kulturabteilung schaut gelangweilt auf seine Uhr. An seinem Revers ein Abzeichen. (Grubitz) Und wie hat's dir gefallen? 0:08:50 Der Hauptmann senkt das Opernglas. (Grubitz) Guter Mann der Dreyman, was? - (Wiesler) Ich würde ihn überwachen lassen. Überwachen? Das Unterrichten verdirbt deinen Instinkt, Wiesler. - Die OPK würde ich sogar selbst übernehmen. Aber ich sage dir doch, der ist sauberer als sauber. Sogar Hempf kommt zu seiner Premiere. Wenn man so einen überwacht, dann schneidet man sich ins eigene Fleisch. Ich geh kurz hinunter.

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0:09:09 Mit einer Schachtel Zigaretten verlässt er die Loge. Wiesler greift zum Programmheft. Auf dem Umschlag steht: ‚Georg Dreyman - Gesichter der Liebe‘. Wiesler schlägt das Heft auf, auf einer Seite Porträts der Hauptdarstellerin Marta und von Dreyman, dazu Texte. Er sieht zu Dreyman hinüber. In der offenen Tür zum Rang steht die Hauptdarstellerin. Dreyman umfasst ihre Hüfte, die beiden küssen sich und lachen. Unten im Parkett setzt sich der Leiter der Kulturabteilung zu Minister Hempf. Neben Hempf sitzt ein junger Mann. (Hempf) Ich höre viel über Ihre Arbeit. Die Kultur ist in guten Händen, sagt man. Ja, ihr Name fällt oft in der Partei. - (Grubitz) Wir sind Schild und Schwert der Partei, Herr Genosse Minister. Das ist mir zu jedem Augenblick bewusst. 0:09:50 Hempf blickt zu Dreyman nach oben, der setzt sich wieder auf seinen Platz. Wiesler beobachtet die Männer im Parkett. (Hempf) Was halten Sie von Ihm? 0:09:58 Auch der Leiter der Kulturabteilung schaut zu Dreyman. (Grubitz) Georg Dreyman? Vielleicht ähm... - (Hempf) Vielleicht was? Vielleicht ist er nicht so sauber wie's scheint? - (Hempf lacht) Grubitz, deshalb sind Männer wie Sie und ich an der Spitze. Ein normaler Stasitrottel hätte jetzt gesagt: „Einer der Besten unseres Landes, linientreu“ und den ganzen Käse, aber wir sehen mehr. Sie werden es ganz nach oben schaffen, Grubitz. 0:10:30 Er tippt ihm auf die Brust. (Hempf) Jaja, an dem ist was faul. Das sagt mir mein Bauch und der lügt nicht. 0:10:37 Hempf beugt sich zur Grubitz hinüber, der rückt näher. (Hempf) Nächste Woche Donnerstag ist bei Dreyman eine Feier, da kommen einige dubiose Leute, Hauser und das ganze Gesocks. Versuchen Sie bis dahin was aufzubauen. Diskrete Überwachung. Maßnahmen, A und B. Nur in seinen Räumen. Nichts Auffälliges, er hat mächtige Freunde. Es darf niemand was von der Überwachung mitbekommen, bis wir 'was gefunden haben. 0:11:02 Grubitz nickt. (Hempf) Wenn sie gegen den was finden, dann haben sie einen ganz dicken Freund im ZK. Verstehen, was ich meine? 0:11:12 Grubitz lächelt. Hempf legt sich zurück und schlägt das Programmheft auf. (Grubitz) Genosse Minister, einen schönen Abend. 0:11:17 Sie geben sich die Hand. Grubitz sieht zu Wiesler hoch, der lässt das Opernglas sinken und lächelt leicht. 0:11:25 In einem Saal. Auf eine Bühne spielt eine Band. Dreyman und die Hauptdarstellerin tanzen, die anderen Gäste stehen am Rand und schauen ihnen zu. In einer Polstergruppe sitzen Hempf und sein Begleiter. Auch sie beobachten das tanzende Paar. (Dreyman) Warum schaut der uns immer so an? 0:11:38 Die Haupterstellerin wirft Hempf einen kurzen Blick zu. (Dreyman) Was macht der überhaupt hier? Ich glaube, er hat einen Narren an dir gefressen.

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0:11:48 Sie tanzen ausgelassen. Dreyman trägt einen braunen Cordanzug und ein helles Hemd. Die Haupterstellerin ist Ende dreißig, groß und schlank. Sie hat lange braune Haare, große braune Augen und volle Lippen. Sie trägt ein silbrig glänzendes knielanges Kleid mit tiefem Ausschnitt. Hempf geht auf die Bühne. (Hempf) Ich kann es mir nicht nehmen lassen heute Abend noch auf das Wohl unserer Kulturschaffenden zu trinken. Ein großer Sozialist, ich weiß nicht mehr genau wer, hat einmal gesagt: „Der Dichter ist der Ingenieur der Seele“. Und Georg Dreyman ist einer der bedeutendsten Ingenieure unseres Landes. 0:12:22 Der Mann mit Brille kommt zu Dreyman. (Paul Hauser) Reizend, deine Bettgenossen. - (Dreyman) Paul, was soll das? - (Hempf) Und natürlich Christa-Maria Sieland, sie ist die schönste Perle der Deutschen Demokratischen Republik da dulde ich keinen Widerspruch. Also erheben wir alle unsere Gläser auf Christa-Maria Sieland. Sie lebe hoch, hoch, hoch! 0:12:41 Dreyman verschränkt die Arme und schaut zu Boden. Verlegen sieht Christa zu Hempf. (Dreyman) Dass so jemand überhaupt das Wort an dich richten darf. - (Christa) Bleib bei mir, bitte. 0:12:51 Sie greift nach seinem Arm. Hempf kommt zu ihnen. (Saxophonist) Und jetzt wieder etwas für das Gemüt. - (Hempf) Ich darf doch? 0:12:58 Dreyman verschränkt wieder die Arme. Hempf küsst Christa auf die Wangen. Sein Begleiter steht im Hintergrund. (Hempf) Wie hat ihnen denn meine kleine Rede gefallen? - (Dreyman) Vielen Dank. Ihr Stück hat mir auch gut gefallen. 0:13:09 Paul kommt dazu. (Hempf) Nein wirklich, war gut. - (Paul) „Ingenieur der Seele“, das war Stalin, den Sie zitiert haben. Ach ja? Ja, ich provoziere eben auch mal gern, Hauser. Aber anders als Sie, weiß ich genau wie weit ich dabei gehen darf. Ich bin da eher wie unser lieber Dreyman. Er weißt zwar, dass die Partei den Künstler brauch, der Künstler die Partei aber dafür mehr. 0:13:32 Er streicht Christa über den Po. (Christa) Dann muss ich mir jemand anders zum Tanzen suchen. - (Hempf) Na ich bin bereit! Zu spät, zu spät. 0:13:39 Sie geht zu einer Gruppe Frauen an einem Stehtisch. (Hempf) Wissen sie, ich verfolge ja die Entwicklung unseres Theaters schon seit langem. - (Hauser) Ja, früher haben Sie sie ja beruflich verfolgt, nicht? - (Dreyman) – Paul (Hempf) Ist schon in Ordnung, Dreyman, Herr Hauser und ich, wir kennen uns schon viele Jahre. Herr Schwalber!

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0:13:54 Ein blonder Mann. (Hempf) Auch sie haben heute Abend ganze Arbeit geleistet. Dreyman, ich bin zufrieden, dass sie jetzt mit solchen Regisseuren arbeiten. Es hat auch andere Zeiten gegeben. 0:14:02 Er hebt drohend den Zeigefinger. (Dreyman) Sie sprechen von Jerska? 0:14:06 Dreyman sieht Schwalber an. (Dreyman) Ich bin ja der Meinung, dass sie ihn zu hart beurteilt haben. 0:14:11 Der entfernt sich. (Dreyman) Sicher, er hat mit seinen Äußerungen über die Stränge geschlagen. Keine Frage. Aber versetzen Sie sich doch für einen Moment in seine Lage. Sie als Ehrenmann. Er kann seine Unterschrift von dieser Erklärung nicht zurückziehen. Genosse Hempf, der Mann könnte im Westen in jedem Theater arbeiten. Aber er will hier nicht weg. Weil er fest an den Sozialismus glaubt. Und an dieses Land. Sein Berufsverbot ist absolut... - (Hempf) Wer redet denn von Berufsverbot? So 'was gibt's doch gar nicht bei uns. Sie sollten vorsichtiger sein in Ihrer Wortwahl. 0:14:49 Paul Hauser legt seine Hand an Dreymans Schulter und geht. Hempf trinkt aus einer Sektschale. (Dreyman) Genosse Hempf, das sage ich jetzt nur Ihnen. Meine Stücke sind nicht so gut, als dass ein Schwalber sie inszenieren könnte. Ich brauche Jerska. Ich glaube, dass Sie ihn zu hart beurteilen. - (Hempf) Ja, sehen Sie, und ich glaube das nicht. Aber das lieben wir ja auch alle an Ihren Stücken. Die Liebe zum Menschen. Die guten Menschen. Den Glauben, dass man sich verändern kann. Dreyman, ganz gleich wie oft Sie das in Ihren Stücken schreiben, Menschen verändern sich nicht. 0:15:22 Er nimmt noch einen Schluck und stellt die schale ab. Sein Begleiter steht hinter ihm. (Hempf) Aber wie geht es ihm denn? - (Dreyman) Er ist voller Hoffnung, dass sein Berufs... Dass er bald wieder arbeiten darf. 0:15:34 Hempf nickt und beißt in eine Bulette. (Dreyman) Darf er hoffen? - (Hempf) Natürlich darf er hoffen, so lange er lebt. Und sogar noch länger, denn sie wissen ja, Dreyman, die Hoffnung stirbt immer zuletzt. (lacht) 0:15:49 Dreyman nickt ernst und senkt den Blick. Wiesler und Grubitz beobachten sie. Grubitz drückt seine Zigarette aus, nickt Wiesler zu, sie gehen. 0:15:59 Es ist Nacht. Ein PKW fährt in einem mehrspurigen Kreisverkehr um einen Platz herum. (Hempf) Der OTS steht ab morgen früh auf dein Zeichen für die Verwanzung bereit. 0:16:07 Grubitz am Steuer. (Hempf) Wichtig ist nur, dass bis Donnerstag alles steht. Ansonsten hast du Feierabend. Kriegst du das hin? 0:16:13 Ein hoher Plattenbau ragt in den Nachthimmel. (Wiesler) Gute Nacht.

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0:16:19 Wiesler steigt aus. Er geht auf das Hochhaus zu. Vor dem Eingang parken ein Trabant und ein Wartburg. 0:16:29 In Wieslers Neubauwohnung. Im Flur hängt er seinen grauen Anorak auf einem Bügel an die leere Garderobe. Wiesler lockert seinen Schlips, macht Licht im Wohnzimmer und geht in die Küche. An den Wänden im Wohnzimmer Strukturtapete, mitten im Raum ein braunes Sofa, davor ein Couchtisch und ein Fernseher. Vor der breiten Fensterfront hängen weiße Gardinen und dunkelbraune Vorhänge. In der Wand zur Küche ist eine Durchreiche mit Schiebefenstern aus Glas. Wiesler steht neben der braun emaillierten Spüle. Vor sich einen Teller, er drückt Tomatenmark auf das warme Essen und verrührt alles. Dann geht er ins Wohnzimmer zum Fernseher. An der Wand dahinter eine dunkelbraune Schrankwand, daneben steht die Tür zum Bad offen. Er setzt sich auf das Sofa. (Fernseher) …Und später Flächen für die Kleinviehhalter an. Dort allerdings mit bestem Nutzen. 0:17:21 Das Fernsehbild ist schwarz-weiß. (Fernseher) Die ökonomische Strategie des 10. Parteitages bewährt sich im Leben. Dass jetzt erst recht alles zur… 0:17:30 Es ist Tag. Die Sonne scheint. Dreyman spielt mit drei Kindern Fußball auf einer regennassen Straße. Am Rand parken wenige Autos. Wiesler steht vor einem Hauseingang und beobachtet Dreyman. (Dreyman) Ich muss nach oben, sonst krieg' ich Ärger. - (Kind) Von wem? Von meiner Freundin. 0:17:51 Dreyman hebt eine Holzkiste mit Flaschen und Gemüse hoch. Wiesler sieht von gegenüber wie Dreyman auf eine Haustür zugeht. Er macht sich Notizen. Wiesler ist Mitte vierzig, hager und mittelgroß. In seinem länglichen Gesicht stehen die Augen eng beieinander, tiefe Falten ziehen sich von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln. Er trägt den Anorak und graue Handschuhe. Hinter einem Fenster küssen sich Dreyman und Christa. Wiesler schaut auf seine Uhr und schreibt in sein Notizheft. 0:18:24 Es ist dunkel. Eine Volvo-Limousine mit verdunkelten Scheiben fährt an Wiesler vorbei und hält in einiger Entfernung. Wiesler blickt zum Wagen. Eine Frau steigt aus dem Fond. Die Limousine fährt davon. Die Frau überquert die Straße, Wiesler sieht ihr nach und notiert sich das Autokennzeichnen. 0:18:45 Es ist Tag. Dreyman kommt aus dem Hauseingang. Herbstlaub liegt auf den Grünflächen vor dem Haus. Gegenüber parkt ein dunkelgrauer Kleinbus. Wiesler steht verdeckt dahinter und beobachtet wie Dreyman sich entfernt. Dann klopft er an den Bus. Männer in grauen Anoraks und Lederhandschuhen steigen aus. Sie tragen Ledertaschen. Der Trupp geht auf Dreymans Haus zu. Einer trägt eine Klappleiter aus Holz. Voran läuft der Einsatzleiter in einer braunen Kunstlederjacke. Wiesler folgt den Männern. Hände in Handschuhen öffnen mit einem Vibrationskolben das Sicherheitsschloss. Nacheinander kommen die sechs Männer ins Treppenhaus. Die Leiter wird vor dem Hauseingang aufgestellt. Vor einer Wohnung gibt einer der Männer dem Einsatzleiter eine Polaroid Kamera. Ein anderer öffnet mit einem Schlüssel das Türschloss.

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0:19:38 Im Wohnungsflur. Der Einsatzleiter stellt die Kamera auf ein Schränkchen, er und Wiesler halten Stoppuhren. (Wiesler) Zwanzig Minuten. 0:19:46 Von einem Lichtschalter wird die Abdeckung entfernt. Über einem anderen Lichtschalter wird durch ein Loch in der Wand ein Kabel hinter der Tapete nach unten geschoben. Drähte werden mit einander verbunden. Im Flur hantiert der Einsatzleiter an der Wand über dem Türöffner. Wiesler hält ein großes gefaltetes Papier in den Händen. Er schaut darauf und geht vom weitläufigen Wohnzimmer mit hoher Decke und Parkettfußboden ins Arbeitszimmer. Er faltet das Papier zusammen. Am Schreibtisch zieht er Schubladen heraus. Darin Ausgaben der ‚FAZ‘ und des ‚Spiegel‘. Er betrachtet ein schwarz-weiß Porträtfoto von Christa auf dem Schreibtisch. In einem angrenzenden Zimmer fährt ein Mann neben einem Türrahmen mit einem Detektor über die Wand. 0:20:35 Ein Blick durch einen Türspion: Dreymans Wohnungstür öffnet sich. Der Einsatzleiter späht ins Treppenhaus. Wiesler kommt aus der Wohnung und geht die Treppe weiter nach oben bis zum Dachboden. Er öffnet die Tür mit einem Werkzeug. Wiesler steht unter dem Gebälk des Dachstuhls und blickt sich auf dem leeren geräumigen Dachboden um. Durch eine fensterreihe scheint Tageslicht herein. 0:21:05 In Dreymans Wohnung. Der Einsatzleiter und Wiesler holen ihre Stoppuhren hervor. Eine dunkelhaarige Frau Mitte fünfzig späht durch den Spion in ihrer Wohnungstür. 0:21:18 Im Okular des Spions: Wiesler verlässt als letzter Dreymans Wohnung. Er sieht herüber und bemerkt im Spion eine Bewegung. Die Dunkelhaarige schreckt zurück. Wiesler kommt direkt auf ihre Tür zu. Der Einsatzleiter stellt sich hinter ihn. Sie zuckt zusammen. (Frau Meineke) Ja? - (Wiesler) Frau Meineke, ein Wort zu irgendwem und Ihre Marsha verliert morgen ihren Medizinstudienplatz. 0:21:46 Frau Meineke schluckt und hält den Blick gesenkt. (Wiesler) Haben Sie das verstanden? Ja. (Wiesler) Schicken sie Frau Meineke zur Anerkennung für ihre Verschwiegenheit ein Geschenk. 0:21:58 Neben einer Wohnungstür drei Klingelknöpfe. Einer mit der Namenschild Jerska wird gedrückt. Dreyman steht schmunzelnd vor der Wohnung. Ein Mann um die sechzig mit Dreitagebart öffnet lächelnd. (Jerska) Schon wieder Donnerstag. Die Zeit vergeht so schnell. Ist ja auch gut so. 0:22:17 Sie gehen durch den Flur. Dreyman blickt in die Küche zu einem dicken Mann und einer molligen Frau. Dreyman folgt Jerska in ein Zimmer und schließt die Tür. Er zieht seinen Mantel aus. Jerska sitzt in einem abgewetzten Ledersessel und gießt Rotwein in zwei Gläser. [Hund bellt, Ehepaar streitet] (Dreyman) Wie geht's dir? - (Jerska) Gar nicht so schlecht. [Tür knallt] Der Lärmpegel ist nicht immer so. (Dreyman) Ich weiß, nur an Donnerstagen. - (Jerska lacht) Ja.

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0:22:44 Dreyman setzt sich. Auf Möbeln und am Boden sind zahllose Bücher gestapelt. (Dreyman) Wir haben dich vermisst bei der Premiere. - (Jerska) Hatte Schwalber etwa einen guten Einfall? 0:22:53 Auf einem Tisch vor Jerska leeren Weinflaschen. (Dreyman) Was gut war, hat er von dir geklaut. - (Jerska) So bleib ich lebendig. 0:22:59 Dreyman steckt sich eine Zigarette in den Mund. (Jerska) Nimm's mir nicht übel, aber ich kann den Anblick von diesen fetten, aufgetakelten Menschen bei so 'ner Premiere nicht mehr ertragen. Das klingt nicht nach mir, wenn du's so sagen willst. Aber vielleicht klingt gerade DAS nach mir, vielleicht war das damals der falsche Jerska. Freundlich und menschenlieb durch das Kraftfutter des Erfolgs, den ich der Gnädigkeit der Bonzen zu verdanken hatte. Aber ich werd' nicht mehr lange jammern. In meinem nächsten Leben werde ich einfach auch Schriftsteller. Ein Glücklicher Schriftsteller, der immer schreiben kann. Wie du. Was hat ein Regisseur, der nicht inszenieren darf? Nicht mehr als ein Filmvorführer ohne Film, ein Müller ohne Mehl, er hat gar nichts mehr. Gar nichts mehr. 0:24:09 Trübsinnig starrt Jerska vor sich hin. (Dreyman) Albert... Auf der Premierenfeier war auch der Minister Hempf. 0:24:16 Jerska haucht auf. (Dreyman) Ich habe mit ihm über dein Verbot gesprochen. 0:24:22 Sie schauen sich an. (Dreyman) Es sieht gut aus. Er hat mir Hoffnung gemacht, ganz wörtlich, ganz konkret. - (Jerska) Wirklich? Das ist schön. 0:24:44 Auf dem Dachboden. Die Fenster sind mit Platten zugenagelt. Eine Neonröhre leuchtet über zwei Tischen und einem Rollwagen mit elektronischen Geräten die übereinanderstehen. Wiesler geht auf den Arbeitsplatz zu. Davor ein Drehstuhl. Er schaltet eine Tischlampe ein, nimmt einen Bogen Papier und schwand ihn in eine Schreibmaschine. Auf einem Monitor sieht er wie Dreyman auf die Haustür zukommt. Wiesler setzt sich Kopfhörer auf. 0:25:11 Dreyman zieht im Flur seinen Mantel aus. Im Wohnzimmer steht Christa in einem schwarzen Samtkleid auf einer Klappleiter und befestigt bunte Scherenschnitte an einer Schnur. Dreyman umfasst Christa und küsst sie auf die Hüfte. (Christa) Billiger georgischer Wein, Marke Jerska. Und wie geht's unserem heiligen Trinker, kommt er? 0:25:36 Er lässt sie los. (Dreyman) Hab' vergessen ihn zu fragen. 0:25:40 Christa legt ihm die Hand auf die Schulter und steigt die Leiter ein Stück herunter. (Christa) Du bist stark und kraftvoll und genauso brauch' ich dich. Hol dir nicht diese Kaputtheit in dein Leben. - (Dreyman) Albert ist mein Freund. Und du bist meiner. - Sieht aus wie zum fünfzigsten, dabei bin ich doch 40, oder? Und vergiss nicht, dass du mir versprochen hast, dass du zu deinem Geburtstag einen Schlips anziehst.

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Das würd' ich ja gerne machen, ich hab' leider keinen. 0:26:01 An seinem Schreibtisch zündet er sich eine Zigarette an. (Christa) Bon anniversaire! 0:26:07 Lächelnd hält sie ihm eine längliche Schachtel hin. (Dreyman) Ein Schlips? - (Christa) Du hast doch gesagt du willst keine Bücher. 0:26:14 Er öffnet die Schachtel. (Christa) Oder kannst du am Ende gar keinen Schlips binden, du alter Arbeiterdichter? - (Dreyman) Ich kein Schlips binden? Ich bin mit Schlips geboren. Du vergisst, dass ich mich mit eigener Kraft von den Fesseln des Bürgertums freikämpfen musste. Dann lege sie nur für mich noch einmal an... die Fesseln. 0:26:33 Sie legt ihm den braunen Schlips um den Hals. Er zieht ihn ab, geht in den Flur und stellt sich vor das Schränkchen. Darüber hängt ein Spiegel. (Dreyman) So... Schlips binden... Kleinigkeit. 0:26:42 Er stellt seinen Hemdskragen hoch, legt den Schlips um und bindet unbeholfen einen Knoten. Er schiebt ihn hoch; der Knoten sitzt schief. Dreyman dreht den Kopf zur Wohnungstür. Frau Meineke kommt die Treppe hoch. (Dreyman) Frau Meineke, kommen sie für einen Moment rein? 0:27:05 Frau Meineke legt einen Beutel in ihrer Wohnung ab und geht zu Dreyman. 0:27:10 Wiesler mit Kopfhörern lauscht. (Dreyman) Sie können doch sicher einen Schlips binden? 0:27:14 Frau Meineke stellt sich vor ihn und bindet mit angespanntem Gesicht einen neuen Knoten. (Dreyman) Sie haben keine Ahnung wie dankbar ich ihnen bin. 0:27:20 Er beobachtet sie beim Schlipsbinden im Spiegel. (Dreyman) Geht sie nicht gut? - (Frau Meineke) Doch, mir geht's gut. Fertig? 0:27:33 Sie nickt. Er klappt den Hemdskragen runter, und betrachtet sich im Spiegel. (Dreyman) Großartig, der ist perfekt, besser geht's nicht. Das muss aber unser Geheimnis bleiben. Sie können doch ein Geheimnis bewahren? - (Frau Meineke) Doch. 0:27:47 Eilig läuft sie aus der Wohnung. 0:27:50 Wiesler presst die Lippen zusammen. 0:27:55 Christa kommt mit einem Tablett leerer Gläser ins Wohnzimmer. Dreyman steht in der Tür. (Christa) Donnerwetter. Und ich dachte wirklich du kannst es nicht. Du hältst doch sonst nicht mit deinen Fähigkeiten hinterm Berg. - (Dreyman) Du ahnst ja nicht, was ich sonst noch alles kann. 0:28:07 Sie stellt die Gläser auf einen Tisch mit Spirituosen. [Klingeln] (Christa) Der erste Gast. 0:28:13 Sie drückt den Türöffner. [Klingeln]

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(Christa) Unsere lieben braven Nachbarn haben mal wieder unten zugesperrt. Gehst du? - (Dreyman) Ja, ich geh' schon. 0:28:29 Christa legt Ohrringe an. Ihr Haar trägt sie hochgesteckt. Aus einer Manteltasche holt sie ein Pillengläschen. Sie schließt die Wohnungstür. Christa lehnt sich mit dem Rücken dagegen, steckt sich eine Tablette in den Mund und kaut. Ernst starrt sie vor sich hin. 0:28:45 Bei der Feier. Dreyman unterhält sich mit einem Gast. Ein Pärchen kommt. (Gäste) Meister! Unsere Gaben! - (Dreyman) Ich hab' doch ausdrücklich gesagt keine Bücher. Danke. 0:28:55 Dreyman wickelt etwas Längliches aus. (Christa) Wollt ihr 'was trinken? - (Gäste) Gerne, 'ne Selters. Für mich Wodka. - (Dreyman) Ich hol euch was. 0:29:02 Dreyman geht zwischen den Gästen hindurch, die in Gruppen zusammenstehen oder sitzen. Er kommt ins Wohnzimmer und stutzt. Dann geht er zu einem kräftigen schwarzhaarigen Mann mit Vollbart und Nickelbrille. (Dreyman) Was soll das, warum sitzt Albert dort ganz allein? - (Wallner) Er will nicht mit uns reden. Er hat uns alle abgewiesen. 0:29:18 Sie blicken zu Jerska, der lesend auf einem Sofa sitzt. Dreyman kommt zu ihm. Er nimmt einen Stapel Bücher vom Polster und setzt sich neben Jerska. Der nimmt seine Brille ab, klappt das Buck zu und gibt Dreyman ein in Packpapier eingewickeltes Geschenk. (Jerska) Ich hab' dir auch etwas mitgebracht. - (Dreyman) Bist du wirklich hier hergekommen um zu lesen? Ist immerhin Brecht. 0:29:44 Wiesler macht sich Notizen. (Jerska) Ich komm mir vor wie ein Hochstapler unter all diesen Leuten. - (Dreyman) Hochstapler? Albert, komm! Du verlierst den Bezug zur Realität. Du weißt doch wie wir dich bewundern, wie alle dich bewundern. Ja, für etwas, das ich vor 10 Jahren gemacht habe und wahrscheinlich gar nicht mehr könnte. 0:30:13 Dreyman dreht sich langsam zu ihm. Hauser geht hinter Schwalber her. (Hauser) Ah, mein Lieblingsregisseur, warte doch mal einen ganz kleinen Moment. Ich muss mal mit dir reden. Erklär' mir doch mal bitte genau wie du in diese Position gekommen bist, mh? 0:30:26 Schwalber wendet sich ab. (Hauser) Durch Talent. Natürlich! Aber was hast du sonst noch gemacht? Das du Nichtskönner bei der Stasi bist, das weiß doch jeder! - (Schwalber) Das ist eine unglaubliche Unterstellung! - (Dreyman) Was? 0:30:39 Dreyman geht dazwischen. (Dreyman) Schwalber, entschuldigen sie meinen Freund, er hat zu viel getrunken. 0:30:41 Schwalber geht. Dreyman nimmt Hauser beiseite. (Hauser) Was sollte denn das? Du weißt doch, dass er bei der Stasi ist.

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- (Dreyman) Nein, Paul. Wissen tu ich es nicht. 0:30:53 Sie schauen sich in die Augen. Hauser holt tief Luft, senkt den Blick und geht. Im Flur stellt er sein Glas ab. Dreyman folgt ihm. Hektisch versucht Hauser seine Lederjacke anzuziehen. Dabei kämpft er mit einem umgestülpten Ärmel. Der andere hängt ihm schlaff über der Schulter. (Hauser) Du bist so ein jämmerlicher Idealist, dass du schon fast ein Bonze bist. Wer hat denn Jerska so kaputt gemacht? Genau solche Leute! Spitzer, Verräter und Anpasser! Irgendwann musst du Position beziehen, sonst bist du kein Mensch! Wenn du je etwas unternehmen willst, dann melde dich bei mir. Ansonsten brauchen wir uns nicht mehr zu sehen. 0:31:34 Dreyman, die Hände in den Hosentaschen, steht reglos im Flur. 0:31:37 Wiesler sitzt vor der Schreibmaschine. Links und rechts von ihm stehen die elektronischen Geräte. Wiesler schiebt den Wagen der Schreibmaschine nach rechts und beginnt zu tippen. 0:31:48 Im Wohnzimmer. Dreyman packt Geschenke aus. Christa liegt auf dem Sofa. An der Wand darüber ein riesiges abstraktes Gemälde. (Christa) Viel Geschmack haben deine Freunde nicht. - (Dreyman) Das ist wirklich ungerecht. Hier zum Beispiel der Rückenkratzer. Ist doch wunderschön! Das ist 'ne Salatgabel. - Trotzdem...wunderschön. Guck mal hier. 0:31:14 Ein Füllfederhalter. (Dreyman) Mit dem werde ich mein neues Stück schreiben. - (Christa) Du hast eben auch keinen Geschmack! In manchen Sachen schon. 0:31:23 Er dreht sich zu ihr um. Sie setzt sich auf, er setzt sich dicht neben sie und stutzt. Unter seinem Oberschenkel zieht er das Geschenk in Packpapier hervor. (Dreyman) Von Jerska. - (Christa) Er hat dir natürlich doch ein Buch geschenkt. 0:31:45 Dreyman hält ein Notenheft mit dem Titel ‚Sonate vom guten Menschen‘ in seinen Händen. Er wirft es auf den Boden. Zärtlich streicht er über Christas Wange. Sie küssen sich leidenschaftlich. Seine rechte Hand wandert auf ihren Schenkel und schiebt das Kleid ein Stück hoch. Christas dunkler Strumpfhalter kommt zum Vorschein. Sie löst seinen Schlips. Er öffnet an ihrem Rücken den Reißverschluss des Kleides und entblößt ihre Schulter. 0:33:13 Die Typenhebel der Schreibmaschine schlagen aufs Papier. (Sprecher) 23:04 Uhr: „Lazlo“ und CMS packen die Geschenke aus. Danach vermutlich Geschlechtsverkehr. 0:33:20 Ein korpulenter Mann mit strähnigen Haaren kommt herein. (Wiesler) Sie sind zu spät. - (Kollege) Entschuldigen Sie, Genosse Hauptmann. Ich bin in so'ne Rotphase geraten, da kann man leicht mal 4 Minuten verlieren. Wissen sie ja, wie das ist. 0:33:31 Wiesler nimmt die Kopfhörer ab und hält sie seinem Kollegen hin. Der setzt sie auf. Wiesler erhebt sich, der andere setzt sich auf den Stuhl.

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(Kollege) Die sind ja schon bei der Sache! Das gibt's ja gar nicht. Diese Künstler. Bei denen geht's ab. Wissen sie Kollege, deswegen überwache ich lieber Künstler als Priester und diese Friedensapostel. 0:33:52 Wiesler macht mit unbewegter Miene seinen Anorak zu. (Wiesler) Bis morgen früh 11 Uhr. 0:33:57 In einem Archiv. Wiesler blättert in einem Karteikasten. Grubitz geht zu ihm. Wiesler zieht eine Karte heraus. (Grubitz) Wiesler, wie gewohnt systematisch. Ich lasse die Akte rausholen. Gehen wir Mittagessen. 0:34:11 Wiesler steckt die Karte zurück. Sie durchqueren das hallenartige Archiv mit zahllosen elektronischen Karteikästen aus Stahl. 0:34:18 In der Kantine. Über der Ausgabe steht: Linseneintopf 0,6 Mark. Grubitz und Wiesler gehen mit Tabletts zwischen langen Tischen hindurch. Wiesler geht zu einem Tischende. [Durchsage) Die BSG Volleyballer treffen sich heute wie gewohnt um 19 Uhr in der kleinen Turnhalle.] (Grubitz) Du warst lang nicht mehr hier. Der Stabstisch ist dort. - (Wiesler) Irgendwo muss der Sozialismus doch beginnen. 0:34:32 Zögernd setzt sich Grubitz ihm gegenüber. Am anderen Tischende sitzen drei junge Männer beim Essen. 0:34:38 (Grubitz) Wegen deiner Autokennzeichenanfrage von der Limousine, die Frau Sieland nachts heimlich nach Hause gebracht hat. Es handelt sich um den Wagen von Minister Hempf. 0:34:48 Wiesler sieht kurz zur Seite und isst weiter. (Grubitz) Wiesler, führende Genossen dürfen wir nicht erfassen. Ich hab' die Erwähnung aus deinem Bericht gestrichen. In Zukunft nichts Schriftliches mehr darüber, wenn es etwas gibt, dann mündlich an mich. Wir helfen also einem ZK Mitglied seinen Rivalen aus dem Weg zu schaffen. Ich brauch' dir wohl nicht zu sagen, was es angesichts dieser neuen Information für meine Karriere bedeutet. Und für deine. Wenn wir etwas finden. 0:35:18 Grubitz beginnt zu essen. Er ist Mitte vierzig, hat eine hohe Stirn und aschblondes Haar mit Seitenscheitel. (Wiesler) Sind wir dafür angetreten? Weißt du noch unseren Eid damals? Schild und Schwert der Partei zu sein. - (Grubitz) Was ist denn die Partei anderes als ihre Mitglieder? Und wenn die großen Einfluss haben, umso besser. 0:35:37 Ein blonder Mann… (Mann) Ich hab wieder einen neuen. 0:35:39 …setzt sich zu den dreien ans Tischende. (Mann) Honecker kommt früh morgens in sein Büro, öffnet das Fenster, sieht die Sonne und sagt... Was ist? 0:35:47 Die anderen gucken auf ihre Teller, sie nicken zum Tischende. Der Blonde dreht den Kopf zu Wiesler und Grubitz. (Mann) Oh, Entschuldigung...das war...ich hatte...

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- (Grubitz) Nein, nein, ich bitte Sie, Herr Kollege, ich bitte Sie! Man wird doch über den Staatsratsvorsitzenden noch lachen dürfen! Den Witz kenn' ich wahrscheinlich sowieso schon. Na kommen Sie, erzählen Sie. (Mann) Also... Hone...also der Genosse Generalsekretär sieht die Sonne und sagt „Guten Morgen, liebe Sonne!“ - (Grubitz) „Guten Morgen liebe Sonne!“ so. 0:36:25 Der Blonde lächelt unsicher. (Mann) Und die Sonne antwortet: „Guten Morgen, lieber Erich!“ Und am Mittag geht Erich wieder zum Fenster, macht es auf, sieht die Sonne und sagt: „Guten Tag, liebe Sonne!“ Und die Sonne sagt: „Guten Tag, lieber Erich!“ Und abends, nach Feierabend, geht Honecker wieder ans Fenster und sagt: „Guten Abend liebe Sonne!“ Und die Sonne sagt nichts. Also fragt er nochmal: „Guten Abend liebe Sonne. Was hast du?“. Und da sagt die Sonne: „Ach leck' mich doch am Arsch! Ich bin jetzt im Westen!“ 0:36:54 Nur Wiesler bleibt ernst. (Grubitz) Name? Dienstgrad? Abteilung? 0:37:01 Der Blonde starrt ihn mit offenem Mund an. Selbstgefällig fixiert Grubitz ihm. (Mann) Ich? Stigler. Unterleutnant Axel Stigler. Abteilung M. - (Grubitz) Ich brauch ihnen wohl nicht zu sagen, was das für ihre Karriere bedeutet. Was Sie da gerade getan haben. Genosse Oberstleutnant, ich... ich hab' doch nur... - Sie haben doch nur unsere Partei verhöhnt. Das war Hetze. Und sicher nur die Spitze des Eisberges. Das werd' ich dem Büro des Ministers melden. 0:37:34 Stiegler lässt die Schultern hängen und sieht vor sich hin. Grubitz und Wiesler wechseln einen Blick. [Grubitz lacht] Das war doch nur Spaß! Der war gut, ne? Aber Ihrer war auch gut. Ich kenn' aber noch 'nen Besseren. Was ist der Unterschied zwischen Erich Honecker und einem Telefon? Hm? Na? Na keiner. Aufhängen, Neu wählen! 0:38:01 Stiegler lächelt unsicher. Wiesler schaut Grubitz nachdenklich an. 0:38:07 Dreyman sitzt rauchend in seinem Arbeitszimmer und schreibt. Er trägt eine Lesebrille. Dreyman hält inne. In Gedanken fährt er sich mit einem Finger über die Unterlippe. Er ist groß und muskulös, hat eine hohe Stirn, braune Augen und ist glattrasiert. Sein braunes nackenlanges Haar ist zurückgekämmt. 0:38:25 Auf dem Dachboden. Wiesler zeichnet den Grundriss von Dreymans Wohnung mit Kreide auf den Holzboden. Er steht auf und geht langsam durch ein Zimmer mit der Beschriftung CMS. Wiesler hat die Kopfhörer auf. 0:38:37 Christa und zwei Frauen kommen aus einem Gebäude. (Freundin) Kommst mit? - (Christa) Nee du, ich muss nach Hause. Nacht. 0:38:43 Christa geht eine Straße entlang. Sie trägt einen braunen Mantel und eine Pelzmütze. Von hinter nähert sich ein Auto. (Hempf) Kalt? 0:38:53 Christa dreht kurz den Kopf und geht weiter (Hempf) Christa, du hast unsere Verabredung am Donnerstag vergessen. 0:38:58 Der Wagen fährt neben ihr her.

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(Hempf) Oder hatte dein Dichter vielleicht zwei Mal hintereinander Geburtstag? Komm, steig ein. Steig ein. 0:39:09 Die Limousine stoppt. Christa bleibt stehen. Sie dreht sich um und steigt in den Fond des Volvos. (Hempf) Du weißt nicht, was gut für dich ist. Sei unbesorgt. 0:39:22 Sie sitzt neben Hempf auf der Rückbank. Der nehmt ihr die Mütze ab und wirft sie auf die Bank vor ihnen. Christa sieht starr geradeaus. Hempf streicht ihr übers Haar. Dann über die Lippen. Das Licht der Straßenlaternen erhellt ihre Gesichter. (Hempf) Ich pass' schon auf dich auf. 0:39:42 Hempf Begleiter sitzt am Steuer, er sieht kurz in dem Rückspiegel. Hempf beugt sich zu Christa, packt sie im Nacken und zieht sie zu sich herüber. Er küsst ihren Hals. Christa macht sich steif. (Hempf) Sag, dass du es nicht auch brauchst. Sag ein Wort und ich lass dich sofort los. 0:40:03 Sie blickt ihn an. Hempf küsst sie heftig auf die Lippen und zerrt ihr den Mantel von den Schultern. Sie dreht den Kopf weg. (Christa) Ich bin verabredet. 0:40:14 Hempf lehnt sich zurück. (Hempf) Was glaubst du, wo ich hinfahre? Ich fahr' dich doch zu ihm! Da bist du nur noch schneller da! 0:40:25 Er knüpft ihre Bluse auf. Hempf ist Mitte fünfzig, hat ein fleischiges Gesicht, Doppelkinn und kurzes, schütteres Haar. Gierig gegrapscht er ihren linken Busen. Mit der anderen Hand drückt er ihren Kopf zu sich und küsst sie wieder. Zögernd schiebt Christa ihren linken Arm zwischen sich und Hempf. Dann legt sie die Hand auf seine Schulter. Hempf schiebt ihren Rock hoch, steht auf, öffnet seinen Gürtel, und zieht Hose und Unterhose nach unten. 0:40:56 Auf dem Dachboden. Wiesler hockt am Boden und zeichnet weiter. Er hebt den Blick und sieht auf dem Monitor wie die Limousine angefahren kommt. 0:41:05 Der Wagen hält am Straßenrand. 0:41:08 Langsam geht Wiesler auf den Monitor zu. Er bleibt davorstehen und setzt sich auf den Drehstuhl. (Wiesler) Zeit für bittere Wahrheiten. 0:41:20 Aus einem Gerät zieht er zwei Kabel heraus und hält die freiliegenden Enden aneinander. [Klingeln] 0:41:28 Dreyman sitzt am Schreibtisch. [Klingeln] 0:41:33 Er steht auf und setzt die Brille ab. [Klingeln] (Dreyman) Ja. 0:41:37 Wiesler dreht an einem Regler unter einer Pegelanzeige mit der Beschriftung ‚DIELE‘. 0:41:44 Dreyman drückt den Türöffner. (Dreyman) Diese Idioten! 0:41:51 Er geht aus der Wohnung. 0:41:53 Wiesler lehnt sich in seinem Stuhl zurück.

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0:41:56 Dreyman steckt den Schlüssel in die Haustür, stutzt, und zieht die Tür auf. Er schaut auf die Straße, gegenüber entdeckt er den Volvo. Er tritt einen Schritt zurück und beobachtet wie Christa aussteigt. (Hempf) Nächsten Donnerstag im Metropol. Fahren Sie. 0:42:18 Christa steckt sich die Bluse in den Rock. Langsam kommt sie über die Straße. Dreyman zieht sich ins dunkle Treppenhaus zurück und schließt die Haustür. Christa kommt auf das Haus zu. Sie wischt sich über das Gesicht. 0:42:36 Dreyman steht neben der teilverglasten Tür. Durch das Strukturglas sieht er Christas Silhouette. Er presst sich an die Wand. Christa steigt die Stufen hoch. 0:42:49 Wiesler schaut auf das Gerät mit den Pegelanzeigen. Der Zeiger unter der Aufschrift BAD schlägt aus. 0:42:56 Christa steht in der Badewanne unter der Dusche und wäscht sich zwischen den Beinen. Mit angewinkelten Armen lehnt sie sich an die geflieste Wand. Dreyman kommt in die Wohnung zurück. Langsam geht er durch den Flur, verharrt, und sieht zur Badezimmertür. Mit leerem Blick kommt er ins Wohnzimmer. Christa sackt zusammen. Dreyman setzt sich an einen Flügel. Er spielt mit einer Hand. Zusammengekauert sitzt Christa in der Wanne. Sie liegt ihren Kopf auf die Knie. Christa im Bademantel steht vor einem Spiegel mit Goldrahmen. Sie nimmt eine Tablette und macht das Pillengläschen zu. Ausdruckslos starrt sie in den Spiegel. Dreyman kommt ins Schlafzimmer. Christa liegt im Bademantel mit dem Rücken zur Tür auf dem Doppeltbett. Sie hat die Beine angezogen, die Arme vor der Brust gekreuzt, ihre Augen sind offen. Dreyman setzt sich auf die andere Betthälfte, er hat ihr den Rücken zugewandt. (Dreyman) Christa? - (Christa) Halt' mich einfach nur fest. 0:44:37 Er dreht sich zu ihr um. Dreyman legt sich ganz dicht hinter Christa und umfasst ihren Oberkörper. Tränen glänzen auf ihrem Gesicht. Sie schließt für einen Moment die Augen. 0:44:58 Auf dem Dachboden. Wiesler hängt schlafend über der Stuhllehne. Er hat die Kopfhörer auf. (Kollege) Guten Abend, Genosse Hauptmann. 0:45:06 Wiesler steht auf. (Wiesler) Sie sind schon wieder fünf Minuten zu spät. 0:45:10 Er legt die Kopfhörer ab. Der Kollege schaut auf die Uhr, Wiesler verlässt den Dachboden. 0:45:18 Ein Auto fährt im mehrspurigen Kreisverkehr. In der Mitte vom Platz ein Brunnenbecken. 0:45:23 Wiesler in einem Fahrstuhl. In der linken Hand hält er eine Aktentasche, seine rechte Hand steckt im Anorak. 0:45:31 In Wieslers Wohnung. Im Bad wäscht er sich das Gesicht, schaut kurz in den Spiegel. [Klingelt] 0:45:39 Sorgfältig trocknet er sich ab. Er hängt das Handtuch auf und geht in den Flur zur Gegensprechanlage. (Wiesler) Guten Abend. 11 Etage, rechter Gang. - (Frau) Ich bin schon oben.

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0:45:57 Zögernd öffnet er die Tür. (Wiesler) Wie sind sie denn ins Gebäude gekommen? - (Frau) Hier wohnen noch andere Jungs vom MfS. 0:46:06 Eine große mollige Frau mit wasserstoffblonden langen Haaren. (Frau) Ich glaube bei dir war ich noch nie. 0:46:10 Sie zieht ihren Ledermantel aus. (Wiesler) Das glaube ich auch nicht. 0:46:14 Schüchtern betrachtet er sie. Die Mollige sitzt auf Wieslers Schoss. Sie ist nackt und bewegt sich auf und ab. Seine Hände umfassen ihre breiten Huften. (Frau) Na? Hat das gut getan? 0:46:30 Er presst sein Gesicht zwischen ihre üppigen hängenden Brüste. Sie steht auf. (Wiesler) Bleib doch noch etwas bei mir. - (Frau) Ich kann nicht, ich hab' um halb den nächsten Kunden. 0:46:42 Der bleibt auf dem Sofa sitzen. Ich arbeite nach Termin. 0:46:46 Die Mollige verschwindet im Bad. Sie trägt einen Hüftgürtel, dazu schwarze Strümpfe. Wiesler schaut auf seine Armbanduhr. (Wiesler) Halb zwei, das schaffen Sie sowieso nicht mehr. - (Frau) Klar schaff' ich das, mach dir mal keine Sorgen. 0:46:58 Sie kommt in einem kurzen schwarzen Glitzerkleid zurück. (Frau) Und das nächste Mal länger buchen. Tschüss. 0:47:09 Wiesler sitzt mit hoch gezogener Hose auf dem Sofa, abwesend blickt er ins Leere. 0:47:19 Wiesler betritt Dreymans Wohnung. Im Durchgang zwischen Wohn- und Arbeitszimmer bleibt er stehen und sieht sich im Arbeitszimmer um. Tageslicht fällt herein. Die Wände in beiden Zimmern sind Ockerfarben, die Decken weiß. Langsam geht Wiesler zum Schreibtisch, die Hände in den Jackentaschen. Auf dem Tisch liegen die Salatgabel und der goldene Füllfederhalter, daneben Zeitschriften. Lange lässt Wiesler seinen Blick darauf ruhen. Im Schlafzimmer hockt er sich neben das Bett. Zaghaft legt er seine Hand auf das Laken. 0:48:01 Wiesler kommt in seine Wohnung. Er hängt den Schlüssel ans Schlüsselbrett und stellt seine Tasche ab. 0:48:07 Bei Dreyman. (Christa) Georg? Hast du schon gehört wegen Hauser...? - (Dreyman) Nein, was denn? Seine Vortragsreise in den Westen fällt flach, er kriegt keinen Reisepass. 0:48:17 Dreyman sitzt am Schreibtisch. (Dreyman) Wundert dich das? Wenn er sich so arrogant verhält, dann muss er mit so etwas rechnen. Würdest du den ausreisen lassen an deren Stelle? 0:48:25 Christa streicht ihm übers Haar. Wieslers Kollege stellt eine Plastedose mit Löffel zur Seite, nimmt die Füße vom Tisch und fängt an zu tippen. (Sprecher) „Lazlo“ befürwortet Ausreiseverbot für Hauser. 0:48:43 Er lehnt sich zurück und isst weiter. Christa kommt aus dem Arbeitszimmer ins Wohnzimmer. (Dreyman) Hast du eigentlich meinen gelben Brecht-Band gesehen? - (Christa) Wie?

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Den Brechtband. - Ich weiß nicht wo der ist. Komisch, ich hätte schwören können… 0:49:01 Wiesler liest in einem gelben Buch. (Buch) An jenem Tag im blauen Mondseptember, still, unter einem jungen Pflaumenbaum Da hielt ich sie, die Stille bleiche Liebe, in meinem Arm wie einen holden Traum. 0:49:14 Auf dem Deckel steht ‚Brecht‘. Und über uns im schönen Sommerhimmel war eine Wolke, die ich lange sah. Sie war sehr weiß und ungeheuer oben und als ich aufsah, war sie nimmer da. 0:49:26 Wiesler liegt auf seinem Sofa. Den aufgeschlagenen Brecht-Band in den Händen. 0:49:33 In Dreymans Wohnzimmer. Auf einem Schränkchen ein Telefon. [Klingeln] 0:49:38 Auf dem Dachboden. An einem Gerät blinkt ein Knopf. Daneben steht ‚Amt extern‘. Wiesler greift zu einem Hörer. 0:49:45 Dreyman kommt zum Telefon. (Dreyman) Ja? - (Wallner) Georg? Hier Wallner. Was ist es denn? 0:49:50 Wiesler hält den Hörer ans Ohr. (Wallner) Georg, es geht um Jerska. Er ist tot, er hat sich letzten Abend erhängt. 0:49:57 Dreymans Gesicht erstarrt. (Wallner) Georg? - (Dreyman) Ich leg' jetzt auf, ja? 0:50:15 Sein Brustkorb hebt und senkt sich. Er geht zum Flügel und setzt sich auf den Hocker. Schwermütig blickt er vor sich hin. Christa kommt ins Zimmer. Dreyman greift in einen Stapel Notenhefte und zieht die Sonate vom guten Menschen hervor. Dreyman spielt auf dem Flügel. Christas Hand liegt auf seiner Schulter. 0:51:12 Wiesler sitzt reglos vor der Schreibmaschine. Er hat die Kopfhörer auf. Er schluckt. Eine Träne läuft über seine Wange. (Dreyman) Ich musste daran denken, was Lenin über Appassionata gesagt hat. „Ich kann sie nicht hören, sonst bring' ich die Revolution nicht zu Ende.“ Kann jemand, der diese Musik gehört hat, ich meine wirklich gehört hat, noch ein schlechter Mensch sein? 0:52:24 Es ist dunkel. Wiesler geht auf das Hochhaus zu. 0:52:27 Er steigt in den Fahrstuhl. Ein brauner Ball hopst in die Kabine. Ein kleiner rotblonder Junge im grünen Parker rennt hinterher. Er hebt den Ball auf und klemmt ihn sich unter den Arm. Wiesler steht regungslos in der Ecke. Er hat beide Hände in den Anoraktaschen und blickt starr geradeaus. Der Junge schaut zu ihm hoch. (Junge) Bist du wirklich bei der Stasi? 0:52:51 Wiesler dreht bedächtig den Kopf und schaut zu dem Jungen hinunter. (Wiesler) Weißt du überhaupt, was das ist, die Stasi? - (Junge) Ja, das sind schlimme Männer, die andere einsperren, sagt mein Papa. So... Wie heißt denn dein... - Mein was?

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Ball! Wie heißt denn dein Ball? - Du bist aber komisch, Bälle haben doch keinen Namen. 0:53:21 Wiesler sieht wieder geradeaus. Er steigt aus. 0:53:26 Hempf und Grubitz in der Limousine. (Grubitz) Das ist alles geschehen, Genosse Minister. Die allerneuste operative Technik. Unter jedem einzelnen Lichtschalter, sogar im Klo. Eingangsbereich mit Maßnahme C... - (Hempf) Sie haben gesagt Sie finden etwas. Finden sie 'was. Ich will meinem schlimmsten Feind nicht geraten haben mich zu enttäuschen. 0:53:44 Die dunkelblaue Volvo-Limousine hält vor einem Gebäude mit grauer Fassade. (Hempf) Jetzt verschwinden Sie. 0:53:51 Grubitz steigt aus, der Volvo fährt weiter. 0:53:55 Hempf zu seinem Begleiter am Steuer. (Hempf) Nowack, sie werden jetzt Christa-Maria überwachen. Über jede Minute, die sie nicht mit mir ist, werden sie mir berichten, verstanden? 0:54:03 Nowack nickt. 0:54:05 Grubitz und Wiesler in der Kantine. (Grubitz) Wir haben Hauser die Ausreisegenehmigung für die Konferenz im Kulturabkommen nicht gewährt. Vielleicht bringt das 'was ins Rollen. Die Beiden sind ja sehr eng. 0:54:13 Er trinkt aus einer Kaffeetasse. (Grubitz) Und? Wie läuft's zwischen CMS und dem Minister? - (Wiesler) Sie sind morgen Abend verabredet, wenn ich den Rhythmus richtig verstehe. Gut! Sehr gut! Wir beide haben an dieser Liebesgeschichte viel zu gewinnen. Oder zu verlieren. Vergiss das nicht. 0:54:30 Er beißt in eine belegte Brötchenhälfte. 0:54:33 Dreyman sitzt mit aufgestützten Armen am Schreibtisch. Im Zimmer hinter ihnen liegt Christa auf einer Chaiselongue. Sie liest in einer Zeitschrift. (Dreyman) Früher hatte ich immer nur vor zwei Sachen Angst. Vor dem allein Sein und vor dem nicht schreiben können. Seit Alberts Tod ist mir das Schreiben egal und andere Menschen auch. Jetzt habe ich nur noch Angst ohne dich zu sein. - (Christa) Heute Abend darfst du dich aber nicht fürchten. 0:55:03 Sie legt ihm die Hand auf den Rücken. (Christa) Ich gehe nämlich nur für ein paar Stunden weg. - (Dreyman) Wohin? 0:55:08 Sie zieht ihren Mantel an. (Christa) Ich treffe eine Klassenkameradin, die gerade in der Stadt ist. Sie ist schon… - (Dreyman) Wirklich, Christa? 0:55:13 Sie hält inne. (Dreyman) Wirklich? - (Christa) Was fällt dir ein. Ich weiß es. Ich weiß, wo du hingehen willst. 0:55:27 Er dreht sich zu ihr um.

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(Dreyman) Und ich bitte dich, gehe nicht dahin. Du brauchst ihn nicht. Du brauchst ihn nicht. 0:55:40 Er steht auf. In einigem Abstand bleibt er vor ihr stehen. (Dreyman) Und ich weiß auch von den Medikamenten. Und wie wenig du deiner Kunst traust. Aber vertraue wenigstens mir. 0:55:58 Unverwandt schaut Christa ihn an. (Dreyman) Christa-Maria. Du bist eine große Künstlerin. Ich weiß es. Und dein Publikum weiß es auch. Du brauchst ihn nicht. Du brauchst ihn nicht. Bleib hier. Geh' nicht zu ihm. - (Christa) Nein? Brauch' ich ihn nicht? Brauch' ich dieses ganze System nicht? Und du? Du brauchst es ja dann auch nicht. Oder erst recht nicht... Aber du legst dich doch genauso mit denen ins Bett. Warum tust du's denn? Weil sie dich genauso zerstören können, trotz deines Talents, an dem du noch nicht mal zweifelst. Weil sie bestimmen, wer gespielt wird, wer spielen darf, und wer inszeniert. 0:57:01 Wiesler hört gebannt mit. Seine Hände liegen auf der Tastatur der Schreibmaschine. (Christa) Du willst nicht so enden wie Jerska. Und ich will es auch nicht. Und deshalb gehe ich jetzt. - (Dreyman) Du hast in so vielen Recht und ich will so viel anders machen. Aber ich bitte dich. Ich flehe dich an. Geh nicht. (Kollege) Na, Chef? Bin ich pünktlich? 0:57:29 Wiesler schreckt hoch. (Kollege) Lassen sie mich raten, was die gerade machen... 0:57:32 Er winkelt die Armen an, ballt die Fäuste und bewegt sein Becken vor und zurück. (Kollege) Na kommen Sie, ich übernehm' schon. Ich kann doch nicht verantworten, dass Sie wegen mir Überstunden machen. 0:57:40 Zögernd nimmt Wiesler die Kopfhörer ab und gibt sie seinem Kollegen. Der setzt sie auf und nimmt Wieslers Platz ein. (Kollege) „Gehe nicht durch diese Tür.“ Wo will sie denn hin? - (Wiesler) Treffen mit einer alten Klassenkameradin. 0:57:58 Der Kollege hantiert an Geräten. Wiesler beobachtet ihn unschlüssig. (Kollege) Detaillierten Bericht können Sie morgen lesen. Ich krieg' das hin. 0:58:06 Die Hände in den Jackentaschen steht Wiesler reglos neben dem Arbeitsplatz. (Kollege) Gute Nacht. 0:58:12 Wiesler geht. Vor der Tür bleibt Wiesler stehen. Aufgewühlt sieht er vor sich hin. Er atmet heftig. 0:58:29 Auf der Straße. Es ist dunkel. Wiesler entfernt sich mit gesenktem Kopf vom Haus. Rückwärts laufend sieht er an der Fassade hoch. Eine Passantin geht den Burgersteig entlang. Wiesler erschrickt und dreht sich abrupt um. Die Frau weicht ihm aus. Er überquert die Straße. Immer wieder guckt er zum Haus zurück. Hinter eine Hausecke versteckt er sich und beobachtet Dreymans Haus weiter. Neben Wiesler stützt sich ein Mann gebückt an die Wand. (Mann) Was glotzt’n so? 0:59:04 Wiesler öffnet eine Tür und kommt in eine fast leere Kneipe. 0:59:10 Er nickt dem Wirt hinterm Tresen zu und zieht den Reißverschluss seines Anoraks auf.

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(Wiesler) Selters. 0:59:16 Er geht zu einem Tisch. (Wiesler) Nein, ähm … Wodka. Doppelt. 0:59:23 Er setzt sich. Der Wirt füllt ein Schnapsglas. Am Tresen unterhält sich eine Frau mit einem Mann. (Wiesler) Nochmal das Gleiche. 0:59:30 Der Wirt kommt mit der Flasche zu ihm an den Tisch. Wiesler schaut kurz zum Wirt hoch und nickt. Christa kommt herein. (Christa) Bringen Sie mir einen Cognac, bitte. 0:59:51 Langsam führt Wiesler sein Glas zum Mund und trinkt es in einem Zug aus. Verstohlen blickt er zu Christa, die zwei Tische vor ihm sitzt. Sie hat ihm den Rücken zugewandt. Christa nimmt ihre Pelzmütze ab. Mit einer Hand greift sie sich ins Haar und wirft den Kopf in den Nacken. Sie trägt eine getönte Brille mit großen Gläsern. Niedergeschlagen stützt sie den Kopf in die Hand. Wiesler guckt sich unschlüssig um. Christa stützt den Cognac hinunter. Entschlossen steht Wiesler auf und stellt sich an Christas Tisch. (Wiesler) Gnädige Frau? - (Christa) Bitte lassen Sie mich in Ruhe, ich möchte alleine sein. 1:00:42 Sie senkt den Kopf. (Wiesler) Frau Sieland. 1:00:45 Sie blickt auf. (Christa) Kennen wir uns? - (Wiesler) Sie kennen mich nicht, aber ich kenne Sie. Viele Menschen lieben Sie, weil Sie sind wie Sie sind. Ein Schauspieler ist nie so wie er ist. Sie doch. 1:01:05 Er setzt sich ihr gegenüber. (Wiesler) Ich habe sie auf der Bühne gesehen. Sie waren da mehr so wie Sie sind als Sie es jetzt sind. 1:01:25 Wiesler sieht sie fast an. (Christa) Sie wissen wie ich bin? - (Wiesler) Ich bin doch Ihr Publikum. 1:01:35 Christa lächelt zaghaft und nickt. (Christa) Ich muss gehen. - (Wiesler) Wohin gehen Sie? Ich treffe eine alte Klassenkameradin. Ich... - Sehen sie? Da waren sie gerade gar nicht sie selbst. Nein? - Nein. 1:01:57 Sie setzt sich wieder und nimmt ihre Brille ab. (Christa) Sie kennen sie also gut, diese Christa-Maria Sieland. Was meinen Sie... Würde sie einen Menschen verletzen, der sie über alles liebt? Würde sie sich verkaufen für die Kunst? - (Wiesler) Verkaufen für die Kunst? Die hat sie doch schon. Das wäre ein schlechtes Geschäft. Sie sind eine große Künstlerin. Wissen Sie das denn nicht?

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1:02:39 Christa weicht seinem Blick aus. (Christa) Und Sie sind ein guter Mensch. 1:02:44 Sie schaut ihn kurz an. Christa verlässt die Kneipe. 1:03:02 Auf dem Dachboden. Wieslers Kollege sitzt schlafend auf dem Stuhl. Wiesler kommt herein und zieht seine Handschuhe aus. Aus der Schreibmaschine zieht er das eingespannte Blatt und liest. (Sprecher) Bei meiner Übernahme streiten Lazlo und CMS darüber, ob CMS zu dem treffen mit der Klassenkameradin (?) gehen soll. Schließlich geht sie. Lazlo scheint hierüber unglücklich. 1:03:32 Dreyman und Christa fallen sich in die Arme. (Sprecher) Nach etwa 20 Minuten kehrt CMS aber schon zu Lazlo zurück, zu seiner und meiner Überraschung. Er scheint hierüber sehr glücklich. Heftige Intimitäten folgen. 1:03:43 Dreyman und Christa sind nackt. Sie sitzt auf seinem Schoss, rhythmisch bewegen sie sich auf und ab. (Sprecher) Sie sagt, sie wird jetzt nie mehr weggehen. Er sagt wiederholte Male: „Jetzt werde ich die Kraft haben, ich werde etwas tun.“ Hiermit ist vermutlich gemeint, dass er ein neues Theaterstück schreiben wird. Die Stückeproduktion von Lazlo war nämlich über die letzten Wochen von Schwierigkeiten geplagt. Was sie mit ihren Äußerungen meint, ist unklar. Vielleicht dass sie sich mehr um Lazlos Haushalt kümmern will als zuvor. Der Rest der Nacht verläuft friedlich. (Kollege) Oh, Genosse Hauptmann… Ähm... Das war nur, weil... er schläft auch noch. - (Wiesler) Guter Bericht. 1:04:26 Überrascht sieht der Kollege zu ihm hoch. (Kollege) Echt jetzt? 1:04:31 Ein Sarg aus Eichenholz steht über einem offenen Grab auf zwei Latten. Männer ziehen Seile darunter hindurch. Unter den Trauernden ist Dreyman. Hauser kommt zu ihm und legt ihm den Arm um die Schulter. Er presst die Lippen aufeinander. (Hauser) Ich wusste nicht, dass es so schlimm um ihn steht. - (Dreyman) Ich auch nicht. 1:04:53 Eine ältere und eine junge Frau stehen zusammen. Wallner, der Mann mit Vollbart und Nickelbrille, steht allein. Er senkt den Blick. (Dreyman) Von einem, der rüber machte: Die staatliche Zentralverwaltung für Statistik in der Hans Beimler Straße zählt alles, weiß alles. Wie viele Schuhe ich pro Jahr kaufe: 2.3. Wie viele Bücher ich im Jahr lese: 3.2. Und wie viel Schüler jedes Jahr mit 1.0 ihr Abitur machen: 6347. 1:05:19 Der Sarg wird hinabgelassen. (Dreyman) Aber eine zählbare Sache wird dort nicht erfasst. Vielleicht weil solche Zahlen selbst Bürokraten weh tun und das ist der Freitod. Sollten Sie in der Beimler Straße anrufen und fragen wie viele Menschen die Verzweiflung zwischen Elbe und Oder, zwischen Ostsee und dem Erzgebirge in den Tod getrieben hat, dann schweigt unser Zahlenorakel. Und notiert sich vermutlich genau Ihren Namen für die Staatssicherheit. Jene grauen Herren, die für Sicherheit sorgen in unserem Land und für Glück. 1977 hörte unser Land auf Selbstmörder zu zählen. ‚Selbstmörder‘, so nannten sie sie. Dabei hat diese Tat mit Mord doch gar nichts zu tun. Sie kennt keinen

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Blutrausch, sie kennt keine Leidenschaft, sie kennt nur das Sterben, das Sterben der Hoffnung. 1:06:12 Dreyman steht allein am Grab. (Dreyman) Als wir vor 9 Jahren aufhörten zu zählen, gab es nur ein Land in Europa, dass mehr Menschen in den Freitod trieb: Ungarn. 1:06:21 Dreyman am Schreibtisch. (Dreyman) Danach kamen gleich wir. Das Land des real existierenden Sozialismus. Einer dieser Ungezählten ist Albert Jerska. Der große Regisseur. Von ihm will ich heute Erzählen... [klingeln] 1:06:33 Dreyman vor einer Wohnungstür. Hauser öffnet. Er trocknet sich die Haare ab. (Dreyman) Ich habe versucht Statistiken zu bekommen, die zeigen… - (Hauser) Die zeigen wie viel erfolgreicher unsere Staatssicherheit arbeitet als wir so allgemein glauben. 1:06:43 Er legt den Finger auf den Mund, geht ins Wohnzimmer und drückt auf eine Taste am Schauplattenspieler. Er spricht Dreyman ins Ohr. (Hauser) Ich Idiot habe meinen Vortrag für drüben hier geprobt. 1:06:55 Er zeigt zur Decke, dann tippt er auf sein Ohr. (Hauser) Seitdem bin ich sehr musikalisch geworden. - (Dreyman) Wir können uns auch bei mir treffen. 1:07:06 Hauser beugt sich runter. Er hält ein Blatt hoch, darauf steht: 15 Uhr Ehrenmal . Er nickt Dreyman zu. 1:07:13 Auf dem Gelände am Ehrenmal. Dreyman sitzt auf Stufen und liest in Papieren. Hauser und Wallner kommen zu ihn. (Dreyman) Und? Jetzt sicher genug? 1:07:21 Dreyman steht auf. Hauser nickt. Er zeigt auf einen Mann der sich hinter einem Baum versteckt. (Hauser) Mein eigener kleiner ‚Leibwächter‘. Ich nenn' ihn Rolf. Wahrscheinlich heißt er auch so. Schieß' los. - (Dreyman) Hier. 1:07:38 Dreyman gibt ihn die Papiere. Hauser liest. Er ist Ende vierzig, schmächtig und hat wirres graues Haar. Er gibt die Blätter an Wallner weiter. (Hauser) Das willst du veröffentlichen? - (Dreyman) Im Westen, mit deiner Hilfe. Wirst du mir helfen? 1:07:52 Die Drei schlendern eine Freitreppe herunter. Im Hintergrund das Ehrenmal. (Hauser) Hast du Christa davon erzählt? - (Dreyman) Nein. Gut ich helfe dir unter der Bedingung, dass du's auch weiterhin vor ihr geheim hältst. - (Dreyman) Was? - (Wallner) Georg, es ist doch auch um sie zu schützen. 1:08:10 Er gibt Hauser das Manuskript. (Hauser) Das wär' was für'n ‚Spiegel‘. Mit einem der Redakteure bin ich ganz gut befreundet. Gregor Hessenstein. Kennst du ihn? - (Dreyman) Nicht persönlich.

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Du musst ihn treffen. Aber unter deinem eigenen Namen veröffentliche, kommt nicht in Frage. Es sei denn, dich reizt die rein sportliche Herausforderung eines 48 Stunden Verhörs. Mir ist kalt. 1:08:31 Er zieht seinen Parka enger um sich. (Dreyman) Doch zu mir? Bei mir ist keine Staatssicherheit. Persönlicher Freund von Margot Honecker, Nationalpreisträger, wenn ich daran erinnern darf… - (Wallner) Zweiter Klasse. Meine Wohnung ist sauber, ich sag's euch. - (Wallner) Wenn man da irgendwie sicher sein könnte... - (Hauser) Ich hätte schon eine Idee wie wir deine Wohnung überprüfen könnten. Ihr kennt doch meinen Onkel Frank, der jeden Samstag aus Westberlin zu Besuch kommt, mit seinem dicken goldenen Mercedes. 1:09:03 Bei Dreyman. (Dreyman) Also Herr Hauser, mir erscheint das alles doch ziemlich riskant. - (Wallner) Ja, da muss ich Georg Recht geben. Einfach die Rückbank ausbauen und ihren Neffen darunter verstecken? Ich weiß nicht. - (Frank) Kommt schon, die schauen da nicht drunter. Bisschen mit dem Spiegel unter die Achse, bisschen am Auspuff rumgekloppt, und ab geht er, bin drüben und Paul auch. Nee nee, das sind nicht die hellsten an der Grenze. Ihr seht das vollkommen falsch. 1:09:30 Dreyman gibt Hausers Onkel und Wallner ein Bier. (Dreyman) An welchem Grenzübergang fahren sie denn immer rüber? - (Frank) Heinrich-Heine Straße. 1:09:35 Wiesler hört mit. Seine Miene ist angespannt. (Frank) Die kennen mich da schon, die Jungs, mich und meinen goldenen Mercedes. Ich bin richtig befreundet mit den Grenzern. Glaubt mir, in zwei Stunden ruf ich euch an, mit 'ner Flasche Schultheiß in der Hand und gebe euch die Botschaft durch: Paul ist drüben. 1:09:51 (Wiesler) Nein. Was ist eigentlich mit Pauls Stasimann? - (Frank) Rolf glaubt, dass Paulchen zu Hause sitzt. So und jetzt muss ich los. Nicht dass der Junge mir erstickt in der Karre, wär' ja schade um den, nicht wahr? 1:10:08 Wiesler steht auf und nimmt die Kopfhörer ab. In einem Heft wandert sein Finger über eine Liste der Straßengrenzübergangsstellen zu ‚Heinrich-Heine-Straße‘. Dann zu der Telefonnummer daneben. 1:10:21 Dreyman und Wallner im Flur. (Dreyman) Noch ein Bier? 1:10:27 Wiesler dreht eine Wählscheibe. (Grenzer) Grenzübergangsstelle Heinrich-Heine-Straße? Teilnehmer? Teilnehmer? 1:10:37 Wiesler lässt den Hörer sinken. (Wiesler) Das eine Mal, Freundchen. 1:10:48 Auf dem Flügel stehen viele leere Flaschen Berliner Pilsner. Dreyman und Wallner sitzen rauchend auf dem Sofa. 1:10:56 Wiesler hat die Arme verschränkt. Er hat wieder die Kopfhörer auf.

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[Klingeln] 1:11:05 Wiesler drückt eine Taste und greift zum Hörer. 1:11:07 Dreyman steht auf. Wankend geht er zum Telefon. (Dreyman) Dreyman. - (Frank) Okay, wie versprochen, Paul wäre drüben. Überhaupt keine Kontrolle? - Nö, keine besonderen Kontrollen. Nur das Übliche, so schlimm sind die Jungs da gar nicht. Also, er wäre drüben. Na dann dank ich Ihnen vielmals, dass sie das für uns gemacht haben. - Keine Ursache, die Gefahr war nun wirklich nicht so groß. Ja, das stimmt auch wieder. Ja gut, dann bis bald und vielen Dank. - Tschüss. 1:11:40 Wiesler hängt den Hörer ein. (Wallner) Und was machen wir, wenn einer fragt, was wir hier eigentlich zusammen machen? - (Dreyman) Dann sagen wir... also... wir sagen ihr helft mir ein Stück zu schreiben. Ein Theaterstück. Zum 40. Jahrestag der DDR. - Ja. Irgendwie stimmt das ja sogar. Wer hätte gedacht, dass unsere Staatssicherheit so... unfähig ist? 1:12:17 Er breitet die Arme aus und spricht in Richtung Zimmerdecke. (Dreyman) Wer hätte gedacht, dass das solche Idioten sind. 1:12:27 Wiesler nickt. (Wiesler) Warte nur ab. 1:12:32 Er zieht die Hände aus den Jackentaschen und beginnt zu typen. (Sprecher) 19:32 Uhr. Keine weiteren berichtenswerten Vorkommnisse. 1:12:50 Wiesler blickt von seinem Bericht auf. Mit verhärteter Miene starrt er ins Leere. Das Bild wird schwarz. 1:12:59 Es ist Tag. Wieslers Kollege sitzt am Arbeitsplatz. Wiesler kommt zu ihm. (Kollege) Guten Tag, Genosse Hauptmann. Hören Sie sich das mal an. 1:13:07 Er hält ihm die Kopfhörer hin, Wiesler setzt sie auf. (Redakteur) Warum die Rate '67 am höchsten war, das ist für uns fast noch verständlich, aber 1977... Das müssen sie schon erklären. Sie müssen doch die sozialen Umstände deutlicher machen. 1:13:18 Ein Mann mit schütterem Haar. (Dreyman) Es soll ein literarischer Text bleiben, keine journalistische Hetzschrift. - (Redakteur) Der Text ist großartig, wie er ist. Ich will doch nur sicherstellen, dass er auch bei uns richtig verstanden wird. - (Hauser) Er wird Furore machen, so oder so. (Wiesler) Das ist Hauser! - (Kollege) Na klar ist das Hauser. Er ist ja gar nicht im Westen. 1:13:37 Verwundert blickt der Kollege Wiesler an. (Wiesler) Die schreiben zusammen ein Theaterstück. Zum Jubiläum, 40. Jahrestag. - (Kollege) Also... Mir klingt das ja nicht nach Theaterstück.

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Wonach klingt es denn für sie? - Ich weiß nicht, aber nicht nach Theaterstück. Sie machen sich viele Gedanken, Oberfeldwebel Leye. 1:14:04 Leye nickt schmunzelnd. (Wiesler) Sie sind doch kein Intellektueller? - Ich? Nee...also...sowas bin ich nicht. Dann verhalten Sie sich nicht wie einer. Ich habe Sie für diese Aufgabe ausgewählt, weil es hieß, dass sie die Technik beherrschen und keine Fragen stellen. 1:14:18 Er nimmt die Kopfhörer ab. (Wiesler) Überlassen Sie das Denken ihren Vorgesetzten. - (Kollege) Schon gut, Genosse Hauptmann. Ich geh' dann mal. Schönen Tag noch. Gute Arbeit. Ich mein' ich wünsche ihnen noch gute Arbeit. 1:14:33 Wiesler setzt die Kopfhörer wieder auf. (Dreyman) Das hier kann ich vielleicht anders schreiben. - (Redakteur) Ich lasse Ihnen dann noch zukommen, was wir an Materialien haben. Zwei Wochen, können Sie das schaffen? Dann könnt' ich Sie noch in die erste Märzausgabe hineinbringen. Vielleicht sogar als Titel. 1:14:50 Der Redakteur und Hauser gucken fragend. (Dreyman) Das ist Christa. 1:14:53 Die Männer stehen auf. (Christa) Georg? 1:14:57 Dreyman geht ihr entgegen. (Dreyman) Christa, das ist Gregor Hessenstein. 1:15:00 Der Redakteur reicht ihr die Hand. (Christa) Christa Sieland. - (Redakteur) Das weiß ich doch. Und? Was macht ihr hier so verschwörerisch? - (Dreyman) Hauser und ich, wir wollen zusammen ein Theaterstück zum 40. Jahrestag der Republik schreiben. Ein Stück zu zweit? - (Dreyman) Der Spiegel will vielleicht vorab darüber berichten. Und wer spielt die Hauptrolle? - (Hauser) Ja, das wollten wir dich sowieso fragen. Christa, wen würdest du lieber spielen? Lenin? Oder seine liebe alte Mutter? Du kannst es dir aussuchen. Gut, ich seh' schon, ich bin hier nicht erwünscht. Ich geh kurz schlafen. 1:15:29 Sie verschwindet im Flur. Dreyman schließt die Zimmertür. Die Männer kommen zurück ins Arbeitszimmer. (Redakteur) Ich finde Ihre Vorsicht löblich. Je weniger Menschen von diesem Projekt wissen, desto besser. Mit der Stasi ist nicht zu scherzen. 1:15:45 Aus einem Präsentkorb mit Jacobs-Kaffee, Bananen und Ananas zieht Hessenstein eine Tortenschachtel. (Redakteur) In dem Zusammenhang habe ich Ihnen auch etwas mitgebracht. 1:15:52 Er klappt sie auf, hebt die Torte heraus, darunter eine flache Schreibmaschine.

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(Dreyman) Die ganze Torte wäre mir lieber gewesen. Ich habe schon eine Schreibmaschine. - (Redakteur) Deren Schriftbild längst von der Stasi erfasst ist. Wenn dieser Text an der Grenze abgefangen wird, mit ihrer Maschine geschrieben, dann sind sie am nächsten in Hohenschönhausen. Und dass das nicht gerade viel Spaß macht, davon kann Paul ein Lied singen, was? 1:16:13 Hauser nickt. (Redakteur) Leider habe ich in diesem Miniformat nur ein rotes Farbband auftreiben können. Macht es Ihnen 'was aus den Artikel in rot zu schreiben? - (Dreyman) Daran soll's nicht scheitern. Haben sie einen Ort, wo sie diese Schreibmaschine verstecken können, nach jedem Gebrauch? - Ja, mir wird sicher 'was einfallen. Nehmen Sie das nicht auf die leichte Schulter. Ich will nicht den nächsten Artikel darüber schreiben müssen, dass niemand weiß, wo Georg Dreyman abgeblieben ist. Keiner aus uns dreien darf wissen, dass es diese Maschine überhaupt gibt. 1:16:41 Wiesler hört mit. (Redakteur) Die Wohnung ist wirklich sicher? - (Dreyman) Ja. 1:16:45 Hessenstein blickt zu Hauser. (Hauser) Diese Wohnung ist der letzte Ort in der DDR, wo ich ungestraft sagen kann, was ich will. - (Redakteur) Gut, dann lassen Sie uns darauf anstoßen. 1:16:54 Er holt eine Sektflasche aus dem Präsentkorb. (Redakteur) Die Flasche ist nämlich echt. Auf dass Sie Gesamtdeutschland das wahre Gesicht der DDR zeigen. 1:17:06 Der Korken knallt neben einem Lichtschalter an die Wand. 1:17:10 Wiesler zuckt zusammen und fasst an den linken Lautsprecher vom Kopfhörer. (Redakteur) Zum Wohl. Das ist schon besser als russische. Auf gutes Gelingen. 1:17:18 Wiesler rollt auf seinen Drehstuhl an den Arbeitstisch. 1:17:22 Mit einem Umschlag in der Hand geht Wiesler durch einen langen Gang. Er öffnet den Reißverschluss seines Anoraks. In einem Sekretariat. Wiesler kommt herein. Im Büro nebenan telefoniert Grubitz. Er trägt Uniform. (Wiesler) Zu Genosse Grubitz, Hauptmann Wiesler. Es ist dringend. 1:17:38 Grubitz winkt ihn herein. (Sekretärin) Der früheste Termin ist leider erst morgen, 14.30 Uhr. (Grubitz) Sag ihm, wenn er den IM enttarnt, dann wird seine ganze Kirche geschlossen! So einfach ist das. 1:17:50 Er deutet auf einen Platz vor sich. (Grubitz) Soll der Papst anrufen und sich beschweren! Ja, jetzt los, ich hab' mich lang genug mit diesem Blödsinn beschäftigt. Wiesler, gut, dass du da bist. Ich muss dir 'was zeigen. 1:18:01 Er hält ein DIN A4 großen Buch hoch.

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(Grubitz) „Haftbedingungen für politisch-ideologische Diversanten der Kunstszene nach Charakterprofil“. Ist das wissenschaftlich? Und schau mal hier: „Dissertation betreut durch Professor Anton Grubitz“. Wie gefällt dir das? Ist doch großartig, hm? 1:18:21 Wiesler verzieht keine Miene. (Grubitz) Ich hab' ihm zwar nur 'ne 2 gegeben. Die sollen nicht gleich denken, dass promovieren bei mir einfach ist. Aber es ist wirklich erstklassig. Wusstest du, dass es unter Künstlern zum Beispiel nur 5 verschiedene Typen gibt? Deiner zum Beispiel, Dreyman, das ist Typ 4, hysterischer Anthropozentriker. Kann nicht alleine sein. Muss immer reden und immer Freunde um sich haben. Bei so einem darf man es auf keinen Fall zum Prozess kommen lassen. Dann würde der aufblühen. Das muss alles in der U- Haft ablaufen. Ganz ohne Öffentlichkeit. Da wird man viel schneller mit dem fertig. Völlige Einzelhaft, ohne ihm zu sagen wie lange er drin sein wird. Kein Kontakt zu irgendwem in der ganzen Zeit, nicht einmal zu den Wächtern. Beste Behandlung derweil, keine Schikanen, keine Misshandlungen, Skandale... Nichts, worüber er später schreiben könnte. 1:19:06 Wiesler hält den Umschlag im Schoß. (Grubitz) Nach 10 Monaten lassen wir ihn frei. Überraschend. Der macht uns keine Probleme mehr. Weißt du, was das Allerbeste ist? Die meisten von diesem Typ 4, die wir so bearbeitet haben, schreiben nachher überhaupt nicht mehr oder malen nicht mehr oder was auch immer so Künstler tun. Und das ohne, dass wir irgendeinen Druck ausüben. Einfach so. Sozusagen... als Geschenk. Was führt dich zu mir? Entwicklung im Fall Dreyman? - (Wiesler) Darüber wollte ich mit dir sprechen. Ich glaube es ist an der Zeit... An der Zeit was? - ...Dass wir den Vorgang verkleinern. Ich möchte nicht Tages -und Nachtschicht für einen so...unsicheren Fall beanspruchen. (Grubitz) Unsicher, hm? Du glaubst also nicht, dass wir etwas finden? Für den Minister? - (Wiesler) Vielleicht wenn wir den Fall verkleinern, beweglicher machen. Wenn wir Lazlo auch außerhalb seiner Räume aufklären können. 1:20:09 Er rollt den Umschlag zusammen. (Grubitz) Soll ich Udo den Fall übergeben? - (Wiesler) Ich würde ihn gern selber weiterführen. Warum? - Es könnte schon noch 'was dabei herauskommen. Ich müsste nur freier einteilen können. Wann ich komme, wann ich gehe... Tags, nachts. 1:20:29 Grubitz zündet sich eine Zigarre an. (Wiesler) Vielleicht macht er ja 'was außerhalb seiner Wohnung. (Grubitz) Irgendetwas gefällt mir da nicht. 1:20:40 Er fixiert Wiesler. (Grubitz) Irgendetwas sagst du mir nicht. 1:20:45 Wiesler hält dem Blick stand. Mit zusammen gekniffenen Augen zieht Grubitz an seiner Zigarre. Wiesler deutet ein Lächeln an.

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(Grubitz) Also gut, ich ziehe Udo ab. Ich kann ihn ganz gut verwenden für diesen Kirchenfall. Reich' mir den Antrag ein, aber schriftlich. Und schreib als Begründung: Mangelnde Verdachtsmomente. 1:21:07 Wiesler steht auf und geht zur Tür. (Grubitz) Und Wiesler? 1:21:11 Der dreht sich noch einmal um. (Grubitz) Noch einen Rat: Wir sind nicht mehr in der Hochschule. Bei Projekten geht es nicht um Noten, sondern um Erfolg. 1:21:22 Wiesler nickt mehrmals kurz. 1:21:28 Dreyman sitzt am Schreibtisch und tippt auf der flachen kleinen Schreibmaschine. Am Abend liest Dreyman an Hauser und Wallner sein Manuskript vor. (Dreyman) Die Zentralverwaltung für Statistik in der Hans-Beimler Straße zählt alles, weiß alles. Wie viele Schuhe ich im Jahr kaufe: 2.3. Wie viele Bücher ich im Jahr lese: 3.2. Und wie viele Schüler jedes Jahr mit 1.0 ihr Abitur machen: 6347. 1:21:53 Wiesler sitzt steif auf dem Drehstuhl und hört mit. (Sprecher) 17:00 Uhr. „Lazlo“ liest Hauser und Wallner den ersten Akt des Jubiläumsstücks vor. 1:22:24 Dreyman entfernt eine breite Türschwelle. Im Hohlraum darunter versenkt er die flache Schreibmaschine und liegt das Manuskript darauf. Er baut die Türschwelle wieder ein. 1:22:51 Am Gerät mit den Pegelanzeigen dreht Wiesler an einem Regler. 1:22:55 Christa kommt aus einem Hauseingang. Neben der Tür an der maroden Fassade ein Schild: Zahnarztpraxis. Sie schaut sich um, zieht ihre Handschuhe an und geht die Straße entlang. Nowack sitzt gegenüber in einem Auto und beobachtet sie. Er blickt auf seine Uhr. 1:23:13 Dreyman steht vom Schreibtisch auf. In der einen Hand das Manuskript, in der anderen die flache Schreibmaschine. Er geht ins Wohnzimmer und hockt sich vor der Türschwelle zum Flur. Mit einem Werkzeug hebt er die Schwelle heraus, lehnt sie an den Türrahmen und verstaut die Schreibmaschine und die Manuskriptseiten im Hohlraum. Dreyman sieht zur Wohnungstür und hält inne. Christa kommt herein. Verwundert blickt sie zu ihm, senkt den Blick und schließt die Tür. Rasch verschwindet sie im Schlafzimmer. Dreyman schüttelt den Kopf und liegt die Schwelle wieder über den Hohlraum. 1:23:55 Im Schlafzimmer. Christa liegt in Dreymans Armbeuge. Zärtlich streicht sie über seinen Arm. (Dreyman) Es ist kein Theaterstück, was wir schreiben, Christa - (Christa) Du brauchst es mir nicht zu erzählen. Ich möchte es dir aber erzählen. Es ist ein Text... Sag's mir nicht. 1:24:09 Sie rollt sich auf ihn. (Christa) Vielleicht bin ich ja wirklich so unzuverlässig wie deine Freunde sagen. Ich bin jetzt ganz bei dir. Ganz egal was. 1:24:20 Sie küsst ihn auf den Mund. Dreyman schließt die Augen. 1:24:24 In einem Hotelzimmer. Hempf sitzt am Fußende eines unbenutzten Doppelbettes. Betrübt lässt er den Kopf hängen.

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1:24:32 Es ist Tag. In Dreymans Arbeitszimmer stellt Hessenstein seine Aktentasche kopfüber auf den Schreibtisch. Am Taschenboden zieht er aus einer Mittelnaht ein Metallstab heraus. In der Öffnung lässt er Dreymans Manuskriptseiten verschwinden. Dann schiebt er den Metallstab wieder in die Naht hinein. Der Boden schließt sich. Hessenstein dreht die Tasche um und gibt Dreyman die Hand. 1:24:55 Dreyman und Christa vor dem Fernseher. Die Tagesschau läuft. (Nachrichtensprecher) Bundesforschungsminister Riesenhuber, der den Bericht eingebracht hatte, betonte, dass es zur Rettung bereits geschädigter Wälder kein Patentrezept gebe. Anspannung im deutsch-deutschen Verhältnis. Das Nachrichtenmagazin der Spiegel veröffentlichte heute als Titelgeschichte den Text eines ungenannten ostdeutschen Autors zum Selbstmord in der DDR. Anlass war eine Reihe von Suiziden prominenter Ostberliner Künstler, zuletzt des Theaterregisseurs Albert Jerska. Jerska hatte sich nach einem 7 Jahre anhaltenden Berufsverbot am 5. Januar dieses Jahres das Leben genommen. In 1977 hörte die DDR auf ihr Selbstmordstatistik zu veröffentlichen. In diesem Jahr hatte Ungarn als einziges europäisches Land eine höhere Rate. 1:25:39 In Grubitz Büro. [Telefongespräch] (Grubitz) Jawohl, Genosse Armeegeneral, wir haben... - (General) Ja wir haben... Genosse Armeegeneral wir haben durch einen I.M. in der Spiegelredaktion in Hamburg eine Lichtpause des Originalartikels bekommen. - Gratuliere! Wer hat es geschrieben? Er wusste auch nicht, wer der Autor war, aber auf Grund des Schriftbildes der Schreibmaschine können wir... - Sie können überhaupt nichts! Bringen Sie mir endlich Namen! Das werde ich, Genosse Armeegeneral, sobald es Ergebnisse... - Das will ich hoffen, sonst stell ich sie an die Wand. 1:26:04 Vor Grubitz ein Exemplar des Spiegels. (Grubitz) Andrea, wo bleibt der Schriftexperte? (Experte) Und so komme ich zu dem Schluss, dass die Schreibmaschine nur eine für den Export bestimmte, heimische Reiseschreibmaschine modernster Ausführung sein kann. Mit größter Wahrscheinlichkeit das Modell ‚Kolibri‘ der VEB Groma Büromaschinen. Wäre die Vorlage in schwarzer Tinte gewesen, könnte ich es noch bestimmter sagen. 1:26:26 An einer Tafel vergrößerte Schriftproben in Rot. (Grubitz) Und wer hat so eine Schreibmaschine? - (Experte) So eine Maschine ist in unserer Republik nirgends erfasst. Was soll'n das heißen? Auf was schreibt denn zum Beispiel Hauser? - Der Journalist Paul Hauser schreibt auf dem Modell 'Valentino' des Olivetti Betriebes. Bei diesem Modell wäre der Anschlagswinkel wesentlich... Ja ja ja, und Wallner? - Schreibt auf einer heimischen Optima Elite. Georg Dreyman?

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Georg Dreyman schreibt seine ersten Entwürfe per Hand und die Reinschrift dann auf einer original Wanderer Torpedo. Er hat noch nie auf irgendetwas anderem geschrieben. 1:26:58 Grubitz nickt vor sich hin. (Grubitz) Wie groß wäre denn diese Kolibri Schreibmaschine? - (Experte) Sie ist eine der kleinsten industriell hergestellten Maschinen. 19.5cm x 9cm x 19.55cm. Also nicht schwerer zu schmuggeln als ein Buch. 1:27:15 Der Schriftexperte nickt. (Grubitz) Danke, Sie können gehen. 1:27:20 Der Mann trägt die Tafel aus dem Büro. (Experte) Wiedersehen, Genosse. 1:27:24 Grubitz betrachtet das Spiegel-Titelbild. Eine Seilschlinge über dem Emblem der DDR. Einem Ährenkranz mit Hammer und Sichel in der Mitte, in gelb auf rotem Grund. Darunter die Schlagzeile: ‚DDR - Die geheime Selbstmord-Statistik‘. Andrea, verbinden Sie mich bitte mit Hauptmann Georg Wiesler. (Sprecher) 16:00 Uhr. Die Gruppe ist sehr ermüdet vom vielen Schreiben. 1:27:45 Wiesler sitzt vor der Schreibmaschine. Nachdenklich blickt er auf seine Zeilen. Ein Knopf für interne Leitung blinkt an seinem Telefon. Wiesler drückt ihn und nimmt ab. (Wiesler) Ja, bitte? (Grubitz) Hast du von diesem Selbstmordartikel gehört? - (Wiesler) Im Spiegel? Ja. 1:28:04 Er ballt die Faust. (Grubitz) Und woher? - (Wiesler) Hauser hat Dreyman angerufen und ihm davon erzählt. Wiesler, das ist hier sehr sehr wichtig, für meine Karriere und für deine Karriere. Hat er irgendetwas erwähnt, wer dahinterstecken könnte? Oder hast du Ideen? Ich glaube nicht, dass er etwas erwähnt hat, nein, er hat nichts erwähnt. 1:28:27 Grubitz trommelt mit den Fingern auf den Tisch. (Grubitz) Ein Spiegelredakteur hat am 27. unter verdecktem Namen im Grenzübergang an der Bornholmer Straße passiert und sich 4 Stunden hier aufgehalten. Gregor Hessenstein. Die Abteilung 6 hat ihn bis zum Prenzlauer Berg verfolgt und dann aus den Augen verloren. Hatte der irgendwie Kontakt zu Georg Dreyman? - (Wiesler) Hätte ich das nicht im Bericht vermerkt? Ja, ja, natürlich... Aber irgendwie riecht dieser Text nach Schriftsteller. Ich wäre erstaunt, wenn ich mich da irre. Also halt' die Ohren offen. 1:28:58 Angespannt legt Wiesler auf. Grubitz lehnt sich zurück. (Wiesler) Scheiße. 1:29:07 Er schaut auf seine Uhr und steht auf. 1:29:10 Im Mantel kommt Grubitz aus dem Haupteingang des Ministeriums für Staatssicherheit. Davor wartet Hempfs Limousine. Grubitz öffnet die hintere Tür, Hempf blickt kurz von einem Zettel auf. (Hempf) Steigen Sie ein.

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1:29:21 Grubitz setzt sich ihm schräg gegenüber auf die Bank. Der Wagen fährt über den weitläufigen Hof, vorbei an parkenden Wartburgs. Der mehrstöckige Gebäudekomplex hat eine graue Fassade und gleichförmige Fensterreihen. (Hempf) Wenn Sie ein Mitarbeiter hintergeht, dann strafen Sie ihn nach Kräften oder etwa nicht? - (Grubitz) Doch! Doch, doch! Auch eine Frau...oder etwa nicht? - Selbstverständlich. Und ist nicht jeder, der einem großen Mann dient, sein Mitarbeiter? - Das könnte man so sagen... Müsste man vielleicht sogar so sagen. Dort wird sie ihre illegalen Psychopharmaka beziehen. Christa-Maria Sieland. 1:30:05 Er gibt ihm den Zettel. (Grubitz) Ich denke sie sollten das wissen, es fällt in Ihren Bereich. Ob sie ihr das Genick brechen oder nicht, ist ihnen überlassen. Ich will sie auf jeden Fall nicht wieder auf einer deutschen Bühne spielen sehen. Und jetzt verschwinden Sie. 1:30:23 In einer Zahnarztpraxis. Christa gibt dem Arzt Geldscheine. Der reicht ihr eine Schachtel. Zu Arzthelferin. (Zahnarzt) Tür zu! 1:30:31 Drei Männer in Zivil kommen herein. (Mann) Frau Sieland? Bitte folgen Sie mir zur Klärung eines Sachverhalts. 1:30:37 Christa versteckt die Schachtel in ihren Händen. Sie senkt den Kopf. (Mann) Kommen Sie. 1:30:41 Ein Barkas mit Kastenaufsatz fährt durch eine bewachte Schranke. Der Kleintransporter hält in einem Innenhof. Neben einer Schiebetür an der Seitenwand des Kastens steht ‚Fischfisch‘. Ein Mann in grauer Kunstlederjacke springt heraus. Er hält Christas Handtasche und fasst sie am Arm. Christa trägt Handschellen. (Grubitz) Tja… 1:31:01 Ein Uniformierter fährt Christa durch einen Gang. (Grubitz) Genossin Sieland, das Ende einer schönen Karriere, hm? Schade eigentlich. Sie waren gut. 1:31:09 In einem Verhörzimmer. (Grubitz) Sie waren sogar sehr gut. Zwar nur ein bisschen kurz, nicht? 1:31:15 Grubitz nimmt hinter einem Schreibtisch Platz. (Grubitz) Setzen Sie sich doch. 1:31:19 Christa setzt sich auf einem Stuhl davor. Die Sitzfläche ist mit orangenem Stoff bespannt. Christa legt ihre Hände auf die Oberschenkel. (Grubitz) Was macht eigentlich ein Schauspieler, wenn er nicht mehr spielt? 1:31:29 Christa schaut Grubitz an. Ihr Mundwinkel zuckt kurz. (Christa) Bitte... Gibt es nicht irgendetwas, das ich für sie tun kann? Für...für die Staatssicherheit? - (Grubitz) Dafür ist es etwas spät. Ich kenne fast alle unsere Künstler. Ich könnte viel für sie herausfinden. - Das glaube ich Ihnen. Aber es wird Ihnen nicht mehr helfen. 1:31:56 Sie sieht ihn an. Ihr Mund öffnet sich leicht. Sie senkt den Blick. (Christa) Vielleicht gibt es ja etwas Anderes, was ich tun könnte?

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1:32:09 Christa legt den Kopf schief und lächelt. Etwas, was uns beiden nicht ganz unangenehm wäre. 1:32:14 Grubitz deutet ein Lächeln an. (Grubitz) Leider haben Sie sich... naja wie soll ich sagen… einen mächtigen Mann zum Feind gemacht. Ich bin deswegen weniger frei als ich es sonst wäre. - (Christa) Gibt es denn irgendetwas, wodurch ich mich noch retten kann? Bedaure, Gnädigste. 1:32:36 Christa schaut nach unten. Grubitz schreibt in eine Akte. (Grubitz) Es gäbe da noch eine Sache… Wenn Sie sich schon so viel mit Literaten und Künstlern umgeben... Sie wissen nicht zufällig etwas über einen Artikel, der in der letzten Woche im Spiegel erschienen ist? Ein Artikel über Selbstmörder. 1:33:02 Sie lässt den Kopf hängen. Ihr Kinn zittert. 1:33:17 Dreyman sitzt auf seinem Bett und liest ein Buch. In der Hand hält er eine Zigarette. Nachdenklich sieht er vor sich hin. 1:33:25 Eine Einsatztruppe der Staatssicherheit nähert sich Dreymans Haus. Die Männer tragen lange Mäntel. Einer geht mit einem Vibrationskolben zur Haustür. Grubitz deutet auf die offene Tür. Sechs Männer marschieren ins Haus. 1:33:38 Wiesler schreckt auf und greift sich an die Kopfhörer. Er zieht zum Monitor: darauf Grubitz vor der Haustür. Er winkt Wiesler zu. 1:33:49 Langsam geht Grubitz auf die andere Straßenseite. (Einsatzleiter) Staatssicherheit. Öffnen Sie die Tür. 1:33:56 Erstaunt blickt Dreyman Richtung Flur. Er rutscht auf die Bettkante und drückt seine Zigarette aus. Dreyman eilt zu Türschwelle und fährt prüfend mit der Hand über das Holz. 1:34:09 Grubitz in ein Funkgerät. (Grubitz) Er hat das Licht im Arbeitszimmer angeschaltet. Brecht die Tür auf, bevor er Beweismaterial vernichten kann. - (Kommandoführer) Brecheisen! 1:34:18 Dreyman öffnet die Tür. (Dreyman) Ich glaube das wird nicht nötig sein. Was ist denn los, Genossen? - (Kommandoführer) Wir haben den Befehl Ihre Wohnung zu durchsuchen. Hier die richterliche Bestätigung. Was suchen sie denn? - Geheimsache. 1:34:30 Der Kommandoführer geht in den Flur. (Kommandoführer) Boysen, Müller: Schlafzimmer. Greska: Küche, Bad, WC, Gänge Heise und Thomas: Wohnzimmer, Arbeitszimmer. Los. 1:34:40 Die Männer verteilen sich in der Wohnung. Drei gehen über die Türschwelle ins Wohnzimmer. Dabei gibt das Holz leicht nach. Der Kommandoführer verschwindet in Christas Zimmer mit der Chaiselongue. Dreyman schließt die Wohnungstür und bleibt im Flur stehen. 1:34:55 Auf dem Dachboden. Alle Pegelanzeigen schlagen aus. Wiesler hört konzentriert zu. 1:35:01 Der Deckel des Flügels wird hochgeklappt. Die Gegenstände darauf rutschen runter. Das Bettzeug wird zur Seite geworfen. Ein Schränkchen wird durchsucht. Wieder geht einer der Männer über die Türschwelle. Bücher werden aus Regalen gezogen und aufs

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Parkett geworfen. Die Polsterung des Sofas wird aufgeschlitzt, das Füllmaterial quillt hervor. Der Kommandoführer öffnet eine silberne Dose auf dem Schreibtisch. (Kommandoführer) Was verbrennen sie darin? 1:35:30 In der Dose schwarze Asche. (Dreyman) Schlechte Texte. 1:35:33 Der Kommandoführer nimmt ein Buch: ‚Solschenizyn- Der erste Kreis der Hölle‘. (Kommandoführer) Reichlich Westliteratur, wie? - (Dreyman) Der Band gerade ist ein Geschenk von Margot Honecker. 1:35:45 Auf der Straße. Grubitz ins Funkgerät: (Grubitz) Wie ist der Stand? - (Kommandoführer) Alles läuft nach Plan. 1:35:52 Der Trupp sammelt sich im Arbeitszimmer. (Kommandoführer) Nichts gefunden, allerdings verschiedene Bände Westliteratur und Westzeitungen. 1:35:59 Dreyman kommt langsam ins Arbeitszimmer. (Kommandoführer) Keine Spur von dem Gesuchten. - (Grubitz) Waren sie auch gründlich? Jawohl, Genosse Oberstleutnant. Wie verfahren wir weiter? 1:36:08 Grubitz steht reglos am Einsatzfahrzeug. 1:36:10 Wiesler lauscht angespannt. (Kommandoführer) Genosse Oberstleutnant? - (Grubitz) Ziehen sie Ihre Männer ab. 1:36:15 Der Kommandoführer macht ein Handzeichen. (Kommandoführer) Sollte widererwartend irgendetwas beschädigt worden sein, können Sie sich beim Ministerium melden. 1:36:23 Er hält Dreyman einen Zettel hin. (Dreyman) Ich bin sicher es ist alles in bester Ordnung. 1:36:26 Der nimmt ihn. Der Kommandoführer geht. Dreyman atmet tief durch und setzt sich. 1:36:35 Wiesler schließt erleichtert die Augen. Der Knopf für ‚interne Leitung‘ blinkt an seinem Telefon. Wiesler zögert. Dann drückt er auf den Knopf und nimmt den Hörer ab. (Wiesler) Ja bitte? - (Grubitz) Wiesler, ich erwarte dich morgen früh 9 Uhr in Hohenschönhausen. 1:36:52 Geschockt behält Wiesler den Hörer am Ohr. 1:36:55 Es ist Tag. Am Ehrenmal. (Hauser) Gut, dann werd' ich mal sagen, was wir alle denken. Es war Christa-Maria. Die Stasi hat sie geschnappt und sie hat dich verraten. 1:37:03 Dreyman, Hauser und Wallner sitzen auf einer Steinbank. (Dreyman) Sie war es nicht. - (Hauser) Woher willst du das wissen? - (Wallner) Du hast doch selbst gesagt, dass sie die letzte Nacht nicht bei dir war. 1:37:10 Walner raucht. (Dreyman) Sie kennt das Versteck. Ja, sie kennt es. 1:37:17 Hauser verschränkt die Arme.

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(Dreyman) Also wenn du Recht hast und die Durchsuchung wirklich auf sie zurückgeht, dann ist sie unser größter Schutzengel. 1:37:31 Ein gelber Wartburg hält vor einem Wachtposten an einer Schranke. Wiesler kurbelt das Fenster hinunter. 1:37:40 Er zeigt seinen Dienstausweis. (Wiesler) Zu Oberstleutnant Grubitz, Hauptmann Wiesler. - (Wache) Verhörraum Nummer 76. 1:37:46 Wiesler kurbelt die Scheibe wieder hoch und hält inne. Er passiert die Schranke die hinter ihm geschlossen wird. 1:37:52 Wiesler kommt durch einen langen Gang mit Linoleumboden. Vor einer Tür bleibt er stehen und zögert. (Grubitz) Ja! Komm rein. 1:38:04 Grubitz am Schreibtisch liest in Papieren und raucht eine Zigarre. Er trägt Anzug und Schlips. (Grubitz) Setz' dich. 1:38:10 Wiesler setzt sich auf einem fleckigen Holzstuhl. Über die Sitzfläche ist kein Stoff gespannt. (Grubitz) Und? - (Wiesler) Was sollte das? Was sollte das? Das fragst du mich? - Wessen verdächtigst du Dreyman? Er ist der Autor des Spiegelartikels. 1:38:35 Grubitz zieht an seiner Zigarre. (Wiesler) Wer hat das behauptet? 1:38:41 Grubitz steht auf. (Grubitz) Komm' mit. 1:38:44 Unschlüssig folgt ihm Wiesler. Grubitz kommt durch einen Zellengang. An einer Tür schiebt Grubitz eine Klappe beiseite und späht durch ein Guckloch. (Grubitz) Hier. 1:38:55 Wiesler sieht hindurch. In der Zelle sitzt Christa. (Grubitz) Ich weiß zwar nicht durch welche Schlamperei dir das alles entgehen konnte, aber ich kenn' dich auch anders. Vor allem als Befrager. Und darum gebe ich dir eine letzte Chance. 1:39:08 In einem Verhörzimmer. (Grubitz) Bringen sie Häftling 662, sofort. 1:39:11 Ein Uniformierter vor der Tür salutiert und entfernt sich. Grubitz dreht sich zu Wiesler um. (Grubitz) Bist du noch auf der richtigen Seite? 1:39:18 Wiesler sieht ihn fest an. Hinter ihn eine große verspiegelte Scheibe. (Wiesler) Ja. - (Grubitz) Dann versau's nicht noch einmal. 1:39:24 Wiesler dreht den Kopf zur Seite, sein Gesicht ist unbewegt. Grubitz kommt in den Nachbarraum. Die große Scheibe in der Wand zum Verhörzimmer ist durchsichtig. Eine Stenotypistin sitzt an einem Tisch. Grubitz stellt sich vor die Scheibe. Im

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Verhörzimmer. Wiesler sitzt mit dem Rücken zur Tür an einem Schreibtisch. In der Hand eine Akte. Der Uniformierte bringt Christa herein. (Uniformierte) Soll ich den Gefangen fixieren? 1:39:50 Christa setzt sich. (Wiesler) Sie ist keine Gefangene mehr, sie ist jetzt I.M. Sie können gehen. 1:39:55 Der Uniformierte salutiert und geht. (Christa) Sie sind also mein Führungsoffizier? 1:40:02 Grubitz gibt die Stenotypistin ein Zeichen. (Christa) Dann führen Sie mich. 1:40:06 Ganz langsam dreht sich Wiesler mit versteinerter Miene zu Christa um. Erschüttert schaut Christa nach unten. Mit den Fingern fährt sie sich über Mund und Wange. (Wiesler) Noch 10 Stunden... Nein, eigentlich neun ein halb, wird Herr Roessing vor das Publikum treten und ansagen, dass sie wegen einer Unpässlichkeit leider nicht spielen können. Und das wird das letzte Mal sein, dass man in der Theaterwelt von Ihnen gesprochen hat. Wollen Sie das? 1:40:4 Er blickt sie durchdringend an. (Wiesler) Sagen Sie uns, wo das Beweismaterial versteckt ist. - (Christa) Es gibt keine Beweise, es gibt keine Schreibmaschine, das habe ich erfunden. 1:40:52 Sie lächelt verlegen. (Wiesler) Ich hoffe nicht. Denn dann müssen wir auch Sie hier behalten. Eine Falsche Aussage im Verhör ist gleichbedeutend mit Meineid. Das heißt ungefähr 2 Jahre Haft. 1:41:05 Ihre Augenlider senken sich leicht. (Wiesler) Dreyman muss sowieso ins Gefängnis. Dafür genügt Ihre Aussage... 1:41:12 Christa lässt den Kopf hängen. (Wiesler) Und das belastende Material, das wir bereits jetzt in der Wohnung gefunden haben. 1:41:17 Ihr Mund zuckt, sie blickt auf. (Wiesler) Retten Sie jetzt wenigstens sich selber. Sie würden nicht glauben wie viele Menschen hier wegen sinnlosem Heroismus im Gefängnis sitzen. Denken Sie an Ihr Publikum. - (Grubitz) „Denken Sie an Ihr Publikum!“ Dem fällt wirklich auch was ein... Denken Sie daran, was der Staat für Sie getan hat. Ihr ganzes Leben lang. Jetzt können Sie etwas für den Staat tun. Und er wird es Ihnen danken. 1:41:55 Christa fast sich in den Nacken. Dann hält sie sich die Hand vor die Augen. (Wiesler) Sagen sie mir, wo die Maschine versteckt ist. Dreyman wird nie etwas erfahren. Ich lasse Sie sofort frei und wir schlagen erst zu, wenn Sie bei ihm sind. Erstaunt zu spielen, das werden sie doch wohl schaffen. Und heute Abend sind Sie wieder im Theater. 1:42:17 Er lächelt. (Wiesler) In Ihrem Element. Vor Ihrem Publikum. 1:42:30 Erschöpft sieht Christa Wiesler an. Sagen Sie mir, wo die Unterlagen sind. 1:42:38 Er nickt ihr verhalten zu. Wiesler greift nach einem Stift und zieht einen Block heran. (Wiesler) Wo sind sie?

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- (Christa) Sie sind in der Wohnung. Unter der Türschwelle... zwischen Wohnzimmer und Flur. Man kann sie abnehmen. 1:43:12 Wiesler nickt. Mit dem Block in der Hand steht er auf. 1:43:25 (Wiesler) Meinen Sie hier? Machen sie ein Kreuz auf die richtige Stelle. 1:43:28 Grubitz beobachtet sie. Wiesler schaut zu ihm herüber, Christa zeichnet ein Kreuz in die Skizze der Wohnung. 1:43:38 Ein Uniformierter fährt Christa am Arm aus dem Gebäude in den engen Innenhof. An allen Zugängen stehen Wachposten. Der Barkas mit der Aufschrift ‚Frischfisch‘ kommt angefahren. Grubitz im Mantel nähert sich Christa. Der Uniformierte öffnet die Schiebetür. (Grubitz) Sie sehen bisschen mitgenommen aus. Vergessen Sie nicht, Sie sind jetzt I.M. Das bedeutet Pflichten wie Konspiration und Verschwiegenheit aber auch Privilegien... 1:44:07 Er steckt ihr eine Tablettenschachtel in die Manteltasche. Christa steigt in den Wagen. Der Uniformierte entfernt sich. Grubitz sieht den Barkas nach. (Grubitz) Wache! Rufen Sie mir Wiesler! - (Wache) Hauptmann Wiesler hat das Objekt bereits verlassen, Genosse Oberstleutnant! Achso! Ja gut, ja, sie können wegtreten. 1:44:42 Nachdenklich schaut Grubitz vor sich hin. 1:44:47 Dreyman und Hauser kommen den Burgersteig vor Dreymans Haus entlang. Sie bleiben stehen. (Hauser) Was macht ein Reiter, wenn er abgeworfen wird? Er steigt gleich wieder auf. Geh' rein und schlaf' dich aus. Es hat nichts mit dem Haus zu tun, was passiert ist. - (Dreyman) Nein, aber mit dem ganzen Land. 1:45:08 Hinter der teilverglasten Haustür taucht kurz Wiesler auf und verschwindet. Dreyman klopft Hauser auf die Schulter und geht auf den Hauseingang zu. Hauser nickt ihm hinterher und geht. 1:45:24 Wiesler presst sich neben der Tür an die Wand. Dreyman steigt die Stufen hoch. Wiesler verlässt das Haus und hält dabei etwas auf den Rücken. 1:45:40 Wiesler sitzt hinterm Steuer in seinem Wartburg. Auf der anderen Straßenseite entdeckt er Christa. Sie geht den Bürgersteig entlang. Die Hände in den Manteltaschen. Wiesler beobachtet sie. 1:45:58 Dreyman liegt auf dem Bett. Ein aufgeschlagenes Buch auf seiner Brust. Seine Augen sind geschlossen. [Tür öffnet] 1:46:06 Er springt auf. Christa zieht im Flur ihren Mantel aus. (Dreyman) Christa! - (Christa) Komm' nicht näher, ich war bei Kerschners und es gab kein Wasser, ich muss erst duschen. 1:46:17 Verwundert bleibt Dreyman im Flur stehen. Sein Haar ist zerzaust. 1:46:20 Gegenüber von Dreymans Haus hält den dunkelgrauen Kleinbus. Grubitz, gefolgt von fünf Männern, steuert auf den Hauseingang zu. Wiesler kommt dazu und läuft neben Grubitz her. (Grubitz) Du hattest es ziemlich eilig von Hohenschönhausen loszufahren! - (Wiesler) Noch läuft ja der OV Lazlo.

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Sind sie beide in der Wohnung? - Ja. 1:46:40 Sie blicken an der Fassade hoch. (Wiesler) Der Bericht für heute. 1:46:43 Er gibt Grubitz einen Umschlag. (Grubitz) Der letzte Tagesbericht des OV Lazlo. 1:46:48 Grubitz und die Männer gehen an Wiesler vorbei hinein. Wiesler bleibt vor der Haustür stehen und wirft noch einmal einen Blick nach oben. 1:47:00 Dreyman kommt ins Bad. Christa steht mit dem Rücken zu ihm in der Badewanne unter der Dusche. Er betrachtet sie durch den Transparenten Duschvorhang. (Dreyman) Warum hast du mich nicht angerufen? - (Christa) Wie? Warum du mich nicht angerufen hast... - Ich war auf dem Land. 1:47:18 Sie lächelt ihn an. (Christa) Reichst du mir die Nagelbürste? 1:47:22 Er gibt sie ihr. (Dreyman) Die Stasi war da. Haben die Wohnung durchsucht. - (Christa) Wer war da? [Klopfen] (Grubitz) Staatssicherheit! Öffnen Sie! - (Dreyman) Bleib hier. 1:47:37 Christa presst die Lippen zusammen. Langsam geht Dreyman zur Wohnungstür. (Grubitz) Guten Tag, Genosse Dreyman. Oberstleutnant Grubitz vom Ministerium für Staatssicherheit. Ich wollte mit lediglich vergewissern, dass die Arbeit gestern Nacht sauber durchgeführt wurde. 1:47:55 Die Männer kommen nacheinander herein. Dreyman schaut kurz in den Hausflur und schließt die Wohnungstür. (Grubitz) Arbeitszimmer? Beginnen wir damit. Männer, blättern sie vorsichtig die Bücher nach Zetteln durch. 1:48:07 Die Männer verteilen sich in Wohn- und Arbeitszimmer. Grubitz steckt die Hände in die Manteltaschen. Er schlendert zwischen den Räumen hin und her. Im Wohnzimmer bückt er sich und öffnet ein Schränkchen. Er steht in der Nähe der Tür zum Flur. (Grubitz) Na, was haben wir denn da? 1:48:27 Er geht zur Türschwelle. Und tritt darauf. (Grubitz) Diese Schwelle scheint mir nicht ganz koscher. 1:48:32 Dreyman tritt hinter ihn. Grubitz hockt sich hin. Christa im Bademantel kommt aus dem Bad. (Grubitz) Könnte das ein Geheimfach sein? 1:48:42 Er dreht sich zu Dreyman um. Der blickt schwer atmend zu Christa. Mit starrer Miene erwidert sie seinen Blick. Dann wendet sie sich ab und läuft durch den Flur. Einer der Männer folgt ihr. (Grubitz) Lassen Sie, sie steht hier nicht unter Verdacht. 1:48:59 Mit einem Messer lockert Grubitz die Schwelle und hebt sie heraus. Der Hohlraum darunter… ist leer.

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(Grubitz) Die Schauspielerin... 1:49:14 Dreyman hebt den Blick. 1:49:17 Christa kommt aus dem Haus gerannt. Wiesler steht auf der anderen Straßenseite, bemerkt sie und stutzt. Ein Lastwagen nähert sich. Christa geht auf die Straße, dreht sich zum Wagen… Wiesler zuckt erschrocken zusammen. 1:49:30 Dreyman stürmt zum Fenster und schaut hinunter. Auch Grubitz sieht hinaus. Dreyman eilt aus der Wohnung. 1:49:36 Wiesler rennt zu Christa, die reglos auf dem Asphalt liegt, ihr Kopf in einer Blutlache. Wiesler kniet sich vor sie. Passanten kommen näher. (Christa) Ich war zu schwach...Ich kann nie wieder gut machen, was ich getan habe. - (Wiesler) Es gibt nichts gut zu machen, verstehst du? Es gibt nichts gut zu machen. Ich habe die Maschine... 1:49:53 Dreyman stürmt auf Christa zu. Wiesler steht auf und entfernt sich ein paar Schritte. Mit entsetzten Gesicht kniet sich Dreyman vor Christa und zieht ihren schlaffen Oberkörper ein Stück hoch. Ihre Augen sind offen. (Dreyman) Verzeih mir...verzeih mir...verzeih mir...verzeih mir... 1:50:15 Christas Kopf sackt zur Seite. Ihre Augenlider fallen zu. Dreymans Gesicht ist schmerzverzerrt. Er legt seine Hand auf ihre Blutverschmierte Wange. Weinend lehnt er seine Stirn an ihre. Grubitz und seine Männer kommen auf die Straße. Grubitz sieht zu Dreyman. Der Kommandoführer steht hinter Grubitz. (Grubitz) Fahren Sie mit Ihren Männern zurück in die Zentrale. Der Einsatz ist beendet. 1:50:41 Der Kommandoführer nickt. Dreyman presst Christas Kopf an seine Brust. Wiesler steht bewegungslos zwischen den Passanten. Grubitz geht zu Dreyman. (Grubitz) Genosse Dreyman, wir haben wohl einen falschen Hinweis bekommen. Entschuldigen Sie. 1:51:04 Zu Wiesler. (Grubitz) Komm. 1:51:08 Der folgt ihm. Dreyman hält Christa noch immer im Arm. 1:51:18 Eine Kamerafahrt unter Bäumen. Die kahlen Baumkronen ragen dunkel in den graublauen Himmel. Sonnenlicht lässt einige Äste golden leuchten. Wieslers Wartburg fährt durch eine Siedlung mit Einfamilienhäusern und hält vor einem Grundstück. Wiesler sitzt am Steuer. Grubitz auf dem Beifahrersitzt faltet eine Zeitung zusammen. Wiesler umklammert das Lenkrad und sieht starr geradeaus. Auch Grubitz blickt nach vorn. Er sieht Wiesler von der Seite an und steigt aus. Er lässt die Zeitung auf den Sitzt fallen. Durch das Fenster in dem Fahrersitz sieht Wiesler zu Grubitz. Der kommt zu ihm. Wiesler kurbelt die Scheibe halb herunter. (Grubitz) Über eines solltest du dir keine Illusionen machen, Wiesler. Deine Karriere ist vorbei. Auch wenn du natürlich zu schlau warst um Spuren zu hinterlassen. Du wirst höchsten noch in irgendeinem Kellerloch Briefe aufdampfen. Bis zu deiner Rente. Das sind die nächsten 20 Jahre. 20 Jahre! Eine lange Zeit. 1:52:26 Grubitz geht auf das Haus zu. Teilnahmslos schaut Wiesler vor sich hin. Er kurbelt die Scheibe hoch. Auf der Titelseite des ‚Neuen Deutschland‘: ‚Gorbatschow zum Generalsekretär des ZK KPdSU gewählt.‘ (Sprecher) Vier Jahre und 7 Monate später.

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1:52:43 In einem Kellerraum. Ein Fließband befördert verschlossene Briefe an Arbeitsplätzen vorbei. Ein Mann nimmt einen Stapel Briefe vom Band. Ein anderer hält den Umschlag über ein Gerät, aus dem Dampf aufsteigt. Es ist Wiesler. Er öffnet die Kuverts. Er trägt einen grauen Kittel. Am Arbeitsplatz hinter ihm sitzt Stiegler, der junge Kollege aus der Kantine. (Stiegler) Die Mauer ist offen. 1:53:04 Wiesler dreht sich zu ihm um. Stiegler hat einen Stöpsel im Ohr, von dem ein Kabel abgeht. (Stiegler) Die Mauer ist offen. 1:53:12 Stiegler lauscht. Er reicht Wiesler den Stöpsel, der hält ihn sich ans Ohr. (Radiobericht) Die Grenzer öffnen tatsächlich die Tore! Die Freude ist unermesslich, hören Sie den Jubel! Die Menschen stürmen zu tausenden heraus. Es ist unglaublich! Ja, liebe Zuhörer, der 9. November 1989 wird in die Geschichte eingehen! 1:53:31 Er gibt Stiegler den Stöpsel zurück. Ernst blickt Wiesler vor sich hin. langsam steht er auf und geht aus dem Raum. Stiegler dreht sich fragend zu seinem Hintermann um. Alle verlassen ihre Arbeitsplätze. (Sprecher) zwei Jahre später. 1:53:49 Ein Bühnenvorhang öffnet sich. Eine dunkelhäutige Frau in weißem Gewand steht am Bühnenrand im Lichtkegel. Dahinter diagonal versetzt vier Leuchtflächen. (Schauspielerin) Mein liebes Kind, was hast du? - (Schauspielerin) Dein Arthur lebt nicht mehr. 1:54:05 Vor die Leuchtflächen treten Frauen in Schwarzen Mänteln. (Schauspielerin) Arthur? Kannst du dich dieses eine Mal nicht irren? Ich habe ihn doch heute Morgen noch gesehen! - (Schauspielerin) Nein, Schwester, glaube mir. Er ist gestürzt. Die treuen Männer stehen um ihn wie ihr um mich. Und werfen ob der hohen Sonne nur sieben kurze Schatten noch auf seinen edlen toten Leib. 1:54:27 Im voll besetzten Parkett sitzt Dreyman. Sein Haar ist im Nacken kurzgeschnitten. Neben ihm eine junge Frau mit Pagenkopf. Sie trägt ein ärmelloses Kleid mit tiefem Ausschnitt. Sie legt ihre Hand auf sein Knie. (Schauspielerin) Das große starke Rad hat ihn zermahlen. Ich sehe es...und würd' doch jeden Schrecken lieber sehen. Warum bleibt mir dies Sehen nicht erspart? 1:54:41 Betroffen steht Dreyman auf. Und geht durch die Reihe. (Schauspielerin) Elena! Geh' nach Haus und lege Trauer an. Ich werde deine Schicht zu Ende führen. 1:54:48 Dreyman kommt durch einen Vorhang in einen Gang. Er trägt einen schwarzen Designer-Anzug und ein graues Hemd. Mit der Hand fährt er sich übers Gesicht und hält sie vor den Mund. Er schließt die Augen. (Hempf) Zu viele Erinnerungen, was? 1:55:00 Dreyman dreht sich erstaunt um. Hempf sitzt auf einer gepolsterten Bank. (Hempf) Mir ging es genauso, ich musste auch raus. 1:55:08 Mit offenem Mund starrt Dreyman ihn an. (Hempf) Aber was höre ich von Ihnen? Nichts mehr geschrieben seit der Wende? 1:55:12 Er kommt zu ihm. (Hempf) Das finde ich nicht gut.

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1:55:16 Dreyman verschränkt die Arme. (Hempf) Nach Allem, was unser Land in Sie investiert hat. Im Grunde verstehe ich Sie, Dreyman. Was soll man noch schreiben, in dieser BRD? Nichts mehr da, woran man glauben kann. Nichts, wogegen man rebellieren kann. Das war schön in unser kleinen Republik. Das verstehen viele erst jetzt. - (Dreyman) Eine Sache muss ich Sie doch noch fragen. Alles, mein lieber Dreyman. Alles. - Warum wurde ich eigentlich nie abgehört? Sie haben doch jeden überwachen lassen. Warum nicht mich? 1:55:53 Hempf blickt kurz zur Seite. (Hempf) Sie wurden komplett überwacht. Wir wussten alles über Sie. - (Dreyman) Komplett überwacht, sagen Sie? 1:56:05 Hempf stellt sich dicht vor ihn. (Hempf) Komplett verwanzt. Das volle Programm. - (Dreyman) Das kann nicht sein. (Hempf) Dann schauen sie bei Gelegenheit hinter Ihre Lichtschalter. Wir wussten alles. Wir wussten sogar, dass Sie's es unserer kleinen Christa nicht so richtig besorgen konnten. 1:56:28 Dreyman sieht ihn unverwandt an. (Dreyman) Dass Leute wie Sie wirklich mal ein Land geführt haben. 1:56:36 Er lässt Hempf stehen und geht den Gang hinunter. Hempf senkt den Kopf, lächelt gequält und rückt seine Krawatte zurecht. 1:56:53 Es ist dunkel. Dreyman im Mantel kommt am Eingang des Theaters ‚die Volksbühne‘ vorbei. 1:56:59 In Dreymans Wohnzimmer. Er hält die Abdeckung eines Lichtschalters in der Hand. Aus der Schalterdose zieht er ein kleines Mikrofon an einem Kabel. Fassungslos betrachtet er es. Dann zieht er an dem Kabel. Die Tapete neben dem Türrahmen reißt bis zur Zimmerdecke auf. Das Kabel führt unter der Stuckleiste entlang und zweigt dann wieder nach unten zum nächsten Schalter. Dreyman entfernt weitere Kabel in den anderen Zimmern. Ein Kabel führt vom Flur hinter den Türrahmen der Badtür. Dreyman reißt das Kabel über der Fliesenkante heraus. Er sitzt auf dem geschlossenen Toilettendeckel und mustert die geflieste Wand vor sich. Im Schlafzimmer zieht er von der Scheuerleiste bis zu einem Lichtschalter darüber ein Kabel unter der Tapete hervor. Mit dem Kabel in der Hand setzt er sich langsam aufs Bett und blickt entsetzt ins Leere. 1:57:57 Dreyman kommt zur ehemaligen Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit. Am Eingang ein Schild: ‚Forschungs- und Gedenkstätte‘. Dreyman geht über den Hof, dort parken viele Westautos. (Angestellte) Sie müssen sich noch einen Moment gedulden, in Ihrem Fall sind es die eine oder andere Akte mehr. 1:58:13 Die Angestellte verlässt den Raum. Dreyman hängt seinen Mantel auf, er geht an Tischreihen vorbei, in denen einige Menschen sitzen und in Akten lesen. Dreyman nimmt hinter einem Tisch Platz. Vorn sitzt ein Mitarbeiter an einem Tisch, darauf Karteikästen und Aktenstapel. Die Angestellte überquert einen Gang, in der Hand eine Mappe.

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1:58:34 Sie geht ins Archiv, endlose Reihen aus Stahlregalen auf Rollen. Die Schmalseiten sind mit blassgrünen Platten aus Stahlblech verkleidet, daran eine Hebelmechanik. Die Angestellte legt einen Hebel um. Ein Gang zwischen zwei Regalen wird frei. Die Fächer sind mit unzähligen Akten gefüllt. 1:58:51 Ein Mann schiebt einen Rollwagen, beladen mit zwei Aktenstapeln, in den Lesesaal. (Angestellte) Ich habe chronologisch ordnen lassen. Die Alten sind hier oben und die Neueren hier unten. 1:59:01 Verblüfft schaut Dreyman auf die Stapel. (Mann) Alle Achtung! 1:59:09 Zögernd greift er nach dem obersten Ordner. Er legt ihn vor sich, holt aus der Brusttasche des Jacketts seine Brille und setzt sie auf. Auf dem Umschlag steht ‚OV LASLO‘. Dreyman schlägt die Akte auf und liest. 1:59:25 „Operativvorgang Lazlo, gegen Georg Dreyman, Deckname Lazlo, eröffnet. Hinweis auf Verdacht kam durch Minister Bruno Hempf.“ - (Wiesler) „Lazlo bekommt von einem Kurier ohne behördliche Genehmigung täglich die FAZ ins Haus geliefert. Ich schlage vor den Kurier und Lazlo unbehelligt zu lassen, damit kein Verdacht auf Überwachung entsteht. Lazlo und CMS packen Geschenke aus, danach vermutlich Geschlechtsverkehr.“ 1:59:56 Dreyman schluckt und liest weiter. Er nimmt einen weiteren Ordner. (Wiesler) „Bei dem Besuch handelt es sich um Paul Hausers Onkel aus Westberlin. Sie erzählten Ihm von dem Theaterstück, das Hauser und Lazlo für den 40. Jahrestag der Republik schreiben wollen.“ 2:00:16 Dreyman runzelt die Stirn. (Grubitz) „Wir erwarten genauere Angaben zum geplanten Jubiläumsstück. Inhaltsangabe, etc.“ - (Wiesler) „Inhalt des ersten Aktes: Lenin ist in ständiger Gefahr. Trotz steigendem Drucks von außen, bleibt er bei seinen revolutionären Plänen. Lenin ist sehr erschöpft.“ 2:00:44 Dreyman liest auf mehreren Seiten am oberen Rand. (Dreyman) HGW... HGW XX-7... 2:00:52 Hinter dem Kürzel verschiedene Uhrzeiten. Dreyman zieht aus dem Stapel die unterste Akte hervor und blättert darin. (Christa) „Ich, Christa-Maria Sieland, verpflichte mich freiwillig inoffiziell mit dem Ministerium für Staatssicherheit zusammenzuarbeiten.“ 2:01:18 Dreyman blickt auf. Nimmt die Brille ab und schließt kurz die Augen. (Christa) „Dieser Entschluss beruht auf meiner Überzeugung, dass ich durch die Zusammenarbeit...“ 2:01:27 Er schluckt. (Christa) „Georg Dreyman ist der Autor des Spiegelartikels ‚Von einem, der rüber machte‘. Mithelfer sind: Paul Hauser, der Journalist...“ 2:01:31 Unter dem Text die Unterschrift: Christa-Maria Sieland. Dreyman setzt die Brille wieder auf und liest weiter. (Grubitz) „Christa Maria Sieland wurde am 10. März um 21.20 Uhr auf Hinweis von Minister Hempf wegen Drogenmissbrauchs inhaftiert und am 11. März um 13.50 Uhr

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wieder in die Stadt gebracht. Nachdem sie das Versteck von Lazlos Unterlagen offenbart und die I.M. Verpflichtung Deckname Marta unterschrieben hat.“ 2:01:57 Dreyman kämpft kurz mit den Tränen. (Dreyman) 13.50 Uhr... Wann hat sie dann denn... (Grubitz) „In Folge der erfolglosen Hausdurchsuchung am 11. März 1985 und des Unfalltodes der I.M. Marta wird der OV Lazlo eingestellt.“ (Wiesler) „Zwischennotiz: Beförderungssperre von HGW wird heute Wirksam. Pflichtversetzung in die Abteilung M. Verbunden mit der Empfehlung im fortan keine Aufgaben mit Eigenverantwortung anzuvertrauen. 10.50 Uhr. Aufnahme des Kontrollpostens vor Lazlos Haus. Um 15.10 Uhr kommt I.M. Marta direkt aus Hohenschönhausen zu ihm. Hausdurchsuchung mit Ergebnisbericht folgt. Ende des OV Lazlo. HGW, 15.15 Uhr.“ 2:02:54 Neben der Schreibmaschinenschrift ein roter Fingerabdruck. Dreyman betrachtet den Abdruck näher. Sein Gesicht hält sich auf. Er steht auf und kommt nach vorn zu dem Mitarbeiter am Tisch. (Dreyman) ?Wer ist HGW XX-7? 2:03:11 Der Mann blättert in Karteikarten. Auf jeder Karte Daten in Maschinenschrift und ein Passfoto. Er zieht eine Karte mit Wieslers Foto heraus. 2:03:20 Hinter der Seitenscheibe eines Autos sitzt Dreyman auf der Rückbank. Im Fenster spiegelt sich die monumentalen Stalinbauten der Karl-Marx-Allee. Wohnblocks mit vorgebauten Ladenzeilen im Erdgeschoss. Dreyman sieht hinaus und stutzt. Eine Männerhand drückt Werbeprospekte nach inne in Hausbriefkästen. Es ist Wiesler. Er trägt einen grauen Blouson und eine dunkle Hose. Er kommt aus einem mit Graffiti besprühten Hauseingang. Dreyman beobachtet wie Wiesler auf dem breiten Gehweg zum nächsten Hauseingang geht. Er zieht einen Einkaufsroller, ein Gestell mit zwei Rädern und einer Tasche, hinter sich her. (Dreyman) Halt. 2:04:00 Wiesler steigt Stufen zur Haustür hoch. In der Hand einen Packen Prospekte. Das Taxi hält am Straßenrand. Dreyman steigt aus. Er macht ein paar Schritte und bleibt stehen. Er atmet tief durch und sieht unablässig zum Hauseingang. Nachdenklich blickt er nach unten. Und dreht sich um. Wiesler verlässt das Haus, greift nach dem Einkaufsroller und geht weiter. Dreyman steigt wieder ins Taxi. (Dreyman) Zurück in die Hufeland Straße. 2:04:47 Das Auto fährt an Wiesler vorbei. Der geht an einem imposanten Säulenportal vorüber, das Teil eines Wohnblocks ist. Dreyman dreht sich lange zu ihm um. Das Auto entfernt sich immer weiter. Hinter der Fensterscheibe sitzt Dreyman mit bedrückter Miene. Im Glas spiegeln sich die Fassaden der Stalinbauten mit Balkonen und Erkern. Die Fassaden sind mit Keramikplatten verkleidet. (Sprecher) Zwei Jahre später. 2:05:16 Wiesler im grauen Blouson, zieht den Einkaufsroller an einer großen Buchhandlung vorbei. Er hält Werbeprospekte über dem Arm. In einem der Schaufenster prangt ein großes Plakat mit dem Foto von Dreyman, daneben ist ein Buch abgebildet. ‚Georg Dreyman: die Sonate vom Guten Menschen‘. Wiesler kommt zurück und betrachtet das Plakat. Er geht zum Eingang der Karl-Marx-Buchhandlung. Wiesler zu einem Mann hinter der Kasse.

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(Wiesler) Tag. 2:05:43 Der Verkäufer nickt ohne aufzublicken. Wiesler bleibt vor einem Büchertisch stehen. Er nimmt ein Exemplar von Dreymans Buch. Unter dem Titel eine abstrakte Zeichnung von zwei Personen. Wiesler schlägt das Buch auf. Auf der Titelseite steht: ‚Georg Dreyman. Die Sonate vom Guten Menschen. Roman‘. Wiesler blättert weiter und liest: ‚HGW XX/7 gewidmet, in Dankbarkeit‘. Langsam klappt er das Buch zu. Seine Finger streichen über den Umschlag. Mit dem Buch geht Wiesler zur Kasse. Er reicht es dem Verkäufer. Der schaut auf den Buchrücken. (Verkäufer) 29,80. Geschenkverpackung? - (Wiesler) Nein, es ist für mich. 2:05:35 Wiesler beginnt zu Lächeln. Das Bild bleibt stehen. 2:05:48 Weiße Schrift auf schwarzem Grund. (Sprecher) Ein Film von Florian Henckel von Donnersmarck Eine Wiedemann und Berg Filmproduktion

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