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SWR2 Zeitwort 20.06.1991 Der Deutsche bestimmt als Parlamentssitz Von Rebecca Lüer

Sendung: 20.06.2016 Redaktion: Ursula Wegener Produktion: SWR 2016

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Autorin: Die Bundestags-Debatte im Bonner Wasserwerk am 20.Juni 1991 wird, so viel ist schon zu Beginn klar, historisch und emotional. Auch, wenn der einzige Tagesordnungspunkt recht nüchtern klingt.

O-Ton Rita Süssmuth: „Beratung der Anträge zum Parlaments- und Regierungssitz. Jeder weiß, worum es heute geht.“

Autorin: So Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth. Die Bonn-Unterstützer wollen, dass die Hauptstadt Berlin nur Sitz des Bundesrates und des Bundespräsidenten wird. Der Bundestag hingegen soll am Rhein bleiben.

O-Ton Norbert Blüm: „Lasst dem kleinen Bonn Parlament und Regierung. Bonn verliert mit Bundestag und Regierung viel. Berlin gewinnt mit Bundestag und Regierung viel neue Probleme. Wohnungsprobleme, Raumordnungsprobleme, Infrastrukturprobleme.“

Autorin: So Bundesarbeitsminister Norbert Blüm, CDU. Die Befürworter eines Umzugs an die Spree hingegen appellieren an das große Gefühl. Wie Konrad Weiß von Bündnis 90/Den Grünen.

O-Ton Konrad Weiß: „Für Bonn spricht viel. Aber für Berlin spricht alles. Es gibt keine Alternative für Deutschlands schlagendes Herz.“

Autorin: Fast alle Parlamentarier aus den neuen Bundesländern plädieren für den Berlin Antrag. Auch SPD Mann Wolfgang Thierse oder Bundesfrauenministerin , CDU:

O-Ton Bundesfrauenministerin: „Ich habe 35 Jahre in einer Diktatur gelebt. Für mich ist diese Entscheidung deshalb vielleicht eine andere, und sie hat sehr wohl etwas mit der inneren Einheit Deutschlands zu tun.“

O-Ton Wolfgang Thierse: „Wir halten den Parlamentssitz für das Herzstück einer wirklichen Hauptstadt. Deshalb sollte der Bundestag seinen Sitz in Berlin nehmen.“

Autorin: Dennoch sehen sich die Bonn-Befürworter lange auf der Siegerseite. Die Stimmung dreht dann vor allem ein Baden-Württemberger. Wolfgang Schäuble, CDU:

O-Ton Wolfgang Schäuble: „Wir haben unsere Einheit gewonnen, weil Europa seine Teilung überwinden wollte. Und deshalb ist die Entscheidung für Berlin auch eine Entscheidung für die Überwindung der Teilung Europas.“ 1

Autorin: Langer Applaus für den Bundesinnenminister. SPD-Ikone geht gar zur Regierungsbank rüber und gibt Wolfgang Schäuble die Hand. Um 21Uhr47 schließlich, nach fast 12 Stunden Debatte, verkündet die Bundestagspräsidentin das Ergebnis der namentlichen Abstimmung:

O-Ton Rita Süssmuth: „Für den Antrag „Vollendung der Einheit Deutschlands – Berlin Antrag“ 337 Stimmen. Enthaltungen zwei.“

Autorin: Später wird dieses Ergebnis um 1Stimme nach oben korrigiert – heißt: Gerade mal 18 Stimmen mehr als die Bonn-Fraktion. Aus der Abstimmung geht das Berlin/Bonn Gesetz hervor. Das Parlament zieht vom Rhein an die Spree. Die Ministerien haben seitdem jeweils einen Erst und Zweit-Dienstsitz in Bonn bzw. Berlin. Trotz moderner Kommunikationstechnik wie Videokonferenzen gehen laut Bundesregierung allein für Dienstreisen tausender Mitarbeiter noch heute mehr als vier Millionen Euro pro Jahr drauf. von den Linken sagt:

O-Ton Gregor Gysi: „Naja, das geht so überhaupt nicht weiter. In den Ausschüssen werden ja immer auch Mitarbeiter gebraucht aus Bonn. Dann fällt der Tagesordnungspunkt aus, dann fliegen die hin und zurück für nüscht. Mein Gott, das können wir uns doch gar nicht leisten.“

O-Ton Katja Dörner: „Das können wir mal andersrum betrachten. Wenn alles nach Berlin zieht, muss hier immens neu gebaut werden. Das würde eine hohe Verschuldung bedeuten, für die wir Zinsen zahlen müssen. Also rechnen würde sich der Komplettumzug überhaupt nicht.“

Autorin: Hält die Bonner Bundestagsabgeordnete Katja Dörner von den Grünen entgegen. Allerdings wird nach und nach immer mehr Regierungs-Personal nach Berlin verlegt und das Gesetz so langsam ausgehöhlt. Rutschbahneffekt nennt sich das. Das Bundesumweltministerium erstellt derzeit einen Sachstands-Bericht zum Berlin/Bonn Gesetz. Ob der geteilte Regierungssitz in Deutschland auch das nächste Vierteljahrhundert in Stein gemeißelt bleibt – abwarten. Am späten Abend des 20.Juni 1991 jedenfalls ist eines klar: Bonn hat als Parlamentssitz ausgedient. Und Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth – eigentlich gegen den Berlin Antrag – erweist sich als gute Verliererin:

O-Ton Rita Süssmuth: „Ich darf der Stadt Berlin ganz herzlich gratulieren. Und jetzt wird gefeiert.“

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