DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 19. Juni 2006 Betr.: Iran, WM, San Sebastián

iplomatie ist die Kunst, seine Worte besonders vorsichtig abzuwägen – aber so Ddiplomatisch wie Frank-Walter Steinmeier vergangene Woche auftrat, hatten die SPIEGEL-Redakteure Ralf Beste, 39, und Konstantin von Hammerstein, 45, den deut- schen Außenminister noch nicht erlebt. Im Interview über die Atom-Verhandlungen mit Iran machte Steinmeier bei seinen Antworten immer wieder längere Denkpausen und richtete den Blick konzentriert aus dem Fenster – erkennbar bemüht, den Mix aus Ver- und Misstrauen richtig wiederzugeben, mit dem die Welt Iran begegnet. Niemand möchte die Verhandlungen mit unbedachten Äußerungen gefährden – in Deutschland nicht und auch nicht anderswo. König Abdullah II. von Jordanien etwa erklärt, er kön- ne „nur hoffen, dass Iran wirklich ein friedliches Programm im Sinn hat“. Abdullah trug beim Gespräch mit den SPIEGEL-Redakteuren Volkhard Windfuhr, 69, Gerhard Spörl, 56, und Joachim Preuß, 62, seine Militäruniform – nicht, um kriegerisch zu wirken, sondern weil er zuvor mit US- Militärs konferiert hatte. Nach dem Interview plauderte Abdullah ganz ent- spannt über die Chancen der Deut- schen bei der WM. Dem deutschen Bundespräsidenten, so erzählte der König, habe er bereits versichert, natür- lich werde Deutschland Weltmeister. Das war, darf man vermuten, diploma- tische Höflichkeit. Abdullahs kleiner Sohn war übrigens weniger rücksichts-

AXEL KRAUSE / LAIF AXEL KRAUSE voll. Seine Antwort an Köhler: „Natür- Windfuhr, Preuß, Spörl, König Abdullah lich Brasilien“ (Seite 106).

er am Ende tatsächlich gewinnt, scheint mittlerweile fast egal: Schon im Laufe der Wersten Woche hat die Weltmeisterschaft ein Rekordmaß an guter Laune übers Land gebracht. Die Welt ist zu Gast bei Freunden, und das tut vor allem dem Gastgeber gut. Ob in Neuruppin, einer angeblichen No-go-Area im Osten, ob im Stadion oder beim Quartier der Brasilianer: Überall begegnete den SPIEGEL-Redakteuren ein frohes Schwarzrotgold-Gefühl. Und jeder will teilhaben: Hunderttausende Deutsche feiern die WM vor der Großbildleinwand, und ein paar Glückliche schaffen es sogar jetzt noch, Karten fürs Stadion zu ergattern – mühevoll organisiert und anders, als es die Fifa eigentlich wollte (Seite 68).

chon zweimal wollte SPIEGEL-Redakteurin Helene Zuber, 49, berichten, wie es Sim Baskenland aussieht, wenn dort Frieden herrscht. Doch jedes Mal stoppten neue Akte der Gewalt die Recherche. Beim dritten Mal sollte es nun klappen. Die Separatisten haben vor drei Monaten ei- nen „permanenten Waffenstillstand“ ausgerufen, aber so ganz wollen Zubers Gesprächspartner – wie die Präsiden- tin der Stiftung für Terroropfer, Maite Pagazaurtundúa – an das Ende der Gewalt nicht glauben. Um zum ehemaligen Minister José Ramón Recalde zu gelangen, der einen Eta- Anschlag überlebte, wurde Zuber von Bodyguards in einen Wagen gesetzt, der Fahrer bekam keine Adresse genannt, sondern musste einem weiteren Auto durch die Berge fol- gen, bis zu einer zugewachsenen Einfahrt. Er hoffe, dass er

auch bald „ohne dieses Versteckspiel“ besucht werden kön- FOCUS / AGENTUR VELANDO / CONTACTO MONTSERRAT ne, sagt Recalde (Seite 114). Zuber, Pagazaurtundúa

Im Internet: www.spiegel.de der spiegel 25/2006 3 In diesem Heft

Titel WM in Deutschland – ein Land zwischen Party und Patriotismus ...... 68 Seite 22 Vier Spiele in acht Tagen: Wie ein Fan Große Bühne für die Kanzlerin das Volksfest erlebt ...... 82 Die Zeit in der zweiten Rei- SPIEGEL-Gespräch mi Adidas-Chef he ist vorbei: Europa und Herbert Hainer über die Kommerzialisierung der WM und die USA drängen Deutsch- den Zweikampf seines Konzerns mit Nike ...... 88 land, auf der internationa- Die riskante Berufung Christoph Metzelders len Bühne eine politische zum Chef der deutschen Abwehr ...... 92 Führungsrolle zu überneh- Das Vertrauen in Klinsmanns Lehren wächst ... 94 men. Doch Angela Merkel Die Stärke der Premier League schwächt verdankt ihre derzeitige Englands Nationalmannschaft ...... 96 Stellung eher der Schwäche Neuer Starkult im schwedischen Team ...... 98 der anderen als ihrer eige- nen Stärke. Die Kanzlerin Deutschland bemüht sich, die überzoge- Panorama: Nachschubprobleme bei nen Erwartungen ihrer Deutschlandflaggen / Union streitet über außenpolitischen Partner Ehegattensplitting / Kartoffelchips weiter mit Acrylamid belastet...... 17 / LUXPRESS JEAN-CLAUDE ERNST zu dämpfen. Außenpolitik: Die hohen internationalen Merkel, EU-Kollegen Erwartungen drohen Angela Merkel zu überfordern ...... 22 Außenminister Frank-Walter Steinmeier über die Chancen auf eine Einigung im Atomstreit mit Iran ...... 25 Karrieren: SPD-Chef Kurt Beck ist eher ein Airbus löst Turbulenzen aus Seite 46 Mann der alten als der neuen Mitte ...... 28 Zeitgeschichte: Hinter einem Bombenattentat Engpässe bei der Verkabelung des Airbus-Riesen A380 lösten beim Mutter-Konzern auf Konrad Adenauer steckte offenbar der EADS einen bislang einzigartigen Kursrutsch aus – und nähren Zweifel an der spätere israelische Ministerpräsident Begin ...... 30 Führungsmannschaft des Luftfahrt-Multis. Erstmals droht Topkräften der Rauswurf. Gleichstellung: Medienunternehmen wehren sich gegen das Gleichbehandlungsgesetz ...... 32 FDP: Wie die Liberalen unter enttäuschten Anhängern des CDU-Wirtschaftsflügels wildern ...... 34 Subventionen: Warum die EU den reichen CIA-Basis Deutschland Seite 58 Hamburger Speckgürtel als einzige Region Westdeutschlands mit Millionen mästet ...... 36 Deutsche und italienische Fahnder Sekten: Mit Nachhilfestunden nehmen jagen amerikanische Agenten. Scientologen Schüler ins Visier ...... 37 Denn die CIA hat mit einer Groß- Debatte: Der ehemalige Stasi-Aufklärer Operation von Deutschland aus in Joachim Gauck über Mailand den Islamisten und Ex- die Zukunft der DDR-Vergangenheit ...... 38 Asylbewerber Abu Omar entführt – und in einem ägyptischen Folter- Wirtschaft knast verschwinden lassen. Die Er- Trends: Air-Berlin-Piloten wollen sich mittlungen enthüllen minutiös, wie organisieren / Ansturm auf SAP-Betriebsrat / die US-Geheimen arbeiten. LA STAMPA 30 000 Jobs bei Volkswagen gefährdet ...... 40 Gesundheit: Finanzminister Peer Steinbrück macht Druck für eine Strukturreform ...... 42 Abu Omar Autoindustrie: Wie unabhängig ist der Auto- (2006 in ägyptischer Haft) Experte Ferdinad Dudenhöffer wirklich? ...... 44 Konzerne: Das Desaster um den Riesenjet A380 reißt in der Führungsspitze alte deutsch-französische Feindschaften auf ..... 46 Ubernahmen: Die wahren Gewinner der Schlacht um Schering ...... 48 Vier Jahrzehnte Springer-Boykott Seite 156 Arbeitsmarkt: Neue Software schönt die Nürnberger Statistiken ...... 50 Schon vor dem Protestjahr 1968 begann der Boykott des Schrift- Gesellschaft stellers Günter Grass gegen die Szene: Studie über die Paarungsbereitschaft Springer-Presse. Zwar hat sich an von Singles / Sachbuch über den seiner Einstellung zu „Bild“ und Präsidentensohn John F. Kennedy Jr...... 53 Co. seither wenig geändert. Doch Eine Meldung und ihre Geschichte ...... 56 nun ließ er sich erstmals auf ein Geheimdienste: Wie deutsche Fahner nach Gespräch mit dem Medienkon- der Entführung eines Islamisten zern ein. Grass’ Streitpartner: CIA-Agenten jagen ...... 58 WOLFGANG STECHE / VISUM STECHE WOLFGANG Springer-Chef Mathias Döpfner. Gesundheit: Die Lustseuche Syphilis kehrt ins Milieu zurück ...... 64 Ortstermin: Die Kunsthalle Kiel erklärt Grass, Döpfner Mallorcas Ballermann zur Kunst ...... 66

6 der spiegel 25/2006 Ausland Panorama: Sri Lankas Rückfall in die Gewalt / Ein Land, ein Uno warnt vor einem serbischen Exodus aus dem Kosovo / No-go-Areas in Moskau ..... 101 Fest S. 68 bis 98 Frankreich: Die Wandlungen der Sozialistin Spätestens seit vergange- Ségolène Royal ...... 104 Jordanien: SPIEGEL-Gespräch mit nen Mittwoch, als Oliver Abdullah II. über Auswege aus dem Chaos Neuville in der 91. Minute im Irak und den Kampf gegen den Terror ...... 106 das Siegtor gegen das pol- USA: GIs trainieren das Überleben im Irak ..... 110 nische Team schoss, ist Spanien: Die Basken-Metropole San Sebastián Deutschland in einen Zu- genießt den Waffenstillstand der ETA ...... 114 stand der Euphorie gera- Russland: Moskaus militärischer Vorposten ten. Hunderttausende in am Mittelmeer ...... 118 Global Village: Sightseeing-Trips in die den WM-Stadien, Millio- kommunistische Vergangenheit Krakaus ...... 120 nen auf den Straßen feiern mit südländischer Fröhlich- Wissenschaft · Technik keit und spielerischem Pa- Prisma: Piratenfischer vor deutscher triotismus ein großes, in- Ostseeküste / Schlafhormon im Wein? ...... 123 ternationales Fußballfest. Trendsforschung: Ein Expertenkartell Am meisten überrascht bestimmt über die Modefarben von Autos, scheinen die Deutschen Kleidern und Möbeln ...... 126 von sich selbst zu sein: von Raumfahrt: Der abenteuerliche Flug

FABIAN BIMMER / AP FABIAN ihrer Leichtigkeit, Leiden- der Mondsonde „Smart-1 ...... 129 Bildunterschrift schaft und Weltoffenheit. Zoologie: Fallen der Evolution – wie der Mensch Tiere zu schädlichem Verhalten verführt ...... 130 Atomkraft: Wie gefährlich sind Russlands schwimmende Reaktoren? ...... 132 Medizin: Katastrophenjahr für Allergiker ...... 133 Duell der Reformer S. 106 Kultur Szene: Der Zürcher Theaterchef Zehn Monate vor der französischen Präsi- Matthias Hartmann über seinen Wechsel ans dentenwahl läuft der Wahlkampf auf Hoch- Wiener Burgtheater / István Eörsis grandioser touren. Die Sozialistin Ségolène Royal prä- Roman „Im geschlossenen Raum“ ...... 135 sentiert sich als Modernisiererin, dem Innen- Schriftsteller: Zum 100. Geburtstag Wolfgang Koeppens wird klar, dass er SIPA PRESS (L.); AP (R.) SIPA minister Nicolas Sarkozy stiehlt sie die Schau Sarkozy Royal und die Themen. trotz aller Blockaden ein gewaltiges Werk hinterlassen hat ...... 138 Unveröffentlichtes Interview mit Wolfgang Koeppen von 1991 über Romanprojekte und die Berliner Vorkriegsjahre ...... 140 Legenden: Der amerikanische Folksongveteran und Bürgerrechtler Pete Seeger wird Die Farbenmacher Seite 126 von Bruce Springsteen wiederentdeckt ...... 142 Ein internationales Kartell von Kunstmarkt: Die Art Basel setzt auf Triviales, Buntes und Teures ...... 145 Trendforschern sorgt unbemerkt Klassik: SPIEGEL-Gespräch mit dafür, dass die Modefarben im Sir Simon Rattle, Chef der Berliner Gleichtakt wechseln. Pech für Philharmoniker, über den Klang seines alle Kunden, die sich stets mit Orchesters und Intrigen des Betriebs ...... 146 Kleidern in den neusten Trend- Bestseller ...... 149 farben eindecken: Schon wenig Nahaufnahme: Soll Heine oder Gauß in die später gibt es nichts mehr zu bayerische Walhalla? ...... 150 kaufen, was dazu passt. Medien Trends: WAZ bekommt Online-Konkurrenz / Trendfarbe Orange PRESS (R.) PRESS (L.); BOISIERE/SIPA PICTURE Randale für die „Super Nanny“ / Netzers Sportrechte-Ärger ...... xx Fernsehen: Vorschau/Rückblick ...... 154 Debatte: SPIEGEL-Streitgespräch zwischen Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner S. 138, 140 und Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass Koeppens Träume über die Macht des Medienkonzerns und seine Der geheimnisvoll verstummte Schriftsteller intellektuellen Gegner ...... 156 Wolfgang Koeppen (1906 bis 1996) verbreitete Legenden über sein Leben. „Ich habe die Idee Briefe ...... 8 zu einer Autobiographie“, sagte er noch mit 84 Impressum, Leserservice ...... 164 Chronik ARGUM in einem bisher unveröffentlichten Interview...... 165 Register ...... 166 Personalien Koeppen (1992) ...... 168 Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 170 Titelbild: Fotos DPA (4), DDP, SIPA. REUTERS (2), IMAGO

der spiegel 25/2006 7 Briefe

Danke, danke, danke für diesen Titel. Ich „Nachts, wenn ich aus dem Schlaf hochschrecke, war ein Jahr in England und habe erfahren, weil ich vermeintlich das Rauchen wieder wie angenehm es ist, weggehen zu kön- nen, ohne Reizhusten und ohne hinterher angefangen habe, dann realisiere ich nach zu stinken wie ein toter Iltis. Sekunden, dass ich geträumt habe. Und dann freue Berlin Felix Müller ich mich, dass ich seit drei Jahren ‚clean‘ bin. Als Amerikaner, der für ein Jahr in Schlaflose Nächte wünsche ich hingegen jenen Deutschland studiert, ist es für mich ein Politikern, die der Tabakindustrie das Wort Vergnügen, zu rauchen und zu trinken, wo ich es möchte. Wenn ich den Deutschen ei- reden und mitschuldig am Tod Tausender Menschen nen Rat und eine faire Warnung geben in diesem Land sind!“ darf, dann würde ich sagen, lasst nicht zu, dass die Regierung oder die EU restriktive SPIEGEL-Titel 24/2006 Kai Toss aus Duisburg zum Titel „Rauchen: Das Ende der Toleranz“ Gesetze macht wie den Nichtrauchererlass. Braunschweig Joseph-Vincent Micheli

Die Tatsache, dass ich (Nichtraucherin) für Es sollte nicht vergessen werden, dass sich Land der Raser, Raucher und Rassisten ein paar Stunden an einem verrauchten in den letzten Jahren in Sachen Rauchver- Nr. 24/2006, Titel: Rauchen: Das Ende der Toleranz Ort sitze, stört mich weniger, als wenn alle boten einiges getan hat: Alle Fluggesell- paar Minuten jemand nach draußen muss, schaften sind rauchfrei, die Flughäfen und Dieser Titel ist einer der verdienstvollsten um sich dort eine Zigarette anzuzünden. Bahnhöfe ebenfalls. An den Arbeitsplät- Berichte des SPIEGEL. Leider ist wahr: Mit dem Verbot ist die Gemütlichkeit wohl zen wird weitgehend darauf geachtet, dass Süchtige kann man nicht belehren. Dann dahin. auf die Wünsche von Nichtrauchern, die sollten aber die nichtrauchenden entschei- München Yvonne Deim nicht mit Rauchern an einem Arbeitsplatz denden Eliten in Deutschland den Mut auf- sein wollen, Rücksicht genommen wird. In bringen, die Bevölkerung zu schützen. etlichen Firmen und Behörden wurde auf- Freiburg i. Br. Helmuth Stubenrauch grund interner Vereinbarungen das Rau- chen schon gänzlich untersagt. Auch die Kinder und Jugendliche wird man vom freiwillige Vereinbarung der Regierung mit Einsteigen in diese Sucht nur abhalten kön- dem Gaststättenverband über die Auswei- nen, wenn das Rauchen als „uncool“ im sung von Nichtraucherbereichen ist doch öffentlichen Bewusstsein und als Körper- nach der jahrelangen Untätigkeit dort ein verletzung gegenüber nichtqualmenden Fortschritt. Es geht eben deutsch-langsam Mitmenschen gilt. Auch ein generelles voran, aber die Schnecke bewegt sich. Werbeverbot müsste gelten. Es wäre sinn- Burgdorf (Nieders.) Hans-Werner Blanck voll, eine Stiftung zu gründen, die Geld

für Anzeigenkampagnen sammelt, die das DE OLZA / AP OCHOA DANIEL Die derzeitige Kampagne kann auch bei Rauchen als „uncool“ und todbringend Verbotsschild (in der Madrider U-Bahn) einem Nichtraucher Kopfschütteln verur- qualifizieren und die deutschen Printme- Wundern über die Deutschen sachen; die indoktrinäre Art und Weise dien etwas von der finanziellen Abhängig- erregt sogar Widerwillen, wenn man be- keit der Werbeaufträge durch die Tabak- Seit geraumer Zeit ärgere ich mich über die denkt, dass vor etwa vier Jahrzehnten ähn- industrie entlasten würde. Die Tabaklobby IC-Waggons der Deutschen Bahn, in denen lich gutmeinende Menschen Raucherzim- wird man nämlich nur mit ihren eigenen Nichtraucher mit einer lächerlichen Glas- mer in den Schulen durchsetzten, weil je- Mitteln in die Knie zwingen können. scheibe zwischen den Sitzreihen vom rau- der mündige Bürger selbst entscheiden Berlin Torsten Zwingenberger chenden Rest des Waggons „geschützt“ sollte. Heute schüttet man in der Gegen- werden. Es ist gelinde gesagt ein Armuts- richtung das Kind mit dem Bade aus. Ich möchte im Restaurant oder Bar nicht auf zeugnis des Staates, dass er offenbar die Minden (Nrdrh.-Westf.) Udo Knau die Begleitung entspannter Raucher verzich- Gesundheit seines Volkes den kommer- ten müssen. Riechen Sachen nach Qualm, ziellen Interessen rücksichtslos opfert. Was ist mit der Mystik des Rauchens (Ba- wasche ich sie – wo bitte ist das Problem? Wiesbaden Cindy Rosenthal bylonier, Ägypter, Indianer)? Wo bleibt die Freiburg i. Br. David Harnasch Genussabteilung der Pfeifen-, Zigarren-, Während des Lesens habe ich beschlossen, Zigarilloraucher? Stattdessen nur staubige Nach einem abendlichen Auftritt kann ich bis zum Ende des Titels kettenzurauchen Feinstaubanalysen, die man auch für jede als Sängerin meist kaum noch sprechen und und dann mit dem Rauchen aufzuhören. vielbefahrene Straße anwenden könnte. habe zudem das Gefühl, als könnte ich ei- Ruggell (Liechtenstein) Sigvard Wohlwend München P. Prusik nen Nikotinfilm von meiner Haut abziehen. Rauchfreie Gaststätten, Kneipen und Bars würden mir sehr entgegenkommen und Vor 50 Jahren der spiegel vom 20. Juni 1956 dazu führen, dass endlich auch mal Nicht- 20 Millionen Mark für die Dresdner Frauenkirche Staatssekretär Globke: raucher einen angenehmen Abend auswärts „Ein utopisches Unterfangen“. Heereshistoriker Wilhelm Volrad von verbringen können. Rauchhaupt: „Vom bunten Rock zum bunten Schlips“. Rote-Kreuz-Kran- Hamburg Claudia Pohl kenschwestern protestieren 70 Wochenstunden und schlechte Bezahlung. Keine Chance für US-Außenminister Dulles Werden die Demokraten im November siegen? Musikalische Machtfülle Dirigent Herbert von Karajan Besonders wir Deutsche sollten vorsichti- und seine vielen Ämter. Albert Camus’ neuer Roman Zu sarkastisch? ger mit unserem fatalen Hang zur Gleich- Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de schaltung sein. Im Übrigen gilt: Wer keine oder im Original-Heft unter Tel. 08106-6604 zu erwerben. Laster hat, hat meist auch keine Tugend. Titel: Südvietnams Staatschef Ngo Din Diem Nürnberg Barbara Steiniger

8 der spiegel 25/2006 Briefe

Ein Bekannter, der seinen krebskranken Va- ter auf der Intensivstation besuchte, dort, wo Es ist wie Adventssingen sich die Leute die verseuchten Lungen aus Nr. 23/2006, Fußballkultur: WM-Gespräch mit dem dem Hals kotzen, wurde unverzüglich Nicht- Philosophen Peter Sloterdijk über nationale raucher. Möglicherweise wäre es eine gute Erregungsgemeinschaften und männliche Jäger Idee, Schulklassen mit diesem Anblick zu konfrontieren und vielleicht auch einige un- Es ist wie Adventssingen, nur eben im serer beschränkten Politiker mitzunehmen, Sommer. Alle betätigen sich irgendwie als deren Dummheit in dieser Beziehung ja viel- Apostel der frohen Botschaft: Fußball- leicht symptomatisch für alles andere ist. weltmeisterschaft. Der Sport geht engum- Recklinghausen (Nrdrh.-Westf.) K.-P. Kubiak schlungen mit Politik, Medien und Spon-

JENS KOEHLER / BILDERMEER JENS KOEHLER soren, so als könnten wir uns nur ge- Das US-amerikanische Gesundheitsaposto- Getreidefeld (auf Rügen) meinsam aus der Krise schießen. Selbst lat verkündet die totale Heilung der Welt als Wo bleibt da der Einsparungseffekt? Philosophen werden bemüht, um dem Nichtraucherparadies, und diesem Kreuz- Ganzen noch die nötige Deutungstiefe zu zug wird gefolgt. Bis auf Deutschland, das geben. Es wird eben an nichts gespart und sich noch sperrt. Aber braucht der „freie Viele mehr statt wenige viel! nur das Beste aufgeboten, was die Repu- Mensch“ diesen Glückszwang? Jeder ist Nr. 23/2006, Subventionen: Die EU-Milliarden für die blik zu bieten hat. Schließlich geht es ja doch seines Unglücks eigener Schmied! Landwirtschaft helfen nur den Großen auch um einiges, nicht nur um den Welt- Aber von mir aus – ich bin Nichtraucher – meistertitel, sondern darum, wie sich ein rauchfreie, aber auch rauchoffene Zonen. Wer vorrechnet, dass es für den deutschen vereintes Deutschland der Welt präsen- Hamburg Gerald Böhnel Steuerzahler günstiger wäre, wenn Deutsch- tiert, das im Ausland aufgrund seiner Ver- land seine gesamte Agrarproduktion auf gangenheit bisweilen noch recht skeptisch Eine friedliche Lösung ist nur möglich, dem Weltmarkt einkaufte, anstatt sie für betrachtet wird. wenn man das Entstehen neuer Raucher das Doppelte im eigenen Land zu subven- Berlin Wolfgang Gerhards verhindert und den abhängig Gewordenen tionieren, der muss auch nachfragen, wie ihre Situation nicht über Gebühr erschwert. denn auf der Welt zu Weltmarktpreisen pro- Das Interview mit Sloterdijk ist brillant, Ich schlage daher vor, Letzteren einen Be- duziert wird. Ist der Preis das entscheiden- poetisch, brüllend komisch, sensationell. hindertenausweis auszustellen, der exklusiv de Kriterium, geht die Produktion dorthin, Hamburg Simone Buchholz zum Bezug von Rauchware und Rauchen in wo Menschenwürde und Umweltschutz am der Öffentlichkeit berechtigt. wenigsten beachtet werden. Und welche Vom Pornovergleich ganz abgesehen: Weiß Essen Klaus Müller Landschaft wollen wir? Je schöner die Sloterdijk wirklich nicht, dass das Tor sei- Landschaft, desto schwerer die Landwirt- ner Polemik folgend das einzige fest im Dass sich die rauchenden Politiker sogar schaft. Wer hier die reich strukturierte Kul- Boden verankerte Jagdgut wäre und gar mit international geächteten Verbrechern turlandschaft erhalten und das Artenster- keine Möglichkeit hätte, sich mit allen Mit- einlassen und die Volksgesundheit gefähr- ben aufhalten will, der muss bereit sein, den teln vor dem protoartilleristisch gekickten den, stört sie wohl nicht angesichts der Landwirt für seine Landschaftspflege zu be- ballistischen Objekt zu schützen? Es gibt Steuereinnahmen. Fragt sich nur, ob die zahlen. Die Subventionen sollten an die Ein- offenbar doch etwas Dümmeres als den Einnahmen der Tabaksteuer das Leben der haltung von Natur- und Umweltschutz so- Torjubel der Fußballer, nämlich die Attitü- toten Aktiv- und Passivraucher wert sind. wie an die Zahl der Arbeitskräfte gekoppelt de derer, die es nicht bei „das Runde muss Wolfsburg (Nieders.) Falk Klassen werden. Dann bekämen viele mehr statt in das Eckige“ belassen können und von 17 Jahre wenige ganz viel! oben herab philosophierend statt balltre- Burglahr (Rhld.Pf.) Iris Reifenhäuser tend über andere herfallen. Smoking is lower class behaviour … Unse- Landwirtin Krefeld Ulrich Koch re europäischen Nachbarn und Touristen hier wundern sich, mit welchem Selbstver- Im Schach der EU-Politik sind die land- ständnis wir so weit hinterher sind. wirtschaftlichen Familienbetriebe seit EWG- München Kai Thiele Zeiten nur die kleinen „Bauern“, die im Poker um die Subventionen in großer Zahl Der Obergag ist, dass Rauchen noch nicht von den Großen geschluckt werden. Jetzt einmal an deutschen Schulen grundsätzlich wird den arbeitsplätzevernichtenden Agrar- verboten ist. Die Politik gibt sich bedenklich industriellen Geld zugeschanzt, während tolerant gegenüber Rücksichtslosigkeit im die arbeitsintensiver wirtschaftenden, die Land der Raucher, Raser und Rassisten. Umwelt und die Tiere schonenden Betriebe Weinsheim (Rhld.-Pf.) Gerd Bottler mit Almosen abgespeist werden.

Stelle (Nieders.) Eckard Wendt IMAGO Es gebietet die Wahrheitspflicht, darauf hin- Arge für artgerechte Nutztierhaltung e. V. Werbende Fußballer zuweisen, dass der Forschungsrat Rauchen „Affentheater mit Riesenaufwand“ und Gesundheit in verdienstvoller Weise Die Einstellung der deutschen Agrarpro- auch Forschungsprojekte gefördert hat, die duktion hätte unwillkürlich einen raschen Da plärren Kommunen über ihren Geld- dem kommerziellen Interesse dieser Indu- Anstieg der Preise für Lebensmittel zur mangel, über die zunehmende Armut, aber strie entgegengerichtet waren. Zwei weltweit Folge. Die Aufgabe der Agrarproduktion für die Fußball-WM ist nichts zu gut und zu eingesetzte Verfahren zur Lungenkrebsdia- würde zu einer Abhängigkeit wie bei Öl teuer. Es ist, als hätte die gesamte Nation gnostik aus meinem Labor sind so zum Bei- und Gas führen. Die Auswirkungen sind eine Gehirnwäsche erfahren, denn wie sonst spiel unterstützt worden. Pecunia non olet! bekannt. Die Zahl der Arbeitslosen würde ist dieses Affentheater mit Riesenaufwand Nun aber – nachdem es uns kategorisch ver- steigen, für die Pflege der Landschaft fie- zu erklären. Ja, es passt zu dieser Schein- boten ist, VDC-Mittel anzunehmen – gibt es len hohe Kosten an. Wo bleibt da der er- welt, in der wir leben, und es ist diese rück- hier große Forschungsförderungslücken. rechnete Einsparungseffekt? sichtslose Übertreibung, die sauer aufstößt. Heidelberg Prof. Dr. Werner W. Franke Neu-Ulm Hubert Frick Bad Bocklet (Bayern) Margot Scholz

12 der spiegel 25/2006 Briefe

hören in der Verbindung zum Besten, was Hinterlistige Verösterreicherung? Sie in den letzten Jahren gebracht haben. Stuttgart Christoph Bentele Nr. 23/2006, Literatur: Die Polemik um Peter Handke und den entgangenen Heine-Preis Herzliche Gratulation Herrn Matussek, Da hatte ich es doch gewagt, die Verleihung dem es gelungen ist, nach penibler Recher- des Heine-Preises an Peter Handke als schä- che eine Verschwörung aufzudecken, die big zu bezeichnen, was Matthias Matussek einmalig im deutschsprachigen Literatur- besonders schlimm fand. Klar sollten Poli- betrieb ist: die hinterlistige Verösterrei- tiker in der Regel das Votum preisverlei- cherung der deutschen Literatur durch hender Jurys akzeptieren, und das tun sie Jelinek, Handke, Löffler und Konsorten. ja auch. Wenn allerdings der Durch diese vorzeitige De- Heine-Preis an einen Schrift- couvrierung muss nun auch steller verliehen werden soll, der im kärntnerischen Bären- der sich immer wieder als tal unter Patronanz des Lan- Bewunderer eines Kriegsver- deshauptmannes gegründete brechers präsentiert hat, dann Verein „Verösterreicherung kann Schweigen „schäbig“ von Goethe und Schiller“ un- sein. Erschreckend, wie viele verrichteter Dinge seine deutsche Dichter und Feuille- heimliche Tätigkeit wieder tonisten vor lauter Bewunde- einstellen. Gratuliere rung der sprachmagischen nochmals herzlichst zu die- Nonkonformität Peter Hand- sem Fahndungserfolg. kes dessen wahrheitsverhöh- Wien Dr. Maximilian Lobmeyr nende Verbeugung vor dem

faschistischen Diktator zur / AP PAVLOVIC PETAR So erhellend der Srbljanoviƒ- Seite schieben. Das sei Poli- Autor Handke Beitrag über Handkes fehl- tik und habe mit Dichtung Narzisstische Sprachmystik geleitete Solidarität mit serbi- nichts zu tun. Wer so argu- schen Tätern statt mit den ser- mentiert, verhöhnt nach meiner Überzeu- bischen und allen anderen Opfern ist, so gung die nichtserbischen und serbischen erschreckend ist es, in einem „Nachrichten- Opfer des Regimes von MiloΔeviƒ. Dazu will Magazin“ Verschwörungstheorien über li- und werde ich als Politiker nicht schweigen. terarische Jurys verbreitet zu finden, die Auch nicht als Bewunderer Heinrich Hei- sich offensichtlich auf nichts anderes stützen nes. Und auch nicht als Leser Peter Hand- als auf oberflächliche wie untergriffige Be- kes, der ich auch in den letzten Jahren blieb. und Abwertungen der betroffenen Schrift- So habe ich erlesen und erlitten, wie artifi- stellerInnen und PublizistInnen! ziell-narzisstische Sprachmystik Schritt für Graz Daniel Eckert Schritt jeden Wirklichkeitssinn tilgen kann. Wer die Wahrheit sucht, braucht Dichtung, Matthias Matussek hat dieses geschmack- darf aber Politik nicht verachten. lose Gericht sehr treffend analysiert: den Berlin Fritz Kuhn „Kultur-Betriebsnudelauflauf al Pesto“ (zer- Fraktionsvorsitz. Bündnis 90/Die Grünen stoßen). Handke, den ich früher verehrte, ist inzwischen vom „Gewicht der Welt“ er- Wie dankbar müssen Germanisten, Litera- drückt worden, hat sich gewissermaßen sel- turfreunde, ja ein ganzes Heine-Volk sein, ber plattgemacht; hat peinlicherweise vor dass uns Matussek den rechten, morali- dem serbischen Volk einen Kotau gemacht schen Weg zur Preisvergabe an Schriftstel- und ist bei dieser ler weist. Braucht das literarische Deutsch- Verrichtung auf die land seine Selektion in Gut und Böse? Ein Schnauze gefallen, jeder Literaturkenner wird seine Wahl zu weil das große serbi- treffen allein in der Lage sein! sche Volk sich solche Lindenberg (Rhld.-Pf.) Johannes Hesser Anbiederei nicht ge- fallen lässt. Handke ist Ich schlage vor, den Heine-Preis der Stadt zum Dampfplauderer Düsseldorf in Gretchen-Müller-Preis um- verkommen, der kal- zubenennen und ihn künftig ausdrücklich ten, wichtigtuerischen für herausragende Leistungen in politi- und noch dazu abge-

schem Konformismus zu verleihen. Eine standenen Dampf ver- PRESS BECHER / STAR PATRICK literarisch fachkundige Jury würde sich breitet. Schade. Ein Schauspieler Schönherr dann erübrigen. Juroren wie Preisträger Mensch, der glaubt, „Kalter Dampf“ könnten aus dem Kreis der Ratsmitglieder politisch zu sein, oh- der Stadt gewählt werden. ne Respekt vor den Opfern eines Massen- Kronberg (Hessen) Prof. Dr. Ulfrid Neumann mörders zu haben, ist ein Skandalon. Santa Eulalia (Spanien) Dietmar Schönherr Selten haben zwei Beiträge einen solch stimmigen Akkord ergeben wie die ge- Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An- nannten. Das Entlarvende von Matussek schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. und das Anklagende von Srbljanoviƒ ge- Die E-Mail-Anschrift lautet: [email protected]

14 der spiegel 25/2006 Panorama Deutschland

WM-SICHERHEIT Kaum Kontrollen er Bund Deutscher Kriminalbeam- Dter (BDK) hält das Sicherheitskon- zept der Fußball-WM in einem wesent- lichen Punkt für gescheitert. Bundes- innenministerium und WM-Organisa- tionskomitee hatten im Vorfeld auf eine strikte Personalisierung der Tickets be- standen, um so Schwarzmarkthandel zu verhindern und potentielle Gewalttäter aus den WM-Stadien fernzuhalten. Al- lerdings wurden rund zehn Prozent al- ler Tickets für die WM-Spiele von vorn- herein ohne Namensangaben verkauft, darunter zahlreiche VIP-Karten des Schweizer Fifa-Vermarktungspartners ISE. Anders als geplant finden in den RICHARD JONES / SINOPIX Fahnenproduktion in der Volksrepublik China

PATRIOTISMUS Ende der Fahnenstange u Nachschubproblemen hat die explodierende Nachfrage nach deutschen Natio- Znalflaggen bei vielen Händlern geführt. Vor allem bei Autowimpeln droht ein Eng- pass. Grund: Das wehende Symboltuch ist selten Made in Germany, sondern meist ein Billig-Import aus China. 100000 Stück der Polyesterfähnchen mit Plastikstiel hatte etwa die Kölner Firma Fernost Importe Geiss (FIG) zur WM geordert – nach wenigen Ta- gen waren sie vergriffen. Auch die bei fünf anderen Importeuren nachgeorderten Ex- emplare waren schnell ausverkauft. „Selbst wenn in China massenweise Nachschub auf Halde läge“, so FIG-Marketing-Mann Calogero Lo Cicero, „müsste der, weil Luft- fracht zu teuer ist, per Container auf dem Seeweg kommen und wäre frühestens in vier

bis sechs Wochen in Deutschland – dann aber ist die WM vorbei.“ Auf Fähnchen aus PETER KNEFFEL / DPA deutscher Produktion wollen Händler, wie der Chef des Internet-Discounters Ever- Einlasskontrolle bei WM (in Nürnberg) flag, Marcel Cornelißen, nicht umsteigen: Die seien „je nach Qualität und Verarbei- tung um das 10- bis 30-fache teurer“ als die chinesische Ware. Bei Abnahme von über Stadien beim Einlass auch keine routi- 50000 Stück liefern Firmen aus dem Reich der Mitte „German car flags“ für rund 17 nemäßigen Identitätskontrollen statt – Cent pro Stück – die dann hier für bis zu 5 Euro über den Ladentisch gehen. Die Fah- allenfalls mit Stichproben wird geprüft, nennot verschärfen dürften schlechte Nähte, die die schwarz-rot-goldenen Flatterteile ob Karteninhaber und -käufer identisch schnell ausfransen lassen. Auch der Stiel ist weniger dauerhaft als es Neupatrioten recht sind. „Mit der Zweiklassen-Vergabe der sein dürfte. Bei Tempo 100 ist oft Ende der Fahnenstange, wie FIG-Mann Lo Cicero Tickets wird das Sicherheitskonzept ad jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit feststellt: „Auf der Autobahn Köln–Aachen liegen absurdum geführt“, klagt BDK-Vorsit- die Dinger reihenweise am Fahrbahnrand.“ zender Klaus Jansen. „Man kann nur hoffen, dass alles gut geht.“

MEDIEN soll. Hinter den Kulissen der Fuß- ball-WM reden nun allerdings Begehrter Kaiser Beckenbauer, Telekom-Manager und Bevollmächtigte des ZDF ür geschätzte 15 Millionen Euro wird über eine Änderung der bereits FFranz Beckenbauer, Chef des WM- unterschriebenen Abmachungen. Organisationskomitees, in den kom- Grund: Beckenbauer möchte menden drei Jahren Werbeträger und auch künftig beim ZDF Länder- sogenannter Experte für Fußball bei der spiele analysieren, obwohl sein Telekom. Der „Kaiser“ soll für PR- Vertrag mit den Mainzern nach Kampagnen zur Verfügung stehen und der WM ausläuft. Angeblich Spiele der Bundesliga analysieren, de- fürchtet er, aus dem Blickfeld des ren Internet-Rechte die Telekom für 50 Massenpublikums zu verschwin- Millionen Euro gekauft hat und die den, wenn er nur noch im Inter- Beckenbauer im Netz populär machen Beckenbauer net zu sehen wäre.

der spiegel 25/2006 17 Panorama

FAMILIE Ehegattensplitting spaltet Union nnerhalb der Union wird der Streit Ium die Zukunft des Ehegattensplit- tings immer schärfer. Hintergrund sind Bemühungen in der CDU-Parteispitze, die steuerliche Besserstellung zukünftig Familien zukommen zu lassen. „Wir ha- ben grundsätzliche Bedenken gegen die Umwandlung des Ehegattensplittings in ein Familiensplitting“, sagte CSU-Gene- ralsekretär Markus Söder. „Für die CSU ist es wichtig, dass die Ehe auch weiter unter einem besonderen Schutz steht.“ Derzeit profitieren vor allem sogenann- te Hausfrauenehen vom Ehegattensplit- ting. Die CSU fürchtet, dass der Partei

konservative Wähler verloren gehen, JÖRG MODROW / LAIF wenn mit einem Familiensplitting auch Hamburger Hafen unverheiratete Paare mit Kindern geför- dert werden. Sachsens Ministerpräsi- SUBVENTIONEN dent Georg Milbradt (CDU) würde da- Geschenk für Hafenwirtschaft leichzeitig mit der Einführung der Steuer auf Biodiesel will die Große Koalition Gder deutschen Hafenwirtschaft ein Sprit-Abgabengeschenk machen. Danach soll Diesel-Kraftstoff für Hafenfahrzeuge und -maschinen nur noch wie Heizöl besteuert werden – statt 47 wären dann nur rund 6 Cent pro Liter fällig. Das sieht eine Ände- rung des Energiesteuergesetzes vor, die in dieser Woche im Finanzausschuss des Bundestags beraten werden soll. Dem Fiskus entgingen durch die Neuregelung nach Berechnungen des Bundesfinanzministeriums jährlich 25 Millionen Euro. Obwohl die Hafenwirtschaft in Deutschland boomt, fordert der Zentralverband der deutschen See- hafenbetriebe die Steuerermäßigung seit langem, da auch der Sprit in belgischen und niederländischen Häfen verbilligt sei. Die geplante Subvention ist Teil eines Deals der Finanzpolitiker der Koalition, um die Verkehrspolitiker zur Zustimmung für ihre Biosteuerpläne zu gewinnen. Im Finanzministerium gibt es hingegen Bedenken ge-

WEISS / IMAGO gen das Vorhaben: Dort wird befürchtet, andere Branchen könnten ebenfalls Steuer- nachlässe fordern – etwa die Landwirtschaft. Erst im vergangenen Jahr war die Steu- gegen eine derartige Regelung begrü- erbegünstigung für Agrardiesel eingeschränkt worden. ßen: „Das ist eine gute Idee. Vor allem Familien im mittleren Einkommens- bereich können mit einem solchen In- strument entlastet werden.“ Der saar- ländische CDU-Ministerpräsident Peter KRANKENKASSEN Euro kassierte der Chef der mit rund Müller plädierte dafür, die Steuervortei- 380000 Versicherten relativ kleinen le des Ehegattensplittings einzuschrän- Teure Vorstände, Augsburger BKK Essanelle. Solche Ver- ken. „Die dadurch frei werdenden Mit- gleiche müssen aus Hunderten Einzel- tel könnten wir für das Familiensplitting wenig Transparenz veröffentlichungen zusammengesucht verwenden.“ Die CDU will im kom- werden, denn „soweit ersichtlich, exis- menden Jahr ein neues Grundsatz- ie Vorstandsbezüge der 256 gesetz- tiert derzeit nirgends eine zusammenfas- programm beschließen und darin eine Dlichen Krankenkassen sind in vielen sende Darstellung oder Liste“ der Zah- Abkehr vom herkömmlichen Ehegatten- Fällen offenbar unverhältnismäßig hoch, lungen, heißt es in der Expertise. Über- splitting festschreiben. „Familien mit untereinander kaum vergleichbar und dies weigern sich 17 Kassen, darunter die Kindern müssen steuerlich besser ge- für Versicherte wie Öffentlichkeit nicht Techniker-Krankenkasse sowie die BKK stellt sein als Kinderlose“, heißt es in durchschaubar. Zu diesem Ergebnis Dr. Oetker und die BKK Hoechst, die einem Entwurf des neuen Parteipro- kommt ein von der Linksfraktion ange- Vorstandsbezüge wie gesetzlich vorge- gramms. Damit sollen auch unverheira- fordertes Gutachten der Wissenschaft- schrieben im Bundesanzeiger zu veröf- tete Paare und Alleinerziehende ange- lichen Dienste beim Bundestag. Der Vor- fentlichen – mehrere haben gegen die sprochen werden: „Familie ist überall standsvorsitzende der Barmer Ersatzkas- Offenbarungspflicht geklagt. „Manche dort, wo Eltern für Kinder und Kinder se (7,2 Millionen Mitglieder) erhielt bei- Vorstände betrachten ihre Kassen offen- für Eltern Verantwortung überneh- spielsweise im vorigen Jahr 185422 Euro bar als Selbstbedienungsladen“, kritisiert men“, heißt es in dem Papier. Grundvergütung; immerhin noch 166400 Gesine Lötzsch von der Linkspartei.

18 der spiegel 25/2006 Deutschland

LEBENSMITTEL Die Marke „Pringles“ von Procter & Gamble war mit 1080 Mikrogramm um Belastete Chips 56 Prozent höher belastet als 2005. Vor allem Bioproduzenten konnten dagegen anche Kartoffelchips enthalten laut den Acrylamid-Anteil verringern. Food- MVerbraucherorganisation Food- watch kritisiert vor diesem Hintergrund watch nach wie vor große Mengen mög- das neue Verbraucherinformationsgesetz, licherweise gesundheitsschädlicher Stof- das der Bundestag kommende Woche fe. Neue Messungen bei Snacks ergaben verabschieden will: Hersteller müssen erhebliche Unterschiede in der Belas- auf Verpackungen weiterhin keine Anga- tung mit Acrylamid, das in Verdacht ben über den Acrylamid-Gehalt machen. steht, Krebs zu erzeugen. Besonders so- „So wird der Verbraucher auf unverant- genannte Stapelchips schnitten deutlich wortliche Weise für dumm gehalten“, schlechter ab als in vergangenen Jahren. sagt Foodwatch-Chef Thilo Bode.

Acrylamidbelastung bei Stapel-Kartoffelchips in Mikrogramm pro Kilogramm Lorenz Feurich Rusti Crusti Pringles Snack-World Stapel-Chips Croc Paprika Paprika Chipsletten Aldi Lidl

Juni 2006 1080 592 436 320

Veränderung gegenüber 2005 + 556%6% + 124%124% + 444%4% + 74%74%

2005 Quelle: 693 264 303 184 Foodwatch

KARRIEREN TERROR Professor Joschka Festnahme x-Außenminister Joschka Fischer statt Fernreise E(Grüne) geht im Herbst als Gastpro- fessor an die amerikanische Eliteuniver- er unter Terrorverdacht vergangene sität Princeton und gibt dort ein Semi- DWoche in Frankfurt am Main festge- nar über Internationale Krisendiploma- nommene Iraker Burhan B. wollte sich tie. Zugleich erhält er einen Vertrag am möglicherweise aus Europa absetzen. renommierten „Council on Foreign Re- Der 36-Jährige war von Zürich aus auf lations“, einer Denkfabrik im nahe gele- dem Weg nach Jordanien, als ihn Fahn- genen New York. Wann der Grüne sein der im Transitbereich des Flughafens Bundestagsmandat abgibt, ist noch of- stoppten. Wohnung und Telefon hatte B. fen. Der 58-jährige einstige Schulabbre- vor seiner Abreise gekündigt. Den deut- cher veröffentlichte voriges Jahr ein schen Ermittlern ist B. seit November Buch über die Welt nach dem 11. Sep- 2003 bekannt, als sie Gespräche mit sei- tember. Seit Mai schreibt er für ein US- nem Landsmann Ata R. abhörten. R. Pressesyndikat als Kolumnist unter dem und zwei weitere Angeklagte stehen ab Titel „Der re- Dienstag in Stuttgart vor Gericht. Sie bellische Rea- sollen im Dezember 2004 ein Attentat list“. Die An- auf den damaligen irakischen Premier kündigung geplant haben, als der Berlin besuchte. des Seminars Wohl in Absprache mit Ata R. habe der war Ende ver- jetzt Festgenommene 22000 Euro an die gangener Wo- Terrororganisation Ansar-e Islam im che aus Ge- Irak weitergeleitet, so die Bundesanwalt- heimhaltungs- schaft. In einem der abgehörten Telefo- gründen wie- nate sollen beide über Probleme bei der von der einer 8000-Euro-Überweisung nach Bag- Princeton- dad gesprochen haben. Zudem haben Homepage die Ermittler ein Fax nach Istanbul ab-

BAZ RATNER / REUTERS BAZ RATNER verschwun- gefangen, in dem verschiedene Geld- Fischer den. beträge aufgelistet werden.

der spiegel 25/2006 19 Panorama

THÜRINGEN Teure Partys, dubiose Zahlungen ie Fraktionen im Thüringer Land- Dtag haben parteiübergreifend Steu- ergelder verschwendet. Zu diesem Schluss kommt der Landesrechnungshof in internen Prüfberichten. Danach hat die CDU über Jahre hinweg aus der Fraktionskasse mehr als 77000 Euro an

ANDREAS STEINDL ANDREAS einen Parlamentarischen Geschäftsfüh- Soldaten der Nato Response Force im Manöver auf den Kapverdischen Inseln rer gezahlt, obwohl das Bundesverfas- sungsgericht derartige Zuschüsse im Juli NATO 2000 als „mit dem Verfassungsrecht unvereinbar“ einstufte. Die PDS-Frak- tion gab fast 190000 Euro für einen Brüsseler Blamage kommunalpolitischen Berater aus, des- sen Dienste die Rechnungsprüfer für m Vorfeld eines für November geplanten Gipfeltreffens in Riga droht der Nato eine zweifelhaft halten. Der Berater, Frank Ipeinliche Schlappe. Ihre neue Eingreiftruppe, die vergangene Woche ein Manöver Kuschel, war zu DDR-Zeiten der Staats- auf den Kapverdischen Inseln begann, ist trotz langer Vorbereitung nur bedingt ein- sicherheit als IM „Fritz Kaiser“ zu satzfähig. Eigentlich wollte die Allianz nach der zweiwöchigen Übung „Steadfast Diensten und sitzt heute für die PDS Jaguar“ die „volle Einsatzbereitschaft“ der 2002 beschlossenen Nato Response im Landtag. Der Rechnungshof sieht Force (NRF) verkünden. Die fast nur aus europäischen Einheiten bestehende NRF zudem Hinweise auf eine verbotene hat bislang aber nicht ihre Sollstärke von rund 25000 Mann erreicht. Außerdem feh- Finanzierung von Parteiarbeit mit Frak- len Hubschrauber, Transportflieger und Fernmeldegerät. Um eine Blamage abzu- tionsgeldern. Beanstandet werden von wenden, wollen die Amerikaner vorübergehend die Lücken füllen, für kommendes CDU und SPD in Auftrag gegebene Jahr allerdings haben die Europäer erneut zu wenig Kräfte angemeldet. Vielen ist Umfragen durch Meinungsforschungs- die NRF-Beteiligung zu teuer: Die Soldaten müssen moderne, mithin teure, Ausrüs- institute. Auch hohe Abfindungen an tung erhalten, immerzu trainieren und ständig in Alarmbereitschaft stehen. Auch in ehemalige Mitarbeiter der PDS und Berlin scheint das Interesse zu erlahmen: Wegen der hohen Transportkosten schick- Partys der Fraktionen von SPD wie te die Bundeswehr weniger Truppen auf die Kapverden als vorgesehen. Minister CDU werden kritisiert. Es war die erste Franz Josef Jung (CDU) sagte zudem kurzfristig seinen lange geplanten Besuch ab, Prüfung der Landtags-Fraktionen durch obwohl rund 2000 der knapp 7000 Manöver-Soldaten Deutsche sind. den thüringischen Rechnungshof seit zehn Jahren.

BUNDESPOLIZEI ten um: Per Erlass vom vergangenen Freitag hat das Ministerium den Beam- Nachgefragt Dienst ohne Drinks ten verboten, mit dem Polizeiwagen bei McDonald’s vorzufahren oder gar die achdem das Innenministerium den Restaurants der Burgerkette in Uniform Keine Opferpension N32000 Bundespolizisten zur Fuß- zu betreten, um dort Gutscheine für ball-WM schon das Tragen von Zöpfen Cola oder Kaffee einzulösen. Hinter- Ehemalige politische Häft- und Drei-Tage-Bärten verbieten wollte, grund ist eine Aktion der Fastfood-Ket- linge der DDR sollen nach dem treibt die Ministerialen nun erneut die te, den Mitgliedern der Gewerkschaft Willen der Union künftig eine Sorge um das Ansehen der Bedienste- der Polizei (GdP), die im WM-Einsatz „SED-Opferpension“ sind, jeden Tag einen Gut- erhalten. Finden schein für einen Softdrink Sie diesen Schritt zu schenken. Es dürfe nicht überfällig oder der Eindruck entstehen, überflüssig? „dass Polizeivollzugsbeam- te/-innen Geschenke in Be- zug auf ihr Amt annehmen“, überfällig 36% heißt es dazu nun in der Be- gründung des Erlasses. Da- überflüssig 49% gegen kritisierte der Vorsit- zende der GdP in der Bun- weiß nicht/ WEST OST despolizei, Josef Scheuring, 13% ist mir egal die Anordnung: „Offenbar 35 37 soll wieder ein Problem er- TNS Infratest für den SPIEGEL vom 13. bis 15. Juni; rund 1000 Befragte;

FRANK DARCHINGER FRANK funden werden, weil man an 100 fehlende Prozent: keine Angabe 50 47 McDonald’s-Filiale (in Bonn) noch nicht genügend hat.“

20 der spiegel 25/2006 LEFTERIS PITARAKIS / AP Regierungschefin Merkel*: Sehnsucht nach einem unverbrauchten Gesicht

AUSSENPOLITIK Stärke aus Schwäche Lösung der EU-Verfassungskrise, Vermittlung im Iran-Konflikt, Ausgleich mit Russland – die Hoffnung der Verbündeten auf die Deutschen scheint grenzenlos. Doch Kanzlerin Merkel will sich nicht das Spiel der anderen aufdrängen lassen, um nicht an unlösbaren Aufgaben zu scheitern.

s gibt Zeiten, in denen sich auch für meint. Freudlos dümpelte der EU-Gipfel Es ist eine ungewohnte Rolle, in der sich die Mächtigen in Europa die Prio- vor sich hin. Am Ende war man sich einig, die Bundesregierung plötzlich befindet. Eritäten verschieben. Als die 25 das wichtigste Problem erst einmal zu ver- Jahrzehntelang wurden die Deutschen vor Staats- und Regierungschefs am vergange- tagen. Die europäische Verfassungskrise allem als stets solvente Vertreter der nen Donnerstag beim Abendessen über soll demnächst eine Frau lösen – die deut- Scheckbuchdiplomatie ernst genommen. die Zukunft Europas berieten, schlich sche Kanzlerin, die im nächsten Jahr die Außenpolitische Verantwortung zu über- Schwedens Premier Göran Persson immer EU-Ratspräsidentschaft übernimmt. nehmen hieß für sie meist, die Kosten zu wieder aus dem Saal. Draußen am Fernse- Und die Europäer sind nicht die Einzi- begleichen. Die wirklich wichtigen Ent- her verfolgte er besorgt den mühseligen gen, die von Angela Merkel und den Deut- scheidungen behielten sich andere vor. Kampf seiner Mannschaft gegen die zähen schen Großes erwarten. Bei den heiklen Doch das Gesetz von Angebot und Nach- Gegner aus Paraguay. Verhandlungen über das iranische Atom- frage gilt auch in der Politik. Europa und die Das knappe 1:0 seiner Schweden war al- programm ist Deutschland an zentraler USA sehnen sich nach unverbrauchten Ge- lemal spannender als die müde Dinner-De- Stelle dabei, obwohl es im Gegensatz zu sichtern, die willens und in der Lage sind, batte hinter verschlossenen Türen. „Nett den anderen Beteiligten nicht zu den Ve- politische Führung wahrzunehmen. Angela und belanglos“ fand ein Teilnehmer den tomächten im Weltsicherheitsrat gehört. Merkel gilt vielen da als ideale Kandidatin, Diskurs, und das war noch freundlich ge- Und auch zwischen den sprachlosen dieses Vakuum auszufüllen. Großmächten Russland und USA sollen Mit ihrer Kombination aus Charme und die Deutschen in schwierigen Fragen ver- Bestimmtheit hat sie sich innerhalb weni- * Mit ihren EU-Kollegen Wolfgang Schüssel, Jan Peter Balkenende, Jacques Chirac und Jean-Claude Juncker am mitteln, ob bei dem Energiedisput, der ger Monate von ihrem Vorgänger abge- Donnerstag in Brüssel. Nato-Erweiterung oder der Nahost-Politik. setzt. Wo Gerhard Schröder polterte und

22 der spiegel 25/2006 Deutschland

öffentlich drohte, bemüht sich Merkel um diskrete Sachlichkeit. Ihr eher unspekta- kuläres Vorgehen ist im Kreis der selbst- verliebten Staats- und Regierungschefs of- fenbar so ungewöhnlich, dass die Kanzle- rin mit Lob geradezu überhäuft wird. „Merkel hat Charakter“, schwärmt etwa Frankreichs Staatspräsident Jacques Chi- rac: „Sie hat eine Eigenschaft, die unter Regierungschefs und Staatsführern äußerst selten existiert – sie kann zuhören, analy- sieren und dann Entscheidungen fällen.“ US-Präsident George W. Bush mag da nicht nachstehen. Merkel sei „überaus fähig und eine klare Denkerin“. Im Juli will er sie sogar in ihrem Wahlkreis Stral- sund besuchen, um seine Verbundenheit zu demonstrieren. Selten zuvor ist es einem deutschen Re- gierungschef so schnell gelungen, im Krei- se der Staatenlenker als Gleicher unter Gleichen akzeptiert zu werden. Dass Mer- kel Außenpolitik kann, haben auch die Bundesbürger schnell gemerkt und ihr

durchweg gute Noten erteilt. / AP MICHEL SPINGLER Im Kanzleramt sieht man die Dinge weit Gegner der EU-Verfassung (Mai 2005 in Paris): Suche nach einer Strategie nüchterner. Viele der Erwartungen werden die Deutschen nicht erfüllen können, das wird, kann sie nicht erfüllen“, sagt einer ih- „Angela, mach du das!“ Man könne das wird notwendigerweise Enttäuschungen ge- rer Berater. Es sei genau wie in der Innen- Thema „nicht nur bei der Präsidentschaft ben. Merkels Berater wissen, dass es die politik: „Die eine rettende Tat, die alle Pro- abladen“, wiegelt ihr Minister Steinmeier Wähler sehr wohl schätzen, wenn die deut- bleme löst, kann und wird es nicht geben.“ schon ab. Den „entscheidenden Impuls“ sche Kanzlerin im Ausland eine gute Figur Zumal der Kanzlerin klar ist, dass sie würde man allerdings schon gern geben. macht – vor möglichen unangenehmen Fol- ihre exponierte Stellung weniger der eige- Die umschmeichelte Kanzlerin hat etwas gen scheuen die Bürger jedoch eher zurück. nen Stärke als der Schwäche der anderen Neues im Sinn (siehe Grafik). Weil Schön- Deshalb suchen Merkels Helfer nach ei- zu verdanken hat. Viele ihrer Kollegen sind heitsreparaturen nicht mehr helfen, so ihre nem Weg, wie die Kanzlerin ihre neue in- nach Jahren im Amt politisch verbraucht. Analyse, muss es erst noch schlimmer kom- ternationale Führungsrolle ausfüllen kann, Seine missglückte Irak-Politik hat US-Prä- men, bevor die Verfassungsfrage neu ge- ohne dass es zu viel kostet. „Die Rolle des sident Bush in den Umfragen auf ein his- stellt werden kann. Merkel will auf Zeit Superhelden, die Merkel zugeschrieben torisches Tief fallen lassen. Der Franzose spielen – und auf Risiko. Man werde es Chirac gilt zu Hause als Prototyp der lah- „Spitz auf Knopf stellen müssen“, sagt sie. men Ente, der hilflos die Machtkämpfe der Alle müssten sich dann entscheiden: Ma- Merkels Agenda 2009 Nachfolgekandidaten fürs Präsidentenamt chen wir richtig mit – oder gar nicht mehr? Zeitplan zur Rettung der EU-Verfassung verfolgt. Briten-Premier Tony Blair ver- So will Merkel, statt an taktischen Fi- zehrt sich im Abwehrkampf gegen seinen nessen zu feilen und Formulierungskriege 2006 Juni: Dem „Jahr des Nachdenkens“ Herausforderer Gordon Brown. zu führen, die europäischen Kollegen in folgt ein Jahr „intensiver Konsultationen“. Misstrauisch beobachtet die Kanzlerin, den Abgrund der europäischen Krise wie einige Partnerländer die Erwartungen blicken lassen. „Kurz vor der Angst wird 2007 März: Deklaration zur Zukunft in unrealistische Höhen treiben. Die Aus- die Einsicht kommen“, prophezeite sie in Europas aus Anlass des 50. Jahrestags sicht auf einen deutschen Misserfolg ist für interner Runde, „so ist Europa“. des EG-Vertrags. Neider und Konkurrenten ein wichtiger Ein wichtiger Verbündeter ist dabei Lu- Mai: Wahlen in Frankreich und den Ansporn. In manchen Hauptstädten gibt xemburgs Premier Jean-Claude Juncker. Niederlanden. es offenbar eine verborgene Agenda, das Schon hat der streitbare Christdemokrat Juni: Ratspräsidentin Merkel präsentiert ihr Scheitern Deutschlands gleich mitzupla- damit gedroht, ein Scheitern der Verfas- EU-Programm (Themen: Sicherheit, Arbeit, nen, glaubt man in der Regierung. sung könne auch zur Bildung eines „Kern- Umwelt, Energie) und einen „Fahrplan“ zum Damit es nicht so weit kommt, bemühen europa“ führen – eine unmissverständli- weiteren Umgang mit der Verfassung. sich Merkel und Außenminister Frank-Wal- che Drohung an Europaskeptiker etwa in ter Steinmeier inzwischen gezielt, die Hoff- Großbritannien. Herbst: Europa gibt sich eine „Sozial-Charta“. nungen zu dämpfen. Vor allem in der Eu- In Absprache mit der Kanzlerin dämpft 2008 Herbst: Frankreichs Präsident orga- ropapolitik versucht die Kanzlerin, sich Juncker zudem gezielt die Erwartungen: nisiert, als amtierender Ratspräsident, die nicht vor den Karren spannen zu lassen, „Man sollte die deutsche Ratspräsident- Annahme eines gekürzten/veränderten den die lieben Partner großzügig mit un- schaft mit der Verfassungsfrage nicht über- Verfassungsvertrags. Eventuell Regierungs- lösbaren Aufgaben beladen. frachten.“ Und andere Merkel-Berater wie konferenz zur Verfassung. Nach zähen Textverhandlungen einigten der EU-Parlamentarier Elmar Brok (CDU) sich die EU-Mitglieder beim Brüsseler Gip- schieben die Zuständigkeit ins Ungefähre. 2009 Frühjahr/Sommer: fel, dass Deutschland eine Lösungsstrategie Berlin solle „den Ball flach halten“. Eventuell neue Referenden in Frankreich und für die heikle Verfassungsfrage vorschla- Die Erwartungen an die Bundesregie- den Niederlanden. Vor oder zu den Europa- gen solle, die dann unter französischer Prä- rung sind auch im Umgang mit Russland wahlen soll die Verfassung in Kraft treten. sidentschaft Ende 2008 umgesetzt werden hoch. Europäer und Amerikaner hoffen, könnte. Von allen Seiten wird sie bedrängt: dass Deutschland dem Kreml eine ganze

der spiegel 25/2006 23 Deutschland

Reihe von bitteren Pillen serviert. So soll Auch die Amerikaner haben einen langen die Uno-Gremien. Steinmeier sagt zwar im Moskau prinzipiell die Aufnahme ehema- Wunschzettel vorbereitet. Washington SPIEGEL-Interview: „Ich schließe wirt- liger Sowjet-Vasallen wie Georgien und braucht dringend einen starken Partner in schaftlichen Nachdruck weiterhin nicht Ukraine in die Nato akzeptieren, bei der Europa. „Nachdem sie gemerkt haben, dass aus“ (siehe Seite 25). Gleichzeitig lehnt er Gasversorgung Europas kooperativer auf- die Briten ihnen die europäische Unterstüt- die Versuche der informellen Koalitions- treten und gleichzeitig mehr Konzessionen zung nicht liefern können, haben sie sich bildung aus Washington ab: Die „Koalition bei einer Lösung der Regionalkonflikte im wieder an die Deutschen erinnert“, sagt der Willigen“, so der Minister, „stammt Kaukasus machen. Karsten Voigt, Regierungsbeauftragter für aus einer anderen Phase der amerikani- Berlin versteht sich dagegen eher als die deutsch-amerikanischen Beziehungen. schen Außenpolitik“. ehrlicher Makler zwischen Russland und So übertraf sich Bush in Gesten der Auch bei Friedensmissionen rund um dem Westen. Im Umgang mit Moskau, ana- Gastfreundschaft für Merkel. Die Kanzle- den Globus sähen die Amerikaner gern lysiert der SPD-Außenpolitiker Martin rin wohnte bei ihren Washington-Visiten noch mehr Deutsche. Doch nach dem Ja Schulz, agiere Deutschland längst „nicht im Gästehaus, gleich gegenüber dem Oval zum Kongo-Einsatz wurden zahlreiche Sig- nur als Nationalstaat, sondern als Füh- Office. Er spazierte mit ihr durch den Gar- nale nach Washington ausgesandt, dass rungsmacht Europas“. Diese „Mittlerrol- ten des Weißen Hauses und ließ in den Berlin derzeit keine weiteren Soldaten le“ zwischen Ost und West werde in Was- Privatgemächern Spareribs, Hummer und nach Afrika schicken könne. Einen Bei- hington, Brüssel und Moskau gleicher- Kartoffelsalat servieren. Wenn die Dol- trag zur Stabilisierung der Lage im Sudan maßen anerkannt. metscherin einmal Merkels Englisch sanft soll es nicht geben. Dabei hat Merkel in bemerkenswerter korrigierte, knurrte Bush: „Ich habe es Für die Versuche Merkels, auf der Welt- Weise die Kontinuität zu Schröder ge- auch so verstanden.“ bühne das neue deutsche Gewicht richtig wahrt, wenn auch ohne dessen umstrit- Nach Amerikas Wünschen soll Merkel zu tarieren, kommt die größte Be- tenes Schweigen zur innenpolitischen La- die Führungsrolle auf dem alten Kontinent währungsprobe im nächsten Jahr. Dann ge Russlands. So steht sie zum Bau der übernehmen und in Osteuropa dabei hel- soll Deutschland auch die Führung der Ostsee-Pipeline zwischen Russland und fen, den stockenden Demokratisierungs- G8-Gruppe der größten Industrienationen Deutschland – trotz aller polnischen Pro- prozess voranzutreiben. übernehmen. Besonders heikle Probleme teste. „Wir werden auf russisches Gas dau- Wachsende Bedeutung bekommen die der Weltpolitik werden auf den Gipfeln erhaft angewiesen sein“, sagt sie. Deutschen in der Iran-Politik. Kein aus- der acht Großen behandelt; diesen Juli in ILNITSKY / DPA (L.); NIEHUES / ADVANTAGE (R.) (L.); NIEHUES / ADVANTAGE / DPA ILNITSKY Staatschefs Ahmadinedschad, Putin, iranische Atomanlage: Überzogene Erwartungen der Partner dämpfen

Regelmäßig bedrängt sie den amerikani- ländischer Staatschef hat Bush so wie Mer- St. Petersburg dürfte es der Iran-Konflikt schen Präsidenten, die Bedeutung Moskaus kel gedrängt, mit den Mullahs direkt zu sein. Selbst die Zusammensetzung der als Machtfaktor zur Lösung des iranischen verhandeln. Daraus erwachsen für die Gruppe ist umstritten: Manche Politiker Atomstreits und des Nahost-Konfliktes zu Deutschen auch besondere Verpflichtun- bezweifeln das Mitgliedsrecht Russlands, akzeptieren. Gleichzeitig aber rät sie auch gen, findet Washington. andere plädieren für die Aufnahme dem russischen Präsidenten Wladimir Pu- Denn falls diese diplomatische Anstren- Chinas. tin, sich im Umgang mit seinem Teheraner gung danebengeht, erwartet Bush, dass die Gut möglich, dass nächstes Jahr eine an- Kollegen Mahmud Ahmadinedschad der Bundesregierung Wirtschaftssanktionen dere Krise Merkel als dann amtierende härteren Linie des Westens anzunähern, unterstützt. Nicht auf den Sicherheitsrat, Präsidentin fordert – und vielleicht über- um einen Erfolg der iranischen Hardliner sondern auf eine mächtige Allianz der fordert. Berater wie Ruprecht Polenz war- zu vereiteln. Das deutsche Drängen zeigte westlichen Industriestaaten gegen Iran nen deshalb schon vor Überdehnung. Die Erfolg. Bei der Teheran-Mission des EU- setzt die US-Administration. deutsche Diplomatie arbeite schon jetzt Beauftragten Javier Solana saß erstmals ein Berlin soll die heimischen Konzerne und hart am Limit, glaubt der Vorsitzende des russischer Spitzendiplomat an der Seite der Großbanken dazu bringen, ihre florieren- Auswärtigen Ausschusses im Bundestag: Europäer den Iranern gegenüber. den Geschäfte mit den Petrokraten in Iran „Von 100 Prozent Leistungsfähigkeit“, ana- Nicht nur in der Europa- und Russland- einzuschränken und auch gleich den Rest lysiert er, „haben wir schon mehr als 90 politik müssen Merkel und ihr Außenminis- Europas auf die harte Linie einschwören. Prozent mobilisiert.“ Ralf Beste, ter Steinmeier aufpassen, dass sie überzo- Doch die Deutschen dämpfen amerika- Ralf Neukirch, Georg Mascolo, Jan Puhl, Hans-Jürgen Schlamp, Stefan Simons gene Erwartungen der Partner dämpfen. nische Erwartungen – und verweisen auf

24 der spiegel 25/2006 MARCO-URBAN.DE Chefdiplomat Steinmeier: „Ich hoffe, dass die iranische Führung den Weg durch die offene Tür findet“

Steinmeier: Teheran selbst behauptet doch, es arbeite gar nicht an einem Atomwaffen- programm. Es ist die Internationale Atom- „Leidvolle Erfahrungen“ energiebehörde IAEA, die das Land wegen der geheimen Forschungsarbeiten in der Außenminister Frank-Walter Steinmeier, 50, über den Kurswechsel Vergangenheit im Verdacht hat, die Atom- bombe anzustreben. Jetzt geht es darum, in der amerikanischen Iran-Politik diesen Verdacht zu entkräften. und die Chancen auf eine friedliche Einigung mit Teheran SPIEGEL: Selbst der Beginn von Verhand- lungen wäre noch keine wirkliche Garan- SPIEGEL: Herr Minister, der iranische Prä- SPIEGEL: … nämlich am 29. Juni, zum G-8- tie, dass Iran kooperiert. Der ehemalige sident Mahmud Ahmadinedschad hat das Außenministertreffen in Moskau. Chefunterhändler Hassan Rohani etwa hat internationale Angebot zu Verhandlungen Steinmeier: Richtig. Bis dahin sollte es eine eingeräumt, dass frühere Verhandlungen über Teherans Atomprogramm als „Schritt belastbare Antwort Teherans geben. auch dazu dienten, dem Land Zeit für ge- nach vorn“ bezeichnet. Wie bewerten Sie SPIEGEL: Dass die iranische Regierung sich heime Forschungen zu verschaffen. die Signale aus Iran? bisher nachdenklich zeigt, muss nicht viel Steinmeier: Damit Verhandlungen sinnvoll Steinmeier: Bislang haben wir kein belast- heißen. Rasche Meinungs- und Stimmungs- sind, muss die IAEA ihre Kontrollen in bares Zeichen, keine wirkliche Reaktion. wechsel hat es in Teheran schon häufiger Iran verbessern können. Bisher ist Teheran Positiv ist allerdings, dass wir offensichtlich gegeben. dazu nicht bereit. zum ersten Mal in Iran eine Phase des Steinmeier: Ich bin deshalb auch weit SPIEGEL: Die Machtstrukturen in Iran sind Nachdenkens erleben. Bisherige Angebote davon entfernt, hier allzu großen Opti- undurchsichtig. Wissen Sie überhaupt, wer hatte Teheran immer rasch und brüsk ab- mismus zu verbreiten. Ich sage nur, dass in Teheran Prokura hat? gelehnt. Deshalb hoffe ich, dass wir es mit die Dinge schon mal schlechter lagen. Steinmeier: Das ist nicht ganz einfach zu einer veränderten Situation zu tun haben. Im vergangenen August zum Beispiel ist dechiffrieren. Wir halten uns an die offi- SPIEGEL: Der EU-Außenbeauftragte Javier unser Verhandlungsangebot sofort und ziellen Ansprechpartner, bitten aber auch Solana war im Auftrag der Sechsergruppe – endgültig abgelehnt worden. Zum gegen- Partner in der Region wie die Türkei oder USA, Russland, China, Frankreich, Groß- wärtigen Zeitpunkt ist das jedenfalls einige Golfstaaten, über ihre Gesprächs- britannien und Deutschland – in Teheran nicht so. Ich hoffe, dass die iranische Füh- kanäle auf die iranische Regierung einzu- und hat die Iraner vor die Alternative Ko- rung die Vorteile sieht, die in der Neu- wirken. operation oder Konfrontation gestellt. Was aufnahme der Verhandlungen liegen, und SPIEGEL: Im Kern scheint es bei Ihrem genau hat man sich darunter vorzustellen? dann auch den Weg durch die offene Tür Angebot darum zu gehen, Teheran die Steinmeier: Wir haben beschlossen, die findet. Bereitschaft zu Verhandlungen abzu- Inhalte unseres Angebots vertraulich zu SPIEGEL: Irans Nachbarn Pakistan und Is- kaufen. halten. Nur so kann Teheran in Ruhe ent- rael besitzen Nuklearwaffen; das Land ist Steinmeier: Das ist eine völlig falsche scheiden, was natürlich nicht heißt, dass von amerikanischen Truppen in Afghani- Sichtweise. Unser Angebot formuliert eine die Iraner alle Zeit der Welt hätten. Wir ha- stan und im Irak praktisch umzingelt. Man- neue Geschäftsgrundlage. Iran fordert, ben klare Vorstellungen davon, wann der che sagen deshalb sogar, es sei aus irani- dass wir während laufender Gespräche Prozess der Nachdenkens zu Ende sein scher Sicht nachvollziehbar, die Atom- über eine Beilegung des Konflikts keine sollte … bombe anzustreben. weiteren Schritte im Uno-Sicherheitsrat

der spiegel 25/2006 25 Deutschland unternehmen. Wir verlangen, dass Iran Verhandlungen scheitern und Sie und Ihre amerikanische Elemente eingebaut werden während etwaiger Verhandlungen nicht Kollegen Sanktionen beschließen müssten, können. Ich kann nur hoffen, dass dieser nebenbei neue Fakten schafft. Diesen funktioniert das nur, wenn der Kreis der aus iranischer Sicht sicherlich unerwartete beiden Forderungen trägt das Papier Teilnehmer so groß wie möglich wird. Schritt auch angemessen bewertet wird. Rechnung. Verhandlungen könnten dann Steinmeier: Was soll ich dazu sagen? Das ist SPIEGEL: Aber warum haben die Amerika- stattfinden, wenn Iran seine Anreiche- doch eine hypothetische Annahme. Viele ner das gemacht? rungsaktivitäten suspendiert. Im Gegen- haben vor drei, vier Monaten erwartet, Steinmeier: Die US-Regierung will schlicht zug wären die Mitglieder des Sicherheits- dass an diesem Konflikt die Geschlossen- und einfach einen eigenen Beitrag zur rates bereit, ihre Bemühungen um eine heit der Staatengemeinschaft zerbricht. Lösung auf dem Verhandlungsweg leisten, Resolution auszusetzen. Es geht also um Das ist nicht passiert. weil sie diesen Weg für den besten hält. eine doppelte Suspendierung, die beiden SPIEGEL: Sie selbst wollen wirtschaftliche SPIEGEL: Geht es nicht um mehr? Die USA Seiten das Treffen am Verhandlungstisch Sanktionen nicht ausschließen, anders als haben mit der Bereitschaft zu direkten Ge- ermöglicht. Ex-Kanzler Gerhard Schröder. sprächen nach 27 Jahren Eiszeit ihren Kurs SPIEGEL: Wer würde den Iranern dann Steinmeier: Ja, ich schließe wirtschaftlichen gegenüber Iran grundsätzlich geändert. gegenübersitzen und vielleicht gar einen Nachdruck weiterhin nicht aus. Steinmeier: Offenbar sind Sie in der Ana- lyse schon weiter als ich. Sicher ist für mich, dass die USA ihre Haltung gegen- über den EU-Verhandlungen geändert ha- ben. Bisher hat Washington unsere Be- mühungen mitgetragen, ohne unmittelbar daran teilzuhaben. SPIEGEL: Deutschland ist die einzige Nicht- Atommacht in der Sechsergruppe. Erhöh- te es nicht Ihre Glaubwürdigkeit, wenn Sie die fünf Atom- und Vetomächte Russland, China, USA, Großbritannien und Frank- reich aufforderten, ebenfalls nuklear ab- zurüsten? Steinmeier: Wir sind dafür, den Nichtver- breitungsvertrag effektiv anzuwenden. Der enthält das Versprechen der Atommächte, abzurüsten, und dazu sollten wir sie auch drängen. Deshalb bin ich in der Tat der Meinung, dass wir über den aktuellen Iran- Konflikt hinaus den Stand der nuklearen Rüstung weltweit überprüfen müssen. SPIEGEL: Die fünf Vetomächte sollen ato- mar abrüsten. Wie soll das gehen? Steinmeier: Das geht nur über gemeinsame Bemühungen zum Beispiel bei der Reform des Nichtverbreitungsvertrags. Man wird auch über das Maß der nuklearen Bewaff- nung reden müssen.

YURI GRIPAS / REUTERS YURI GRIPAS SPIEGEL: Viele Länder der Südhalbkugel Transatlantische Partner*: „Die USA haben ihre Haltung geändert“ werfen den Vetomächten Scheinheiligkeit vor. Iran soll auf Atomwaffen verzichten, Vertrag abschließen? Die Sechsergruppe SPIEGEL: Wie groß muss die Koalition der während die USA weiter ein gigantisches einschließlich Deutschlands? Willigen sein, damit Sanktionen funktio- Arsenal besitzen. Steinmeier: Das wäre mein persönliches nieren? Steinmeier: Ja, das ist in der Tat ein Grund- Votum. Bisher steht fest, dass die drei Eu- Steinmeier: Den Begriff der „Koalition der widerspruch des Nichtverbreitungsvertrags, ropäer, der hohe Repräsentant Solana und Willigen“ halte ich für völlig ungeeignet. der davon ausgeht, dass wir eine Welt ha- auch die USA teilnehmen würden. Russ- Der stammt aus einer anderen Phase der ben, in der es Länder gibt, die Atomwaffen land und China haben sich noch nicht ab- amerikanischen Außenpolitik. besitzen, und Länder, die nicht darüber schließend erklärt. Ich hoffe aber, dass sie SPIEGEL: Mehr als eine kleine Koalition verfügen. Dennoch bleibt das Bemühen auch bereit sind, bei den Verhandlungen werden Sie wohl nicht zusammenbekom- richtig, die Ausbreitung von Atomwaffen mitzumachen. men, denn eine Zustimmung von EU oder zu verhindern. Und das gilt vor allem für SPIEGEL: Es gibt noch mehr Interessen- Uno dürfte sehr schwierig zu erhalten sein. die Region des Mittleren und Nahen ten. Italien und Japan etwa wären gern Steinmeier: Nichts ist in dieser Frage ein- Ostens, in der eine iranische Atombombe dabei, weil sie Wirtschaftsinteressen in Iran fach. Das bestätige ich Ihnen gern, mitt- ein nukleares Wettrüsten auslösen würde. haben. lerweile auch aus leidvoller Erfahrung vie- SPIEGEL: Deutschland spielt bei den Iran- Steinmeier: Wir sollten nicht über das ler Verhandlungsnächte. Aber bisher gab Gesprächen eine zentrale Rolle. Wird Ih- Verhandlungsformat reden, wenn wir noch es immer eine Einigung in den Gremien nen da manchmal etwas mulmig? gar keine Verhandlungen haben. von Uno und IAEA. Steinmeier: Warum mulmig? Ich plädiere SPIEGEL: So viel wird man doch sagen dür- SPIEGEL: Warum haben sich die Amerika- für selbstbewusste Bescheidenheit. Dazu fen: Wenn es zu Verhandlungen kommt, ner zu direkten Gesprächen mit dem Erz- gehört für mich, dass wir uns nicht über- gilt es, den Kreis klein zu halten. Wenn feind Iran bereit erklärt? schätzen dürfen und nur im Rahmen un- Steinmeier: Die Mitarbeit Washingtons er- serer Möglichkeiten Verantwortung über- Interview: Ralf Beste, * George W. Bush und Angela Merkel am 5. Mai in höht den Wert des Verhandlungsangebots nehmen. Konstantin von Hammerstein Washington. ganz erheblich, weil jetzt auch spezifisch

26 der spiegel 25/2006 Deutschland

raum geführt, vorn an einem Pult steht der Vorstandsvorsitzende, Dr. Udo Ungeheuer, KARRIEREN und erklärt, wie das ist, wenn man mit Glas Geschäfte machen will in einer Welt, die unübersichtlich geworden ist. Die alte Mitte Es hört sich nicht gut an, was er sagt. Wer überleben will, muss sich dem Wett- Wer mit Kurt Beck durch Rheinland-Pfalz reist, ahnt, warum die SPD bewerb stellen. Der Wettbewerb ist knall- hart. Es gibt immer noch welche, die das jetzt den passenden Vorsitzenden hat. Von Matthias Geyer nicht wahrhaben wollen. Wir leiden in Deutschland unter den hohen Lohnne- oo, sagt Kurt Beck, soo, das ist aber Beck steht auf und bedankt sich bei der benkosten. Was nicht Kerngeschäft ist, da- mal schön hier. Es ist Mittagszeit, und Bedienung. „Alles Guude“, sagt er. Dann von trennen wir uns. Sman könnte etwas essen. Er steht ne- läuft er hinaus, er trägt leichtes Schuhwerk, Die Welt, die Ungeheuer beschreibt, ist ben einem kalten Büfett und sieht auf volle Flechtslipper, und steigt in den Bus. Wer eine Welt, in der es keine Weinkeller mehr Schüsseln. Köstliche Sachen. Er greift mit ihn begleitet auf dieser Reise und nach zwei gibt, die so aussehen wie Holzfässer. beiden Händen in seinen Gürtel und ruckelt Tagen wieder aussteigt aus diesem Bus, der Kurt Beck steht an einem kleinen Tisch die Hose zurecht. Sie sitzt nicht mehr richtig. hat eine Ahnung davon, warum die SPD und hört sich alles genau an. Dann geht er Draußen in Mainz sind es 33 Grad, aber jetzt vielleicht doch einen Vorsitzenden hat, nach vorn, er müsste jetzt eigentlich An- hier unten, im Weinkeller der Staatskanz- mit dem sie sich verstehen könnte. gebote machen, politische Angebote, er lei von Rheinland-Pfalz, ist es schön kühl. Es ist nicht weit bis zum ersten Halt, die könnte zum Beispiel etwas zu den Lohn- Der Keller sieht aus wie ein dickes, großes Schott AG liegt am Rand von Mainz, sie nebenkosten sagen. Weinfass, mit schwerem Holz an den Wän- stellt Produkte aus Glas her, Hightech- Aber er sagt nur: „Wir werden einen den, so schwer, dass man es wahrscheinlich Glas. Kurt Beck wird in einen Vortrags- vernünftigen Diskurs führen.“ Und dass er nie wieder abkriegt. Er wird von grünen Weinflaschen beleuchtet, in denen Glüh- birnen hängen. In den siebziger Jahren hat man in solchen Kellern Heimpartys gefei- ert oder Softpornos gedreht. Helmut Kohl ließ diesen Keller bauen, als er Ministerpräsident war. Man hat ihn einfach so gelassen. „Soo“, sagt Beck, „dann wolln wir mal.“ Er sitzt an einem runden Tisch, um den SPD-Chef herum sitzen Journalisten, und draußen wartet ein Bus mit einer Deutsch- landflagge am Rückspiegel. Man wird von hier aus gleich zu einer kleinen Reise auf- brechen, einmal um den Hunsrück herum, zwei Tage lang nach dem Rechten sehen in dem Land, das sich mit seinen Reformen quält, mit seiner Gesundheits-, seiner Fö- deralismus-, seiner Unternehmensteuerre- form, dem Land, das stillsteht, seit es von einer Großen Koalition regiert wird. Das Gesicht von Kurt Beck glänzt. Er hat die Gabel mit Pfälzer Wurstsalat bela- den und wickelt behutsam einen Zwiebel- ring darum. Gestern, erzählt er, war er beim Fußball, Japan gegen Australien, in Kaiserslautern. „Eine Stimmung war das und eine Farbenpracht, das muss man ge- sehen haben.“ Auf der Ehrentribüne hat er ausländische Gäste getroffen, klar, und gehört hat er von denen immer wieder die- sen einen Satz: „Sie wissen doch gar nicht, wie gut es Ihrem Land geht.“ Becks Zunge sucht nach den Resten des Wurstsalats, er gießt einen kleinen Schluck Weißwein hinterher und sagt: „Also, ich finde auch, wir sehen alles ein bissel zu hart.“ Er schmiert sich noch ein Wurstbrot und guckt auf die Uhr. „Soo.“ Und wer „soo“ sagt, hat schon viel geschafft.

* Links: mit Amtsvorgänger Matthias Platzeck am 14. Mai in Berlin; rechts: bei der Probefahrt eines Traubenvoll- PLAMBECK / HCP CHRISTIAN ernters in Niederkumbd im Hunsrück. SPD-Vorsitzender Beck*: „Also, ich finde auch, wir sehen alles ein bissel zu hart“

28 der spiegel 25/2006 jetzt aber gespannt sei auf das, was man Kurt Beck hat das Jackett aus- sich angucken kann hier im Werk. gezogen, der Vorstandsvorsit- Vernünftiger Diskurs. Man weiß nicht zende sagte, gleich würde es genau, was man sich darunter vorstellen ganz schön heiß werden. Sie lau- muss, wohin der Diskurs führen könnte, fen über das Werksgelände und aber es hat etwas sehr Beruhigendes, Ent- bleiben vor einem Gebäude ste- schleunigendes, wenn Kurt Beck über die hen, in dem Ceran-Kochplatten Herausforderungen der Zeit redet. Man angefertigt werden. Um ein kann sicher sein, dass er sich kümmert, Ceran-Feld herzustellen, muss aber mit Bedacht, vernünftig. Vernünftig Glas bei über 1000 Grad ge- ist ein gemütliches Wort, ein Helmut-Kohl- schmolzen werden. Wort, ein Wurstsalat-Wort. Der Vorstandsvorsitzende sagt Es ist ein Wort, das die Angst nimmt. Es zu den Journalisten, dass drinnen bedeutet: wird schon. Es sagt nicht, was er nicht fotografiert werden darf. will, aber es sagt, dass er auf keinen Fall zu „Ich sage nur: Die Chinesen. viel will. Es ist das richtige Wort für die Wenn Sie wissen, was ich meine.“

SPD. RAUCHENSTEINER Er meint, dass die Chinesen Es passt auch immer. Es passt auf die Fußball-Fan Beck*: „Das muss man gesehen haben“ vielleicht ihre zehn Prozent Globalisierung, auf das SPD-Parteipro- Wachstum haben. Aber dass die gramm, auf die Gesundheitsreform. Vor ten, und Beck antwortete: „Ich bin Kas- Chinesen nicht wissen, wie man Ceran- kurzem ist Kurt Beck gefragt worden, senpatient.“ Kochfelder herstellt. Sie würden es aber wie das nun werde mit der Gesundheits- Wenn der Kassenpatient Kurt Beck in gern wissen, weil die ganze Welt inzwi- reform, ob es neue Zumutungen geben die Apotheke läuft und ein Rezept abgibt, schen auf Ceran-Feldern kocht. Die Einzi- werde, mehr Selbstbeteiligung, mehr Kos- dann weiß er, was das kostet. Was er noch gen, die wissen, wie das geht, sind die Leu- mal obendrauf zahlen muss auf seinen Ver- te von der Schott AG, Schott in Rheinland- sicherungsbeitrag. Was da alles zusam- Pfalz, dem Land von Kurt Beck. menkommt. Und als Parteivorsitzender Im Jahr 2002, sagt der Vorstandsvorsit- sagt er dann: „Das ist weitgehend ausge- zende, ist hier die fünfzigmillionste Ceran- reizt. Da geht nicht mehr viel.“ Platte hergestellt worden. Inzwischen sind Er muss ja hier nicht den Vorstandsvor- es 70 Millionen, sagt er. Es klingt, als sei die sitzenden überzeugen. Es ist eher unwahr- Ceran-Platte der Nachfolger des VW-Kä- scheinlich, das Dr. Ungeheuer die SPD fers, Symbol eines neuen Wirtschaftswun- wählt. Wahrscheinlich ist es so, dass Kurt ders. Wir wissen doch gar nicht, wie gut es Beck die Vorstandsvorsitzenden im Mo- uns geht. ment eher egal sind, er ist ihnen ja wahr- Man geht kurz hinein und kommt scheinlich genauso egal. Es geht um den schnell wieder raus, wegen der Hitze. Kassenpatienten, um die SPD. Um Mehr- Dann dürfen Fotos gemacht werden. Kurt heiten, um den einfachsten Nenner von Beck hält ein Kochfeld in die Luft. Politik. Die einzige Debatte, die Beck in Als er zum SPD-Vorsitzenden gewählt letzter Zeit angestoßen hat, war eine De- wurde, vor fünf Wochen, schrieben die mei- batte um Anstand, um den ehrlichen Um- sten Zeitungen, die Sozialdemokraten wür- gang der Bürger mit den Gesetzen. An- den jetzt von einem Provinzdödel geführt. stand, Ehrlichkeit, Vernunft, alles Begriffe, Es war derselbe Ton, den die Geschichten in denen sich die SPD gut wiederfinden hatten, als Helmut Kohl Bundeskanzler kann. wurde. Es kann hilfreich sein, unterschätzt Es geht nicht mehr um die neue Mitte, es zu werden. Jedenfalls wüssten die Chinesen geht um den Ortsverein. Die neue Mitte gern, wie Provinzdödel Glas herstellen, das war der Begriff einer Angeber-SPD, nie- nicht zerspringt, wenn man darauf kocht. mand wusste, was das ist, es klang nur gut. Der Bus fährt dann weiter, manchmal Die neue Mitte begann mit Anzügen, die hält er an, immer da, wo jemand klein an- gut saßen, und endete mit verlorenen gefangen hat und dann wuchs und wuchs, Wahlen. wo alles so war war wie bei Kurt Beck, kein Der neuen Mitte ist nie die Hose ge- Abitur, aber Parteivorsitzender. Man könn- rutscht. Aber sie hat ein Land hinterlassen, te auch sagen, dass der Bus überall da hält, das sich danach sehnt, so zu sein, wie es wo noch alte Bundesrepublik ist, wo es kei- einmal war, ein Land wie die alte Bundes- ne Grenzen gibt für den kleinen Mann, republik, ein bisschen vermümmelt viel- wenn er nur will. Wo sich Leistung lohnt. leicht, aber sauber und stabil. Ein Land, in Er steigt am Flughafen Hahn aus, es ist dem der Staat den Bürger schützt, nicht seine letzte Station. Der Flughafen Hahn drangsaliert. Es ist eine Sehnsucht nach hat klein angefangen, klar, dann wuchs er, Gemütlichkeit, nach Kassenpatienten und und dann gab es Probleme. Der Ausbau Flechtslippern, nach Politikern, die freund- wurde behindert von den Grünen, sie woll- lich sind, die „soo“ sagen, wenn sie kom- ten die Mopsfledermaus beschützen. men und „alles Guude“, wenn sie gehen. Es gibt eine Powerpoint-Präsentation zu Nach alter Mitte. dem Thema, Becks Gesicht zuckt etwas Es ist auch eine Chance. dabei, dann steht er auf, denn er möchte etwas dazu sagen.

STEFAN SÄMMER STEFAN * Mit Thomas Gottschalk beim WM-Spiel Japan gegen Es sei nicht so, dass er die Ökologie Australien am 12. Juni in Kaiserslautern. nicht ernst nehme, sagt er, bestimmt nicht.

der spiegel 25/2006 29 Deutschland

ZEITGESCHICHTE Rache im Paket Ein ehemaliger Mossad-Agent behauptet, Menachem Begin sei für einen Bombenanschlag auf Kanzler Adenauer 1952 verantwortlich gewesen. Britische Geheimdienstangaben stützen diese Version.

arl Reichert muss ein umsichtiger des Friedensnobelpreises 1978, hinter dem Mann gewesen sein. Kurz bevor er Anschlag. „Begin hat mir den Auftrag er- Kstarb, gab der Sprengmeister seinen teilt“, erklärte der 81-Jährige am vergan- HARALD TITTEL / DPA TITTEL HARALD Autoschlüssel einem Polizisten. „Der genen Mittwoch gegenüber dem SPIEGEL. Ministerpräsident Beck* gehört zu meinem Wagen im Hof“, sagte Sudit war im Alter von elf Jahren aus „Alles Guude“ er, „für den Fall, dass mir was passiert.“ Rumänien nach Palästina emigriert. Dort Dann schnitt er das verdächtige Paket herrschten die Briten mit einem Mandat Aber er kennt sich aus. Die Wahrheit ist auf und stieß auf den „Kleinen Brockhaus des Völkerbundes. Sudit schloss sich 1940 nicht, dass Flughäfen Fledermäuse ver- L-Z“ in einem blauen Pappschuber. Rei- der Irgun Zvai Leumi („Nationale Militär- treiben. Die Wahrheit ist, dass Flughäfen chert zog das Buch heraus und schlug es organisation“) an, die die Briten mit An- Fledermäuse anziehen. Flughäfen haben auf. Da explodierte die Bombe. schlägen in Europa und dem Nahen Osten Licht, Licht lockt Insekten, und Fleder- Die Druckwelle riss dem 46-jährigen Va- aus Palästina zu vertreiben suchte. mäuse fressen Insekten. Sie haben es also ter dreier Kinder die Unterarme ab und Der polnischstämmige Begin war ab gut hier. verletzte auch zwei hinter ihm stehende 1943 Kopf der Irgun, und Sudit hat den „Die Tiere sind ja nicht dumm“, sagt Streifenbeamte schwer. Diese überlebten, charismatischen Kommandeur schon früh Kurt Beck. Neulich war er bei einem Sand- Reichert hingegen starb wenige Stunden bahnrennen in Herksheim, da musste das später. Halbfinale unterbrochen werden, weil ein Die Detonation am 27. März 1952 im Weißstorch auf der Bahn gelandet war. Keller des Münchner Polizeipräsidiums Überall war Lärm und Staub, aber das hat gehörte bislang zu den großen ungeklärten den Weißstorch nicht gestört. Der stand politischen Kriminalfällen. Denn das Pa- da und sah zu. „Die Tiere wissen, wann ket war an Kanzler Konrad Adenauer Gefahr droht“, sagt Beck, „wir müssen auf- adressiert. passen, dass wir nicht eine verzerrte Wahr- Ein Unbekannter hatte die Sendung nehmung bekommen.“ zwei Jungen in die Hand gedrückt, sie soll- Es ist nicht ausgeschlossen, dass Kurt ten sie beim Postamt aufgeben. Den Buben Beck irgendwann dieses Land regiert. Viel- war der Auftrag nicht geheuer, sie gingen leicht würde es ein einfacheres Land wer- zur Polizei. den, drolliger, genussvoller, in jedem Fall Wer wollte den 76-jährigen deutschen nicht so kompliziert, wie es ist, aus seiner Regierungschef umbringen?

Wahrnehmung jedenfalls. Die Ermittler fahndeten schon bald nach SHABI / LAIF AMIT Am Abend eines langen Tages sitzt der israelischen Extremisten. Eine „Organisa- Attentäter Sudit (in Tel Aviv) Parteivorsitzende der SPD im Innenhof tion jüdischer Partisanen“ hatte sich zu „Zu allem bereit“ der Burg Kastellaun, neben ihm steht noch dem Anschlag bekannt. Begründung: Die ein Teller mit Rippchenknochen, er hat sie Deutschen würden versuchen, unter dem gründlich abgekaut. Kurt Beck steht auf, „trügerischen Vorwand“ von Verhandlun- „soo“, er greift in den Gürtel und zieht gen mit Israel „die Verzeihung unseres die Hose zurecht. Volkes zu erlangen“. Ein paar Journalisten sind bei ihm, es In der Tat liefen seit Mitte März im nie- ist ein bisschen peinlich, aber die Frage derländischen Wassenaar deutsch-israelische muss erlaubt sein, die Frage, ob er abge- Gespräche über sogenannte Wiedergutma- nommen hat. Ja, sagt Beck, 12 bis 14 Kilo- chungszahlungen. Dazu passte, dass zwei gramm schätzungsweise. weitere Briefbomben an die Bonner Dele- Es sei nicht schwer gewesen. Ein biss- gation in Wassenaar abgeschickt wurden, chen weniger Fett, ein bisschen mehr spa- die allerdings entschärft werden konnten. zieren gehen. Alles ohne Quälerei. Alles Die Täter und ihre Auftraggeber wur- nur ein bisschen. Man muss sich nicht neu den nie zweifelsfrei ermittelt. erfinden, um sich zu verändern. Nun hat der Journalist Henning Sietz Neulich hat er Helmut Kohl im Fernse- die Aufzeichnungen eines der Attentäter hen gesehen. Kohl musste eine Bühne ausfindig gemacht. Es handelt sich um hoch, „der is gegrabbelt“, sagt Beck, „der Elieser Sudit, der später als Mossad-Agent hätte es fast nicht geschafft“. Kurt Beck Nazi-Verbrecher jagte. dachte, dass er nie so werden darf wie Hel- Sudit bekennt darin nicht nur, dass er mut Kohl. die Bomben gebaut hat. Sein Bericht ent-

hält auch eine Sensation: Denn demnach HANS H. PINN * Bei einer Fahrradtour mit Parteifreunden am 11. Juni an steckte Menachem Begin, 1977 bis 1983 is- Politiker Begin (1948) der Mosel. raelischer Ministerpräsident und Träger „Adenauer ist ein Mörder“

30 der spiegel 25/2006 in London zu finden ist. Im Anhang enthält es einen Bericht mit dem Hinweis „Israeli Information“; er stammt wahrscheinlich vom israelischen Geheimdienst. In dem Papier geht es um die Ziele Be- gins und seiner Cherut-Partei. Anfang Juni war nämlich eine grundsätzliche Einigung zwischen Deutschen und Israelis über ein Wiedergutmachungsabkommen erfolgt. Die Cherut müsse daher nun entscheiden, heißt es, „ob weitere Bombenattentate dem Ziel dienen, die Aufmerksamkeit auf den unerbittlichen Hass der Partei auf alles Deutsche zu ziehen“. Der Autor des Be- richts ging offenkundig fest davon aus, dass Begin und seine Partei hinter den An- schlägen standen. Als gesichert kann gelten, dass Begin mi- litante Aktionen plante. Anfang 1952 wurde Ofir Jehoschua, auch er ehemaliger Irgun- Kämpfer, nacheinander von den Begin-Ver- trauten Landau und Scherzer aufgesucht – jenen beiden, die laut Sudit an den Planun- gen für das Adenauer-Attentat teilnahmen. Beide baten Jehoschua um Mitarbeit bei

SVEN SIMON / ULLSTEIN BILDERDIENST SIMON / ULLSTEIN SVEN Sabotagekommandos gegen Schiffe, die im Politiker Adenauer, Ben-Gurion (1966 im Kibbuz Sde Boker): Bombe aus Paris Rahmen des geplanten Wiedergutma- chungsabkommens deutsche Güter nach verehrt. Daran änderte sich auch nichts, dau die Attentate vor. Begin habe zuge- Israel bringen würden. Und beide erklär- als Begin die Terrortruppe nach der Grün- stimmt. Es wurde vereinbart, dass Sudit in ten, so der 87-jährige Jehoschua heute zum dung Israels 1948 auflöste. Sudit fand ein Paris die Bomben vorbereitete. SPIEGEL, „im Namen des Kommandan- Auskommen als Sprengstoffexperte in ei- Sudits Version ist, was seine eigene Per- ten“, also Begins, zu handeln. Jehoschua: nem Tel Aviver Steinbruch. son anbetrifft, glaubwürdig. Journalist „Zu der Zeit geschah nichts ohne sein Ein- Sein ehemaliger Chef hingegen gründe- Sietz hat vor Jahren die deutschen Ermitt- verständnis.“ te mit anderen Kämpfern die Partei Cherut lungsakten ausgewertet*. Sie decken sich Sudits Darstellung wird schließlich durch („Freiheit“), die sich durch ihre Radika- weitgehend mit Sudits Beschreibungen. die Aussage eines ehemaligen Irgun-Kämp- lität auszeichnete: Sie war antiarabisch, Nur die Darstellung der Rolle Begins hat fers gestützt. Der Insider hatte sich – mög- antibritisch und vor allem antideutsch. einen Makel: Es lebt niemand mehr, der sie licherweise wegen der Belohnung – bei den Begin lief daher Sturm, als 1951 Minis- unmittelbar bezeugen kann. deutschen Behörden gemeldet. Er lieferte terpräsident David Ben-Gurion das Ange- Begins langjähriger Sekretär Jechiel Ka- den Ermittlern viele Informationen, die zu bot Adenauers zu Wiedergutmachungs- dischei oder der Direktor des Begin Cen- Sudits Version passen. Und auch er berich- verhandlungen annahm; Israel stand vor ters, Herzl Makov, haben denn auch so- tete, die Spitze der Cherut-Partei habe den dem Bankrott und brauchte das Geld. Der Anschlag auf Adenauer beschlossen. Oppositionspolitiker Begin hingegen, der „Begin war ein ruhiger Mensch, Sollte das so gewesen sein, hat Begin seine Eltern im Holocaust verloren hatte, aber wenn es um die Deutschen enormes Glück gehabt, dass seine Beteili- wiegelte mit Brandreden („Jeder Deutsche ging, war es damit vorbei.“ gung nicht aufflog. Denn wenige Tage nach ist ein Mörder. Adenauer ist ein Mörder.“) dem Tod des Sprengmeisters in München seine Anhänger auf. wurden die Attentäter einschließlich Su- Als am 7. Januar 1952 die Knesset über gleich erklärt, sie hätten von der Verwick- dits in Paris festgenommen. Merkwürdi- die Verhandlungen debattieren wollte, ver- lung des langjährigen Regierungschefs in gerweise war das Interesse der Franzosen suchten Begins Anhänger und andere De- das Attentat noch nie gehört. nicht sonderlich groß, den Fall aufzuklären. monstranten, das Parlamentsgebäude zu Gegen eine Beteiligung Begins sprechen Vier der Verschwörer wurden nach weni- stürmen. Armee und Polizei mussten die dessen politische Ambitionen. Mit einem gen Stunden abgeschoben. Nur Sudit er- Abgeordneten schützen. Am Ende setzte Mordanschlag auf den deutschen Kanzler hielt eine Haftstrafe von drei Monaten we- sich Ben-Gurion allerdings durch, die Ver- hätte er seine Karriere aufs Spiel gesetzt. gen unerlaubten Waffenbesitzes. handlungen mit den Deutschen begannen. Sudits Gegenargument: „Begin war ein Sudit sagt heute, er habe niemanden tö- Sudit sagt nun, er habe in dieser Situa- ruhiger Mensch, aber wenn es um die ten wollen. Er sei vielmehr davon ausge- tion aus persönlicher Loyalität zu Begin Deutschen ging, war es damit vorbei.“ Ent- gangen, der Sprengsatz werde vor einer die Initiative ergriffen. Sein Schwieger- sprechend gibt Sudit als Ziel des Anschlags Detonation entdeckt. vater, ein Freund Begins, habe ein Treffen denn auch an, man habe „der Welt unsere Allzu groß kann das Bedauern über den arrangiert. Der Politiker, so Sudit heute, Wut über die Wiedergutmachungsver- Tod von Karl Reichert freilich auch nicht sei „zu allem bereit gewesen, was die Ver- handlungen demonstrieren wollen“. gewesen sein. Im Bekennerschreiben heißt handlungen stoppen würde“. Für Sudits Version lässt sich ein „Top es zynisch, die Deutschen wollten Repara- An zwei weiteren Zusammenkünften Secret“ gestempeltes Dokument des briti- tionen, man habe ihnen „die erste Rate nahmen die ehemaligen Irgun-Kämpfer schen Auslandsgeheimdienstes vom 19. gerade geschickt“. und Knesset-Abgeordneten Johanan Ba- Juni 1952 anführen, das im Nationalarchiv Sollte Sudit in seinem Leben noch ein- der und Chaim Landau sowie der einstige mal deutschen Boden betreten, droht ihm Geheimdienstchef der Irgun Abba Scher- * Henning Sietz: „Attentat auf Adenauer“. Siedler Verlag, eine Haftstrafe. Mord verjährt nicht. zer teil. Sudit zufolge schlugen er und Lan- Berlin; 336 Seiten; 19,90 Euro. Christoph Schult, Klaus Wiegrefe

der spiegel 25/2006 31 Deutschland

GESETZE Jobkiller auf dem Vormarsch Das Gleichbehandlungsgesetz stößt auch in den Medien auf Widerstand: Verlage und Sender fürchten, dass sich Journalisten in Redaktionen einklagen könnten. enigstens hat das Vorhaben einen schönen Namen: Am Freitag Wvergangener Woche beriet der Bundesrat in Berlin das Allgemeine Gleich- behandlungsgesetz (AGG). Das klingt angesichts von Begriffs- monstren wie Bundesschuldenwesen- modernisierungsgesetz nicht nur gefällig –

sondern auch so, als könnte eigentlich / DPA / PICTURE-ALLIANCE HIRSCHBERGER RALF niemand etwas dagegen haben. Tatsäch- Medien-Arbeitsplatz*: „Das Gesetz löst kein reales Problem und schafft dafür viele neue“ lich aber ist die Reihe der Kritiker stattlich. „Unfug“, stimmt – und ließ sich sein so die Angst, könnte der Unterlegene kla- polterte Arbeitgeberpräsident Votum mit Steuervergünsti- gen – mit Aussicht auf Erfolg. Dieter Hundt. Bundesprä- gungen für (Bayerns) Bauern Fast noch nervöser macht nicht nur Me- sident Horst Köhler fürchtet vergüten. Am Freitag stimmte dienmanager, dass der Entwurf Betriebs- „neue bürokratische Hemm- er mit seinen Unionskollegen räten und Gewerkschaften ein Klagerecht nisse“. Und die unionsregier- wieder dagegen. einräumt – selbst wenn die Betroffenen das ten Länder begründeten ihre In den Leitartikeln kam gar nicht wollen. Nicht nur der Deutsche ablehnende Stellungnahme das Vorhaben von Beginn an Anwaltverein rechnet deshalb mit einer am Freitag mit „überflüssigen eher schlecht weg. Vielleicht Klagewelle. Vor allem kleinere Verlage und Belastungen für das Wirt- auch deshalb, weil die Me- Sender, so heißt es bei den Medienver- schafts- und Rechtsleben“. dien zu den direkt Betrof- bänden, könnten durch den zusätzlichen Sie sehen die Wettbewerbs- fenen zählen. Für sie gilt, Dokumentationsaufwand in den Bewer- fähigkeit des Standorts in verfassungsgerichtlich durch bungsverfahren und die drohenden Rechts-

Gefahr. DARCHINGER FRANK ein Urteil von 1979 garantiert, kosten überfordert werden. Zumal die Be- In der Großen Koalition Justizministerin Zypries wie auch für Kirchen der weislast bei den Unternehmen liegt, sobald avancierte das Vorhaben in Droht eine Klagewelle? sogenannte Tendenzschutz. „glaubhafte“ Vorwürfe erhoben werden. den vergangenen Wochen Er behält Verlegern das Recht „Das Gesetz löst kein reales Problem zum ernsten Konfliktfall. Denn in den Au- vor, die politische Richtung ihrer Publi- und schafft dafür viele neue“, sagt Bodo gen der CDU-Ministerpräsidenten hat sich kationen zu bestimmen. Hombach, Geschäftsführer der Essener ihre Kanzlerin Angela Merkel beim Thema Während der Entwurf Religionsgemein- WAZ-Mediengruppe. „Vor allem hebelt es Minderheitenschutz vom Koalitionspartner schaften explizit zubilligt, die Weltan- den Tendenzschutz faktisch aus.“ SPD vorführen lassen. schauung etwa als Einstellungskriterium Das Klagerecht haben die Ministerprä- Das umstrittene Gesetz setzt in nationales zu berücksichtigen, findet sich eine ent- sidenten nun genauso moniert wie die Aus- Recht um, was die EU in den Jahren 2000 sprechende Regelung für Medien nicht. In dehnung der Schutzkriterien über die EU- bis 2004 in vier Richtlinien zu diesem The- seiner bisherigen Form, heißt es deshalb in Vorgaben hinaus. Der Tendenzschutz war ma formuliert hat. Dasselbe Vorhaben der einem gemeinsamen Kommuniqué der ihnen indes keine Widerrede wert – trotz rot-grünen Regierung, damals unter dem Verbände der Zeitungs- und Zeitschriften- eines Verbandsvorstoßes in letzter Minute Etikett Antidiskriminierungsgesetz, hatte die verleger sowie der privaten Rundfunkun- bei SPD-Chef Kurt Beck. Der Bundesrat Union noch als hanebüchenen Wildwuchs ternehmer, „kollidiere das Gesetz mit der kann das Gesetz ohnehin nicht verhindern; und „Jobkiller“ (O-Ton Merkel) gegeißelt. Presse- und Rundfunkfreiheit“. es geht diese Woche in erster Lesung in Wie sein rot-grüner Vorläufer geht nun Tatsächlich könnte es in Sendern und den Bundestag. Beim Bund der Zeitungs- auch das großkoalitionäre Gleichbehand- Verlagen künftig zu kuriosen Situationen verleger zeigte man sich am Freitag ent- lungsgesetz aus dem Hause von Bundesjus- kommen: Was etwa, wenn sich ein durch täuscht. Die Hoffnung auf Nachbesserun- tizministerin Brigitte Zypries nach Ansicht Studium, Volontariat und journalistische gen geben sie aber nicht auf. der Kritiker über die EU-Vorgaben hinaus. Erfahrung hervorragend qualifiziertes Die Zeit drängt allerdings – denn weil Es umfasst nicht nur die Schutzkriterien CDU-Mitglied auf eine Stelle in der „taz“- die ersten Umsetzungsfristen verstrichen ethnische Herkunft, Rasse und Geschlecht Parlamentsredaktion bewerben würde? sind, könnten im Zuge eines EU-Vertrags- – sondern auch Alter, Behinderung, sexuelle Bislang könnten die alternativen Blatt- verletzungsverfahrens massive Strafen dro- Identität, Weltanschauung und Religion. Sie macher problemlos einen geringer qualifi- hen. So könnte das Gesetz noch vor der ers- vertrete dieses „etwas mehr“ aus vollem zierten, aber ideologisch vermutlich näher- ten Klage eines Betroffenen teuer werden. Herzen, so Angela Merkel mittlerweile. stehenden Bewerber vorziehen. Künftig, Immerhin würde eine eventuelle EU-Stra- Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoi- fe niemanden diskriminieren. Sie träfe alle ber hatte der Ausweitung im Mai zuge- * In der „Cicero“-Redaktion in Potsdam. Steuerzahler gleich. Marcel Rosenbach

32 der spiegel 25/2006 FDP-Politiker Westerwelle, Brüderle Die einstige Spaßpartei vergessen machen

nommen. Knapp sieben Monate nach Be- ginn der Großen Koalition liegen die Li- beralen in Umfragen bei bis zu zwölf Pro- zent. „Wir müssen versuchen, die von der Großen Koalition Enttäuschten für uns zu gewinnen“, feuerte der Vorsitzende seine Parteifreunde im Präsidium an. Westerwelle weiß, dass er die letzten in- nerparteilichen Kritiker zum Schweigen bringt, wenn er die FDP, die bei der Bun- destagswahl im Herbst 9,8 Prozent der Stimmen erhielt, auf zweistelligem Umfra- ge-Niveau hält. Der rüde Umgang mit sei- nem Vorgänger Wolfgang Gerhardt, den er inzwischen auf den Chefposten der Friedrich-Naumann-Stiftung entsorgt hat, wäre dann legitimiert – durch Erfolg. Mit feinem Gespür registriert der FDP- Chef, wie in der Union die Nervosität wächst. Im Bundestag „nutzen uns viele Kollegen der CDU als Kummerkasten“, be- richtet er. Ein „Gefühl der Resignation“ wittert auch Parteivize Hermann Otto Solms. Besonders der wirtschaftsnahe Teil der Union sei frustriert, konstatiert der stellvertretende Parteivorsitzende Rainer Brüderle: „Da ist Unruhe.“ Die Freidemokraten erkennen, dass die- ser Unmut für Merkel gefährlich werden kann. Bislang gehörte der CDU-Wirt- schaftsflügel zu ihren treuesten Verbünde-

HENNING SCHACHT ten. Er applaudierte, als sie den Kündi- gungsschutz lockern und das Antidiskri- minierungsgesetz verhindern wollte. FDP Jetzt stapeln sich beim Führungsperso- nal der CDU in Berlin die Beschwerde- briefe. Viele Abgeordnete müssen sich Die gelbe Gefahr peinlichen Befragungen unterziehen, wenn sie in ihre Wahlkreise kommen. Mit einer Charmeoffensive will FDP-Chef Guido Westerwelle Nach einer vertraulichen Studie des Meinungsforschungsinstituts Emnid be- frustrierte Unionswähler gewinnen. Die Liberalen werben vor werten inzwischen die Hälfte der Mitglie- allem um die tiefenttäuschten Anhänger des CDU-Wirtschaftsflügels. der des CDU-Wirtschaftsrats Merkels Ar- beit als negativ. „Selten wurde eine Polit- s braucht derzeit nicht viel, um Gui- Herzen“ fördere die Kanzlerin Bürokratie Euphorie schneller enttäuscht“, schreibt do Westerwelle in freudige Erregung und Steuererhöhungen, seufzt er, und ach, Emnid-Chef Klaus-Peter Schöppner. Ezu versetzen. Schon die Frage nach er erkenne sie kaum wieder. „Ich wünsche Als Merkel vor kurzem auf der Jahres- den neuesten Beschlüssen der Großen Ko- mir mehr von der Angela Merkel zurück, tagung des Wirtschaftsrats sprach, rührte alition genügt, und der FDP-Chef erreicht wie ich sie in der Opposition kennen- und sich kaum eine Hand zum Applaus. Ver- Betriebstemperatur. Innerhalb von Sekun- schätzengelernt habe.“ bandspräsident Kurt Lauk lieferte eine Er- den ist er der putzmunterste Oppositions- Es ist hohe Schauspielkunst, die Wes- klärung: „Die Seele des Wirtschaftsrats politiker aller Zeiten. terwelle derzeit dem Publikum bietet. In kocht“, ließ er die Kanzlerin wissen. Das Antidiskriminierungsgesetz tadelt Wahrheit passt dem FDP-Chef nichts bes- Wie heftig es brodelt, zeigt das Beispiel er noch vergleichsweise milde als bürokra- ser ins Konzept als eine Kanzlerin, die ge- von Georg Weisweiler, in den neunziger tischen „Unfug“. Bei der Hartz-IV-Reform fangen ist in den Zwängen der Großen Ko- Jahren im Bundesvorstand des CDU-Wirt- wird der FDP-Chef schon deutlicher: alition. Die reformfreudige Oppositions- schaftsrats. Weisweiler, nunmehr Präsident „Murks hoch zehn“. Richtig in Fahrt führerin Merkel war für Westerwelle eine des Verbands der Metall- und Elektroindu- kommt Westerwelle beim Thema Mehr- latente Gefahr, weil sie den wirtschafts- strie an der Saar, schickte der CDU am Mitt- wertsteuererhöhung. Ein „Irrsinn“ sei das liberalen Markenkern der FDP bedrohte. woch sein Kündigungsschreiben. Lange und „Wahlbetrug“, ruft er mit dem Gestus Als Chefin einer Regierung der kleinen habe er gezögert, sagt Weisweiler, der ein der Empörung. Schritte dagegen ist sie ein willkommenes Vierteljahrhundert Parteimitglied war. Doch Selbst mit Angela Merkel kennt Wester- Konjunkturprogramm für die Liberalen. das Maß sei voll: „Die Resozialdemokrati- welle zurzeit kein Pardon, trotz vieler Westerwelle ist entschlossen, so viel sierung der Union ist kaum noch zu stop- Abende bei Rotwein und Pasta und dem Beute wie möglich in der frustrierten pen.“ Bei den Liberalen hat er sich als Neu- vertraulichen Du, das er mit der CDU-Vor- CDU-Klientel zu machen. Seit der Wahl mitglied angekündigt: „Die FDP steht für sitzenden seit Jahren pflegt. „Mit heißem hat die FDP 4400 neue Mitglieder aufge- notwendige wirtschaftsfreundliche Refor-

34 der spiegel 25/2006 Deutschland men, wie sie von der Union leider nur ver- Weltbild und Vertrauen in den eigenen re war gediegen, die Herren trugen teu- sprochen wurden.“ Fleiß. Nicht immer fanden sie alles in Ord- res Tuch. Es war so etwas wie ein Stim- Vor einem Parteiaustritt und gar Über- nung, was die CDU machte, aber am Ende mungstest. tritt zur FDP schrecken Leute wie Ulrich deckten sich die ideologischen Linien der „Aufschwung durch Freizeit funktioniert Kallfass noch zurück. Der Wirtschaftsprü- Partei mit ihrer eigenen Weltanschauung. nicht“, sagte der Freidemokrat, und die fer ist seit 30 Jahren Christdemokrat, seit Jetzt beobachten sie eine Kanzlerin, die CDU-Anhänger nickten beifällig. Die Rei- 1998 steht er der CDU-Mittelstandsverei- ihr Reformprogramm dem Koalitionsfrie- chensteuer schüre nur eine unnötige nigung (MIT) im baden-württembergischen den opfert und zudem rot-grüne Herzens- „Neiddiskussion“, rief Westerwelle, Ap- Calw vor. „Ich bin ein Schwarzer von A bis anliegen wie das Antidiskriminierungsge- plaus brandete auf. Gastgeber Alexander Z“, sagt er. Aber Merkels Große Koalition setz passieren lässt. „Wenn sich die Union Hakenholt, Chef der örtlichen Deutschen- erschütterte innerhalb weniger Monate nicht ihrer Prinzipien besinnt, läuft sie Ge- Bank-Filiale, war begeistert: „Wir hätten sein Vertrauen in die Partei. fahr, breite Wählerschichten an die FDP keinen Besseren finden können“, um- Vor drei Wochen schickte er einen Brand- zu verlieren“, fürchtet MIT-Chef Josef schmeichelte er Westerwelle. Für den FDP- brief an Unionsfraktionschef Volker Kau- Schlarmann. Chef hätte es nicht besser laufen können. der, einstimmig unterstützt von seinem MIT- Genau darauf hoffen die Liberalen. Eif- Noch nie war die Chance so groß, wich- Vorstand. „Sehr geehrter Herr Kauder, wir rig tüftelt die Berliner Parteizentrale an ei- tige Unterstützer der Union abzuwerben, sind sauer und bitter enttäuscht“, beginnt das Schreiben, dann rechnet Kallfass auf drei Seiten mit der Politik der Kanzlerin ab. Er könne nicht einmal das Bemühen der Union erkennen, ihr Profil zu wahren: „Die CDU verliert ihre Identität, der CDU- Wähler sein Vertrauen in die Partei.“ „Un- sere Geduld ist am Ende“, schließt Kallfass, „Austritte aus der MIT aus Unzufrieden- heit mit der Politik in Berlin häufen sich. Das wollen wir nicht hinnehmen.“ Kaum war der Brief in Berlin angekom- men, klingelte bei Kallfass das Telefon. Eindringlich warb Kauder um Verständnis. Sehr überzeugend wirkte das nicht. „Bei einer solchen Politik darf man sich nicht wundern, wenn der Mittelstand sein Heil bei der FDP sucht“, sagt Kallfass.

In den Aktenordnern der Berliner MIT- PRESS / ACTION HENNING SCHACHT Zentrale häufen sich inzwischen Briefe und CDU-Vorsitzende Merkel*: Konjunkturprogramm für die Liberalen E-Mails wie die von Kallfass. Der Ton ist gehässig oder schlimmer. Da schreibt der ner Strategie, um möglichst großen Nutzen glaubt Westerwelle. Selbst die Wirtschafts- MIT-Kreisverband Main-Kinzig, er fühle aus der Schwäche der CDU zu ziehen. Be- verbände, lange eine Bastion der Union, sich durch die „krötenschluckende Kanz- sonders der barock-biedere FDP-Vize Brü- finden wieder Gefallen an den Liberalen. lerin“ nicht vertreten: „Versprechen und derle soll Handwerkern und Unterneh- Die Lobbyisten haben erkannt, dass de- Wortbrechen konnte Gerhard Schröder mern die Freidemokraten als bodenständi- monstrative Nähe zur Westerwelle-Partei besser, jedenfalls unterhaltsamer.“ Da läs- ge politische Kraft näher bringen und die die reformunwillige Kanzlerin unter Druck tert MIT-Kreischef Günter Stammes aus einstige Spaßpartei vergessen machen. setzt. Eine starke FDP verleiht auch ihren dem westfälischen Viersen, die Politik der In einem offenen Brief lockte Brüderle Forderungen mehr Gewicht. aus dem Osten stammenden Kanzlerin die Spitzen der Mittelstandsvereinigung „Die Liberalen haben in wichtigen weise „in Richtung Kollektivismus“. der Union und des CDU-Wirtschaftsrats Reformfragen Positionen, die in der Wirt- Es ist eine Art Kernschmelze, die die vor zwei Wochen zum Übertritt: „Kom- schaft auf Zustimmung stoßen“, sagt Lud- CDU derzeit erlebt. Einen Nukleus ihrer men Sie zu uns, und bringen Sie Ihre Mit- wig Georg Braun, Präsident des Indu- Wählerschaft bildeten schon immer Hand- streiter mit“, um den „Kampf gegen die strie- und Handelskammertags. Hanns- werker, leitende Angestellte und Freibe- Staatsgläubigen“ gemeinsam zu führen, Eberhard Schleyer, Generalsekretär des rufler mit einem gefestigten konservativen schrieb er. Nach der Sommerpause will der Handwerksverbands, will die Große Ko- Mainzer durchs Land touren, die Vorbe- alition an der Gesundheitsreform mes- reitungen laufen. Für Einladungen zu ei- sen. Ohne Durchbruch „werden die Ver- nem Abend in Rösrath im Rheinisch-Ber- bände verstärkt auf Distanz zur Regierung gischen Kreis hat die FDP bereits 2000 gehen“. Adressen regionaler Betriebe besorgt. Westerwelle beobachtet es mit Wohlge- Aufmerksam wird in der FDP-Zentra- fallen. Merkel, so analysierte er kürzlich im le die gestiegene Nachfrage nach Partei- kleinen Kreis, habe offenbar noch nicht rednern vor allem beim CDU-Wirtschafts- erkannt, wie ernst die Lage für die Union rat registriert. „Es brummt richtig bei uns“, sei. Die Kanzlerin erfreue sich ihrer außen- jubelt FDP-Bundesgeschäftsführer Hans- politischen Erfolge und blicke aus der Jürgen Beerfeltz. „Hubschrauberperspektive“ auf Land und Anfang Mai trat Westerwelle im Gü- Politik. Ginge es nach ihm, dürfte sich Mer- tersloher Parkhotel vor dem örtlichen kel ruhig noch eine Weile in Sicherheit CDU-Wirtschaftsrat auf. Die Atmosphä- wiegen. „Die Union“, freut sich der FDP-

CHRISTIAN BACH CHRISTIAN Chef, „sieht uns als Machtreserve – und Petra Bornhöft, Unionsfraktionschef Kauder (r.)* * Oben: beim CDU-Wirtschaftsrat am 1. Juni in Berlin; un- nicht als Gefahr.“ René Pfister, Michael Sauga Böse Briefe von der Basis ten: mit seinem SPD-Kollegen Peter Struck im Bundestag.

der spiegel 25/2006 35 DIAGENTUR / VISUALS DIAGENTUR Innenstadt von Lüneburg: Rückständig wie ärmliche Regionen in Litauen oder in Ungarn?

Fast 900 Millionen Euro als sogenannte Landesamts für Statistik, das die Daten SUBVENTIONEN Strukturförderung haben die EU-Beamten vor Ort gesammelt hat, räumt ein, der In- schon bewilligt: Sie sollen zwischen 2007 dikator sei „sehr problematisch“. Wie ver- Absurde Hilfe und 2013 in Kommunen, Unternehmen zerrt die Brüsseler Wahrnehmung tatsäch- oder Straßenbauvorhaben fließen. lich ist, zeigen andere Berechnungen: Als einziges Gebiet in Grund für den Geldsegen ist eine eben- Nimmt man das Einkommen der Bevöl- so komplizierte wie seltsame Berechnung kerung als Maßstab, ist die Region Lüne- Westdeutschland soll der reiche des europäischen Statistikamts Eurostat: burg deutscher Durchschnitt und gehört Hamburger Speckgürtel mit Die Luxemburger Zahlenjongleure haben damit zu den wohlhabendsten der EU. EU-Millionen gefördert werden – in den 25 EU-Mitgliedstaaten das Brut- Da überrascht es nicht, dass die Zahlen- dank einer fragwürdigen Statistik. toinlandsprodukt für 254 Regionen er- spiele ums große Geld unter den Bundes- mittelt, um Auskunft über die Wirtschafts- ländern für Zoff sorgen. Der hessische ie historische Innenstadt von Lüne- kraft zu erhalten. Das Ergebnis wurde Wirtschaftsminister Alois Rhiel (CDU) burg kann sich sehen lassen: sa- durch die Anzahl der Einwohner in den etwa schimpfte in einem Brief an die Bun- Dniertes Kopfsteinpflaster, schmucke Regionen geteilt und mit dem EU-Durch- desregierung, durch die Privilegierung der Häuser, rote Backsteinfassaden. Besonders schnitt ins Verhältnis gesetzt. Landstriche, Region Lüneburg würde das „gesamte edel wirkt schon jetzt das Rathaus aus dem die weniger als 75 Prozent des Schnitts wohlaustarierte Fördergefälle in Deutsch- 13. Jahrhundert, das die niedersächsische erreichen, gelten als rückständig und wer- land durcheinandergebracht“. Letztend- Stadt gerade aufwendig renovieren lässt. den als sogenannte „Ziel 1 Gebiete“ ge- lich, so der Minister, werde „das Vertrau- Auch sonst will Oberbürgermeister Ul- fördert. en in die Politik weiter beschädigt“. rich Mädge (SPD) kräftig investieren: Eine Das theoretische Verfahren hat in der Der Fall Lüneburg sei „das Symbol“ schicke Kongresshalle soll entstehen, neue Praxis allerdings Tücken: Nach dieser Me- einer verfehlten Politik, sagt auch Franz- Gewerbe- und Wohngebiete sind geplant. thode lag der Raum Lüneburg zwischen Josef Bade, Professor für Raumplanung an So könne die Stadt, hofft Mädge, noch at- 2000 und 2002 zwar tatsächlich gerade der Universität Dortmund. Die Speck- traktiver werden für junge Familien, die eben unterhalb der Fördergrenze. Jeden gürtel der Großstädte mit Hilfsmillionen heute schon in großer Zahl aus der 40 Ki- Morgen aber fahren aus dem Speckgürtel zu päppeln, die letztlich aus Steuergeldern lometer entfernten Millionenstadt Ham- Tausende Menschen zur Arbeit nach Ham- stammen, stelle den Sinn der sogenannten burg nach Südosten ins Grüne ziehen. burg oder Bremen. Deren Wirtschafts- Strukturförderung in Frage: „Statt Be- 89000 Menschen werden in 15 Jahren in leistung wird am Arbeitsort ermit- Lüneburg leben, sagen Prognosen, zurzeit telt – in der Einwohnerwertung Cuxhaven SCHLESWIG- EU-Region sind es 70000. aber zählen sie zur Wohnsitz- HOLSTEIN Lüneburg Geld für den weiteren Ausbau der boo- Kommune. So drückt selbst ein menden Stadt dürfte bald im Übermaß da grandios verdienender Pendler im Bremer- Stade Hamburg MECKLENBURG- sein, dank einer absurden Förderpolitik Porsche den Schnitt, als würde er haven VORPOMMERN der Europäischen Union. Ausgerechnet von Hartz IV leben. Damit wird Lüneburg ist nämlich das Zentrum einer das Umland statistisch armgerech- Lüneburg Gegend, die Brüsseler Bürokraten nun als net, obwohl die Pendler ihre Steu- Bremen besonders bedürftig eingestuft haben. Und ern natürlich an ihrem Wohnsitz Uelzen deshalb soll sie als einzige Region West- zahlen. deutschlands bald mit einer Art Entwick- Wegen dieses Effekts halten Strukturförderung SACHSEN- lungshilfe aufgepäppelt werden, wie ärm- viele Statistiker die EU-Rechnung 2007 bis 2013: NIEDERSACHSEN ANHALT liche Landstriche im Osten der Republik, für Unfug. Auch Lothar Eichhorn, ca. 900 Mio. ¤ Celle 25 km in Litauen oder in Ungarn. Sprecher des niedersächsischen

36 der spiegel 25/2006 Deutschland nachteiligung abzubauen, wird sie ver- umspannende Organisation verstärkt auf stärkt. Hier sieht der Bürger: Das kommt SEKTEN dem heimischen Bildungsmarkt versuche. heraus, wenn Brüssel sich vor Ort ein- Auch den Verfassungsschützern ist das mischt.“ Verdächtige Engagement aufgefallen: „Auffällig stark“ In der EU-Kommission allerdings gibt baue Scientology auf die „Jugendarbeit“, es wenig Verständnis für die Kritik und hieß es jüngst bei der Vorstellung des das Gezänk der Deutschen. Dass die Anregung Verfassungsschutzberichts 2005. Pädagogin Einkommen der Menschen in der Region Riede hat in den vergangenen Monaten Lüneburg sehr ordentlich seien, will ein Scientologen nutzen die deutsche von über 20 neuen Nachhilfeschulen er- Sprecher der Generaldirektion Regional- fahren, die von Scientologen betrieben politik gar nicht bestreiten. Aber „egal, Bildungsmisere für ihre Zwecke: werden, in Frankfurt, Hamburg, Stuttgart welchen Indikator man nimmt, es gibt im- Sie locken lernschwache Schüler in und anderswo. mer Grauzonen“, sagt er. Die angefeindete eigene Nachhilfeschulen. Die Kunden solcher Nachhilfeschulen Berechnungsmethode jedenfalls werde seit ahnen meist nicht, wem sie ihre Kinder Jahren angewandt, habe sich also offenbar anvertrauen. In Werbebroschüren sucht „bewährt“. man das Wort „Scientology“ in der Re- Ganz glücklich mit dem Geldsegen sind gel vergebens, allenfalls der Name L. allerdings auch die Empfänger nicht: Nie- Ron Hubbard taucht ab und zu auf: Für dersachsens CDU-Regierungschef Christi- den Scientology-Gründer waren Kin- an Wulff will sein Land als wirtschaftsstark der nichts anderes als „Erwachsene in klei- darstellen – da macht sich die Entwick- nen Körpern“. lungshilfe aus Brüssel nicht gut. Zudem Der Brief, der Mitte Januar den Leh- muss sich die Regierung in Hannover – rern der hessischen Stadt Butzbach ins kurz vor den Kommunalwahlen im Sep- Haus flatterte, wirkte unverfänglich. Dar- tember – nun mit einer Neiddebatte her- in wurde „recht herzlich“ zur Eröffnung umplagen. Politiker aus abgelegenen und des „Lernhäuschens“ eingeladen – einer tatsächlich benachteiligten Regionen Nie- Einrichtung, die von einem Scientologen- dersachsens wie dem Harz wollen nicht Ehepaar betrieben wird. Bei Kaffee und einsehen, dass sie nichts bekommen, Kuchen könnten sich die Pädagogen ein während Lüneburg absahnt. Bild machen, wie im „Lernhäuschen“ ge- Und selbst innerhalb der Förderregion – arbeitet werde. Auf dem Schulhof des die von Cuxhaven im Nordwesten bis Gor- Gymnasiums verteilte das Paar Flyer: Wer leben im Südosten reicht und sehr unter- sich schnell anmelde, bekomme zwei schiedlich entwickelt ist – gibt es Miss- kostenlose Nachhilfestunden.

trauen, ob es bei der Verteilung gerecht / VISUM JOERG MUELLER Aufgeschreckt von ähnlicher Werbung, zugehen wird. Das Problem: Um die EU- Scientology-Zentrale (in Hamburg) verschickte das bayerische Kultusminis- Gelder abrufen zu können, müssen die Intime Fragen terium Anfang April eine eilige Mitteilung Empfänger auch selbst Geld investieren. an alle Schulleiter: Künftig sollten El- „Das können sich die weit von Hamburg er Werbezettel hing am Schwarzen tern und Lehrer noch sorgfältiger prüfen, gelegenen ärmeren Kommunen nicht leis- Brett eines Essener Supermarkts wer hinter Bildungsangeboten stecke. Wer ten“, fürchtet Dieter Aschbrenner, Landrat Dund richtete sich an alle Eltern aus seine Kinder in die Hände von Scientolo- von Lüchow-Dannenberg. der Nachbarschaft. Ganz in der Nähe gebe gen gebe, riskiere, dass ihnen „maschinen- Argwohn gibt es auch in Hamburg, liegt es nun die „Alternative Schule“, in der Ler- ähnliche Verhaltensweisen“ anerzogen doch der Verdacht nahe, die Kommunen nen noch Spaß mache. „Genau richtig“, würden. im Speckgürtel könnten versuchen, mit dachte sich ein Vater, der nun aus schierer Scientology-Sprecherin Sabine Weber Hilfe der Brüsseler Millionen Firmen der Angst seinen Namen nicht genannt wissen reagiert empfindlich auf derlei Sätze: Seit Hansestadt ins Umland zu locken. Ham- möchte. Er notierte sich die Telefonnum- Jahren werde „eine Unwahrheit nach der burg würde Arbeitsplätze verlieren und mer der Schule und vereinbarte am glei- anderen“ über Scientology verbreitet. Da- damit auch Steuereinnahmen. chen Abend Nachhilfe für seine Tochter. bei sei es doch gut, dass Mitglieder der Or- Statt aber gegen die EU zu stänkern, Anfangs schien es, als hätte er einen gu- ganisation etwas für den Pisa-geplagten hat sich Bürgermeister Ole von Beust ten Fang gemacht mit der neuen Lehrerin. Bildungsstandort Deutschland täten. Die (CDU) eine geschickte Taktik ausgedacht: Doch dann stellte die mütterlich wirkende Argumentation zieht. Webers Gesin- Die Hansestadt, lockte er in Stade, kön- Frau intime Fragen nach Freunden und nungsbruder Dominique Bouyer, der das ne den Kommunen der Region sogar bei Familie, riet seiner gerade volljährigen Butzbacher Lernhäuschen berät, spricht der Finanzierung des Eigenanteils hel- Tochter zur „Lebensberatung“ bei einem von „guter Resonanz“: „Die Zahl der fen. Die Bedingung: Dafür müssten För- Kollegen und regte trotz guter Lernerfolge Schüler, die wir unterrichten, steigt an.“ derprojekte auf die Beine gestellt werden, an, zukünftig nicht nur einmal, sondern Tatsächlich produziert der harte Wett- die auch Hamburg nutzen, etwa beim dreimal pro Woche zu kommen. Dem bewerb in der Wissensgesellschaft einen Straßenbau. Vater kam die Sache verdächtig vor. Ging Run auf Lehrangebote. Schon jetzt büffelt Geht Beusts Plan auf, würde das EU- es wirklich nur darum, Lese- und Recht- jedes dritte deutsche Kind bei einem Nach- Geld nicht nur der Region Lüneburg zu- schreibschwächen auszubügeln? hilfelehrer oder bei einer der etwa 3000 gutekommen, sondern auch Hamburg. Getrieben von aufkeimendem Misstrau- Nachhilfeschulen. Doch wer kontrolliert Dabei steht die Hansestadt schon jetzt en, rief er bei Sabine Riede von der Esse- deren Qualität? Weil die Anbieter nicht glänzend da. Ihr Bruttoinlandsprodukt ner Beratungsstelle „Sekten-Info“ an. Dort der Schulaufsicht unterliegen, könne jeder liegt bei 184 Prozent des EU-Schnitts, sie ist waren die Lehrerin und ihr Kollege schon eine gründen, klagt Werner Kinzinger, Ge- die viertstärkste Region ganz Europas, und bestens bekannt: als hochrangige Scien- schäftsführer der Aktion Bildungsinforma- nirgendwo in Deutschland leben so viele tologen. tion mit Sitz in Stuttgart. Seit Jahren for- Millionäre wie an Alster und Elbe. Sektenexperten in ganz Deutschland dert er, eine Art Zertifikat einzuführen – Michael Fröhlingsdorf warnen derzeit davor, dass sich die welt- bisher vergebens. Guido Kleinhubbert

der spiegel 25/2006 37 Deutschland Der sozialistischeDEBATTE Gang Von Joachim Gauck

Gauck, 66, war Pfarrer in Rostock, wurde im len geprägt durch ein Angst-Anpassungssyndrom, das keineswegs Herbst 1989 Mitglied im Neuen Forum und im vom Polizei- und Geheimdienst allein geschaffen war. Wir benötigen März 1990 in die Volkskammer der DDR gewählt. deshalb eine zweite Phase der Aufarbeitung. Von 1990 bis 2000 war er Bundesbeauftragter für Bei den Vorträgen, die ich in Ost und West halte, stehen Ter- die Stasi-Unterlagen. ror und Zersetzung längst nicht mehr im Zentrum. Viel lieber erzähle ich den Menschen, insbesondere den Wessis, wie man ein Ossi wird. Ich erzähle gern von der kleinen Marie, die als ch, da bist du wohl ein richtiger kleiner Egoist?“ Diese Ver- Erstklässlerin in die „Jungen Pioniere“ aufgenommen wird – urteilung in Form einer Frage aus dem Mund der Klassen- blaues Halstuch, weißes Blüschen, Faltenrock, blaues Käppi, den Alehrerin hat der erwachsene Mann noch heute im Ohr. Felix, Pioniergruß „Seid bereit – immer bereit“ stets auf den Lippen. Als so nenne ich ihn, war Schüler der ersten Klasse. Alle Klassenkame- Maries Mutter einst nur vorsichtig versucht hatte, das Kind vom raden hatten eine Mark mitgebracht für „die Solidarität“, wie es in Eintritt in die Pionierorganisation abzuhalten, hatte Marie schon der DDR hieß. Felix war von Natur aus hilfsbereit, aber er hatte die angefangen zu weinen. Verständlich, musste sie sich doch fragen, Mark nicht mitgebracht. Stattdessen eine Frage, die ihm die Mutter wo sie stehen würde, wenn alle anderen Kinder das Pioniertuch mitgegeben hatte. „Wofür soll denn das Geld ausgegeben werden?“ umgelegt kriegen. In der Ecke? Vergesslichkeit hätte die Lehrerin So wird Marie dann auch „Thäl- verziehen, aber eine derartige Fra- mann-Pionier“ in der vierten Klas- ge nicht. Für sie ist es damals ei- se, sie träumt davon, Gruppenrats- ne Provokation. Und so formuliert vorsitzende zu werden, auch wenn sie ihre Reaktion in jenem unnach- die Mutter vorsichtig mahnt: „Ver- ahmlichen Tonfall, der entsteht, such’s lieber als Kassiererin der Pio- wenn sich Allwissenheit, Ablehnung, nierbeiträge!“ Marie kann die Lie- Ideologie und pädagogischer Ei- der, darf beim Fahnenappell auf fer mischen. Wer als Sechsjähriger dem Schulhof für ihre Klasse spre- so angesprochen wird, weiß zwar chen, ist wichtiger Teil einer Ge- nicht unbedingt, was ein Egoist ist, er meinschaft und wird bald Mitglied weiß aber, dass er etwas falsch ge- der „FDJ“ sein, des Jugendverban- macht hat und spürt die Ausgren- des, der eine „Kampfreserve“ der zung. Partei ist. Aber das merkt man nicht Alle anderen haben die Mark mit- so auf der Oberschule. Das macht gebracht. Sie haben das Geld von diese Diktatur ja aus – man spürt sie Eltern bekommen, die im Betrieb nicht in jeder Sekunde. monatlich ihre „Solidaritätsmarke“ So geht das Leben seinen sozialis- ins Gewerkschaftsbuch kleben, ohne tischen Gang. Vor den großen Feri- zu fragen, ob das gesammelte Geld en fahren die älteren Schüler hin- wirklich den Armen in den Ent- aus in die Heide – das Schießen und

wicklungsländern zugutekommt. Sie (L.) PHOTO + EUROPA JÜRGENS OST (O.); VARNHORN ANDREAS Exerzieren muss eingeübt werden, hatten längst gelernt, dass solche SED-Parteitag (1986): Totale Durchherrschung um die Heimat verteidigen zu kön- Fragen schaden. nen. Dazu müssen auch die akusti- Felix fiel mir ein, als wir kürzlich in einer Anhörung im Deut- schen Signale der Wachsamkeit gehören. Jeden Mittwoch um 13 schen Bundestag saßen und darüber sprachen, wie an die DDR er- Uhr gehen im Land die Sirenen, keiner kann sie überhören, auch innert werden soll. Vor allem die Anregung einer Kommission un- die nicht, die sich heute daran nicht mehr erinnern. ter Leitung des Historikers Martin Sabrow, sich künftig verstärkt mit dem „Alltag“ der DDR zu beschäftigen, hatte für Schlagzei- enn ich heute darüber rede, wie wir Ossis wurden, las- len gesorgt. Opfergruppen und einige Politiker befürchten, dass se ich unerwähnt, dass zu DDR-Zeiten schon in der die Einbeziehung des „Alltags“ der Beginn einer „Weichspülung“ WOberschule Schüler zum Spitzeldienst geworben wer- der Diktatur sei. Statt der Delegitimierung der Diktatur, drohe den. Ich berichte von den Schwierigkeiten der älteren Jungen, die nun eine Präsentation der „DDR light“. Eine Debatte über den sich schon früh vor die Frage gestellt sehen, ob sie nicht Umgang mit der DDR ist ausgebrochen. Im Kern geht es um die „längerdienend“ zur NVA gehen wollen – nach dem Abitur. Wer Frage, welche Zukunft die DDR-Vergangenheit haben soll. War- studieren wolle, sei dies doch der Arbeiterklasse schuldig. um sollen wir uns noch mit der DDR beschäftigen? In welcher Be- Felix weiß, dass man seine Wehrpflicht – 18 Monate – als „Bau- ziehung steht die Aufarbeitung zu unserer Zukunftsfähigkeit? soldat“ ohne Waffe ableisten kann. Freilich, seinen Studienwunsch Ich halte die verstärkte Beschäftigung mit den Alltagsphänomenen kann man vergessen, wenn man so etwas Skurriles macht. Andere der DDR für ausgesprochen überfällig. Zehn Jahre habe ich selbst das machen doch vor, wie man es schafft, zum Medizinstudium zu- Thema Stasi bearbeitet. Doch die Aufarbeitung der DDR-Diktatur gelassen zu werden. Natürlich geht man dann in die FDJ, das ist wird scheitern, wenn wir nur über die Stasi-Gräuel sprechen. Denn normal. Aber er, der Angepasste, den ich Paul nenne, gibt sich ei- bei der Fixierung auf den Geheimdienst kommen wesentliche Be- nen Ruck und akzeptiert die dreijährige Armeezeit – dann geht reiche des Lebens in der „sozialistischen“ Gesellschaft nicht vor: we- es seinen sozialistischen Gang, einen Kriechgang, wie Felix findet. der die führende Rolle der SED noch die differenzierten Anpassungs- Paul wird Assistenzarzt an einer Uni-Klinik. Er muss zum Ka- und Karrieremuster. Denn die DDR-Bevölkerung ist in großen Tei- dergespräch mit dem Institutsdirektor. Paul könnte Professor wer-

38 der spiegel 25/2006 den. Allerdings hat sein Chef da noch eine Frage: „Sind Sie ei- im Osten neben den Kernbereichen der politisch oder ökonomisch gentlich schon Mitglied unserer Partei?“ Paul hat es bislang ohne Aktiven eine andere Kultur, die einer Transformationsgesell- Parteibuch bis zum Assistenzarzt gebracht. Aber jetzt, was soll er schaft. Nostalgie und Furcht vor der Freiheit sowie eine große nur antworten? „Ach, wissen Sie, für diese wichtige Frage fühlte Schwierigkeit, Eigenverantwortung zu übernehmen, prägen die ich mich bisher nicht reif genug“ – eine klug gewählte Ausrede. Landschaft. Wo jahrzehntelang keine Klassensprecher gewählt Aber das nützt nichts – wenn er demnächst keine bessere Antwort wurden, keine freien Gewerkschaften und freie Medien existier- hat, wird der Chef einen anderen jungen Doktor finden, der sich ten, erwartet man immer zu viel von denen da oben und zu we- über die angebotene Karriere freut. nig von sich selbst. Wenn ich im Westen bin, lasse ich offen, wie sich Paul damals entscheidet. Ich schaue mir meine Zuhörer an. Direktoren, Dok- as ist kein Charaktermangel Ost – kein Wessi hätte unter toren, Amtsträger, Handwerksmeister, Betriebsratsmitglieder. Ich Ost-Umständen seine Westmentalität entwickeln können. versuche, die Freiburger gedanklich mit nach Freiberg in Sachsen DPolitisch geurteilt, sind Diktaturen Unorte. Aber auch dort zu holen und die Emder nach Stralsund. Dann zeige ich auf die leben Menschen mit Sicherheitsbedürfnissen und Karrierewün- Wichtigen in Reihe eins und nutze die Chance zur Provokation. schen. Diesen Bedürfnissen kommt die Diktatur entgegen mit „Alles SED“, sage ich dann. Nicken bei einigen, andere mögen Förderung der Gehorsamen und Privilegien für die Arrivierten. das nicht hören. Für Verstockte, die sich den Ostdeutschen über- Ein vormodernes Partizipationsmodell sichert die Herrschaft der legen fühlen, habe ich noch einen Hinweis parat. Ein Blick in die Mächtigen: Knie nieder, und du empfängst das Lehen. Das Nie- Chronik ihrer Stadt zwischen 1933 und 1945 zeigt doch, dass man derknien wird durch Eintritt in die regierende Partei ersetzt. Of- auch in Schwaben, Hessen und Niedersachsen Diktatur „konnte“, fiziell waren wir Bürger, DDR-Bürger. In Wahrheit waren wir so bevor die Demokratie kam. etwas wie Insassen, Staatsinsassen. Wie anders die „Normalität“ derer, die nach dem Krieg zu Heute, wo das alles Vergangenheit ist, bleiben Reste zurück in neuer Unfreiheit befreit wurden. Für die im Osten regierenden den Seelenlandschaften derer, die sich unterworfen haben oder Kommunisten war es nur ideologisch schwierig, Dominanz zu die schweigend-ängstlich mitgelaufen sind. Daran will niemand entwickeln. Die Mentalität großer Bevölkerungsgruppen war gern erinnert werden. Da es aber nun mal ohne Erinnerung nicht schon durch politische Ohnmacht geht, bevorzugen diese Milieus die und Gehorsam geprägt, durch eine Nostalgie – Erinnerung, die ohne Gewöhnung an eine Staatsmacht, Schmerz auskommt, ohne Scham, die nicht durch freie Wahlen legiti- ohne Trauer. Deshalb ist die Erin- miert war. Zudem kannten sie die nerungslandschaft Ost gespalten. bittere Erfahrung, dass Recht, wenn Da gibt es den Trotz der roten es seine Unabhängigkeit verliert, Reaktionäre, Ex-Stasi-Leute und nicht mehr schützt, sondern zusätz- einstigen SED-Eliten, die den dikta- lich bedroht. Es ist die Grunderfah- torischen Charakter ihres Systems rung von Menschen, die Derartiges leugnen. Weil sie sich geistig nicht 56 Jahre lang erlebt haben: Eine befreien wollen, denunzieren sie die Machtausübung, die zeitweilig zu ei- Freiheit. Sie beschwören ihre Män- ner totalitären Durchherrschung der gel. Das soll sie schützen vor den ganzen Gesellschaft führt, ruft ein Schmerzen der Aufklärung. forciertes Sicherungsverhalten der An dieser Kälte reiben sich viele Bevölkerungsmehrheit hervor. An- der einstigen Opfer auf. Ihre Ver- passung und Gehorsam werden bände greifen dann zum stärksten „normal“, besser rational. Mittel, die DDR im Nachhinein zu Auch ohne die Staatssicherheit delegitimieren: Stasi-Terror, politi- hätte es das Angst-Anpassungssyn- sche Justiz und Zuchthäuser sollen drom gegeben, mit ihr umso mehr. im Mittelpunkt des Erinnerns ste-

Dafür steht die Geschichte von KLINGNER KURT hen. Sie suchen Erinnerungswaffen, Menschen wie Felix, der die Angst FDJ-Mitglieder (1970): Reste in der Seelenlandschaft denen gegenüber jeder Widerstand schon geerbt hat. Sein Vater hatte zwecklos ist. am 17. Juni 1953 vergeblich gehofft. Er hatte 1956 das Scheitern Aber Überwältigungspädagogik überzeugt nicht immer. Wich- der Ungarischen Revolution erlebt, hatte die kleine Freiheit, tiger als das ständige Zeigen auf den Stasi-Terror ist das Reden weggehen zu können, am 13. August 1961 verloren und 1968 über den Alltag in einer Diktatur: über den Schulalltag, die Ka- die letzten Illusionen, als Sowjetpanzer in Prag die Verbindung derpolitik der SED, über Geschichten des vorauseilenden Ge- von Sozialismus und Demokratie niederwalzten. Er wusste wie horsams, über Fahnen und Resolutionen. So taucht eine formierte die Mehrheit der Ostdeutschen: „Es hat keinen Zweck, sich auf- Alltagswelt auf, die bei der Generation meiner Kinder nur Er- zulehnen.“ Als der jugendliche Felix gedanklich eigene Wege schrecken auslöst – und Freude an der Freiheit. gehen will, hängen ihm Angst und Sorge des Vaters wie Eisen- Wir, die wir dankbar sind für diese Freiheit, brauchen eine fesseln am Körper. Noch zur Demonstration gegen die SED am zweite Phase der Aufarbeitung nicht zu fürchten. Dabei haben wir 4. November 1989 kommt sein Vater mit der Angst, Truppen einen Wunsch an die Mehrheitsdeutschen im Westen. Sie sollten könnten auch diese Revolution niederschlagen. Oppositionelle erkennen, dass die Diktatur im Osten und ihre Überwindung kei- Gruppen in den Kirchen, Künstler- und Intellektuellenzirkeln ne Ereignisse der sächsischen Regionalgeschichte waren, sondern hatten da schon eine Gegenkultur entwickelt, die sich von der in den Kernbereich des nationalen Gedächtnisses gehören. Nicht Haltung der Mehrheit unterschied. Nicht, dass die Mehrheit zuletzt, weil diese Geschichte die Kostbarkeit der Zivilcourage überzeugt gewesen wäre vom Staatssozialismus, aber Aufleh- lehrt und wie schnell sie verlorengehen kann. Denn auch inmitten nung erschien irrational. So entstand ein Amalgam aus Anpas- der politischen Freiheit geben Bürger ihre Zuständigkeit für sich sung, Furcht und Minimalloyalität der Unüberzeugten. So kann selbst ab, gehen nicht mehr zur Wahl, werden zu Konsumenten, eine Diktatur lange leben. zu Staatsbewohnern ohne politische Absichten, Ohnmächtigen, ob- 16 Jahre nach der Vereinigung von Ost und West können wir wohl kein Diktator sie entmächtigt. Auch deshalb hat die Be- immer noch die Nachwirkungen einer anderen politischen Kultur schäftigung mit der DDR mit unserer Zukunft zu tun, 53 Jahre sehen. Mentalität wandelt sich nur sehr langsam, und so existiert nach dem 17. Juni und 17 Jahre nach dem Fall der Mauer. ™

der spiegel 25/2006 39 Wirtschaft

AIR BERLIN Piloten wollen mehr ach ihrem Börsenstart Anfang Mai Nkönnte die Fluggesellschaft Air Berlin schon bald in neue Turbulenzen geraten. In den vergangenen Tagen er- hielten die rund 500 Flugzeugführer der zweitgrößten deutschen Fluglinie Post von einer Gruppe kritischer Air-Berlin- Mitarbeiter, die dazu auffordern, der Pilotengewerkschaft VC beizutreten, um erstmals einen Tarifvertrag abzu- schließen. Mit dem Vorstoß wollen die Rebellen, die aus Angst vor Repressa- lien bislang noch anonym agieren, unter anderem die „schrittweise Anpassung unserer Gehälter an die marktübliche Vergütung“, eine gerechtere Arbeits- belastung und die Einführung einer geregelten Altersversorgung erreichen. Parallel dazu schlagen die Autoren die Gründung einer firmeneigenen Tarif- kommission vor, die mit Konzernchef Joachim Hunold in konkrete Verhand- lungen eintreten und im Fall einer Ab-

lehnung mit Hilfe der VC die Urabstim- SCHULZ / KEYSTONE VOLKMAR mung zu einem Streik einleiten soll. Golf-Montage (in Wolfsburg) Ein Air-Berlin-Sprecher argumentiert, das Unternehmen benötige „keine VOLKSWAGEN Moderatoren von außen“, denn man sei mit den Flugzeugführern bereits in einem „intensiven Dialog“. Außerdem Über 30000 Jobs gefährdet will das Unternehmen, dessen Aktien- kurs sich seit dem Börsenstart um fast W-Personalvorstand Horst Neumann hat erstmals zu- ein Viertel reduziert hat, spezielle Vgegeben, dass im Wolfsburger Autokonzern mehr als die Zulagen für Piloten einführen, die über- bislang genannten 20000 Arbeitsplätze bedroht sind. Im Ge- wiegend Kurzstreckeneinsätze fliegen. spräch mit Arbeitnehmervertretern sagte er, es seien darüber hinaus mehr als 10000 weitere Jobs gefährdet. Grund: Bei den derzeitigen Arbeitskosten könne der nächste Golf nicht mehr rentabel in Wolfsburg gefertigt werden. Dort dürfte dann nur noch ein geringerer Teil der Golf-Produktion verbleiben. Der Konzern müsste zusätzlich in die Werke Brüssel und Mosel investieren, um dort mehr Fahrzeuge her-

zustellen. Wegen der hohen Kosten hat der VW-Vorstand / DPA HOLLEMANN HOLGER bereits entschieden, dass der geplante neue Scirocco nicht in Neumann Wolfsburg, sondern in Portugal gebaut wird. Die VW-Arbei- ter in Deutschland sollen zum gleichen Lohn statt 28,8 wieder 35 Stunden arbeiten, um die Kosten zu senken. Er könne sich auch vorstellen, so Neumann, dass Inge-

STEFAN OELSNER / KEYSTONE OELSNER STEFAN nieure wieder 40 Stunden pro Woche arbeiten. Hunold

SAP SAP-Mitarbeiter auf zehn unterschied- forderliche Transparenz und rechtliche lichen Listen für die Wahl, bei der am Absicherung unserer Interessenver- 400 Kandidaten Mittwoch ein 37-köpfiger Betriebsrat tretung“ gewährleiste. Nachdem die für die rund 9000 SAP-Mitarbeiter in Gewerkschafter damit drohten, die für Betriebsrat Walldorf und St. Leon-Rot gebildet Einsetzung der Mitarbeitervertretung werden soll. Noch im März hatten sich per Gericht durchzusetzen, schwenkten berraschend groß ist der Andrang bei einer Betriebsversammlung gut 90 SAP-Vorstand und auch die Arbeitneh- Üzur ersten Betriebsratswahl beim Prozent der SAP-Mitarbeiter gegen die mervertreter im Aufsichtsrat um und be- Software-Riesen SAP. Unter Slogans wie Einrichtung eines Betriebsrats ausge- gannen, die Wahl selbst zu organisieren. „Kommunikation statt Konfrontation“, sprochen. Die Forderung war von drei Der Software-Konzern ist das einzige „Mensch im Mittelpunkt“ oder „Weni- Gewerkschaftsmitgliedern aufgebracht börsennotierte Großunternehmen, das ger ist mehr“ kandidieren rund 400 worden, da nur ein Betriebsrat „die er- bislang über keinen Betriebsrat verfügt.

40 der spiegel 25/2006 Trends

HARTZ IV Nürnberg gründet Eingreiftruppe it einer speziellen Eingreiftruppe die Jobcenter übertragen werden. Mwill die Nürnberger Bundesagen- Vor wenigen Wochen hatte der Bundes- tur für Arbeit die Hartz-IV-Behörden rechnungshof kritisiert, dass die straffer kontrollieren. Agenturchef Verwaltung des Arbeitslosengeldes II Frank-Jürgen Weise richtet derzeit un- erhebliche Mängel aufweise. ter dem Titel „Führungsunterstützung SGB II“ in der Nürnberger Zentrale eine neue Abteilung ein, die das Ver- waltungschaos in den örtlichen Job- centern beseitigen soll. Die rund 25 Mit- arbeiter haben die Aufgabe, in ständi- gem Kontakt mit den Geschäftsführern der 356 lokalen Hartz-IV-Behörden dafür zu sorgen, dass die Reform besser umgesetzt wird. Insbesondere soll das sogenannte Steuerungsmodell, mit dem

die Nürnberger Behörde schon heute WEISFLOG RAINER ihre eigenen Zweigstellen dirigiert, auf Arbeitsagentur (in Cottbus)

UNTERNEHMEN Otto-Tochter Verena von Mitschke-Co- lande. Die vermögende Geschäftsfrau, Gelddrucker auf die bereits in den vergangenen Jahren maßgeblichen Einfluss auf die Unter- Millionensuche nehmensentwicklung ausübte, hält bis- lang 50 Prozent der G&D-Anteile. Die m Gesellschafterkreis des größten andere Hälfte vermachte Otto seiner Ideutschen Herstellers von Banknoten, zweiten Tochter Claudia Miller, nach- dem Münchner Familienunternehmen dem er seine beiden Söhne 1994 nach Giesecke & Devrient (G&D), stehen heftigen Querelen ausbezahlt und aus weitreichende Veränderungen an. Wie dem Unternehmen gedrängt hatte. Firmen-Insider berichten, soll der Geld- Sie versuchten Jahre später, noch einen und Kreditkarten-Multi (1,23 Milliarden Aufschlag auf ihre Abfindung auszu- Euro Umsatz, 7539 Beschäftigte) künftig handeln, scheiterten damit aber am nur noch einem einzigen Erbenclan des Widerstand ihrer resoluten Schwestern. 1997 verstorbenen Patriarchen Siegfried Nun soll Mitschke-Colande die alleinige Otto gehören – nämlich der Familie der Macht bei G&D übernehmen. Wie Fir- FRANK ROLLITZ / PEOPLEPICTURE ROLLITZ FRANK Mitschke-Colande, Miller

menkenner berichten, will sie ihre in den USA lebende Schwester auszahlen. Nachdem bereits im vergangenen Jahr eine Firmenbewertung durchgeführt wurde, müssen nun noch Steuerfragen geklärt werden und Details, wie der Kaufpreis von rund 600 Millionen Euro finanziert werden soll. Eine G&D-Spre- cherin wollte sich zu dem Vorgang

WOLFGANG KLUGE / PICTURE-ALLIANCE / DPA / PICTURE-ALLIANCE KLUGE WOLFGANG nicht äußern, bestätigte aber Gespräche G&D-Banknotenproduktion innerhalb der Eigentümerfamilien.

der spiegel 25/2006 41 Wirtschaft

GESUNDHEIT Der unsichtbare Dritte Finanzminister Peer Steinbrück macht Druck bei der Gesundheitsreform: Zusätzliche Steuergelder sollen nur fließen, wenn sich die bisher zerstrittenen Fronten der Großen Koalition auf eine klare Strukturreform verständigen. Ein Dossier dazu gibt es schon.

evor Peer Steinbrück am Mittwoch- Gestritten wird über einen neuen Ge- Effizienz durch mehr Wettbewerb“ steht. abend vergangener Woche ins Ber- sundheitsfonds, mit dem die Gelder der Was Steinbrücks Beamte vergangene Wo- Bliner Olympiastadion fuhr, um den Versicherten eingezogen werden sollen, che vortrugen, ist nichts anderes als ein deutschen WM-Sieg gegen Polen mitzuer- über die Zukunft der privaten Kranken- gutgezielter Warnschuss an die Gesund- leben, musste sich der Finanzminister einer versicherung – und immer wieder über heitspolitiker. Ausdauerübung der besonderen Art un- zusätzliche Steuergelder für das marode Bislang hat sich die Verhandlungsrun- terziehen. Zwei Stunden lang präsentierten Kassensystem. de unter Leitung von Ressortchefin Ulla ihm seine Beamten Folien und Schaubilder Doch so weit die Gesundheitspolitiker in Schmidt auf wenig mehr verständigen über den notwendigen „Reformbedarf im Details ihres Projekts auseinanderliegen, können als auf den Versuch, frisches Geld Gesundheitssystem“. Freizeitspaß sieht an- über eines sind sie sich einig: Was immer ins System zu lenken. Nun machen Stein- ders aus. der Kompromiss am Ende kostet, schul- brücks Experten klar, dass sie die bis- Es ging auch um eine dröge Materie. tern muss es der Finanzminister, der bis- herigen Ergebnisse für kaum ausreichend Von „Beitragsbemessungsgrenzen“ war die lang als unsichtbarer Dritter mit am Tisch halten Rede und „portablen Alterungsrückstel- sitzt. So haben die Ministerialen erhebliche lungen“, von „monistischer Finanzierung“ Die Strategie der Spezialisten könnte Vorbehalte gegenüber dem geplanten Ge- und „morbiditätsorientiertem Risikostruk- sich als klassische Fehlkalkulation erwei- sundheitsfonds. Geht es nach der Schmidt- turausgleich“. sen. Denn während die Gesundheitspoliti- Runde, sollen Arbeitnehmer und Betriebe Am Ende ihres Fachvortrages aber zo- ker vergangene Woche bereits um erste ihre Beiträge künftig nicht mehr an die ein- gen Steinbrücks Beamte einen Schluss, der Formulierungen für ihren Kompromiss ran- zelnen Kassen, sondern an eine neue Geld- so klar wie eindeutig war. Das Bundes- gen, machten Steinbrücks Fachbeamte sammelstelle namens Gesundheitsfonds finanzministerium müsse sich im anstehen- klar, dass sie keineswegs gewillt sind, die leiten. Aus dem würden dann einheitliche den Gesetzgebungsverfahren „als Reform- Beschlüsse einfach abzunicken. Geldbeträge an die Krankenkassen ge- treiber“ verstehen, empfahlen sie ihrem Zusätzliche Steuergelder, so heißt es in lenkt, die, je nach finanzieller Lage, durch Minister. So steht es auch in einem 32-sei- ihrer Analyse, soll es nur unter bestimmten Zu- und Abschläge für die Versicherten er- tigen Papier, das die Ministerialen Stein- Bedingungen geben: Zum einen muss das gänzt werden dürfen. Kassen, die schlecht brück mit auf den Weg gaben. Reformpaket zur Etatplanung der nächsten dastehen, dürften von ihren Kunden zu- Der Satz mit dem „Reformtreiber“ Jahre passen. Zum anderen dürfe es neue sätzliche Prämien verlangen. Wo die Fi- könnte den Gesundheitspolitikern der Finanzspritzen nur dann geben, wenn sich nanzlage besser ist, könnte den Versicher- Koalition noch in den Ohren klingen. Seit die Gesundheitspolitiker auf wirksame ten sogar Geld zurückgezahlt werden. Wochen verhandeln die Experten von Strukturreformen veständigen. Doch was die Gesundheitspolitiker in Union und SPD über die Frage, wie die Gefordert sei kein rasch zusammenge- den vergangenen Wochen kurzerhand zum notorisch klammen Krankenkassen finan- zimmerter Kompromiss „vor der Sommer- Kernelement ihrer Verhandlungen hoch- ziell saniert werden können. Das Thema pause“, so haben es die Experten aufge- gejubelt haben, stößt bei Steinbrücks Ex- gilt als eines der Zentralprojekte der Gro- schrieben. Wichtig sei ein mehrjähriger perten auf Skepsis. Zwar räumen sie ein, ßen Koalition. Reformprozess, an dessen Ende „höhere dass der geplante Fonds in der Großen Ko- DOMINIQUE ECKEN / KEYSTONE (L.); RALPH SONDERMANN (R.) SONDERMANN (L.); RALPH DOMINIQUE ECKEN / KEYSTONE SPD-Minister Schmidt, Steinbrück, -Gesundheitsexperte Lauterbach: Vorbehalte gegen den geplanten Gesundheitsfonds

42 der spiegel 25/2006 STEPHAN ELLERINGMANN / LAIF Operationssaal (im Universitätsklinikum Jena): „Höhere Effizienz durch mehr Wettbewerb“? alition möglicherweise „konsensfähig“ sei, ken“ auf. Zudem, heißt es in der internen Genauso empfehlen Steinbrücks Beam- doch listen sie in ihrer Expertise auch eine Analyse, gebe das Konzept „keine Ant- te, den Leistungskatalog der gesetzlichen Reihe von Gegenargumenten auf. wort auf zentrale Fragen“. Dazu rechnen Krankenversicherung auf Diät zu setzen. So erlaube das derzeit diskutierte Mo- Steinbrücks Beamte insbesondere die Art Einzelne Leistungen wie etwa die Zahn- dell „keine systematische Einbindung der und Weise, wie im heutigen Gesundheits- behandlung könnten ausgegliedert und in privaten Krankenversicherung“ und werfe system die Mittel ausgegeben werden. privaten Zusatzverträgen angeboten wer- Fragen hinsichtlich des „bürokratischen Wie viele Krankenhäuser, Apotheker den. Auf diese Weise werde es möglich, Aufwands“ und der „Transformationsrisi- und Ärzte hierzulande ihre Dienste anbie- „höhere Effizienz durch mehr Wettbewerb ten und welche Preise sie für ihre Leistun- zu erzielen“. gen nehmen dürfen, entscheidet nämlich Legt man die Kriterien der Steinbrück- Wachsendes Defizit nicht etwa der Markt – so kritisieren die Experten zugrunde, waren die bisheri- Zu erwartende Finanzierungs- Finanzministerialen –, sondern ein mäch- gen Reformverhandlungen eine einzige lücke in der gesetzlichen tiges Kartell aus Interessenverbänden. Das Enttäuschung. Anstatt das Gesundheits- Krankenversicherung 9,7 Regiment der Lobbyisten führe überall zu system konsequent nach Sparpotentialen in Mrd. Euro überschüssigen Kapazitäten und unnöti- zu durchforsten, blockierten sich die So- 8,2 gen Doppeluntersuchungen. zialexperten von SPD und Union nach tra- Um das Problem zu mildern, empfehlen ditionellem Muster gegenseitig. Steinbrücks Experten, im gesamten Ge- Während die Konservativen hartnäckig sundheitssystem mehr Wettbewerb einzu- die Pfründen von Ärzten, Apothekern und führen. Wo heute alle Kassen mit sämt- der Pharmaindustrie verteidigten, wehrten lichen niedergelassenen Ärzten einheit- sich die Genossen ängstlich gegen jeden liche Absprachen treffen müssen, raten die Abstrich am Kassenpaket. Selbst Verhand- Quelle: Beamten des Finanzministeriums zu „mehr lungsteilnehmer wie SPD-Experte Karl Bundesregierung Vertragsfreiheit zwischen Kassen und Leis- Lauterbach räumen ein, dass die bisher tungserbringern“. Regelungen, wie etwa verabredeten Strukturreformen weit hinter 1 das Verbot für Apotheker, mehr als drei den Erfordernissen zurückbleiben. 2006 2007 2008 Filialen besitzen zu dürfen, sollten auf- Den Experten aus dem Finanzressort ge- gehoben werden. fällt das genauso wenig wie die in der ver-

der spiegel 25/2006 43 Wirtschaft gangenen Woche aufgekommene Diskus- sion über die private Krankenversicherung. Wieder standen sich die beiden Volkspar- AUTOINDUSTRIE teien bei ihren Verhandlungen scheinbar unversöhnlich gegenüber: Die SPD würde am liebsten alle Neu- Der Professor und das Geld kunden in die gesetzlichen Krankenkassen zwingen und der Privatassekuranz damit Ferdinand Dudenhöffer gilt als unabhängiger Autoexperte der langfristig die Geschäftsgrundlage entzie- hen. Die Union dagegen will die Branche Nation. Worüber er bislang nicht sprach: Seine Firma erhielt weitgehend so erhalten, wie sie ist. vergangenes Jahr allein knapp 400000 Euro von DaimlerChrysler. Geht es nach den Experten aus dem Finanzressort, sollten die Gesundheits- eine erstaunliche Medienprä- politiker lieber über ein ganz anderes Re- senz. Sein Erfolgsrezept: Er formprogramm verhandeln. Anstatt die weiß, was Journalisten wün- Privatversicherungen auf die eine oder schen – ein wenig Hintergrund, andere Weise zu rasieren, sollten die Ver- ein paar Zahlen, ein flotter handlungsdelegationen besser über eine Spruch. notwendige Strukturreform der Branche In den Jahren 2004 und 2005 nachdenken. wurde er in Zeitungen über Was das Finanzministerium im heutigen 1200-mal erwähnt, 3-mal auch Privatkassensystem vermisst, ist vor allem im SPIEGEL. Mittlerweile ist Wettbewerb. Denn wer als Privatversicher- Dudenhöffer fast so bekannt ter seinen Anbieter wechseln will, muss in wie die Autobosse selbst. Sein jedem Fall gravierende finanzielle Verluste Urteil hat Gewicht. Sabine hinnehmen. Christiansen kürte ihn in ihrer Er verliert seine sogenannten Alterungs- Talkshow sogar zum „Auto- rückstellungen, die das Unternehmen aus papst“. seinen Prämien für den Gesundheitsschutz Der Papst dient bekanntlich im Alter angesammelt hat. Im Ergebnis einer höheren Instanz. Aber bleiben Privatversicherte so bis ans Le- wem dient Dudenhöffer? bensende an ihren Anbieter gekettet – und Als Hochschullehrer gilt er die Privatversicherer können praktisch fol- vielen a priori als unabhängig. genlos ihre Prämien erhöhen. Das ist die Basis seines Ge- Genau da sollte eine Reform nach Mei- schäfts. Wer würde Dudenhöf- nung der Experten ansetzen: Künftig müss- fer zitieren, wenn auf seiner ten Privatversicherte ihre Rückstellungen Krawatte stünde „sponsored by bei einem Kassenwechsel mitnehmen dür- DaimlerChrysler“? fen. Zudem sollten alle Versicherungen ei- Der umtriebige Wissen- nen sogenannten Basistarif anbieten, damit schaftler, der einst bei Porsche, niemand mehr ohne Versicherung dasteht, Opel und Peugeot gearbeitet wenn er sich seine Prämie nicht mehr leis- hatte, ist auch Geschäftsführer ten kann. Derzeit gibt es eine solche Re- und 40-Prozent-Eigner der

gelung nur für Versicherte, die älter als 55 BERND THISSEN B&D Forecast GmbH. Die Fir- Jahre sind. Autofachmann Dudenhöffer: „Wo ist die Einseitigkeit?“ ma kümmert sich laut Handels- Auf lange Sicht soll so ein „einheitlicher register um „wissenschaftlich Versicherungsmarkt“ geschaffen werden, er Mann ist die gelebte Freude – fundierte Prognoseberatung im Automo- auf dem private und gesetzliche Kassen am Fahren wie am Fabulieren oder bilbereich“. Das ist bekannt. Nicht bekannt nach ähnlichen Prinzipien konkurrieren DFaseln. Kaum ein Tag vergeht, ohne war bislang: Dudenhöffers Firma wurde im können. dass Ferdinand Dudenhöffer nicht in vergangenen Jahr zu einem wesentlichen Noch ist das Plädoyer des Finanzressorts schnoddrig badischem Tonfall seine Mei- Teil von nur einem Autokonzern finanziert für eine möglichst weitreichende Gesund- nung zum Besten gibt als Experte in allen – von DaimlerChrysler. 2005 überwies der heitsreform Verschlusssache. Doch wenn Medienlagen. Wenn es ums Auto geht, hat Konzern exakt 396314 Euro an das Privat- die Gesundheitspolitiker ihre bisherigen der Professor für Automobilwirtschaft an unternehmen des Professors. Verhandlungsergebnisse nicht bald kräftig der Fachhochschule Gelsenkirchen stets Konkurrenten in der Branche fällt auf, nachbessern, will sich Steinbrück auch knackige Kommentare parat. wie positiv Dudenhöffer sich zu Daimlers persönlich in die laufenden Gespräche ein- In den vergangenen Wochen äußerte Prestigemarke Mercedes-Benz äußert. Ein mischen. sich der Autoexperte zum Beispiel zur hochrangiger Automanager bezeichnet ihn Der Minister kann bei der Reform gleich Krise bei VW (ZDF), zur Nachrüstung von deshalb ironisch als Doktor Daimler. in doppelter Hinsicht auf Zuständigkeit Dieselrußfiltern („Stuttgarter Zeitung“), Im November 2004 lobte Dudenhöffer, verweisen. Einmal ganz grundsätzlich in zu Rabatten und Autokonjunktur („Ham- Mercedes sei es gelungen, die Zufrieden- seiner Eigenschaft als Finanzchef der Re- burger Abendblatt“), zu Autobanken („Ca- heit der Kunden zurückzugewinnen. Gut gierung, der gefragt werden muss, wenn pital“) und zum Angriff der Chinesen vier Monate später musste der Konzern in es bei Reformen ans Geldausgeben geht. („Mitteldeutsche Zeitung“). Außerdem der größten Rückrufaktion der Firmen- Und auch im ganz Besonderen: Bei Stein- schreibt Dudenhöffer Kommentare für die geschichte 1,3 Millionen Fahrzeuge nach- brück, und nicht etwa bei der Gesund- Münchner „Abendzeitung“, „Auto Bild“, bessern. Dudenhöffer irritierte das wenig. heitsministerin, liegt die Aufsicht über die „Automobilwoche“ und die „FAZ“. Er warnte davor, von der Zahl der Rück- private Krankenversicherung. Für einen Wissenschaftler, der an einer rufe auf die Qualität der Autos zu schlie- Christian Reiermann, Michael Sauga eher unauffälligen Fachhochschule lehrt, ßen. Das sei „höchstens eine Facette“.

44 der spiegel 25/2006 Anfang Mai geriet Mercedes-Benz we- wort flossen auch in den Folgemonaten im- üblichen Ausschreibungsverfahren erfolgt. gen Graumarktgeschäften ins Gerede. Der mer wieder höhere Beträge von Daimler- Die Kosten müssten selbstverständlich den Autoexperte kommentierte: „Da hat das Chrysler zu B&D. Leistungen entsprechen. Unternehmen schnell reagiert, die Mana- Am 24. Januar 2005 zahlten die Stutt- Demnach leistet der Professor vor allem ger entlassen und die Staatsanwaltschaft garter 168 200 Euro, am 23. September für DaimlerChrysler Außerordentliches. beauftragt.“ 77140, am 14. November 70528 und am An seine Firma B&D Forecast zahlen Nachdem Dieter Zetsche im September 23. Dezember 80446 Euro. zwar auch andere Autofirmen – jedoch 2005 die Führung von Mercedes-Benz Die hohen Summen erklärt Dudenhöffer weit geringere Summen. Der koreanische übernommen hatte, sagte Dudenhöffer: damit, dass es sich teilweise um Zahlungen Hersteller Kia beispielsweise überwies „Die können sich keinen besseren Chef für einen Auftrag des Vorjahrs handelt. Zu- im Dezember 11 600 Euro, Peugeot im wünschen.“ Und auf die Frage, ob sich dem müsste B&D einen Teil des Geldes Februar 2262,99 Euro. Aber nicht alle Autofirmen schätzen die Arbeit des Profes- sors. Besonders kritisch wird der Experte von VW und Porsche be- wertet. Porsche wird von Duden- höffer an einem zentralen Punkt angegriffen: Er spricht dem Un- ternehmen die Berechtigung ab, den Geländewagen Cayenne mit dem Markenzeichen „Made in Germany“ anzupreisen. Die Ka- rosserie wird zwar im slowaki- schen Bratislava zusammenge- schweißt und lackiert, aber in Leipzig montiert. Porsche hat errechnet, dass 55 Prozent der Wertschöpfung in Deutschland erfolgen. Dudenhöffer behaup- tet, nur 33 Prozent des Produkti- onswerts entstünden im Inland. Die Berechnungsmethode des Professors ist erstaunlich. „Un- terstellen wir“, schreibt Duden- höffer, dass „zwei Drittel der in Bratislava verbauten Zuliefertei- le nicht aus Deutschland kom- men.“ Auch der in Deutschland gefertigte Motor werde ja mit Teilen aus dem Ausland gebaut. „Unterstellen wir“, so Duden- höffer, „dass ein Drittel dieser Zulieferwertschöpfung jenseits

THOMAS KRETSCHEL THOMAS deutscher Grenzen erfolgt.“ Porsche-Produktion (in Leipzig): Karosserien aus Bratislava So unterstellt der Professor hier mal was und da noch was – unter der neuen Führung etwas ändere: für den Zukauf von Software und Daten wie man das macht, wenn man wenig weiß „Was soll er denn groß ändern? Es läuft wieder ausgeben. „Ich habe noch keinen und viel sagen will. Sehr wissenschaftlich doch rund.“ Cent von B&D erhalten“, sagt er. Alles klingt das nicht. Es lief so rund, dass Zetsche im Sep- werde in die Firma investiert. Erklärbar wäre es mit Verfolgungseifer. tember 2005 bekanntgeben musste, bei der Den Verdacht, er äußere sich auch we- Aber warum geht Dudenhöffer mit Porsche Mercedes Car Group würden 8500 Ar- gen dieser Aufträge positiv über Merce- und Volkswagen oft so hart ins Gericht? beitsplätze gestrichen. Der Professor ap- des-Benz, hält er für abwegig, ehrenrührig Beide Konzerne vergeben keine Aufträ- plaudierte, Mercedes-Benz werde seine und rufschädigend: „Meine Aussagen ba- ge an Dudenhöffers Firma. Sie hegen im Krise zügig meistern: „In einem Jahr sieren auf wissenschaftlichen Daten.“ Gegenzug den Verdacht, dass sie von dem strahlt der Stern wieder wie früher.“ Daim- Ein DaimlerChrysler-Sprecher erklärt, Professor deshalb besonders kritisch beob- lerChrysler werde „ein schöner Automo- man habe von Dudenhöffers Institut achtet werden. Das bestreitet Dudenhöffer bilkonzern, der den Aktionären viel Freu- „Marktforschungsdienstleistungen und heftig. Er habe sich auch über Volkswagen de machen wird“. damit zusammenhängende IT-Lösungen“ und Porsche immer wieder positiv ge- Dudenhöffer muss sich fragen lassen, ob bestellt. Von einem Weltkonzern erwartet äußert, beispielsweise über die Modell- seine euphorischen Äußerungen auch et- man gemeinhin, dass er über genügend ei- strategie des Stuttgarter Sportwagenbau- was zu tun haben mit Zahlungen des Au- gene Experten verfügt, die solche Analy- ers und über das VW-Cabrio Eos. „Wo ist tokonzerns an sein Unternehmen. Im De- sen erstellen. Will DaimlerChrysler mit sei- da die Einseitigkeit?“ zember 2004 zahlte DaimlerChrysler per ner Auftragsvergabe nicht in erster Linie Vielleicht sollte der Professor künftig Orderscheck 18 560 Euro an die B&D einen Wissenschaftler versorgen, der in einfach bekanntgeben, von welchem Kon- Forecast GmbH, die bei dem Konzern un- den Medien ständig als unabhängiger Sach- zern er wie viel Geld erhält. Dann könnte ter der Lieferantennummer LN 18115479 verständiger zu Wort kommt? jeder selbst entscheiden, wie viel ihm die geführt wird. Zahlungsgrund: „Prognosen Auf keinen Fall, sagt der DaimlerChrys- Meinung des Autoexperten wert ist. für die Autoindustrie“. Unter diesem Stich- ler-Sprecher. Die Aufträge seien nach dem Dietmar Hawranek, Jörg Schmitt

der spiegel 25/2006 45 Wirtschaft

tiefe Krise gestürzt. Aus dem einstigen deutsch-französischen Prestige-Unterneh- KONZERNE men ist ein Tollhaus geworden. Kunden klagen über veraltete oder feh- lende Modelle, während die Topmanager Im Sinkflug sich gegenseitig Fallen stellen und mit Kla- gen überziehen. Solange das Geschäft noch Wieder einmal muss Airbus Verzögerungen beim Prestige-Vogel reibungslos lief, bekamen Außenstehende von den Fehlleistungen, Familienzwistig- A380 eingestehen. Das Desaster kostet Milliarden keiten und Eifersüchteleien wenig mit. Die- und reißt alte deutsch-französische Feindschaften wieder auf. ser Burgfriede dürfte mit der Mitteilung vom vergangenen Dienstag nun endgültig vorbei sein – auch wenn die Auslöser des Debakels vergleichsweise profane, aber dennoch wichtige Kleinteile wie Elektro- strippen und Kabelbäume waren. Die sollen aufwendige Beleuchtungs- und Unterhaltungssysteme an Bord ver- sorgen, sind aber noch immer nicht in aus- reichender Zahl und Qualität lieferbar. Ähnliche Probleme hatte es bereits vor ei- nem Jahr gegeben. Damals wurden sie aber offenbar nur zögerlich angepackt. Nun stauen sich in den Fertigungshallen in Toulouse oder Hamburg halbfertige

MEIGNEUX / SIPA PRESS MEIGNEUX / SIPA Flugzeugrümpfe, die von eigens zusam- EADS-Chefs Enders, Forgeard: Viel zu spät informiert? mengestellten Erste-Hilfe-Teams in müh- samer Handarbeit nachgerüstet werden s war vor vier Wochen, auf der In- tung: steil nach unten. Zeitweise büßte das müssen. Und Luftfahrtexperten fragen ternationalen Luftfahrtschau in Ber- Papier bis zu einem Drittel seines Wertes sich, wie Airbus seinen gewaltigen Auf- Elin. Da zeigte Airbus-Chef Gustav ein. Das Unternehmen verlor an der Bör- tragsbestand von 250 Milliarden Euro ab- Humbert, 56, mal wieder, dass er Rück- se bis zu sechs Milliarden Euro – und die arbeiten und zugleich neue Modelle ent- schläge erstaunlich gut wegstecken kann. deutsch-französische Managementspitze wickeln will, wenn schon die Ausrüstung „Das Spiel ist nicht aus, sondern fängt im daraufhin endgültig die Contenance. des A380 mit Kleinteilen die Manager und Sommer erst richtig an“, rief er kämpfe- Noch im Herbst 1999 hatten der damali- Ingenieure überfordert. risch seinen Erzrivalen von Boeing zu. ge Bundeskanzler Gerhard Schröder und Noch in der vergangenen Woche müh- Kurz zuvor war bekannt geworden, dass Frankreichs Premier Lionel Jospin den Zu- ten sich Sprecher von Airbus und EADS, Humbert seinen neuen Langstreckenjet sammenschluss der ehemaligen Staatsfirma die Pannenserie beim A380 herunterzu- A350 mangels ausreichender Nachfrage Aerospatiale und der DaimlerChrysler- spielen. Die Techniker hätten bis zuletzt wohl komplett überarbeiten muss. Tochter Dasa als Musterbeispiel für erfolg- gehofft, das Problem noch in den Griff zu Wie enge Vertraute beteuern, wusste er reiche grenzüberschreitende Fusionen ge- bekommen. Außerdem hätten die Kunden da noch nicht, dass ihn wenig später ein feiert. Nun wurden binnen Tagesfrist die immer neue Änderungswünsche, die an- noch schwererer Nackenschlag treffen wür- alten Feindschaften wieder aufgerissen. dere und oft längere Kabel erforderten. de: gravierende Produktionsprobleme bei Das Werk in Hamburg sei schuld, Als sich die Lage zuspitzte, sei man viel seinem Riesenflieger A380. schimpfte Humberts Vorgänger Noël For- zu spät informiert worden. Das mag stim- Am Dienstag vergangener Woche muss- geard, der seit einem Jahr mit dem Ex- men, ist aber wohl nur die halbe Wahrheit. ten Airbus und die Muttergesellschaft Daimler-Manager Tom Enders die Kon- Wie schlecht es tatsächlich um das EADS überraschend mitteilen, dass sich zernmutter EADS führt. Alles Quatsch, deutsch-französische Vorzeigeunterneh- die Auslieferung des fliegenden Giganten wurde zurückgegiftet. Selten zuvor in der men mit spanischer und britischer Beteili- erneut um rund ein halbes Jahr verzögert. Geschichte der zivilen Luftfahrt hat ein gung steht, zeigte sich bereits in den letz- Dabei war der Start des Giganten erst 2005 neues Modell seinen Hersteller in eine so ten Wochen und Monaten. Statt sich ums um sechs Monate verschoben Tagesgeschäft zu kümmern, beschäftigten worden. sich die EADS- und Airbus-Oberen lieber Ein Jet im Sinkflug. Statt 20 bis EADS-Anteilseigner mit sich selbst. 25 Maschinen, wie ursprünglich in Prozent Vor einigen Wochen erhärtete sich der geplant, sollen im nächsten Jahr Verdacht, dass zwei inzwischen ausge- nur 9 Flieger aus der Endmonta- 22,4 24,75 schiedene oder beurlaubte hochrangige gehalle im französischen Tou- Daimler- Sogeade Topmanager Politiker und einen früheren louse rollen. Auch 2008 und 2009 Chrysler (französischer engen Mitarbeiter Forgeards mit Hilfe ge- (Deutsch- Staat und werden bis zu 14 Jets weniger land) Lagardère) fälschter Dokumente beschuldigt haben ausgeliefert als vorgesehen. Nun sollen, illegale Provisionen aus einem Flot- drohen dem Konzern Schadens- tengeschäft mit Taiwan erhalten zu haben. ersatzzahlungen in Millionen- 5,5 Die sogenannte Clearstream-Affäre be- höhe und Gewinneinbußen von spanischer schäftigt seither neben den Ermittlungs- bis zu zwei Milliarden Euro, Ab- 47,35 Staat behörden auch etliche Anwälte und kratzt bestellungen verärgerter Kunden Streubesitz zusätzlich am Ruf des Konzerns. noch nicht einmal eingerechnet. Während US-Rivale Boeing mit seinem Der Kurs der EADS-Aktie neuen Sparjet 787 und dem Erfolgsmodell kannte danach nur eine Rich- EADS-Anteil an Airbus: 80% 777 den Markt für Langstreckenjets ab-

46 der spiegel 25/2006 den Einnahmen aus dem EADS-Anteils- verkauf wollte er eigentlich sein Medien- imperium stärken, das neben zahlreichen Zeitschriften auch TV- und Radiosender umfasst. Nun muss er sich zusammen mit seinem Co-Aufseher, dem ehemaligen DaimlerChrysler-Vorstand Manfred Bi- schoff, erst einmal um seinen Luftfahrt- ableger kümmern. Am Mittwoch vergangener Woche kün- digte Lagardère an, genau zu untersuchen, was und wie viel Airbus-Chef Humbert und Forgeard über den Strippenskandal wuss- ten, und vor allem: wann. Ob am Ende womöglich sogar beide ihre gutbezahlten Jobs räumen müssen, ließ er bewusst offen. Das will er mit dem getreuen Bischoff be- sprechen, der vergangene Woche im Aus- land unterwegs war. Der Konzern jeden- falls trudle in eine „schwere Krise“. Die beiden Topmanager verarbeiten den Schock jeweils auf ihre eigene, ganz persönliche Weise. Humbert reiste in den vergangenen Tagen rastlos von einem Airbus-Betrieb zum nächsten, um die ver- unsicherten Mitarbeiter zu beruhigen und telefonierte nebenher mit allen wichtigen Kunden. Forgeard versuchte, die Schuld für vergangene Versäumnisse von sich weg- zuschieben – und beschuldigte andere. Zu der nur schleppend verkäuflichen Sparversion des A350, die nun wohl voll- ständig neu konstruiert wird, habe ihm unter anderen Airbus-Verkaufschef John Leahy geraten. Der hatte allerdings schon im November vergangenen Jahres Alarm geschlagen – und einen Brandbrief an die gesamte Airbus-Führung geschickt. Auch wer die Verantwortung für die neuerliche Verzögerung beim A380 trägt, ist für Forgeard klar: Humbert und Ham- burg. „Als ich bei Airbus war, haben wir nie unsere eigenen Prognosen verfehlt“,

AP beteuerte er gegenüber Analysten. A380-Produktion (in Toulouse): Nachrüstung in mühsamer Handarbeit Dabei vergaß er allerdings zu erwähnen, dass die erste Verschiebung noch auf sein räumt, klafft bei Airbus in dem Segment gabe der Produktionsengpässe beim A380 Konto als Airbus-Chef ging und die Ent- eine Lücke. „Für mich steht hinter der ge- jeweils 7,5 Prozent ihrer Anteile verkauft – wicklung des Supervogels schon damals samten Produktpalette mit Ausnahme des zu einem sehr guten Preis. rund eine Milliarde teurer ausfiel als ur- A320 und des A380 ein großes Fragezei- Beide Unternehmen bestreiten, von den sprünglich geplant. chen“, rüffelte Emirates-Chef Tim Clark, Problemen gewusst zu haben, obwohl nach Wie die Führungskrise bei Airbus und der allein 43 Exemplare des A380 bestellt Aussagen hochrangiger EADS-Manager EADS zu lösen ist, muss der deutsch-fran- hat, jüngst die Europäer. „Der A350 hat bereits Anfang April intern über Verzöge- zösische Aufsichtsrat nun bis spätestens 17. höchstens 340 Sitze, der A380 hat 550. Und rungen bei der A380-Serienfertigung dis- Juli klären. Dann beginnt in Farnborough dazwischen? Gar nichts.“ So hart hat sel- kutiert wurde. Und auch Forgeard selbst bei London die wichtigste Luftfahrtmesse ten zuvor eine Airline ihren wichtigsten geriet vergangene Woche ins Visier von des Jahres. Boeing wird dort vermutlich Lieferanten kritisiert. Aktionärsschützern und Politikern, weil er jede Menge neue Aufträge bekanntgeben. Zwei A380-Frachter bestellte die auf- Mitte März Aktienoptionen veräußerte so- Eine wichtige Order konnten die Ame- strebende Gesellschaft kurzerhand ab, weil wie Papiere auf den Namen seiner Kinder rikaner bereits vergangene Woche ver- die Airbus-Manager trotz mehrfacher Er- abstieß – und dabei mehrere Millionen künden – ausgerechnet von Singapore Air- mahnungen die technischen Details nicht Euro erlöste. Er dementiert ebenfalls ent- lines, die zum Jahresende verspätet das liefern konnten. schieden, Insider-Wissen missbraucht zu erste von zehn festbestellten A380-Flug- Zu allem Überfluss müssen sich die haben. zeugen bekommen soll. EADS- und Airbus-Manager demnächst Die Serie von Skandalen und Affären Die Fluggesellschaft wollte eigentlich auf auch noch unangenehmen Fragen der hat inzwischen auch einen der Chef- den runderneuerten A350 warten. Statt- französischen Börsenaufsicht stellen. Die aufseher des Unternehmens alarmiert, den dessen kaufen sie nun 20 US-Jets von den Anteilseigner DaimlerChrysler und der französischen Medienunternehmer Arnaud Amerikanern im Wert von gut vier Mil- französische Medienkonzern Lagardère Lagardère, Sohn des verstorbenen EADS- liarden Euro. So zeigen die Asiaten ihre hatten noch wenige Wochen vor Bekannt- Mitbegründers Jean-Luc Lagardère. Mit Enttäuschung. Dinah Deckstein

der spiegel 25/2006 47 Wirtschaft

zunächst schnell und artig zurück. Weil Römer, so Bayer, permanent gegen ameri- ÜBERNAHMEN Schering-Aktien auch in den USA gehan- kanisches Recht verstoßen. Während seiner delt werden, berichtete Römer der US- Kauforgie hätte er täglich in die USA mel- Verlotterte Sitten Börsenaufsicht SEC pflichtgemäß, dass er den müssen, wofür er die Anteile verwen- weiter fünf Prozent von Schering halte – den will. Am Dienstag reichte Bayer Die Bieterschlacht um Schering hat aber nur als schlichtes Investment. prompt eine Schadensersatzklage in New gezeigt, dass selbst unter deutschen Nach amerikanischem Recht muss jedes York ein. Eine gerichtliche Auseinander- Unternehmen, das Anteile an einem an- setzung mit der Börsenaufsicht drohte. Traditionskonzernen der Ton deren erwirbt, laufend mitteilen, welche Wenige Stunden vor Ablauf der Mitt- rauer wird. Profitiert haben am Ende Zwecke es mit der Portfolio-Veränderung wochs-Frist rief Römer schließlich bei aber vor allem Fonds und Banken. verfolgt. Alles schien seinen normalen Wenning an und verkaufte sein Komplett- Gang zu gehen, bis Bayer am 30. Mai die paket für 89 Euro je Aktie. Zwei Wochen ußballfans sind sie beide. Michael erste Frist für die Übernahme von Sche- lang hatte das ehrwürdige Traditions- Römer, Chef des Darmstädter Fami- ring-Aktien verlängerte. unternehmen Merck Heuschrecke gespielt Flienunternehmens Merck, spielte Neuer Termin: Mittwoch vergangener – und dabei 400 Millionen Euro Spekula- einst in der Jugendmannschaft von Kickers Woche, 24 Uhr. Trotz des üppigen Ange- tionsgewinn eingefahren. Doch war die Offenbach. Bayer-Chef Werner Wenning bots lief die Akquisition bis dahin nur Summe kaum das enorme Risiko und den leistet sich mit Leverkusen sogar einen schleppend an. Aber Bayer musste 75 Pro- Imageverlust der Darmstädter wert. eigenen Bundesliga-Club. zent der Papiere vorweisen. Sonst wäre Geld sei nie das Ziel der Bieterschlacht Am Mittwochabend vergangener Woche der ganze Deal laut Aktienrecht geplatzt. gewesen, versichert Römer seither. Er habe trafen sich die beiden im Dortmunder Sta- Doch da griff die Familie Merck plötzlich nur „die Position“ seines Unternehmens dion beim WM-Spiel Deutschland gegen wieder ein – und kaufte auf dem Markt zu zu „sichern“ versucht. Wollte Merck Bay- Polen und tranken ein Bier zusammen. Preisen, die in Darmstadt zuvor als sünd- er unter Druck setzen? Ging es Merck Man habe sich gut unterhalten, erzählte haft hoch galten. Vom 30. Mai bis vorigen doch darum, Schering zu filetieren? Römer danach. Man werde „auch künftig Mittwoch raffte sie alles zusammen, was Wenn man „überhaupt die Rolle von vernünftig zusammenarbeiten“. es gab, vor allem bei Fonds. einer Person während dieser Transaktion hervorheben“ wolle, deu- tete Römer in der „FAZ“ an, „dann die unseres Finanzchefs Michael Be- cker“. Der war’s, glauben auch die Leverkusener. Becker habe selbst Merck- Chef werden wollen und Bayers Sieg als Kränkung empfunden. Seinem Unternehmen

HANS-GÜNTHER OED / VARIO-IMAGES freilich dürfte Becker ei- nen Bärendienst erwiesen haben. Branchenriesen wie Pfizer oder Novartis würden sich erst mal fernhalten, glaubt ein US- Berater von Bayer. „Mur- ky Merck“, witzelte die „Financial Times“ über die verschlagenen Darm- städter. Gewonnen haben ohne- RAINER UNKEL RAINER AP hin die Banken. Allein auf Konzernchefs Wenning (o.), Römer, Merck-Zentrale in Darmstadt: Wie von Heuschrecken gebissen Schering-Seite fallen nun enorme Honorare an: Die Das wäre zumindest überraschend, denn Die Rechnung bekannter Heuschrecken, US-Investmentbank Morgan Stanley kassiert dem Bierchen der beiden Bosse war eine darunter offenbar DE Shaw, Citadel und eine „Transaktionsgebühr“ von 33,9 Mil- Übernahmeschlacht um Schering voraus- Paulson & Co., ging auf. Allein am vorver- lionen Euro. Die deutsche Konkurrenz von gegangen, wie sie hierzulande bislang sel- gangenen Freitag sicherte sich Merck 16 Mil- Dresdner Kleinwort Wasserstein erhält 11,9 ten zu beobachten war: frech, grob und lionen Schering-Aktien für Prämien von bis Millionen und kann mit einer millionen- durchtrieben. Dabei gerierte sich ausge- zu zwei Euro pro Stück. Am Ende saß Rö- schweren Zusatzprämie rechnen. Selbst die rechnet das brave Familienunternehmen mer auf 41529770 Schering-Papieren im Kommunikationsprofis der britischen PR- Merck wie von Heuschrecken gebissen. Wert von rund 3,7 Milliarden Euro und kon- Firma Brunswick dürfen nun noch eine Auch in der alten Deutschland AG schei- trollierte 21,4 Prozent der Berliner. Wen- Rechnung stellen: 5,5 Millionen Euro. nen die Sitten allmählich zu verlottern. nings 75-Prozent-Hürde schien immer hö- Morgan Stanley hatte den Beraterjob Für Erstaunen hatten die Darmstädter her zu werden. schon am 27. Februar an Land gezogen bereits gesorgt, als sie Mitte März mit ei- Verzweifelt versuchten die Leverkuse- – zwei Wochen vor dem Startschuss nem feindlichen Angebot von 77 Euro pro ner herauszufinden, was hinter der Attacke zum Bieterkampf. Schering-Begründung: Aktie den Berliner Konkurrenten ins Visier steckte. Denn wenn die Schering-Über- „Potentielle Übernahmen“. Tags darauf nahmen. Aber als der „weiße Ritter“ Wen- nahme durch Bayer geplatzt wäre, hätte kaufte Schering-Vorstand Ulrich Köstlin ning das Schering-Management mit 86 der dann wegbrechende Kurs auch Merck 350 Aktien – zum Spottpreis von 60,31 Euro pro Aktie überzeugte, zogen sie sich empfindlich erwischt. Andererseits habe Euro. Beat Balzli, Heiko Martens

48 der spiegel 25/2006 die Neudefinition mit Zahlen. Bereits im ARBEITSMARKT Januar wurden bundesweit fünf Pilot-Ar- beitsagenturen umgestellt. Die nächsten Virtuell Tranchen fanden in den Monaten danach statt, wirkten sich aber erst im Mai voll- ständig aus. Bis zum Montag dieser Woche verschoben sollen alle rund 360 Jobcenter und sämtli- che Arbeitsagenturen mit der neuen EDV Der jüngste Rückgang der Arbeits- ausgestattet sein. Zwar war es auch vorher möglich, die losenzahlen wird von der Krankmeldungen der Kunden zu vermer- Regierung als Erfolg der Reformen ken. Doch nach Ablauf des sogenannten gefeiert – ist aber weit- gelben Scheins musste jede Arbeitsfähig- gehend Folge einer neuen Statistik. keit von den Arbeitsvermittlern manuell wieder eingegeben werden. Bei Tausen- ei seinem letzten großen Auftritt den Krankmeldungen mit unterschied- hatte es Frank-Jürgen Weise beson- lichsten Laufzeiten war das ein kompli-

Bders eilig. Die TV-Reporter waren ERWIN WODICKA / BILDERBOX ziertes und daher nahezu unmögliches im Pressesaal der Nürnberger Bundes- Bundesagentur-Zentrale in Nürnberg Unterfangen. agentur für Arbeit (BA) noch mit ihren Überraschende Effekte Die Folge: Die Krankenscheine wurden Anmoderationen beschäftigt, da eilte der bei der Datenpflege meistens schlicht ig- Vorstandschef der Behörde schon los. Es noriert – vor allem von den kommunalen gebe „erfreuliche Entwicklungen“ zu Bediensteten der Jobcenter, die ohnehin verkünden, sagte Weise vor knapp drei nur im Schnelldurchlauf geschult wurden. Wochen, als er die Arbeitslosenstatistik des Das neue System nutzt nun die gleichen gerade abgelaufenen Monats Mai präsen- Eingabedaten wie bisher, hat aber eine tierte. Die Zahlen seien „überraschend Funktion, die zum Ende der Krankmel- stark gesunken“, frohlockte der Behör- dung automatisch wieder auf „arbeits- denleiter. fähig“ schaltet. Erst seit dieser Erleichte- Tatsächlich wies seine Bilanz 349000 Ar- rung sind die Fallmanager in den Ämtern beitslose weniger aus als noch ein Jahr da- zur ordnungsgemäßen Datenpflege über- vor. Die Mai-Zahlen lagen im Vergleich gegangen – mit der Konsequenz einer zum April noch um 255 000 tiefer. Das ebenso plötzlich wie drastisch veränder- sei – so die Arithmetiker der Bundes- ten Statistik.

agentur – der stärkste Rückgang in einem FÜHRERMARCUS / DPA Wie viele kranke Arbeitslose nun Mai seit der Wiedervereinigung. Agenturchef Weise tatsächlich registriert sind und damit aus Wegen der rasanten Abnahme rutschte Weit weniger neue Jobs der Bilanz fallen, lässt sich allerdings nur die Arbeitslosenquote endlich wieder un- für die 1,57 Millionen Empfänger von Ar- ter die Elf-Prozent-Marke. Entsprechend beitslosengeld I (ALG I) verlässlich sagen. begeistert war auch die Berliner Politik. Denn die werden allein von der Nürnber- „Ich sehe, dass es aufwärts geht, aber Arbeitslose gesamt ger Bundesagentur verwaltet. Die 2,9 Mil- der Trend muss gefestigt werden“, sagte 5,05 Mio. lionen Hartz-IV-Empfänger betreuen je- Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). doch die Jobcenter sowie die bundesweit Ihr SPD-Arbeitsminister Franz Müntefe- 69 sogenannten Optionskommunen. Von ring führte „den stärksten Rückgang der denen gibt es keinen einheitlichen Nach- Arbeitslosigkeit seit Jahren“ auf die von weis über Krankheitsfälle. der rot-grünen Vorgängerregierung ein- 4,79 Mio. Die Bundesagentur für Arbeit spricht geleiteten Arbeitsmarktreformen zurück. Quelle: BA von einem durchschnittlichen Bestand Sogar FDP-Generalsekretär Dirk Niebel 4,78 Mio. kranker ALG-I-Empfänger von etwa –254729 attestierte der Regierung einen gewissen 30000. Das entspricht einer Krankheits- „Fortschritt“. quote von rund zwei Prozent. Experten Doch so richtig fortschrittlich ist eigent- 4,53 Mio. 4,54 Mio. rechnen bei Empfängern von ALG II je- lich nur das Marketing der Nürnberger 2005 2006 doch mit einer doppelt so hohen Quote. Elendsverwalter. Denn erklären konnte AMJ J ASOND J FMAMJ Damit wären mindestens 116000 weitere zunächst niemand so recht, woher plötzlich Arbeitslose zeitweilig krank. so viele Jobs gekommen sein sollen. Da war Auf diese Weise fällt Weises positive Bi- eher nebulös von „verspäteter Frühjahrs- wo die Empfänger von Arbeitslosengeld II lanz deutlich magerer aus. Von 255000 we- belebung“ die Rede und von „verbesserter (ALG II) betreut werden. niger Arbeitslosen im Mai gehen womög- Betreuung von Kurzzeitarbeitslosen“. Ein Durch die Änderung des EDV-Systems lich allein mehr als die Hälfte auf die Sys- anderer Teil des Rückgangs beruhe auf ent- werden nun erstmals kranke Arbeitslose temumstellung zurück. lastenden Effekten durch Hartz IV. Was flächendeckend und korrekt registriert – Erst kürzlich mussten sich die Jobcenter man so sagt, wenn man es nicht genau weiß. und fallen deshalb aus der Bilanz. Der heftige Kritik des Bundesrechnungshofs Denn tatsächlich fanden weit weniger Grund: Kranke Arbeitslose gelten für die gefallen lassen. Es gebe zu wenige Kon- Menschen neue Jobs, als Agenturchef Wei- Dauer ihrer Krankheit lediglich als „ar- trollen. Die Betreuung sei unzureichend se suggerierte. Im Gegenteil: Der über- beitssuchend“, nicht aber als „arbeitslos“, und die Vermittlung entsprechend ineffi- raschend starke Rückgang beruht vor al- da sie in diesem Zeitraum für den Ar- zient, bemängelte die Aufsicht. Vor allem lem auf einer Software-Umstellung in den beitsmarkt nicht verfügbar sind. aber beanstandete das Amt das bisherige Arbeitsagenturen und in den von den Diese Regelung gilt zwar schon länger, EDV-System. Zumindest dieser Vorwurf ist Kommunen mitgetragenen Jobcentern, doch erst die neue Software verschönert nun vom Tisch. Janko Tietz

50 der spiegel 25/2006 Szene Gesellschaft Was war da los, Herr Martinez? Der philippinische Student Carlo Marti- nez, 27, über seine Schwierigkeiten mit der englischen Aussprache „Mein Traum ist es, Telefonist in einem amerikanischen Callcenter zu werden. Mein englisches Vokabular ist gut, aber an meiner Aussprache muss ich arbeiten. Seit vier Wochen mache ich einen Sprachkurs bei einer US-Firma, lerne die verschiedenen amerikanischen Akzente, trainiere die Vo- kale und Konsonanten und mache Locke- rungsübungen mit meinen Lippen. Die größ- ten Schwierigkeiten habe ich mit dem th, statt ,three‘ sage ich immer ,tree‘. Aber ich übe, denn wenn ich die Abschlussprüfung bestehe, bekomme ich einen gutbezahlten Job in einem Kreditkartenunternehmen oder Reisebüro. In meiner Freizeit schaue ich zurzeit am liebsten den Film ,Vom Win- de verweht‘ – das perfekte Training für den

extrem schwierigen Südstaatenakzent.“ / AFP ROMEO GACAD

Martinez (vorn)

SACHBUCH Frau gesucht, Carolyn Bessette geradezu FAMILIENPLANUNG verehrt. Weder begnadeter Sportler Naturbursche noch auf Anhieb erfolgreich im Jurastu- Skeptische Frauen dium, habe der Naturbursche – ein Ge- unter Wölfen nie im Rucksackpacken – großen Wert ind für die Tatsache, dass es in die- auf Zuverlässigkeit gelegt. Kennedy ju- Ssem Land an Nachwuchs mangelt, ber die Hintergründe des Flugzeug- nior wäre ein hinreißender Diplomat doch eher die Frauen verantwortlich als Üabsturzes, bei dem 1999 der Präsi- geworden, mutmaßt Littell, schon wegen die Männer? So könnte man das Ergeb- dentensohn John F. Kennedy junior, seiner ausgeprägten Hilfsbereitschaft, nis einer noch unveröffentlichten Studie seine Frau Carolyn Bessette und deren die manchmal auch ziemlich unkonven- der Online-Partneragentur Parship deu- Schwester Lauren ums Leben kamen, ist tionell sein konnte. Als sich Littell bei ten. Für die Studie befragte die Agentur viel spekuliert worden. Die Stimmung seinem Freund einmal über seine Bezie- zusammen mit einem Düsseldorfer zwischen den Eheleuten sei chronisch hungsprobleme beklagte, sagte Kenne- Marktforschungsinstitut 1000 Singles gespannt gewesen, der Flug bei schlech- dy: „Schick ihr eine gebrauchte Socke nach ihrer Kompromissbereitschaft in tem Wetter zu riskant. Stimmt alles aus deinem Schrank, Mann.“ Dann wis- einer Partnerschaft – die Männer zeig- nicht, schreibt jetzt der langjährige Ken- se sie wieder, dass er es ernst meine. ten sich in allen Punkten kompromiss- nedy-Freund Robert Littell in einem bereiter: Deutlich mehr Männer als Buch. John Kennedy habe als Pilot des Frauen erklärten sich dazu bereit, den Robert T. Littell: „Mein Freund John F. Kennedy Flugzeugs, so Littell nach eigenen Re- junior“. Verlag Langen Müller, München; 304 Seiten; Kinderwunsch des Partners zu akzeptie- cherchen, mit dem unerwarteten Nebel 19,90 Euro. ren, berufliches Fortkommen für die an jenem Juli-Tag ganz einfach Partnerschaft zurückzustellen und dem furchtbares Pech gehabt. Littell Partner den Vortritt vor dem eigenen schildert den smarten John-John Freundeskreis zu geben. Auch in der als jungen Mann, der „hart daran Wahl eines potentiellen Partners erwie- arbeitete, ein normaler Typ zu sen sich die Männer als unerschrocke- sein“ – inmitten eines Clans, der ner: Dreimal so viele Männer wie Frau- sich bei Familientreffen gern als en trauten sich zu, den oder die Erwähl- Rudel rabiater Wölfe gab. An- te aus einer festen Beziehung oder Ehe ders als sein frauenverschlingen- herauszulocken; und über 63 Prozent der Vater habe John-John immer der befragten Männer – im Unterschied nach der einen und einzigen zu 36 Prozent der Frauen – würden sich auch mit jemandem einlassen, der noch

Kennedy junior (r.), Littell CORBIS SYGMA nie eine feste Beziehung geführt hat. 53 Gesellschaft Szene

EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Bei Schnee musste er auf seine Spuren achten, er lief dann Umwege, manchmal sah er Hubschrauber krei- sen oder den Förster durch das Revier Im Wald, da sind die Räuber ziehen. An diesen Tagen verhielt Klaus B. sich ruhig. Er las, Abenteuerbücher Warum ein Leben in Freiheit im Gefängnis endete oder Krimis, Henning Mankells „Die falsche Fährte“. Er hatte bald viele u Ecki sagte er, es werde nicht Politiker, die nur redeten, da gab es Bücher, die nächste Laubenkolonie lag lange dauern. Er sei in ein paar Ämter, die nicht halfen, im Dorf war er nur zwei Kilometer entfernt. Wenn er ZTagen zurück. Ecki war sein arbeitslos, ohne Familie, es gab fast dort ankam, zerstörte er nichts, wenn er Freund, sein einziger Freund. Er mein- nichts dort, was ihn interessierte. wusste, er hatte Zeit, sah er fern. Einmal te das ernst. Im Wald fing er an, Pilze zu sam- klaute er ein Glas Kaviar. Das Wertvolls- Es war an einem Morgen im März meln. Brombeeren. Blaubeeren. Es ka- te war ein Radio. Er brauchte es. 2001, als er das Dorf verließ, immer die men Rehe. Im September kam der So vergingen die Wochen, Monate, B 96 entlang. Klaus B. war 43 Jahre alt, Hirsch und gewöhnte sich an ihn. Jahre. Klaus B. begann, sein Leben wie- in seinem Rucksack trug er eine Hose, der zu mögen. zwei T-Shirts. Den Rest, sagte er, wolle Er feierte seinen Geburtstag im April er sich dazuklauen. wieder. Er trank sich einen und sang. Er machte das oft, sich etwas dazu- Zu Weihnachten und Silvester holte er klauen. Er hatte es zu oft getan. Dieb- sich Pfefferkuchen und zog in den stahl, ein paar Vorstrafen, die Polizei Bauwagen der Forstarbeiter, die über im Dorf kennt ihn, bald würden sie ihn die Feiertage wohl bei ihren Familien wieder holen. Es war der Grund, war- waren. Einer der Arbeiter hatte mal um B., 1,60 Meter groß, Schnauzer, kah- seine Tasche vergessen, in der eine ler Kopf, jetzt in den Wald wollte. Geldbörse mit 43 Euro lag. Klaus B. Im Wald hatte er sich schon als Jun- ließ sie liegen, er dachte sich, „die ar- ge versteckt. Da kannte er sich aus. Er men Schweine“. kannte jede Lichtung, jede Schonung, Er lebte ohne Geld und ohne Ämter. jeden Baum und ein Sumpfgebiet, um- Irgendwann ging es ihm so gut, dass ringt von Fichten. Im Wald würde ihn er beschloss, zurückzugehen. Er wollte niemand finden. zu Ecki und ihm sagen, es tue ihm leid, Er ging direkt hin. Nur einmal hielt er dass er erst jetzt zurück sei. Er wollte an. Er brauchte ja noch ein Zelt, einen sich zeigen, er wollte durch die Land- Schlafsack, eine Luftmatratze, Töpfe, schaft fahren, auf einem gekauften Konserven, Pfeffer und Salz, Kaffee. Er Fahrrad.

ging dorthin, wohin er immer ging, / ARGUM LEHSTEN CHRISTIAN Er wusste, sie würden ihn kriegen, wenn er etwas brauchte. Er ging in eine Zelle im Gefängnis Bützow sobald er die Dorfstraße runterkommt. Laubenkolonie. Aber das war es ihm wert. Laubenkolonien waren für Klaus B. Es war an einem Morgen im März der Garten Eden. In Laubenkolonien 2005, als er den Wald verließ, immer gab es alles, was er sich manchmal die B 96 entlang. Klaus B. war 47 Jahre wünschte: genügend zu essen, etwas zu alt, seinen Rucksack ließ er zurück, er trinken, etwas zu qualmen, und die war frisiert, rasiert. Er wollte anständig Türen in Laubenkolonien ließen sich aussehen, wenn sie ihn kriegten, und leicht öffnen. nicht wie jemand, der vier Jahre lang in Klaus B. kannte sich also auch dort einem Wald gelebt hatte. gut aus. Er wusste genau, in welcher „Es dauerte eineinhalb Stunden“, Laube er was finden würde. In Laube sagt er, „dann hatten sie mich.“ 133 mehrere warme Decken, in Laube Als Klaus B. das Ende seiner Ge- 98 brauchbare Töpfe, in Laube 244 ein schichte erzählt, sitzt er an einem Tisch kleines rotes Zelt. in der Justizvollzugsanstalt Bützow, Das Zelt baute er so auf, dass der Mecklenburg-Vorpommern. Er trägt Eingang nach Süden zeigte. Noch am schwarze Jogginghose, dunkles Sweat- selben Abend badete er in einem See in shirt, Tennissocken, Badelatschen. Drei der Nähe. Er machte ein Feuer, aß ei- Aus dem „Hamburger Abendblatt“ Jahre, zehn Monate hat er gekriegt, 300- nen Fisch und sah in die Flammen. Er mal ist er eingebrochen in die Lauben, war auf der Flucht, und er war so glück- Klaus B. dachte daran, nie mehr und das nur zwischen 2001 und 2005. lich wie lange nicht mehr. zurückzugehen. Er war so glücklich wie Sein Zelt haben sie abgebaut, die Am nächsten Morgen weckten ihn zuletzt vor der Wende, als er noch ar- Feuerstelle ebenfalls, Klaus B. kriegt die Vögel. Er ging wieder zum See, beitete und auf seinem Trecker über die sein Essen jetzt auf das Zimmer, Haus wusch sich, rasierte seinen Kopf, er Felder fuhr. E, Haftraum 222, und er kümmert sich kochte einen Kaffee. Als es im November schneite und als um Arbeit. Er bewirbt sich um einen Im Dorf hatte er nur ein Zimmer bei er nachts fror, stand er auf und rieb sich von acht Jobs in der Gefängnisgärt- Ecki in der Wohnung. Im Dorf gab es ein mit Schnee. nerei. Barbara Hardinghaus

56 der spiegel 25/2006 Gesellschaft

GEHEIMDIENSTE Ein Job für Lady Deutsche und italienische Fahnder versuchen, eine internationale Operation der CIA aufzuklären: Ein Großaufgebot von Agenten entführte in Italien einen Islamisten mit deutscher Vergangenheit – und ließ ihn in einem ägyptischen Folterknast verschwinden.

CIA-Hauptquartier in Virginia: Deutschland als Operationsbasis für organisierten Menschenraub

ailand, im Februar 2003. Vor dem auf: der weiße, der schon vor seiner Haus- bewegung des Kommandos. Wie ein Ge- Mann, der sich Abu Omar nennt, tür geparkt hatte. Ein Mann wartet neben heimdienstthriller liest sich das Ganze Mliegen an jenem Tag tausend Meter dem Van, Handy zwischen Kopf und jetzt, nur dass dieser Stoff echt ist und bis zur Moschee, tausend Meter über den Schulter geklemmt, er hält Abu Omar an, zwischen den Deckeln von Ermittlungs- Bürgersteig, und wenn auch nur etwas von fragt nach seinem Ausweis, tut offiziell. akten steckt. dem stimmt, was dieser Abu Omar so alles Dann, als Abu Omar den Pass vorzeigt, Aus deutscher Sicht macht allerdings erzählt, dann ist er in seinem Leben schon sprüht ihm irgendjemand Reizgas in die noch etwas anderes diesen Fall so speziell: ganz andere Wege gegangen, um Allahs Augen, wirft sich auf ihn und zerrt ihn in dass Abu Omar eineinhalb Jahre lang in Ruf zu folgen. In Afghanistan, in Pakistan, den Wagen. Deutschland gelebt hat, als Asylbewerber. in Albanien, mit der Kalaschnikow und für Sie rasen los: zu einem Flugplatz bei Und dass auch Fahnder aus dem rhein- den Koran – das war wirklich gefährlich. Venedig, zu einer Maschine, die ihn nach land-pfälzischen Zweibrücken Jagd auf die Aber das hier? Ist ja nur ein Spaziergang, Deutschland bringt, auf die US-Base in CIA-Agenten machen, weil Deutschland sein täglicher Weg zum Mittagsgebet. Ramstein. Dort setzt man ihn in ein Flug- offenbar die wichtigste Basis der Opera- Draußen vor der Haustür steht die üb- zeug nach Ägypten, wo sie Abu Omar tion war: Die Amerikaner schleusten über liche Kette geparkter Autos. Drüben ein wegsperren werden, jahrelang, ohne Ver- die Bundesrepublik einen Teil ihrer Agen- weißer Lieferwagen. Nach 50 Metern fahren. Und wo sie ihn offenbar zum Krüp- ten nach Italien ein und zogen sie auf dem- kommt das Kabuff, in dem die örtlichen pel foltern werden. selben Weg wieder ab. Sozialisten sitzen, nach 300 Metern das Seit diesem 17. Februar 2003 gehört Es ist eine unbequeme Ermittlung, die Reisebüro „Welcome Travel“, nach 350 der Abu Omar zu den Opfern jener CIA-Ent- Zweibrücker Staatsanwälte deshalb nun Handy-Laden „HappyCall“. Sozis, Wel- führungen, bei denen Amerika im Kampf führen, wegen Nötigung und Freiheits- come, Happy – alles wie immer, bis auf gegen den Terror alles recht ist, auch das beraubung. Sie macht es der Bundesregie- den weißen Lieferwagen. Unrecht. Sein Verschwinden steht in einer rung schwer, ein Auge zuzudrücken oder Um kurz nach halb zwölf erreicht Abu Reihe mit vermutlich mehr als hundert mit Rücksicht auf die USA besser gleich Omar an diesem 17. Februar 2003 die Via weiteren Operationen, die der Sonderer- alle beide. Mehr noch: Vor dem Hinter- Guerzoni, es ist der Moment, in dem er mittler des Europarats, der Schweizer Dick grund des Berliner Untersuchungsaus- noch drei Seitenstraßen hat, um davonzu- Marty, jetzt in seinem Bericht über die schusses zu den Geheimflügen der CIA, kommen, drei Fluchtwege, um seine Frei- CIA-Menschenjagd in Europa anprangerte. der seit vergangenem Monat läuft, muss heit zu retten, die nächsten drei Jahre sei- Trotzdem ist der Fall einzigartig: In wohl sich die Regierung nun auch fragen lassen, nes Lebens. Aber Abu Omar nimmt nicht keinem anderen haben Ermittler derart ob sie wirklich jahrelang vom organisierten einen. Er spürt nicht die Blicke, die ihn minutiös eine der internationalen Geheim- Menschenraub der Amerikaner nichts ge- verfolgen, hört nicht die hektischen Tele- operationen der CIA rekonstruiert. Deut- wusst hat. Und warum sie davon auch bis fonate der CIA-Agenten, die seine Position sche und italienische Staatsanwälte wissen heute lieber nichts wissen will. durchgeben. Er geht einfach weiter. inzwischen so gut wie alles über die Tarn- Wohl selten nämlich haben Ermittler Plötzlich steht vor ihm, auf dem Bür- manöver der Agenten, ihre wochenlange eine so dicke Akte über eine CIA-Opera- gersteig, ein Lieferwagen; jetzt fällt er ihm Ausspähaktion, den Zugriff, die Absetz- tion vorgelegt, mit erdrückenden Indizien.

58 der spiegel 25/2006 erzählt er wilde Geschichten aus dem Leben eines Glaubenskämpfers, wie sie sich in so einem Antrag besonders gut machen. Seine Version geht so: Schon als Student wird er vom ägyptischen Geheimdienst gefoltert; der Dienst wirft ihm vor, bei der Gamaa Islamija mitzumachen, einer Fundamenta- listengruppe, die Ägypten in einen Gottes- staat verwandeln will. Doch im Juli 1989 kann Abu Omar ausreisen, ein Versehen der Behörden, wie er behauptet. Er geht in den Jemen, nach Pakistan, Afghanistan, Albanien, wird zu einem Wanderarbeiter des Terrors. In Afghani- stan will er gleich zweimal gewesen sein, auch als Kämpfer. Vor allem aber trainiert er Rekruten, um sie als Attentäter nach Ägypten zu schicken. Damit steht Abu Omar bei den Ägyptern erst recht ganz oben auf der Fahndungsliste. 1993 verlegt er seine Kampfzone nach Albanien und Mazedonien. „Durch meine militärische Tätigkeit habe ich die Jugend in Tirana und Skopje trainiert“, tönt er bei der Befragung durch das Bundesamt, „die- se wurde dann nach Pakistan oder Afgha- nistan geschickt.“ 1995 verhaftet ihn der albanische Geheimdienst; er soll einen An- schlag vorbereitet haben. Wieder Folter, Befragungen, der Versuch, ihn als Spitzel zu gewinnen. Er flieht nach Deutschland.

CORBIS (L.); CORSERA / ROPI (R.) CORBIS (L.); CORSERA So etwa geht Abu Omars Geschichte – Islamist Abu Omar*: Reizgas in die Augen nur kann sie so nicht ganz stimmen. Am 15. November 1996 bestätigt das Verwal- Und selten hat die Politik so wenig damit Am Anfang der Geschichte steht aller- tungsgericht München den Asyl-Ableh- anfangen wollen. Die italienische Regie- dings erst einmmal eine deutsche Asyl- nungsbescheid. Merkwürdig finden die rung nicht – sie hat die Forderung ihrer akte, und wer sie kennt, muss daran Richter zum Beispiel, dass Abu Omar noch Fahnder abgelehnt, der US-Regierung den zweifeln, dass die Amerikaner wirklich im Februar 1993 in Afghanistan gegen das Europäischen Haftbefehl gegen 22 CIA- wussten, wen sie da in Mailand von der Regime des Russenfreundes Mohammad Agenten zu übermitteln. Und die deutsche Straße holten. Einen Paten des Terrors? Nadschibullah ins Feld gezogen sein will. nicht, die es bei lauen Nachfragen in Wa- Oder doch nur einen Münchhausen des Wo doch Nadschibullah schon fast ein Jahr shington belässt. Dschihad? früher gestürzt worden war. Auch 1993, Am 26. Januar 1996 landet der Mann auf bei seinem Kampf um Mazedonien, musste dem Flughafen München. Erst streckt er Abu Omar etwas verpasst haben. Angeb- Im Griff der CIA deutschen Grenzern einen gefälschten lich hielten die ungläubigen Serben noch Der Entführungsfall Abu Omar Pass hin, einen albanischen. Dann, das Land besetzt. Doch in Wahrheit war 3 Ramstein – als er damit auffliegt, zieht er sei- Mazedonien da schon längst unabhängig. 1 17. Februar 2003 nen echten heraus, aus Ägyp- Für das Gericht steht fest: Abu Omar Mailand – Abu Omar wird auf dem ten. Name: Nasr Osama war weder als Krieger in Afghanistan, noch 17. Februar 2003 US-Luftwaffenstützpunkt Mustafa Hassan, geboren hatte er auf dem Balkan Jugendliche zu gegen 11.45 Uhr 3 in eine andere Maschine Ein CIA-Kommando am 18. März 1963, zuletzt Glaubenskämpfern gemacht. Sein Verfol- gesetzt und am gleichen wohnhaft in Tirana und gungsschicksal sei „frei erfunden“. So en- kidnappt den isla- 2 Abend nach Ägypten geflogen. mistischen Prediger Skopje. Auf dem Bal- det im August 1997 die deutsche Episode Abu Omar auf 1 kan will er so etwas des Abu Omar. Er schlägt sich nach Italien 4 Ägypten – April 2004 offener Straße. Die ägyptischen Behörden wie der örtliche Gene- durch, da nimmt man es offenbar nicht lassen ihn kurzfristig frei. ralvertreter islamisti- ganz so genau: Abu Omar bekommt Asyl. scher Terrorgruppen Dass damit nun allerdings ein Fürst der 12. Mai 2004 2 Erneute Verhaftung. Seitdem gewesen sein – der Finsternis die Szene betritt, auf den radi- Aviano – Grund, warum er dort kale Muslime in Italien nur gewartet hät- 17. Februar 2003 sitzt er in einem Gefängnis gegen 16.30 Uhr bei Kairo. nun seines Lebens nicht ten, danach sieht es nicht aus: Um das Jah- Ein Transportteam der CIA mehr so recht sicher sei. resende 1998 schreibt er an Abu Imad, den erreicht mit der Geisel die 4 Am 2. Februar stellt Vorsteher der Moschee an der Viale Jenner U. S. Air Base. Hassan, genannt Abu in Mailand. Abu Omar klagt, er halte die- 18.30 Uhr Omar, seinen Asylantrag. ses Nichtstun nicht länger aus, ob es denn Abflug nach Ramstein Dem Befrager vom Bundesamt nicht irgendetwas für ihn in Mailand zu tun gebe. Abu Imad, selbst Mitglied der Gamaa Islamija, hat nichts für ihn, will ihn * Drei Wochen vor der Entführung 2003 in Mailand; Observationsfoto der CIA, gefunden auf einer aber auch nicht abwimmeln. So kommt Festplatte des CIA-Organisators Bob Lady. Abu Omar nach Mailand, nimmt die Woh-

der spiegel 25/2006 59 Gesellschaft nung in der Nähe der Moschee und fährt den Mobilfunkzellen rund um die Via aber gleich 6 auf denselben: Mihaj Timof- als Wanderprediger über Land. Guerzoni über das Netz gingen. Sie haben te. Der völlig unbeteiligte Rumäne hatte Seine Ansprachen sind durchaus radi- die herausgefiltert, bei denen beide, An- sich mal in einem Mailänder Handy-La- kale. Er wettert gegen Führer der Gamaa rufer und Empfänger, in einer dieser Zel- den eine Vodafone-Karte gekauft. Und of- Islamija, die mit der ägyptischen Regie- len saßen – Telefonate auf kurze Distanz fenbar besorgte sich die CIA die Daten, rung verhandeln wollen, statt sie zu also, wie bei einer Observation. Die Polizei die er dort angegeben hatte. bekämpfen. Und er knüpft Kontakte zu kam so auf 17 verdächtige Telefone. Und Ganz unvorsichtig sind die Amerikaner anderen Islamisten, gefährlichen Männern, wertete dann alle Gespräche in den Mo- aber bei Handy Nummer 17: Angemeldet ohne Frage. Schon Wochen vor der Ent- naten zuvor und den Tagen danach aus, wird es auf Monica Adler, damals 30 Jah- führung stoßen italienische Ermittler auf die über diese Apparate liefen. re alt, zu Hause in Arlington, Virginia. Das ein Netz radikaler Muslime, hören deren Mit wem standen ihre Besitzer in Kon- ist direkt um die Ecke des CIA-Haupt- Telefone ab, auch das von Abu Omar. Es takt und wie lange? Gab es Anrufe spät- quartiers in Langley, Virginia. sind überzeugte Glaubenskrieger, doch abends oder frühmorgens? Dann kamen Frau Adler legt in einem Handy-Laden Hinweise auf einen Anschlag finden die die vermutlich aus den Hotels, in denen die am Mailänder Hauptbahnhof ihren Füh- Carabinieri nicht. Erst recht keinen Beleg, Agenten übernachteten. Welche Hotels la- rerschein vor, den echten. Danach telefo- dass Abu Omar bei so einer Sache der gen also in der Nähe, welche Namen stan- niert sie: mit mindestens fünf Amerika- Drahtzieher gewesen sein könnte. den auf den Kreditkarten, mit denen nern, die am 17. Februar am Tatort sind Den Amerikanern aber reichen Abu oder ganz in der Nähe. Mit wei- Omars Verbindungen. Für die USA, nach Eine Ermittlung wie gegen die Mafia – nur teren vier Amerikanern, die von dem 11. September auf der Suche nach gegen die Geheimen des Bündnispartners. dort zum US-Flughafen nach Avi- dem unsichtbaren Feind, ist er einer der ano fahren, wo Abu Omar in eine wenigen, die man als Gegner ausmachen Amerikaner bezahlten? Mit welchen Miet- Maschine nach Ramstein gesetzt wird. Und kann, um sie über die Islamistenszene aus- wagenfirmen sprachen die Nutzer dieser mit zwei Amerikanern, die vor der Tat auf- zuquetschen. Wenn es sein muss auch mit Telefone? Wann aktivierten die Handys fällig oft in der Via Guerzoni waren – of- Hilfe von Folterstaaten, die kein Problem Funkzellen entlang von Autobahnen? Und fenbar Späher der CIA. damit haben, das Ausquetschen wörtlich registrierten die Mautstationen einen Van? Von Adler ist es nur noch ein Schritt zu nehmen. Es ist eine dieser gigantischen, akribischen zum Kopf der CIA-Operation: Einer der Welche Rolle Ägypten in diesem System Ermittlungen, wie sie italienische Staats- Geheimen, mit denen sie spricht, steht in spielt, hat der ehemalige CIA-Agent anwälte gegen die Mafia anstrengen – nur Verbindung mit einem Mann namens Robert Baer beschrieben. „Wenn jemand dass die Mafia diesmal der Geheimdienst Robert „Bob“ Lady, zur Zeit der Opera- hart verhört werden sollte, schickte man des Bündnispartners USA ist. tion CIA-Resident in Mailand. Offiziell ist ihn nach Jordanien, sollte er gefoltert wer- Hat die CIA damit nicht gerechnet? Lady, 49, nur ein ehrbarer Diplomat des den, war Syrien dran. Und wenn jemand Oder war man so leichtsinnig, weil der ita- US-Konsulats, der sich nach Jahren im aus- ganz verschwinden sollte, war Ägypten der lienische Militärgeheimdienst Sismi sogar wärtigen Dienst angeblich aus dem richtige Platz.“ eingeweiht war, wie amerikanische Ge- Beruf zurückgezogen hat, um auf einem Im November 2002 werden in Italien ein heimdienstler heute sagen? Immerhin war Landgut in Penango den Lebensabend paar Handy-Karten auf falsche Namen an- der Mann, der Abu Omar nach seinem etwas früher zu genießen als andere. gemeldet. Und einige Amerikaner reisen Pass fragte, ein verdeckter Ermittler der Tatsächlich aber ist er kein Mann für ins Land: Geschäftsleute, Touristen, in Carabinieri, Abteilung „Antiterrorismus“ – den Ruhestand: Wo Lady auftaucht, hat ihren Brieftaschen neugeprägte Visa-Kar- das Innenministerium in Rom behauptet die Agency einen heiklen Job zu erledi- ten, bei denen es schon mal vorkommen jedoch, dass der Beamte mit dem Deck- gen. So wie in Mittelamerika, wo er früher kann, dass die ersten 14 von 16 Ziffern namen „Ludwig“ auf eigene Faust für die für den Dienst linke Oppositionszirkel in- identisch sind. Die Operation beginnt. Amerikaner gearbeitet habe. filtrierte. Und so wie jetzt. Es sind die Spuren der Handys und Kre- Auf jeden Fall strengen sich die CIA- Ladys Leute haben für den Coup drei ditkarten, die den Ermittlern heute verra- Agenten bei der Tarnung nicht besonders Teams aufgestellt: einen Spähtrupp, eine ten, wie die CIA arbeitet. Die Fahnder ha- an. Von den Handys, die am 17. Februar in Einheit für den Zugriff, eine für die Fahrt ben 10700 Telefonate ausgewertet, die am der Nähe der Via Guerzoni postiert sind, mit der Geisel nach Aviano; manche Agen- 17. Februar zwischen 11 Uhr und 13 Uhr in wurden zwar 16 auf Decknamen registriert, ten sind für zwei Aufgaben eingeteilt. JOCHEN GÜNTHER PRESS (M.) / ACTION (L.); SANDRO Operationsorte Sheraton-Hotel in Frankfurt am Main, U. S. Air Base in Ramstein, ägyptische Hauptstadt Kairo: Hitze- und Kälteschocks,

60 der spiegel 25/2006 SVEN PAUSTIAN SVEN Zweibrücker Staatsanwälte Bayer, Dexheimer: Ein Gefühl von Ohnmacht

Die Späher – 15 Geheime – sollen Abu der Telefonzentrale des US-Luftwaffen- andria. Was die Polizei dann in den nächs- Omars Bewegungsmuster ausspionieren, stützpunkts im deutschen Ramstein ein ten Tagen aus Gesprächen erfährt, die Abu gut hundertmal gehen sie vor dem 17. Fe- Anruf ein, vermutlich die Ankündigung, Omar mit alten Freunden führt, klingt nach bruar die Via Guerzoni ab. Am Tag der Ent- dass das „Paket“ in der Luft ist. einer harten Zeit für ihn. führung lauern dann am Tatort und in der Für das CIA-Team ist die Operation da- Schon auf dem US-Stützpunkt, in Avia- Nähe acht Agenten. Und ein paar Kilome- mit endlich abgeschlossen – Zeit, sich mal no, hätten ihn US-Agenten geschlagen, ihn ter entfernt wartet das Transportteam: sechs was zu gönnen: Einige Agenten mieten verhört, welche Verbindungen er zu al- Amerikaner. Am späten Vormittag steht sich im Sofitel Venezia ein, die Nacht für Qaida habe, ob er Kämpfer für einen be- alles auf Start, dann kommt der Zugriff. 250 Dollar, andere im Grand Hotel Croce vorstehenden Krieg im Irak rekrutiere. Die Mit drei Autos jagen die „Transporter“ di Malta im Kurort Montecatini Terme. Ägypter hätten ihn danach zum Spitzel danach über die Autobahn, ein Lieferwa- Dem amerikanischen Steuerzahler wird umdrehen wollen – ohne Erfolg. Dann gen vorn, ein Pkw dahinter und mit Ab- anschließend eine Rechnung über 144984 habe die Folter begonnen: extrem laute stand noch ein Van. Nachmittags um halb Dollar präsentiert – allein für das First- Musik, Hitze- und Kälteschocks, Elek- fünf erreichen sie Aviano. Unterwegs hat- Class-Logis während der monatelangen Ak- troschocks an den Genitalien, Aufhängen ten sie immer wieder den Sicherheitschef tion. Allerdings wären die Kosten noch ein an den Beinen. der US-Basis angerufen, offenbar um wenig höher ausgefallen, hätte sich nicht Macht sich Abu Omar am Telefon nur durchzugeben, wann sie ankommen. ab und an ein CIA-Agent eine CIA-Agen- mal wieder wichtig, so wie früher in In Aviano halten die Amerikaner Abu tin nachts mit aufs Zimmer genommen. Deutschland? Er habe in der Haft einen Omar zwei Stunden lang fest, dann geht in Nur für einen ist der Job nach dem Zu- Gehörschaden erlitten, klagt er, er schaffe griff offenbar nicht erledigt, für den Boss: zu Fuß kaum noch 200 Meter am Stück, Fünf Tage nachdem Abu Omar von Ram- wegen der Folter. Das alles ist zwar schwer stein nach Ägypten fliegt, schaltet Bob zu überprüfen. Aber würde ein stolzer Is- Lady sein Handy in Italien aus – und kurz lamist am Telefon seinen Freunden auch danach in Ägypten wieder an. vorlügen, dass er sich ständig in die Hosen Danach vergeht ein gutes Jahr, und fast machte, weil er den Urin nicht mehr halten scheint es so, als sei in Wahrheit nie etwas konnte nach den Elektroschocks? passiert. Sicher, Abu Omars Frau meldet Nach 14 Monaten Haft bieten die Ägyp- ihn als vermisst, eine Zeugin hat sogar ter Abu Omar die Freiheit an, unter zwei gesehen, wie ihn zwei Männer in den Van Bedingungen: Er darf niemandem ein Wort zogen. Aber die Ermittler kommen nicht über die Haft sagen, und er muss ein Pa- voran; und schließlich erhalten sie am pier unterschreiben, dass er sich freiwillig 24. April 2004 auch noch einen heißen Tipp den ägyptischen Behörden gestellt hat. aus US-Quellen: Abu Omar habe sich auf Abu Omar unterschreibt. Ein paar Wo- den Balkan abgesetzt. chen lang ist er frei, kann in dieser Zeit bei Dann aber gerät der Anschluss seiner seiner Frau, seinen Freunden anrufen. Da- Frau in eine Telefonüberwachung, und am bei redet er offenbar zu viel; auf jeden Fall 20. April 2004 glauben die Lauscher, nicht stecken ihn die Ägypter wieder ins Ge- richtig zu hören. Am anderen Ende der fängnis, in eines der schlimmsten, das in

SAMUEL ZUDER / LAIF SAMUEL Leitung ist der verschwundene Abu Omar, Istikbal Tura bei Kairo. Dort sitzt Abu Elektroschocks, Aufhängen an den Beinen aber nicht vom Balkan, sondern aus Alex- Omar bis heute, ohne Anklage, so der An-

der spiegel 25/2006 61 walt seiner Frau, Antonio Ne- zember der letzte Besuch: Wise buloni. durfte nur noch mitteilen, dass er Es ist ein Gefühl von Ohn- nichts mitteilen dürfe – seine Re- macht, und das kennt jetzt gierung habe ihn nicht autorisiert. auch Norbert Dexheimer, Bayers Kollege Dexheimer liebt Oberstaatsanwalt in Zwei- amerikanische Verschwörungsthril- brücken, zuständig für Verbre- ler, die „Bourne Identität“, „Air chen auf der U. S. Air Base Force One“, kürzlich „Der Man- Ramstein. Dabei haben Dex- churian Kandidat“, die hat er alle heimer und sein Chef, der Lei- im Kino gesehen. Doch „im rich- tende Oberstaatsanwalt Eber- tigen Leben“ war so etwas für ihn hard Bayer, mittlerweile vier „unvorstellbar“, genauso wie für Leitzordner und fünf Hefter, Bayer, der sich eine CIA-Ent- gespickt mit Ansatzpunkten führung höchstens in Afghanistan für die Fahndung. Der Mai- oder im Irak hätte ausmalen kön- länder Staatsanwalt Armando nen. „Mittlerweile reicht meine Spataro, der demnächst 22 Phantasie weiter“, sagt Dexheimer. CIA-Agenten in Abwesenheit Gut möglich, dass Dexheimers anklagen will, hat geliefert, Phantasie demnächst aber noch was er liefern konnte. Vor al- viel weiter reichen muss: US- lem ein Satz in den Akten Agenten entführen einen Men- elektrisierte dabei die Fahnder schen via Deutschland, aber die in Zweibrücken: Vermutlich Bundesregierung tut so, als wäre hätten fast alle Kidnapper Ver- nichts geschehen. Denn dass sich bindungen nach Deutschland Berlin wegen Abu Omar oder des gehabt, seien entweder nach anderen deutschen Falls, des Neu- der Entführung in die Bundes- Ulmers Khaled el-Masri, ernsthaft republik gereist oder schon mit Amerika anlegen will, davon vorher, als sie ihre Arbeit im können sie in Zweibrücken nichts

Spähtrupp beendet hatten. / NOCENTI OLYMPIA CATALANI merken. Indizien? Eine Menge. Da Moschee an der Viale Jenner*: „Es geht um Menschenrechte“ Was hätte die Regierung nicht ist zum Beispiel Anne Jenkins, alles tun können: zum Beispiel vermutlich eine Späherin, derzeit leider lassen auf die 835. Communications Squa- den amerikanischen Botschafter einbestel- unauffindbar wie all die anderen Verdäch- dron, also auf die für die Ramsteiner Te- len, eine Protestnote überreichen. Vor al- tigen. Jenkins, schon vor der Tat auf dem lefonvermittlung zuständige US-Einheit. lem aber: Was hätte sie nicht alles getan, Rückweg, gab am 11. Februar 2003 ihren Ende Januar 2003 geht es in Italien auf wenn etwa der iranische Geheimdienst Mietwagen aus Mailand in Frankfurt am Empfang – in der Funkzelle der Luftwaf- Deutschland zur Operationsbasis gemacht Main wieder ab; für die Nacht zuvor hatte fenbasis Aviano. hätte. Hier aber bleibt es bei informellen sie im Sheraton am Frankfurter Flughafen Seit 30 Jahren kümmert Dexheimer diplomatischen Anfragen, zu deren Ritual eingecheckt. Ebenfalls im Hotel: Cynthia sich um Verbrechen in Ramstein, die in gehört, dass die Amerikaner sie nicht be- Logan. Sie gehörte vermutlich sechs Tage die deutsche Zuständigkeit fallen. Und im- antworten. später in Mailand zu den „Transportern“. mer, wirklich immer, schwärmt er, war die Dabei sagte Außenminister Frank-Wal- Oder Pilar Rueda, die am Tag der Ent- Zusammenarbeit mit den Amis erstklas- ter Steinmeier noch am 30. November führung am Tatort war: Sie gab fünf Tage sig. Wenn deutsches Recht nicht viel her- 2005 im Bundestag, die Europäer erwar- später ihren Mietwagen, einen VW Passat, in gab, sagten die Amerikaner: „Überlasst teten Aufklärung von den Amerikanern; München ab. Das Gleiche bei Joseph Sofin, uns den Fall.“ Und dann bekam schon mal er hoffe, „dass die Antwort auf die eu- offenbar Mitglied des Zugriffsteams. Auch ein Soldat, der ein Mädchen entführt und ropäischen Fragen zeitnah erfolgt und das Handy von Drew Channing, Transport- ans Bett gefesselt hatte, 80 Jahre. Alle Klarheit schafft“. Daraufhin formulierten Kiffer dagegen schoben die US- Dexheimer und Bayer umgehend ein Nach der Entführung geben CIA-Agenten Offiziere den Zweibrücker Staats- „Auskunftsersuchen“: Sie wollten wissen, ihre Mietwagen zurück – in Deutschland. anwälten hinüber. Nie versuchten was die deutsche Regierung über den sie, Straftäter unter den eigenen Fall weiß. team, buchte sich am 19. Februar im deut- Soldaten vor dem deutschen Gesetz zu Leider, ließ das Bundeskanzleramt ver- schen Netz ein, das von James Harbison, schützen. lauten, habe US-Außenministerin Condo- Entführungsteam, am Tag danach. Aber jetzt das: Dreimal saß bei Staats- leezza Rice bei Regierungsgesprächen 26 deutsche Telefonnummern haben die anwalt Bayer ein Colonel namens James „keine konkreten Angaben und Hinweise Ermittler in Zweibrücken von den Italie- R. Wise, den die Visitenkarte als Staff Jug- zum Fall Abu Omar“ mitgeteilt – so for- nern bekommen, die sie überprüfen sol- de Advocat auswies, als höchsten Juristen muliert man das wohl, wenn man offen- len – über alle Anschlüsse liefen Kontakte der US-Luftwaffe in Europa und Afrika. lassen möchte, ob man überhaupt scharf zu den CIA-Agenten oder in ihr Umfeld Schon beim ersten Gespräch Ende August nachgefragt hat. hinein. Sieben Nummern auf der Air Base ließ Wise wissen, es gebe hier ein paar Die Deutschen haben sich also damit ab- Ramstein sind darunter, eine auf der Air Schwierigkeiten mit der Weitergabe von gefunden, dass nichts zu machen ist. Das Base am Frankfurter Flughafen, außerdem Informationen. ist realistisch. In Mailand dagegen sitzt der der Anschluss einer seltsamen Firma, die Beim zweiten Besuch berichtete Wise, er Anwalt von Abu Omars Frau, Nebuloni, als Rechnungsanschrift die Adresse des sei wegen der Sache in Washington gewe- und sagt: „Hier geht es um die Menschen- amerikanischen Generalkonsulats in Frank- sen, habe aber noch nichts für die Deut- rechte, und die sind wichtiger als unsere furt angibt. schen erreichen können. Und Anfang De- Außenbeziehungen zur USA.“ Was nicht Die interessanteste deutsche Telefonspur realistisch ist. Jürgen Dahlkamp, Georg Mascolo, Holger Stark ist allerdings ein deutsches Handy, zuge- * In Mailand.

62 der spiegel 25/2006 Deutschland

Bordell (in Bochum) Familienväter ohne Kondom

Deutschlands registriert das RKI eine starke Zunahme unter Heterosexuellen, bislang am deutlichsten im Großraum Aachen: 100 Neuinfektionen meldeten Ärzte dort allein 2005, davon fast die Hälf- te bei Frauen. Vor allem die Freier hätten nur „sehr begrenzte Kenntnisse“ über sichere Prak- tiken, schimpft RKI-Experte Osamah Ha- mouda. Viele wüssten etwa nicht, dass Sy- philis über Schleimhäute übertragen wer- den kann und damit auch via Oralverkehr. Und die meist nicht versicherten Prosti- tuierten finden bei den Behörden zu wenig Hilfe. Hubert Plum, Leiter des Aachener Gesundheitsamts, räumt ein, dass die Stadt – wie viele andere Kommunen auch – für

FOTOCREDIT Professionelle seit fünf Jahren keine Un- tersuchung auf Syphilis mehr anbiete. Bis dahin mussten Prostituierte regelmäßig zu GESUNDHEIT Untersuchungen erscheinen – im Szene- Jargon hieß das von Amtsärzten erteilte Gefährlicher Geiz Gesundheitsattest „Bockschein“. Wer nicht kam, wurde vielerorts sogar von der Poli- Die Lustseuche zei vorgeführt. Nach Abschaffung der Un- tersuchungspflicht, so Plum, strich Aachen Syphilis kehrt zurück – auch bald auch die freiwilligen Testangebote:

weil sich viele FOTOCREDIT „Es ist ja keiner mehr gekommen.“ Prostituierte heute nicht Syphiliserreger Manche Prostituierte würden nun frei- mehr testen lassen. Lähmungen und Tod lich wieder gern regelmäßig zum Test ge- hen, so wie eine 41-jährige Heroinabhän- ie Blondine im knappen T-Shirt dem Ergebnis, dass viele Huren sich heute gige, die am Kaiserplatz anschafft. Die versteht sie nicht, diese Freier. Egal gar nicht mehr testen lassen. schmale Frau sagt, sie habe derzeit „große Dob junge Männer, alte Herren, Fa- Der Geiz entpuppt sich nun als ziem- Angst“ vor der Syphilis, immer wieder milienväter, alle wollten sie nur das eine: lich gefährlich. So haben sich inzwischen sucht sie an ihrem Körper nach ersten An- Sex ohne Kondom. Dabei müssten die nicht nur im Großraum Aachen reihen- zeichen der Krankheit, nach Geschwüren Kunden doch wissen, wie gefährlich das weise Frauen und Männer angesteckt. oder geschwollenen Lymphknoten. sei, hier, ganz unten am Aachener Kaiser- Auch Köln, Frankfurt, Darmstadt und Of- Unbehandelt führt Syphilis zu Lähmun- platz, wo Drogenmädchen den billigsten fenbach gelten laut RKI als „Risikogebie- gen und Tod, wird aber rechtzeitig Penicil- Sex der Stadt bieten – zur Not schon ab te“. Zur Fußballweltmeisterschaft kontrol- lin gespritzt, lässt sie sich relativ verlässlich 7,50 Euro. lieren die Berliner Experten verstärkt die bekämpfen. Die Prostituierte vom Kaiser- Gefährlich nicht allein wegen des HIV- anonymen Meldungen von Syphilisfällen, platz möchte deshalb einen Bluttest ma- Risikos. Denn eine alte Lustseuche breitet die Ärzte und Labors an sie weiterreichen. chen, am liebsten jetzt gleich, doch ist sie sich neuerdings wieder aus: „In der Sze- Unter besonderer Beobachtung stehen nicht krankenversichert. Die Streetworke- ne“, sagt die heroinsüchtige 37-Jährige, Städte, in denen WM-Spiele stattfinden. rin Brigitte Brosius, die viele der Huren in „hat inzwischen fast jeder Syphilis.“ Sie Denn die, so die Annahme, locken derzeit Aachen betreut, muss sie vertrösten – bis selbst auch. auch massenhaft Besucher mit nicht nur der Antrag auf Arbeitslosengeld II bear- Die jahrzehntelang nahezu bedeutungs- sportlichen Interessen an. beitet sei: „Hoffentlich kommt sie dann lose Infektionskrankheit sei in Deutsch- Dass mehr Untersuchungsangebote not- noch wieder“, sagt Brosius. land wieder auf dem Vormarsch, auch weil tun, zeigen die Zahlen: Nach einem deut- Etwa vier neue Syphilispatienten pro gerade drogenabhängige Prostituierte und lichen Rückgang in den achtziger Jahren Woche kommen allein in die Universitäts- ihre Freier immer häufiger ungeschützten wurden im vergangenen Jahr bundesweit klinik Aachen, meist Prostituierte. Nur Risiko-Sex praktizierten, klagen die Ge- 3210 neue Syphiliskranke gemeldet – mehr melden sich viele nach der Erstbehand- sundheitswächter vom Berliner Robert als dreimal so viele wie vor fünf Jahren. lung nicht wieder, und ohne Kontrolle Koch-Institut (RKI). Zugleich sei das In- Allein in den ersten drei Monaten dieses bleibt ungewiss, ob sie noch weiter Freier fektionsrisiko „massiv“ angestiegen, so Jahres zählte das RKI bundesweit schon infizieren können. eine RKI-Analyse, da die Untersuchungs- knapp 800 Neuinfektionen, und die Dun- Die Kunden lassen sich offenbar ebenso und Behandlungsangebote für Prostituier- kelziffer dürfte hoch sein. Denn die Krank- schwer erreichen. Als die Aachener Stadt- te nicht ausreichten. heit ist tückisch, bei manchen Infizierten verwaltung und die Polizei kürzlich rund Denn 2001 kassierte die rot-grüne Bun- gibt es zwei Jahre lang kaum Symptome – um den Kaiserplatz Flyer an Autofahrer desregierung die Untersuchungspflicht für so lange können sie andere anstecken, verteilen ließen, wurden Mitarbeiter derart Sex-Arbeiterinnen. Die Koalition hoffte, ohne auch nur zu ahnen, dass sie eine Ge- scharf angepöbelt, dass die Aktion abge- die Frauen würden freiwillig regelmäßig fahr sind. brochen werden musste. Die angesproche- zum Arzt gehen. Doch gleichzeitig schaff- Zwar treten noch immer 75 Prozent nen Männer suchten allesamt angeblich ten die meisten Kommunen ihre Kon- aller Syphilisfälle bei homosexuellen Män- nur einen Parkplatz – und dabei wollten sie trollangebote ab, um Geld zu sparen – mit nern auf – doch in mehreren Regionen ungestört bleiben. Andrea Brandt

64 der spiegel 25/2006 Gesellschaft Ein Meister des Vergessens Ortstermin: In Kiel wird die Welt des „Ballermann“ zu Kunst erklärt – und der Mallorca-Resident Jürgen Drews soll dabei helfen.

ie Kunsthalle zu Kiel liegt am Welt zurückverzaubern solle, schreibt vergessen werden können. In Zeiten des Düsternbrooker Weg, auf einer Hü- Luckow im Katalog, sie zusammenführen Gefühl- und des Sozialabbaus ist dieser Dgelkuppe. Um 19.21 Uhr, mit 51 Mi- mit der „Stringenz einer künstlerischen Ort so etwas wie ein Superlativ: ALG II, nuten Verspätung, fährt ein schwarzer Erzählung“. Hartz IV, Balneario VI. Drews ist der Ani- Mercedes-Kombi vor, Coesfelder Kennzei- Genaugenommen hatte man sich in Kiel mateur dieser Szene, der Untote unter chen, am Steuer ein gebräunter Mann mit eher gefragt: Was können wir anstellen, Nackten. Ein Meister des Vergessens, der schulterlangem Haar. Der Leiter der Kunst- um endlich aufzufallen? Als Höhepunkt: die Generalamnesie ausruft für das 17. halle, er heißt Dirk Luckow, Doktor der ein Auftritt von Jürgen Drews, die Knall- Bundesland. Unter Drews’ Anleitung bau- Kunstgeschichte, dunkelblaue Nadelstrei- charge der Knallköpfe. melt die Seele nicht, sie wird abgeschafft. fen, hat schon nervös gewartet, jetzt winkt „Wir nehmen ihn ernst“, sagt Luckow. Davon lebt er, und zwar gut, finanziell er, spurtet die Treppen hinunter, beugt sich Und so ist Drews also hier, mit Dackel gesehen; auch wenn er Jahr um Jahr mehr ans Fahrerfenster, grinst und zeigt, wo man und Entourage, und Luckow führt ihn Selbsthass anhäuft. Man muss es fast als wenden kann und parken. zackig durch die Ausstellung und erklärt heroisch bewerten, dass er sich aus dieser Oben, am Haupteingang der Kunsthalle, jedes Werk und spart dabei nicht mit Aus- 7500-Euro-pro-Auftritt-Hölle nicht mit Suff lauern die Fans. Es sind vor allem Frauen, drücken wie „paradigmatischer Gegenent- oder Selbstmord befreit hat. Rex Gildo, vor allem mittleren Alters: darunter zwei wurf“ und „schockierender Einsatz des Roy Black, Drafi Deutscher, schlechte Vor- Reinigungsfacharbeiterinnen, die jedes eigenen Körpers“ und „ästhetisches Aus- bilder gibt es genügend. Jahr nach Mallorca reisen, eine Friseuse, loten des osmotischen Grenzgebiets“, un- Was die Künstler in der Kieler Kunst- eine weitere mit goldenen Ballerina-Schu- ter dem macht man’s heutzutage nicht. halle an vulgären Provokationen hingestellt hen gibt sich als Einzelhandels- haben, reicht an Drews’ geleb- kauffrau zu erkennen. Sie tritt tes Trauma natürlich nicht annä- ihre Zigarette aus, zückt ihren hernd heran. Was wissen schon Autogrammblock. „Der König Jeff Koons oder Sylvie Fleury ist da“, sie kichert. von der Würdelosigkeit seines „Der Totalbekloppte, das Lebens? Aber er setzt ein inter- wolltest du doch eigentlich sa- essiertes Gesicht auf und sagt gen“, korrigiert ihr Begleiter, „echt stark“ zu einem bunten aber das hört sie nicht mehr, Gebilde aus Sangria-Strohhal- sie eilt bereits zum Parkplatz. men und „hey, kann ich echt Dort springen aus dem Mer- nichts mit anfangen“ zu einer cedes erst ein winziger Dackel, Kloschüssel, randvoll mit Nu- dann ein langhaariger Hund, tella. Die Begegnung zwischen halb so groß wie der Dackel, Pseudo-Avantgarde und Wirk- dann ein niedliches Kind, Joe- lichkeit rumpelt ins Leere. lina, dann eine Frau mit langen Luckow bittet, dass der Da- Haaren und blonden Beinen ckel nichts von dem Kloschüs-

oder umgekehrt, und mit un- / VISUM JOERG MUELLER FOTOS: sel-Nutella nascht. glaublich großen Brüsten und Museumschef Luckow, Ehepaar Drews: „Wir nehmen ihn ernst“ Nach der Führung gibt so verwirrtem Kulleraugen- Drews im Foyersaal der Kunst- blick, als könnte sie es selbst noch nicht So ernst genommen zu werden, das ist halle noch einen Playback-Auftritt. Er fassen, was die Silikonkissenindustrie ihr für Drews eine überraschende Erfahrung. singt wie jemand, der gerade rückfällig da beschert hat: Ramona Drews, Gattin Andererseits tut er seit 40 Jahren nichts wird. Später, in einem japanischen Restau- des Schlagerstars. Schließlich der gebräun- anderes, als durch alle Reifen zu springen, rant, bei Sushi, Bier und Sake, erzählt te Star selbst: Jürgen Drews, selbsternann- die man ihm vor die Brust hält. Drews, dass ihm Mallorca allmählich zu ter „König von Mallorca“, amtierender Drews, der seit 30 Jahren „Ein Bett im eng würde und er überlege, dauerhaft Peinlichkeitsweltmeister. Kornfeld“ schmettert, ist eine sehr deut- zurückzukehren nach Deutschland. „Ich „Ich halte ihn für eine Kultfigur“, sagt sche Figur, vielleicht eine tragische. Ver- habe so viel überstanden“, sagt er, „jetzt Luckow, der Leiter der Kunsthalle. klemmt sei er früher gewesen, ein Arzt- ist Zeit für was Neues – oder was meinst Drews, Schlagersänger in der Endlos- sohn und Dauer-Masturbierer, und das du, ist es zu spät für mich, bin ich schon to- schleife seines Lebens, ist hier, weil die Eintauchen in Show, Schlager und die vul- tal gaga?“ Ausstellung in Wahrheit von ihm handelt, gärste Ecke von Mallorca hätten ihn be- Die Frage gilt Herrn Luckow. von seinem Leben. „Ballermann“ zeigt freit, therapiert. Die schlechte Nachricht „Du bist, äh – jedenfalls sehr authen- Arbeiten von 17 Künstlern, Installation, ist, dass er nun eine neue Therapie brauch- tisch, sehr unvermittelt“, sagt Luckow. Malerei, Videos, Plastiken. Warum „Bal- te, die ihn von dieser Therapie befreit. Authentisch, unvermittelt, das sind wie- lermann“, warum Kunst, die den mallor- Am berüchtigten Strandabschnitt auf der so Kunstbegriffe, Drews kann nichts quinischen Sauftreff der Deutschen am Mallorca hat Deutschland sich eine Ecke damit anfangen, aber er nickt. 61 Jahre ist Balneario 6 thematisiert? Weil der Blick geschaffen, wo die wesenseigene Steifheit er jetzt alt. „Ich muss herausfinden, wer der Künstler die entzauberte Ballermann- abgeschüttelt und das Elend in der Heimat ich wirklich bin“, sagt er Ralf Hoppe

66 der spiegel 25/2006 Deutschland, ein Sommermärchen Wie in einem anderen Land: Hunderttausende in den Stadien, Millionen vor den Fernsehern und auf den Straßen feiern den Fußball und sich selbst – mit mediterranem Frohsinn und unverklemmtem, weltoffenem Patriotismus. Ob sich die Stimmung hält, wenn das Fest vorüber ist?

as deutsche Idyll sieht derzeit so aus: Die Bänke sind gut besetzt. Ein Mann Die Leute, die durch die Gasse zur Burg eine schmale Gasse, Kopfsteinpfla- trägt sechs Totenkopfringe an einer Hand. hinaufgehen, bücken sich, wenn sie den Dster, Bierbänke, ein großer Flach- Ein anderer weiß alles über Fußball und Flachbildschirm passieren, oder werfen bildschirm an der Wand eines Fachwerk- wird nicht müde, seiner Frau alles zu er- schuldbewusste Blicke zu dem Mann mit hauses. Es läuft das Spiel USA gegen Tsche- klären. Der Wirt bringt Weizenbier, und den sechs Totenkopfringen. Sie wissen, chien. Über der Tür hängt ein Schal mit der wenn er die Flaschen öffnet, krächzt der dass es in diesen Tagen auf jede Sekunde Aufschrift Deutschland. Dies ist die Kneipe Flaschenöffner „Tooor“. Alle lachen, je- Fußball ankommt. Unter einer Bank liegt „Pohlmann’s“ in Königstein im Taunus. des Mal. ein Dalmatiner, die Hunderasse, deren Na-

68 der spiegel 25/2006 SEBASTIAN WILLNOW / DDP Fans in Berlin nach dem gewonnenen Spiel gegen Polen: Das Land vibriert, es summt tur es ist, die Farben des deutschen Natio- Dramaturgie, ein langer Sturmlauf, ein deutschen Nationalmannschaft verkauft. naldresses zu tragen. In den Fenstern ewiges Bangen und Hoffen und dann die Bei der letzten WM waren es 250 000. ringsum hängen deutsche und brasiliani- Erlösung in der Nachspielzeit durch ein Deutschland trägt wieder Deutschland. sche Fahnen. Tor von Oliver Neuville. Der Aufschrei da- Das Land vibriert, es summt. Wer durch Als die Nase des Hundes zu zittern be- nach war der wahrscheinlich lauteste, den die Straßen geht, hört aus allen Fenstern ginnt, sagt sein Besitzer: „Gleich fällt ein die Bundesrepublik je gehört hat. die Stimmen der Fernsehkommentatoren, Tor.“ Kurz darauf schießt Tomás Rosicky´ Nicht nur im Westfalenstadion wurde das Rauschen aus den Stadien. das 2:0 für Tschechien. Alle klatschen. Der gejubelt und getanzt. Halb Deutschland Das Land ist bunt wie nie zuvor. Fahnen Dalmatiner beruhigt sich. Er versäumt es, hat sich vor den Großbildleinwänden ver- und Trikots aus 32 Ländern mischen sich in das 3:0 von Rosicky´ anzukündigen. Die sammelt. 500000 sind es auf der Straße des den WM-Städten zu einem Bild, das von Sonne geht langsam unter, ein schöner Tag. 17. Juni, der Fan-Meile in Berlin. Kurz vor weit oben aussehen muss wie eine impres- Fußball herrscht derzeit über nahezu je- Anpfiff schließen die Veranstalter die Tore sionistisch gemalte Frühlingswiese. den Winkel des Landes. Er besetzt die zum Heiligengeistfeld in Hamburg, 50000 Das Land ist netter denn je. Die Deut- Köpfe, die Herzen, er macht aus Deutsch- sind schon drin, 10000 wollen noch rein. In schen wollen gute Gastgeber sein und be- land ein anderes Land, wie in einem Som- Stuttgart verfolgen 70000 Zuschauer die muttern ihre Gäste, wo sie können. Und mermärchen, ein gebanntes, fröhliches, ein Liveübertragung vor dem Neuen Schloss, das Land ist plötzlich cool. Zwischen Leip- Land unter einem schwarzrotgoldenen wo die Behörden ursprünglich nur 40000 ziger Bahnhof und Augustusplatz, auf ei- Tuch. Seit dem 9. November 1989 hat es zulassen wollten. Autokorsos bringen den ner Wiese, liegt Kirsten Bach mit ein paar keine größere Party gegeben als diese. Da- Verkehr auf dem Innenstadtring in Han- Freunden und Freundinnen. Sie sind alle mals feierten die Deutschen mit sich, jetzt nover zum Erliegen, die Tribünen am um die zwanzig, und fast alle tragen klei- feiern sie mit sich und der Welt. Frankfurter Main-Ufer werden wegen ne aufgeschminkte deutsche Flaggen im Die vorläufig größte WM-Ekstase er- Überfüllung gesperrt. Gesicht. Kirsten trägt ihre auf der Stirn, lebte das Land am vergangenen Mittwoch, Die Deutschlandfahnen, die in China im linken Nasenflügel steckt ein Piercing, als die deutsche Mannschaft in Dortmund produziert werden, sind nahezu ausver- ein zweites sitzt am Bauchnabel. Sie trin- die Polen 1:0 schlug. Es war die perfekte kauft. Adidas hat eine Million Trikots der ken kein Bier, sondern Wasser, und statt

der spiegel 25/2006 69 irgendwelcher Schlachtgesänge driftet Lounge-Musik über das Gras. Vom Bahn- hof nähert sich eine Frau mit einem riesi- gen Gummikondom auf dem Kopf und verteilt Probepackungen. Kirsten sagt, sie und ihre Freunde seien nicht so sehr wegen des Fußballspiels hier, sondern wegen der Stimmung. Entspannt und locker sei es hier, ein bisschen wie im Hydepark in London oder in Amsterdam. Leipzig sei jetzt, sie sucht nach einem Wort, „metropolig“. Zeigt man auf die deutsche Flagge auf ihrer Stirn und fragt man sie, ob sie stolz sei, eine Deutsche zu sein, antwortet sie: „Nö.“ Fühlt es sich jetzt, während der Weltmeisterschaft, besser an, eine Deut- sche zu sein? „Ja klar.“ Man könnte sagen: Alles ist wunderbar, lasst uns dieses Fest genießen. Aber es gibt ein „aber“. In Deutschland gibt es immer ein großes „aber“, wenn es um Deutsch- land geht. Ist das nicht schon zu viel Schwarzrot- gold auf den Plätzen und Bildschirmen? Darf man das Deutschlandlied inbrünstig singen? Sind nicht die Hooligans, die in Dortmund randaliert haben, mit dem Schlachtruf „Hurra, hurra, die Deutschen, die sind da“ losgestürmt und haben damit das Misstrauen mancher Deutscher gegen das Deutschtum bestätigt? Schon will die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Broschüren verteilen, die vor dem Absingen der Nationalhymne warnen. Sie sei aufgeladen mit der Stim- mung von Nationalsozialismus und deut- scher Leitkultur. Schon ist das Land wieder in eine seiner beliebten Debatten um seine Identität verstrickt. Dahinter steckt die große Frage, ob die- se Weltmeisterschaft und der Freudentau- mel Deutschland nachhaltig verändern, ob die Deutschen neues Selbstbewusstsein tanken und zeigen werden. Eine andere Frage ist, ob sie die neu gewonnene Einheit in Fröhlichkeit konservieren können.

Die Suche nach Antworten beginnt da, / RAUCHENSTEINER ORYK wo die Leute sind, deren Hauptberuf es Deutsche Elf vor dem Spiel gegen Polen: „Die Hymne ist der emotionale Höhepunkt“ eigentlich ist, das Land zu verändern – im Berliner Regierungsviertel. der Kabinettssitzung“, die Fortsetzung der Für die Große Koalition ist die Welt- Es ist Mittwochnachmittag, acht Män- Uno-Mission UNMEE in Äthiopien und meisterschaft ein Glücksfall. Sie kommt ner und zwei Frauen sitzen hinter einem Eritrea. Deutschland sei daran mit zwei über das Land in einem Moment, da die hellbraunen Holzverkleidung, über ihnen nicht bewaffneten Beobachtern beteiligt, Regierung ihre Schwächen offenbart, in prangt ein Schriftzug: Bundespressekonfe- sagt Steg. Es sieht so aus, als werde regiert dem sie sich selbst blockiert und in den renz. Es sind die Sprecher der Ministerien. wie eh und je, als könne nichts den Lauf großen Fragen, der Gesundheitspolitik In der Mitte sitzt Thomas Steg, stellvertre- der Maschine beeinträchtigen. etwa, nicht mehr weiter weiß oder aber tender Sprecher der Bundesregierung. So, sagt Steg. Gibt es Fragen? Gesetze durchbringt wie am vergangenen Gekommen sind 19 Journalisten, Plätze Es gibt ein paar Fragen, eine zum Urhe- Freitag: Da wurde die Mehrwertsteuer er- gibt es für 300. Es ist die Veranstaltung, berschutzrecht, eine zur Mehrwertsteuer, höht, die Pendlerpauschale gekürzt, die Ei- bei der die Journalisten die Arbeit der Re- noch eine zum Nichtraucherschutz. Sie las- genheimzulage gestrichen. Gesetze sind gierung hinterfragen, ihre Schwächen of- sen sich alle schnell beantworten. Es ist das, die in normalen Zeiten für viel Aufre- fenlegen, nachbohren. Normalerweise. warm im Saal, es dauert nicht mehr lange gung sorgen würden. Aber es bekommt „Ja, meine Damen und Herren, heute bis zum Anpfiff von Spanien gegen Ukrai- fast niemand mit. Vermutlich könnte die morgen hat das Kabinett turnusmäßig ge- ne, am Abend spielt Deutschland. Es wird Bundesregierung gerade auch die Mehr- tagt und es gibt einige Beschlüsse“, sagt zwar nicht über Fußball gesprochen, aber wertsteuer verdoppeln, und kaum einen Steg. Er zählt die Themen auf: Elterngeld, die WM hinterlässt selbst hier ihre Spuren. würde es interessieren. Migrationsbericht, Erneuerbare-Energien- Niemand hat Lust, weiter zu fragen, es ist Steg geht die Treppe vom Saal hinunter. Gesetz, kurz EEG, und, „letzter Punkt aus Zeit, die Pressekonferenz zu beenden. „Momentan können wir diese Pressekon-

70 der spiegel 25/2006 Titel FOTOS: ARD FOTOS: Polens Präsident Lech Kaczynski, Bundeskanzlerin Merkel in Dortmund: Glücksfall für die Große Koalition ferenzen eigentlich sein lassen“, murmelt hat er es schon gemacht, mit amerikani- überraschen die Deutschen die anderen er. Er geht über die Straße in den Open- schen Fitnessprogrammen und einer ame- und wohl auch sich selbst damit, dass ein Air-Bereich des MediaClubs, es ist ein rikanischen Corporate-Identity-Ideologie. anderes Modell möglich ist: mit Kraft, mit künstlicher Strand direkt an der Spree, mit Das wurde oft belächelt, ist aber, wie es Tempo, mit Phantasie bis zur letzten Mi- Planschbecken und einer Leinwand, auf derzeit aussieht, ein Gewinn für den deut- nute auf Sieg zu spielen. der die Spanier gerade die Ukraine verna- schen Fußball. Sind Reformen doch möglich in diesem schen. Steg muss noch kurz mit der Kanz- Es ist diese neue Kombination von Land? Denn genau dies hat Jürgen Klins- lerin sprechen, dann setzt er sich in einen Leichtigkeit und Leidenschaft, die den mann gewollt: ein spielendes Deutschland, roten Liegestuhl und krempelt die Ärmel Deutschen im Ausland wenige zugetraut kein mauerndes. Ein Deutschland, das hoch. hätten. Früher spielte Deutschland ziem- nicht gelähmt ist von der Angst vor dem Er sagt, es gebe tatsächlich eine un- lich einfallslos, verbissen, im Visier hatte Scheitern, ein Deutschland, das voller glaubliche Leichtigkeit und Unbeschwert- dieses Deutschland nichts als das Resultat, Hoffnung und mit einer Idee antritt. Ein heit im Lande und dass man sich einem und darum werden Deutschlands Fußballer begeisterndes Deutschland auf dem Platz, solchen Weltereignis offenbar nicht ent- in England, Spanien oder Italien immer ein begeistertes auf den Rängen. „Die ziehen könne, selbst die Politik nicht. noch als Panzer beschrieben. Diesmal aber Stimmung in Deutschland ist gigantisch, in Als die Kanzlerin am Morgen die Kabi- nettssitzung eröffnet, erzählt sie zunächst vom dicken Ronaldo, dessen Gewicht ja „THE OBSERVER“, LONDON sogar der brasilianische Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva schon problemati- Fließende Grenzen siert habe, und das offenbar zu Recht. So viel habe sie am Vorabend im Berliner „GHANA!“ schreit ein begeisterter älterer deut- tallisiert sich in Bildern wie dem von dem Deut- Olympiastadion jedenfalls mitbekommen. scher Herr, den Daumen nach oben gerichtet, schen und dem Ghanaer heraus – und wie- Erst dann leitete sie über zum Elterngeld. ins Gesicht eines jungen Afrikaners aus der derholt sich in zahllosen anderen Beispielen in- Steg sagt, die Politik habe ihren eigenen HipHop-Generation. Die beiden Männer schüt- ternationaler Verbrüderung. In jedem Spiel Rhythmus, der sich von außen nicht ver- teln brüderlich die Hände und lächeln sich ohne deutsche Beteiligung feuern die Einhei- ändern lasse, es werde regiert wie vorher zu – ein perfektes Bild. Willkommen in einem mischen wie selbstverständlich eines der bei- auch. Andererseits sei es falsch zu glau- neuen Deutschland. den Teams an. Deutsche im Trikot von Mexiko, ben, die Politik könne die WM für sich Ganz ehrlich, wir hatten etwas anderes erwar- die italienische Fahne schwenkend oder das nutzen, die Begeisterung sei irgendwie um- tet. Doch zum Glück gerät das alte und abge- Gesicht in den Farben Angolas angemalt – so leitbar auf die Politik. „Die Ängste und droschene Stereotyp von den humorlosen, sehen die wahren Fußballfans aus, die diesem Sorgen der Menschen treten jetzt vielleicht steifen und effizienten Deutschen bei dieser Turnier seinen lebendigen Charakter ver- etwas in den Hintergrund“, sagt Steg. WM mächtig ins Wanken. leihen. „Aber das ist schnell wieder vorbei. Darauf Okay, vielleicht übertreibe ich. Deutschland Die Grenzen nationaler Identität bekommen kann man nichts bauen.“ versteht immer noch etwas von effizienter Or- etwas Fließendes. Und lockern sich. Schade Die eigentliche Bundespressekonferenz ganisation, und das macht den Besuch dieses nur, dass sich das noch nicht bis zum letzten findet jetzt beinahe täglich im ICC in Ber- Turniers zu einem Vergnügen. Die Infrastruktur biersaufenden, rotgesichtigen englischen Fan lin statt. Derzeit ist es das „DFB-Medien- ist ausgezeichnet, in jeder Stadt gibt es prak- herumgesprochen hat. zentrum“. Hier spricht Bundestrainer Jür- tische Wegweiser für die Fußball-Touristen. Eine Es war ganz leicht, hier mit dazuzugehören. Ich gen Klinsmann zu den Journalisten. Hier überaus freundliche Geste war außerdem die fühle mich in Köln schon so wohl, dass mir werden die Sätze gesagt, die Deutschland Hitzewelle, denen die ersten WM-Spiele ihre der Text von „Viva Colonia“ praktisch fehlerfrei elektrisieren. Und von hier wird auch der sonnige Atmosphäre verdankten. Ihr denkt ein- von den Lippen geht. Ich kenne schon Leute Patriotismus befeuert. fach an alles! und meine lokalen Anlaufstellen. Der Ort hat Am Mittwoch vor dem Spiel gegen Po- Doch die Organisation ist mich wirklich gepackt. Und das, obwohl ich len sagte Klinsmann im Medienzentrum: nicht der prägende Ein- Deutschland aufgrund meiner Erziehung in Eng- „Es ist schön zu sehen, dass man einen ge- druck dieser WM Deutsch- land und meiner jüdischen Herkunft bisher meinsamen Traum hat. Ich kenne das aus land 2006, den wir nach nicht gerade als Ferienland Nummer eins be- den USA. Am Unabhängigkeitstag, am 4. Hause nehmen werden. trachtet habe. Wieder die alten Stereotypen! Juli, hängen überall die Fahnen. Ja, das ist Der Geist dieser WM kris - Aber es könnte mir nicht besser gehen als hier. schön. Ich häng dann die deutsche raus.“

Wird nun ganz Deutschland von Klins- / NB PICTURES SOPHIA EVANS Amy Lawrence, 34, Sportreporterin des „Observer“, London mann amerikanisiert? Mit der Mannschaft

der spiegel 25/2006 71 Titel allen Städten ist eine einzige Party“, das sagte Klinsmann nach dem 1:0 gegen Po- len, nach seinen Hüpfern vor der Trainer- bank, dem Schlusspfiff, „diesen Momen- ten, die man nicht vergessen wird“. Die Mannschaft ist jetzt das Zentrum, von der die gute Stimmung abstrahlt ins Land. Klinsmann, der außer Michael Bal- lack keine Stars in seinen Reihen hat, woll- te ein Kollektiv schmieden, eine Einheit. Das ist ihm bislang gelungen. Und mehr noch: Solange die Mannschaft Erfolg hat, eint sie auch das Land. Es ist tatsächlich eine Stimmung der Ein- heit, die Deutschland erfasst hat. Und das ist neu, denn bei den Debatten der ver- gangenen Monate ging es mehr um Unter- schiede, um Unvereinbarkeiten. Es ging

um eine Unterschicht, deren Kontakt zum / REUTERS SHAUN BEST gesellschaftlichen Leben abgerissen wur- de. Es ging um Einwanderer, die sich den Landessitten nur schwerlich anpassen. Es ging um Ostdeutsche, die immer noch nicht in der Bundesrepublik angekommen sind. Diese Gruppen vereinen sich nun während der WM, in den Stadien und vor den Leinwänden. Es ist die 64. Minute, als die Fans auf den Rängen merken, dass Deutschland Unter- stützung braucht. Es steht 0:0, die Polen scheinen stärker zu werden, das Spiel könnte kippen. Aus der Ostkurve, Oberrang, schallt es „Deutschland, Deutschland“, die Rufe breiten sich aus über die ganze Arena, wer- den immer lauter, dann taucht plötzlich der junge David Odonkor auf dem Bild- schirm auf. Er wird gerade eingewechselt, und die Menschen im Stadion stehen auf, schreien, trampeln. Dies ist nicht das Westfalenstadion in Dortmund. Dies ist die Arena in Berlin.

Adidas hat eine kleine Kopie des Berliner UWE SPECK / WITTERS Olympiastadions auf die Wiese vor dem Fans aus Brasilien, Schweden, Trinidad und Tobago, der Schweiz: Wie eine impressionistisch Reichstag gebaut, eine Arena aus Plastik und Stahl, mit Kunstrasen, mit Oberrang sie suchten Tickets. Im Abendrot funkelte Lagerfeuer, um das man sich auf der Suche und Unterrang, mit Platz für rund 10000 die Inschrift „Dem Deutschen Volke“ über nach Wärme schart, und der Fußball zum Menschen. Die Karten kosten drei Euro, ei- dem Reichstagsportal, der Anpfiff rückte Kleber einer Gesellschaft, die auseinan- gentlich. näher, und auf dem Schwarzmarkt kletter- derdriftet. Für die Dauer eines Turniers in- Kurz vor dem Anpfiff standen viele Fans ten die Preise. teressieren sich Hartz-IV-Empfänger, In- mit kleinen Pappkartons vor dem Eingang, Einige bezahlten am Ende 40 Euro für vestmentbanker und Intellektuelle für das- ein Ticket, 40 Euro, um Fußball im Fern- selbe. Im Jubel sind die Grenzen sozialer UMFRAGE: WM-NIVEAU sehen gucken zu dürfen. Es ist nicht mal Herkunft verwischt. eine große Leinwand, auf die sie starren. In Im Jubel lösen sich auch Gegensätze „Wie beurteilen Sie, insgesamt jedem deutschen Wohnzimmer kann man zwischen Ost und West auf, indem sich gesehen, das Niveau der bis- vermutlich besser sehen. Aber es geht mancher im Osten plötzlich als Bundes- nicht um Bildqualität. bundesbürger erkennt. herigen Spiele bei der Fußball- Es geht darum, Emotionen zu teilen. Auf dem Augustusplatz in Leipzig, zwi- weltmeisterschaft?“ Kurz vor Spielbeginn, als das Fernsehen schen zwei Großbildleinwänden, zwischen aus Dortmund die Nationalhymne über- mehreren tausend Fans, steht Joachim Er- sehr hoch/hoch 45% trägt, erheben sich in Berlin alle von ihren furt. Er ist ein hagerer, kranker Mann von Sitzen und singen mit. Später klatschen sie 45 Jahren mit eingefallenen Wangen und durschschnittlich 48% rhythmisch, sie lassen La Ola, die Welle, einem wild wuchernden Vollbart. kreisen, sie toben und kreischen und zit- Erfurt kennt den Augustusplatz gut, er 7% eher enttäuschend tern und freuen sich. ist montags oft hier und demonstriert ge- Sie bezahlen 3 oder auch 30 Euro, um gen Hartz IV. Erfurt ist einer der Unent- mit ihren Emotionen nicht allein zu sein, wegten, der Verzweifelten, die immer noch TNS Infratest für den SPIEGEL vom 13. bis 15. Juni; rund 800 Befragte; um andere zu hören, zu sehen und zu gegen die Zumutungen des globalisierten spüren. So wird die Großbildleinwand zum Deutschland protestieren. Aber er ist nicht

72 der spiegel 25/2006 Togoer, in Herzogenaurach die Argenti- nier, in Rotenburg/Wümme die Jungs aus Trinidad und Tobago. Kleine Orte, die wichtig werden durch die WM, weltoffene, freundliche, plötzlich internationale Dör- fer. Global Villages. Neuruppin bleibt ein Local Village, die Neuruppiner bleiben unter Neuruppinern. Kurz bevor die WM losging, wurde der Begriff der No-go-Area geboren. Es ging um Reisewarnungen, um Gefahren für Ausländer und ausländisch Aussehende, um Gegenden, die man besser meiden soll- te, als Schutz vor rassistischen Überfällen. Gerade auch als WM-Tourist. Die No-go- Area war sehr groß, ein Begriff wie die alte Trennlinie, mitten durchs Land: Ost- deutschland und Teile Ost-Berlins.

BERND THISSEN / DPA Neuruppin ist damit auch No-go-Area. Erst kam keine WM-Mannschaft. Dann warnte man die Touristen. Die Welt sollte zu Gast bei Freunden sein, aber besser nicht überall in Deutschland. Die Frage ist, was man aus so einer Lage macht. Ob man überhaupt noch mitmacht bei der WM. Erhard Schwierz, Neuruppiner Stadt- verordneter, baute einen WM-Garten auf dem Karl-Kurzbach-Platz mitten in der Stadt unter schönen Kastanienbäumen, eingerahmt mit Schilfzaun. Er stellte eine Großbildleinwand auf, zwei Bierstände, einen Essensstand, neben dem ein schwar- zes Schild hängt: „Jeden Tag ein landes- typisches WM-Gericht. Heute: Ukraine, ukrainische Soljanka. Polen: Krakauer mit Kraut“. Es ist wohl das, was man tun konn- te, um die Weltmeisterschaft nach Neu- ruppin zu holen: Public Viewing und WM- Essen. Letztendlich aber hängt alles vom deutschen Team ab. Bei Schwierz wird jedes Spiel übertra- gen. Nach Deutschland gegen Costa Rica

MICHAEL STEELE / GETTY IMAGES MICHAEL STEELE hat er das Areal vergrößert. Nach der Vor- gemalte Frühlingswiese runde will Schwierz noch mal überlegen, ob der Platz reicht. Aber nicht immer ist glücklich über seine Zugehörigkeit zu die- Leipziger Fußgängerzone mit ihrer Natio- der Garten voll. Die Brasilianer laufen ser Gruppe. Er empfindet sie als Zwangs- nalhymne beschallten. noch ganz gut. Aber vor allem läuft mitgliedschaft, die ihm vom deutschen Joachim Erfurt gefiel, was er sah und Deutschland. In Wangen können sie zur Staat aufgezwungen wurde. hörte. Er wollte dazu gehören, er kaufte Not zu Togo halten. In Rotenburg für Tri- Erfurt würde gern Teil von etwas ande- sich eine schwarzrotgoldene Blumenkette, nidad und Tobago schreien. Neuruppin hat rem, etwas Positivem sein, aber er weiß eine Mütze mit der deutschen Flagge und nur das eigene Team. Deutschland. Solan- nicht, von was, und so kam er erst einmal scheint nun ein wenig verwundert zu sein ge die Mannschaft drin bleibt, ist es keine hierher, auf die Leipziger Fanmeile, kauf- über seine Verwandlung vom Kritiker West-WM, ist man nicht ausgeschlossen, te sich eine Tröte, blies hinein mit seiner Deutschlands zur Werbefigur für Deutsch- sondern dabei. Ist man Local Village, aber halben Lunge, sah sich um und sah fast land. Doch er fühlt sich gut. Er ist ein biss- trotzdem in Deutschland. nur junge Leute, darunter erstaunlich vie- chen angekommen. Die Mannschaft ist das Bindeglied, zu- le Mädchen und junge Frauen – und sehr, Das geht in Leipzig besonders gut, weil ständig für das Einheitsgefühl in einem ge- sehr viele deutsche Flaggen. Leipzig WM-Stadt ist. In Potsdam logiert spaltenen Land. Wahrscheinlich ist die Die Stimmung war nicht aggressiv, nicht die Mannschaft der Ukraine, aber der Rest Sehnsucht nach dem Sieg nirgendwo so einmal kämpferisch und auch nicht muffig Ostdeutschlands ist ausgeschlossen von der groß wie im Osten. Zwei der besten deut- wie am Stammtisch. Es war eher eine Par- WM, muss sich in den Westen begeben, schen Spieler kommen von dort, Michael ty, eine entspannte Party, zu der jeder ein- um teilnehmen zu können. Ballack und Bernd Schneider. geladen war, gleich welcher Nationalität. Auch Neuruppin in Brandenburg hatte Der Westen war dreimal Weltmeister. Ein Spanier spielte auf seiner Trompete sich als Gastgeber für eine Mannschaft be- Für den Osten könnte es ein 54er Gefühl die deutsche Nationalhymne, Deutsche be- worben, mit dem neuen Vier-Sterne-Hotel werden. Ein Aufstehen. Oder ein Selbst- jubelten russische Kosaken und ihr „Ave und dem Fußballplatz der Oberligamann- finden. Ein Wir-Werden. Oder ein Anti- Maria“, und niemand störte sich an den schaft, dem kurzen Weg nach Berlin, 80 Depressivum. All das. Ukrainern, die mit einem mächtigen VW Kilometer, und dem schönen See. Aber In der Stadt, im WM-Garten, ist das zu Touareg aus Kiew anreist waren und die niemand kam. In Wangen feiern sie die spüren. Fähnchen, Fahnen, geschminkte

der spiegel 25/2006 73 ginnt, läuft Akes schnell in ein Hinter- zimmer und holt Zigaretten, er zündet hastig eine an und zieht nervös daran. Er ruft Bernd Schneider zu „Wechsel doch mal die Seite!“ und beschwert sich, dass Ballack das Spiel nicht an sich reißt. Er zieht seinen schwarzrotgoldenen Hut ab und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Als die Deutschen in der 90. Minute zwei- mal die Latte treffen, sinkt er in sich zu- sammen und begräbt den Kopf zwischen den Händen. Er sieht aus wie jemand, der viel Geld auf Deutschland gewettet hat. Vor Akes stehen ein paar Dutzend türkische und arabische Männer unter schwarzrotgoldenen Girlanden, ihre Blicke

THOMAS GRABKA THOMAS springen hin und her zwischen den Bild- WM-Übertragung im brandenburgischen Neuruppin: Local Village in der No-go-Area schirmen, auf den einen wird das Spiel übertragen, auf den anderen blinken die Gesichter, Hüte, alles Schwarz-Rot-Gold. er Deutschland meint, und manchmal sagt Quoten. Sie fluchen, wenn den Deutschen Euphorie. Man ist auch WM-Stadt. Man er „die Deutschen“, als hätte er mit diesem etwas misslingt, und rufen: „Was spielst du, ist auch patriotisch. Erhard Schwierz sagt: Volk nichts zu tun. „Ich habe eine emo- Mann!“ Als der Bad Oeynhausener Frie- „Ein bisschen Stolz schwingt mit. Hätte ich tionale Bindung zu Deutschland“, sagt er drich gegen den Halbghanaer Odonkor nicht gedacht.“ und wackelt mit seinem schwarzrotgolde- ausgewechselt wird, rufen sie: „Endlich!“ Etwas Ähnliches könnte auch Erkan nen Hut. „Doch dieser unüberlegte Pa- Als Neuville das erlösende Tor für Akes sagen. Am Kottbusser Tor in Berlin- triotismus, wir sind die Größten, wir sind Deutschland schießt und die Türken und Kreuzberg sitzt er in einem Gebäude, das die Stärksten, damit kann ich mich nicht Araber die Arme in die Luft werfen und sich wie eine Pforte zur Zukunft über die identifizieren, weder in Deutschland noch die Fäuste ballen und „Jaaaaaa!“ schreien, Adalbertstraße spannt, und zupft an sei- in der Türkei. Ich denke dann immer: kommt Akes aus dem Hinterzimmer ge- nem schwarzrotgoldenen Hut. Jungs, Patriotismus okay, aber vergesst un- laufen und blickt fassungslos auf den Bild- In wenigen Minuten wird Deutschland sere Geschichte nicht.“ schirm. Er hat den entscheidenden Mo- gegen Polen spielen, Hände recken sich In gewisser Weise ist Akes ein Mann ment des Spiels verpasst. „Deutschland ge- Akes entgegen, sie wedeln mit Geldschei- ohne Land. Er hätte gern einen deutschen winnt“, sagt Akes, der Türke, der gern nen, Zehnern, Fünfzigern, Hundertern, sie Pass, und er könnte ihn haben. Doch er hat Deutscher wäre, „und ich bin beim Pin- gehören Männern, die aussehen wie das in der Türkei seinen Militärdienst nicht ab- keln auf der Toilette.“ Deutschland der Zukunft, dunkler, unra- solviert, „weil ich nicht lernen will, wie Das Spiel ist aus, und wieder recken sich sierter, und sie setzen auf dieses Land, sie man Menschen umbringt“. Wenn er sich Akes Hände entgegen. Die Türken wedeln glauben an seinen Sieg. ausbürgern lässt, fürchtet er, wird die Tür- mit ihren Wettscheinen. Ihr Land hat ge- Akes nimmt die Scheine aus ihren Hän- kei ihn einige Jahre nicht mehr ins Land wonnen, sie verlangen ihren Anteil. den, er blickt auf den Bildschirm seines lassen. Deutschland wirkt dieser Tage einig wie Computers und ruft ihnen die Quoten zu. Auf dem Bildschirm hinter Akes singen selten zuvor, aber es ist nicht nur die in- Für jeden Euro, den sie auf Deutschland die deutschen Spieler die Nationalhymne, nere Einheit, die sich hier vollzieht. Denn setzen, werden sie bei einem Sieg 1,50 alle bis auf den gebürtigen Polen Podolski. während sich Deutschland zur WM eint, Euro bekommen, es ist keine gute Quote, „Früher habe ich mit der deutschen Mann- öffnet es sich nach außen und sucht die für einen Sieg der Polen würden sie 7,50 schaft mehr mitgefiebert“, sagt Akes, „ich Einheit mit der Welt. Euro bekommen. Doch sie glauben ir- mochte Spieler wie Breitner, Bein, Litt- Ralph Huber ist 41 Jahre alt, trägt eine gendwie an Deutschland, es scheint ihnen barski. Heute spielen die so gerade. Die rahmenlose Brille, Kurzarmhemd. Eigent- ein Risiko wert zu sein, ein gutes Spekula- Deutschen haben zu wenige Ideengeber.“ lich ist er der Geschäftsführer der Dort- tionsobjekt. Es klingt ein bisschen nostalgisch, ein munder und sitzt im Ver- Akes setzt nicht auf Deutschland, er darf bisschen distanziert. Doch als das Spiel be- waltungsgebäude. Aber jetzt ist WM, das als Mitarbeiter des Wettbüros nicht, Deutschland spielt am Abend gegen Po- auf kein Land darf er wetten, und es ist UMFRAGE: WM-DEUTSCHLAND len, und wenn WM ist, ist alles anders, vielleicht keine schlechte Bestimmung. auch für Huber. Akes mag es nicht, auf ein Land zu setzen. „Inwiefern wird die Fußball- Huber ist jetzt Herbergsvater der größ- Akes wurde vor 34 Jahren in Erzincan weltmeisterschaft das Bild von ten Herberge der Welt. Huber hat Platz im kurdischen Osten der Türkei geboren. für 4000 Fans jede Nacht, es gibt Anmel- Sein Vater lebte damals schon seit einigen Deutschland und Deutschen im dungen aus 37 Nationen. Seine Herberge Jahren in Deutschland, er arbeitete anfangs Ausland verändern?“ ist ein Fan-Camp. Das Camp vereint die in Wetzlar auf dem Bau, dann im Materi- Welt unter Abzugsrohren auf Steinboden. allager der Berliner Polizei. Vier Monate wird positiver 54 % In fünf Messehallen stehen die Betten, nach der Geburt des Sohnes holte der Va- Doppelstockbetten, wie sie die Bundes- ter seine Frau und die Kinder nach wird bleiben, wie es ist 41% wehr im Ausland hat. Es sind immer zwei Deutschland. Es ist auf den ersten Blick Betten von den nächsten zwei Betten durch die klassische türkische Einwandererge- 1% wird negativer Stellwände getrennt. Die Wände sind aus schichte. Spanholz, sie wackeln, sie sind nicht mehr Akes wirkt wie ein Mann, der irgendwie TNS Infratest für den SPIEGEL vom 13. bis 15. Juni; als ein Sichtschutz. rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: angekommen ist und immer noch seinen „weiß nicht“/„egal“ Huber wollte das so. Er hat das einein- Ort sucht. Manchmal sagt er „wir“, wenn halb Jahre lang geplant. „Alle sind zu-

74 der spiegel 25/2006 Titel WALTRAUD GRUBITZSCH / DPA (M.); / DPA GRUBITZSCH / DDP (R.) WALTRAUD MICHAEL GOTTSCHALK BERNHARD KREUTZER Patriotische Gefühle in Weinheim, Leipzig, Köln: „Ein bisschen Stolz schwingt mit“ sammen“, sagt er. Sie kommen aus dem Meditationsraum. Den „Prayers-Room“ kommen, um Spaß zu haben, „Fun“, wie Stadion, schlafen nebeneinander, werden betreiben die katholische und die evange- sie sagen. wach nebeneinander, duschen, früh- lische Kirche in Dortmund. Es sind auch Sie spielen sonst Karten, „66“, „in die stücken. In Halle 5 stehen 1500 Stühle Teppiche ausgerollt, schmale Läufer, mit Kasse rein“. Zweieinhalbtausend Euro lie- dazu bereit. Gebetsbänken darauf. gen in der Kasse, und die setzen sie jetzt Matias, 18, der mit seinem Onkel aus Es klappt, was Huber wollte. um in Bier. Vorher besprühen sie sich mit Rosario, Argentinien, gekommen ist und Am Wochenende feierten die Schweden Deo, packen ihre Decken aus, geblümte das Spiel seiner Mannschaft gegen Serbien- nach dem 0:0 mit den Fans aus Trinidad Kissen, Fanartikel zum Anziehen, Aufset- Montenegro sehen wird, liegt auf dem und Tobago. Im Keller der Halle, in dem zen und Aufblasen. Sie holen Baseball- Platz mit der Nummer 7.25 A neben ei- ein „Africa-Centrum“ eingerichtet ist, ha- schläger in Deutschlandfarben raus, auch nem Deutschen und einem Neuseeländer. ben Schweden afrikanisches Starkbier ge- zum Aufblasen. Sie hauen sich damit die Am Tisch in Halle 5 spricht Tomohiro, 24, trunken, Kochbananen gegessen und Ma- Köpfe ein, lachen. Sie singen Udo Jürgens Student der Ökonomie aus Tokio, mit Wer- niok. Die Afrikaner aßen Bratwurst, Le- dabei, „Ich war noch niemals in New York, ner Deeken, 58, Angestellter aus Papen- berkäse. ich war noch niemals richtig frei“. burg. Tomohiro trinkt Bitburger-Bier aus Es ist schon am Abend, als sieben gut- Feiern ist befreien. Deutschland befreit Dosen, und Werner Deeken raucht HB. gelaunte Jungs vom Bodensee einziehen sich gerade von sich selbst. So unter Deut- Zum Frühstück gibt es nur Käse, Mar- in das Camp, Handwerker, Kaufmänner. schen war es ja immer ein bisschen lang- melade, Honig, keine Wurst mit Schwei- Hinter ihnen liegen acht Stunden Zugfahrt. weilig. Spätestens seit der Romantik war nefleisch. „Wir wollten Konflikte vermei- Sie bleiben drei Tage und haben nicht mal man dazu verdammt, eine verträumte, ver- den“, sagt Huber. In Etage eins liegt der Karten für eines der Spiele. Sie sind ge- grübelte Nation zu sein. Man hockte im Krähwinkel der Welt und machte sich so allerlei schwere Gedanken über sich selbst. „24 HEURES“, ABIDJAN (ELFENBEINKÜSTE) Die guten Partys gab’s woanders. Die jungen Deutschen wissen das. Sie waren So saubere Züge schon in New York. Sie sind längst glo- balisierte Partygänger, und jetzt sind sie Ich bin zum ersten Mal in meinem Leben in Eu- freundlich und hilfsbereit. Wenn ich mich mal die Gastgeber. Da wollen sie nicht gries- ropa. Über Deutschland wusste ich eigentlich verlaufe, erklären sie mir geduldig den Weg. grämig sein. Während einer WM heißt nur, dass es das Land von Franz Beckenbau- Beim ersten Training unserer Mannschaft in Globalisierung auch: Wettstreit der Hei- er ist und eine mächtige Wirtschaftsnation. Troisdorf waren 3000 Fans, sie haben gejubelt, terkeitskulturen. Die Deutschen machen Zur Vorbereitung auf die Weltmeisterschaft Fahnen geschwungen. Es hat mich überrascht, kräftig mit. habe ich viel gelesen über Deutschland. Das mit welcher Selbstverständlichkeit die Deut- Am besten sind dabei, wie vermutet, die meiste im Internet. Es heißt, Ausländer haben schen jede Mannschaft unterstützen, nicht nur Kölner. Als Angola und Portugal müde in es hier schwer, die Integration funktioniert die eigene. Fasziniert bin ich von Deutsch- Köln kickten, sang die deutsche Ecke be- nicht. Und dann die Neonazis im Osten. lands Eisenbahn. Wenn sie um 9.46 Uhr ab- geistert „Viva Colonia“. Dann stand man Als ich in München angekommen bin, hatte ich fahren soll, fährt sie auch tatsächlich um 9.46 auf, klatschte und rief: „Steht auf, wenn ihr deshalb große Angst vor rassistischer Gewalt. Uhr ab. So einen sauberen Zug wie den ICE Deutsche seid.“ Das ließen sich 10 000 Ich habe mit meinen ivorischen Kollegen aus- habe ich noch nie gesehen. Angolaner nicht zweimal sagen. Animiert gemacht, dass wir uns nur in der Gruppe be- Mir gefällt es, dass die Deutschen ihre Autos von so viel Feierlust standen sie auf und wegen und im Dunklen gar nicht auf die Straße mit schwarz-rot-goldenen Fähnchen schmü- klatschten mit. Nun ist zu klären, ob sie gehen. Wir haben uns geschworen, sehr cken und Flaggen in die Fenster hängen. Ich sich damit das Recht auf Einbürgerung er- zurückhaltend zu sein, nur ja niemanden zu empfinde das nicht als bedrohlich, halte es worben haben. provozieren. Inzwischen nicht für patriotisch oder gar nationalistisch. Am liebsten aber öffnen sich WM-Deut- weiß ich, dass meine Sor- Die Fahnen sind eher eine Partydekoration. sche den Brasilianern. Königstein im Tau- gen unberechtigt waren. Trotzdem symbolisiert die Deutschland-Fahne nus, wo die brasilianische Mannschaft Ich fühle mich sicher in etwas Schönes: Sie soll zeigen, dass man Quartier genommen hat, war sofort bereit, Deutschland, fühle mich stolz darauf ist, dieses wunderbare Fußballfest sich in eine brasilianische Stadt zu ver- wohl. Die Leute hier sind austragen zu dürfen. wandeln. Nahezu jedes Geschäft schmückt sich gelbgrün, die Burg über der Stadt wur-

THOMAS EINBERGER / ARGUM THOMAS Ollo Kambire, 36, Redakteur der Tageszeitung „24 heures“, Abidjan de mit Fußballplakaten verhängt, und man hätte vermutlich den Großen Feldberg als

76 der spiegel 25/2006 KARL-JOSEF HILDENBRAND / DPA KARL-JOSEF HILDENBRAND Fan-Haus in Unterfranken: Deutsches Idyll

Markovits. Denn sind die Brasilianer her- vorragende Fußballer, damit Rivalen. Es ist kurz vor 15 Uhr, draußen errei- chen erste Fans das Westfalenstadion, und ein paar Kilometer weiter, im Senatssit- zungssaal der Uni Dortmund, Campus- Süd, spricht Markovits über Fußball in Zei- ten der Globalisierung. Es ist der Tag sei- ner Ernennung. Deshalb spricht er. Markovits kennt sich gut aus mit Fußball und den Theorien dazu. Er sagt, er habe seine Leidenschaft akademisch umgesetzt. Er steht vor einem Rednerpult, er trägt dunkelblauen Anzug, hellblau gestreiftes Hemd, sein Haar ist grau und dünn und im Nacken lang. Markovits hält sich fest am Rednerpult, er wiegt sich daran, er schließt die Augen manchmal, er beschreibt, was er sieht. Die Grenzen zwischen den Ländern sind verblasst, der moderne Mensch denkt

A. KNOTH / BABIRAD PICTURE / BABIRAD A. KNOTH groß. Aber jetzt ist WM, und alles ist an- Fernsehkommentator Netzer: Ein Fähnchen als Antidepressivum ders. Der Mensch fällt zurück. Er wird Fan. Andrei Markovits ist 58 Jahre alt, Poli- Zuckerhut verkleidet, wenn die Natur- Warum gerade die Vereinigung mit Bra- tikwissenschaftler und Soziologe, und er schutzbehörde das erlaubt hätte. silien so leicht fällt, versucht Andrei Mar- hat eine These. Er sagt: „Der Fußball ist Immerhin gibt es nun täglich ein kovits zu erklären, ein Professor für Poli- globalisiert, der Fan ist es nicht.“ Er erklärt deutsch-brasilianisches Fest auf dem tikwissenschaften aus Michigan und derzeit diese These. Er macht das laut und leiden- Marktplatz. Ein Wagen für Apfelwein steht Gastprofessor für Fußballstudien an der Uni schaftlich. Er ist so ein Typ, voll dabei. neben einem Wagen für Caipirinha, und Dortmund: „Brasilien ist eine ‚default‘- Die Spieler wechseln von Verein zu Ver- durch die Stadt mit dem vielen Fachwerk Mannschaft, eine Mannschaft, der man sich ein, über die Grenzen hinweg. Das ist dröhnen ständig die Trommeln der Samb- hingibt, wenn das eigene Team verloren schon lange so, der Fußball hat sich längst abands, die auf der kleinen Bühne halb- hat“, sagt er. Die Menschen denken an ein globalisiert. „Aber heute Abend“, sagt nackte Tanzgruppen begleiten. Davor ste- harmloses Land ohne einen bösen Präsi- Markovits, „werden alle hier für Deutsch- hen die Königsteiner, sehen die kreisen- denten. „Es ist der Gefühlshaushalt des land sein.“ Es werden Hymnen gesungen, den Hüften und wippenden Brüste und Fans, der sich über die Logik stellt“, sagt Flaggen gehisst, nationale Ikonen. Es ist gucken drein, als würden sie gerade ihr eine Art, sich auszudrücken und zu sagen: Paarungsverhalten überdenken. UMFRAGE: NATIONALGEFÜHL Ich bin Deutscher. „Der Gefühlshaushalt Königstein ist derzeit die nördlichste ist total nationalisiert“, sagt er. brasilianische Stadt der Welt, aber außer „Werden die Deutschen nach Der Gefühlshaushalt ist der Grund, war- Tänzern und den unsichtbaren Fußball- der Fußballweltmeisterschaft ihr um der Fan so weit weg ist davon, globali- spielern gibt’s keine Brasilianer. Die Tou- siert zu sein. „Aber er kann nichts dafür“, risten, die kommen sollten, um ihre Nationalgefühl stärker als früher sagt Markovits. „Er fühlt, was er kennt.“ Mannschaft zu besuchen, sind nicht ge- zum Ausdruck bringen?“ Er kennt sein Land, das Essen, da hat kommen. Nicht nach Königstein. Und jetzt er Freunde, da hat er sich das erste Mal feiern die Königsteiner jeden Tag und un- JA 22% verliebt. beirrt tapfer ein brasilianisches Fest mit Also gibt es keinen neuen Pa- sich selbst. NEIN 72 % triotismus? Nur etwas Euphorie? Damit sind sie ein Beispiel dafür, dass Oder nicht mal die? Immerhin sich Deutschland als Gastgeber sehr gut TNS Infratest für den SPIEGEL vom 13. bis 15. Juni; gibt es eine Steigerung. Vor vier rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: schlägt bei dieser Weltmeisterschaft. Man „weiß nicht“/„egal“, keine Angabe Jahren fuhr kaum jemand mit einer Flag- vollzieht die Einheit mit der Welt. ge an seinem Auto über Straßen.

der spiegel 25/2006 77 „Gut“, sagt Markovits, der selbst in Rumänien ge- boren wurde, in Wien auf- wuchs, in New York stu- dierte und Amerikaner ist, nach seinem Vortrag bei ei- ner Cola, „eine WM im ei- genen Land erhöht den Af- fekt von Nation noch. Die Nation, Deutschland also, ist in diesen Wochen beson- ders akut.“ Andrei Markovits sagt, er habe Angst vor jeder Art von Nationalismus. Es habe selten etwas Gutes gebracht. Für den Verein zu brüllen sei in Ordnung. „Es ist nicht so atavistisch“, sagt Marko- vits. Aber mit einem neuen, nationalistischen Deutsch- land rechnet er nicht. Nach dem 9. Juli werde der Af-

fekt weg sein. „Ich glaube IMAGES / ACTION / PIXATHLON MORTON ALEX nicht an eine Nachhaltig- WM-Spiel Argentinien gegen Serbien und Montenegro*: Weltereignis, dem man sich nicht entziehen kann keit.“ Es gibt aber auch die Deutung, dass sich ges Haar und ein Streifenhemd. Im März deshalb nicht. „Ich hasse Fahnen jeglicher nicht viel verändern wird durch die WM, ist von ihm das Buch „Die geglückte De- Art“, sagt Wolfrum. Zum Deutschlandlied weil sich schon viel verändert hat. Das mokratie“ erschienen, eine Geschichte der sagt er: „Die Strophe, die wir haben, finde große deutsche Feiern sei nur ein Aus- Bundesrepublik. ich eigentlich schön, aber mitsingen? Ich druck dieser Veränderung. Schon der Titel zeigt, dass Wolfrum ge- weiß nicht.“ Angeblich gibt es einen neuen Patriotis- willt ist, einen positiven Blick auf dieses Aber er traut sich, ein Wort zu sagen, mus des Herzens, eine Liebe zum Land, Land zu werfen. Ein jubelnder Patriot ist er das im Zusammenhang mit Deutschland die sich im Fahnenschwenken in und „Deutschland, Deutschland“-Rufen zeige. Vor allem die kleineren Leute hätten ge- „L’ÉQUIPE“, PARIS spürt, dass sie von der Globalisierung nur Härten zu erwarten hätten. Deshalb wen- Nächtliches Ballett deten sie sich wieder der Nation zu. So liege dem Jubel für die deutschen Erfolge Am vergangenen Dienstagabend war ich mit Deutschland – und das wird diejenigen er- ein Gefühl der Rührung zugrunde. einem Kollegen in Berlin am Brandenburger Tor. staunen, die Deutschland noch nicht kennen Das mag es geben. Wer aber im Lande Inmitten 200 000 dicht gedrängter Menschen, – hat sich seit Monaten auf sein Rendezvous rumreist, wer in den Stadien ist und wer die Brasilien gegen Kroatien vor einer der gi- mit der Welt konzentriert, auf der Straße, in sich vor den Großleinwänden rumtreibt, gantischen Leinwände verfolgten. Man ist uns den Zeitungen, im Fernsehen. In Frankreich, so hat eher den Eindruck, dass die große Mas- auf die Füße getreten, hat uns Bier aufs Hemd erinnert man sich, waren die Gruppenspiele se einfach nur feiern will. Die Fahne oder geschüttet und immer wieder geküsst und um- mit einer gewissen Distanz abgelaufen. Die das Trikot ist weniger Ausdruck von Pa- armt, als Kaká getroffen hat. Später, als wir Straßen waren nicht kunterbunt, es war ein ru- triotismus als von Partywillen. Wer dabei gemächlich zum Hotel gingen, sahen wir, wie higer Durchlauf, kein Stadion war wirklich voll. sein will, muss Farben zeigen. die Flaggen beider Nationen sich zu einem Viele der französischen Journalisten können in Die Nationalfarben sind nach dieser nächtlichen Ballett vermischten, wie die Gar- Deutschland nun die wahre Leidenschaft eines Deutung zwar Zeichen von Zugehörigkeit, tenlokale sich gefüllt haben, spät in der Nacht. Volkes für einen Sport entdecken – und den aber nicht so sehr zu einer Nation, sondern Tags darauf, in Dortmund, erlebten wir den Platz, den man ihm einräumt. mehr zu einem internationalen Partykon- ungeheueren Energieausbruch mit, durch den Es liegt eine Welt zwischen dem Modeeffekt, gress, der derzeit in Deutschland tagt. In die deutsche Nationalmannschaft Polen in den den der französische Sieg 1998 dargestellt der guten Laune steckt auch ein Schuss Pa- letzten Minuten in die Knie zwang. Wir haben hat, und der Kultur des Sports, und insbe- triotismus, aber der ist nur für ein Partyer- gespürt, wie ein ganzes Volk seine Mannschaft sondere des Fußballs, die in Deutschland re- eignis abrufbar, nämlich für die Spiele der zum Sieg geführt hat. Und wir haben in diesem giert. Jeder Tag, der vergeht, beweist mir dies deutschen Mannschaft. Wenn demnächst Moment an 1998 gedacht, wie sich Frankreich ein wenig mehr. Deutschland empfängt die deutsche Soldaten in den Kongo aufbre- schließlich erhoben hat, um sich vor Zinedine Welt mit Herzlichkeit, mit einem Lachen und chen, werden nicht Zehntausende die Zidane und seinen Mannschaftskollegen bei bedient sich des Fußballs als einem großarti- schwarzrotgoldenen Fahnen schwenken, der Besteigung des Sie- gen Bindeglied. Deutschland ist dabei, einigen die sie für die WM angeschafft haben. gertreppchens zu ver- Leuten Lust zu machen für eine Wiederkehr – Aber auch diese Leichtigkeit ist nur beugen. etwa um andere kulturelle Reichtümer dieses möglich, weil sich etwas verändert hat. Das Uns wurde klar, was die Landes zu entdecken. Und das wäre, unab- ist bei Edgar Wolfrum zu erfahren, Profes- beiden Ereignisse vonein- hängig vom Abschneiden der Klinsmann-Elf, sor für Geschichte in Heidelberg. Er ist 46, ander unterscheidet. Denn ein wahrer Sieg Deutschlands bei dieser WM. also recht jung für diesen Job. Er trägt lan- Jean-Marc Butterlin, 52, Reporter von „L’Équipe“, Paris * Vergangenen Freitag beim 6:0 in Gelsenkirchen.

80 der spiegel 25/2006 Titel eigentlich verfemt ist. Es ist das Wort „stolz“. „Wir können stolz sein auf das Er- reichte“, sagt Edgar Wolfrum. Es ist der Sprung vom Dritten Reich zu einer Demokratie, in der die Institutionen stabil funktionieren und die sich in ihrer Außenpolitik um Ausgleich und Entgegen- kommen bemüht. „Es gibt kaum ein Volk auf der Welt, das sich in 60 Jahren so ge- wandelt hat wie Deutschland“, sagt Wolfrum. Da kann man schon mal ein schwarz- rotgoldenes Fähnlein schwenken, ohne sich schlecht fühlen zu müssen. Und das heißt nicht, dass das Dritte Reich vergessen wird, schon gar nicht von dem Historiker Wolfrum. Es ist nur natürlich, dass das deutsche Lebensgefühl an Leichtigkeit ge- winnt, je mehr Jahre mit der geglückten Demokratie gesammelt werden. Deshalb wird nicht dauernd gefeiert, aber die Be- reitschaft, sich gut zu fühlen, wird bleiben. Ein deutscher Spieler, der sich über die- se Dinge Gedanken macht, ist Christoph Metzelder. Am Freitag sitzt er im ICC und erzählt von seinen Gefühlen kurz vor Spielbeginn. „Die Nationalhymne ist für mich der emotionale Höhepunkt eines Länderspiels“, sagt er, diese Minuten mit diesen elf Spielern Seite an Seite „zeigen, dass wir wirklich zusammenstehen“. Wie „peinlich“ sei es früher gewesen, wenn auf den Anzeigetafeln der Text eingeblen- det werden musste – und wie berauschend sei es heute, wenn ein ganzes Stadion so lustvoll singe und so laut wie in Dort- mund. Er habe nicht mal die Instrumente hören können. Christoph Metzelder erlebt in diesen Ta- gen ein anderes Land und eine andere Fuß- ball-Weltmeisterschaft, anders, als er es erwartet hätte. Natürlich, über „Bild“ und alle ande- ren, die eifrig an einer neuen oder doch eher alten Gesinnung arbeiten und darum Ballack beschimpfen wegen seines T-Shirts, „muss man sarkastisch lachen“. Er sagt: „Die Leute denken nicht in den Kategorien Sieg oder Niederlage. Sie ma- chen sich frei davon und genießen, dass wir da sind. Die WM hat sich etwas von uns losgelöst, sie ist das große Fest vieler Kulturen geworden, das sehr, sehr toll und sehr offen zelebriert wird.“ Was ist da passiert, was hat sich geän- dert? Der Fußballer Metzelder glaubt, dass es eine Frage von Generationen sei: „Mei- ne Generation ist ja in einer der stabilsten Demokratien der Welt aufgewachsen. Wir vergessen die Mahnung dieser zwölf Jahre der Nazi-Zeit nicht, wir haben sie im Kopf. Aber wir können unbefangen und un- bekümmert leben, und so können wir auch Fußball spielen.“ DIRK KURBJUWEIT; KRISTINA ALLGÖWER, KLAUS BRINKBÄUMER, UWE BUSE, MARKUS FELDENKIRCHEN, JOCHEN-MARTIN GUTSCH, BARBARA HARDINGHAUS, RALF HOPPE, MARIO KAISER, ANSBERT KNEIP, JÖRG KRAMER, MATTHIAS MATUSSEK der spiegel 25/2006 81 Titel Maskenball der Völker Wer sich eine Woche lang durch Deutschland treiben lässt, erlebt, warum ein Fußballfest zum Volksfest wird. Von Cordt Schnibben

n ein paar Stunden werde ich das kriegen kann. Ich kann es, sorry, nicht Holländer nicht auf den Shirts, dafür ein vierte Mal in acht Tagen ein WM-Spiel anders als hymnisch formulieren: Die paar Wehrmachtshelme in Orange. Ibesuchen, was erwähnenswert ist, weil Menschheit feiert sich selbst in solchen Mo- Etwa 70000 euphorisch kostümierte Nie- die Fifa mir eigentlich nur eine WM-Karte menten, sie feiert ihre Kreativität, sie feiert derländer ziehen durch die Gassen der zugestanden hatte, für das Spiel Saudi- ihre Vielfalt, sie feiert ihr Miteinander. Stuttgarter Innenstadt, bestaunt von deut- Arabien gegen Ukraine in Hamburg. Ich Trotz Kommerz, trotz Funktionärsdik- schen Fans, sie dürfen fotografieren. Viele weiß nicht, wie der Fifa-Karten-Computer tatur, trotz Hooligans, das ist das Geheim- Frauen hüpfen an ihnen vorbei, mit Hühn- das hinbekommen hat, aber ich kenne nis dieser Völkerversammlungen bei Welt- chen in Orange auf den Köpfen, mit künst- viele Leute, die viele Karten bestellt hatten meisterschaften und Olympischen Spielen, lichen Zöpfen, mit tiefen orangefarbenen JOHN MACDOUGALL / AFP JOHN MACDOUGALL HECKER / AFP (R.) (M.); DAVID / GETTY IMAGES MICHAEL STEELE Fans aus Argentinien, der Schweiz, der Elfenbeinküste, Italien, den Niederlanden und Schweden: Die Menschheit feiert sich selbst in solchen und nur Saudi-Arabien gegen Ukraine und wer sich in der ersten Woche dieser Dekolletés. Die drei aus Amsterdam, Ma- sehen werden. WM durch Deutschland treiben ließ, der rie, Anike, Eva, die so ihre Mannschaft un- Ich werde später an diesem Tag Nieder- hat diese Kraft gespürt, die stärker ist als terstützen, haben sich gestern mit dem lande gegen Elfenbeinküste sehen, in Stutt- Fifa-Blödsinn, Medienlärm und Sponso- Auto auf den Weg nach Stuttgart gemacht. gart, darum bin ich schon in der Stadt und renkalkül. Sie gehen seit der WM in Frankreich auf lasse mich von einer Armee in Orange In den Stunden vor dem Spiel in Stutt- Tour, die eine liebt solche Spiele, weil sie durch die Fußgängerzone schieben. Die gart fallen sich immer wieder Menschen in wie Opern sind, die andere schätzt das Karte für dieses Spiel habe ich erst vor vier Orange in die Arme, mal sind es Holländer, Tempo und die Genauigkeit des Spiels, die Tagen bestellt, nachdem ich Argentinien mal sind es Ivorer, mal umarmen Holländer Dritte kann sich immer wieder darüber gegen Elfenbeinküste in der Hamburger Ivorer. Beide Teams tragen Orange, den- wundern, warum es so schwer sein soll, Arena gesehen hatte und mir klar geworden noch kann man die Trikots der Fans aus- den Ball ins Tor zu kriegen. war, dass ich in den nächsten vier Wochen einanderhalten: Die Elfenbeinküste ist zum Jeder findet seinen eigenen Weg zum so viele Spiele wie möglich besuchen muss. ersten Mal bei einer WM, ihre Shirts sind Fußball; Weltmeisterschaften sind die Ein- Ich kann es nicht anders als pathetisch jungfräulich orange; die niederländischen stiegsdroge für Frauen, was mir schon als formulieren: Diese Hamburger Nacht, die- Fans sind erfahrene Schlachtenbummler, 14-Jähriger klar wurde, als meine Schwes- ser Tanz der 22 Spieler, dieser Rausch der ihr Patriotismus wird von Firmen gespon- tern plötzlich in der stickigen Wellblech- Fünfzigtausend muss jeden Menschen süch- sert. Continental verteilt Hüte in Orange, halle an der Ostsee auftauchten, in der ich tig machen, so wie ein Roman süchtig ma- verziert mit halben Reifen, die Biermarke mit Freunden das Endspiel von Wembley chen kann oder ein Konzert oder ein Bild. Bavaria kurze Hosen in Orange mit lan- sah. Auch in diesen Tagen kann man sich Es ist nicht nur die Artistik der Körper, gem Löwenschwanz, Heineken Hüte in mit Frauen, die sonst immer den Kopf die Schönheit des Spiels, die Harmonie der Grün-Orange, die man ausfahren und als schütteln, wenn man mit Air Berlin seiner Mannschaften, es ist die Menschenfreude Megafon nutzen kann. Deutschfeindliche Mannschaft nach Valencia, Mailand oder in der Arena, von der man nicht genug Sprüche, wie sonst immer, haben die Barcelona hinterherfliegt, exzellent unter-

82 der spiegel 25/2006 halten, über den Mittelstürmer der Elfen- Alessandro hat alles versucht, um an Franzosen zehn Karten und verkaufte sie beinküste oder das Mittelfeld der Nieder- Tickets für die Italien-Spiele zu kommen, am Bahnhof für 150 Euro an verzweifelte länder. er hat sich anderthalb Jahre lang der Kar- Italiener. Wer den Fußball wirklich liebt, das ist tenbürokratie unterworfen, er hat in der In Hamburg, vor dem Spiel Argentinien kein Geheimnis, für den sind Länderspie- ersten, zweiten, dritten, vierten und fünf- gegen die Elfenbeinküste, steigt der Preis le langweilig. Keine Nationalelf erreicht ten Verkaufsphase im Internet Formulare bei den Schwarzhändlern vor dem Sta- die Eleganz und das Tempo einer guten ausgefüllt, er hat schließlich Geld über- diontor auf bis zu 350 Euro, für das Vier- Vereinsmannschaft, sie ist nicht so einge- wiesen für zwei sogenannte Optionstickets, telfinale in der AOL-Arena müsste man spielt, sie muss sich in jedem Spiel neu er- die die Chance eröffneten, zurückgegebe- 1200 Euro bezahlen. Ich sitze auf der Nord- finden, und deshalb ist auch das Verhältnis ne Karten zu bekommen, er hat sie zwei tribüne, Block 26B, mitten in einer Kun- zwischen Nationalmannschaften und den Tage vor dem Spiel erhalten und musste denversammlung des Hauptsponsors Con- Fans sehr labil. eine zurückgeben, weil sein Bruder so tinental, neben einem BMW-Händler. Er In Hannover (Italien gegen Ghana) saß kurzfristig keinen Urlaub nehmen konnte. gehe selten zum Fußball, sagt er, das letz- ich auf der Westtribüne neben einem Itali- Und deshalb sagt er sauer lächelnd: „Du te Mal sei er beim Pokalendspiel in Berlin ener, Alessandro, 34 Jahre alt, der die Na- sitzt auf dem Platz meines Bruders.“ gewesen, auch eingeladen. Während des tionalhymne mit der rechten Hand auf Es stimmt, zwei Stunden nachdem er Spiels ist er damit beschäftigt, sehr vielen dem Herzen sang, inbrünstig und mit die Karten zurückgab, habe ich sie per Leuten per SMS mitzuteilen, dass er im feuchten Augen, „lasst uns die Reihen E-Mail bekommen, über eine Internet-Sei- Stadion sitzt. schließen, wir sind bereit zum Tod, Italien te, die der Geheimtipp ist unter all den Er verpasst die drei Tore, und er ver- hat gerufen!“, der aber vom AC Florenz Abhängigen, die dem Rausch dieser WM passt, fürchte ich, alles. Die Explosivität, schwärmte und nicht von der Nationalelf. verfallen sind. Gegen eine Provision kann mit der sich das Mittelfeld der Ivorer über BERND FEIL / MIS / DDP WILLNOW SEBASTIAN / DPA ROLAND WEIHRAUCH Momenten, ihre Vielfalt und ihre Kreativität

Die Blutgruppe, so sagt man in Italien, man für jedes Spiel Karten bekommen, den Rasen bewegt; die antizipierende kann man leichter wechseln als den Verein, von der Fifa legitimiert, und es funktio- Übersicht der Nummer 5, Didier Zokora, und die Liebe zur Nationalelf glüht nur, niert so reibungslos, als verscherbelte Sepp die lauernde Gefährlichkeit der Nummer wenn die eigene Region, am besten der ei- Blatter höchstpersönlich zurückgegebene 11, Didier Drogba; die computergesteuerte gene Verein vertreten ist im Kader. Für Karten von Sponsoren. Präzision, mit der sich die Abwehr der Ar- mich bestand die deutsche Nationalmann- Jeder kann sich da auf seinen Namen gentinier verschiebt; die schläfrige Eleganz, schaft in den Jahrzehnten seit Wembley eine Karte ausstellen lassen, und da auch mit der Juan Román Riquelme seine eigentlich nur aus Horst-Dieter Höttges, bei Ebay und vor den Stadien der Schwarz- Mannschaft dirigiert. Die blau-weiß ge- Max Lorenz, Dieter Eilts, Rudi Völler, Mar- markt blüht, bricht der kontrollierte Kar- streifte Elf kämpft mit 20000 Männern in co Bode und nun Torsten Frings, Tim tenverkauf – das große Versprechen des Trikots, Frauen sind wenige auf den Rän- Borowski und Miro Klose, alles Bremer im deutschen Organisationskomitees – kurz gen, die wogende Masse trommelt und Nationaldress. vor den Stadiontoren zusammen. singt von der Hymne vor Spielbeginn Auch für die Profis sind Spiele in der Der Mensch siegt wieder mal über den („Gekrönt von Ruhm lasst uns leben oder Nationalmannschaft unwichtiger als Ver- Plan. Weil eine halbe Million Karten an mögen wir schwören, ruhmreich zu ster- einsspiele, deshalb sind Länderspiele so Sponsoren gegangen sind (nur eine Million ben“) bis zum Schlusspfiff. Die Ivorer ant- langweilig, es sei denn, auf der Bühne einer in den freien Verkauf), erfreuen die Fir- worten mit „Sei gegrüßt, oh Land der Europa- oder Weltmeisterschaft wird der menkarten nun die Schwarzhändler. Hoffnung! Das Land der Gastfreundschaft“ Marktwert neu bestimmt. Da wachsen die Nach dem Spiel sitzen sie im Bistro am und tanzen den Vogelgrippe-Tanz, mit dem Spieler zur Mannschaft zusammen, da Hauptbahnhof und feiern die Tagesein- sie sterbende Hähne imitieren. scharen sich die Landsleute um die Mann- nahmen. Thomas aus Frankfurt ist ein Wei- Es siegt der Trainer in dieser Nacht, der schaft, da kann der Rausch entstehen, der terverkäufer; der 38-jährige Taxifahrer be- seiner Elf predigt, zu denken statt zu do- diese Turniere zum Genuss und die Fans zu sorgte sich morgens am Stadion für je 100 minieren; es verliert der Trainer, der lieber patriotischen Schlachtenbummlern macht. Euro (offizieller Preis 60 Euro) von einem dominiert, statt abzuwarten. Es faszinier-

der spiegel 25/2006 83 Titel ten zwei Nationalmannschaften, die so gut braucht der Deutsche Gründe, früher wa- sche seid“) auf der Rückfahrt von der sind, weil sie so international sind: Die Ar- ren es die Autos und die Mark, dann die Eröffnungsfeier patriotische Solidarität ein- gentinier spielen bis auf den Torwart und Fluthilfe und der Friedenskanzler, im Mo- forderten. Übergehen wir, dass sich später einen Auswechselspieler alle in ausländi- ment sind es die Stadien und die WM. auf dem Marienplatz deutsche Schlachten- schen Vereinen, die Ivorer spielen alle im bummler regionale Duelle („Es gibt nur Ausland. Der Ball hat sie globalisiert, nur t’s your Heimspiel“ wirbt Coca-Cola in einen Tim Borowski“, „Es gibt nur einen für 90 Minuten schlüpfen sie noch hin und Deutschland, zu Hause sind wir immer Lukas Podolski“, „Es gibt nur einen Phi- wieder ins nationale Kostüm. Igut, und als vor mehr als 30 Jahren auch lipp Lahm“) lieferten. Bis auf den Torwart (und bald den Ka- Heimspiel war, da wurden die Fahnen Schauen wir, ob die Vaterlandsliebe das pitän) spielen die Deutschen in nationalen schon mal heftiger geschwenkt, und in den Ausscheiden im Achtelfinale, Viertelfinale, Clubs, aber es ist natürlich nicht Patriotis- Zeitungen stieg „der gute, alte Patriotismus Halbfinale überdauert. Hoffen wir, dass mus, der sie im Lande hält. Spitzenfußball wieder in lichte nationale Höhen“, und die dieselben patriotischen Blockwarte, die ist ein internationales Geschäft, die Mar- Nation, „in der Elf auf dem Rasen nimmt jetzt Ballack an den Pranger stellen, weil er ken wollen internationale Stars, sie wol- sie Gestalt an, erwacht sie zum Leben“. ein „Italien“-Shirt getragen hat, dass diese len Männer wie Beckham, Ronaldinho, Zi- Dennoch jubelten die Westdeutschen für Dröhndeutschen der „Bild“ dann nicht die dane, die in allen Kontinenten als Idole den australischen Gegner der DDR, und als Spieler, wie sonst immer, zu Versagern, funktionieren. Alle vier Jahre kämpfen sie die DDR die BRD geschlagen hatte, musste Feiglingen und Vaterlandsverrätern ma- in Nationaltrikots gegeneinander, auf de- die Mannschaft nach Bombendrohungen chen und den Trainer nach Kalifornien ver- nen die Streifen und Zeichen verraten, in von Panzerwagen eskortiert werden, und wünschen. welchen Markenteams sie ihre Heimat ge- der Bundestagsvizepräsident verkündete: Für die Männer von der Elfenbeinküste funden haben. „Wenn die DDR raus ist, ist alles gut.“ ist die Weltmeisterschaft, die erste in der WOLFGANG RATTAY / REUTERS RATTAY WOLFGANG / GETTY IMAGES ROSE / BONGARTS MARTIN CLAUDIO CRUZ / AP Fans aus Brasilien, Spanien und Mexiko: Eine Kraft, die stärker ist als Fifa-Blödsinn, Medienlärm und Sponsorenkalkül

Denselben Karneval, den die Spieler auf Drei Jahrzehnte später wird die Iden- Geschichte ihres Landes, am Freitagabend dem Rasen zelebrieren, feiern die Zu- tität zwischen Ost- und Westdeutschen zu Ende. Sie boten eine atemlose Show, schauer auf den Rängen. Sie hüllen sich in immer noch gesucht, aber auch die zwi- wieder, die Nummer 5 bewegte sich wieder Fahnen, sie bemalen ihre Gesichter, sie sin- schen dem Bauern aus Ostfriesland und wie eine Großkatze durchs Mittelfeld, aber gen voller Inbrunst ihre Hymne. Nach dem Rentner aus Hamburg, zwischen die Nummer 11 traf nicht. Vielleicht war Spielschluss fotografieren sich die Argen- der Hausfrau aus Itzehoe und dem Künst- die patriotische Last zu groß, die sie aus tinier und die Ivorer und die Italiener und ler aus München, zwischen dem Arbeits- ihrem Bürgerkriegsland mit nach Deutsch- die Ghanaer, sie tauschen ihre Fotos aus losen aus Bremen und dem Börsianer aus land brachten. Ihr Spiel und ihre Siege soll- und ihre Handynummern, macht’s gut, bis Frankfurt. ten ihr zerrissenes Heimatland befrieden, in vier Jahren zur nächsten WM. Kann es diese Identität geben? Bei der aber sie verloren 1:2. Die Bundesdeutschen haben sich immer Eröffnungsfeier sollte es so aussehen, als Nach dem Schlusspfiff gehört das Sta- schwergetan mit dem Fahnenschwenken, sei die bayerische Kultur stark genug, dion den Holländern, sie feiern das Schick- mit dem Schminken, mit dem Singen. auch die Restdeutschen zu vereinen; zu sal, das an diesem Abend auf ihrer Seite Gleich zu Beginn der ersten WM-Woche spüren war da schon auf den Rängen, dass ist. Vor dem Stadion trösten sich die Ivorer haben sie in der Münchner Arena klarge- die Deutschen entschlossen sind, zumin- in kleinen Grüppchen, eine Familie grup- macht, dass sie nun Anschluss finden wol- dest vier Wochen lang die Identität her- piert sich um ihr Transparent „Allez les len an das internationale Niveau im Fähn- beizuwedeln. Weltmeister zu werden, das éléphants“ und macht Fotos; der Junge, chenwedeln. Schwarzrotgold wogte es auf kann 82 Millionen zusammenschweißen, nicht größer als das Transparent, kämpft den Rängen, und auf der Ehrentribüne na ja, zumindest 60 Millionen deutsche mit den Tränen, der Vater, unten eine Le- demonstrierten die Spielerfrauen mit Fußballfans. derhose, oben das Trikot, lotst holländi- knapp sitzenden weißen Leibchen, auf de- Schweigen wir davon, dass vier Punker sche Fans in die Mitte seiner Familie und nen „Germany“ stand, dass bei dieser WM in der U-Bahn nicht aufstehen wollten, als macht die Bilder, die sie später mal glück- Selbstbewusstsein getragen wird. Für Stolz singende Fans („Steht auf, wenn Ihr Deut- lich belächeln werden.

84 der spiegel 25/2006 Titel

SPIEGEL-GESPRÄCH „Fußball ist manchmal brutal“ Adidas-Vorstandschef Herbert Hainer, 51, über das Sponsorenspektakel der Weltmeisterschaft und die neue Fähnchenfreude der Deutschen, seinen erbitterten Kampf gegen den Rivalen Nike und die Frage, ob Fifa-Boss Sepp Blatter das Bundesverdienstkreuz bekommen sollte

SPIEGEL: Herr Hainer, haben Sie die Ware ist ausgeliefert oder ge- schon ein schwarzrotgoldenes Wim- ordert. pelchen am Auto? SPIEGEL: Sie wollen allein vom offi- Hainer: Nein, aber ich finde diese ziellen WM-Ball „Teamgeist“ 15 neue Unbefangenheit eigentlich Millionen Stück verkaufen. Exper- angenehm. Wie Sie wissen, haben ten sagen, er flattere. wir kürzlich die US-Marke Reebok Hainer: Das stimmt so nicht. Jens übernommen. In der Zentrale dort Lehmann behauptet, der Ball wäre werden Sie von einer riesigen ame- eher für Stürmer gemacht. Damit rikanischen Flagge empfangen. Mit habe ich kein Problem. Fußball der deutschen würden wir uns so wurde erfunden, damit Tore ge- was hier nie trauen. Umso char- schossen, nicht, damit sie verhin- manter finde ich diesen neuen dert werden. Fähnchenboom. SPIEGEL: Der Originalball wird für SPIEGEL: Wenn man ehrlich ist, geht wahrscheinlich 5 Euro in Thailand es bei dieser Fußball-WM weder produziert, kostet im Laden aber um Patriotismus noch um die Spie- 110 Euro. Ihre Gewinnspanne muss le selbst, weil auch die nur Petersi- gewaltig sein. liensträußchen auf der Schweins- Hainer: Erstens verdienen nicht kopfsülze des Fifa-Spektakels sind. nur wir, sondern auch der Handel.

Es geht um ein Milliardengeschäft. PETER SCHINZLER Zweitens ist der Forschungs- und Hainer: Das sehe ich natürlich an- Adidas-Boss Hainer: „Typisch deutsche Debatten“ Materialaufwand durchaus hoch. ders. Ganz Deutschland ist jetzt in Wie unsere Marge aussieht, kann friedlich-fröhlicher Partystimmung. ich Ihnen nicht sagen. Aber ein Wer hätte uns vor ein paar Wochen wenig Gewinn werden Sie uns zu- so viel Lockerheit zugetraut? Die gestehen. Und zugegeben: Selten Zuschauer sind begeistert. Unsere zuvor wurde ein Produkt so ge- Gäste aus aller Welt fühlen sich konnt vermarktet wie dieser Ball, wohl. Dass Konzerne wie wir Geld der nun überall ist. ausgeben für diese WM – und auch SPIEGEL: Zwei Jahre lang haben mit ihr verdienen –, können Sie rund 110 Adidas-Mitarbeiter nichts uns kaum vorwerfen. anderes gemacht, als diese WM SPIEGEL: Bis zur Eröffnung sah es vorzubereiten. Wie schafft man es so aus, als gehe der ganze Spaß im zum Beispiel, zwischen Reichstag

Kommerz-Geschrei unter – Fifa- FIRO und Kanzleramt eine Nachbildung Größenwahn, Sponsoren-Gebolze Arena-Nachbau (am Berliner Reichstag): „Billig ist das nicht“ des Berliner Olympiastadions für und Ticket-Geschacher inklusive. 10000 Gäste aufbauen zu dürfen? Hainer: Wie hätte man das Kartengeschäft kostenpreis an Mitarbeiter vergeben. Letzt- Hainer: Erst mal muss man überhaupt auf anders organisieren sollen, als so, dass jedes lich sind das typisch deutsche Debatten – die Idee kommen. Dann muss man die Teilnehmerland Kontingente bekommt … ähnlich wie dieser Stadion-Aufruhr der auch noch mit guten Argumenten Berliner SPIEGEL: … die zum Teil dann wieder auf Stiftung Warentest im Vorfeld: Wir haben Senat, Bundestag und -regierung näher- dem Schwarzmarkt verscherbelt wurden? weltweit die modernsten Stadien; es muss bringen. So eine Show an so einem Ort ist Hainer: So etwas können Sie bei einem Er- nur einer kommen und sagen: An der lin- ja nicht nur für Adidas gut, sondern auch eignis dieser Größe gar nicht verhindern. ken Kellertür in Block C3 fehlt ein Feuer- für Stadt und Land. Billig ist das nicht. Im Übrigen: Deutschland hat 82 Millionen löscher. Sofort war Riesengeschrei – und SPIEGEL: Wieso rüsten Sie bei all dem Per- Einwohner, die komplette WM aber nur die Stiftung in aller Munde. Die WM ist fektionismus dann nur sechs Teams aus, drei Millionen Karten. Selbst wenn die alle auch die Zeit der Trittbrettfahrer. Nike aber acht und Puma zwölf? im Land geblieben wären, hätte man viele SPIEGEL: Adidas hat die WM jedenfalls Hainer: Weil der Sport letztlich nicht bere- Fans unglücklich gemacht. schon gewonnen: Ihre Fußballumsätze chenbar ist. Manche unserer Teams wie etwa SPIEGEL: Auch die Sponsoren kassierten sollen in diesem Jahr um mehr als 30 Pro- China oder Nigeria sind im Vorfeld rausge- große Kontingente. zent ansteigen. Ist es für Sie überhaupt flogen. Natürlich hätte ich mir ein paar mehr Hainer: Ja und? Wir zahlen dafür. Sponso- noch wichtig, wer Weltmeister wird? in der Endrunde gewünscht. Aber warten ren sind doch keine gesichtslosen, karten- Hainer: Natürlich wünsche ich mir, dass wir mal ab, welche Mannschaften das Ach- fressenden Monster. Unsere Tickets kom- eine Adidas-Elf gewinnt, am liebsten telfinale erreichen. men letztlich ebenso den Fans zugute. Deutschland. Aber es stimmt schon: Der SPIEGEL: Adidas hat Deutschland, Frank- Adidas hat allein 5000 Karten zum Selbst- Großteil unseres Geschäfts ist gemacht, reich, Argentinien und Spanien, Trinidad

88 der spiegel 25/2006 und Tobago sowie Japan unter Vertrag. lung im globalen Sportgeschäft doch so be- Leistung, sondern auch auf gutes Ausse- Nike hat unter anderem Portugal, die Nie- deutsam? hen, Auftreten, Lebenswandel. derlande und – vor allem – Brasilien. Hainer: Nein, sicher nicht. Aber wir dürfen SPIEGEL: Ihnen gehört quasi die deutsche Hainer: Wenn die Mannschaft ihrer Favo- doch auch Zahlen richtigstellen, wenn wir Nationalelf. Wird das Geschäft nicht sehr ritenrolle gerecht werden sollte, wird sie sie für falsch halten, oder? kompliziert, wenn Einzelstars wie Miroslav am Ende verdient Weltmeister. Übrigens SPIEGEL: Dürfen Sie – zum Beispiel die hier: Klose Nike-Verträge haben? Nun jammert er wuchs Adidas auch ohne die Nationalelf in Ihr Konzern pumpt rund 14 Prozent des über Blasen in seinen Adidas-Tretern … Brasilien zuletzt um rund 30 Prozent. Umsatzes ins Marketing, also fast eine Mil- Hainer: … wogegen wir ihm längst helfen. SPIEGEL: Nikes raffiniertester Zug im liarde Euro? Glauben Sie mir: Wir können für jeden Kampf der Giganten: Der Konzern hat ein- Hainer: Könnte hinkommen. Fuß auf dieser Welt einen passenden Fuß- fach mal behauptet, Sie dieses Jahr im Fuß- SPIEGEL: Wie viel davon fließt dieses Jahr ballschuh machen. Kloses Manager geht es ballgeschäft erstmals zu schlagen. ins Fußballgeschäft? womöglich weniger um die Füße als die RALF JÜRGENS / ACTION PRESS JÜRGENS / ACTION RALF Reklame-Fresko (im Kölner Hauptbahnhof): „Die Führung der Nationalelf ist keine demokratische Veranstaltung“

Hainer: Der Wettbewerber hantiert mit teils Hainer: Ein großer Brocken, wenn auch Finanzen seines Schützlings. Oder schlich- absurden Zahlen. Wenn wir beispielsweise sicher eher ein Viertel als die Hälfte. ter: Er hat Angst um Millionenwerbever- unseren „Superstar“-Schuh, von dem wir SPIEGEL: Also mindestens 250 Millionen träge. jährlich rund acht Millionen Paar produzie- Euro nur für Fußballreklame. Sie haben SPIEGEL: Ist es nicht unsportlich, Athleten ren, zum Basketballgeschäft rechnen wür- einzelne Top-Athleten unter Vertrag, aber ihr Handwerkszeug vorzuschreiben? den, wären wir mit einem Schlag dort die auch Mannschaften wie demnächst den FC Hainer: Da wir einen entsprechenden Ver- Nummer eins. Alle seriösen Untersuchun- Chelsea, Nationalmannschaften oder kom- trag mit dem DFB haben und dazu das gen zu Marktanteilen zeigen: Adidas ist und plette Verbände. Sind Adidas-Medienstars beste Material liefern, ist das gar kein Pro- bleibt die Nummer eins im Fußball. Aber wie Michael Ballack oder David Beckham blem. Aber im Ernst: Klose scheint ja auch Nike wird vielleicht auch langsam nervös, immer auch die besten Sportler? in Adidas zu treffen. Vor der Europa- weil sie seit dem Reebok-Deal unseren Atem Hainer: Wir versuchen zumindest, die Bes- meisterschaft 1996 schrieben mal ein paar im Nacken spüren. Und wir haben den Ehr- ten zu kriegen, auch wenn man nie weiß, Nike-Spieler an den DFB, sie könnten in geiz, nicht nur in einzelnen Feldern die wie die sich dann entwickeln. Adidas nicht spielen. Die Verbandsspitze Nummer eins zu sein, sondern komplett. SPIEGEL: Anders gefragt: Wenn Ballack ge- antwortete: Dann bleibt ihr eben zu Hause. SPIEGEL: Warum ist dieses Wir-sind-die- nauso gut Fußball spielen würde, aber aus- Bingo! Natürlich haben dann alle problem- Größten-Geprotze eigentlich so wichtig? sähe wie eine Mischung aus Geisterbahn frei gespielt. Hainer: Das müssen Sie Nike fragen. und Quasimodo – würden Sie ihn sponsern? SPIEGEL: Eine Ihrer Werbe-Ikonen ist Oli- SPIEGEL: Wir fragen aber Sie: Ist schiere Hainer: Er hätte es schwerer. Denn auch ver Kahn. Welchen Einfluss hatte Adidas Masse beim Kampf um die Vormachtstel- die Fans achten ja heute nicht nur auf die darauf, dass er nach seiner Degradierung

der spiegel 25/2006 89 Titel

Kampf um die Spitze Konzerndaten 2005, in Mrd. Euro Adidas Reebok UMSATZ 6,6 3,0 GEWINN vor Steuern Adidas ...... 0,7 Reebok ...... 0,3 Übernahme von Reebok am 3. August 2005

UMSATZ 10,8

GEWINN vor Steuern ...... 1,5 Geschäftsjahresende: 31. März 2005 BERND SETTNIK / PICTURE-ALLIANCE/ DPA BERND SETTNIK / PICTURE-ALLIANCE/ Nike-Präsentation der aktuellen WM-Trikots*: „Unseren Atem im Nacken“ nicht hinschmiss, sondern sich noch als gentlich auch einsame. Das war früher SPIEGEL: Soll Blatter das Bundesverdienst- Nummer zwei zur Verfügung stellte? übrigens nicht anders. Da mischen wir uns kreuz bekommen? Hainer: Wir hatten zumindest keinen Ein- aber nicht ein. Das ginge auch gar nicht. Hainer: Wenn es das für Verdienste um den fluss auf die Frage, wer die Nummer eins SPIEGEL: Wie sähe der deutsche Fußball Fußball gäbe: ja. Da ich die Kriterien nicht im deutschen Tor wird. Natürlich haben aus, wenn er ein Gesicht hätte? Wie Klins- kenne, überlasse ich die Entscheidung den wir mit Kahn geredet. Ich hätte ihn ge- mann? Wie DFB-Boss Theo Zwanziger? zuständigen Fachleuten aus der Politik. nommen. Aber ich respektiere die Ent- Hainer: Am ehesten wie Franz Beckenbauer, SPIEGEL: Auch dank Blatter wirkt die Fifa scheidung von Bundestrainer Jürgen Klins- glaube ich. Der repräsentiert diesen Sport in mitunter wie ein Milliardenkonzern, der mann. all seinen Facetten – vom Amateurfußball nach Gutsherrenart von ein paar sinistren SPIEGEL: Bei solchen Entscheidungen müs- bis zu den Bundesligamillionären. Senioren geführt wird. Sie, als einer der sen Sie doch in die Tischkante beißen. SPIEGEL: Das WM-Getrommel übertönt je- Hauptsponsoren, müssten daran interes- Kahn ist Adidas-Mann, auf den alles zu- denfalls eine Menge offener Rechnungen siert sein, dass sich das endlich ändert. geschnitten war. Lehmann steht bei Nike im deutschen Fußball. Wann ist Zahltag? Hainer: Ich weiß, dass es über das Image unter Vertrag. Hainer: Wenn die deutsche Mannschaft früh der Fifa unterschiedliche Ansichten gibt. Hainer: Wir hätten genug Zeit gehabt, un- rausfliegt, kommen alle Kritiker, die es im- Man muss aber auch klar sehen, dass es sere riesige Kahn-Figur am Münchner mer schon gewusst haben. Wenn wir es bis Verdienst der Fifa ist, dass Fußball heute so Flughafen nicht aufzubauen. Aber für uns ins Finale schaffen, fanden alle Klinsmann populär ist – mit enormen Wachstumsraten verliert er als Nummer zwei auf der Bank und seine Methoden immer schon toll. So in Asien, Afrika und Nordamerika. Oder nicht an Wert. Adidas steht zu seinen einfach ist das. Fußball ist nun mal so dass die Fifa Millionen in soziale Projekte Sportlern. Und ich glaube, bei den Fans schlicht, klar und manchmal brutal. steckt, etwa gemeinsam mit Unicef. Oder hat Kahn sogar noch gewonnen. SPIEGEL: Besser als mit Klinsmann kommt nehmen Sie Deutschland: Vor 15 Jahren SPIEGEL: Weil er als gebrochener Held noch Adidas mit Fifa-Boss Sepp Blatter klar, der hätte sich zum Beispiel noch kaum einer besser vermarktbar ist? in früheren Zeiten sogar auf der Gehalts- der Münchner Promis in ein Stadion Hainer: Weil er sich treu ist. liste Ihres Konzerns gestanden haben soll. gewagt. Fußball war ein Sport für Prole- SPIEGEL: Und Lehmann muss nun seine Hainer: Adidas hat der Fifa meines Wissens ten, heute gilt er als schichtenübergreifend Nike-Handschuhe abkleben? nach nur mal ein paar Räume zur Verfü- populär. Hainer: Das wäre ja noch schöner! Der gung gestellt, als die noch keine eigenen SPIEGEL: So nett müssen Sie jetzt sein, weil spielt natürlich in unseren, solange er das Büros hatte. sich Adidas bei der Fifa-WM noch groß- Nationaltrikot trägt. SPIEGEL: Die Bande sind jedenfalls dick. flächig mit seinen drei Streifen präsentie- SPIEGEL: Ist Klinsmann eigentlich der beste Horst Dassler, Sohn des Adidas-Gründers ren darf – anders als etwa bei den Olym- Trainer, den wir bekommen konnten? Adi Dassler, soll die Fifa in den siebziger pischen Spielen oder etlichen großen Ten- Hainer: Muss er ja sein. Wenn es nach der Jahren quasi erfunden haben. nisturnieren, die Ihnen das verbieten. vergeigten Europameisterschaft 2004 einen Hainer: Das ist vielleicht übertrieben, aber Könnte Ihr Erkennungsmerkmal schon in besseren gegeben hätte, wäre der es doch er hat sie unterstützt. Das ist ein Geben Wimbledon vom Platz verschwinden? geworden, oder? Klinsmann hat frischen und Nehmen. Da entstand über die Jahr- Hainer: Nein. Das hat der High Court in Wind und neue Begeisterung in die Natio- zehnte aber auch ein großes Vertrauens- London gerade entschieden. Bis zur nalmannschaft gebracht. Er macht schon verhältnis. Hauptverhandlung im Oktober dürfen wir deshalb einen hervorragenden Job … die drei Streifen weiter nutzen. Und natür- SPIEGEL: … und wirkt mitunter rechthabe- lich versuchen wir, auch mit Verbänden risch, arg machtbewusst und einsam. wie dem IOC einvernehmliche Lösungen Hainer: Die Führung der Nationalelf ist kei- zu finden. Man sieht jetzt bei der WM: ne demokratische Veranstaltung. Da müs- Die anderen dürften Werbeflächen wie sen Entscheidungen gefällt werden – gele- etwa an den Schultern oder Armen der Athleten auch nutzen, machen es nur * Oben: Am 13. Februar im Berliner Olympiastadion mit nicht immer. Aber es uns deshalb zu ver- den Spielern Marco Bresciano (Australien), DaMarcus bieten wäre ein merkwürdiger Kurz- Beasley (USA), Ji Sung Park (Südkorea), Ruud van schluss. Die drei Streifen – das ist doch Nistelrooy (Niederlande), Adriano (Brasilien), Luis Figo PETER SCHINZLER unsere Identität. (Portugal), Dado Prso (Kroatien), Javed Borgetti (Mexiko); unten: Thomas Tuma und Thomas Schulz in der Adidas- Hainer (M.), SPIEGEL-Redakteure* SPIEGEL: Herr Hainer, wir danken Ihnen Zentrale im fränkischen Herzogenaurach. „Schichtenübergreifend populär“ für dieses Gespräch.

90 der spiegel 25/2006 Titel

DEUTSCHE MANNSCHAFT „Uns muss man erst mal schlagen“ Ein kluger Innenverteidiger ist zugleich Sinnbild und Risikofaktor jenes Stils, mit dem Bundestrainer Jürgen Klinsmann Weltmeister werden will: Christoph Metzelder gilt als Profi der Zukunft, doch spielt er je wieder so gut wie in der Vergangenheit? Von Klaus Brinkbäumer

eutschlands Fußballer grüßen Am Anfang, das war in Dortmund und gratulieren einander sehr und kurz vor der Abreise, saß da ein Dlässig. Sie führen die Fäuste auf- ruhiger und durchaus zweifelnder jun- einander zu, langsam, sacht und zart ist ger Mann in Badeschlappen und kur- die Berührung, es ist eine Geste aus zer Hose auf einem Hocker am Rande den Straßen New Yorks. Manchmal des Trainingsplatzes und erzählte seine grüßen und gratulieren Deutschlands Geschichte, die eine Geschichte von Fußballer aber auch nicht, es geht bei Extremen ist, welche wenige Fußballer dieser Geste ja um Respekt, und Re- jemals erleben. spekt muss man sich verdienen, auf der Erleben dürfen. Und erleben müssen. Straße und auf dem Platz. Es gibt ja deutsche Idole, dort hinten Es war ein Training Anfang der vo- in der Abwehr, wo heute Metzelder rigen Woche, es war kurz nach dem spielt, und diese Idole haben mit seiner 4:2 gegen Costa Rica, als ein Ball vor Laufbahn zu tun. 1986, er war fünf Jah- Ersatztorwart Oliver Kahn aufsprang, re alt, fand er vor dem Kindergarten in und Christoph Metzelder stand dort Haltern eines dieser Panini-Bilder im herum und sah den Ball an. Er zog Staub, es war ein Foto des Vorstoppers dann das rechte Bein an, drehte den Karlheinz Förster. Eines Haudegen. Unterschenkel nach außen, und mit der Christoph Metzelder begann zu sam- äußeren Seite seines Fußes traf er den meln, mit Panini-Alben lernte er lesen, Ball in der Luft und schob ihn an Kahn er wurde Stuttgart-Fan, Gladbach-Fan, vorbei. Ein cooles Tor. Christoph Met- begann zu spielen, wechselte in die zelder ist Verteidiger, er schießt selten Schalker Jugend, scheiterte, aber er Tore. Aber die anderen gratulierten wusste, das sagt er heute, „dass es nicht nicht, kein Fäustchen nirgends, und entscheidend ist, ob einer mit 14 oder darum ging Metzelder zu den Kollegen 15 Jugend-Nationalspieler ist, sondern Kehl, Friedrich, Borowski, Podolski, ob sich der Körper entwickelt und ob und holte sich seine Portion Lob. man durchhält“. Darum wechselte er Man kann eher nicht behaupten, zu Preußen Münster und spielte in der dass die Achtung vor deutschen Ver- Regionalliga für 530 Mark im Monat teidigern in den Tagen nach dem Eröff- gegen Miroslav Klose und Arne Frie- nungsspiel besonders ausgeprägt ge- drich, die in Kaiserslautern und Verl wesen wäre. den gleichen Umweg gingen wie er. Dann aber tat sich etwas in der deut- In Münster wurde er verdammt schen Mannschaft, denn manchmal schnell verdammt gut, Borussia Dort- geht das ganz schnell mit dem Respekt, mund kaufte ihn, und dort traf er ein manchmal wird in 90 Minuten aus ei- weiteres deutsches Idol, Jürgen Kohler, ner Mannschaft, über die die Welt ge- und „bevor der mich begrüßte, sagte er lacht hat, eine Mannschaft, der die mir, ich müsse mehr und härter arbei- Welt die Meisterschaft zutraut. Am ver- ten als alle anderen“, erzählt Metzel- gangenen Mittwoch, 22.55 Uhr, gerade der. Er arbeitete und verdrängte war das Spiel gegen Polen abgepfiffen Kohler, fuhr zur Weltmeisterschaft worden, begab sich die deutsche 2002, spielte mit, spielte gut, und Real Mannschaft auf eine Ehrenrunde, vor- Madrid wollte ihn kaufen, diesen jun- ne liefen der Kapitän Ballack und der gen, begnadeten Vizeweltmeister. Verteidiger Metzelder. Ballack nahm „Ich war erst 21, ich war naiv, ich Metzelder in den Arm und zog ihn an dachte, das geht automatisch 12 Jahre sich heran, aus einem Sorgenkind war lang weiter“, sagt er, denn junge Athle- wieder ein Kerl geworden. Wenn man also diesen Christoph * Von oben: Philipp Lahm, Christoph Metzelder, Per Metzelder, 25, durch die Vorbereitung Mertesacker und Arne Friedrich, dazu der Costa Ri- und die ersten zehn Tage des Turniers caner Paulo Wanchope am 9. Juni in München. begleitete, konnte man eine Wandlung beobachten, die letztlich für das ganze Deutsche Abwehrreihe*

Team steht. FOTOCREDIT Ein Steilpass durch die Gasse? 92 ten fühlen sich unverwundbar. Dann ka- men die Schmerzen an der Achillessehne. Er nahm Tabletten, wurde gespritzt, spielte, dann ging es nicht mehr. Zwei Jahre sind lang. Es gibt nicht viele, die nach zwei Jahren zurückkommen. Zwei Jahre lang war Metzelder verletzt, es war dieser Kreislauf aus Reha-Training, Balltraining, ein paar Spielen, neuen Schmerzen, neuer Operation und Reha- Training. „Es ist komisch, so etwas in der Situation eines Fußballprofis zu sagen“, sagt er, „aber für mich war das eine existenziel- le Situation. Die Frage war nicht mehr: wann. Die Frage war, ob ich jemals wieder spielen kann.“ Als er das verstanden hatte, trainierte er nicht gelassen, aber nicht mehr unter Stress, und irgendwann hielt die Seh- ne. „Es kann nichts mehr geben, auf dem Feld jedenfalls, was schlimmer wäre als das, was ich hinter mir habe“, sagt er, „ich erle- be das Spiel, ich genieße es.“ „Den großen Moment mitnehmen“, so würde Jürgen Klinsmann das nennen. Christoph Metzelder fuhr mit der Mann- schaft nach Sardinien, dann nach Genf, und dort saß er im Stade de Genève, und

er erzählte, „dass Jürgen Klinsmann mir FOTOCREDIT früh gesagt hat, dass er auf mich baut. Dass Verteidiger Metzelder (am Mittwoch gegen den Polen Ireneusz Jelen): „Ich genieße es“ ich nur gesund werden muss“. Und er be- richtete davon, dass ein Profisportler ler- gung des Leistungsprinzips. Natürlich wus- bal und mit sportlicher Leistung voranzu- nen müsse, „alles ins Positive umzuden- ste Klinsmann, dass sein Liebling „Metze“ gehen“. Der Kollege Per Mertesacker frag- ken“, alle Ängste zu verdrängen. einst sehr viel besser gespielt hatte. Und te am Donnerstag die Journalisten: „War- Es gibt Menschen im Tross der Mann- also sehr viel besser spielen kann. um wollen Sie immer ’ne Chefrolle haben? schaft, die Metzelder für ein wenig altklug Eigentlich. Wann? Es gibt auch Etagen mit mehreren Chefs.“ halten, weil er zum Beispiel sagt, „dass ich Er war wie Klinsmanns Mannschaft. Ein Und beide sagen, dass sie in den Tagen mich und mein Spiel sehr stark selbst re- Projekt und auch eine Drohung. Christoph nach dem stolprigen 4:2 gegen Costa Rica flektiere und sehr selbstkritisch bin“, und Metzelder war eine Idee. Ein Versprechen. gemeinsam vor DVD-Spieler und Fernse- so ein Satz bedeutet ja zuweilen sein eige- Das Problem der deutschen Abwehr ist her gesessen hätten und Fehler gesucht nes Gegenteil. Aber dieser Metzelder ist ei- eher simpel. Vier Spieler verteidigen auf ei- und gefunden und am Ende eine „ge- ner der interessanteren Gesprächspartner ner Linie, etwa zehn Meter meinsame Sprache“ gefun- in dieser Mannschaft. Wie Jens Lehmann, trennen sie; greift der Geg- den hätten. Oliver Kahn, Michael Ballack, Sebastian ner über die linke Seite an, Man konnte das sehen, Kehl. Weil er ohne Furcht über Patriotis- rücken alle vier auf die Sei- am Mittwoch vergangener mus und Leichtigkeit reden kann. Weil er te. Vor ihnen stehen, eben- Woche in Dortmund. Die zuhört, nachdenkt, antwortet, fragt. Wel- falls auf einer Linie, die vier beiden Innenverteidiger cher Fußballer stellt schon Fragen? Mittelfeldspieler. Das Pro- rückten diesmal nicht so Jürgen Klinsmann ist ein Anhänger Met- blem der deutschen Ab- weit nach vorne, blieben zelders. „Christoph hat von Natur heraus wehr ist oder war oder ungefähr zehn Meter näher die Leaderrolle“, sagt Klinsmann. Das Pro- könnte auch in Zukunft beim eigenen Tor, und sie blem war in den vergangenen zwei Jah- durchaus wieder sein, dass standen dichter beieinan- ren, dass nicht besonders viele Menschen, es zwischen Mittelfeld und der, suchten Blickkontakt, nicht mal Dortmunder, dem Bundestrai- Abwehr eine zu große sie sprachen ständig mitein- ner in dieser Beurteilung folgen konnten, Lücke gab; dass die Vertei- ander und auch mit den denn die meisten hielten Metzelder für ein diger zu weit nach vorne Außenverteidigern Frie- Risiko. Sie hielten seinen Kollegen Chri- rückten, fast bis zur Mittel- drich und Lahm und mit stian Wörns für stärker und sahen sich linie; dass auch der Abstand Torsten Frings und Michael

schon deshalb bestätigt, weil Metzelder im zwischen den Verteidigern FOTOCREDIT Ballack, die vor ihnen stan- eigenen Verein auf der Ersatzbank saß. zu groß wurde, weil der Vorbild Kohler den. Wenn einer der beiden Er saß da ganz zu Recht. Er sagt zwar, er eine zur Seite rannte und „Mehr und härter arbeiten“ eingreifen musste, lief der habe keine Schmerzen mehr und nicht ein- der andere nicht folgte. andere in seine Nähe, si- mal eine Scheu vor Zweikämpfen, „weil Da genügte dann ein Steilpass durch die cherte ab, und von vorne kamen Frings meine Verletzung nicht aus einem Unfall Gasse, es genügte ein Sprinter, und der und Ballack zurück; „wir müssen Dreiecke resultierte, sondern Ergebnis eines dege- deutsche Torwart war allein und verloren. bilden, und das haben wir gemacht“, das nerativen Prozesses war“, aber er spielte Metzelder sagt, dass „man eine defensi- sagte Metzelder hinterher. langsamer als früher. Ein bisschen tapsi- ve Disziplin als Gesamtmannschaft“ brau- In dieser Nacht sah Klinsmanns ger, vorsichtiger, steifer. Darum wirkte che und dass von ihm erwartet werde, Deutschland aus wie eine richtige Fußball- Klinsmanns Vertrauen in Christoph Met- „vielleicht auf Grund meiner Persönlich- mannschaft: Einmal eroberte Metzelder in zelder wie die Karikatur seiner Ankündi- keit, die Abwehr auch zu führen und ver- Bedrängnis einen Ball, und Förster oder

der spiegel 25/2006 93 Titel

Kohler hätten diesen Ball auf die Tribüne getreten, aber Metzelder spielte einen lan- gen Pass in den Lauf von Philipp Lahm, und schon griff Deutschland wieder an. Metzelder stand dann mit offenen Schnür- Selbstlos im Kopfbereich senkeln vor den Journalisten, er trug einen Rucksack auf dem Rücken, in der linken Die Spieler des DFB sind nett zueinander. Der Sieg gegen Hand hielt er eine Wasserflasche, eine Bordkarte für den Flug nach Berlin, mit Polen bestätigt die Lehren des Bundestrainers, der neue Geist rechts malte er Laufwege in die Luft, er überlagert alle Rivalitäten – zumindest bis zur nächsten Partie. sagte: „Wir sind ein Verbund. Uns muss man erst einmal schlagen.“ erlin, Berlin, wir fahren nach Ber- gegenüber den eigenen Kräften, auch das Und nun ist es Freitag mittag, vor 38 lin“, sangen die Fans, Deutschlands Zutrauen zum Bundestrainer selbst. Stunden hat Klinsmanns Deutschland die BSong vom Finale. Da mochte sich Wie ein religiöser Anführer hatte der Polen geschlagen, und jetzt sitzt Christoph auch Tim Borowski nicht mehr ver- schwäbische WM-Projektleiter seine Glau- Metzelder auf schwarzem Leder in Raum schließen und winkte vom Spielfeldrand benssätze von der temporeichen Offensive 10 des ICC von Berlin. Er ist unrasiert, die launig in die begeisterte Glaubensgemein- und der Notwendigkeit von außerordentli- schwarzen Haare hat er vorn mit einem de. Er gehörte jetzt irgendwie dazu und cher Physis und Moral bis an die Grenze Hauch Gel zurechtgestrubbelt. Er erzählt vergaß sein gerade noch als trist empfun- zur Langeweile wiederholt. Jetzt sah er von der Welt der Nationalelf, in der es kei- denes Dasein beim Match gegen Polen. sich bestätigt, als er den Verteidiger Philipp ne Zeitungen gibt, nur „Bild“ fliege Der Bremer Mittelfeldspieler trug eine Lahm linientreu dozieren hörte, dass „Fit- manchmal herum, er erzählt von dieser blaue Weste über dem weißen Trikot, die ness sehr wichtig im Fußball ist“, und als Burg Klinsmann, in der sie nur die Spiele ihn als Reservespieler auswies und so kurz auch das Murren vor den arbeitsintensi- der anderen sehen, aber nicht hören, „was geraten war, dass sie ihn so adrett kleidete ven Trainingsstunden endete. von den Experten geredet wird“. Er sagt, wie ein Schlabberlatz. So nutzlos wie er Für die ganz Begriffsstutzigen erklärte dass er dieses Turnier liebe, das ja längst darin aussah, war sich Borowski gerade Klinsmann, wo die „wichtige Erkenntnis“ „ein viel größeres Ereignis ist als die deut- noch vorgekommen. Jetzt aber – beim Ritt angesiedelt sei: „im Kopfbereich“. Der sche Nationalmannschaft“. auf der Stimmungswoge im Dortmunder Schlüssel liege „in der Einstellung“. Er sagt auch, dass in dieser Welt ziem- Stadion – ließ er sich betören von der Eu- Die Überzeugung, dass man nur fest lich oft die Vergangenheit verklärt und die phorie um die deutsche Elf und fieberte dran glauben müsse und die verschworene Gegenwart durch Nörgelei beladen und seiner Einwechslung entgegen. Mannschaft prompt mehr zu bieten habe erdrückt werde. Er sagt: „2002 waren wir Die Stimmung, die Hoffnung, der so at- als die Summe aller manchmal durch- nicht so gut, wie wir bewertet wurden. In traktiv offensiv herbeigefightete Einzug ins wachsenen Einzelfertigkeiten am Ball, die- Wahrheit sind wir von einer Verlegenheit Achtelfinale – das alles verschmolz ver- ses Bewusstsein macht sogar schmerz- und in die nächste gestürzt, haben von Dreier- gangene Woche zu einer selig vereinigten hitzeresistent. „Wir haben Spaß, bei 30 auf Viererkette umgestellt und wieder Totalklinsmannschaft. Die Dramaturgie der Grad zu spielen“, sagt Klinsmann, eine zurück, das wurde Flexibilität genannt. Partie gegen Polen machte es möglich, dass „unglaubliche Energie bei uns“ spürend, Diesmal haben wir ein System, sind flexi- alle internen Zweifel an den Lehren des allen Ernstes. Und niemand widerspricht. bel und offensiv und wurden beschimpft.“ Bundestrainers mit einem Mal bis auf wei- Die Alles-super-Gläubigkeit wird Be- Dann trinkt er einen Schluck Wasser. Ist teres verschwammen. Es war, als hätte Jür- stand haben – bis zum nächsten Spiel. Denn still für Sekunden. Sagt: „Ganz schön ab- gen Klinsmanns Chefregisseur Urs Sie- der Teamgeist hat dort seine Grenzen, wo surdes Geschäft, manchmal.“ genthaler, der die Lehrvideos von den es gilt, den eigenen Marktwert zu steigern. Er tritt jetzt auf wie einer, der keine Stärken und Schwächen der Gegner so di- Dies umso mehr, als nun erste Finalträume Zweifel mehr kennt. So viel ist nicht ge- daktisch wertvoll zusammenschneidet, den sprießen: Den Ruhm erntet schließlich nur, schehen, da war nur ein Vorrundenspiel Abend zur Erleuchtung der letzten Skep- wer dann auf dem Feld steht. ohne Gegentor gegen Polen, und hier sitzt tiker eigenhändig inszeniert. In einem Konferenzsessel saß dieser ein anderer Mann als vor acht Wochen in Man brauche nur solche Siege, erläuter- Tage Tim Borowski, 26, vor einer Handvoll Dortmund; dieser Mann hier glaubt, er te Klinsmann ausländischen Reportern, Journalisten und räsonierte genervt über könne am 9. Juli Weltmeister werden. und „das Vertrauen wächst von Spiel zu die Umstände, die ihn einen Platz im WM- „Klar“, sagt er. „Natürlich.“ Spiel“. Gemeint war, neben der Sicherheit Team gekostet haben. Der lange Blonde FOTOCREDIT BEIDE ZUSAMMEN FOTOCREDIT Nationalspieler Metzelder (l.) im Billardzimmer des Schlosshotel Grunewald, Ballack (l.) beim Autogrammeschreiben: Flache Hierarchie

94 der spiegel 25/2006 einer Verletzung vorwarf, reagierte Bal- lacks Agent. Indem sich der Spieler öf- fentlich fit meldete und den Einsatz ver- langte, vermied er auf jeden Fall den denk- bar größten Imageschaden: dass man ihm eine mögliche Niederlage hätte ankreiden können. So kam es zum Streit über öf- fentliche Bulletins und Verlautbarungen. Gegen Polen spielte Ballack, gleichbe- rechtigt mit den Nebenleuten, in einer „fla- chen Vier“, wie Klinsmann jene Mittel- feldlinie bezeichnet, in deren Aufstellung niemand zu weit nach oben Richtung Sturmspitze ausschert. Fast so flach er- scheint seither die Hierarchie im Team. Dennoch redet der Kapitän über die jün- geren Kameraden oft ungewollt herablas- send. Die Mannschaft sei mit Unerfahre- nen bestückt, die „vom Ego her ganz an- ders ticken“. Der Nationalspieler von heu- te stecke „ein bisschen zurück“ und hält – das meint Ballack – im Zweifel den Mund. Das macht es leichter für Klinsmann, den Hüter des Teamgeistes, und es ist er- kennbar, wenn an einem Tag alle dasselbe äußern – etwa dass „das Selbstbewusstsein gestiegen“ sei, weil man doch „enormem Druck“ widerstanden habe. Oder wenn es heißt, die Idee zum de- monstrativen Schulterschluss bei der Auf- stellung zur Hymne sei „aus der Mann-

FOTOCREDIT schaft heraus“ in der Kabine entstanden. Trainer Klinsmann, Spieler (nach dem Siegtor gegen Polen): „Unglaubliche Energie“ Dann muss man sich das in etwa so vor- stellen wie vor Klinsmanns Trainerdebüt aus Neubrandenburg galt als die kommen- Japan Borowski besetzt hatte, beanspruch- im August 2004 in Wien. Damals ließ er die de große Nummer, als Paßgeber fürs Tem- te der Kapitän zur WM wieder kategorisch Spieler die Grundsatzfrage „entscheiden“: pospiel, und Klinsmann suchte einen ge- für sich. Wollten sie lieber einen offensiven Stil pfle- eigneten Platz für ihn. Dann wandte sich Und als der Bremer, der die 18 trägt wie gen, mit dem sie das Publikum begeistern Michael Ballack mit einer Systemkritik einst Klinsmann, im abschließenden Test – oder eher passiv und öde auftreten; es („sehr offensiv ausgerichtet“) an die Öf- gegen Kolumbien beim Eckball dort parat liege ganz bei ihnen. fentlichkeit, und noch vor Turnierbeginn stehen wollte, wo per Kopfstoß vollstreckt Seinen fügsamen Spielern gewährt Klins- war Borowski seinen Posten wieder los. wird, wies ihn der Kopfballstar Ballack to- mann gern „Freilauf“ im Turnier, telefoni- Ja, sicher sei er das Opfer dieser Tak- bend zurecht. Borowski hatte sich weiter sche Pressekontakte, die nicht kontrolliert tikdebatte, sagt er etwas zugeknöpft und vorn am Torpfosten zu positionieren – werden können, sind jedoch unerwünscht. kriecht tiefer in den Sessel, „aber Ballack dort, wo man Ballack-Tore vorbereitet. Interne Ruhe wird so Teil des Systems. hatte ja Recht“. Es ist dumm gelaufen für Die Spitzen solcher Rivalitäten sind Nach den Gegentoren von Costa Rica hat- ihn, das Wort „Härtefall“ findet er „zu einstweilen vom Teamspirit abgeschliffen. te es noch Schuldzuweisungen gegeben: Da krass“ und dann doch angemessen, um sei- Allerdings fiel im Siegestaumel gegen Po- warf Lahm dem Mittelfeld unterlassene Hil- ne Lage zu schildern. Dass er als Vertreter len auf: Die Umarmung von Klinsmann feleistung vor, Borowski erinnerte an Arne des krankgeschriebenen Ballack im Eröff- und seinem Spielführer nahm sich beson- Friedrichs Stellungsfehler („Einer schläft“), nungsspiel eigensinniger hätte auftreten und Torsten Frings lobte seinen müssen, um sich aufzudrängen, das weiß er Telefonische Pressekontakte, und Borowskis Fleiß („Wir haben auch. „Aber es gab keine Situationen, um die nicht kontrolliert werden viel abgeräumt“). egoistisch zu spielen.“ Das „Trainerkol- Jetzt, nach der Erleuchtung von lektiv“, wie er den Stab nennt, wisse seine können, sind unerwünscht Dortmund, ist fast jeder vom Prin- Disziplin zu schätzen. zip der Selbstlosigkeit beseelt. Der Tim Borowski, der „Boro“, gehört zu Reservist Jens Nowotny trägt bef- denen, die den Kameraden ein paar Fla- ders flüchtig aus. Kein Konflikt hatte höhe- lissen den Sack mit Bällen zum Training ins schen Wasser mitbringen, wenn sie im Trai- re Wellen geschlagen als der um Ballacks Mommsenstadion, als sei er der Platzwart ning zur Erfrischung an den Spielfeldrand Einsatzfähigkeit im Eröffnungsspiel. Der des dort beheimateten Oberligisten Tennis laufen. Noch müssen ausländische Journa- Bundestrainer habe seine Autorität wahren Borussia. Er will keinen Druck auf tea- listen nach seiner Rückennummer fragen, müssen, ließ Klinsmanns Berater Roland minterne Konkurrenten ausüben, er sei um ihn auch in Zivilkleidung zu identifi- Eitel, wie ein Spin Doctor durchs Medien- „der Letzte, der da Fallen legt“. Das wäre zieren. Aber Ballack, der Platzhirsch, muss zentrum geisternd, verbreiten. Ballack je- ja „Vaterlandsverrat“. einen wie ihn im Auge behalten, der kluge doch, der im Verlauf der Affäre Presseer- Auch der Torschütze Oliver Neuville ist Pässe spielt, Fragen auf englisch beantwor- klärungen abgab wie ein Politiker, musste mit seiner Rolle als Teilzeitspieler „zufrie- ten kann und von der Statur und Erschei- eigene Interessen schützen. den“. Borowski reibt sich entschlossen die nung her auffällt. Den Platz in der Spiel- Als durchsickerte, dass die Teamleitung Nase und meint: „Trainieren tu ich gut. In- zentrale, den im Vorbereitungsspiel gegen dem Star angeblich sorglosen Umgang mit sofern warte ich mal ab.“ Jörg Kramer

der spiegel 25/2006 95 Titel

SCHWEDEN Kampfruf in den Himmel Die Popularität von Profis wie Zlatan Ibrahimovic hat ihren Preis: Die Skandinavier müssen sich mit einem neuen Phänomen ausein- andersetzen: Starkult im Team.

s war ein dünner Sieg, das 1:0 über Paraguay in der vorletzten Minute, Eund Zlatan Ibrahimovic hatte daran von allen 14 eingesetzten schwedischen Spielern sicher den geringsten Anteil. Doch der Mittelstürmer, in der Halbzeit wegen einer Leistenzerrung ausgewechselt, ver- mittelte noch eine Stunde nach dem Abpfiff

den Eindruck, als hätte er ganz allein das KUMM / DPA WOLFGANG Match gewonnen. „Ich bin mit meiner Leis- Kapitän Mellberg (2. v. l.), schwedische Nationalspieler: Fragiles Gefüge tung absolut zufrieden“, sprach er in den Katakomben des Berliner Olympiastadions die Schweden „Lagom“, was so viel heißt vic, Ljungberg und Larsson austoben kön- in einen Strauß Mikrofone. Obwohl jeder in wie „Mittelmaß“. nen. „Die drei besitzen immenses kreatives der Arena eine armselige Vorstellung von Aber Zlatan Ibrahimovic, Torjäger bei Potential“, sagt er. dem Schlaks gesehen hatte. Juventus Turin, verkörpert die Verletzung Das Trio steht für das neue Selbstbe- Ibrahimovic reckte den Hals und lachte. des Jante-Gesetzes. Der Sohn bosnischer wusstsein der Schweden. Die Mannschaft, „Es war phantastisch. Wenn wir so weiter- Einwanderer ist ein geltungssüchtiger In- lange als Maurermeister belächelt, schoss machen, können wir noch weit kommen.“ dividualist, fußballerisch so begnadet, dass in der WM-Qualifikation im Schnitt drei Selbstzweifel gehören nicht zu seinen Ge- er die magischen Momente eines Spiels Tore pro Partie, kein europäisches Team wohnheiten. zelebrieren kann: Bei der Europameister- traf öfter. Nach dem enttäuschenden, tor- Eigentlich dürfte es in der Mannschaft schaft vor zwei Jahren in Portugal wurde er losen Remis zum Auftakt gegen Trinidad der Blau-Gelben einen wie Zlatan Ibrahi- schlagartig berühmt, als er im Sprung und und Tobago zeigte sich jedoch, wie fragil movic, 24, gar nicht geben. Denn in Schwe- mit dem Rücken zum Tor den Ball mit der das Gefüge mit drei Protagonisten gewor- den existiert ein ungeschriebenes Gesetz, Hacke in den Winkel kickte. den ist. Fredrik Ljungberg atmete tief aus das Jante-Gesetz, und es besagt, dass kein So kommt es, dass die Schweden, die nach dem Schlusspfiff, er lies die Schul- Mensch besser ist als der andere. Die am Dienstag auf England treffen und am tern sacken, und dann reagierte er in der Skandinavier mögen es nicht, wenn je- Wochenende Gegner der deutschen Elf Kabine seinen Frust ab, indem er auf Olof mand aus der Menge herausragen will. sein könnten, sich in ihrem Binnenklima Mellberg losging. Die vom Kapitän orga- Eine große Solidargemeinschaft möchte mit einem neuen Phänomen auseinander- nisierte Abwehr habe nur lange Bälle in das Land sein, in der Reiche ärmer werden setzen müssen: dem Starkult. die Spitze gedroschen, klagte Ljungberg, sollen, Maulhelden demütiger und Duck- Verschärfend wirkt, dass nicht nur statt die Stürmer mit kurzen Pässen an- mäuser selbstbewusster. Das Ziel nennen Medienliebling Ibrahimovic eine Sonder- zuspielen. stellung genießt. Auch Fredrik Zwar versuchte Trainer Lagerbäck, das Ljungberg, 29, bei Arsenal Lon- Handgemenge als „Diskussion“ zu ba- don tätig, und Henrik Larsson, gatellisieren, doch die alte Qualität der 34, der jüngst mit dem FC Bar- Schweden, Defizite auf dem Feld durch ei- celona die Champions League nen besonderen Mannschaftsgeist zu kom- gewann, sind internationale Top- pensieren, scheint geschwächt. Immer öfter kräfte. „So viele Spitzenleute kommt es im Team zu Eifersüchteleien. hatte Schweden noch nie“, sagt Etwa wenn die jüngeren Spieler sich Trainer Lars Lagerbäck. Rat nicht mehr bei Kapitän Mellberg Traditionell galten Beschei- holen, sondern bei Ljungberg, Larsson denheit und Gleichrangigkeit als oder Ibrahimovic. Hauptmerkmale schwedischer Wie die Sympathien der Fans verteilt Nationalspieler. Nun lässt der sind, darüber gibt es keinen Zweifel. In Coach seinen Hauptdarstellern den Chatrooms im Internet und in den jede Freiheit. Im Prinzip ein Leserbriefspalten der schwedischen Zei- Freund des Systemfußballs, bie- tungen gilt ein Nonkonformist wie Ibra- tet Lagerbäck jetzt nur noch den himovic als jemand, der die schwedische Rahmen, in dem sich Ibrahimo- Gesellschaft von dem Muff ihrer Tradition befreit.

MARKUS SCHREIBER / AP MARKUS * Gegen Carlos Gamarra (Paraguay) am Und wenn der Mittelstürmer, der seine Stürmer Ibrahimovic*: Geltungssüchtiger Individualist vorigen Donnerstag in Berlin. Gegenspieler auch schon mal mit Faust-

96 der spiegel 25/2006 schlägen und Ellenbogenhieben traktiert, in diesen Tagen beim Training im Ama- ENGLAND teurstadion des SV Werder Bremen ei- nen Ball im Tornetz versenkt, skandieren Hunderte Fans mit blau-gelb bemalten Gesichtern seinen Namen: „Zla-tan! Der letzte Trumpf des Zockers Zla-tan!“ Dabei fällt es schwer, ihn wirklich zu Weil fast jeder englische WM-Spieler aus der glamourösen Premier mögen. Im WM-Vorbereitungslager auf Gotland schlurfte Ibrahimovic einmal League kommt, gilt das Team als heißer Tipp. Ein Missver- knapp eine halbe Stunde zu spät auf den ständnis. Denn alles ist abhängig von Wayne Rooneys rechtem Fuß. Platz, stand dann lustlos auf dem Rasen herum und schnauzte seine Mitspieler an, wenn ihre Pässe nicht kamen. Als man ihn auf der anschließenden Pressekonferenz darauf ansprach, sagte er: „Ich hasse Jour- nalisten. Ich verachte euch.“ Und als ein Reporter ihn in Bremen im Café fotogra- fieren wollte, wäre Ibrahimovic ihm fast an den Kragen gegangen. Leise Töne waren noch nie seine Sache. Ibrahimovic wuchs auf im Malmöer Vor- stadtghetto Rosengård, wo 80 Prozent der Einwohner Immigranten sind und jeder Zweite ohne Arbeit ist. In der Schule war er „der Prototyp eines Jungen, mit dem es böse endet“, erinnert sich seine frühere Rektorin. Jede Unverschämtheit ist Ibrahimovic gerade recht, neben dem Platz oder darauf. Einmal fuhr er ins Malmöer Rotlichtviertel, gab sich als Zivilpolizist aus und verhaf- tete einen Freier. Wenn vor dem Spiel die Nationalhymne erklingt, lässt er gelang- weilt Kaugummiblasen platzen. Die Mann- schaftskollegen nehmen seine Exzentrik und die Eskapaden hin, solange die Leis- tung stimmt. „Entscheidend ist, dass wir mit ihm besser sind als ohne ihn“, sagt Olof Mellberg. So pragmatisch war das Verhältnis nicht immer. In einem EM-Qualifikationsspiel gegen San Marino gab der Schiedsrich- ter Elfmeter für die Schweden, beim Stand

von 4:0; Kim Källström sollte schie- SMITH/INTERNATIONALSPORTSIMAGES.COM/CORBIS BRAD ßen, aber Ibrahimovic schnappte sich Nationalstürmer Rooney*: Wird er die anderen mitreißen? den Ball und verwandelte selbst. Die Mit- spieler verweigerten den gemeinsamen er junge Mann mit dem blonden herzt sein Trikot mit dem Verbandswappen Torjubel. Und Ibrahimovic musste sich Haar, der die Kabine der engli- ergreift. Die Schlagzeile darunter war pro- später öffentlich entschuldigen für seinen Dschen Nationalmannschaft betrat, grammatisch: „It is time“ – es ist Zeit. Eigensinn. trug trotz der schwülen Hitze in der Frank- Damit treffen die Blattmacher exakt die Demonstrativ beschworen die Schwe- furter Arena Anzug und Krawatte. Es war Stimmung auf der Insel. 40 Jahre nach dem den deshalb vor dem Paraguay-Spiel den Prinz William, 23, der einen handgeschrie- letzten WM-Sieg präsentieren sich die eng- Teamgeist. Als das letzte Training ver- benen Brief seiner Großmutter, der Köni- lischen Fußballfans durchdrungen von der gangenen Mittwoch beendet war, versam- gin von England, bei sich hatte. Sehnsucht, endlich einmal wieder den Ti- melten sich alle Spieler, fassten sich an den Als Vertreter des Buckingham Palace tel zu feiern. Ihre Zuversicht hat auch da- Schultern, bildeten einen Kreis und brüll- übergab er die Depesche kurz vor dem ers- mit zu tun, dass bis auf Beckham, der für ten einen Kampfruf in den Himmel. ten WM-Spiel dem Trainer Sven-Göran Real Madrid spielt, und auf Owen Har- Als der Schiedsrichter am nächsten Tag Eriksson und forderte ihn auf, die Zeilen greaves vom FC Bayern München alle dann das Match gegen die Südamerikaner laut vorzutragen – in gesetzten Worten Spieler bei den Topclubs der heimischen abpfiff, rannten Auswechselspieler, Trai- wünschte die Queen den Spielern in Premier League unter Vertrag sind – der ner und Betreuer auf den Rasen zur Mann- Deutschland viel Erfolg. grellsten, der attraktivsten und der ver- schaft. Doch die Schweden feierten den Im Ton etwas direkter war das Massen- schwenderischsten Liga der Welt. Erfolg nicht wirklich zusammen: Auf dem blatt „The Sun“. Die Zeitung zeigte auf der Was soll da schon schiefgehen bis zum Platz bildeten sich zwei Menschentrauben. Titelseite David Beckham im roten Natio- 9. Juli, dem Tag des Endspiels? Und für einen Moment stand Zlatan Ibra- naldress, der mit seiner rechten Hand be- Doch dann kam in den ersten zwei WM- himovic allein zwischen ihnen. Partien gegen Paraguay sowie Trinidad Er konnte sich nicht entscheiden, mit wem * Beim Spiel gegen Trinidad und Tobago am 15. Juni in und Tobago, ein Mittel- und ein Leicht- er jubeln wollte. Maik Großekathöfer Nürnberg. gewicht, alles wie in längst überwunden

98 der spiegel 25/2006 Titel geglaubten Zeiten. Zwar gewannen die bei der WM für die BBC als Analytiker ar- Nachrichtenbörse der Nationalmannschaft Engländer beide Spiele, doch trotz ihrer beitet: „Wenn England hier in Deutschland ist. Es gab Obst und frischen Orangensaft, großen Namen bolzten sie so uninspiriert Erfolg hat, dann wohl nicht wegen, son- und Eriksson sollte Auskunft über Rooney wie in jenen Tagen, als auf der Insel kon- dern eher trotz des Trainers.“ erteilen. tinentale Einflüsse im Fußball noch als Be- Für geradezu verrückt halten es die Bri- Vor dem Trainer saßen etwa hundert drohung ureigener Werte verteufelt wur- ten, dass Eriksson, der jährlich vier Millio- Journalisten, und neben ihm saß sein Pres- den. „Was immer wieder von Neuem so nen Pfund kassiert, für das Turnier nur sesprecher, der eher den Titel Presseab- bestürzend ist“, kritisierte der „Indepen- vier Stürmer nominiert hat. Einer von ih- wehrchef verdient. „Keine Fragen zu Roo- dent“, sei der Eindruck, dass die Mann- nen, der 17-jährige Theo Walcott, gilt bei ney“, sagte der Mann neben Eriksson. Es schaft von Trainer Eriksson „nicht im Ge- Arsenal London, das häufig ohne einen war, als würde der britische Premier Tony ringsten etwas davon erahnen lässt, was einzigen Engländer antritt, als Sternchen Blair vor einer Deutschlandreise die Be- man den Rhythmus eines potentiellen und hat in der Premier League noch keine dingung stellen: keine Fragen zu Angela Weltmeisters nennen könnte“. Minute gespielt. Merkel. Es ist so etwas wie der Fluch der Pre- So konzentriert sich alle Hoffnung auf Dann las Eriksson in seinem sperrigen mier League. Einerseits suggeriert das Wayne Rooney, 20. Eigentlich hätte Eriks- Englisch ein Statement vom Blatt ab. Es Spektakel, das den Fans auf der Insel Wo- son dem Wunderknaben nach dessen Mit- waren schwammige Informationen, die che für Woche geboten wird, dass sie im telfußknochenbruch Ende April empfeh- vollkommen offenließen, ob Rooney fit fußballerischen Schlaraffenland leben. An- len müssen, während der WM zu Hause in war oder nicht. Nach einer Minute war dererseits hat der milliardenschwere Gla- Ruhe an seiner Genesung er fertig, stand auf und mourbetrieb einen Verdrängungswettbe- zu arbeiten. Doch der ging. werb um die begehrten Arbeitsplätze bei Coach ignorierte den Rat Sich rätselhaft und un- den Vereinen in Gang gesetzt, der welt- von Medizinern, nahm zugänglich zu geben ge- weit einmalig ist. den Jungstar mit nach hört bei seiner Mission in Der Entwicklung der englischen Fußbal- Deutschland – und provo- Deutschland zu Erikssons ler, so ist zu Beginn der WM gut zu beob- zierte damit das Zerwürf- Programm. Das Luxus- achten, schadet der Boom wohl eher. Den nis mit Rooneys Arbeitge- hotel Bühlerhöhe, in dem Nutzen hat der Rest der Welt. Denn Top- ber Manchester United. die englische Entourage clubs wie der FC Chelsea, Manchester Uni- Als Eriksson den bulli- logiert, liegt auf einsamen ted, der FC Liverpool, Arsenal London und gen Angreifer am vorigen Schwarzwaldhöhen und Tottenham Hotspur vergeben die Schlüs- Donnerstag in dem arm- wird von Wachleuten her- selpositionen in Spielaufbau und Angriff seligen Kick gegen Tri- metisch abgeriegelt. Die fast ausschließlich an ausländische Cracks. nidad und Tobago beim Besatzung eines Hub- Talenten von der Insel hingegen bleiben Stand von 0:0 nach knapp schraubers sorgt aus der die Kreativstellen weithin verwehrt. einer Stunde tatsächlich Luft dafür, dass rechtzeitig Fast jeder siebte Profi, der bei der WM aufs Feld schickte, ähnel- alle Straßen gesperrt sind, in Deutschland dabei ist, verdient sein te er einem Zocker, der sobald Team England im

Geld bei einem Club in England (siehe schon früh seinen letzten ADRIAN DENNIS / AFP Bus zum Mittelbergsta- Grafik), und es ist kein Zufall, dass die Trumpf zieht. Nun hängt Nationaltrainer Eriksson dion rollt. Besten gleich bei ihrem ersten Turnierauf- alles davon ab, was Roo- Taktische Einfalt Die Anwohner, die bei tritt in Deutschland ein Zeichen ihrer Klas- ney macht. Wird er die an- der Ankunft der Mann- se gesetzt haben: etwa der Niederländer deren mitreißen? Wird er zu alter Form schaft vor zwei Wochen ihre Häuser noch Arjen Robben, der Argentinier Hernán auflaufen? Was passiert, wenn er sich wie- mit englischen Flaggen geschmückt hatten, Crespo oder Didier Drogba von der Elfen- der an seinem Fuß verletzt? fühlen sich von dem staatsmännischen beinküste. Eriksson, ein Mann mit knochigem Ge- Auftrieb längst belästigt. Einer hat ein un- Andererseits erstaunt es nur bedingt, sicht und misstrauischem Blick, will den übersehbares Transparent an seine Garage dass englische Starkicker wie Frank Lam- Eindruck vermitteln, als liefe alles nach gehängt mit der Aufschrift „Welcome to pard vom FC Chelsea oder Steven Ger- Drehbuch. Seine Kritiker hält er für Di- Absurdistan“. rard vom FC Liverpool, die in der Premier lettanten, seine Pläne zu erörtern erscheint Es gibt nicht einmal etwas zu sehen, League verlässlich auf Hochtouren laufen, ihm als Zeitverschwendung. Einmal ließ er England übt hinter verschlossenen Toren. im Nationalteam nur selten ihr Niveau sich überraschend in dem weißen, geräu- Den Rasenplatz, um den sich in diesen Ta- erreichen. Ihr Leistungsabfall ist system- migen Zelt blicken, das der englische Fuß- gen der Greenkeeper des Wembleystadi- bedingt. So muss der schussgewaltige Ger- ballverband in Bühlertal errichtet hat und ons sorgt, umschließt ein mannshoher rard genauso wie Lampard bei Länder- das während der WM so etwas wie die Sichtschutz, und an dem Hang hinter der spielen im Mittelfeld Defensivaufgaben er- Haupttribüne, der freien Blick auf die Spie- ledigen, die ihm im Club ein Stratege wie ler zulässt, patrouillieren uniformierte Auf- der Spanier Xabi Alonso – auf dieser Posi- Magnet England passer. tion beim WM-Auftakt der Iberer gegen Selbst die Paparazzi aus London tun die Ukraine einer der überragenden Spie- Von den 736 WM-Teilnehmern sich da mit Bildern schwer. In ihrer Not ler – selbstverständlich abnimmt. spielen in: machen sich die Fotografen hin und wie- Dass Trainer Eriksson, der nach der WM der auf ins 20 Minuten entfernte Baden- den Job abgibt, auf diese Weise zwei der ENGLAND 102 Baden. Sie postieren sich vor Brenner’s entscheidenden Figuren in Englands Team Parkhotel, der feinsten Adresse in der Kur- schwächt, bringt seine zahlreichen Gegner DEUTSCHLAND 75 stadt, wo sie die Terrasse im Visier haben. immer heftiger in Wallung. Dem Coach ITALIEN 61 Hin und wieder, wenn sehr attraktive aus Schweden taktische Einfalt und Unbe- junge Frauen erscheinen, werden sie hek- lehrbarkeit vorzuwerfen ist im Lager der FRANKREICH 58 tisch. Es sind die sogenannten „Wags“, die Briten mittlerweile Standard. Andere flüch- wives and girlfriends. Englands Spieler- ten sich in Sarkasmus. So ätzte der frühe- SPANIEN 51 frauen sehen allesamt aus, als ob sie nie- re Nationalstürmer Gary Lineker, 45, der mals verlieren. Michael Wulzinger

der spiegel 25/2006 99 Panorama Ausland

JEMEN Republikanischer Thronwechsel? ach 28 Jahren Regentschaft gehört NAli Abdullah Salih zu den dienstäl- testen Herrschern Arabiens, überrundet nur noch von Libyens Revolutionsfüh- rer Muammar al-Gaddafi und dem Sul- tan von Oman. Ein Leben ohne Salih können sich die meisten der 20 Millio- nen Jemeniten kaum vorstellen, in ihrem Land ist der Präsident so allge- genwärtig wie ein Krummdolch im be- stickten Gürtel jemenitischer Männer. Nun hat der Staatschef seine Ankündi- gung bekräftigt, bei der Präsidenten- wahl im September nicht mehr zur Ver- fügung zu stehen. Die eigene Partei, den Allgemeinen Volkskongress, hat er damit in helle Aufregung versetzt: Sie ist von der plötzlichen Entlassung aus der Unmündigkeit paralysiert und drängt Salih, sich erneut zur Wieder- wahl zu stellen. Auch die oppositionel- len Islamisten und Sozialisten halten sich bislang mit einer eigenen Kandida- ERANGA JAYAWARDENA / AP JAYAWARDENA ERANGA Polizist am Anschlagsort in Kabithigollewa

SRI LANKA Rückkehr zur Gewalt ier Jahre nach Beginn einer brüchi- von Beobachtern die Eskalation der Ge- Vgen Waffenruhe steht der Insel ein walt – am 29. Mai hatte die Europäische erneuter Ausbruch des Bürgerkriegs Union die LTTE auf ihre Terrorliste ge- zwischen der singhalesischen Regierung setzt und die Konten der Tamilen-Tiger

KHALED FAZAA / AFPKHALED und den tamilischen Rebellen bevor, eingefroren. Jehan Perera, Direktor des Salih-Porträt in Hudeida nachdem vergangenen Donnerstag bei Nationalen Friedensrates in Colombo: dem bisher blutigsten Anschlag der „Wenn die Rebellen wirtschaftlich und tur zurück, sie zweifeln am Ernst von jüngsten Zeit 64 Menschen starben. Auf politisch weiter isoliert werden, bleibt Salihs Rücktrittsabsichten. Viele glau- die Explosion von zwei Landminen ne- ihnen am Ende nur eine Option: der ben, dass sich der Präsident im „Inter- ben einem Bus in Kabithigollewa im Krieg.“ Bereits seit vergangenem Som- esse der nationalen Sicherheit“ doch Nordosten Sri Lankas antwortete die mer zeichnet sich ab, dass die Rebellen noch einmal aufstellen lässt und das Regierung mit Luftschlägen gegen Stel- eine Verschärfung des Konflikts provo- Terrain für seinen Sohn Ahmed vorbe- lungen der Aufständischen. Zwar weist zieren wollten – damals wurde Sri Lan- reitet, der bei den übernächsten Wahlen die Rebellenorganisation Liberation Ti- kas Außenminister Kadirgomer von 2013 kandidieren könnte. Ein solcher gers of Tamil Eelam (LTTE) die Verant- Heckenschützen erschossen. Bei der Thronwechsel wäre in den arabischen wortung für den Anschlag zurück und letzten Runde der Friedensgespräche in Republiken nicht unüblich: In Syrien macht rivalisierende Splittergruppen Oslo wollten die Vertreter der LTTE erbte Baschar al-Assad nach dem Tod verantwortlich – doch vieles deutet dar- nicht einmal mehr mit den Regie- seines Vaters Hafis dessen Amt, auch in auf hin, dass das Interesse von Guerilla- rungsemissären sprechen. Seit 23 Jah- Ägypten gilt es als wahrscheinlich, dass Chef Velupillai Prabhakaran an einer ren spaltet der Konflikt das Land, über Husni Mubarak seinen Sohn Gamal politischen Lösung des Konflikts ge- 65000 Menschenleben hat er bereits ge- zum Nachfolger kürt. Ahmed Salih ist schwunden ist. Die LTTE hält nach Ex- kostet. Wegen der diversen tamilischen schon jetzt Befehlshaber militärischer pertenmeinungen 12 bis 14 Prozent von Splitterfraktionen neben der LTTE, die Spezialeinheiten im Jemen und Mitglied Sri Lanka unter Kontrolle und möchte sich kaum noch an die vereinbarte Feu- der Volkskongress-Partei. Auf die politi- ihren Herrschaftsbereich lieber sichern, erpause halten, wird die Lage im Nor- sche Zukunft seines Sohnes angespro- als sich auf ein Abkommen mit der Re- den immer unübersichtlicher. „Es ist chen, gab der Präsident bereits seinen gierung einzulassen. Auch die wachsen- kaum noch zu erkennen, wer da auf Segen: „Wie jedem anderen Bürger des de internationale Marginalisierung der wen schießt“, sagt ein europäischer Ent- Jemen“ stehe es auch Ahmed frei, sich Rebellengruppe fördert nach Ansicht wicklungshelfer. für das höchste Amt zu bewerben.

der spiegel 25/2006 101 Panorama

MONGOLEI Empörte Sparer ur fünf Monate nach ihrem Antritt Nsteckt Ulan Bators neue Regierung unter Führung der postkommunisti- schen Revolutionären Volkspartei in ei- ner schweren Krise. Nach der Ermor- dung des Leiters der staatlichen Ban- kenaufsicht, Dashdorj Badraa, 32, hat die Regierung die Sicherheitsmaßnah- men verstärkt und an die Opposition appelliert, Ruhe zu bewahren. Der Mord ist vorläufiger Höhepunkt in einer Bankenkrise, die Tau- sende von Bürgern um ihre Ersparnisse ge- bracht hat. Als Chef der Regulierungsbehör- ERMAL META / AFP de hatte Badraa den Protestierende Serben in Mitrovica Auftrag, undurchsichti- ge Machenschaften so- KOSOVO

HAO LIFENG / AP HAO LIFENG genannter Spar- und Enkhbold Kreditgenossenschaften zu durchleuchten. Ne- Furcht vor Massenexodus ben den offiziellen Banken haben sich in der Mongolei knapp 850 dieser Fi- ie Vereinten Nationen rechnen mit ei- nen. Im März 2004 war zuletzt ein albani- nanzinstitute etabliert. Nachdem Ba- Dner Fluchtwelle der Serben, wenn die scher Mob über die serbischen Nachbarn draa gegen etliche von ihnen wegen Un- Krisenprovinz die staatliche Unabhängig- hergefallen. Die 18000 Mann starke inter- treue ermittelte, meldeten im Mai zehn keit erlangt. Etwa 100000 der rund zwei nationale Friedenstruppe hatte damals Genossenschaften Bankrott an. Vorigen Millionen Bewohner des Kosovo sind Ser- nicht verhindert, dass Kirchen und Häuser Donnerstag wurde Badraa am Regie- ben. In einem vertraulichen Papier schät- gebrandschatzt wurden. 19 Menschen fan- rungssitz von einem der Pleitechefs er- zen Experten der Uno-Verwaltung, dass den den Tod. stochen, der noch dazu ein prominenter mindestens 30000 Serben das Kosovo ver- Als mögliches Zentrum gewaltsamer Aus- Politiker der Regierungspartei ist. lassen werden, selbst wenn es nach der Un- einandersetzungen gilt die geteilte Stadt Schwierig wird es für Ministerpräsident abhängigkeit nicht zu Gewaltakten der al- Mitrovica im Nordkosovo. Die Uno ver- Miyegombyn Enkhbold, 41, gegen den banischen Bevölkerungsmehrheit kommen stärkte ihre Polizeitruppe dort bereits um nach wütenden Rentnern, Umwelt- sollte. Im Falle von Übergriffen müsse Bel- 500 Mann. Anfang Juni hatten sich die schützern und Studenten jetzt auch die grad mit mehr als 70000 Flüchtlingen rech- politischen Führer der Kosovo-Serben aus geprellten Sparer demonstrieren.

INDIEN der den Job auch wirklich erledigen kann. zielle Ausstattung der Uno. Leider neigen Mein Vorteil ist, dass ich ein Insider bin. die meisten Mitgliedstaaten dazu, ihre „Alternatives Universum Internationale Organisationen sind sehr Beiträge spät oder in Raten zu zahlen. komplex, ein Außenstehender muss sich SPIEGEL: Wird Deutschland seiner inter- im Kopf“ erst langwierig zurechtfinden. nationalen Verantwortung gerecht? SPIEGEL: Viele Politiker kritisieren die Ver- Tharoor: Deutschland war eines der wirk- Shashi Tharoor, 50, einten Nationen als bürokratisches Mons- samsten nichtständigen Mitglieder des Schriftsteller und PR- ter. Wie reformbedürftig ist die Uno? Sicherheitsrates. Bei Uno-Friedensmis- Chef bei den Verein- Tharoor: Sehr. Ein Beispiel dafür ist der sionen würde ich aber gern mehr deut- ten Nationen, über überfällige Umbau des Sicherheitsrates. sche Blauhelme sehen. seine Chancen, Uno- Seit Anfang der neunziger Jahre liegt die SPIEGEL: Haben Sie eigentlich noch Zeit Generalsekretär Kofi Uno schon auf dem Operationstisch. Die zum Schreiben?

Annan zu beerben X / STUDIO GAMMA Ärzte stehen drum herum, sind Tharoor: In Zukunft wohl sich einig über die Diagnose, noch weniger. Bei mir liegt SPIEGEL: Es herrscht weitgehend Einigkeit aber nicht über die Therapie. seit drei Jahren ein Roman- darüber, dass der nächste Uno-Chef aus SPIEGEL: Was würden Sie als anfang in der Schublade. Li- Asien stammen soll. Nun hat Indien Sie Erstes anpacken? teraten brauchen nicht nur zum Kandidaten gekürt, aber es gibt auch Tharoor: Die Verwaltung muss Zeit, sondern auch ein al- noch Konkurrenten aus Sri Lanka, Süd- vereinfacht werden, die Uno- ternatives Universum im

korea und Thailand. Beamten sollten freier arbei- SINTESI / VISUM Kopf. Tharoor: Bei drei Milliarden Asiaten soll- ten können. Besorgt bin ich te es doch möglich sein, einen zu finden, auch über die schlechte finan- Uno-Zentrale in New York

102 der spiegel 25/2006 Ausland

RUSSLAND verhaftet. Präsident Wladimir Putin hat- te am 9. Mai in einer Rede zum „Tag SERBIEN Serbische Chauvinisten in Uniform des Sieges“ über das Nazi-Regime ange- Enklaven sichts der Gewaltwelle vor „Rassenhass, remdenfeindliche Übergriffe durch Extremismus und Fremdenfeindlich- FRechtsextreme und Gewalt von Poli- keit“ gewarnt, welche „die Welt in eine zisten gegen Zuwanderer bescheren Sackgasse“ führe. Doch ausgerechnet MONTE- Russland unmittelbar vor dem G-8-Gip- seiner hauptstädtischen Polizei wirft NEGRO Kosovska Mitrovica fel in St. Petersburg am 15. Juli ein jetzt eine Studie der Open-Society-Stif- PriΔtina Image-Problem. Mehrfach wurden in tung von George Soros systematische jüngster Zeit dunkelhäutige Ausländer, Menschenrechtsverletzungen vor. Die aber auch Armenier und Tadschiken in Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, KOSOVO russischen Städten Opfer rassistisch mo- dass nicht europäisch aussehende Fahr- tivierter Schläger. Allein 2005 kamen gäste der Moskauer Untergrundbahn Prizren nach einer Studie des Moskauer Forschungs- instituts Sowa bei ras- ALBANIEN sistischen Attacken in MAZEDONIEN Russland 28 Menschen 50 km ums Leben, 366 wurden verletzt. Die Taten wer- den überwiegend von allen Institutionen der Provinz zurück- Mitläufern des rechtsex- gezogen. Auf diese Weise hätten sie die tremen Skinhead-Milieus Erfüllung demokratischer Standards im begangen, zu dem nach Kosovo, zu denen auch der Minderheiten- Expertenschätzungen schutz gehört, erheblich erschwert, kriti- etwa 50000 junge Russen sierte Uno-Generalsekretär Kofi Annan. Er zählen. Die mit neo- beschuldigte Belgrad, die Entscheidung der nazistischen Splittergrup- Kosovo-Serben hinter den Kulissen er- pen verfilzte Szene wird

zwungen zu haben. Auch der überraschen- nach Einschätzung des / VISUM PHOTOXPRESS de Rückzug des bisherigen Uno-Verwalters Moskauer Extremismus- Russische Skinheads in Moskau Sören Jessen-Petersen birgt neue Gefahren. forschers Alexander Ta- Dem Dänen war nicht nur von Serben vor- rasow teilweise von der Polizei gedeckt. 22-mal häufiger von der Polizei angehal- geworfen worden, allzu sehr auf Seiten der Bisweilen sind die fremdenfeindlichen ten werden als Menschen mit slawischen Albaner gewesen zu sein. Als Nachfolger ist Ordnungshüter von den kahlen Kame- Gesichtszügen. Die Stiftung rügt die der niederländische Diplomat Peter Feith raden kaum zu unterscheiden. So über- „abstoßende Praxis“ als „Verstoß gegen im Gespräch. Sollte jedoch ein längeres Va- fielen Moskauer Polizisten in Zivil am Russlands Verfassung und die interna- kuum an der Spitze des Uno-Protektorats 7. Juni eine Gruppe von Tadschiken tionalen Verpflichtungen“. Ein Sonder- entstehen, könnten bei Serben wie bei Al- in einem Wohnheim einer staatlichen gesandter der Vereinten Nationen soll banern militante Kräfte Auftrieb erhalten. Universität und schlugen fünf Opfer jetzt in St. Petersburg und Moskau den krankenhausreif – nur ein Polizist wurde Ursachen der Exzesse nachgehen. FOTOCREDIT Wahlfavoritin Royal: Die großen Themen beim Gegner gestohlen

FRANKREICH Frühstart für die Wende Ein halbes Jahr bevor die Kandidaten für die Nachfolge von Präsident Jacques Chirac offiziell gekürt werden, läuft der Wahlkampf bei den Nachbarn bereits auf Hochtouren – die Franzosen sehnen einen Neuanfang herbei. Star des Bewerberfelds ist die Sozialistin Ségolène Royal.

amiliäre Herzlichkeit herrscht im „Dazu brauchen wir eure Mitarbeit“, wirbt Experten ihre Propagandamaschinen auf blassgelben Saal des Renaissance- die 38-jährige Deutschlehrerin und lädt die Hochtouren gebracht. FZentrums von Oullins. Etwa fünf Genossen zum traditionellen „Glas der In den Planungsstäben feilen Werber eif- Dutzend Mitglieder der Sozialistischen Freundschaft“ ein. rig an Fernseh-Spots und griffigen Paro- Partei (PS) haben sich an diesem Samstag- Genau zur selben Stunde tritt in Paris len. Sie spüren landesweit ein neues Inter- morgen eingefunden, um die jüngsten Nicolas Sarkozy vor die frisch angeworbe- esse an der Politik. Sowohl den Sozialisten Neuzugänge des Ortsvereins vor den Toren nen Mitglieder der konservativen Union wie auch der UMP ist es gelungen, inner- von Lyon feierlich zu begrüßen. pour un mouvement populaire. Der Par- halb weniger Monate die Zahl ihrer Par- Die Motive der Nachwuchs-Genossen teichef der UMP empfängt im prächtigen teimitglieder beinahe zu verdoppeln – für ihren Parteibeitritt sind so verschie- Konzertsaal Gaveau, wo er sich nicht lan- nicht zuletzt, weil der Beitritt jetzt per Te- den wie ihre Biografien: Tareq, 26, Sohn ge mit Artigkeiten aufhält. Sarkozy, der lefon, SMS oder Internet möglich ist; ein nordafrikanischer Einwanderer und Ge- zugleich Innenminister ist, stilisiert sich paar Doppelklicks genügen. schichtsstudent, hat sich nach den Novem- zum patriotischen Vorkämpfer gegen Kri- Als ginge es bereits ums Ganze, hastet ber-Unruhen in den Vorstädten dazu ent- minalität und illegale Einwanderung. Ve- UMP-Spitzenmann Sarkozy von Termin schieden; Stéphane, 33, Ingenieur für Um- hement drischt er auf das gerade veröf- zu Termin: Besonders gern zeigt er sich welttechnik und Spross einer sozialisti- fentlichte Wahlprogramm der Sozialisten mit Polizisten oder Feuerwehrleuten. Bei schen Arbeiterfamilie, reizte die Möglich- ein. Es sei ein Beleg dafür, dass die Kon- seinen Auftritten, orchestriert wie patrio- keit, am neuen Grundsatzprogramm mit- kurrenz „mit Volldampf Kurs auf die Ver- tische Hochämter, buhlt Sarkozy um das zuarbeiten. Ehefrau Juliette, 32, zeigt sich gangenheit nimmt“. rechtsnationale Wählerpotential, wettert dagegen von der neuen Starpolitikerin der Volle zehn Monate vor der nächsten gegen die „erlittene Einwanderung“ und PS beeindruckt: „Mit Ségolène Royal“, Präsidentenwahl fühlt sich der Wahlkampf empfiehlt sich als Sprachrohr der verunsi- sagt die arbeitslose Sozialhelferin, „kön- bereits an, als stünde die heiße Phase un- cherten Mittelklasse. nen wir gegen die Rechten gewinnen.“ mittelbar bevor. Trotz der Fußball- Auch die Sozialisten wollen nicht noch Die örtliche Parteichefin Joëlle Séchaud Weltmeisterschaft mit dem enttäuschen- einmal von der Geschichte bestraft wer- beschließt das Aufnahmeritual mit einem den Auftakt für „les Bleus“, trotz der nun den. Tief sitzt das Trauma der Präsident- Appell: Die kommenden Wahlen könn- bevorstehenden zweimonatigen Sommer- schaftswahl von 2002, als der sozialistische ten Frankreich von Grund auf verändern. pause haben Parteistrategen und Polit- Premier Lionel Jospin nach einer blama-

104 der spiegel 25/2006 Ausland blen Kampagne im ersten Wahlgang gegen den Rechtsextremen Jean-Marie Le Pen unterlag und aus dem Rennen ausschied. Einziges Handicap der PS, deren Mitglie- der erst bei der parteiinternen Vorwahl am 16. November über ihren Kandidaten ab- stimmen: Diesmal bewirbt sich gleich ein halbes Dutzend Parteipromis um den Spit- zenplatz. Dass die Wahlen im nächsten Jahr – ei- nen Monat nach der Entscheidung über die Präsidentschaft geht es um die Neu- verteilung der Sitze in der Nationalver- sammlung – schon heute soviel Interesse wecken, zeigt allerdings auch, das die Fran- zosen mit den Regierenden nichts mehr am Hut haben – und umgekehrt. Präsident Chirac und manche seiner Mitstreiter wirken so lustlos, als sei es eine Zumutung, dieses Volk noch weiter regie- ren zu müssen. Premierminister Domi- nique de Villepin, der sich vor einem hal- ben Jahr noch selbst Hoffnung gemacht hatte, Chirac zu beerben, ist in einem Af- färenstrudel versunken. Die Promis der Sozialisten, jene Alt-Herren-Riege ehema-

liger Minister, die von den Medien „Ele- FOTOCREDIT fanten“ genannt werden, vermitteln weder Innenminister Sarkozy mit Polizeioffizieren: Das Versäumte nachholen Enthusiasmus noch Visionen. Auf dem Hintergrund dieses Horizonts grafie, die sie aus widrigen Anfängen nach Strukturen und Traditionen, sogar für ei- aus Grautönen zeichnet sich eine Wahl ab, oben geführt hat – Sarkozy erinnert gern nen Umbau der Verfassung. Und die So- von der sich die meisten Franzosen gleich- an seine Vergangenheit als Immigranten- zialistin befürwortet ihrerseits das Modell wohl eine Zeitenwende versprechen. Denn kind, Royal an ihren Aufstieg aus einfachs- einer „partizipativen Demokratie“, das der Wettlauf um den Einzug in den Elysée ten Verhältnissen. dem Bürger mehr direkte Mitsprache und ist immer mehr zu einem vorgezogenen Und beide Kandidaten versuchen sich Einflussnahme verschaffen soll. Showdown geworden zwischen dem Star als moralisch aufrechte Reformer auszuge- Dass Sarkozy wie Royal dabei ideologi- der Sozialisten, Ségolène Royal, 52, und ben, als ehrliche Volkstribunen jenseits von schen Ballast abwerfen, stört allenfalls die UMP-Chef Nicolas Sarkozy, 51. Klüngel, Korruption und dem Beziehungs- Dogmatiker in den eigenen Parteien: 61 Beide verkörpern einen Generations- filz der Pariser Eliten, unverbogen vom in- Prozent der Franzosen können keinen Un- wechsel, fordern eine Modernisierung der stitutionellen Räderwerk der Republik. terschied zwischen den beiden großen La- Politik und schmücken sich mit einer Bio- Frankreich, das sich bislang als Bastion der gern erkennen, 67 Prozent wünschen sich Reformunwilligkeit gezeigt hat, will, da- zur Beendigung der Dauerkrise gar die von sind die beiden Bewerber überzeugt, deutsche Lösung – eine Große Koalition. endlich das Versäumte nachholen. Die erhoffte Verbrüderung zwischen Doch was die Favoriten den Wählern Rechts und Links dürfte freilich ausblei- anbieten, ist überwiegend Augenwische- ben, denn von der pragmatischen Kurs- rei: Sarkozy wie Royal sind seit Jahrzehn- annäherung profitiert derzeit vor allem die ten Teil des Establishments – der UMP- Sozialistin: Einst als „Kandidatin der Me- Mann als Abgeordneter, Finanz- und In- dien“ abgetan, hat sich Royal nach einer nenminister; die Sozialistin, heute Präsi- Zeit vorsichtiger Zurückhaltung zu einer dentin der Region Poitou-Charentes, echten Stimmenfängerin für ihre Partei stammt aus der staatlichen Kaderschmiede entwickelt – erst mit dem intelligent ge- Ena, machte unter Mitterrand Karriere als pflegten Bild der femininen Außenseite- Ministerin für Umwelt und kümmerte sich rin, dann als wertkonservative Verfechterin hernach um Ressorts wie Familie oder von Ordnung, Autorität und Familie. In- Schule. zwischen hat sie mit der gezielten Über- Dennoch haben es die zwei Polit-Profis schreitung der Parteilinie nicht nur die geschafft, in den Augen der Öffentlichkeit innerparteiliche Männer-Konkurrenz ab- als unverbrauchte Führungspersönlichkei- gehängt, sondern auch den Spitzenkandi- ten zu erscheinen. Angesichts von Frank- daten der UMP. reichs Malaise – eine chronisch hohe Ar- Zunächst verprellte die unorthodoxe PS- beitslosigkeit, eine erdrückende Schulden- Frau eigene Partei-Hierarchen mit Lob für last von über einer Billion Euro und halb- die Wirtschaftspolitik von Großbritanniens herzige Reformansätze, die meist in fau- Premier Tony Blair, dann rügte sie die ne- len Kompromissen enden – wecken Royal gativen Folgen der 35-Stunden-Woche, die und Sarkozy Hoffnung auf einen Neu- alle anderen PS-Bewerber als unantastba-

FOTOCREDIT beginn. re Errungenschaft der Sozialisten feiern. Premier Villepin, Präsident Chirac So plädiert der UMP-Chef unerschro- Schließlich überraschte Royal mit einer Die Zumutung, dieses Volk zu regieren cken für den „Bruch“ mit überkommenen weiteren Kehrtwende: Schwule und Les-

der spiegel 25/2006 105 ben, so die vierfache Mutter, sollen künf- tig eheähnliche Gemeinschaften absch- ließen dürfen, mit allen Rechten, die auch Verheiratete genießen – Adoption einge- schlossen. Den bisher massivsten Tabubruch leis- tete sich Royal aber bei einem Besuch in der Pariser Randgemeinde Bondy, einer jener urbanen Konfliktzentren, die euphe- mistisch als „sensible Viertel“ beschrieben werden: Nach einer Abrechnung mit der negativen Sicherheitsbilanz der Regierung forderte sie für Ersttäter im Alter über 16 Jahren eine „Betreuung durch das Mi- litär“; zudem sollten überforderte Eltern nicht mehr frei über Familienbeihilfen ver- fügen können, und für alle Jugendlichen empfahl die Sozialistin einen obligatori- schen Zivildienst. „Verrat an den linken Werten“, empör- ten sich Gewerkschafter und Studenten- vertreter, die PS-Elefanten schimpften. „Wir haben schon einen Sarkozy, wir brau-

chen keinen zweiten“, tadelte Ex-Wirt- FOTOCREDIT schaftsminister Dominique Strauss-Kahn; König Abdullah II.: „Unser strategisches Ziel muss Stabilität sein“ selbst François Hollande, PS-Parteichef und Lebensgefährte von Royal, konnte sich einen Seitenhieb auf solche „Dummhei- SPIEGEL-GESPRÄCH ten“ nicht verkneifen. Die Entrüstung an der Parteispitze war jedoch von kurzer Dauer. Bei der Mehrheit „Den Preis zahlen wir alle“ der Franzosen fanden die martialischen Vorschläge Beifall – linke Wähler und Par- Jordaniens König Abdullah II. über Auswege aus der chaotischen teigänger der Sozialisten eingeschlossen. Tatsächlich bewies die Politikerin einmal Situation im Irak, Erfolge im Kampf gegen den Terrorismus mehr Gespür für populäre Themen. „Die und den Zwang zu Verhandlungen mit den Teheraner Mullahs Originalität ihrer Vorschläge besteht darin, die Sozialistische Partei von der rechten SPIEGEL: Majestät, der Terrorist Abu Mus- gangenheit besonders gut kooperiert. Das Flanke her bezwingen zu wollen“, lobte sab al-Sarkawi, der für den Irak wie für war Teil der globalen Strategie im Kampf der konservative „Figaro“, und der linke Jordanien eine Gefahr war, ist tot. Ist der gegen den Terrorismus. „Nouvel Observateur“ wertete die pro- Nahe Osten jetzt sicherer als zuvor? SPIEGEL: Noch nach seinem Tod war Sar- grammatischen Initiativen von Royal be- Abdullah: Damit ist allenfalls ein Kapitel kawi die Ursache für Aufregung in Ihrem reits als Kern eines „französischen Bad Go- abgeschlossen, Terrorismus und Extremis- Land. Vier Parlamentsabgeordnete, die der desberg“. Ordnung und Sicherheit, bisher mus gehen ja weiter. Irgendjemand wird Islamischen Aktionsfront angehören, ha- die Themen von Sarkozy, hat die Linke Sarkawi ersetzen. Für uns Jordanier geht ben der Familie kondoliert und dabei Sar- schlicht gekapert. allerdings wirklich ein Abschnitt zu Ende, kawi einen Helden, einen Märtyrer, einen Den Innenminister erwischten die Vor- weil Sarkawi hier in Amman 60 Menschen Gotteskrieger genannt. Ist Jordaniens Sta- stöße seiner Kontrahentin völlig unvorbe- umbringen ließ … bilität nun auch gefährdet? reitet. Ausgerechnet der Hardliner, der den SPIEGEL: … die im vergangenen November Abdullah: Nein, keineswegs. Natürlich gibt Kampf gegen Kriminalität zur Grundlage bei Anschlägen auf drei Hotels ums Leben es auch in unserer Gesellschaft einige Ir- seiner Bewerbung für den Einzug in den kamen. regeleitete. Sarkawi war ein Massenmör- Elysée-Palast gemacht hatte, muss wehr- Abdullah: Wir haben nun Grund, nach vorn der. Er hat Unschuldige in Jordanien, im los zusehen, wie die PS-Spitzenreiterin auf zu schauen. Aber womöglich ist das nur Irak und anderswo getötet. Ich kann es mir seinem Wahlkampfacker wildert. Ihm ein taktischer Sieg. Unser strategisches Ziel nicht erklären, warum ihn manche Leute bleibt kaum mehr als die Flucht in die Iro- muss dagegen die Stabilität für den Irak für einen Helden halten. nie: „Weitermachen, die Richtung stimmt“, sein, die dem Land Hoffnung gibt. Nur so Was nun die Islamisten betrifft, so halte höhnte Sarkozy. lässt sich der Terrorismus bezwingen. ich sie in Jordanien im Großen und Die sozialistische Führung nimmt zur SPIEGEL: Stimmt es denn, dass jordanische Ganzen für gemäßigte, friedliebende Men- Kenntnis, dass der rechte Gegner verunsi- Geheimdienste eine wichtige Rolle beim schen. Bei uns findet derzeit eine landes- chert ist – allerdings mit gebremster Freu- Aufspüren Sarkawis spielten? weite Debatte statt. Sie soll zu einem Kon- de. Sie fürchtet, dass niemand mehr den Abdullah: Wir haben eine Rolle gespielt, sens darüber führen, dass es gegenüber Siegeszug der Angreiferin aufhalten kann. nicht zum ersten Mal. Wir arbeiten mit der dem Terrorismus null Toleranz geben Die PS-Basis sieht dagegen ihre Lieblings- internationalen Gemeinschaft zusammen, muss. Wir müssen uns darüber klar wer- kandidatin einen Schritt weiter auf dem nicht nur im Fall Sarkawi, sondern auch bei den, worin Terrorismus besteht. Unsere Weg zur Machtübernahme: „Eine Frau im der Jagd nach anderen Terroristen. Gera- Botschaft aus Amman lautet deshalb: Wir höchsten Amt der Republik“ kann sich der de mit Deutschland haben wir in der Ver- können uns keinen Extremismus leisten. Geschichtsstudent Tareq vom Ortsverein Wir müssen die übergroße Mehrheit der in Oullins jedenfalls sehr gut vorstellen: Das Gespräch führten die Redakteure Joachim Preuß, moderaten Muslime in aller Welt errei- „Das hätte schon was.“ Stefan Simons Gerhard Spörl und Volkhard Windfuhr. chen. Und natürlich ist diese Botschaft aus

106 der spiegel 25/2006 Ausland

Amman nicht nur für die islamische Welt von großer Bedeutung. Wir versuchen, auch Europa zu erreichen, wo es ja überall muslimische Gemeinden gibt. Deutschland gesteht Muslimen dieselben Rechte zu wie jeder anderen Gemeinschaft. Im Gegen- zug müssen die Gemeindemitglieder Loya- lität gegenüber dem Staat aufbringen. Sie mögen Muslime sein, aber sie sollten gleichzeitig auch stolze Deutsche sein. Das ist unsere Botschaft. SPIEGEL: Und diese vier Abgeordneten ha- ben hier eine rote Linie überschritten? Abdullah: Wer den Terrorismus anstachelt oder unterstützt, hat Toleranz verwirkt. Das gilt in Jordanien wie überall auf der Welt. Aktive Helfer des Terrorismus stehen auf der anderen Seite des Zauns. Was wir hier als Jordanier sagen, was Teil dieser Botschaft aus Amman an die islamische, aber auch an die westliche Welt sein soll, ist, dass wir alle definieren müssen, was Menschlichkeit ausmacht, was die gemein-

samen Werte von Muslimen, Christen und FOTOCREDIT Juden sind, also von allen gottesfürchtigen Aufgebrachte Fatah-Anhänger im palästinensischen Parlament*: „Gefährliche Ereignisse“ Menschen, die an das Gute glauben und nicht an das Böse. Das ist die Grundlinie, SPIEGEL: Sie definieren also Ihr Verhältnis Mitleidenschaft gezogen. Iran hat offen- die wir festlegen müssen – nicht nur in Jor- zu den Muslimbrüdern neu? sichtliche Interessen im Irak, die Türken danien, sondern überall. Abdullah: Die müssen ihr Verhältnis zu uns haben mit den Kurden ein Problem, wir SPIEGEL: Wie legen Sie die denn fest? neu bestimmen. Jahrzehntelang haben sie grenzen an den Westirak – deshalb wer- Abdullah: Ich habe beispielsweise heute ein sich in einer Grauzone aufgehalten, jetzt den alle den Preis für einen Bürgerkrieg Mittagessen mit Mitgliedern der Muslim- müssen sie eine Entscheidung über Gut zahlen. bruderschaft, die überall im Nahen Osten und Böse treffen. Der Mehrheit liegt wohl SPIEGEL: Hat Bagdads Ministerpräsident für einen islamischen Staat eintritt, die an einer guten Zukunft für das ganze Land Nuri al-Maliki eine größere Chance als sein aber letztlich moderate Ansichten hat. Es wie für ihre Kinder. Ich denke, wir können Vorgänger, den Irak zu befrieden? gibt bei uns das Wort „takfir“; es bezeich- alle als Team zusammenarbeiten. Sicher, es Abdullah: Bisher hat er sich doch ganz or- net den Abfall vom Glauben. Es gibt auch gibt einige Grundsätze, die jeder beachten dentlich geschlagen. Er hat aber noch viel eine Takfir-Ideologie, und die schließt ein, muss. Und die Ideologie des Takfir gehört vor sich. Er braucht unser aller Unterstüt- dass solche Abtrünnigen getötet werden ganz bestimmt nicht dazu. zung. Jordanien wird ihm helfen, andere dürfen. SPIEGEL: Hängt die Zukunft Ihres Landes Staaten im Nahen Osten hoffentlich auch. Aus meiner Sicht hat das nichts mehr mit und des ganzen Nahen Ostens nicht davon SPIEGEL: Was lässt sich aus dem Fiasko im Religion zu tun. Den Muslimbrüdern wer- ab, was derzeit im Irak passiert? Irak lernen: Stabilität kommt zuerst, dann de ich sagen: Ich glaube nicht, dass ihr Abdullah: Sicher, das hat Auswirkungen auf vielleicht Demokratie? mehrheitlich der Takfir-Ideologie anheim- alle Anrainer. Daher beten wir dafür, dass Abdullah: In Jordanien haben wir gute Er- gefallen seid, die übergroße Mehrheit von der Irak den richtigen Weg nimmt. Es gibt fahrungen damit gemacht, uns auf soziale euch ist gemäßigt, aber ihr müsst das auch durchaus Erfolge: Wahlen fanden statt, eine und wirtschaftliche Dinge zu konzentrie- zeigen. Solltet ihr dagegen glauben, dass Regierung ist entstanden, die eine Regie- ren. Wir sorgen dafür, dass jeder einzelne es gerechtfertigt ist, unschuldige Menschen rung der nationalen Einheit sein muss, und Bürger satt wird. Geht es dem Land in die- zu töten, trennen sich unsere Wege. Das ist die jedes Mitglied als Teil des künftigen ser Hinsicht gut, können wir auch große ein Beispiel für die Art, wie wir diesen Irak akzeptiert. Insofern sollten der Ver- politische Fortschritte machen. Diskurs in unserer Gesellschaft führen. teidigungs- und auch der Innenminister … SPIEGEL: So ungefähr hat man bisher vor SPIEGEL: … um deren Ämter allem im Westen gedacht. Schiiten und Sunniten beson- Abdullah: Schauen Sie, was im Irak vor sich ders heftig gestritten hatten … geht. Es finden Wahlen statt, während Abdullah: … nicht in erster Li- noch Tag um Tag Menschen sterben. Wah- nie eine Glaubensrichtung, son- len sind ein gutes Zeichen für den Weg zur dern alle Iraker repräsentieren. Demokratie. Aber solange es an Stabilität Kommt der Irak auf einen guten fehlt, wird der Irak keine Zukunft haben, Weg, wird er schnell Teil der die wir ihm wirklich wünschen. Stabilität internationalen Gemeinschaft und Reformen müssen Hand in Hand ge- werden. Geht aber der religiöse hen, nur dann lässt sich ein Bürgerkrieg Konflikt weiter, was Gott ver- vermeiden. Stabilität ist aus unserer Sicht hüten möge, dann mündet das sozial und ökonomisch bedingt. Ist sie in einen Bürgerkrieg. Alle in erreicht, geht der politische Prozess der Region werden davon in weiter. SPIEGEL: Iran profitiert von den Unruhen im Nachbarland Irak. Verschärft Iran die * Oben: am vergangenen Mittwoch in Ra-

FOTOCREDIT mallah; links: Demonstration gegen den Probleme dort, oder könnte er doch beim Prediger-Protest in Amman*: „Toleranz verwirkt“ Terror am 15. Juni. Lösen der Probleme helfen?

der spiegel 25/2006 107 Abdullah: Interessanterweise haben euro- päische Länder jüngst, in enger Abstim- mung mit Amerika, den Dialog mit Iran ge- sucht. Wäre ich an der Stelle der Iraner, läge mir sehr an diesem Dialog. Ohne Dia- log gibt es nur Missverständnisse. Ich for- dere alle Parteien auf, wirklich umfassend miteinander zu reden. Dabei sollte es nicht nur um den Irak, sondern auch um Öl, um das iranische Nuklearprogramm, die Ver- bindungen zu Organisationen wie der Ha- mas und der Hisbollah gehen. Ein The- menkatalog ist absolut unerlässlich für

diesen Dialog. Ziellose Gespräche führen FOTOCREDIT nirgendwohin. Ich hoffe, dass Iraner, Ame- Iranischer Staatschef Ahmadinedschad*: „Jede Militäraktion wäre verheerend“ rikaner und Europäer eine Strategie ver- folgen, die sich konstruktiv auswirkt. Abdullah: Ich trete von jeher für einen nu- ten werden kann. Jede Militäraktion wäre SPIEGEL: Vor einem Jahr haben wir ein klearwaffenfreien Nahen Osten ein. In ei- für uns alle verheerend. SPIEGEL-Gespräch mit dem pakistani- nem Gebiet mit so viel Instabilität und so SPIEGEL: Iran geht wohl davon aus, dass schen Präsidenten Pervez Musharraf ge- großen Problemen, die wir lösen müssen, die USA politisch geschwächt sind und führt, und er sagte über den nuklearen können wir keine Atombomben brauchen. das Land nicht in der Stimmung für einen Ehrgeiz der Iraner: „They are very keen on SPIEGEL: Was wäre schlimmer – ein nu- Angriff ist. the bomb.“ Teilen Sie diese Einschätzung? klear bewaffneter Iran oder ein militäri- Abdullah: Jemanden zu unterschätzen ist Abdullah: Die Iraner sagen mir, sie verfolg- scher Angriff auf die iranischen Atom- immer gefährlich. Wir sollten offen und ten friedliche Zwecke. Andere sagen, dass anlagen? ehrlich miteinander umgehen. sie an Dingen arbeiten, die Teil einer Bom- Abdullah: Jede Aktion führt zu einer Reak- SPIEGEL: Was ist das wichtigste Problem im be sein könnten. Ich kann nur hoffen, dass tion. Würde Iran angegriffen, würde er ir- Nahen Osten: der Irak oder der Konflikt Iran wirklich ein friedliches Programm im gendwie Vergeltung üben. Niemand kann zwischen Israelis und Palästinensern? Sinn hat und nicht eine neue Krise aus- eine Aktion planen und gleichzeitig ganz Abdullah: Ich war immer der Ansicht, das löst. Ein nukleares Wettrüsten wäre das sicher sein, wie sie unter Kontrolle gehal- Kernproblem sei der israelisch-palästinen- Letzte, was diese Region brauchen könnte. sische Konflikt. So denke ich auch jetzt. SPIEGEL: Es gibt bereits eine Atommacht * Am 26. Oktober 2005 auf einer Anti-Israel-Konferenz in SPIEGEL: Hat sich das Kernproblem nicht im Nahen Osten – Israel. Teheran. auf den Irak verlagert? Ausland

Abdullah: Wir können nicht kleinreden, was fen. Aber jetzt müssen alle für die Zukunft das große Ziel eines wahren Friedens zu dort geschieht. Wir sind mit zwei vorran- der Palästinenser einstehen. Ich hoffe, der erreichen: ein sicheres Israel, das Seite an gigen Problemen konfrontiert und müssen Kontakt mit der Wirklichkeit beeinflusst Seite mit einem überlebensfähigen, unab- beide angehen. Langfristig ist der israe- die Haltung der Hamas. hängigen Palästinenserstaat existiert. lisch-palästinensische Konflikt das Haupt- SPIEGEL: Momentan sieht es eher nach ei- SPIEGEL: Palästinenserpräsident Mahmud problem: Wenn wir den nicht lösen, kön- nem Bruderkrieg zwischen der Hamas, der Abbas würde gern im Gaza-Streifen und nen wir den Konflikt zwischen Arabern Regierung von heute, und der Fatah, der Westjordanland ein Referendum abhalten, und Israelis nicht lösen. Die Reichweite Regierung von gestern, aus. das Verhandlungen mit Israel auf Grund- dieses Problems ist einfach größer. Denn Abdullah: Die Ereignisse der letzten Tage lage bestehender Abkommen vorsieht. ein Frieden zwischen Israel und den Paläs- sind ungemein gefährlich. In einer Situa- Abdullah: Ich hoffe, dass eine solche Volks- tinensern betrifft nicht nur das Gebiet zwi- tion, in der die Palästinenser so stark lei- abstimmung ein positives Ergebnis haben schen dem Jordan, den Golanhöhen und den, müssen Fatah und Hamas einig sein. wird. Das könnte die Palästinenser wieder der Sinai-Wüste. Frieden bedeutet für Is- SPIEGEL: Für Europäer ist die Orgie der auf einen gemeinsamen Kurs in die richti- rael die Integration in den weiteren Na- Selbstzerstörung – Sturm aufs Parlament, ge Richtung bringen. hen Osten von Marokko am Atlantik bis Schusswechsel, Entführungen – schwer zu SPIEGEL: In dieser Woche bringen Sie zum zum Persischen Golf und weiter bis zum verstehen. zweiten Mal Nobelpreisträger aus aller Indischen Ozean. Eine Zwischenlösung, Abdullah: Politische Organisationen und Welt zu einer Konferenz in Amman zu- die den Palästinensern nicht gäbe, worauf Parteien kümmern sich in erster Linie um sammen. Werden Sie dabei einen Frie- sie hoffen, würde auch nicht zu einem is- ihre eigenen Ambitionen. Die Führer von densplan unterbreiten? raelisch-arabischen Frieden führen. So tun Hamas und Fatah denken vor allem daran, Abdullah: Ein Teil der Diskussionen mit den wir alles, um der nächsten Generation wei- was für sie auf dem Spiel steht, sie denken Nobelpreisträgern wird sich mit dem israe- tere zehn Jahre Konflikt zu ersparen. nicht an ihr Volk. Wir würden die Hamas lisch-palästinensischen Konflikt beschäfti- SPIEGEL: Vor sechs Jahren haben Sie die gern darin bestärken, endlich nach vorn gen. Wenn so viele brillante Köpfe zusam- Exil-Führer der Hamas aus Jordanien aus- zu schauen. Auch die Israelis müssen sich menkommen, könnten neue Ideen und gewiesen. Sie trauen der Hamas offenbar flexibel zeigen, um den Palästinensern eine Konzepte entstehen, die das Problem von nicht viel Friedenswillen zu? Zukunft zu ermöglichen. Premierminister einem unkonventionellen Standpunkt aus Abdullah: Wir müssen unterscheiden zwi- Ehud Olmert sagte mir, dass er den Frie- betrachten. Präsident Abbas und Premier schen der Hamas drinnen und der Hamas densprozess und die Roadmap … Olmert sind ebenfalls eingeladen. Viel- draußen. Die Hamas drinnen muss nun SPIEGEL: … den Plan der Uno, der EU, der leicht gibt ihnen das die Gelegenheit zu regieren, Verantwortung übernehmen und USA und Russlands zur Konfliktbegren- einem Gedankenaustausch mit den klügs- Dinge regeln. Diese Hamas erkennt das zung im Nahen Osten … ten Köpfen, die die Welt zu bieten hat. auch. Andererseits ist es ziemlich einfach, Abdullah: … vorantreiben will. Wir alle soll- SPIEGEL: Majestät, wir danken Ihnen für von draußen Slogans nach drinnen zu ru- ten Israelis und Palästinenser unterstützen, dieses Gespräch. Ausland

murmelt einer von ihnen. „Immerhin, wir leben noch“, sagt ein anderer. USA Auch die Terroristen haben ihren Pick- up verlassen, sie hocken vor der Moschee und nippen Kaffee aus Styroporbechern. Feuerprobe in Fort Polk Fünfzig Minuten Pause in Mosalah, dann kommt die nächste Trainingsrunde. Die Mitten in den Wäldern Louisianas hat die amerikanische Armee Zeit reicht gerade, um den Techniker zu rufen – das Tonband mit den Muezzinrufen einen Mini-Irak erbaut. Hier trainieren die Soldaten, wie sich hat schon wieder versagt. der Krieg im Zweistromland vielleicht doch noch gewinnen lässt. In Mosalah fließt jeden Tag Blut. Aber es ist kein echtes, es ist so wenig echt wie der ganze Ort. Die US-Armee hat ihn er- richtet, als ein Potemkinsches Dorf. Eines von 18 ähnlichen auf dem riesigen Trup- penübungsplatz von Fort Polk, nicht weit von der texanischen Grenze. Ein Irak in Miniaturausgabe, tief in den Kiefernwäl- dern Louisianas. Ein gigantisches Klassen- zimmer, in dem Amerika üben will, wie sich der Krieg im fernen Zweistromland womöglich doch noch gewinnen lässt. Oder wie in der Niederlage die Verluste klein zu halten sind. Viele Einheiten, die in den Irak und nach Afghanistan verlegt werden, müssen hier – oder in zwei ähnlichen Ausbil- dungslagern anderswo in den USA – die erste Feuerprobe bestehen. Etwa tausend Laienschauspieler bevölkern das Schlacht- feld jeden Tag. Jeder fünfte ist ein von irgendwoher aus den USA herbeigeschaff- ter arabischer Muttersprachler, auch ein früherer Synchronsprecher der arabi- Araber-Darsteller bei Truppenübung schen „Sesamstraße“ ist dabei. Sie ge- ben den Feind, den Freund oder wen 200 km auch immer, und das alles vor einer fast USA Dallas KAREN BALLARD perfekten Kulisse. In den Werkstätten des Stütz- TEXAS Fort Polk punkts rattern Nähmaschinen, sie stellen orientalische Kleidung Austin LOUISIANA her. Der Duft von Kebab und frit- Houston tiertem Gemüse liegt in der Luft, New Orleans denn in Mosalah muss es arabisch riechen. „Wir sind fast so gut wie Hollywood“, freut sich Major Vernon Randall, einer der Aus- achmittags um vier sterben die bilder. nächsten drei Amerikaner in Mo- Sogar einen eigenen Zoo un- Nsalah. Greenhorns, Anfänger, die terhält Fort Polk, denn die Solda- üblichen Toten halt – jeden Tag sind es ten sollen lernen, wie man eine mindestens ein Dutzend GIs, die ein- Ziege von der Straße treibt. Auch

fach aus Unvorsichtigkeit ihr Leben ver- FOCUS READ / WPN AGENTUR LUCIAN Gänse gibt es, seit im Irak derar- lieren. US-Soldaten im Irak: „Immerhin, wir leben noch“ tiges Federvieh einen Trupp Sol- Dabei war es eigentlich eine Standard- daten beim Sturm eines Hauses situation: Drei amerikanische Schützen- bombe trifft mit aller Wucht das Heck des attackierte – und der Lärm Aufständische panzer schieben sich langsam die Dorf- Tanks. Die Explosion lässt Tote und Ver- alarmierte. straße herunter, ein Eselskarren ruckelt wundete zurück. Hier werden auch Behinderte zu Stars heran, ärgerlich winkt ein GI das Gespann Nun nähert sich ein Offizier der An- der Show, etwa Don Seigler, 67, ein Mann, beiseite. Doch es will nicht weichen. „Bar- schlagsstelle, der durch seine betonte Läs- der im wirklichen Leben ein Bein durch ra, Barra, Amerika“, brüllen die auf- sigkeit auffällt. Er hakt eine Rolle orange- Arteriosklerose verlor. In Mosalah muss er gebrachten Einwohner am Straßenrand – farbenes Band aus seinem Gürtel und sich als Verwundeter an hektischen Tagen geht nach Hause, verschwindet. markiert den Panzerturm. „Darf ich noch fünf-, sechsmal am Boden wälzen und „Los, los“, schreit der Panzerkomman- fahren, Sir?“, fragt der Kommandant. Er Kunstblut fließen lassen, das in einem Beu- dant in sein Mikrofon, er hat ein ungutes sieht so unglücklich aus, als wäre er gerade tel unter seinem Hemd verborgen ist. „Ich Gefühl. Endlich rollt der stählerne Klotz durch die Fahrprüfung gefallen. Seine Ka- tue es für mein Land“, sagt Seigler, „hof- wieder an. Den schwarzen Pick-up, der meraden haben sich hinter dem Ortsaus- fentlich hilft es den Jungs da drüben.“ hinter ihm aus einer Seitenstraße heran- gang versammelt, die Helme in der Hand, Der ausgeklügelte Lehrplan von Fort Polk rast, sieht er überhaupt nicht. Die Auto- Schweiß im Gesicht. „So eine Scheiße“, ist die späte Antwort auf jene Planlosigkeit,

110 der spiegel 25/2006 mit der die US-Streitkräfte vor drei Jahren in den Krieg um Bagdad gezogen sind. Erst jetzt lernen die Soldaten, dass das Bohren eines Brunnens oder Hilfsprogramme für Arbeitslose die erfolgreichere Strategie für einen Sieg im Irak sein dürften. Den GIs beizubringen, dass es besser ist, als Helfer und Beschützer daherzukom- men, als nachts die Türen einzutreten – das sei ein mühsamer „Umerziehungspro- zess“, sagen die Ausbilder in Fort Polk. Spät, vielleicht zu spät, wird jetzt die wich- tigste Lektion in Amerikas Krieg gegen den Terror gelehrt: dass man den Finger vom Abzug nehmen muss. Nichts schadet dem Image der USA mehr als der Tod un- schuldiger Zivilisten – wie gerade erst das Massaker von Haditha bewies. „Wir müssen kapieren, dass die Art, wie wir die Iraker behandeln, direkten Einfluss darauf hat, wie viele Aufständische gegen uns kämpfen“, hat Generalleutnant Peter Chiarelli, Kommandeur des multinationa- len Korps im Irak, die neue Linie bekräf- tigt. Er hat Kopien britischer Zeitungsbe- richte an seine Offiziere verteilen lassen, in denen die unnötige Brutalität der US-Trup- pen kritisiert wird. Wer in Fort Polk wild herumballert, bleibt zu Hause: „Die Men- schen sind unschuldig, bis sie selbst ab- drücken“, erklärt Sergeant Cody Choate in breitem Texanisch. „Ich will, dass die Leute ihre schwersten Tage hier erleben“, hat General Michael Barbero befohlen, der Kommandant der Attrappenstädte: „Was wir tun, rettet Leben.“ Die Militärs nennen das Manövergebiet die „Box“. Aus dem Irak zurückgekehrte Offiziere schreiben das Drehbuch für die Übungen: nächtliche Überfälle von Auf- ständischen, Fallen für Versorgungskon- vois, Verhandlungen mit Stammesführern. Die Statisten arbeiten in zwei Schichten, die Soldaten sollen nicht zur Ruhe kom- men. Fast alles so wie im Irak. Kommandant Barbero lässt sich mit Hil- fe verschlüsselter E-Mails über möglichst viele Einzelheiten aus echten Kämpfen rund um Bagdad unterrichten, das Skript in Fort Polk wird ständig auf den neuesten Stand gebracht. Binnen zwölf Stunden, sagt er stolz, würden hier neue Kampftak- tiken der Terroristen bereits nachgestellt. Auch der Kurs „Kulturelle Sorgfalt“ ist Pflicht. Ein jordanischer Offizier erläutert die Grundlagen: Männer, die Arm in Arm gehen, seien nicht schwul, und Frauen dür- fe man nie die Hand geben. Und, bitte, nie den Daumen hoch – das bedeute im Irak genauso viel wie der gestreckte Mittelfin- ger in den USA. Selbst eine arabischsprachige Zeitung erscheint täglich für die „Box“; sie berich- tet über jeden Fehltritt im Manövergebiet: Da ist ein Imam bei einer Verkehrskon- trolle von US-Soldaten niedergeschlagen worden, ein Kommandant hat das ver- sprochene Wasser nicht gebracht. Nach sol- der spiegel 25/2006 111 Ausland

dischen. In Pick-ups kreuzen sie durch das riesige Waldgebiet, und wo immer sich eine Gelegenheit bietet, schlagen sie zu. Mulrine sagt, dass er seinen Kameraden am besten helfe, wenn er sie hier in Fort Polk zum Schein töte. „Das hilft ihnen, im Irak zu überleben.“ Drei Jahre nach dem von Präsident George W. Bush voreilig verkündeten Sieg sieht es in Fort Polk allerdings nicht einmal an den guten Tagen gut aus. Die US-Ver- luste sind verheerend, ganze Kompanien werden bisweilen aus dem Hinterhalt nie- dergemacht. Das habe allerdings stets den- selben Grund, wiegeln die Offiziere ab: Die vorgeblichen Terroristen hier agierten einfach professioneller als die echten in der Krisenregion. Gleich am Rand der „Box“ liegt die „Verhandlungs-Universität“, eine Baracke, in der es nach frischem Holz riecht. Sie ist

FOTOS: KAREN BALLARD FOTOS: in vier arabische Wohnzimmer unterteilt, Darstellerin einer Selbstmordattentäterin in Fort Polk: „Fast so gut wie Hollywood“ auf dem Boden liegen Teppiche und Sitz- kissen. Jamal Saleh zieht sich einen Kaftan chen Schlagzeilen machen die Komparsen Zivilisten tragen Westen mit kleinen Re- über das T-Shirt. „Sind wir heute Sunni- den Soldaten das Leben noch schwerer – flektoren. „Killed“, vermerkt das Display ten?“, fragt er. Enthauptungen von Geiseln inklusive, ge- nach jedem Treffer. Es liefert obendrein In Wahrheit ist Saleh Kurde, 1993 kam er spielte jedenfalls, wie sie der Fort-Polk- die Information, welche Waffe für den töd- in die USA. Für jede Trainingseinheit eigene Fernsehkanal zeigt, der auffällig al- lichen Treffer verantwortlich ist. Ein bluti- lässt ihn die Armee aus Atlanta anreisen. Dschasira ähnelt. ges Gemetzel gibt Minuspunkte, desglei- „Ich liebe es, zu unterrichten“, sagt er, Mosalah ist noch eine der leichteren Sta- chen, wenn die Soldaten irakische Ver- „denn dieses Training wird das Leben mei- tionen in Fort Polk, der Ort mit seinen an- wundete liegenlassen oder einer plötzlich ner Landsleute retten.“ Und es gehe durch- genommenen 70 Prozent Schiiten und 30 auftauchenden Hochschwangeren medizi- aus voran: „Früher wussten diese Jungs Prozent Sunniten gilt als „neutral“. Wie nische Hilfe verweigert wird. Freundliche absolut nichts über den Irak.“ im wahren Krieg kann jede Einheit Unter- Worte für die Dorfbewohner dagegen brin- Heute ist Saleh für „Szenario 3“ einge- stützung der gigantischen Militärmaschi- gen Pluspunkte, ein mitgebrachter Fußball teilt. Er mimt einen Scheich, der bislang als nerie anfordern – Kampfhubschrauber etwa, ein Tank mit Trinkwasser. eher zugänglich galt. Doch aus Ärger über oder Jagdbomber, die von einem eigens Auf Matt Mulrine darf selbst das keinen nicht gehaltene Versprechen des bisheri- abkommandierten Flugzeugträger im nahe Eindruck machen. Er ist unrasiert, die Haa- gen US-Ortskommandanten droht er nun gelegenen Golf von Mexiko aufsteigen. re sind für Army-Standard empörend lang. ins Lager der Aufständischen überzu- Aber wer in Mosalah bestehen will, lässt Aber für die 455 Soldaten der „Geroni- wechseln. Zudem hat ein GI just in die- das Funkgerät besser ausgeschaltet. „Wir mo“-Kompanie gelten keine der üblichen sem Moment auf dem Marktplatz einen zeigen, wann es besser ist, nicht zu kämp- Vorschriften: „Bruderschaft Mohammed“ zehnjährigen Jungen angeschossen. fen“, erklärt Major Randall. Alle Waffen nennt sich die fest in Fort Polk Die Lage ist ernst, und Captain Jose sind mit Lasern versehen, Soldaten und stationierte Einheit. Sie stellt die Aufstän- Lugo wirkt ein bisschen nervös. Er hockt sich auf ein Sitzkissen, der falsche Scheich starrt ihn finster an. „Ich bitte um Ent- schuldigung, auch ich habe Kinder“, sagt der junge Offizier. Er versichert dem er- bosten Iraker, dass er verlässlicher als sein Vorgänger sei. Saleh schlägt auf die Tisch- platte: „Wie kann ich Ihnen trauen, Sie tra- gen die gleiche Uniform.“ Fort Polk sei dazu da, sagen die Offizie- re, dass von hier aus eine neue, friedferti- gere Armee in den Irak oder nach Afgha- nistan ausrückt. Deshalb wird in den Wäl- dern Louisianas weiter gebaut. Jetzt soll eine 26 Millionen Dollar teure Stadt aus Pappmaché her, damit der Lehrplan er- gänzt werden kann. Major Randall will den ganz großen Krieg üben lassen. Komplette Stämme sollen dann in den Manövern mitwirken, ganze Regionen die Schlacht mit der US-Armee suchen. Mit einem Ende der Kämpfe scheint hier nie- mand zu rechnen. Aber natürlich ist alles nur eine Übung. US-Soldaten, Verdächtige bei nachgestellter Anschlagsszene: Minuspunkte für Gemetzel Georg Mascolo

112 der spiegel 25/2006 SPANIEN „Zeit zum Träumen“ Seit dem Waffenstillstand der Eta blüht ihre Hochburg, das Seebad San Sebastián, wieder auf. Noch in diesem Monat sollen die Gespräche über die Entwaffnung der Terroristen beginnen. KNECHTEL / LAIF Strandpromenade Paseo de la Concha in San Sebastián: Alles soll glänzen für diese Saison

er neue Job war für den Hotel- dinen abgedunkelten Suiten. Im Restaurant In der Nähe des María Cristina, beim manager Fernando López Lens die des experimentierfreudigen baskischen Juwelier Silverfield, haben die Angestellten DHerausforderung seines Lebens: Küchenchefs sind die Tische gut besetzt. die große Leiter herausgeholt. Sie polieren Am 1. April wurde er Chef des María Cris- Die Welt kommt zu Gast. Der junge Di- die Bronzemuscheln an der Fassade. Alles tina – eines der berühmtesten Hotels in rektor López atmet auf. Und mit ihm die soll glänzen für diese Saison. San Sebastián und eines der vornehmsten ganze Stadt. Die Fremden sind wieder neu- Frieden im Baskenland: Es könnte so im ganzen Land. gierig auf das einst so mondäne Seebad. werden wie in der großen Zeit. Schon vor Bis dahin staubten im María Cristina die Zu Ostern „waren wir zu hundert Pro- hundert Jahren zog es die Noblen und Rei- dunklen Edelholzkommoden und die Zim- zent belegt“, freut sich der Hoteldirektor, chen in die Stadt, die sich an eine Bucht merpalmen vor sich hin. Zwischen den ko- das deute auf einen ausgezeichneten Som- mit türkisfarbenem Wasser und von beste- rinthischen Säulen mit den Goldkapitellen mer hin. Die besonders um ihre Sicherheit chender Schönheit schmiegt: La Concha in der Halle und auf den Perserteppichen besorgten Nordamerikaner hätten gar zahl- heißt sie, die Muschel. Ihr feiner heller standen, vom Warten müde, die Pagen in reicher gebucht als die Stammgäste aus Sand bildet einen Teppich, über den sich roter Livree herum. Der Belle-Époque-Bau Frankreich oder England. die prunkvollen Häuser, viele mit üppi- in Ocker, benannt nach der spanischen Kö- ger Jugendstilfassade, erheben. San Se- nigin, die ihn 1912 eingeweiht hatte, droh- Golf von Biskaya bastián, baskisch Donostia, die Perle der 20 km FRANKREICH te in Langeweile zu erstarren. kantabrischen Küste. San Das teure Schmuckstück in Schwung zu Sebastián Bayonne Seit 1953 bot sie allherbstlich die Kulis- bringen, bekam der Hoteldirektor uner- Bilbao se für das Filmfestival, das einst Stars wie wartete Unterstützung: Acht Tage bevor VIZCAYA GUIPÚZCOA Bette Davis oder Lauren Bacall und Re- er sein Chefbüro bezog, am 22. März, hat- Mondragón gisseure wie Alfred Hitchcock in die mit ten die Terroristen von Euskadi Ta Aska- ÁLAVA Lüstern und Spiegeln geschmückten Zim- tasuna, Baskenland und Freiheit, kurz Eta Vitoria Pamplona mer des María Cristina brachte. genannt, einen „permanenten Waffenstill- Nun, mit der Aussicht auf anhaltenden stand“ ausgerufen. Frieden, kann sich das Filmfestival im Nun gibt es auch nachts wieder Leben September gegenüber der Konkurrenz, auf San Sebastiáns Flanierboulevard, und in Basken-Provinzen etwa in Locarno oder Toronto, profilie- der Lobby-Bar des Hotels ist zu hören. Madrid ren. Mikel Olaciregui, der Organisator, Das Bataillon der Zimmerkellner trägt wie- SPANIEN hofft, schon dieses Jahr ein paar der ganz der mit schweren Silberkannen beladene SPANIEN großen Hollywood-Stars in den von Spa- Frühstückstabletts auf die mit Seidengar- niens erstem modernem Architekten Ra-

114 der spiegel 25/2006 Ausland fael Moneo entworfenen „Kursaal“ zu geschmiert. Graffiti ließen die Terroristen ten der Welt veranstalten. Eine neue Pro- locken. hochleben, Baskenfahnen wehten aus den menade an der wildesten Meerseite soll „Der Glamour kehrt zurück.“ Auf diesen Fenstern in den engen Gassen. Die um eine einen furiosen Stadtabschluss bilden. Für Moment hat sogar der Sozialist Odón Elor- Axt gewundene Schlange, das Eta-Em- ein Menschenrechtszentrum in der frühe- za, seit 15 Jahren Bürgermeister im Rat- blem, schien allgegenwärtig. ren Sommerresidenz des Diktators Fran- haus direkt am Hafen, gewartet und seine Die Graffiti sind inzwischen übertüncht. cisco Franco hat Elorza bereits Pläne in Stadt auf ihre Sternstunde vorbereitet. Er Am Pfingstwochenende genoss eine fröh- der Schublade. Die Landschaftsgärtner ha- hat dafür gesorgt, dass sie über neue Auto- liche Menge abends den Aperitif auf dem ben zu graben begonnen, um einen Park bahnverbindungen schneller zu erreichen Altstadtplatz. Von den Terror-Sympathi- zum Gedenken an die Opfer der Eta an- ist. Unermüdlich lag er den Beamten in der santen, die früher die Straße beherrscht zulegen. baskischen und der spanischen Hauptstadt hatten, fehlte jede Spur. Wenn die Waffen der Separatisten, de- in den Ohren, bis die Zugstrecke von der Dem Amtssitz des Bürgermeisters aus nen drei Jahre lang niemand mehr zum französischen Grenze über San Sebastián dem frühen 19. Jahrhundert mit seinen von Opfer gefallen ist, weiterhin schweigen, nach Madrid verkürzt wurde. Dem be- wenn die Erpressungen der örtlichen geisterten Radfahrer haben die Bürger Firmen, Ladenbesitzer und Kneipiers 25 Kilometer Fahrradwege an der Küs- vollends aufhörten, dann wird San Se- te zu verdanken. Weil die Immobilien- bastián eine wirtschaftliche und kul- preise hier zu den höchsten auf der turelle Renaissance erleben. Iberischen Halbinsel zählen, hat sein Das ist allerdings ein schwerwie- Gemeinderat den Bau von Sozialwoh- gendes „Wenn“, über das sich die Poli- nungen am Stadtrand beschlossen, da- tiker im fernen Madrid derzeit den mit die Jugend nicht wegzieht. Kopf erhitzen. Der spanische Regie- Bürgermeister Elorza muss sich seit rungschef José Luis Rodríguez Zapa- Jahren auf Schritt und Tritt von Leib- tero hat den heiklen Job, den noch wächtern begleiten lassen – wie ins- sehr bedrohten Frieden zu kräftigen. gesamt etwa 2000 der zwei Millio- Er riskiert, zwischen den Terroristen nen Einwohner des Baskenlandes, und der politischen Opposition von vor allem Politiker gesamtspanischer rechts zerrissen zu werden. Der Waf- Parteien, Richter, Polizisten und Pu- fenstillstand in San Sebastián ist nicht blizisten. Doch in den vergangenen umsonst zu haben – dies ist das Di- Wochen traute er sich mit Freunden lemma, dessentwegen sich der Sozia- abends schon mal auf ein Bier und ein list Zapatero von der auf seinen Erfolg Pintxo, wie hier die feinen Appe- eifersüchtigen Volkspartei PP als Ver- tithappen heißen, in die Altstadt aus- räter am Rechtsstaat beschimpfen las- zubüxen. sen muss.

Dort mussten Besucher früher dar- FOCUS / AGENTUR VELANDO / CONTACTO MONTSERRAT Irgendetwas wird der Regierungs- auf gefasst sein, dass eine in Leder ge- Bürgermeister Elorza: „Der Glamour kehrt zurück“ chef bieten müssen für den Frieden, kleidete Horde mit aufgegelten Punk- damit in Zukunft auch Bürger, die kei- haaren in Begleitung von Schäferhunden Ruß geschwärzten Fenstern und den von ne baskischen Nationalisten sind, angstfrei an die Tresen stürmte und die Gäste Wasserflecken gegilbten Seidentapeten ist leben können. Und die Eta will etwas drangsalierte. Denn San Sebastián, das die Wende allerdings noch nicht anzumer- Handfestes für den Verzicht auf ihre Waf- Zentrum der aufrührerischen Provinz ken. Das kann aber noch kommen: „Es ist fen, mindestens ein Entgegenkommen für Guipúzcoa, betrachteten die Separatisten Zeit zum Träumen“, schwärmt Elorza. ihre inhaftierten und für die noch nicht als ihre Hochburg. Hier schickten sie Ju- Seit der Ankündigung des Waffenstill- verurteilten Mitglieder. Zapatero will des- gendliche, bewaffnet mit Molotow-Cock- stands vergehe kein Tag, an dem ihn nicht halb bis Ende des Monats Gespräche mit tails und Schlagstöcken, zur Hatz gegen ein Unternehmer aufsuche, der nur auf Unterhändlern der Eta ankündigen – auch vermeintlich vaterlandsvergessene Basken den richtigen Moment gewartet habe, hier über die Frage, wie sich die Organisation los. In der Nähe ihrer Herriko Taberna mit zu investieren: Für ein Thalassotherapie- vollständig auflöst. den Fotos der Häftlinge an den Wänden Hotel wollen die Investoren einen Wett- Mit Terroristen verhandle man nicht, waren die Mauern mit Zielscheiben voll- bewerb unter den berühmtesten Architek- darauf beharrt dagegen Mariano Rajoy, der Vorsitzende der Volkspartei Partido Popu- gen für „Quatsch“. Das Umfeld der Eta, lar – und nimmt die Gespräche mit den immerhin an die 200 000 Wähler, müsse Etarras als Vorwand zum Bruch mit der mit einer eigenen Partei an der Politik be- Regierung. Am vorvergangenen Samstag teiligt werden, nur dann würden die Waf- führte der Oppositionschef eine Kundge- fen auf Dauer schweigen. bung der Opfervereine an, die seiner Par- Wenn den Terroristen ihr Scheitern be- tei nahestehen. Im Herzen von Madrid wusst wird, so fürchtet Recalde, könnten riefen etwa 240 000 Demonstranten der die arbeitslosen Gewalttäter wieder zu Regierung zu: „In meinem Namen nicht.“ Aggressionen neigen. Deshalb meint auch Sie fordern: keinerlei Kontakte, solange sein ehemaliger Ministerkollege Joseba Ar- die Terroristen ihre Waffen nicht abgege- regi, 60, müsse Ministerpräsident Zapatero ben haben. jetzt dringend „einen Sozialplan zur Auch aus dem Eta-Umfeld spürt Zapa- Schließung des Unternehmens Eta“ vorle- tero Druck. Die verbotene Batasuna-Par- gen. Ein paar Millionen Euro im Staats- tei, der politische Arm der Eta, droht im- haushalt seien nötig, um die gewaltfreie mer deutlicher mit dem Scheitern des Frie- Eingliederung von vielleicht 300 Terro- densprozesses, sollte sich die Verhandlung risten zu ermöglichen. Das könnten, so

allein auf die Abwicklung von Eta be- FOCUS / AGENTUR VELANDO / CONTACTO MONTSERRAT glaubt Arregi, die Opfer akzeptieren. Die schränken. Ihr Sprecher Arnaldo Otegi Eta-Gegnerin Pagazaurtundúa Bedingung ist: Eta darf nicht in Verhand- möchte politische Gespräche über die Zu- Den Sommer der Hoffnung genießen lungen erreichen, was sie versucht hatte, kunft des Baskenlandes mit allen dort ver- blutig zu erzwingen – die Loslösung von tretenen Parteien. Anhänger der Separatisten immer wieder Spanien und die Einverleibung von Na- Zapatero erlaubte deshalb den baski- die Schaufenster ihrer Librería Lagún, die varra und dem französischen Baskenland. schen Sozialisten, sich bald mit den politi- Familie musste die Bücherei an einen si- So viel Verständnis für die Mörder und schen Vertretern der Separatisten zu tref- cheren Ort verlegen. Wenn die Terroristen ihre politischen Freunde geht Maite Paga- fen. Sie wollen erreichen, dass Otegi und jetzt keine Gefahr mehr für die Basken be- zaurtundúa, 40, von der Stiftung für die seine Freunde sich zur Demokratie beken- deuteten, „werden wir das Recht auf das Opfer des Terrorismus jedoch zu weit. Der nen. Um an den Kommunalwahlen im Wort wieder zurückerobern“, sagt Recalde. Bruder der sozialistischen Gemeinderätin Frühjahr teilnehmen zu können, müssen Hinter den blühenden Büschen in sei- in Urnieta bei San Sebastián, ein Dorfpoli- die Linksnationalisten eine neue Forma- nem Bergversteck verfolgt der Jurist den zist und ebenfalls Sozialist, wurde im Fe- tion mit verfassungskonformen Statuten Streit der Politiker im fernen Madrid. Er bruar 2003 als einer der Letzten durch den ins Parteienregister einschreiben lassen. definiert die Spielräume der Regierung zur Nackenschuss eines Etarra ermordet. In seinem Haus auf dem Igueldo-Berg Abwicklung der Terrorbande ganz kühl Seit sechs Jahren ist die Übersetzerin liegt dem früheren baskischen Minister nach der Gesetzeslage: Noch nicht Verur- selbst auf Personenschutz angewiesen. Die- für Erziehung und Justiz, José Ramón Re- teilten könne die Untersuchungshaft er- sen Sommer der Hoffnung aber möchte calde, 75, San Sebastián zu Füßen. Er trägt spart bleiben; aber es sei notwendig, die sie genießen, solange es geht. Erstmals will einen Lenin-Bart und eine feine Metall- Prozesse zu Ende zu bringen. Die spani- sie mit ihren kleinen Töchtern in San Se- brille. Seit ein Pistolero der Eta ihm hier sche Verfassung verbiete eine generelle bastián an den Strand gehen, ohne „stän- vor bald sechs Jahren ins Gesicht schoss, Amnestie, Straferlasse in jedem Einzelfall dig das Gefühl zu haben, ich komme viel- hat er Schwierigkeiten beim Atmen und seien dagegen möglich. leicht nicht mehr lebend nach Hause“. beim Sprechen, er kann seinen Unterkiefer Die Forderung der Kirche und der Kon- Doch die Opfer-Repräsentantin glaubt, nicht mehr bewegen. Trotzdem bekennt er servativen, die Mörder müssten ihre Opfer die Mitglieder von Eta und Batasuna hät- sich zum Kurs des „gutgläubigen Machia- um Vergebung bitten, hält der Jurist dage- ten in Wahrheit „noch keinen Schritt ge- velli“ Zapatero. Seine Zuversicht tan, der sie zu legitimen politischen stützt er auf die Überzeugung, dass Gesprächspartnern macht“. Sie kri- „der Rechtsstaat gesiegt“ hat. tisiert öffentlich ihren Parteichef Za- Recaldes Familie hat im Kampf patero und ihre Genossen im Bas- für die Bürgerrechte schon sehr lan- kenland, die sich offiziell mit den ge gelitten. Viele seiner baskischen Vertretern der verbotenen Partei Landsleute haben die brutale Ver- treffen wollen. folgung von Andersdenkenden – Während die einen demonstrie- egal ob von rechts oder von links – ren, wollen die anderen in San Se- jahrzehntelang toleriert und ver- bastián feiern. Der rührige Bürger- drängt. Seine Heimatstadt nennt der meister Elorza hat Bob Dylan, den Anwalt daher „frivol“. Den Diktator legendären Anti-Vietnamkriegs-Bar- Franco empfingen die Donostiarras den, für Anfang Juli zu einem Frie- stets mit Jubel, wenn er hier seinen denskonzert engagiert. Am Strand Sommerurlaub verbrachte. vor der Kulisse des Kursaal, eines Recalde dagegen saß während der leicht schrägen, von innen leuchten- Diktatur fast ein Jahr lang im Ker- den Glaskubus, werden Tausende ker. Seine Frau, Inhaberin einer lin- seinen weltbekannten Fragen lau- ken Buchhandlung in der Altstadt schen: „Wie viele Tote sind nötig, von San Sebastián, wurde verhaftet, bis man weiß, dass schon zu viele weil sie gegen die Todesurteile protes- gestorben sind?“ tierte, die der General noch 1975 ge- Hunderttausende Donostiarras, gen Etarras vollstrecken ließ. 20 Jah- Spanier und Touristen werden dann re später zerstörten ausgerechnet die den Refrain mitsingen: „The answer,

PAUL WHITE / AP WHITE PAUL my friend, is blowin’ in the wind.“ * Am 10. Juni in Madrid. Protest gegen Eta-Gespräche*: „In meinem Namen nicht“ Helene Zuber

116 der spiegel 25/2006 Ausland

RUSSLAND Neue alte Basis Moskaus Flotte kehrt ins Mittelmeer zurück. Wie in früheren Zeiten schickt der Kreml Militärberater und Waffen nach Syrien.

ild weht der abendliche Westwind aufgetankt und mit Proviant beladen. Im- vom Mittelmeer her. Mit ihren mer häufiger legen russische Landungs- Mverwitterten braungelben Fassa- schiffe wie die „Jamal“ oder moderni- den hocken würfelförmige Häuser im Ha- sierte Kampfschiffe wie die „Smetliwy“ fen von Tartus auf den Ruinen aus der und die „Pytliwy“ im alten Kreuzfahrer- Phönizierzeit. Das Minarett einer kleinen hafen an. Sogar einen Ausbau des Stütz- Moschee und ein Fischrestaurant unweit punkts erwägt Moskau.

der Mole beherrschen die Szene. Der Raketenkreuzer „Moskwa“, das / ITAR-TASS SERGEI ZHUKOV Nur wenige Minuten weiter ist von Flaggschiff der russischen Schwarzmeer- Partner Assad, Putin* der Idylle der Hafenpromenade nichts flotte mit 850 Mann Besatzung und Vize- „Sehr herzliche Beziehungen“ mehr zu spüren. Hier liegen russische admiral Wassilij Kondakow an Bord, be- Soldaten in Stellung. Umgeben von Oli- suchte den Militärhafen Latakia im Fe- So will es jedenfalls Präsident Wladimir venhainen und langgestreckten Gewächs- bruar. Wie in alten Zeiten gab es ein Putin. „Modern und mobil“, so sagte der häusern und bewacht von syrischen Freundschaftstreffen mit dem syrischen Kreml-Herr vor Militärs, solle die russi- Marineinfanteristen, versteckt sich hinter Flottenchef Talib al-Barri, dem Kondakow sche Flotte wieder auf allen Weltmeeren einem hohen Metallzaun Moskaus letzter versicherte, von jetzt an nähmen die Flagge zeigen. „Wesentlich aktiver“ sei Flottenstützpunkt außerhalb der Staaten- russisch-syrischen Beziehungen wieder Russlands Marine heute im Mittelmeer, gemeinschaft GUS. „einen Aufschwung“. lobte der Präsident. Putin will vor allem im Auf dem Marinestützpunkt Nahen Osten neues Profil ge- Tartus, mehrere Dutzend winnen. Hektar groß, dienen rund 300 In der Region ist Syrien Mann unter dem Kommando Russlands wichtigster Partner. von Wladimir Gudkow. Der 35000 Syrer haben russische Kapitän zur See war zuvor Of- Hochschulen absolviert. Bei fizier der Nordmeerflotte. Als einem Empfang im Kreml für er von Sewastopol auf der Präsident Baschar al-Assad Krim nach Syrien versetzt rühmte Putin unter Hinweis wurde, plagte den Vorposten auf die Sowjetära die „beson- im tiefen Süden der Ruf, ein deren, sehr herzlichen Bezie- verlotterter Platz an der Son- hungen“ – und erließ den Sy- ne zu sein. rern umgerechnet knapp zehn Von den Phöniziern ge- Milliarden Dollar Altschulden, gründet, 1102 von den Kreuz- angehäuft vor allem durch fahrern erobert und vom Waffenkäufe. Assads Vater arabischen Nationalhelden Sa- Hafis hatte aus Moskau in drei ladin attackiert, galt die Ha- Jahrzehnten Kriegsgerät im fenstadt 160 Kilometer nord- Wert von rund 25 Milliarden westlich von Damaskus von Dollar erhalten. Bis heute sind jeher als strategisch wichtig. die 308 000 Mann starken Im Kalten Krieg diente sie Streitkräfte fast ausschließlich als Knotenpunkt zur Versor- mit sowjetischem Material gung der im Mittelmeer kreu- ausgestattet: mit 4600 Pan- zenden Sowjetarmada. Nach zern, vor allem T-72 und T-62, dem Zerfall der UdSSR 1991 rund 600 MiG- und Suchoi- aber verschwand die Sowjet- Kampfflugzeugen, 170 Hub- flotte aus mediterranen Ge- schraubern, mindestens zwei wässern. Die Basis in Tartus Diesel-U-Booten. verkam. Putin sicherte zu, russische Das hat sich gründlich ge- Flugabwehrraketen vom Typ ändert: Gudkow ließ Repa- Strelez (Nato-Bezeichnung raturtrupps aus Sewastopol SA-18) zu liefern. Die auf La- anrücken und brachte die An- fetten montierten Raketen mit lage wieder auf Vordermann. einem Aktionsradius von Derzeit wechselt eine Techni- sechs Kilometern erschweren kerbrigade am Schwimmdock womöglich künftige „Tiefflü-

Luken und Antennen aus, ein- REUTERS laufende Schiffe werden hier Syrische Panzer russischer Herkunft: Moskau besteht auf Barzahlung * Am 25. Januar 2005 im Kreml.

118 der spiegel 25/2006 ge über die Residenz des syrischen Präsi- denten“, sagte Putin in einem Interview mit dem israelischen Fernsehen. Tatsäch- lich hatten israelische F-16-Kampfflugzeu- ge im Jahr zuvor Assads Sommerresidenz in der Nähe des russischen Stützpunkts im Niedrigflug umrundet – für die Syrer eine tiefe Demütigung. Eine Filiale des staatlichen russischen Waffenhändlers Rosoboronexport in Da- maskus versorgt die treuen Stammkunden mit neuen Lenksystemen und Ersatzteilen für Panzer, mit moderner Elektronik für MiG-21-Jagdflugzeuge und Munition. Die Moskauer Zentrale des Unternehmens lei- tet Sergej Tschemesow, ein Putin-Wegbe- gleiter aus gemeinsamen KGB-Zeiten in der DDR. Allein in den vergangenen sieben Jahren orderte das Baath-Regime bei den Russen Waffen im Wert von mehr als einer Mil- liarde Dollar. So bestellten die Syrer die Jagdflieger Su-27, Kampfflugzeuge vom Typ MiG-29 und T-80 Panzer. Doch anders als zu sowjetischer Zeit drängt Moskau heute auf Barzahlung. Die Schützenhilfe gilt einem Staat, den US-Präsident George W. Bush eine „außer- gewöhnliche Bedrohung für die nationale Sicherheit der USA“ nennt und den das State Departement wegen dessen Hilfe für Hamas und Hisbollah als „Sponsor des Terrorismus“ einstuft. Amerikanische Mi- litärexperten beunruhigt vor allem, dass Syriens Armee in den vergangenen Jah- ren etwa tausend russische Panzerabwehr- raketen vom Typ Kornet-E erwarb. Die im Pentagon gefürchtete Lenkwaffe kann selbst modernste Bradley-Schützenpanzer noch aus 5,5 Kilometer Entfernung binnen Sekunden in glühenden Schrott verwan- deln. Rund 10000 syrische Offiziere haben auf sowjetischen und russischen Militär- hochschulen Wissen und Schliff erhalten. Vor allem Piloten und Luftabwehrspezialis- ten absolvieren gegenwärtig die russische Luftwaffenakademie. In der syrischen Armee dienen nach Schätzungen westlicher Experten bis zu 2000 russische Militärberater, geführt von Generalleutnant Wassilij Jakuschew, 60, dem früheren Stabschef des fernöstlichen Wehrkreises. Russische Offiziere sind als Lehrkräfte an der syrischen Generalstabs- akademie im Einsatz. Der Dienst am Mittelmeer ist beliebt. Mit umgerechnet mindestens tausend Dollar im Monat selbst für einfache Offi- ziere ist der Sold im syrischen Frontstaat um das Dreifache höher als in der Heimat. Der meist dreijährige Einsatz hat aller- dings seinen Preis: Isolation. Die Gäste, die nicht auffallen sollen, tragen syrische Uniformen und müssen ihre Freizeit mit ihren Familien in abgeschirmten Siedlun- gen verbringen. Ein kleiner Urlaub an einem palmengesäumten Sandstrand in Latakia ist da schon eine seltene, kostbare Abwechslung. Uwe Klussmann der spiegel 25/2006 119 Ausland Mike und seine Sklaven KRAKAU Global Village: Ein schlauer Krakauer macht gute Geschäfte mit der kommunistischen Vergangenheit.

ie einzige Erinnerung, die Jakub die Bourgeoisie und die Boheme zeugen, meter, zwei Zimmer, Küche, Diele, Bad, Bialach an die kommunistische Zeit die in Krakau den Ton angaben. Heute separate Toilette, Zentralheizung. Für die Dhat, ist „das Schlangestehen“ bei arbeiten in diesem Werk, das vom indi- Menschen, die in den fünfziger und sech- jeder Gelegenheit. „Man hat sich hinten- schen Mittal-Konzern übernommen wurde, ziger Jahren vom Lande nach Nowa Huta drangestellt, ohne zu wissen, was es zu 6777 Menschen rund um die Uhr. kamen, war das ein Quantensprung in den kaufen gab. Mal waren es Orangen aus Man sieht nur wenige Menschen auf Luxus, heute würde man nicht einmal Ob- Kuba, mal Gurken aus Rumänien, und oft den Alleen, die sternförmig zum Plac dachlose hier einquartieren. passierte es, dass es nichts mehr gab, wenn Centralny führen, der seit 2004 zusätzlich Mike und Bialach haben die Wohnung man an der Reihe war.“ den Namen des ehemaligen amerikani- mit Möbeln und Gegenständen der sieb- Zur Zeit der Wende war er 5 Jahre alt, schen Präsidenten Ronald Reagan trägt. ziger Jahre authentisch eingerichtet. Über heute ist er 22, studiert Soziologie und Ansonsten scheint in Nowa Huta die Zeit dem Ausziehsofa im Wohnzimmer, das auch arbeitet als Fremdenführer in Krakau. Er stehengeblieben zu sein. „Die Leute hier das Schlafzimmer der Eltern war, hängen führt die Touristen aber nicht an die „üb- leben in ihrem eigenen Museum“, sagt Bilder von Jesus und Maria, in der Küche lichen Orte“ – nach Auschwitz-Birkenau, Bialach, „man kennt sich, ein Tag ist wie steht ein dreistufiger Henkelmann auf dem in die „Emalia“-Fabrik von Oskar Schind- der andere.“ Gasherd, im Bad riecht es nach Abwasser. ler oder durch das „jüdische Fidel Castro hat mal Nowa Kazimierz“ –, er unternimmt Huta besucht und soll, sagt eine Reise in die „kommunis- Bialach, „sehr beeindruckt tische Vergangenheit“. gewesen sein“. Vermutlich hat Bialach, groß und kräftig, ihm besonders gut gefallen, holt seine Kunden im Hotel dass es in Nowa Huta zwei ab, der Trip dauert vier Stun- Fußballstadien, eine Speed- den, kostet 160 Zloty (42 Euro) waybahn und einen künst- pro Person. Er fährt einen Tra- lichen See mit Sandstrand, bant aus dem Jahre 1987 mit 23 aber keine Kirche gab. Die PS, der 200 Euro gekostet hat wurde erst 1977 eingeweiht, und bis vor zwei Jahren einem 20 Jahre nachdem Arbeiter Rentner gehörte. Jetzt gehört ein hölzernes Kreuz auf frei- der Zweitakter Michal Ostrow- em Feld errichtet hatten. ski, der sich Mike nennt und „Marx und Lenin waren über- Gründer und Eigentümer der all, nur für Gott gab es kei- Firma „Crazy Guides – Com- nen Platz“, sagt Bialach. munism Tours“ ist. Fährt man von Nowa Huta Mike ist 28, hat ein Jura- zurück nach Krakau, hat man studium hinter sich, trägt ein das Gefühl, man kommt aus T-Shirt und Armeehosen, wie einem finsteren Wald in ein

es sich für einen jungen pol- GAZETA / AGENCJA GOLEC ADAM sonniges Tal. Im Café „Carpe nischen „biznesman“ gehört. Unternehmer Ostrowski: „Ich bin Monopolist“ Diem“ („Nutze den Tag“) Vor zwei Jahren fing er mit sitzt Mike und nimmt über 1000 Dollar an, heute gehören ihm schon Das meistgebrauchte Wort in den Aus- Handy Buchungen für die nächsten „Com- zwei Trabis und ein alter Fiat 125, der in lagen der Geschäfte ist „tanio“ (billig), es munism Tours“ an: „Ich habe eine Nische Polen in Lizenz gebaut wurde. Mike be- gibt billige Kleider, billige Bücher, billiges gefunden, in der ich Monopolist bin und schäftigt drei Mitarbeiter, die er zärtlich Spielzeug. Am besten und günstigsten die Preise bestimmen kann. Ich will nicht „meine Sklaven“ nennt, einer von ihnen kauft man bei Carrefour ein, einem fran- billig sein. Das überlasse ich den anderen.“ ist Bialach. Die Kunden sind meistens Aus- zösischen Supermarkt am Rande der Stadt. Mike gehen die Ideen so schnell nicht länder, oft Briten, die „einen Sinn für skur- Durch Nowa Huta fahren Carrefour-Busse, aus. Bald will er noch zwei alte Trabis rile Sachen haben“, wie Bialach sagt. Mit die man kostenlos benutzen kann. kaufen, neu lackieren und als mobile Lit- „Crazy Guides“ kommen sie in eine Ge- Wer es sich leisten kann, geht in die „Re- faßsäulen einsetzen. Außerdem möchte er gend, „die normale Touristen nicht zu se- stauracja Stylowa“ an der Ecke Allee der zwei Arbeitslose in russische Uniformen hen bekommen“. Freundschaft und Rosenallee, wo polni- stecken und sie über den Rynek laufen las- Sie kommen nach Nowa Huta, einer Tra- sche Gerichte wie Bigos und Flaczki (Kut- sen, die Flaniermeile mitten im alten Kra- bantenstadt zehn Autominuten nordöstlich teln) serviert werden. Bis Dezember 1989 kau – als Blickfang für seine „Communism von Krakau, nach dem Zweiten Weltkrieg stand vor dem Lokal ein riesiges Lenin- Tours“. Und wenn es sein muss, packt er auf freiem Feld für hunderttausend Ein- Denkmal aus Stahl, heute steht es im Park auch 20 bis 30 Besucher in die winzige Mus- wohner gebaut, darunter einige zehntau- eines reichen Exzentrikers in Schweden. terwohnung in Nowa Huta und heuert zwei send Arbeiter, die im Stahlwerk beschäftigt Der Höhepunkt der „Communism Arbeiter an, „die sich selbst spielen, saufen waren. „Eigentlich war es eine Fabrik mit Tour“ mit Bialach ist der Besuch in einer und streiten“, damit die Gäste „einen Ein- einer Stadt nebenan“, sagt Bialach. Nowa inzwischen verlassenen Standardwohnung druck bekommen, wie es im Kommunis- Huta sollte vom Sieg des Proletariats über für eine vierköpfige Familie: 50 Quadrat- mus zuging“. Henryk M. Broder

120 der spiegel 25/2006 Prisma Wissenschaft · Technik

MEDIZIN „Meilenstein für die Identität der Ärzte“ Jürgen Wasem, 46, Me- dizinökonom an der Universität Essen und Regierungsberater, über den Tarifabschluss für die Ärzte an den Uni-

MARC DARCHINGER DARCHINGER MARC versitätskliniken

SPIEGEL: Können die Ärzte mit dem Er- reichten zufrieden sein? Wasem: Der Marburger Bund hat viel geschafft: Er hat sich mit diesem Ab-

schluss als eigenständiger Tarifpartner / VISUM WORKS THE IMAGE etabliert. Wichtiger noch als das kon- Aymara-Frau in Bolivien krete Ergebnis ist dabei für mich, dass dies ebenso wie der Streik selbst ein LINGUISTIK Meilenstein ist für die Identität der Krankenhaus-Ärzte . Trotzdem wird dieser Abschluss wohl nicht verhindern Die Zukunft im Rücken können, dass weiterhin deutsche Ärzte ins Ausland abwandern. espräche mit Angehörigen der Ay- bedeutet sowohl „zurück“ oder „hin- SPIEGEL: Schon jetzt schreiben 80 Pro- Gmara könnten schnell in allgemei- ten“ als auch „Zukunft“. Die Gestik un- zent der Universitätskliniken rote Zah- ner Verwirrung enden. Das Indianer- terstreicht das einzigartige Zeitkonzept: len. Wie sollen sie die geschätzten volk, das in den Anden in Bolivien, Peru Sprechen Aymara von der Zukunft, zei- Mehrkosten von rund 200 Millionen und Chile lebt, hat nämlich eine grund- gen sie oft mit dem Daumen über ihre Euro pro Jahr verkraften? legend andere Anschauung von Zeit als Schultern. Erinnern sie sich an Vergan- Wasem: Die Uni-Klinik Mainz zum Bei- alle anderen bekannten Kulturen: Die genes, machen sie eine Handbewegung spiel hat bereits Personalabbau an- Zukunft liegt hinten, die Vergangenheit nach vorn. „Die Wahrnehmung von so gekündigt. Zudem wird die Unlust der ist vorn. Dies haben amerikanische For- alltäglichen abstrakten Begriffen wie öffentlichen Hand an ihren Kliniken scher um Rafael Nunez von der Uni- Zeit ist also zumindest teilweise ein kul- jetzt wahrscheinlich noch zunehmen. versity of California in San Diego in turelles Phänomen“, folgert Linguist Vermutlich werden nach Gießen und stundenlangen Gesprächen mit 30 Ay- Nunez. Allerdings scheinen sich die Ay- Marburg deshalb weitere Universitäts- mara in Nord-Chile herausgefunden. So mara dem Rest der Welt langsam anzu- kliniken privatisiert werden. werde das Wort „nayra“, das sich mit passen: Die jüngeren Versuchspersonen, „Auge“, „Stirn“ oder „Sicht“ überset- die auch fließend Spanisch sprachen, zen lässt, gleichzeitig auch für „Vergan- gestikulierten häufig auf die überall genheit“ verwendet. „Qhipa“ hingegen sonst übliche Art.

TIERE Königinnen der Art Atta colombica eine durchaus heikle Angelegenheit, wie

BERND WEISSBROD / DPA Zu viel Sex schadet der eine Forschergruppe um Jacobus Ärzte bei OP Boomsma von der Universität Kopen- Ameisenkönigin hagen nun herausgefunden hat. Das SPIEGEL: Wird es durch den Tarifab- erste Problem: Eine große Anzahl von schluss zu Beitragserhöhungen bei den in einziges Mal in ihrem Leben Sexualpartnern erhöht zwar die geneti- gesetzlichen Krankenkassen kommen? Epaart sich eine Blattschneideramei- sche Vielfalt – schwächt aber aus unge- Wasem: Solange nur die Ärzte an den senkönigin – dann aber klärten Gründen das Universitätskliniken mehr Geld bekom- gleich mit mehreren Immunsystem der Kö- men, nicht. Doch der Marburger Bund Männchen (die hinter- nigin. Meist begnügt fordert für die 70000 Ärzte an den her alle vor Erschöp- sie sich deshalb mit kommunalen Krankenhäusern ja eben- fung sterben). Mit den zwei oder drei Männ- falls höhere Gehälter. Wenn es dort zu gespeicherten Spermi- chen. Auch deren einem ähnlichen Tarifabschluss kom- en befruchtet sie über Sperma will sorgfältig men sollte, dann wird es wahrscheinlich Jahre hinweg Millionen dosiert sein: Je mehr Beitragssteigerungen geben. Und auch Eier und baut so ihre die Königin davon die niedergelassenen Ärzte, die ja eben- Ameisenkolonie auf. speichert, desto anfälli-

falls gestreikt haben, werden ihren Dennoch ist die Fort- NASH DAVID ger ist sie für Krank- Druck sicher noch einmal erhöhen. pflanzung auch für Blattschneiderameisenkönigin heiten.

der spiegel 25/2006 123 Wissenschaft · Technik Prisma

UMWELT Piratenfischer in Rostock ünf russische Fischtrawler sollen seit FSeptember 2005 mehrmals im Rosto- cker Hafen für illegale Fangfahrten in der Ostsee versorgt worden sein. Unter den Augen der Landesregierung von Meck- lenburg-Vorpommern, so die Umwelt- organisation Greenpeace, seien Treibstoff, Maschinenbauteile und anderes Gerät aufgeladen worden. „Der Rostocker Ha- fen hat gegen das EU-Gesetz verstoßen, das besagt, dass Piratenfischer in eu- ropäischen Häfen nicht ausgerüstet wer-

den dürfen“, sagt Thilo Maack, Green- HAENTZSCHEL / GREENPEACE THOMAS peace-Meeresbiologe. Obwohl Green- Greenpeace-Protestaktion im Rostocker Hafen peace bei der Landesregierung mehrfach protestiert habe, habe diese bis heute desministerium für Ernährung, Land- Dokumente wurde uns jedoch von den nichts gegen die illegalen Praktiken un- wirtschaft und Verbraucherschutz sowie Ministerien verweigert.“ Vergangenen ternommen. Auch ein Appell der Um- dem zuständigen Landesministerium in Freitag hat Greenpeace deshalb bei den weltschützer an die Bundesregierung und Schwerin gekommen. Maack: „Darin Verwaltungsgerichten Schwerin und Köln öffentliche Protestaktionen zeigten keine finden sich möglicherweise Hinweise, das Land Mecklenburg-Vorpommern und unmittelbare Wirkung. Es sei lediglich zu welche Fischarten in welchen Mengen die Bundesrepublik Deutschland auf Ak- einer Korrespondenz zwischen dem Bun- gefangen wurden. Die Einsicht in diese teneinsicht verklagt.

GENUSSMITTEL EXPEDITIONEN Weintrauben zum Einschlafen Gipfeltest mit Retro-Kleidung ie Gedanken verschwimmen, ein wohliges Schweregefühl un ist die Legende wohl end- Dbreitet sich aus – für diese Folgen des Weinkonsums ist Ngültig widerlegt: An unpassen- möglicherweise nicht allein der Alkohol verantwortlich. Italie- der Kleidung lag es nicht, dass die nische Forscher haben nachgewiesen, dass verschiedene Trau- britischen Everest-Pioniere George bensorten wie Merlot, Cabernet Sauvignon und Barbera das Mallory und Andrew Irvine 1924 Hormon Melatonin enthalten. Im menschlichen Körper wird den höchsten Gipfel der Welt nicht das Melatonin in der Zirbeldrüse im Zwischenhirn produziert bezwingen konnten. Drei Jahre lang und wirkt schlaffördernd. Erst vor einigen Jahren wurde be- hatten Textilexperten unter der Lei- kannt, dass die müde machende Substanz auch in Pflanzen tung von Mary Rose von der Lanca- vorkommen kann. Die Konzentration des Melatonins in der ster University an einer exakten Ko- Traubenhaut könne aus ernährungsmedizinischer Sicht als sig- pie der Mallory-Kleidung gefeilt: ei- nifikant betrachtet werden, melden die Forscher um Franco ner Gabardine-Jacke,darunter meh- Faoro von der Universität in Mailand. Mit einer laufenden rere Schichten aus Schafwoll-, Studie hoffen sie zeigen zu können, dass das Schlafhormon Baumwoll- und Seidenstoffen. In

auch im Wein in messbaren Mengen vorkommt. dieser Montur wagte der Bergstei- TRUST HERITAGE MOUNTAIN ger Graham Hoyland jetzt den Pra- Bergsteiger Hoyland Ernte von Merlot-Trauben im Friaul xistest am Mount Everest. Das überraschende Ergebnis: Er schaffte es nicht nur problemlos zum Gipfel, sondern fühlte sich dabei auch noch pudelwohl: „Als Erstes ist zu berichten, wie ungewöhnlich bequem die Klei- der sind“, schwärmt Hoyland. Die Retro-Kluft sei viel leichter und angenehmer zu tragen als moderne Bergsteigerkleidung aus synthetischen Stoffen. Für Wissenschaftlerin Rose ist dies eine erfreuliche Bestätigung: „Die Kopie trägt dazu bei, einige offene Fragen heutiger Erfinder von Bergsteiger-Equipment zu beant- worten.“ Besonders das Gewicht der modernen Ausrüstung ließe sich optimieren: Mallorys Kleidung war 20 Prozent leich-

UDO BERNHART / PICTURE-ALLIANCE / DPA / PICTURE-ALLIANCE UDO BERNHART ter, die Schuhe wogen 40 Prozent weniger.

der spiegel 25/2006 Präsentation des Ford Focus ST

Models auf dem Laufsteg in Mailand Hotelzimmer der Ritz-Carlton-Kette

Trendfarbe Orange: Noch vor wenigen Jahren ein Inbegriff des Billigen und Grellen

TRENDFORSCHUNG Das Farbkartell Welche Farbtöne werden in einigen Jahren bei Autos, Kleidern und Staubsaugern gefragt sein? Die Industrie muss sich jetzt schon festlegen – Expertenzirkel erforschen daher weltweit den Wandel der Vorlieben und begrenzen mit aufwendigen Vorhersagen das Risiko.

iese Reform könnte gelingen, schon Auf den ersten Blick ist der Wandel weltgrößten Hersteller von Autolacken. weil niemand sie bemerkt. Noch kaum zu erkennen. Nach wie vor rollen Wie es weitergeht mit der Umerziehung Dimmer fahren die Autos in den ewig die meisten Neuwagen in den unbunten des zögerlichen Publikums, ist längst be- gleichen betrüblichen Farben herum: Lacktönen vom Band, auf denen der Kun- schlossen. Die Farben, die sich jetzt als Un- Schwarz, Anzugblau, Silber und abermals de beharrt. Aber immer öfter sind sie sub- tertöne ins Silber einschleichen, werden Silber. So scheint es. Aber ist das Silber til angefärbt. Die Geduld der Autogestalter bald kräftiger auftreten. Auch das Schwarz wirklich noch, was es war? Schimmert ist offenbar zu Ende. „Das Silber kann ein- entgeht nicht dem Reformdruck: Im Son- nicht hier schon ein Hauch von Eisblau, fach keiner mehr sehen“, sagt Sandra Krü- nenlicht funkeln hie und da schon rötliche dort eine Ahnung von Grün? ger, Farbdesignerin bei Dupont, einem der oder violette Pigmente.

126 der spiegel 25/2006 Wissenschaft

Selten kommen neue Farben einfach so. experte Gert Grözinger. Jede Rezeptur ner der Gründe: der Aufschwung der Es- Kein Zufall auch, dass der neue Ford Focus wird zuvor im Labor an vielerlei Gewebe pressokultur. Das ehedem olle Braun sieht ST gleich in tollkühnem „Electric Orange“ erprobt. Mehrfarbige Kombinationen müs- plötzlich nach edler Bohne aus. Gut mög- erschien; noch vor fünf Jahren hätte das sen dabei auch unter wechselndem Licht lich also, dass die Leute ein paar Jahre lang niemand wagen dürfen. Orange war geäch- harmonieren – im Neonschein der Kauf- gern als Latte macchiato herumlaufen. tet als billig und grell. Heute tauchen auch häuser, in der stechenden Mittagssonne Immer wieder verbindet das Publikum Espressomaschinen und Küchenmixer in und im rötlichen Abenddämmer. neue Werte mit alten Farben; sein Wohl- dieser Farbe auf. In den Kleiderläden Erst wenn alle Prüfungen absolviert wollen ist wechselhaft. Auf dem Europa- leuchtet sie aus allen Winkeln. sind, gehen die endgültigen Farbmuster treffen der CMG in Prag gründelten die Speziell die Mode, angeblich frei, jeder mitsamt ihren Spektraldaten, einer Art Designer und Trendforscher deshalb in Laune zu folgen, scheint in Wahrheit einer physikalischem Steckbrief, an den Auf- allen aktuellen Themen, die sich aufs geheimen Planungsbürokratie zu gehor- traggeber, meist eine Textilfirma. Die kollektive Farbgefühl auswirken könnten: chen. Der Kunde merkt es daran, dass mit schickt sie dann an ihre Zulieferer; bei von der Einwandererfrage über den Er- jeder Saison ganze Farbenfamilien wie größeren Kollektionen können das leicht folg der Kochsendungen im Fernsehen bis gleichgeschaltet auf die Bühne treten. Hunderte Adressen in aller Welt sein. hin zur EU-Erweiterung. Bringen die neu- Dann mag er sich fragen: Warum bekom- Dumm, wenn eine solche Prozedur am en Oststaaten vielleicht eigene Töne ins me ich plötzlich nichts mehr, was zu der Ende Farbtöne hervorbringt, deren Zeit Spiel? Vor anderthalb Jahren erst hatte CORRADO / OLYMPIA / SIPA PRESS (L.); WIECK (O. R.); BARBARA VOLKMER (U. R.) (U. VOLKMER R.); BARBARA PRESS (L.); WIECK (O. / SIPA / OLYMPIA CORRADO Hose von vor zwei Jahren passt? noch nicht da oder schon wieder um ist. schließlich die „orange Revolution“ in der Das passiert, weil die Farbdesigner aller Und der Kunde ist heikel. Er verlangt nach Ukraine den Verkehrswert ihrer Signal- Erdteile regelmäßig die Köpfe zusammen- frischen Koloraturen, erschrickt aber leicht farbe erhöht. stecken. 1300 Mitglieder zählt der führen- vor dem Ungewohnten. Deshalb lassen die Das Verfahren ist langwierig und einer de Weltverband: die Color Marketing Designer neue Farben meist aus vertrauten Parlamentsdebatte nicht unähnlich. Zur Group, kurz CMG. Vertreten sind darin hervorgehen. Die allgegenwärtigen Orange- Wahl stehen quasi die regierenden Farb- Textilketten und Kosmetikfirmen, Auto- töne etwa hatten rote und gelbe Vorläufer töne der kommenden Legislaturperiode. bauer und Wandfarbenhersteller. und werden ihrerseits bereits wieder in Alle Teilnehmer haben dafür Mappen mit- In Prag hielt die CMG gerade ihre Richtung Korallenrot abgeschattet. gebracht mit Farbkärtchen, die sie als Kan- jährliche Europakonferenz ab. Die Frage Wohin die Farbenmode sich dabei je- didaten aufstellen. Die weniger überzeu- war, in welche Farben wohl der Kontinent weils wendet, hänge stark vom Weltenlauf genden Vertreter des Spektrums werden um das Jahr 2009 getaucht werde. Zwei ab, versichert Charles Smith, Präsident der dann nach und nach hinausgewählt. Tage lang beugten sich die Auf den Weltkonferenzen Experten über Tische mit der CMG, die zweimal im Farbkärtchen und Mustern. Jahr in den USA stattfinden, Die Autodesignerin saß ne- tagt am Ende ein „Steue- ben dem Trendberater, der rungskomitee“. Dieser Aus- Staubsaugermann neben der schuss kürt aus den Farben, Kunstblumenhändlerin, die die alle Wahlgänge überstan- gerade eine Kollektion in den haben, rund 30 Leittöne Schwarzweiß gewagt hat. für den nächsten Modezyklus. An allen Tischen das glei- Die Prognose gilt jeweils für che Thema: Welche Töne zwei, drei Jahre im Voraus. sind gerade begehrt? Und wo Natürlich ist jeder Herstel- zeigen sich bereits, noch un- ler frei, den Wegweisungen erkannt, die Aufsteiger der der CMG zu folgen oder nächsten Jahre? Hinweise nicht. Doch offenbar weicht können die Kataloge von die Industrie selten allzu weit Möbelmessen geben, die ab. „Die Trefferquote ist Laufstege der Haute Couture schon ziemlich gut“, sagt oder auch die Anzeigen für Wolf Karl, Geschäftsführer noble Parfums (verdächtig des RAL-Instituts, das sich in viel Purpurrot neuerdings). Deutschland um die Standar- Für die Industrie ist das disierung der gebräuchlichs-

Weissagen wichtig. Sie muss / DER SPIEGEL DWORSCHAK MANFRED ten Farbtöne kümmert. sich in der Regel früh ent- Farbdesigner bei Trendprognose*: „Deutschland wird bunter“ Die Karriere der Grüntöne scheiden. Bis zu vier Jahre in der Mode sei bereits vor bevor ein Autohersteller eine neue Mo- CMG: „Nach dem Anschlag aufs World zwei Jahren prophezeit worden, sagt Karl. dellserie ausliefert, werden die Farbtöne Trade Center verdüsterte sich die gesamte Ihren Höhepunkt werde sie wohl 2007 er- ausgewählt. Viel Zeit vergeht, bis die Farbenpalette der USA auf Jahre hinaus.“ klimmen. Auch viele Blautöne wandern präzisen Schattierungen gemischt und an Aber auch kleinere Erschütterungen ha- schon ins Grünliche hinüber. Andererseits Prototypen erprobt sind. „Nicht jedem ben ihre Folgen. Der Kinoknüller „Herr rückt allmählich ein Großereignis heran, Modell steht jede Farbe“, sagt Dupont-De- der Ringe“ beschwingte die Nachfrage das womöglich zusätzliche Farbtupfer signerin Krüger. Die Finalisten schließlich nach der Fantasy-Palette von Mittelerde – setzt: „Die Olympiade in Peking 2008 wird müssen noch zeigen, wie lange sie Stein- vom Eisengrau der Rüstungen bis zu den Rot ziemlich in den Vordergrund spielen“, chenschlag, pralle Sonne und Vogeldreck erzgemütlichen Naturfarben des Auenlan- meint John Bredenfoerder, ein Funktionär aushalten. des, wo die Hobbits hausen. der CMG. Nicht viel flotter geht es bei den Für die kommenden Jahre prophezeit In alledem wirkt aber, wenn es nach der Textilien zu. Der Farbhersteller Dystar in Smith eine Fülle warmer Brauntöne. Ei- CMG geht, ein alles durchdringender Ge- Frankfurt hat schon die Palette für den neraltrend. Die gegenwärtig eher satten, Herbst nächsten Jahres fertig. „Viele neue * Beim Europatreffen der Color Marketing Group vom hellen, lauten Farben werden langsam Grün- und Türkistöne“ verheißt Farb- 22. bis 24. Mai in Prag. abgelöst von naturähnlichen Tönen, von

der spiegel 25/2006 127 Wissenschaft komplexeren, gedämpften Mischungen, die wendige Lacke demonstrieren Wertigkeit.“ nur wenige Farbtöne zu echter Prominenz. hie und da erscheinen wie in Nebel gehüllt. Mit neuen Effektfarben sind auch Ober- Umso wichtiger ist es, von Anfang an bei Das klassische Farbensortiment – von flächen machbar, die wie Kupfer oder den Gewinnern zu sein. Ein Trend, der in Marineblau bis Burgunderrot – bleibt von Platin aussehen. Für eine tiefgründige An- zu viele Richtungen auseinanderliefe, wäre solchen Umwälzungen unberührt. Die an- mutung sorgen Lasuren aus mehreren keiner mehr. Es gilt, die Kundschaft nicht deren Töne aber durchlaufen komplizierte Lackschichten, mit denen sich heute schon zu überfordern. „Die Leute wollen frische Zyklen: „Irgendwann kehren alle wieder, Autos wie der Mini von BMW hervortun. Farben“, sagt Trendforscher Venn. „Aber dann aber meist deutlich abgewandelt“, So wird die Kundschaft allmählich her- sie wollen auch sichergehen, dass es die sagt Farbexperte Axel Venn, der an der ausgelockt aus ihrer Fixierung auf Schwarz, richtigen Farben sind.“ Hochschule für angewandte Wissenschaft Anzugblau, Silber. Vor allem die Angst der Das menschliche Auge kann fast zehn und Kunst in Hildesheim lehrt. Autokäufer, den Wiederverkaufswert zu Millionen Farbwerte unterscheiden. Er- Das trifft auch für die Autos zu. Mitte schmälern, war es, die das Straßenbild staunlich, dass sich jede Saison ein winzi- der Neunziger war Rot, mit einem Markt- weitgehend entfärbte. ges Sortiment daraus durchsetzen lässt – anteil von 25 bis 30 Prozent, die führende Im übrigen Leben sind die Leute inzwi- zumal jeder Produzent für sich seine Ent- Autofarbe. Selbst Grün lag mal – anno 1978 schen weit weniger gehemmt. Sie greifen scheidung Jahre im Voraus trifft. Er muss – mit fast 20 Prozent der Neuzulassungen ungescheut nach Rasierern, die bunt sind dafür nicht nur an die Prognosen glauben. an der Spitze. Beide Veteranen, in der Zwi- wie Turnschuhe. Und ihre Wohnungen Er muss auch überzeugt sein, dass alle an- schenzeit fast verschollen, kommen nun auf streichen sie heute in Gelb, morgen in Ter- deren daran glauben. unverhoffte Weise zurück. Von „Farben für rakotta. „Wir verkaufen kaum noch Stan- Das Problem ist: Die wenigsten Farb- den zweiten Blick“ spricht Dupont-Desi- dardweiß“, sagt Claudia Berghofer von der trends drängen sich – wie das Espresso- gnerin Krüger: hintergründigen Mischun- Tiroler Farbfabrik Adler. Der Farbenmut, braun – von selbst auf. Bei den übrigen ist gen etwa in der Schwebe zwischen Rot und so scheint es, wächst beträchtlich. RAL- eine gewisse Willkür nicht zu vermeiden. Orange; oder Grüntönen mit goldenem Wi- Chef Karl bestätigt: „Deutschland wird far- „Man kann aber nicht einfach sagen: Jetzt derschein, changierend je nach Lichteinfall. biger in allen Lebensbereichen.“ machen wir mal Gelb!“, meint RAL-Chef Spezielle Pigmente vollbringen den Zau- Das macht die Vorhersagen nicht einfa- Karl. Das geht nur mit einem Schuss Magie ber. Für einen metallischen Glanz genügt cher. Wo selbst Zahnbürsten, Gartenliegen und Brimborium. Entscheidend ist, dass die Designer sich ihre Farbzu- kunft ausmalen als etwas, das praktisch vom Lauf der Dinge diktiert wird. „Eine stimmige Sze- nerie“, sagt Farbexperte Venn, „ist das Wichtigste überhaupt.“ Dafür hocken die Designer auf ihren Konferenzen und Work- shops und erzählen einander blumige Geschichten über die Gesellschaft, die irgendwie nach Soziologie und empirischer Be- obachtung klingen: Die Kund- schaft verlange in den nächsten Jahren nach gedämpfter „Sim- plexity“ und nach „techno-orga- nischer Balance“, wie die CMG erkannt haben will. Dazu erdichten die Zukunfts- forscher Farbennamen, die ins jeweilige Bühnenbild passen: „Flämisch Gold“ schlägt die CMG vor, „Cybernatural“ oder auch „Santa Claya“ – ein röt- liches Beige, das definiert ist als „indiskreter Hauch von Rouge, auf eine Wange geküsst“. Die theatralische Lyrik gehört

CINETEXT zur Arbeit der Selbstüberzeu- Trendfaktor Kino*: Erhöhte Nachfrage nach den Farben von Mittelerde gung. So versetzt die Industrie sich weltweit in die Stimmung, es, den Farben Aluplättchen beizumengen. oder Gurkenhobel von Farbtrends heim- der nächste Trend sei unausweichlich. Per- Besonders feinen Schimmer aber bringen gesucht werden, reichen pauschale Leit- manente Abstimmungen und langwierige winzige Partikel hervor, die aus blättrigem farben nicht weit, wie sie die CMG erbrü- Rituale gehören dazu. Wie in der Tierwelt Glimmergestein gewonnen werden. Sie tet. Eine Vielzahl kleinerer Trendbüros und garantieren sie, dass es alle Beteiligten sind halb durchsichtig, und je nach Schliff Designerzirkel versucht deshalb, die allge- höchst ernst miteinander meinen. und Größe geben sie dem Lack einen iri- meinen Prognosen in einzelne Märkte zu Der Erfolg spricht für sich. Farbmoden sierenden oder eher samtenen Schein. übersetzen. Der globale Zusammenhalt gehen um die Welt wie ein Fieber, und sie Eine noble Optik werde immer wichti- gehe dabei aber nicht verloren, sagt Farb- springen von Branche zu Branche – Orange ger, meint RAL-Chef Karl: „Technisch auf- experte Karl. „Die wichtigen Leute haben ist nun sogar schon bei Möbeln modern. einander ständig im Auge.“ Die Taktung der Trends gelingt ohne * Szene aus dem Fantasy-Film „Der Herr der Ringe – Die Alleingänge kann auch kaum jemand Taktgeber. Die Planwirtschaft der Farben Gefährten“ (2001). riskieren. In jedem Modezyklus schaffen es organisiert sich selbst. Manfred Dworschak

128 der spiegel 25/2006 Technik

RAUMFAHRT Marathon in der Todeszone Als erste Raumsonde flog „Smart-1“ mit Sonnenenergie zum Mond. Für die Ingenieure war die Mission ein nervenzehrendes Abenteuer.

itten in der Nacht summte sein Handy: eine Alarm-SMS aus dem MOrbit. Hellwach sprang Octavio Camino, 46, aus dem Bett. Auch sein vier-

jähriger Sohn hörte den Weckruf: „Papa, ESA ist wieder was mit deinem Raumschiff Ionenangetriebene Raumsonde „Smart-1“ (Zeichnung): Waghalsiger Schlingerkurs passiert?“ Aus heiterem Himmel, so die Handy- Kein Wunder, dass der Motor stotterte. Meldung, war der Ionenantrieb ausgefal- Mit Grausen erinnert sich der Ingenieur len. Der Flugleiter eilte ins Kontrollzen- an jenen Montagmorgen, als er nichts- trum der europäischen Raumfahrtagentur ahnend den Kontrollraum betrat. Überall Esa in Darmstadt. Erst Stunden später fan- ratlose Gesichter: Die Sonde war ver- den seine Spezialisten den Fehler: eine schwunden. Die Empfangsantenne im Überhitzung der Triebwerkssteuerung. Per australischen Perth hatte genau die Funkbefehl wurde „Smart-1“ herumge- Himmelsregion im Visier, wo sich Smart-1 dreht. So war die Elektronik nicht mehr gerade aufhalten sollte – doch nirgends der gleißend hellen Sonne ausgesetzt. eine Spur. Nach der Abkühlung sprang das Triebwerk Fieberhaft suchte das Flugkontrollteam

mühelos wieder an – gerettet. TIM WEGNER nach einer Erklärung. Hatte sich der An- Seit dem Start vor knapp drei Jahren Flugleiter Camino trieb zu früh abgeschaltet? Trieb Smart-1 kam es oft zu Zwischenfällen, mit denen „Wir haben kaum noch geschlafen“ also noch außerhalb des Empfangsbereichs niemand gerechnet hatte: Der Flug der der Antenne? Unter Hochdruck ent- Raumsonde zum Mond war ein nerven- Rückstoß entsteht, indem elektrisch gela- wickelte das Team ein Suchprogramm, um zehrendes Abenteuer. „Meine schwerste dene Gasteilchen von einem Hochspan- die verschollene Sonde aufzuspüren. Ca- Mission“, sagt der auf Gran Canaria gebo- nungsfeld hinausgeschleudert werden – sie mino: „Treffer – sie ging uns ins Netz.“ rene Camino. „Dieser Testflug dient dazu, bilden einen nur armdicken Partikelstrahl. Häufig gab es auch Ärger mit dem Na- neue Hard- und Software auszuprobieren.“ Solarzellen liefern den nötigen Strom. vigationssystem an Bord. Raumsonden Schon geraume Zeit umkreist der ge- Als erster Flugkörper wurde Smart-1 somit orientieren sich, wie in den Anfängen der frierschrankgroße Roboter mittlerweile von der Kraft der Sonne zum Mond ge- christlichen Seefahrt, anhand der Sterne. den Erdtrabanten und hat bereits Tausen- tragen. Der futuristische Elektromotor Dazu fotografiert eine Digitalkamera Aus- de Bilder und Gigabyte an Messdaten zur ist weitaus sparsamer als konventionelle schnitte des Himmels; der Bordcomputer Erde gefunkt. Es grenzt an ein Wunder, Triebwerke. Ionenstrahlen wären daher errechnet daraus die aktuelle Position. dass Smart-1 es so weit geschafft hat. ideal, um später einmal Menschen zum Doch auch die Kamera litt unter der zu Im Herbst 2003 hatte eine Ariane-Rake- Mars zu befördern. starken Sonneneinstrahlung, erhitzte sich te die Sonde aus dem Schwerefeld der Erde Die Antriebstechnik, die aus dem Ma- zu sehr und funktionierte dann nicht mehr katapultiert. Nach dem Abtrennen der schinendeck des Raumschiffs „Enterprise“ richtig. „Stundenlang raste Smart-1 blind letzten Raketenstufe trat eine Panne zu stammen scheint, hat nur einen Nach- durchs All“, erzählt Camino. „Dann muss- nach der anderen auf. Sonnenstürme ver- teil: Wegen des geringen Schubs dauert die ten wir schnell den Motor abstellen.“ ursachten immer wieder Fehler in der Beschleunigungsphase viel länger – ein Um der Sonnenglut auszuweichen, Bordsoftware. Allein in den ersten zwei chemisches Verbrennungstriebwerk gleicht brachten die Flugingenieure Smart-1 Wochen kam das Team über 30-mal zu einem Sprinter (dem schnell die Puste aus- schließlich auf einen waghalsigen Krisensitzungen („Anomaly Meetings“) geht), der Ionenantrieb einem Marathon- Schlingerkurs. Die Sonde kurvte durchs zusammen. „Ein nicht enden wollender läufer. Frühere Sonden schafften die All wie ein Skifahrer beim Abfahrtslauf – Alptraum, wir haben kaum noch geschla- Strecke zum knapp 400000 Kilometer ent- eine flugdynamische Meisterleistung. fen“, berichtet Camino. „Gott sei Dank fernten Mond in wenigen Tagen – Smart-1 Mittlerweile lässt sich der Kurs der gelten die deutschen Arbeitszeitregelungen war über ein Jahr unterwegs. Sonde kaum noch beeinflussen. Die letzten ja nicht im Weltraum.“ Ein riskanter Schleichflug: Die Sonde Gasvorräte im Tank sind längst aufge- Was den weiteren Flug zum Mond so brauchte ewig für die Durchquerung des braucht, das Ionentriebwerk ist abgestellt. schwierig machte, war der dabei eingesetz- sogenannten Van-Allen-Gürtels, der die Für den weiteren Flug spielt das keine te neuartige Antrieb. Bisherige Raumson- Erde wie ein Kokon umgibt. Darin toben Rolle. Anfang September soll Smart-1 als den gleichen Feuerwerkskörpern, ange- heftige solare Teilchenschauer, die elek- künstlicher Meteorit auf der Mondober- trieben von einem mächtigen Rückstoß, der tronische Bauteile zermürben. Camino: fläche zerschellen – möglichst auf der sicht- bei der Verbrennung des Kraftstoffs ent- „Um möglichst schnell aus der Todeszone baren Seite. Camino: „Wir wollen schließ- steht. Das Ionentriebwerk von Smart-1 hin- herauszukommen, musste das Ionentrieb- lich zusehen, wie dort ein neuer Krater gegen beschleunigt auf die sanfte Tour: Der werk monatelang mit voller Kraft laufen.“ ausgehoben wird.“ Olaf Stampf

der spiegel 25/2006 129 Wissenschaft AARON FERSTER / PHOTO RESEARCHERS RESEARCHERS / PHOTO AARON FERSTER HERMANN BREHM / OKAPIA (L.); M . HARVEY / PETER ARNOLD (R.) BREHM / OKAPIA / PETER ARNOLD HERMANN (L.); M . HARVEY Kuba-Laubfrosch (o.), Buschhäher, frischgeschlüpfte Meeresschildkröten, Rundschwanzsperber bei Taubenjagd: Der Wandel der Lebensräume

sehr dramatische und plötzliche Verände- ZOOLOGIE rungen der Umwelt“, erklärt der Schweizer Biologe Martin Schlaepfer von der Uni- versity of Texas. Das Verhältnis von Licht Fallen der Evolution und Schatten, Wasser und Nahrung, Boden und Luft – nichts bleibt unberührt, die Welt Rabenvögel fressen das falsche Futter, Prachtkäfer begatten vieler Tiere kann innerhalb weniger Stun- den komplett umgewälzt werden. leere Bierflaschen, junge Meeresschildkröten laufen Obwohl es besser für sie wäre, auf die vom Wasser weg – der Mensch ist es, der die Tiere in die Irre führt. neuen Lebensbedingungen zu reagieren, tun die Tiere weiterhin das, was sich in Jahr- er prachtvolle Trauerschwan vom seinem Winterquartier aus, um dem ge- millionen ihrer Evolution als das sinnvollste Aasee aus Münster hat einen ku- liebten Boot einen Besuch abzustatten. Verhalten herausgebildet hat. Nur führe es Driosen Geschmack. Seine Geliebte So könnte auch der Trauerschwan aus jetzt ins Verderben, sagt Schlaepfer: „Die überragt ihn um einige Schwanenhalslän- Münster eines von vielen Beispielen sein Regeln, anhand deren sie Entscheidungen gen, ist viel zu fett und zu weiß für den ge- für ein umfassendes Phänomen: Ähnlich getroffen hatten und mit denen sie bisher wöhnlichen Trauerschwan-Gusto. Schlim- fruchtlose Liebschaften bahnen sich in gut gefahren waren, versagen und bringen mer noch: Ihre Füße sind Paddel, ihr Kör- dieser Sekunde vieltausendfach an, unter sie in eine schlimme Situation.“ per ist aus Kunststoff. Und doch hat das allen möglichen Tiergruppen dieser Welt. Will heißen: Eine ganze Ewigkeit war es junge Männchen eine rührende Liebesge- Und nicht nur das. Von der Eintagsfliege für den Schwan ausreichend, auf Signale schichte mit dem Tretboot begonnen. über den Frosch bis zum Eichhörnchen – wie Halslänge, Körperform, Bewegungs- Sie treuherzig umkreisend von morgens die Geschöpfe scheinen in beinahe jedem muster zu achten, um ein Wesen als bis abends, umschwärmt der schwarze Lebensbereich zu fatalen Irrtümern in der Schwänin identifizieren zu können – und Schwan seine Plasteschönheit, verteidigt Lage zu sein. So legen Vögel ihre Eier genau zwar möglichst ein großes Weibchen. Nicht sie aufbrausend gegen Segler; das geht jetzt in die Schneise tödlicher Gefahr; andere vorauszusehen war, dass die Männchen schon so seit einem Monat. Tiere servieren ihren Jungen das falsche irgendwann eine Materialprüfung der Ein fehlgeleitetes Ausnahmetier, Futter, rennen Feinden blind vors Visier, Geliebten vornehmen müssen, um eine Schwachkopf unter den Schwänen? Im- laufen oder fliegen direkt ins Verderben Tretboot-Balz auszuschließen. merhin ist die Liebe zum vogelförmigen statt in ihr angestammtes, sicheres Habitat. „Evolutionäre Falle“ heißt der neue, von Tretboot bereits öfter vorgekommen, Es ist der Mensch, der sie fehlleitet. Mit Schlaepfer mitgeprägte Fachausdruck für zuletzt an der Hamburger Alster, wo die seinen Siedlungen, Staudämmen, Planta- solche Sackgassen. Die Naturschützer fei- Beziehung von „Swanee“ zu dem Wasser- gen erobert er Stück für Stück mehr von ern das Konzept bereits als Weg, ihre Dis- gefährt Jahre währte – er büxte sogar aus der Erde. „Und manchmal verursacht er ziplin zu vermählen mit der Verhaltens-

130 der spiegel 25/2006 bestand, typisch Stadt, hauptsächlich aus Tauben – den Überträgern der Seuche. Das Futter ihrer ländlichen Verwandten ent- hielt nur vier Prozent Taubenfleisch. Und es bedurfte eines komplizierten Ex- periments, um herauszufinden, wie Ein- tagsfliegen auf die Idee kommen, ausge- rechnet auf Straßen ihre Eier abzulegen – die gehören eigentlich in Bäche, Teiche, Flüsse. Asphalt bedeutet: sofortiger Exi- tus. Der Versuch ergab, dass bestimmte Straßenbeläge das Licht ebenso polarisie- ren wie Wasser. Und genau danach richten sich die Eintagsfliegen. In Windeseile ist es so um eine ganze Population geschehen. Ähnlich fatale Signale sendet die mo- derne Zivilisation einem australischen Prachtkäfer. Dessen Männchen geraten in Wallung angesichts leerer Bierflaschen. Sie besteigen den Glasmüll und sind davon nicht mehr runterzukriegen. Verantwort- lich für die Mesalliance ist das in der Son- ne rund und goldbraun leuchtende Glas der Flaschen – es scheint ausreichend Ähn- lichkeit mit Farbe und Form des weibli- chen Körperpanzers zu besitzen. Nur: Der Fortpflanzung dient das nicht. Zu wahrhaft gefährlichen Liebschaften treiben die Folgen menschlichen Wirkens den warzigen Kuba-Laubfrosch und die leopardenartig gefleckte Südliche Kröte. Deren Weibchen signalisieren Paarungs- bereitschaft, indem sie bewegungslos auf

JIM ZIPP / PHOTO RESEARCHERS RESEARCHERS JIM ZIPP / PHOTO dem Boden harren und keinen Mucks von vollzieht sich zu schnell für das Uhrwerk der evolutionären Anpassung sich geben. In genau dieser Ergebenheits- pose finden die Männchen in Städten nun biologie. „Wenn wir gewisse Tiere erhalten machten Habitat: So schnüren Füchse über erfreulich viele Weibchen: allesamt Ver- wollen“, sagt Annette Sauter, Ökologin an den Ku’damm und vorbei am Kanzleramt, kehrsopfer. der Universität Zürich, „müssen wir ganz Uhus gleiten durch Hamburgs Nächte, Diese unfreiwillige Nekrophilie von Krö- genau wissen, was mit ihnen passiert.“ Waschbären zerfleddern Matratzen auf te wie Frosch ist nicht nur im Hinblick auf Das Konzept der evolutionären Falle Kassels Dachböden, Störche staksen über die Vermehrung Endstation – die Straße könnte zum Beispiel erklären, warum Bo- Karlsruher Müllkippen. Und überall in eignet sich auch denkbar schlecht für ein denbrüter offenbar Flughafenwiesen als Deutschland randalieren Marder gern un- Schäferstündchen, ob mit totem oder le- Nistplatzparadies sehen und dort Jahr für ter der Motorhaube, Borstenvieh quert bendigem Weib; schnell folgt der Lieb- Jahr wieder Eier legen. Dabei wird dort auch mal den Berufsverkehr. haber dort seiner Partnerin in den Tod. regelmäßig gemäht – ein Überlebensrou- Auf den Straßen im Südosten Londons Solchen evolutionären Fallen mögen die lette. Oder warum Eichhörnchen sich nicht lassen sich nach Mitternacht sogar mehr Forscher noch relativ leicht durch Beob- an den Autoverkehr zu gewöhnen schei- Füchse sichten als in einem ganzen Jahr achtung auf die Spur kommen. Schwieriger nen: Im Laufe ihrer Evolution haben sie auf dem Land. In den Kanälen Mailands wurde es für Annette Sauter, als sie in Flo- gelernt, so schnell wie möglich über offe- tauchen Kormorane, in Manhattan besit- rida an der Archbold Biological Station zu nes Gelände zu wetzen, ohne kostbare Zeit zen Wanderfalken die Lufthoheit – die enträtseln versuchte, warum es den be- damit zu verschwenden, nach möglichen Greife haben sich dauerhaft niedergelas- drohten Buschhäher so schnell dahinrafft. Räubern Ausschau zu halten – denen sie sen auf den Wolkenkratzern. Die Nestlinge der Stadthäher sind im Ver- dann ja doch nicht entkommen könnten. Aber viele andere Tiere werden nie eine gleich zu ihren Vettern auf dem Lande Doch auf einer vierspurigen Straße ist das Chance haben in der Stadt – woran liegt Mickerlinge, entsprechend seltener über- blinde Flitzen angesichts der Geschwin- das? Und warum zum Beispiel rafft der leben sie. „Inzwischen sind nur noch zehn digkeit ihrer motorisierten Feinde eine Gelbe Knopf, eine Vogelseuche, so viele Prozent der Population von vor zehn eher ungeeignete Strategie. kleine Rundschwanzsperber im Stadtge- Jahren übrig“, klagt Sauter. Evolutionäre Fallen entstehen vor allem biet von Tucson in Arizona dahin? „All- Doch woran liegt es? Die Rentner in den in Städten. Zum einen werden menschliche gemein sind die Mechanismen des Über- Lake Placid Estates, der Siedlung, die Sau- Siedlungen immer mehr Tieren zur stän- lebens oder auch Scheiterns in der Stadt ter als Freilandlabor betrachtete, lieben die digen Heimat. Und zum anderen vollzieht immer noch wenig erforscht“, sagt Sauter. kecken blaugefiederten Rabenvögel, geben sich der Wandel ihrer Lebensbedingungen So mussten die Biologen ganz genau ihnen Namen („Pinky“) und füttern sie dort täglich, stündlich – viel zu schnell je- hinsehen, um herauszufinden, in welche reichlich. „Mit ganzen Säcken voller Erd- denfalls für das Uhrwerk der evolutionären Falle die Rundschwanzsperber geraten wa- nüsse und Sämereien“, beschreibt die Öko- Anpassung, das eher in Tausendjahres- ren. Die Antwort: Zwar schleppen die El- login. „Und in jedem Garten steht ein schritten tickt. terntiere ihren Jungen doppelt so viel Fut- Futtertisch.“ Zwar kommen viele Kreaturen erstaun- ter ins Nest wie ihre Vettern auf dem Lan- Genau dies ist der Vögel Verhängnis, lich gut zurecht mit dem menschenge- de. Doch die Diät war etwas eintönig. Sie fand Sauter heraus: „Das Überangebot an

der spiegel 25/2006 131 Technik pflanzlichem Futter ist schlecht für sie.“ Zwar machen all die fetten Nüsse die Eltern satt und stark – die Nestlinge aber brauchen dringend tierische Kost zum Ge- deihen, erklärt die Biologin: „Raupen, Heuschrecken, auch mal einen Frosch.“ Auf Erdnussberge hat die Evolution den Buschhäher jedenfalls nicht vorbereitet. Und so pickt er sich jetzt von Futtertisch zu Futtertisch seinem Ende entgegen. Immerhin, ausgerechnet in Florida gibt es ein Beispiel, wo die Entdeckung einer evolutionären Falle tatsächlich dazu ge-

führt hat, dass der Mensch mehr Rücksicht ITAR-TASS nahm: Junge Meeresschildkröten schlüp- Reaktorschiff im Hafen von Sewerodwinsk (Illustration): „Es werde Licht“ fen des Nachts am Strand. Nach der Ge- burt müssen sie zum Meer finden; dafür jekt für eine „völlig kranke Idee“. Schüt- orientieren sie sich am Licht. Und das ATOMKRAFT zenhilfe bekommen die Norweger von der schimmerte immer heller Richtung Ozean, Umweltorganisation Green Cross Russia; weil der den Nachthimmel spiegelt. Bomben-Idee deren Experte Wladimir Kusnezow, früher Mit dem Menschen aber kam das künst- Chef der russischen Behörde für nukleare liche Licht an die Küsten. Ganze Genera- Russland baut ein schwimmendes Sicherheit, hält die schwimmenden Meiler tionen kleiner Schildkröten verdursteten, für „eine Bedrohung der Weltmeere und verhungerten oder starben auf ihrer Odys- Kernkraftwerk für entlegene des Atomwaffensperrvertrages“. see landeinwärts an Erschöpfung. Inzwi- Regionen – Umweltschützer warnen Denn in dem Schiff werden Reaktoren schen leuchten am Strand Lampen mit vor einem GAU zur See. vom Typ KLT-40C arbeiten. Meiler die- dem Licht bestimmter Wellenlängen; auch ser Bauart treiben auch Russlands Atom- in Privathäusern sind normale Glühbirnen as Konzept sei großartig, schwärmt eisbrecher an. Zwar wurden die Reaktoren verboten. der Experte vom russischen Ener- für den Einsatz als Energiespender modi- Die Sieger unter den Stadttieren sind Dgieunternehmen Malaja Energeti- fiziert, doch das ändert nichts an ihrem solche, die so flexibel sind, dass sie sich ka: Das neue Schiff könne vor jeder Küste heiklen, störanfälligen Design. So werden rasch anpassen und erst gar nicht in Fallen ankern, an der keine Tsunamis oder Hur- die Reaktoren mit Brennstäben betrieben, geraten. Der Igel zum Beispiel scheint rikane drohen. Heimische Ingenieure die zu rund 40 Prozent aus dem leicht große Straßen zu meiden. Oder die Kohl- müssten nur noch ein paar Kabel hinüber- spaltbaren Uran 235 bestehen. Der Stoff meise, deren Gesang der Biologe Hans ziehen, und dann, so Jewgenij Kusin, kom- ist bombentauglich, aus einer Reaktorla- Slabbekoorn im niederländischen Leiden me der magische Moment: „Die Reaktoren dung könnten Dutzende Sprengköpfe ge- analysiert hat. Ergebnis: Nahe der Auto- werden angefahren – und es werde Licht!“ bastelt werden. Militärs müssten die Schif- bahn oder stark frequentierten Kreuzun- Vergangene Woche unterzeichneten der fe also vor Terroristen schützen. gen tirilieren die Vögel in höheren Tönen russische Kraftwerksbetreiber Rosenergo- Auch mit der Betriebssicherheit ist es als in der ruhigen Einfamilienhaussied- atom und die Militärwerft Sewmasch in wohl nicht allzu weit her. Obschon Reak- lung. Damit scheinen sie die eher nied- Sewerodwinsk am Eismeer den Vertrag torunfälle an Bord russischer Schiffe ge- rigen Frequenzen des Verkehrslärms über den Bau des ersten schwimmenden heim gehalten werden, drangen Informa- zu übertönen – die Männchen wollen Atomkraftwerks. Zum Preis von 270 Mil- tionen über mehrere schwere Zwischen- schließlich von ihren Artgenossinnen ge- lionen Euro soll ein 140 Meter langes und fälle an Bord von Atomeisbrechern in den hört werden. 30 Meter breites Schiff mit zwei Reaktoren Westen. Zweimal drohte dabei offenbar Aber schon der Hausgimpel scheint am auf Kiel gelegt werden. Die leisten zusam- der Super-GAU einer Kernschmelze, weil gleichen Problem zu scheitern: Wo das men 70 Megawatt und damit knapp ein die Reaktorkühlung versagte. Stadtgetöse richtig laut dröhnt, erklingen Zwanzigstel landgestützter Meiler. Ab 2010 Da die Meiler mit Meerwasser gekühlt seine Lieder nicht nur in höheren Fre- soll das Atomschiff Sewerodwinsk mit werden, könnten bei einem Reaktorzwi- quenzen, sondern auch kürzer – die Weib- Strom versorgen, doch das ist vielleicht schenfall ganze Meeresregionen verseucht chen aber lieben lange Lovesongs. Das nur der Anfang. Länder wie China, Indien, werden. Daran gemessen, so der schwedi- könnte die Paarungsgelegenheiten der Indonesien und Staaten am Persischen sche Reaktorexperte Oddbjörn Sandervag, Innenstadtgimpel deutlich mindern, be- Golf hätten Interesse bekundet, heißt es. sei jede denkbare Tankerkatastrophe nur fürchten Forscher. Die Pläne der Russen versprechen eine „Kleinkram“. Der Mensch, der unwissentlich all diese flexible Lösung von Energieproblemen: Auch wirtschaftlich vermag das Konzept evolutionären Fallen stellt, stecke selbst in Das Schiff bietet Raum für eine 55-köpfige nicht zu überzeugen. Den Preis pro Kilo- einer, meint Martin Schlaepfer: „Er giert Crew, eine Reaktorüberwachungszentrale wattstunde geben die Projektbetreiber mit nach fettem Essen.“ Früher einmal, als und ein Lager für atomare Brennstäbe. rund sechs Cent an. Gaskraftwerke produ- es nur in geringem Maß zur Verfügung Nur müssen Schlepper den schwimmen- zieren für zwei Cent. Zudem wurden we- stand, erklärt er, war es wahrscheinlich den Meiler an seinen jeweiligen Einsatzort der die Kosten für Versicherungen noch eine gute Idee, Lust auf Nüsse und Bauch- bringen, denn über einen eigenen Antrieb jene für die Bewachung oder die Entsor- speck zu haben. verfügt die 20000-Tonnen-Barke nicht. gung der Atomschiffe nach Ablauf ihrer Aber in der Evolution der Lüste war es Mit den Watt vom Wasser, preisen rus- auf 40 Jahre geschätzten Betriebszeit mit nicht abzusehen, dass der Homo sapiens sische Experten das Konzept, könnten Küs- einkalkuliert. Letzteres hat in Russland einmal Pommes rot-weiß, Hot Dogs und tenstädte mit bis zu 200000 Einwohnern freilich Methode: Die Entsorgung russi- Sachertorten erfinden würde – oder dass er mit Energie versorgt werden. Was Kusin als scher Atom-U-Boote an der Eismeerküste seine Tage damit verbringen würde, sich „wegweisendes Projekt“ rühmt, entsetzt haben im Wesentlichen die Anrainerstaaten von Stühlen über Autositze auf Sofas zu aber Atomexperten. Die norwegische Um- Norwegen und die USA bezahlt. schleppen. Rafaela von Bredow weltorganisation Bellona etwa hält das Pro- Ulrich Jaeger

132 der spiegel 25/2006 Wissenschaft

Auch für die Birken war es lange zu Stärke sie erreichen werden, aber die bis- MEDIZIN kalt – und als sie Ende April endlich herige Witterung – Hitze, unterbrochen blühen konnten, taten sie das mit selten durch wachstumsfördernde Schauer – lässt Ausweitung der gesehener Vehemenz. Mediziner stellten Schlimmes erwarten. bei den fast unsichtbaren Pollen eine „ex- Auch die Zukunft steht voller dunkler plosionsartige Vermehrung“ (Zuberbier) Wolken. Von Ausnahmejahren wie diesem Kampfzone fest. Die Birke hat 2006 überdies ein abgesehen dauert die Blüten- und Pollen- sogenanntes Mastjahr: Alle zwei Jahre flugsaison wegen der allmählichen Erwär- Den Heuschnupfen-Allergikern schickt sie ganz besonders viele Pollen in mung des Erdklimas von Jahr zu Jahr län- die Schlacht. ger. Vor 30 Jahren währte die Heuschnup- geht’s schlecht wie selten: Die Allergiker bekamen es zu spüren. fen-Saison noch zehn bis zwölf Tage kürzer. Die Pollendichte hat historische Birke, Erle und Hasel setzten zur gemein- Sorgen bereitet den Fachleuten zudem Höchstwerte erreicht. Und ein samen Attacke an, und die war für viele der Einmarsch eines neuen Erzfeinds fremdes Kraut bedroht Deutschland. Menschen überwältigend. Die Pollenlast menschlicher Schleimhäute: Ambrosia ar- temisiifolia. Ihre Pollen gehören zu den ommergefühle? WM-Spaß am Würst- stärksten Allergenen überhaupt. Das un- chengrill? Von wegen: Millionen scheinbare Unkraut stammt aus Nordame- SDeutsche haben Wochen des Leidens rika und breitet sich seit Jahren in Nord- hinter sich. Während die anderen feier- italien, dem Südosten Frankreichs und in ten, fühlten sie sich schwach und krank, Ungarn aus. Die Schweiz meldet bereits ge- sie niesten bis zur Ermattung, ihre Augen bietsweise starken Befall; vereinzelt wurde juckten und tränten, ihre Nase triefte und Ambrosia sogar in Deutschland gesichtet – tropfte. im Mannheimer Raum sowie bei Karlsruhe, Für viele Opfer des Heuschnupfens ist in Ostbayern, um Cottbus und Magdeburg. 2006 ein „annus horribilis“: Noch nie war Mit der Erwärmung, so fürchten viele Ex- es so schlimm. „Der Birkenpollenflug“, ur- perten, wird sie sich dauer- und massenhaft teilt der Allergologe Torsten Zuberbier aus in Deutschland einnisten können. der Hautklinik der Berliner Charité, „war Damit droht für Allergiker die Auswei- der stärkste der letzten 20 Jahre.“ tung der Kampfzone: Ambrosia blüht bis in Schuld am Großangriff des Blütenstaubs den Oktober hinein. Jede Pflanze kann bis auf die Schleimhäute der Menschen war zu einer Milliarde Pollen ausstoßen. Schon das Wetter. Auch den Pflanzen dauerte der elf Pollenkörner pro Kubikmeter Luft rei- Ausnahmewinter viel zu lange. Hasel und chen aus, eine allergische Reaktion aus- Erle beginnen in normalen Jahren schon zulösen. Mit dem Wind fliegen sie oft Hun- im Januar mit der Blüte; in diesem Jahr derte Kilometer weit: In Sachsen wurden mussten sie wegen der Kälte bis in den bereits Pollen nachgewiesen, die wahr- März hinein warten. scheinlich aus Ungarn stammen.

PIERRE HUGUET / BIOS Der internationale Kampf gegen Am- Super-Allergen Ambrosia brosia hat längst begonnen – doch er ist Eine Milliarde Pollen pro Pflanze kaum leichter zu gewinnen als der vom US-Präsidenten George W. Bush ausgeru- lag in ganz Mitteleuropa im Schnitt 40 Pro- fene Krieg gegen den Terror. Jede Pflanze zent über dem Wert der letzten Jahre. bildet bis zu 60000 Samen. Und jeder ein- Der Frontalangriff der Pollen wird sogar zelne bleibt bis zu 40 Jahre keimfähig. Konsequenzen haben für Menschen, die Ungarn hat Gartenbesitzer gesetzlich bisher nicht allergisch reagierten: „Mit Si- verpflichtet, Ambrosia vor Beginn der Blü- cherheit“, so Allergologe Zuberbier, „wird te herauszurupfen. Die Schweiz will nach- es jetzt neue Sensibilisierungen geben.“ ziehen und das Grünzeug zur „bekämp- Gefährdet seien sogar die über 60-Jähri- fungspflichtigen Pflanze“ machen. Selbst gen, die bisher glaubten, sie seien gefeit wer nur einer einzelnen blühenden Am- vor neuen Allergien. brosie den Garaus machen will, sollte bes- Das Niesen und Augenreiben ist nicht ser eine Atemschutzmaske tragen. Und nur lästig – es kann lebensgefährlich wer- wer mehr als 20 Stück an einem Ort ver- den: Bei bis zu 40 Prozent der Betroffenen sammelt sieht, soll sicherheitshalber die verwandelt sich der Heuschnupfen irgend- Gemeindeverwaltung zu Hilfe holen. wann in Asthma. Die Gefahr ist umso Ambrosia, so haben Schweizer Behör- größer, wenn Heuschnupfler nicht fachge- den hochgerechnet, könnte die Volkswirt- recht behandelt werden. Zuberbier warnt schaft wegen Arbeitsausfall und Behand- vor Homöopathika: „Die Mittel wirken lungskosten bald mehrstellige Millionen- nicht bei Allergien.“ Geboten sei hingegen beträge kosten. In Deutschland haben sich die konsequente Einnahme von Antihista- Experten im vergangenen November erst- minika; in schweren Fälle seien verschrei- mals zu einer Ambrosia-Krisensitzung bei bungspflichtige cortisonhaltige Sprays an- der Braunschweiger Biologischen Bundes- gebracht. anstalt getroffen. Die Baumpollen haben sich zwar inzwi- Fazit der Experten: Auch ohne weitere schen aus dem Kampfgeschehen wieder Studien müsse „alles Machbare“ unter-

R. FROMMANN / LAIF R. FROMMANN verabschiedet. Doch nun werden die Pol- nommen werden, um die Proliferation des Patientin beim Allergietest len von Wildgräsern, Roggen und Beifuß Super-Allergens zu verhindern. Großangriff auf die Schleimhäute zum Angriff blasen. Niemand weiß, welche Marco Evers, Samiha Shafy

der spiegel 25/2006 133 Szene Kultur

REGISSEURE „Schmähungen verletzen mich“ Hartmann: Das Theater wird in Wien ganz selbstverständlich als zentrale Institution wahrgenommen. Man muss nicht ständig irgendwelchen Moden hinterherspringen. Und man muss auch nicht ständig darum kämpfen, dass einem irgendwelche Gel- der bewilligt werden. SPIEGEL: Fürchten Sie sich vor der Schlan- gengrube voller Intriganten, als die Claus Peymann, einer Ihrer Amtsvorgänger, Wien immer wieder beschreibt? Hartmann: Peymann muss es wissen. Aber

LILLI STRAUSS / AP STRAUSS LILLI ich glaube, dass Intrigen dort, wo jeder weiß, dass intrigiert wird, auch nicht viel Der Zürcher Theaterchef und Regisseur schlimmer sein können als da, wo alle Matthias Hartmann, 42, über seine Kri- Welt unter dem Deckmantel der eigenen tiker und seinen vergangene Woche ver- Rechtschaffenheit operiert. kündeten Wechsel ans Burgtheater nach SPIEGEL: In deutschen Feuilletons haben Wien im Jahr 2009 einige Kommentatoren Ihre Bestallung als Burgtheaterchef dazu benutzt, den SPIEGEL: Herr Hartmann, haben die Men- Theaterleiter Hartmann zu loben und den schen recht, die Sie beneiden, weil Sie gleichnamigen Regisseur als biederen nach Bochum und Zürich nun bald das Unterhaltungskünstler zu schmähen. Ver- angeblich reichste Theater des deutschen letzt Sie das? Sprachraums leiten dürfen? Hartmann: Das verletzt mich außeror- Hartmann: Der Neid ist unberechtigt. Das dentlich, wenn Leute, die meine Arbeiten Budget in Wien ist doppelt so groß wie in in den letzten Jahren gar nicht angesehen Zürich, aber es arbeiten am Burgtheater und meine inhaltliche und ästhetische auch doppelt so viele Menschen. Die Fi- Entwicklung nicht verfolgt haben, sich nanzlage ist auskömmlich, aber wirklich zu meinen Gegenspielern aufwerfen, um reich ist das Theater keineswegs. So hat es jene Bedeutung zu erlangen, die sie durch dort seit fünf Jahren keinen Inflationsaus- eigenen Erfolg nicht haben. gleich für die Bediensteten gegeben. SPIEGEL: Der Job als Burgtheaterchef gilt SPIEGEL: Was macht das Burgtheater, an als Gipfel jeder Intendantenkarriere. Was

dem Sie schon des Öfteren inszeniert kann für Sie danach noch kommen? WALZ RUTH haben, in Ihren Augen so einzigartig? Hartmann: Bochum. Zürcher Hartmann-Regiearbeit

AUKTIONEN in Ankündigungen den Leidensweg der Schätzpreis liegt bei drei Millionen Frau nach – und will das Doppelporträt Euro, doch natürlich erwartet man ein „Zu viel Bohei“ als „Höhepunkt“ versteigern. Der obere höheres Ergebnis. Man verweist auf die „Marktfrische“ des Bildes, die n dieser Woche soll bei Sotheby’s in „exzeptionell“ sei, weil sich das ILondon ein Werk des deutschen Ma- Gemälde dreißig Jahre lang in einer lers Gerhard Richter versteigert werden. Privatsammlung befunden habe. Das Es zeigt den Künstler als Baby mit sei- klingt marktschreierisch, in diesem ner noch kindlichen Tante. Richter hat Zusammenhang makaber – und als Vorlage ein Familienfoto aus den gefällt dem weltberühmten, aber dreißiger Jahren verwendet, sein grau- zurückhaltenden Künstler gar nicht. farbenes Ölbild stammt aus dem Jahr Richter, 74, selbst sagt dazu: „Dass 1965 und heißt „Tante Marianne“. Dass man einen solchen Bohei um das das Leben dieser Verwandten tragisch Bild macht, so sehr das Persönliche verlief, dass sie als junge Frau zum hervorkehren lässt, das ist unlauter.“ Opfer der Nazi-Euthanasieärzte wurde Schon das Buch von Schreiber sei und 1945 umkam – darüber hat der ähnlich reißerisch gewesen. Er Journalist Jürgen Schreiber im vergan- nehme das alles hin „wie schlechtes genen Jahr sogar ein Buch verfasst. Wetter, das ja auch vorübergeht“.

Nun bewirbt Sotheby’s das Gemälde als GERHARD RICHTER Und: „Vielleicht verrechnen sich die „außergewöhnlich persönlich“, erzählt Richter-Gemälde „Tante Marianne“ (1965) Auktionatoren ja auch.“

der spiegel 25/2006 135 Szene

LITERATUR Unter Rivalen in Mann gibt Auskunft. Über sich Eselbst, aber auch über das, was man Geschichte nennt. Er ist ein osteuropäi- scher Autor, also kommt er ohne Gewis- senserwägungen, ohne die Themen Re- volution, Verrat und Mord nicht aus. Auch Frauen kommen vor. Nur die Na- tur interessiert den Autor nicht: „Seit etwa zwanzig Jahren lese ich kaum noch sogenannte schöne Literatur. Die Be- schreibungen verderben mir die Laune.“ Wer hier Auskunft gibt, ist das literari- sche Alter Ego des ungarischen Schrift- stellers István Eörsi, Dramatiker und Es- sayist, Romanautor sowie Übersetzer von Jandl, Heine und Puschkin. Eörsi lebte in Berlin und Budapest; er starb im vergangenen Herbst 74-jährig in der un- garischen Hauptstadt, und man könnte

diesen Roman seine politische Summa VERLAG / TASCHEN GRANNIS LEROY nennen, wäre das nicht zu gravitätisch Aufnahme aus „Surf Photography of the 1960s and 1970s“ für jemanden, der seinen Helden Borsi FOTOGRAFIE so beschreibt: „Als Freund großartig, als Schriftsteller mittel- Gepflegtes Lungern am Strand mäßig, als Mann grauenhaft.“ Es ist eRoy Grannis war Anfang vierzig und hatte ein Magengeschwür. Entspannen Sie ein alter Freund, der Lsich, sagte der Arzt, suchen Sie sich ein Hobby. Es war das Jahr 1959, Grannis leb- in Eörsis Roman so te in Hermosa Beach, Kalifornien, und er wurde glücklicherweise nicht zum Modell- von Borsi alias Eörsi eisenbahner, sondern zum Surf-Fotografen. Die Welle schwappte gerade von Hawaii spricht, aber auch aufs amerikanische Festland; neun Jahre später erklärte der Schriftsteller Tom Wol- ein Rivale: höher be- fe die Surfer zur Elite der psychedelischen Jugend. Grannis’ Fotos, nun zusammen- wertet von der litera- gestellt in einem gewaltigen Band (Taschen Verlag, Köln), erzählen vom Alltag die- rischen Kritik, im Ausland berühmt, je- ser Spaßfraktion. Da sind vor allem Leute zu sehen, die gerade nicht so viel zu tun doch ein Melancholiker und nicht mit haben: Sie lungern am Strand herum, posieren ein bisschen, warten im Wasser auf jenem phänomenalen Charme begabt, den perfekten Ritt und sind bei alldem unfassbar gut aussehend, lässig und cool. der nicht nur Borsi, der auch Eörsi aus- zeichnete. „Von anderen Verurteilten nach der Revolution von 1956 weiß ich“, so György Konrád in seinem Nachruf auf den Kollegen, „dass er in der Zelle INTERVIEWSAMMLUNG Künstler und Stasi-Zuträger. Was sich der Sonnenschein war.“ Diese Helligkeit abspielte an wildem Leben in diesem bestimmt den Roman, der voller Ironie Leben im Wartesaal Warteraum der Weltrevolution hat der von einem Leben erzählt, in dem purer Autor Martin Ahrends in seinem Inter- Anstand absurde Opfer fordert, weil uchen, Kaffee, Schnaps, das war viewband „Damals im Café Heider“ eine Diktatur den Anstand nicht erlaubt. Kschon viel für ein Café im Arbeiter- (Schwarzdruck Verlag, Potsdam) zu- In dem ein Autor, der ein Theaterstück und-Bauern-Staat, in dem fast alles sammengetragen. Er sprach mit Gästen über seine Hafterlebnisse verfasst – Eör- Mangelware war. Das „Café Heider“ und Mitarbeitern jenes Szene-Treffs, si war wegen Beteiligung am Ungarn- am Nauener Tor in der Mitte Potsdams deren Lebensbeichten das genaue Ge- Aufstand vier Jahre im Gefängnis –, mit hatte noch mehr zu bieten: schräge Ty- genbild zum „Neuen Menschen“ wa- dem Theaterdirektor über regimegefäl- pen mit kuriosen Geschichten, Säufer, ren, den sich die sozialistischen Zucht- lige Änderungen diskutieren muss. Und, meister zurechthämmern wollten. Von als er sich den Vorschlägen verweigert, singenden Dichtern wird da berichtet, die Beschwerde vernimmt: „Er will ein von fliegenden Scheuerlappen und an- verbotener Autor sein. Auf meine Kos- deren Umsturzplänen, von Spitzeln, ten!“ Die Dialektik als Lebenshilfe ist die sich versehentlich outen, vom fröh- eine osteuropäische Tugend. István lichem Gerammel und dem schweren Eörsi zeichnete sie besonders aus. Kater, den der Wermut bescherte. Au- gen zu, lesen, tief durchatmen und ein- tauchen in jenen Teil der DDR, in dem István Eörsi: „Im geschlossenen Raum“. Aus dem

Ungarischen von Heinrich Eisterer. Suhrkamp Verlag, ROGER DRESCHER man vergessen konnte, in der DDR zu Frankfurt am Main; 288 Seiten; 22,80 Euro. Foto aus „Damals im Café Heider“ leben.

136 der spiegel 25/2006 Kultur

FUSSBALLLIEDER Trällernde Kicker ichard McBrearty, Direktor des RScottish Football Museum, war be- geistert, als er, unterwegs auf WM-Mis- sion, in Hamburg eine umfangreiche Sammlung von seltenen Fußballlieder- Schallplattenhüllen aus aller Welt ent- deckte. Dieses einmalige historische Material will er nur zu gern auch in sei- ner Glasgower Erinnerungsstätte prä- Fußballlieder-Plattencover sentieren. Vorerst muss er sich aber ge- dulden, denn die Ausstellung internatio- Fan-Devotionalien werden die kulturel- Islam-Affinität des Ruhrpott-Clubs naler Fußballgesänge von Göttern wie len und soziologischen Aspekte der Mu- Grundlage für diese Textzeilen aus dem Gerd Müller, Pelé oder Sepp Maier ist sikgeschichte des Fußballs beleuchtet. traditionellen Vereinslied „Blau und erst mal bis Ende Juli in der „Platten- Trotz akribischer Recherche konnten Weiß“ war: „Mohammed war ein Pro- rille“, einem Fachgeschäft für Vinyl- allerdings nicht alle Hintergründe er- phet / Der vom Fußballspielen nichts raritäten im Hamburger Uni-Viertel, zu hellt werden: So wusste selbst in der versteht / Doch aus all der schönen Far- sehen. Anhand überwiegend schrulliger Geschäftsstelle des Bundesligisten Schal- benpracht / Hat er sich das Blau und Bild- und Tondokumente und weiterer ke 04 niemand, ob eine besondere Weiße ausgedacht.“

Kino in Kürze

„Lady Henderson präsentiert“ auf ihrer „Hotel“ handelt von schlechtbeleuchte- Londoner Bühne Revuegirls mit nackten ten Fluren, einem menschenleeren Brüsten: im Jahr 1937 ein Skandal. Die Swimmingpool und einer unbeleckten leichtfüßige „Backstage Comedy“ des Blondine (Franziska Weiss). Die öster- Regisseurs Stephen Frears, die auf einer reichische Regisseurin Jessica Hausner wahren Geschichte beruht, ist ganz auf hat also alles, was man zu einem span- das komödiantische Temperament zwei- nenden Thriller braucht, macht daraus er Alt-Stars zugeschnitten: Judi Dench aber leider nur eine leblose Stilübung.

spielt die reiche, abenteuerlustige Wit- DEFD Das Hotel, in dem die Handlung weitge- we, die einen maroden Show-Schuppen Szene aus „Lady Henderson präsentiert“ hend spielt, wirkt wie ein Stein gewor- in Soho gekauft hat, weil sie nicht in denes Kompendium des Horrorfilms, standesgemäßen Wohltätigkeitstee- läppern droht, bricht der Krieg aus. der Film klappert klassische Situationen kränzchen versauern will. Bob Hoskins Lady Henderson überzeugt die Obrig- des Genres ab. Manchmal flüchtet er ist ihr schlitzohriger Impresario, mit keit, die den Laden dichtmachen will, in die freie Natur und schlägt sich in dem sie im Dauer-Clinch liegt. Als die dass ihr Betrieb durchaus der Wehr- die Büsche – verirrt sich aber im Wild- Sache in Musical-Nümmerchen zu ver- kraftertüchtigung dient. wuchs der eigenen Symbolismen. NOMI BAUMGARTL Autor Koeppen in seiner Münchner Wohnung (1984): „Das letzte Vertrauen verspielt“

SCHRIFTSTELLER Der große Romanträumer Bisher galt Wolfgang Koeppen, der in dieser Woche 100 Jahre alt geworden wäre, als der geheimnisvoll Verstummte der deutschen Literatur. Nun zeigt sich: Er hat trotz der Ehehölle daheim ein gewaltiges ungeordnetes Werk geschaffen und hinterlassen. Von Volker Hage

m Juli 1967 fährt die Polizei vor. Marion Charme, schmeichelt dem Polizisten, er- ganze Zeit emsig tätig – eine an Kafkas Koeppen, die Frau des Schriftstellers, klärt, nur ein paar Tabletten zu viel ge- Schreibexistenz und Publikationsscheu er- Ihat sich sinnlos betrunken und dazu nommen zu haben.“ Am Ende ist es Wolf- innernde Lebensform, eine lebenslange große Mengen Tabletten geschluckt. Der gang Koeppen, der damals 61 Jahre alte Arbeit für die Schublade: Tausende von Arzt rät zur Einlieferung in ein Kranken- Schriftsteller, der für die Sanitäter den Text Blättern fanden sich nach Koeppens Tod in haus, Entgiftungsstation. Doch als der formulieren muss, dass die Kranke sich seiner Münchner Wohnung, auch mehrere Krankenwagen kommt, verbarrikadiert weigere, in ein Krankenhaus zu gehen. tausend Briefe, zum Teil in Entwürfen. sich die Rasende, und die Sanitäter wollen Das häusliche Drama war kein Einzel- Der Verleger aber, Siegfried Unseld die Tür nicht ohne die Hilfe der Polizei fall. Und trotz der privaten Hölle hat der (1924 bis 2002), musste sich mehr als drei aufbrechen. Dichter Koeppen ein riesiges Konvolut hin- Jahrzehnte mit Entschuldigungen und Der Ehemann wird die Szene, den Vor- terlassen, das erst jetzt, mehr als zehn Jah- Bankrotterklärungen seines Autors abfin- lauf, die Zuspitzung später seitenlang be- re nach seinem Tod, in seinem ganzen Aus- den. Immer wieder versprach Koeppen ei- schreiben, in hektischen kurzen Sätzen: maß überschaubar ist und Forscher und nen neuen Roman in Arbeit, ja fast fertig „Die Kerle pflanzen sich wie Wachen auf. Editoren noch lange beschäftigen wird. zu haben, behauptete, den Abgabetermin Mit Signal kommt die Funkstreife. Kran- Auch wenn die literarische Öffentlich- einhalten zu können, um dann im letzten kenwagen und Funkstreife vor dem Haus. keit mehr als 40 Jahre lang vergebens auf Moment wieder abzuwinken. Aufsehen in der kleinen Straße.“ Dann einen neuen Roman Koeppens wartete, So auch in dem Brief, in dem er im Au- die überraschende Wende: „Marion ent- blieb der Umworbene, der gern als rätsel- gust 1967 die Szene mit seiner Frau schil- wickelt, meinen Ärzten unbegreiflich, hafter Verweigerer gesehen wurde, die dert: „Lieber Herr Dr. Unseld, es ging

138 der spiegel 25/2006 Kultur nicht, es ging nicht, es ging nicht, der Ter- vorzüglichen kleinen Biografie referiert gab es bei Suhrkamp eine Neuauflage). min ist wieder nichts geworden, das letzte worden***. Koeppen selbst kam 1938 wieder heim, ar- Vertrauen verspielt, die Bedrückung ist Heute weiß man, dass Koeppens Schreib- beitete für den Film und verdiente gut. furchtbar, und dennoch weiß ich Bücher störungen früh begannen. Schon sein ers- So hat es sich denn auch als Legende und ein neues Leben in mir.“ ter Lektor Max Tau musste ihn 1935 müh- herausgestellt, er wäre bei Kriegsende in Der Briefwechsel mit dem Chef des sam zur Weiterarbeit bewegen: Er solle an München, wie Koeppen nicht nur mir – Suhrkamp Verlags ist jetzt in einem um- gar nichts anderes denken als an seine Ro- noch 1980 – erzählte, „halb verhungert aus fangreichen Band erschienen: bewegendes mangestalten, schrieb er ihm (nicht viel einem Keller“ gekrochen. Eher handelte Dokument einer jahrzehntelangen treuen anders als Jahrzehnte später Unseld), sei- es sich um sein Liebesnest im Unterge- Verbindung**. Als Unseld Ende der fünf- ne Depressionen seien völlig unbegründet: schoss eines Hotels: Er hatte sich 1944 in ziger Jahre begann, um den Autor zu wer- „Habe ich denn gar keine Macht, Ihnen die 16 Jahre alte Marion verliebt (er selbst ben (Koeppen wurde 1961 Suhrkamp-Au- Auftrieb zu geben? Schicke ich alle guten war 37), damals die Geliebte eines mit tor), konnte er nicht wissen, was ihm als Wünsche umsonst zu Ihnen?“ Koeppen bekannten Schauspielers. Verleger, als Geschäfts- und Gesprächs- Immerhin entstand so ein zweiter Vor- Schon sein erster Roman war die Verar- partner, später auch Duzfreund, Helfer kriegsroman mit dem Titel „Die Mauer beitung einer „Unglücklichen Liebe“ gewe- in der Not und Beichtvater bevorstand. schwankt“, den Koeppen in Holland fer- sen, der unerfüllten Liebe zu der Schauspie- Koeppen war in den fünfziger Jahren zu tigstellte, wo er bei einem aus Berlin ge- lerin Sybille Schloß, die sich in den zwanzi- einem bekannten, höchst angesehenen flüchteten jüdischen Ehepaar bei freier ger Jahren in Berlin selbst als „vollkommen Schriftsteller geworden: Seine in rascher Kost und Logis untergekommen war. Das hemmungslos“ darstellte, nicht nur den jun- Folge publizierten Romane „Tauben im Buch erschien 1935 in Deutschland (1983 gen Journalisten Koeppen lockte („lüstern Gras“ (1951), „Das Treibhaus“ (1953) und schnurrend wie eine Angora“, und „Der Tod in Rom“ (1954) galten befand er), aber ihn – im Gegensatz schon damals als ein Höhepunkt der zu zahlreichen anderen Männern – deutschen Nachkriegsliteratur, die nur als guten Freund ansah. folgenden drei Reisebücher, darun- Das sollte ihm mit Marion nicht ter 1959 die „Amerikafahrt“, ent- passieren, er heiratete sie 1948. „Ei- sprachen dem Zeitgeschmack und ne Ehe aus Liebe und jungem Ver- wurden viel beachtet (heute wirken druss“, heißt es in einem seiner sie allerdings stilistisch arg überstra- späteren Romanbruchstücke. „Das paziert und in der Sache oft genug Mädchen hatte von Kindheit an zu unpräzise). Außerdem gab es zwei nichts Lust. Hingabe an Männer vor dem Krieg publizierte Romane, schon in der Pubertät. Frühe Se- von denen der eine, das 1934 er- xualität, aber eigentlich wunsch- schienene Debüt „Eine unglückliche los … In einer zerstörten Stadt er- Liebe“, 1960 gerade wiederaufgelegt gibt es sich von selbst, dass zwei nur worden war. ein Bett haben. Ihr Vater sagte, die So wirkte er, nach außen hin, als Leute reden, ihr müsst heiraten. Sie ein erfolgreicher, produktiver Dich- fanden das sehr komisch, aber ta- ter. Die Wahrheit war eine andere. ten ihm den Gefallen.“ Er litt längst an Selbstzweifeln, an Wie sehr ihn die alkoholkranke, Schreibhemmungen, an der Unfä- ihrerseits zur Eifersucht neigende higkeit, Projekte aus- oder zu En- Ehefrau wirklich an der literarischen de zu führen. Koeppen gab den- Produktion gehindert hat, ist schwer noch bis ins hohe Alter gern und auszumachen. Immer wieder be- sprachgewandt Interviews, in denen klagt er gegenüber seinem Verleger er von seinen Plänen sprach (siehe „meine Hingabe an den Untergang, Seite 140): lauter Luftschlösser. das (bisherige) Nichtwahrnehmen Das Private schirmte er ab, be- der großen Chance, die Sie mir im- sonders wenn das Gespräch auf die mer geboten haben“. Alkoholprobleme seiner Frau kam. So geht es über Jahrzehnte. So bat er mich bei unserer ersten Wenn er den Hund ausführt,

Begegnung 1980, nur von „privaten HANNE KULESSA wenn er allein in einem Café sitzt, Unzuträglichkeiten“ zu schreiben, Romancier Koeppen (1987): „Private Unzuträglichkeiten“ wenn er auf Reisen ist, produziert „die mit der literarischen Produk- sein Gehirn unablässig Geschichten, tion gar nichts zu tun haben“. Mitt- die er eigentlich nur noch aufzu- lerweile sind die meisten biogra- schreiben hat. Oft verschiebt er im fischen Lücken von Koeppen-For- Kopf Bruchstücke aus einem Prosa- schern gefüllt und jetzt in einer plan in einen anderen. Er notiert sich Figuren, Namen, Orte, immer * Rechts: die spätere Ehefrau Marion (um 1947); neue Romantitel. Dann verlegt er links: Schauspielerin Sybille Schloß (um 1930). ** Wolfgang Koeppen/Siegfried Unseld: „,Ich die Zettel, und wenn er sie wieder- bitte um ein Wort …‘ Der Briefwechsel“. Suhr- findet, korrigiert er sofort daran her- kamp Verlag, Frankfurt am Main; 584 Seiten; um. Was immer er geschrieben hat, 24,80 Euro. *** Günter und Hiltrud Häntzschel: „Wolfgang selbst das, was schon gedruckt vor- Koeppen“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main; liegt, wird fast zwanghaft überar- 160 Seiten; 7,90 Euro. Von denselben Autoren beitet. Er findet zu keinem Ende, stammt auch der Text zum Bildband: „,Ich wur- kann sich nicht festlegen. de eine Romanfigur‘. Wolfgang Koeppen 1906–

1996“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main; 176 WKA GREIFSWALD FOTOS: Bisweilen ist er selbst erstaunt, Seiten; 25 Euro. Koeppen-Freundinnen*: „Vollkommen hemmungslos“ wenn er anderen im lockeren Ge-

der spiegel 25/2006 139 Kultur „Sie hat meinen Gruß nie erwidert“ Auszug aus einem bisher unveröffentlichten Interview mit Wolfgang Koeppen am 19. Juni 1991

Frage: Herr Koeppen, Sie feiern dieser Engländerin, ungefähr 16 Jahre alt. Die von Jakob Littner, so hieß der Mann, Tage Ihren 85. Geburtstag. Reisen Sie wurde aber von einem alten Engländer nahm ich nur die Örtlichkeiten, den immer noch so gern? streng bewacht. Es gab noch ein sehr Weg. Ansonsten ließ ich meine Phanta- Koeppen: Ich habe 1988 sogar eine lange hübsches Mädchen, die den Gebrauch sie laufen. Schiffsreise gemacht: mit dem sowjeti- der Rettungsringe vorführte, eine Baltin Frage: Wie viele Care-Pakete gab es? schen Dampfer „Odessa“ von Singapur vielleicht – ich dachte: Wie wäre das, Koeppen: Drei oder vier. Dann war ich nach Genua, eine sonderbare Reise. Die mit der jetzt von Bord zu fliehen? Die fertig, der Verleger akzeptierte es, und Charterfirma hatte mich vorher gefragt, könnte in Paris oder New York glatt als es wurde unter dem Namen Jakob Litt- ob ich an einem Vierer- oder Sechser- Mannequin arbeiten! Aber sie hat mei- ner gedruckt. Herr Littner schrieb tisch sitzen wolle, ich sagte: weder noch, nen Gruß nie erwidert. empört aus den USA, das habe er sich sondern an einem Einzeltisch. Es stellte Frage: Also keine Erzählung darüber? anders vorgestellt, das sei geradezu kon- sich dann heraus, wie treffend das Wort Koeppen: Doch, doch, Unseld beharrt trär zu seinen Absichten. Dann gingen von Oscar Wilde ist: Wer konsequent darauf. Ich hätte längst ganz andere viele Jahre darüber hin. Und vor kur- allein bleiben will, macht sich zu einer Dinge machen können. Stattdessen bin zem druckte ein kleiner Verlag in Berlin öffentlichen Versuchung. ich immer noch dabei, dieses „Schiff“ dieses Buch einfach nach. Daraufhin Frage: Das klingt nicht nach Vergnügen. untergehen zu lassen. fuhr mein Verleger Unseld, der von der Koeppen: Das Essen wurde in zwei „Sit- Frage: Demnächst erscheint ein Buch Urheberschaft wusste, nach Berlin und zungen“ gegeben. Es war mäßig. Der unter Ihrem Namen, das kurz nach dem kaufte die Auflage auf. Da das Manu- Wein war schlecht. Dafür gab es Wodka Zweiten Weltkrieg schon einmal er- skript von mir ist, kann man das nun un- billig und sogar Whisky. Ich beteiligte schienen ist: Wie kommt es dazu? ter meinem Namen herausgeben. So mich nicht an den Gruppen- ganz geheuer ist mir die Geschichte exkursionen, sondern blieb nicht – vielleicht kommt eines Tages ein erst mal an Bord. Am Ende Erbe von Littner und erhebt Ansprüche, habe ich mich aber durchge- wer weiß? Es gibt aber keinen Zweifel, setzt und mit meinem Pass dass der Text von mir ist. allein von Bord gehen dürfen. Frage: Politisch haben Sie sich eigent- Frage: Wie das? lich nie geäußert. Mit Bedacht? Koeppen: Mit einem kleinen Koeppen: Ich habe einige Aufrufe unter- Trick: Ich besorgte mir heim- schrieben, wie das mal so üblich war. lich einen Briefbogen der Ich habe immer die völlige Nutzlosigkeit Reederei, setzte mich an die gesehen. Man hat mich zwar zu den en- Schreibmaschine und schrieb, gagierten Schriftstellern gerechnet, doch dass Wolfgang Koeppen be- im Grunde war ich nie einer. Jedenfalls

vorzugt zu behandeln sei. Und A. ESTERMANN habe ich mich nie so gefühlt. Mir war es siehe da: In Bombay konnte Koeppen-Koffer: „Bevorzugt zu behandeln“ wichtiger, einen Roman zu schreiben – ich mich selbständig machen. der dann Zeitgeschichte enthalten konn- Ich aß in einem guten Hotel – und blieb Koeppen: In den ersten Nachkriegsjah- te wie bei Zola. gleich noch die Nacht dort, das Schiff ren lebte ich schon hier in München. Frage: Wie im „Treibhaus“? fuhr erst am nächsten Tag weiter. Als ich Man schlug sich irgendwie durch. Ein Koeppen: Eigentlich darf ich das gar um acht Uhr morgens zurückkam, war alter Bekannter aus Berlin kam hierher nicht laut sagen: Ich habe „Das Treib- die Hölle los. Die Beamtin führte sich und erhielt als einer der Ersten eine haus“ nicht etwa geschrieben, um das wie jemand von der Gestapo auf: „Wieso amerikanische Lizenz für einen Verlag. Ende der Republik einzuläuten. Für haben Sie sich nicht abgemeldet? Wir Ich machte ein wenig Lektorat für ihn. mich war Bonn einfach nur ein Thema, hätten fast die Polizei gerufen.“ Danach Eines Tages lernte er einen jüdischen das mich reizte. Damals haben Zeitun- ging es aber besser. Das muss sie doch Herrn kennen, der in einem Ghetto gen ja sogar Leitartikel zu dem Buch beeindruckt haben. Leider blieb das Schiff überlebt hatte. Früher einmal war er veröffentlicht – und ich galt plötzlich als ohnehin meist nur kurz in den Häfen. Briefmarkenhändler in München gewe- politischer Pamphletist. Frage: Wollen Sie nicht ein Buch über sen, nun wollte er nach New York aus- Frage: Haben Sie damals oder sonst je- diese Reise schreiben? wandern. Er kam mit Notizen, die nicht mals Tagebuch geführt? Koeppen: Das hat mein Verleger Sieg- viel taugten – ich sollte etwas daraus Koeppen: Nein. Aber seit Jahren habe fried Unseld auch gesagt. Er hat sich machen. Und solange ich daran arbeite- ich die Idee, eine Autobiografie zu halb totgelacht, als ich ihm all diese Ge- te, wollte er mir monatlich aus New schreiben. Das Problem: Traue ich mir schichten erzählte. Aber mir ist klar ge- York ein oder zwei Care-Pakete schi- das noch zu? Das wären mindestens worden, dass die Passagiere auf dem cken. Das war das Honorar. zwei Jahre. Es könnte auch ein Buch Schiff einfach zu uninteressant waren, Frage: Was war genau Ihre Arbeit? unter dem Titel „Augenblicke“ sein: kei- ein Satz darüber würde genügen. Koeppen: Der Titel war meine Idee. ne zusammenhängende Autobiografie, Frage: Eine Liebesgeschichte? „Aufzeichnungen aus einem Erdloch“ sondern Situationen, an die ich mich Koeppen: Der einzige Mensch, der mich nannte ich das, das klang etwas nach besonders gut erinnere. an Bord interessierte, war eine junge Dostojewski. Aus den Aufzeichnungen Interview: Volker Hage

140 der spiegel 25/2006 WKA GREIFSWALD Schriftsteller Koeppen, Verleger Unseld (1975): „Meine Hingabe an den Untergang“ spräch Romanfiguren und -konstellationen sehr umfangreiche „Jugend“ aus nicht „Es ist so gekommen, dass ich Dich wohl vor Augen stellt, von denen er gar nicht weniger als 1332 einzelnen Blättern, die er enttäuscht habe“, schrieb Koeppen in ei- weiß, dass sie in ihm stecken. im Laufe vieler Jahre beschrieben hatte, zu nem der raren Briefe aus seinen letzten Wenn er endlich an einer Sache schreibt, einem „vollendeten Fragment“ (Marcel Lebensjahren an Unseld. „Mein Leben ist fallen ihm schon drei weitere Projekte zu, Reich-Ranicki) kompilierte. mir zerronnen.“ Dabei zeigen seine im an denen er eigentlich lieber arbeiten „Jugend“ sollte die große Ausnahme Nachlass befindlichen Skizzen, dass es mit würde. Dann verliert er die Lust, kann kein bleiben: Noch weitere 20 Jahre wartete der einer helfenden ordnenden Hand vielleicht System finden, um die Einzelteile auch Verleger vergebens auf neue Prosa, viel- möglich gewesen wäre, aus der schier un- wirklich zusammenzuhalten. Beharrlich leicht sogar einen Roman von Koeppen. überschaubaren Fülle beschriebener Blät- schreibt er das Gleiche noch einmal, mal Und Anfang der neunziger Jahre gab es ter eine lockere Prosaform (wie Frisch es in leicht abgewandelt, mal überraschend sogar noch einmal Hoffnung. Unseld hatte seinen Tagebüchern vorgemacht hatte) zu wortgetreu. So wächst der Berg des Ge- dem Autor 1986, zum 80. Geburtstag, eine gewinnen, die neben den Romanen hätte schriebenen und wieder aus den Augen Kreuzfahrt versprochen (Koeppens Frau bestehen können. Verlorenen. Marion lebte da schon seit zwei Jahren Der Nachlass, der sich bei Koeppens Tod Momente tiefer Krisen, Schwermut, Wut nicht mehr), und der Dichter erwartete sich im März 1996 in der riesigen Münchner auf sich selbst wechseln mit Phasen der davon neuen produktiven Schwung. Altbauwohnung befand (der Greis lebte Euphorie. Es gibt doch Anfänge, fertige Tatsächlich trat Koeppen Anfang 1988 zuletzt in einem Altenpflegeheim, er hatte Teile, ausformulierte Seiten, sie sind ledig- die große Reise an, kam aber an Bord die Wohnung in den zwei Jahren zuvor lich noch miteinander zu verbinden. Doch nicht, wie erhofft, zum Schreiben. Statt- nicht mehr genutzt), liegt jetzt weitgehend wenn er sie dann wieder anschaut, ist er dessen erzählte er später gern von dieser im Wolfgang-Koeppen-Archiv in Greifs- nicht zufrieden, kommt nicht weiter. Fahrt, auch seinem Verleger, und noch wald, dem Geburtsort. In einer ersten um- Daneben – in einer Parallelwelt – ist kurz vor seinem 85. Geburtstag hatte er fangreichen Edition aus dem Nachlass Koeppen ein stets zuverlässiger Auftrags- das Projekt eines Buches nicht aufgegeben („Auf dem Phantasieroß“, 2000) wurden und Briefeschreiber, die kleinen Sachen – wie er mir bei einem Essen im Münch- immerhin 170 Erzählungen, Miniaturen erledigt er ordentlich, meist sogar pünkt- ner „Bayerischen Hof“ berichtete. und Romanfragmente vorgestellt. lich, vollendet im Ton, oft lakonisch und Damals hatte er auch einen alten Text Zu Lebzeiten blieb Koeppen nahezu ein manchmal selbstironisch formuliert. Er hervorgekramt, ein Buch, das er kurz nach Geheimtipp, weil er sich kaum jemals in schreibt Autorenporträts, Nachworte, stellt dem Krieg über den Leidensweg eines Ho- politische Debatten mischte, öffentliche Bücher vor, interpretiert Gedichte. locaust-Überlebenden geschrieben hatte, Auftritte scheute, keinerlei Skandale pro- Einmal ereignet sich doch noch ein angeblich nach dessen kargen Notizen, und vozierte – und nie für die Bühne schrieb. Wunder: 1976 kann sich Koeppen, damals das 1948 erstmals erschienen war: „Auf- Auch die große Autobiografie, die aus sei- 70 Jahre alt, dazu durchringen, eine Mon- zeichnungen aus einem Erdloch“. nen zahlreichen Notizen zu montieren und tage autobiografischer und fiktiver Frag- So erschien dann 1992 das Buch neu als zu publizieren er bis zuletzt gehofft hatte, mente aus der Hand zu geben – über eine, „Jakob Littners Aufzeichnungen aus ei- schaffte er nicht mehr. seine „Jugend“ in Greifswald. Möglich, nem Erdloch“ unter dem Namen Wolfgang „Komm an meinen leeren Schreibtisch dass ihn das skizzenhafte, im Jahr zuvor Koeppen. Erst Jahre später, nach Koep- voll von meinen Träumen“, rief Wolfgang erfolgreiche „Montauk“-Buch des Kolle- pens Tod, kam heraus, dass dies die ge- Koeppen 1994 seinem Verleger noch ein- gen Max Frisch dazu angeregt hat; der wagteste und heikelste Legende war, die er mal zu. Und in dem letzten erhaltenen jedenfalls lobt prompt aus der Schweiz: über sich verbreitet hatte. Das Original- Brief an Siegfried Unseld, wenige Monate „Die Prosa, die Wolfgang Koeppen heute manuskript des in die USA ausgewander- vor seinem Tod, versprach der zeitweise schreibt, durchbricht Vorstellungsgrenzen ten Littner tauchte Ende der neunziger schon verwirrte Alte seinem Verleger tap- auf jeder Seite, oft Satz für Satz.“ Jahre wieder auf, ein Bericht mit dem fer die Autobiografie – vielleicht war es Koeppen lässt sich sogar überreden, „Ju- schlichten Titel „Mein Weg durch die aber auch nur die letzte Pointe jener Ro- gend“ komplett im Studio zu lesen, 252 Nacht“, und es zeigte sich, dass Koeppen manfigur, als die sich der große deutsche Minuten braucht er dazu (jetzt auf vier diesen Text nur stark lektoriert und ge- Schriftsteller schon seit längerem sah: „Lie- CDs erhältlich): Das Unfertige, oft sogar strafft hatte, das allerdings mit viel dich- ber Siegfried, ich werde dieses Buch und Holprige ist dabei ein besonderer Reiz. terischer Freiheit und Sinn für stilistische auch andere fertigschreiben. Lasse mich Heute weiß man, dass der Autor die nicht Zuspitzung. das schreiben, störe mich nicht.“ ™

der spiegel 25/2006 141 Kultur

LEGENDEN Der Mann mit dem Hammer George W. Bush und Bruce Springsteen haben den alten amerikanischen Folksänger Pete Seeger wieder populär gemacht. Von Alexander Osang

s ist 46 Grad Celsius heiß, als Bruce Springsteen den Geist Pete Seegers Enach Arizona bringt. Er trägt ihn in eine Sporthalle, die am Rande von Phoenix in der Wüste liegt wie ein gestrandetes Raumschiff. In der Halle haben sich Men- schen in kurzen Hosen versammelt, die große Bierbecher tragen und verwaschene T-Shirts mit den Tourdaten vergangener Springsteen-Konzerte. Sie schauen ein biss- chen unsicher auf die kleine, in rotes Tuch gehüllte Bühne, über der fünf Kronleuchter hängen sowie ein Holzschild, auf dem, „Bruce Springsteen – The Seeger Sessions“ steht. Die Buchstaben in „Seeger“ sind genauso groß wie die in „Springsteen“. Die Menschen im Saal hoffen, wenn sie ehrlich sind, auf „Dancing in the Dark“ und „Born in the U.S.A.“, aber Spring- steen singt „Old Dan Tucker“, „Pay Me My Money Down“, „Jesse James“, „John Henry“, „My Oklahoma Home“, Lieder von Baumwollpflückern, Eisenbahntunnel- bauern, Hafenarbeitern, Wirbelstürmen, Streiklieder, Protestlieder, Volkslieder. Es sind die Songs von seiner neuen Platte, die „We Shall Overcome – The Seeger Ses- sions“ heißt. Springsteen holt 17 Musiker auf die Bühne, Bläser, Geigen, Banjo und Akkordeon, um den Menschen die alten Lieder näherzubringen. Und bald sin- gen die Menschen in der Wüste, sie lachen, und sie tanzen. Natürlich denkt niemand an Streik, aber sie fühlen sich irgendwie zu Hause. Kurz vor Mitternacht laufen die Men- schen mit verschwitzten, beseelten Ge- sichtern auf den kochenden Parkplatz un- term Sternenhimmel. Sie sind mit Spring- steen tief in die Vergangenheit ihre Landes gereist, ins unbefleckte Herz Amerikas. Und mittendrin sitzt Pete Seeger wie ein Heiliger mit Banjo. In diesem Moment, auf dem Parkplatz in der Wüste zwischen all den dicken Pick-ups, kann man sich kaum vorstellen, dass er noch lebt. Aber er ist noch da. Drei Tage später, am Morgen nachdem Bruce Springsteen zwischen seinen Kon- zerten in Los Angeles und San Francisco mit einem Seeger-Song in Jay Lenos Talk- show aufgetreten ist, erscheint der Heilige Tausende Meilen weiter östlich in seinem Haus in Beacon, New York, zum Mittag- essen. Er trägt abgeschnittene Jeans.

CHRISTOPHER LANE CHRISTOPHER „Zieh dir was Ordentliches an, Pete“, Folkmusik-Veteran Seeger: Ein Heiliger mit Banjo sagt Seegers Frau Toshi.

142 der spiegel 25/2006 „Geht nicht“, sagt Seeger. „Ich hab mir fährlich schien, bekam er Preise. 1993 er- „Danke für die Inspiration, Pete“, die Beine am Gift-Efeu verbrannt.“ hielt er einen Grammy für sein Lebens- schrieb er im Booklet von „We Shall Over- Er zeigt auf die roten, entzündeten Strie- werk und ein Jahr später zusammen mit come“. men, die sich über seine langen, weißen Kirk Douglas und Aretha Franklin aus Bill Seeger sagt, dass er die Platte mag. Beine ziehen. Seine Frau nickt, wie Frauen Clintons Händen den Preis des Kennedy „Ich habe Bruce geschrieben, dass sich nach 63 Jahren Ehe nicken, und schleppt Centers. 1996 wurde er in die Rock and Dan Emmett über die Version von ,Old einen Topf mit Bohnensuppe auf den gro- Roll Hall of Fame aufgenommen. Dan Tucker‘ sicher gefreut hätte. Sehr lus- ßen Wohnzimmertisch. Nora Guthrie, die In den letzten Jahren sang er nur noch tig, mit den Streichern und Bläsern.“ Tochter von Woody Guthrie, Seegers San- selten, und wenn, auf kleinen, lokalen Einen Brief? Haben sie denn gar nicht gesbruder, ist zu Besuch. Hinter den großen Konzerten. Seine Stimme wurde brüchig. geredet? Fenstern öffnet sich der Wald zum Tal, in Vor etwa 20 Jahren lernte er Bruce Spring- „Nein, ich habe ja Bruce’ Telefonnum- dem der graue Hudson vorbeitreibt. Seeger steen kennen. mer nicht. Ich hab an seinen Manager nimmt am Kopf der Tafel Platz, füllt sich Seeger sagt, es war auf der Beerdigung geschrieben. Ich hab ja nicht mal Bruce’ seinen Teller mit der dunklen dicken Boh- des Musikproduzenten John Hammond, Adresse“, sagt Seeger. nensuppe und fängt sofort an zu essen. zu dem er eine lange Geschichte erzählt, „Gott sei Dank“, sagt Toshi. Er ist vor ein paar Wochen 87 geworden, wie er zu allem lange Geschichten kennt, Seeger lächelt. Er legt sich wieder die aber er wirkt aufrecht, weise und irgend- die er in jede Ecke seiner Rede stopft, weil Hand auf die Stirn, als wolle er die Ge- wie hell, es klingt seltsam, aber Pete See- das Leben ja immer komplizierter wird, dankenblitze dahinter halbwegs im Zaun ger scheint ein wenig zu leuchten. je länger man lebt. „Johns Mutter war eine halten. Er sagt: „Jahrelang hat mich mein Ruf Vanderbilt, stammte aus einer der reichs- „Bruce ist ein guter Mann“, sagt Seeger. als Linker vor den Medien geschützt, aber ten Familien Amerikas. Und er hat Billie „Ich hätte mir gewünscht, dass ein oder durch Bruce Springsteens Platte ist meine Immunität zerstört worden.“ Alle am Tisch lachen. Springsteen hat Seeger nicht gefragt, welche Lieder er auswäh- len soll. Es sind, wenn man es ge- nau nimmt, gar keine Seeger-Songs auf der Platte. Eigentlich nur „We Shall Overcome“, und auch das hat Seeger ja nicht ursprünglich selbst geschrieben. Es ist der Mann, an den erinnert werden soll. Ein unbeugsamer Sänger. Ein ameri- kanischer Held. Jemand, der aus einer Zeit herübergewachsen ist, in der Amerika noch eine Hoff- nung war. Springsteen will dorthin zurück, er will was machen. Wie die Di- xie Chicks, Neil Young, Pearl Jam und Green Day sucht auch der wohl bekannteste amerikanische Rocksänger auf seiner neuen Plat-

te nach Songs, die er seinem Prä- GETTY IMAGES sidenten ins Gesicht singen kann. Rockstar Springsteen*: Dank für die Inspiration Er hat Pete Seeger gefunden und den Namen auf seine Platte gepresst wie Holiday entdeckt. Interessanter Bursche“, zwei ernsthaftere Songs auf der Platte sind. ein Brandzeichen. sagt Seeger, sein Blick schwebt über dem Ich streue ja immer ein paar todernste Lie- Die Frage ist, wofür Pete Seeger steht. Tisch im Nirgendwo, seine Hand ruht auf der ein, selbst in Kinderprogramme. Ha- Er studierte Soziologie in Harvard und seiner Stirn. ben Sie jemals ‚Walking Down Death Row‘ lernte Banjo. Er gründete die Almanac Sin- Wo war er stehen geblieben? Richtig, gehört?“ Er singt mit hoher, kippliger Stim- gers und die Weavers, er trat mit Woody Springsteen. me den gesamten Song durch, ein trauriges Guthrie und Bob Dylan auf. Er schrieb Zehn Jahre später kündigte er Spring- Lied über den Todestrakt eines amerika- Welthits wie „Where Have All the Flowers steen bei der Grammy-Verleihung in New nischen Gefängnisses. Den Takt klopft er Gone?“, „Turn! Turn! Turn!“ und „If I York an. Er nannte ihn „Meinen Freund auf dem Esstisch. Es ist das Lied, das zählt, Had a Hammer“. Er war kurze Zeit Mit- Bruce Springsteen“. Er trug den Smoking sagt er. Wir transportieren es nur. Wir sind glied der Kommunistischen Partei. Die seines Vaters, 1922 geschneidert und heu- Werkzeuge. amerikanische Presse beschimpfte ihn als te zu Staub zerfallen, na ja, er braucht ihn In der heißen Nacht von Arizona erin- Antiamerikaner. Er musste vorm Komitee ja auch nicht mehr. Kurze Zeit später steu- nerte Springsteen die Leute in einer ziem- gegen unamerikanische Umtriebe aussa- erte Springsteen ein Lied zu einem Pete- lich langen Ansprache daran, dass „We Shall gen und wurde später zu einem Jahr Haft Seeger-Tribut-Album bei und fand Gefallen Overcome“ der kraftvollste Protestsong al- verurteilt, weil er sich weigerte, Namen an dem alten Mann. „Petes Repertoire um- ler Zeiten ist. Vielleicht, sagte Springsteen, seiner Mitstreiter zu nennen. Radiostatio- fasst die gesamte Geschichte des Landes. haben wir ihn schon zu oft gehört, zu oft nen hörten auf, seine Songs zu spielen, er Er hat alles gesammelt, gehört und ver- gesungen, um seine Bedeutung noch zu er- fand immer weniger Auftrittsmöglichkei- wendet“, sagt Springsteen. fassen. Dann sang er das Lied, ganz leise, ten. Er bereiste die Sowjetunion und trat so, als sei es sehr zerbrechlich. beim Festival des politischen Liedes in Ost- * Beim Konzert mit den Musikern der Seeger-Sessions am Stimmt das, werden Volkslieder immer Berlin auf. Später, als er nicht mehr ge- 17. Mai in Frankfurt am Main. dünner, je länger man sie singt? So wie

der spiegel 25/2006 143 Kultur

Jeans, die man zu oft wäscht? Seeger dungen zu beklatschen.‘ Und das genau ist „Eine Zeit, die aus meinem Leben ver- schweigt einen Moment, dann erzählt er passiert.“ schwand“, sagt er. die Geschichte des Liedes. Toshi Seeger und Nora Guthrie verlas- „Was?“, sagt seine Frau. „Verschwun- „Es war mal ein schneller Gospel. Das sen das Zimmer, um eine rauchen zu ge- den? In der Zeit hab ich ein Kind von dir ist 120 Jahre her, vielleicht länger. Damals hen, Seegers Gedanken kreisen weiter, bekommen, eins verloren und ein drittes hieß es noch ‚I Will Overcome‘. Irgend- streifen eine Kolchose auf der Krim, wo empfangen.“ jemand machte ein Gewerkschaftslied er einst ein jüdisches Lied entdeckte, die Seeger wird rot, er lächelt unsicher, er draus. Sie änderten das ‚I‘ ins ‚We‘. Es Schulklasse von Friedrich Schiller, in der scheint sich in seiner Legende aufzulösen, war immer noch schnell. 1946, als Tabak- ein Vorfahr von ihm saß, und erreichen aber er kämpft sich zurück. arbeiter in South Carolina, streikten, san- schließlich Martin Luther King, den Mann, „Wissen Sie, ich glaube, es ist in unseren gen sie es ganz langsam, damit die Har- der Pete Seegers Welt zusammenhält. Genen“, sagt er. „Seit wir aufrecht gehen monie Zeit hat einzuwirken. Mein Freund „Wer hätte gedacht, dass ein 27-jähriger können und die Hände frei haben, schlep- Guy Carawan stellte das Lied im April Priester alle Antworten auf die Fragen unse- pen wir Keulen mit uns herum. Wir wollen 1960 auf einem Studentenkongress vor. rer Zeit hat“, sagt Seeger. „Immer noch. immer auf irgendwas einschlagen. Ich zum 1963 hab ich es dann bei einem Konzert Gewalt ist nicht durch Gewalt auszurotten. Beispiel hacke gern Holz.“ in der Carnegie Hall gesungen. Es wurde Dunkelheit verstärkt Dunkelheit, nur Licht Körperliche Arbeit und Singen, das ge- da zum ersten Mal aufgenommen, das war kann sie besiegen. Hass kann nicht den Hass hört für Seeger zusammen. Seemänner ha- mein Anteil. Ich hab weit über eine hal- austreiben, nur Liebe kann das. Auf Dauer ben bei der Arbeit gesungen, Baumwoll- be Million Platten davon verkauft. Allein kann man das nicht ignorieren. Niemand.“ pflücker, Fabrikarbeiter, sagt er. Seeger in Amerika. Anschließend trug ich es in Wie jeder gute Volkssänger sucht auch geht mit ausladenden Schritten durch sein die Welt.“ Pete Seeger nach allgemeingültigen Bot- Wohnzimmer, saugt die kühle Waldluft ein Seeger sang „We Shall Overcome“ in schaften. Er erwähnt den Namen Bush in und nimmt sich einen langstieligen, schwe- Asien, in Afrika, in Europa, und immer wie- vier Stunden nicht ein einziges Mal. Wahr- ren Hammer, der vor der Tür an einem der in sozialistischen Ländern. Viermal be- scheinlich ist er ihm zu vergänglich. Holzblock lehnt. reiste er die Sowjetunion, „We Shall Over- Kürzlich stand ein großes Porträt über 30-mal schlägt Pete Seeger den Hammer come“ war immer im Koffer. Er sang das Seeger im „New Yorker“. Er fand es ganz auf den Keil, dann legt er ihn beiseite und Lied so oft und an so vielen verschiedenen gut, ein bisschen zu liebevoll vielleicht, schreitet sein Land ab. Als sie es 1949 Orten, dass man irgendwann gar nicht mehr und ein paar Fakten stimmten nicht, sagt kauften, standen hier so viele Bäume, wusste, was jetzt eigentlich überwunden Seeger. Er habe die Almanacs nicht ver- dass man den Fluss nicht sah, sagt er. See- und bezwungen werden musste. lassen, um eine Solokarriere zu starten. Er ger hat gerodet und ein kleines, erstes Hatte er denn nie Angst davor, nur der sei zum Armeedienst eingezogen worden. Haus gebaut, das jetzt leer steht. In den Vorzeige-Amerikaner zu sein? Ein paar Jahre lang. Kamin hat er zwei Steine gemauert, die „Ich habe mich darauf konzen- 1949 nach einem Weavers-Kon- triert, Lieder aus der amerikani- zert in das Auto flogen, mit dem schen Bürgerrechtsbewegung zu er und seine Familie vor dem spielen“, sagt Seeger. „Das war Mob flohen. mein Kommentar zu den Zustän- Zweimal hat jemand den Wald den in der Sowjetunion.“ angezündet, um Seeger auszu- Nora Guthrie erwähnt den Mit- räuchern. Die Lokalzeitung aus schnitt eines Moskau-Konzerts Beacon hat gegen ihn gewettert, von 1964, der jetzt aufgetaucht aber die Leute aus dem Ort dort ist. Vielleicht machen sie eine unten am Fluss hielten zu ihm, Platte daraus, im Moment scheint sagt Seeger. Und so blieb er. Am alles zu gehen, auf dem Pete See- Wochenende wird er auf dem ger steht. Neulich war Ry Cooder Strawberry Festival in Beacon hier, um ein paar Songs mit dem spielen. Seine Frau backt Kuchen, alten Mann aufzunehmen. er zupft das Banjo und hofft, dass „Moskau?“, fragt Seeger. die Leute mitsingen. Es ist schwer, „Hör dir einfach das Band an“, Menschen unter freiem Himmel sagt Nora Guthrie. zum Singen zu bewegen, sagt „Mein Tonbandgerät ist ka- Seeger. Sie hören ihre Stimme putt“, sagt Seeger. nicht. Springsteen wird zur sel- Das trifft alle ein bisschen ben Zeit in St. Paul, Minnesota, unvorbereitet. Toshi Seeger ver- spielen. In einer Halle. teilt den Kuchen, Seeger sagt: Pete Seeger steht in dem klei- „Es war Lenins Fehler. Er hat nen Haus wie in seinem eigenen Stalin möglich gemacht. Aus dem Museum. Gefängnis schrieb Rosa Luxem- Auf der Rückfahrt durchs Hud- burg einen Brief an Lenin. ‚Ge- son-Tal erzählt Nora Guthrie, wie nosse Lenin‘, schrieb sie. ‚Wenn sie mit den Seegers und den du den Menschen weiterhin ver- Springsteens einmal zu einem bietest, ihre Meinung zu äu- Dinner in Manhattan war. Am ßern, wenn es keine freie Presse Ende des Abendessens sprangen gibt, keine freien Versammlun- die Springsteens in die Limousi- gen, dann werden in ein paar ne, die vorm Haus wartete. See- Jahren alle Entscheidungen von ger und seine Frau fuhren nach sehr wenigen Personen getrof- Harlem, um den 1.39-Uhr-Zug

fen werden. Und das Volk ist nur FOCUS / AGENTUR / MAGNUM LYON DANNY nach Beacon zu bekommen. Den noch dazu da, diese Entschei- Aktivisten Seeger, Dylan (1963): Körperliche Arbeit und Singen letzten Zug raus aus der Stadt.

144 der spiegel 25/2006 COURTESY GALERIE TANIT / VG BILD-KUNST, BONN 2006 (L.) / VG BILD-KUNST, TANIT GALERIE COURTESY ZÜRICH (M. + R.) / KEYSTONE GEORGIOS KEFALAS FOTOS: Christian-Hahn-Bild „Wanderschaft“, Jungen-Werk „The “, Opie-Skulptur „Steve“: Grinsend, glatt und gesellschaftsfähig

so prüden Zeitgenossen verschrecken. Anstrengendes mit im Programm. Ersatz- KUNSTMARKT Aber es gilt mehr denn je: Der Käufer soll weise ging Skandalöses. Jetzt war das Ge- nicht überfordert werden. In Basel ström- wagteste die Malerei eines türkischen Die Inhaltsblase te die weltweite Sammlerschaft als gutge- Künstlers, die Sex unter Männern zeigt. launter, gieriger Heuschreckenschwarm Das Konzept in der Kunst heißt: Wer Kunst hatte immer ihren Preis. ein. Es sind Leute, die Kunst auch kapieren clever ist, versucht, ambivalent zu bleiben. wollen. Und zwar auf Anhieb. Man kommt nicht zu intellektuell daher, Was bekommt man heute für sein Die Mainstreamisierung nimmt zu. Einst aber womöglich ist das mit dem Indianer ja Geld geboten? Die „Art Basel“ war Kunst ein außergewöhnliches Status- doch kritisch gemeint. Kenny Scharf, mit – wichtigste Kunstmesse der Welt – symbol, ein ewiger Wert, und durfte was 48 Jahren fast schon ein Altmeister, hat setzt auf Schweine und Schnuller. kosten, heute ist sie Teil des lässigen Life- ein geradezu radikales Politkunst-Bild na- styles – und darf noch mehr kosten. Trotz- mens „Bomb“ gemalt: eine grinsende Co- er Mann ist 3,60 Meter groß, hält dem sind alle notorisch begeistert. mic-Detonationswolke (59000 Euro). die Gitarre wie einen Phallus in die Wie wäre es also damit? Es gibt eine 3,30 Das Interesse hat sich auf solche Ge- DHöhe, und da, wo andere Venen Meter hohe, blaue Waschmaschine, deren genwartskunst verlagert. Leute, die mit Pi- haben, liegen bei ihm Neonröhren – auf schleudernde Trommel die Rotation des cassos handeln, meckern, weil sogar New- jeden Fall leuchtet er in vier Farben. Der Mondes symbolisiert (27000 Euro). „It’s comer viel Geld abziehen. Auf der Messe poppige Typ besteht äußerlich aus Vinyl poetic“, sagt die mexikanische Galeristin wurde die Ware luftig, beinahe museal und Acryl und ist ein brandneues Kunst- dazu. In einer Wand stecken kleine bunte gruppiert. So täuscht man ein wenig über werk des Briten Julian Opie. Papierschirmchen – solche, mit denen man das Bedeutungsvakuum hinweg. Ein Schweizer Galerist hat das Objekt sonst einen Cocktail dekoriert. Für diese Es gibt mehr Kunstkäufer denn je. Das mit dem Titel „Steve spielt Gitarre“ in der hier muss man 13000 Euro anlegen. ist gut. Schlecht ist es, wenn ein Großteil vergangenen Woche auf der Kunstmesse Ansonsten war dies im Angebot: ein In- der Kunst glatt und gesellschaftsfähig ist „Art Basel“ angeboten. Sein promptes dianer, der vom Amerikaner Brian Jungen und sonst nichts. Die Flucht ins Pseudo- Verkaufsargument lautete: „Man kann die aus Baseballhandschuhen zusammengenäht subversive, in die kleine Ironie zählt eben Figur auch draußen aufstellen.“ wurde (87 000 Euro), gemalte Schnuller nicht. Alle sprechen über die mögliche Super. Immerhin soll Steve 99000 Euro (9000 Euro), ein goldfarbener Staubsauger Preisblase. Was ist mit der Inhaltsblase? kosten. Da muss er vielseitig sein. Hier in (19 000 Euro), vergoldete Scheißhaufen Übrigens: Tiere gehen immer. Man be- Basel kam seine Strahlkraft nur bedingt (80000 Euro), eine Wasserkaskade, die ans kam in Basel lustige Skulpturen zu sehen, zur Geltung – gleich gegenüber bei der Internet angeschlossen ist und Wörter wie die Giraffen, Hasen, Esel, Schlangen, Mäu- Konkurrenz flackerte eine Art Leucht- „Fifa“, „Bär“, „Uschi“, „Glas“ heraus- se zeigten. Am beliebtesten sind Schweine. reklame der Künstlerin Monica Bonvicini sprudelt (150000 Euro) oder ein Haufen Da wäre die Sau mit flankierenden Engeln, auf. Aus Glühbirnen setzt sich der Schrift- Türvorleger: 90 Stück für 25000 Euro. Man die von Jeff Koons himself stammt. Jahr- zug „Notforyou“ zusammen – wenn ir- kann auch die große Version ordern. Das gang 1998. Preis: 3,8 Millionen Euro. gendwo „Nicht für dich“ draufsteht, das wären 300 Vorleger. Wer will, kann den Alternativ war Neo-Neo-Pop-Kunst weiß jeder mittlerweile, dann ist es schon Preis hochrechnen. vom Belgier Wim Delvoye zu haben. Sein verkauft. In diesem Fall für 28000 Euro. Die große Hochstapelei? Kunst, die auf ausgestopftes weißes Schwein ist täto- In Basel waren sie bis zum Sonntag alle Messen präsentiert wird, soll nun einmal wiert. Das Tattoo bedeckt den Rücken des versammelt, die Sternchen und noch mehr verkäuflich sein. Mehr und mehr unter- Tieres mit Comicfrauen und dem Logo von die Stars unter den Künstlern. Hier, auf werfen sich aber auch die Kunstinstitutio- Louis Vuitton. der wichtigsten Kunstmesse, werden die nen den Moden des Marktes. Sie werden Ist vielleicht auch sozial- und konsum- einen Trends erfunden, die anderen be- selbst zu Markthallen: In Basel wurde über kritisch. Erstens: Das Schwein stammt aus erdigt. Dieses Jahr macht man auf hübsch manches Werk verhandelt, das zwar hier China. Zweitens: Für die 120000 Euro, die bis banal. Jeff Koons, der Kitschgroßmeis- nicht gezeigt wurde, das aber gerade erst es kostet, könnte man sich etliche Louis- ter und Großverdiener der Achtziger, ist auf einer Biennale oder in einer Kunstver- Vuitton-Taschen kaufen. der heimliche Godfather einer jüngeren, einsschau zu sehen war. Die Galeristen Der Ausgang dieses Kampfes ist offen: erfolgsorientierten Künstlergeneration. packten entsprechende Kataloge aus. Entscheidet man sich fürs Original oder So pornografisch wie bei Koons geht es Es fehlt das Korrektiv. Wer einst als An- die Verballhornung durch den Künstler? allerdings nicht zu. Man will keinen noch bieter etwas auf sich hielt, hatte auch etwas Beides hat seinen Preis. Ulrike Knöfel

der spiegel 25/2006 145 Kultur

Chefdirigent Rattle: „Der besondere Ton des Orchesters kommt aus der Mitte der Erde“

SPIEGEL-GESPRÄCH „Charme nützt wenig“ Der Chef der Berliner Philharmoniker, Sir Simon Rattle, 51, über den Klang seines Orchesters, die Intrigen des Betriebs und seine Arbeit mit Schülern

SPIEGEL: Ein Engländer, der in Aix-en-Pro- siker haben den „Ring“ in den letzten nicht ein langsames Tempo. Es gibt Mo- vence das „Rheingold“ probt: Kann es ei- Jahren mit dem Orchester der Bayreu- mente der Stille. Die Musik bewegt sich nem Dirigenten besser gehen als Ihnen? ther Festspiele gegeben, einige wenige wa- mit der Geschwindigkeit der Handlung. Rattle: Sie haben recht. Es ist eine wun- ren schon unter Karajan dabei. Obwohl SPIEGEL: Der lichte und leichte Wagner derbare Arbeit. Wir Künstler sind ver- das Orchester heute aus über 20 Natio- also, den die Fachwelt von Ihnen erwartet? wöhnte Menschen. nalitäten besteht – die Musiker spüren: Rattle: Die Idee von Bewegung und Hellig- SPIEGEL: Was tun Sie, wenn Sie abspannen Diese Ära der Musik, Brahms, Wagner – keit sollte für das „Rheingold“ nicht neu wollen? Finden Sie die Zeit, sich einen das ist unsere. sein. Es ist eine Verleumdung, dass deutsche Cézanne anzuschauen? SPIEGEL: Sie halten keine Einführung? Kunst, damit sie authentisch ist, dumpf und Rattle: Ich gehe in den Wald – es ist früh Rattle: Ich bin kein Fußballtrainer, Moti- schwer klingen muss. Schwere deutsche am Morgen, bevor es zu heiß wird. Ich ko- vation ist bei diesem Orchester nicht not- Küche? Gern! Aber nicht die Kunst. che gern. Die Märkte hier sind erstaunlich. wendig. Jeder Einzelne der Musiker hat SPIEGEL: Sir Simon, verfolgen Sie hier in Wozu Großbritannien auch immer gehört, eine dezidierte Vorstellung, wovon diese Aix die deutsche Presse? dies hier ist nicht dasselbe Europa. Musik handelt. Wenn wir spielen, sind wir Rattle: Ich lese die Nachrichtenseiten. Für SPIEGEL: Was für ein Publikum kommt zum besser, wenn wir nicht analysieren. die Feuilletonseiten reicht mein Deutsch Festival nach Aix-en-Provence? SPIEGEL: Ein Herzstück Ihrer Arbeit als Di- leider oft nicht, es tut mir leid. Rattle: Es ist nicht besonders glamourös, rigent ist das Experiment, das Proben und SPIEGEL: Es war eine merkwürdige Krise, aber die Leute wirken aufgeweckt, sie kön- Ausprobieren. Genießen Sie das? die sich in den letzten Monaten an Ihrer nen zuhören. Es gibt einen fast unstillbaren Rattle: Ich glaube, dass ein guter Arzt nicht Person entzündet hat: Es ging, zunächst, Hunger nach Kultur. Am 5. Juli werden weniger intuitiv arbeitet als ein Dirigent. um Ihre künstlerische Bilanz nach vier Jah- wir Mahlers Fünfte vor 10000 Menschen Die Probe ist eine Form der Suche, die ren, dann um die deutsche Romantik, ein aufführen. Am ersten Tag war die Schlan- Aufführung klingt dann oft ganz anders. Kernrepertoire der Berliner Philharmoni- ge am Schalter über einen Kilometer lang, Ziel der Probe ist es, einen Grund zu legen, ker, das Sie vernachlässigt haben sollen, am Nachmittag waren die Karten weg. eine Piste, von der etwas abheben kann – zuletzt um den berühmten deutschen Ton SPIEGEL: Diesen Freitag steht in der Berli- aber dann muss die Musik auch abheben. des Orchesters, das Schwere, Dunkle, das ner Philharmonie Wagners „Rheingold“ SPIEGEL: Wird man Ihrem „Rheingold“ an- unter Ihrer Führung zu schwinden drohe. auf dem Programm. Die Berliner Philhar- hören, dass es in südfranzösischer Luft ein- Worum ging es nach Ihrer Meinung? moniker haben den „Ring des Nibelun- gespielt wurde? Rattle: Niemand steht über der Kritik. Es gen“ zuletzt unter Herbert von Karajan, Rattle: Das „Rheingold“ dauert gewöhn- ist die Aufgabe der Kritik, zu kritisieren, also seit 40 Jahren nicht mehr gespielt. lich zweieinhalb Stunden. Richard Wagner mein Job ist es, dieses Orchester zu leiten Was sagen Sie Ihrem Orchester, wovon das selbst sagte bei den ersten Proben: Diese und großartige Musik zu machen. „Rheingold“ im Jahr 2006 handelt? Oper ist in zwei Stunden vorüber – wenn SPIEGEL: Sie wirkten verletzt. Auf der Pres- Rattle: Ich sage gar nichts. Wir spielen es ihr keine Langweiler seid! Wenn ihr es sekonferenz zum Start der neuen Saison einfach. Wir – spielen. Viele meiner Mu- nicht verschleppt! Es gibt in „Rheingold“ wichen Sie der Frage nach dem Ton des

146 der spiegel 25/2006 Rattle: Wir sind ein Botschafter. Aber der Sir Simon Rattle, Repräsentant eines Landes muss nicht not- wurde 1955 in Liverpool geboren, wendigerweise konservativ sein. Interes- lernte Schlagzeug und Klavier sant ist, dass dieses Orchester im Ausland und führte das City of Birmingham anders wahrgenommen wird als in Berlin. Symphony Orchestra zu internatio- Wir werden hier für die Dinge kritisiert, für nalem Renommee, bevor er 2002 die wir im Ausland gefeiert werden. die Nachfolge von Claudio Abbado SPIEGEL: Sie sagen, dass Ihr Orchester in als Chefdirigent der Berliner Philhar- Tokio oder Los Angeles besser verstanden moniker antrat. Rattle verjüngte den wird als in Berlin? Orchesterklang, erweiterte das Re- Rattle: Wir haben in Berlin ein besonders pertoire. Spektakuläre Erfolge gelan- gebildetes und reaktionsschnelles Publi- gen ihm mit dem Tanzfilm „Rhythm kum. Angela Merkel kommt zu Konzer- Is It!“ im Rahmen seines „Educa- ten, sie kommt wirklich! Tony Blair wird tion“-Programms für Schüler. Nach man nicht einmal tot in einem Sympho- jüngster Kritik am Ton der Berliner niekonzert sehen. Hier hat jeder zivilisier- Philharmoniker, der unter Rattle sei- te Politiker eine Meinung über uns. ne Tiefe zu verlieren drohe, steht für SPIEGEL: Wo liegen die Grenzen? Welche die Saison 2006/07 nun die deut- Erwartungen kann ein Orchester nicht er- sche Romantik (Schumann, Brahms, füllen? Bruckner) auf dem Programm. Rattle: Ich kann mir keine Frage vorstellen,

FOTOS: SOEREN STACHE / PICTURE-ALLIANCE / DPA / PICTURE-ALLIANCE SOEREN STACHE FOTOS: der wir uns als Künstler nicht zu stellen hätten. Ich zitiere Samuel Beckett: Ever Orchesters mit der Floskel „I am sorry“ SPIEGEL: Es brauchte den Pianisten Alfred failed. Try again. Fail better. Eine der bes- aus. Was genau bedauern Sie? Brendel, der seit Jahrzehnten in London ten Aussagen aller Zeiten: Scheitere, aber Rattle: Das war spontan. Es tut mir leid, lebt, um die Diskussion um Ihre Person zu scheitere auf höherem Niveau. Vieles ist wenn die Leute sich Sorgen machen. Es beenden. In einem Leserbrief im „Guar- möglich. Nicht möglich ist es, von einem tut mir leid, wenn die Anschuldigungen dian“ erinnerte er die Deutschen daran, Ruf oder der Erinnerung zu leben. Nicht stimmen – es tut mir genauso leid, wenn was für einen vorzüglichen Dirigenten sie möglich ist es, nach einem erinnerten Ge- die Anschuldigungen nicht stimmen, denn an Ihnen haben. Die Diskussion um den fühl zu spielen. So wenig, wie es möglich dann haben wir uns umsonst Sorgen ge- richtigen Ton hält er für absurd. ist, jemanden virtuell zu lieben. macht und viel wertvolle Zeit verloren. Rattle: Wir wissen nichts. Wer weiß, wo SPIEGEL: Das Orchester hat 1999, gegen alle Die Frage ist: Über was wollen wir reden? dieses Orchester in 20 Jahren steht? Wir Erwartungen, nicht Daniel Barenboim, SPIEGEL: Die Frage nach dem Sound eines sind in der Mitte eines Prozesses. sondern Sie zu seinem Chef gewählt. Orchesters ist doch eine hochinteressante. SPIEGEL: Seit vier Jahren liegt Ihr Haupt- Waren Sie überrascht? Rattle: Es ist die Frage: Was macht den wohnsitz in Berlin. Fühlen Sie schon Rattle: Vollkommen überrascht. Ich hatte Klang eines großen Orchesters aus? deutsch? Oder besser: berlinerisch? natürlich mit Barenboim gerechnet. Es war SPIEGEL: Jetzt sind wir gespannt. Rattle: Ich kann wohl mehr darüber sagen, eine Zeit der Seligkeit und der Angst – je- Rattle: Ich glaube tatsächlich, dass dieser was es bedeutet, in diesem Land ein Im- der kluge Mensch muss auch Angst vor besondere Ton des Orchesters aus der Mit- migrant zu sein, als was es bedeutet, ein dieser Aufgabe haben. Ich habe meine Ar- te der Erde kommt. Wichtig ist, dass der Deutscher zu sein. In Berlin erkenne ich beit im Bewusstsein angetreten, dass wir Ton sich vom Boden erhebt, Flügel be- viel von meiner Heimatstadt Liverpool am Anfang eines langen Prozesses stehen. kommt und hoch hinausgeht. Es ist das wieder: Ich mag die Schnelligkeit, Härte SPIEGEL: „Work in progress“, eine Ihrer Gegenteil der großen amerikanischen und Unverschämtheit im Umgang, ich spü- Lieblingsphrasen. Aber mit welchem Ziel Klangkörper, die sich statischer bewegen. re die Wärme hinter der Ruppigkeit. vor Augen sind Sie angetreten? SPIEGEL: Haben Sie den Ton der Berliner SPIEGEL: Die Berliner Philharmoniker sind Rattle: Unsere Ziele müssen unerreichbar Philharmoniker entwurzelt? ein deutsches Nationalheiligtum mit einem bleiben: Wir wollen das großartigste Or- Rattle: Aber nein. Er ist immer noch da. Es geradezu einzigartig positiven Renommee chester der Welt bleiben, was immer das gibt diese ganz besondere Wärme und Tie- im Ausland. Vielleicht liegt der Ernst, ja die bedeutet. Wir wollen eine enorme Band- fe, sie sind nicht kaputtzukriegen. Sie kön- Erbitterung, mit der das Land einen alten breite spielen, und für diese Breite brau- nen den Ton abrufen, wenn sie ihn brauchen Orchesterklang verteidigt, genau darin: chen wir nicht einen Sound, sondern eine – das heißt aber auch, dass sie ihn nicht Wir haben nicht viele dieser Heiligtümer. ganze Bandbreite von Sounds. Das Orches- immer brauchen. Vergessen ter muss wie ein riesiges Kam- Sie nicht, welcher Kritik Ka- merorchester funktionieren. rajan ausgesetzt war, als er SPIEGEL: Selbst Fachleuten fällt den Klang veränderte und mit es schwer, auszumachen, wo Sie der Tradition von Furtwäng- in den letzten vier Jahren die ler brach. Wir sind eine sehr Schwerpunkte gesetzt haben. junge Truppe. Wir haben hier Sagen Sie selbst: Wo lagen die einige der besten Musiker der Akzente? Welt, aber es ist, wie mir eines Rattle: Fragen Sie nicht mich, der älteren Orchestermitglie- fragen Sie die Leute im Or- der sagte: Die gemeinsame Er- chester. Ich sage, in den letz- innerung geht nicht weit zu- ten Monaten haben wir mit die rück. Es hat für mich daher beste Musik gemacht, die wir wenig Sinn, zu sagen: Gebt mir überhaupt je gemacht haben. euren alten Karajan-Sound! Brahms’ vierte Symphonie war

Die große Mehrheit der Phil- POPPER (R.) / DER SPIEGEL (L.); IMG / PHOTO EHLERT MAX gut, „Pélleas et Mélisande“ war harmoniker hat ihn nie gehört! Rattle-Vorgänger Karajan (1955), Furtwängler (1947): Glühender Ton gut, da setze ich meine Fahne

der spiegel 25/2006 147 drauf – es war auf eine Art che. Bruegel ist ein dank- ein Vorspiel für den „Ring“. barer Ratgeber für alle äs- Seit der letzten Amerika- thetischen Fragen. Oder ich Tournee sind wir in einer zitiere aus dem Tarantino- hochinteressanten Phase der Film „Pulp Fiction“. Warum Wandlung. nicht? SPIEGEL: Ihr sprichwörtlich SPIEGEL: Als Chef der Berli- „unaufgeräumtes“ Reper- ner Philharmoniker führen toire: Was haben Sie gegen Sie 120 Solisten, 120 Super- einen roten Faden, was ha- stars. Nach vier Jahren – ha- ben Sie gegen Zyklen? ben sich da Techniken her- Rattle: Ein Kritiker hat mich ausgebildet, mit denen Sie neulich einen Eklektiker ge- die Eitelkeiten im Griff be- nannt: O Gott, wie schlimm! halten? Ja, wahrscheinlich bin ich Rattle: Kürzlich saß ich mit

das. Ist das in eurer Kultur MICHAEL HANSCHKE / DPA dem Regisseur Tom Tykwer verboten? Wir lachten. Das Orchesterchef Rattle, Schüler (2003): Party beim Projekt „Rhythm Is It!“ beim Essen, die Dreharbeiten Konzept des roten Fadens für „Das Parfum“ mit Dustin mag für Feuilletonschreiber nützlich sein, SPIEGEL: Der zentrale Vorwurf gegen Sie Hofman waren abgeschlossen, wir nahmen für uns Musiker werden Zyklen schnell ein lautet, dass Sie das historische Repertoire die Filmmusik auf. Mein Gott, sagte er, Selbstläufer, eine geradezu unstoppbare der Berliner Philharmoniker, die deutsche mein Job handelt zu 90 Prozent aus Ego- Tradition. Selbst Claudio Abbado hat sich Romantik, vernachlässigen. Management. Ich sagte: Wir haben eine davon verabschiedet. Rattle: Wie Bruckners siebte Symphonie, Menge Dustin Hofmans in unserem Orches- SPIEGEL: Ein Beispiel für Ihre oft irritie- mit der wir im August die Saison eröff- ter. Der Punkt ist, dass du jeden Einzelnen rende, zumindest überraschende Reper- nen? Jedes Jahr spielen wir Beethoven, auf seine Art sein Bestes geben lässt. toirewahl: Welche Herausforderung liegt Bruckner, Mahler. Wir haben nun, spät ge- SPIEGEL: Welche Maestro-Geste hat sich bei für Sie in Orffs „Carmina Burana“? nug, das muss ich zugeben, eine Schu- Ihnen mit den Jahren eingeschlichen? Rattle: Es ist ein Pfeiler großer deutscher mann-Symphonie im Programm. Rattle: Ich hoffe, keine. Ich hasse Divas. Musik. Wir brauchten es für einen Silves- SPIEGEL: Welche Sorte Neuigkeit hoffen SPIEGEL: Können Sie uns ein Beispiel Ihres terabend. Die Stücke, die vor einem Mas- Sie, in so einem Monsterklassiker wie berühmten Deutsch-Englisch geben, das senpublikum und im Fernsehen als Feier- Brahms’ „Deutschem Requiem“ zu finden? Sie bei Proben sprechen? lichkeit funktionieren, sind begrenzt. Rattle: So unendlich viel. Brahms war der Rattle: Das Orchester dankt mir mittler- SPIEGEL: Lassen Sie uns ein paar wieder- erste Komponist, der ein Experte für alte weile Wörter, die es ohne mich nie kennen- holt geäußerte Anschuldigungen gegen Sie Musik war. Dieser relativ junge Kompo- gelernt hätte: Zusammenheit. Körperge- miteinander durchgehen, ein paar Simon- nist hat so weit zurück- und so weit nach spräch. Wir brauchen diese Wörter. Rattle-Klischees: Sie haben aus den Phil- vorn geschaut. Das Neue steckt in der Mu- SPIEGEL: Muss ein Dirigent Charmeur sein? harmonikern ein Jugendorchester gemacht. sik, es muss vom Komponisten kommen. Rattle: Charme nützt wenig. Du musst eine Rattle: Wir haben, wie jedes Orchester, Wir Musiker sind nur die Interpreten. Persönlichkeit sein. Orchester kriegen eine Pensionsgrenze mit 65. Eine Menge SPIEGEL: Die kommende Saison steht unter schneller als jede andere Menschengruppe Orchestermitglieder sind mit Karajan ge- dem Motto „Tod, Auferstehung und Er- mit, wenn du schauspielerst. gangen. Das Orchester hatte die Möglich- neuerung“. Wie kommt man auf so etwas? SPIEGEL: Sir Simon, täuscht unser Eindruck, keit, sich zu verjüngen, und es nutzte sie. Könnten es auch komplett andere Themen dass Sie sich bei der Leitung eines elitären SPIEGEL: Noch eine populäre Anschuldi- sein? Wer denkt sich das aus? Unternehmens, das die Berliner Philhar- gung gegen Sie: Sie spielen zu viel zeit- Rattle: Natürlich habe ich mir diese The- moniker von ihrer Geschichte her nun genössische Musik. men ausgedacht, wer sonst? Tod und Auf- einmal sind, unwohl fühlen? Rattle: Jede Musik ist zeitgenössisch, ein erstehung sind zeitlose Themen, deshalb Rattle: Ich bin der, der ich bin. Ich halte an Teil wurde eben in der Gegenwart oder in beschäftigen wir uns mit ihnen. dem Glauben fest, dass wir für jeden da jüngerer Zeit geschrieben. SPIEGEL: Sie sind bekannt dafür, dass Sie sind. Wir müssen so leidenschaftlich für SPIEGEL: Unter den Zeitgenossen bevorzu- bei Proben mit Metaphern aus Kino, Lite- ein 10-Euro-Publikum in der Treptow- gen Sie Thomas Adès und Mark-Anthony ratur und Malerei, auch aus der Popkultur Arena wie für ein 400-Euro-Publikum spie- Turnage, die britischen Komponisten. arbeiten. Geben Sie uns ein Beispiel? len. Die Gefahr besteht darin, dass die Ein- Rattle: John Adams ist Amerikaner, Ma- Rattle: Ich muss mit Bildern arbeiten, die trittskarten zu teuer werden. Dann ent- gnus Lindberg ist Finne, Henri Dutilleux ist meine Musiker verstehen. Wenn ich den scheiden die Concierges in den großen Franzose. Ich war, im Gegenteil, schreck- Ton verändern muss, dann kann es sein, Hotels darüber, wer zu unseren Konzerten lich vorsichtig mit britischen Komponisten, dass ich von einem Bruegel-Gemälde spre- kommt, und das müssen wir verhindern. ich hätte mehr von ihnen spielen sollen. SPIEGEL: Ihr „Education“-Programm, das Ich habe bis jetzt noch keinen Birtwistle Berliner Schüler dazu einlädt, an Projekten gespielt, was eine Schande ist. der Berliner Philharmoniker teilzunehmen, SPIEGEL: Für die kommende Saison steht läuft enorm erfolgreich: Hätten Sie sich als ein Haydn-Fest an. Haydn, immer wieder 16-Jähriger von einem Dirigenten auf eine Haydn. Ein Vorurteil gegen Sie lautet, dass Party einladen lassen? Sie sowieso am liebsten Haydn spielen. Rattle: Nicht unbedingt. Aber ich wäre froh Rattle: Haydn ist der sträflich vernachläs- gewesen, wenn ich es getan hätte! Meine sigte unter den großen Komponisten. Wir schönste Erinnerung an „Carmina Bura- spielen Haydn nicht mehr als Mozart. Aber na“ ist, wie ich von einer Gruppe 16-jähri- wenn wir ihn aufführen, dann ist er offen- ger türkischer Jungs in die Luft geworfen sichtlich der Rede wert. wurde – phantastisch. Rattle, SPIEGEL-Redakteur* SPIEGEL: Sir Simon, wir danken Ihnen für * Moritz von Uslar in der . „Ich hasse Divas“ dieses Gespräch.

148 der spiegel 25/2006 Kultur

Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahl- Bestseller kriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller Belletristik Sachbücher 1 (1) Donna Leon Blutige Steine 1 (1) Hape Kerkeling Ich bin dann Diogenes; 19,90 Euro mal weg Malik; 19,90 Euro 2 (2) Frank Schätzing Nachrichten 2 (2) Daniel Kehlmann Die Vermessung aus einem unbekannten der Welt Rowohlt; 19,90 Euro Universum Kiepenheuer & Witsch; 19,90 Euro 3 (–) Jakob Hein 3 (7) Jürgen Roth Der Deutschland- Herr Jensen Clan Eichborn; 19,90 Euro steigt aus 4 (5) Eva-Maria Zurhorst Piper; 14,90 Euro Liebe dich selbst Goldmann; 18,90 Euro

5 (3) Matthias Matussek Wie viel Nichtstun kann Wir Deutschen S. Fischer; 18,90 Euro ein Mensch ertragen? Tragikomisches Porträt 6 (6) Peter Hahne Schluss mit lustig eines Verlierers Johannis; 9,95 Euro

7 (8) Thomas Leif 4 (3) Iny Lorentz Das Vermächtnis der Beraten und verkauft C. Bertelsmann; 19,95 Euro Wanderhure Knaur; 16,90 Euro 8 (13) Corinne Hofmann Wiedersehen 5 (5) Dan Brown Diabolus in Barsaloi A 1; 19,80 Euro Lübbe; 19,90 Euro 9 (4) Senta Berger Ich habe ja gewußt, 6 (4) Nicholas Sparks Das Wunder daß ich fliegen kann eines Augenblicks Heyne; 19,95 Euro Kiepenheuer & Witsch; 19,90 Euro 10 (11) Frank Schirrmacher Minimum 7 (6) François Lelord Hectors Reise Blessing; 16 Euro Piper; 16,90 Euro 11 (9) Albrecht Müller Machtwahn 8 (8) Tommy Jaud Resturlaub Droemer; 19,90 Euro Scherz; 12,90 Euro 12 (10) John Dickie Cosa Nostra – 9 (9) Leonie Swann Glennkill Die Geschichte der Mafia Goldmann; 17,90 Euro S. Fischer; 19,90 Euro 13 (12) Dietrich Grönemeyer 10 (11) Ingrid Noll Ladylike Der kleine Medicus Rowohlt; 22,90 Euro Diogenes; 19,90 Euro 14 (14) Eduard Augustin / Philipp von 11 (7) Dan Brown Sakrileg Keisenberg / Christian Zaschke Lübbe; 19,90 Euro Fußball Unser Süddeutsche Zeitung; 18 Euro

12 (12) Bernhard Schlink Die Heimkehr 15 (–) Peter Bachér Liebe ist alles Langen/Müller; 9,90 Euro Diogenes; 19,90 Euro 16 (17) Shirin Ebadi Mein Iran 13 (–) Philippe Grimbert Ein Geheimnis Pendo; 19,90 Euro Suhrkamp; 17,80 Euro 17 (–) Stefan Bollmann 14 (14) Henning Mankell Kennedys Hirn Frauen, die Zsolnay; 24,90 Euro schreiben, leben gefährlich 15 (10) Cecelia Ahern Zwischen Himmel Elisabeth Sandmann; und Liebe W. Krüger; 16,90 Euro 19,95 Euro

16 (16) Hera Lind Die Champagner-Diät Dichterinnen vom 12. Diana; 16,95 Euro bis zum 21. Jahrhundert und ihr Kampf 17 (13) Ilija Trojanow Der Weltensammler gegen den Widerstand der Männerwelt Hanser; 24,90 Euro

18 (–) Meg Mullins Der Teppichhändler 18 (19) Roger Willemsen S. Fischer; 16,90 Euro Berlin; 18 Euro Afghanische Reise 19 (15) Ben Schott Schotts Sammelsurium 19 (–) Yasmina Khadra Nacht über – Sport, Spiel & Müßiggang Algier Aufbau; 19,90 Euro Bloomsbury Berlin; 16 Euro

20 (19) Vikram Seth Zwei Leben 20 (–) Ben Schott Schotts Sammelsurium S. Fischer; 22,90 Euro Bloomsbury Berlin; 16 Euro

der spiegel 25/2006 149 Kultur Gerangel im Götterhimmel

Gauß Heine Nahaufnahme: Über den nächsten Neuzugang in der Walhalla wird gestritten – Heine oder Gauß?

or dem Absturz im romantisch-pa- zur Aufstellung der Büste aus“; dann blitzt nen Wünschen auf eigene Kosten anferti- triotischen Rausch wird dringend kurz der Schalk in seinen Augen, „oder gen“, sagt Hausherr Weber. Die Heine-Büs- Vgewarnt. „Die Leute brechen sich auch zur Aufstellung zweier Büsten“. te will Jörg Immendorff modellieren. die Knochen oder sogar den Schädel, wenn Die Sache ist die: In München zoffen sich Webers Lieblingsbüste ist die von Imma- sie zwei Meter achtzig tief die Steinstufen die Gelehrten. Die einen wollen Heine in nuel Kant, „diese Strenge und Klarheit fin- hinunterfallen“, sagt Robert Reith, ein sehr der Walhalla ehren – die anderen das Ma- det man heute nicht mehr“, sagt er. bayerischer und gemütlicher Mann, der thematik-Genie Carl Friedrich Gauß. Mit geschwollenen Halssehnen reckt seit 21 Jahren als Verwalter auf die deut- Die Bayerische Akademie der Wissen- der Denker den Kopf hinaus in die Welt: sche Hall of Fame aufpasst. „Es gab drei schaften, die traditionell alle paar Jahre Der Prophet der Vernunft im Tempel eines Tote und zwei Dutzend Schwerverletzte neue Walhalla-Kandidaten vorschlägt, plä- Schwärmers. Ludwig I. war ein Gemüts- seit 1962.“ Warntafeln im Gelände bekla- diert für Gauß. Dessen Ruhm hat Daniel patriot, kein Nationalist. In seinen Eh- gen die „traurigen Folgen von Leichtsinn Kehlmanns Erfolgsroman „Die Vermessung rensaal der Großen „teutscher Zunge“ hat oder eigener Unachtsamkeit“. der Welt“ aufgefrischt. In der „Süddeut- er flämische Maler und Schweizer Unab- Schwindelerregend schön ist es hier dro- schen Zeitung“ klagte gerade ein Fan, es hängigkeitskämpfer ebenso locker einge- ben, ein paar Kilometer östlich von Regens- sei eine „Kulturschande“, dass Gauß nicht meindet wie russische Generäle, schwedi- burg, auf dem sogenannten Bräuberg von längst zu Walhalla-Ehren gekommen sei, sche Könige und obskure Heilige. Und mit- Donaustauf, wo der bayerische König Lud- zumal die Mathematik „mindestens so tendrin Immanuel Kant. wig I. 1842 einen griechischen Bayerns Kunst- und Wis- Tempel zum Ruhm deutscher senschaftsminister Thomas Helden einweihte. Zwei gutge- Goppel will der Vernunft nährte amerikanische Touris- zum Sieg verhelfen. Er emp- tinnen in Bikinis räkeln sich fiehlt Edmund Stoibers Kabi- am Rand der Freitreppe in der nett, im Jahr 2007 ausnahms- Abendsonne, die Grillen zir- weise zwei neue Kandidaten pen, die örtliche Landjugend in die Walhalla aufzuneh- lässt auf der nahen Bundes- men. Gauß und Heine, „ne- straße die Motoren ihrer MX5- beneinander oder direkt hin- Mazdas und 3er-BMWs heu- tereinander“. Vermutlich ent- len. Auch dem Hausherrn der scheidet das Kabinett schon Walhalla ist schwärmerisch zu- in dieser Woche. mute. Hans Weber, Direktor „Man muss auf die Ver- im Staatlichen Bauamt von Re- nunft der Menschen hoffen“, gensburg, ein korrekter Beam- sagt auch der Baudirektor ter mit randloser Brille und ke- Weber über die Absturzge- ckem Spitzbart, weist auf die fahr an der Ruhmeshalle,

Treppe: „Der Besucher soll (U.) DPA ARMIN WEIGEL / PICTURE-ALLIANCE/ (O.); AKG „wenn Sie dieses Denkmal das Gefühl haben, er steige in Walhalla-Köpfe: Triumph schnöder Wissenschaft über die schönen Künste? einzäunen, zerstören Sie sei- den Götterhimmel hinauf.“ ne Wirkung.“ Ein auf den Derzeit streitet man in Bayern, wer in wichtig und wertvoll und auch so alt“ sei Boden aufgemalter weißer Streifen mahnt diesen Götterhimmel gehört und wer nicht. „wie Musik und Literatur“. die Walhalla-Gäste zur Vorsicht. Es gibt Als Bayerns König seinen Baumeister Leo Die Bayerische Akademie der Schönen keine Videokameras und keine Wachleute, von Klenze den Tempel über dem Donautal Künste hingegen, in Walhalla-Fragen eher nur eine Bude am Eingang, in der man 3 hinstellen ließ, wollte er sämtliche „rühm- nicht zuständig, wünscht sich Heine – und Euro Eintritt kassiert. 127000 Besucher ha- lich ausgezeichneten Teutschen“ ehren, auf polemisiert gegen den Eierkopf Gauß. „Der ben sich 2005 den Tempel angesehen. dass „alle Teutschen, welchen Stammes sie Triumph der Mathematik und Naturwis- In den Sommernächten geht es oft lustig auch seien, immer fühlen, dass sie ein ge- senschaft ist so total, dass er nicht auch noch und wüst zu an der Walhalla. Nach Mitter- meinsames Vaterland haben.“ Er ließ 96 durch eine Büste in der Walhalla bekundet nacht, wenn die Discos zumachen, kommt Büsten aufstellen und (für Helden, deren werden muss“, zürnt der Akademie-Chef. Partyvolk hierher, „zum knallharten Sau- Gesicht man nicht kennt) 64 Tafeln anbrin- Der Dichter Heine hingegen sei „Kosmo- fen“, berichtet der Verwalter Reith. Übrig gen. Das hielten viele für eine gute Idee polit und doch deutscher Herzenspatriot“. bleiben zerbrochene Flaschen, Lagerfeu- und viele nicht. Der Frechste aller Meckerer Das Innere der Walhalla, die von außen er-Kokelei, Spuren menschlicher Notdurft. war Heinrich Heine. Er schmähte Ludwigs so pompös auftrumpft, ist ein heiterer Ball- „Keiner hat etwas gegen das Feiern an Ehrenhalle als „marmorne Schädelstätte“. saal. Auf dem Boden strahlt ein helles Mo- sich, aber das ist oft schon extrem.“ Dafür wollen seine Verehrer Heine jetzt saik, an den Wänden rotbrauner Marmor, Bei den Staatszeremonien für Walhalla- hier einsargen. Ausgerechnet hier. „Das ist obendrüber eine gold-blaue Kassettendecke Neuankömmlinge feiert man gesitteter. allein Sache der Politiker in München“, voller Sterne aus poliertem Zinn. Die Hel- Aber vielleicht liest im nächsten Jahr ja je- wehrt der Baudirektor Weber errötend den denbüsten sind entlang der Wände postiert mand Heines „Wintermärchen“-Zeilen vor: Versuch ab, ihm eine Meinung zu Heine wie Jagdtrophäen in einem Waldschloss, „Es hat ein wunderbarer Rausch / sich abzuluchsen, „wir richten nur den Festakt „jede neue lässt der Antragsteller nach sei- meiner Seele bemeistert.“ Wolfgang Höbel

150 der spiegel 25/2006 Medien Trends

ZEITUNGEN Angriff auf das „WAZ“-Monopol ie im Ruhrgebiet unangefochten Dden Zeitungsmarkt beherrschende „WAZ“ bekommt Konkurrenz – von ihrem ehemaligen Chefredakteur Uwe Knüpfer. Er will noch in diesem Jahr eine Internet-Tageszeitung für das Ruhr- gebiet starten. „Onruhr“, so der Titel, soll funktionieren wie eine Regional- zeitung. Das Angebot besteht aus meh- reren Lokalausgaben und wird – bis auf Ausnahmen – nicht ständig, sondern einmal täglich aktualisiert, so dass der Leser das zu Hause ausgedruckte

Produkt wie eine Tageszeitung nutzen RTL kann. Zielgruppe ist den internen TV-Szene aus „Super Nanny“ Plänen zufolge ein junges urbanes Publi- kum mit großem Interesse an Kultur. REALITY-TV Geplant ist, mit zwei Lokalausgaben zu starten und bis Ende 2007 flächen- deckend im gesamten Ruhrgebiet vertre- Randale für die „Super Nanny“ ten zu sein. Knüpfer und seine Partner b es RTL mit den TV-Einsätzen der an den folgenden Tagen fortzusetzen sondieren bereits O„Super Nanny“ tatsächlich gelingt, und den Jugendlichen samt Bierkasten das Interesse von „Erziehungsprobleme auf professionel- auf der Schulter durchs Dorf ziehen zu Werbekunden. le, kinderorientierte Art und Weise in lassen. „Dass RTL dem jungen Mann Auch die „WAZ“ den Griff zu bekommen“ (Eigenwer- ein Podium bietet, sich wie ein Filmstar rüstet derweil im bung) – daran zweifeln Kritiker schon zu fühlen – das geht zu weit“, sagt Orts- Netz kräftig auf und länger. Im mittelhessischen Breidenbach vorsteher Peter Seibel. RTL sieht die Ka- hat unter ihrem sorgen die Sendermethoden jedenfalls meraeskapaden gelassen. Der polizei- neuen Chefredak- neuerdings für Ärger. In der 7000-Ein- lich bekannte Junge sei eben so, heißt es teur Ulrich Reitz wohner-Gemeinde durfte ein alkoholi- im Sender. In der „Porträtphase“ der

JARDAI/MODUSPHOTO.COM „WAZ live“ zum sierter 17-Jähriger jüngst vor laufender Dreharbeiten gehe es darum, die Pro- Knüpfer strategischen Ge- Kamera randalierend durch den Ort zie- bleme genau zu dokumentieren. Da sei schäftsfeld erklärt. hen, Streit anzetteln und mit einer Bier- es nicht Aufgabe der Kameraleute zu „Bis zum Jahresende haben wir Blogger flasche auf ein Auto klettern. Der da- beruhigen. Außerdem treffe die Nanny in allen 28 Lokalredaktionen und zehn durch ausgelöste Polizeieinsatz und die zur „Resozialisierung“ immer erst eini- Redakteure in der Online-Mantel- spätere Ingewahrsamnahme des Jungen ge Tage später ein. Das Ergebnis der redaktion“, so Reitz, der für die Inter- hielten das von RTL beauftragte Kame- RTL-Pädagogik soll im September in ei- net-Offensive nun eigens einen Online- rateam nicht davon ab, die Dreharbeiten ner „Super Nanny“-Folge zu sehen sein. Chefredakteur einstellen möchte.

SPORTRECHTE die Schweiz erworben und sieht diese kaufen dafür auch Werbezeiten. „Eine nun durch RTL und den französischen eindeutige Verletzung unserer Exklusiv- Schweizer Fernsehen Kanal M6 verletzt. Beide zeigen ausge- rechte“, so Gurtner. Man habe entspre- wählte WM-Spiele in einem speziellen chend auch Forderungen gegen Infront streitet mit Infront Schweizer Programmfenster und ver- geltend gemacht. Unschöne Neuigkeiten gibt es auch von Netzers Infront- ei seinen aktuellen ARD-Auftritten Geschäftspartner und Ex-Adidas-Chef Bals WM-Analytiker lässt sich Günter Robert-Louis Dreyfus. Ein Strafgericht Netzer nichts anmerken – doch in sei- in Marseille verurteilte den Manager ner Hauptbeschäftigung als Gesellschaf- jüngst wegen Betrugs zu drei Jahren ter und Geschäftsführer des WM-Rech- Haft auf Bewährung und einer Geld- te-Vermarkters Infront hat er derzeit strafe von 375000 Euro. In dem Prozess mit Kalamitäten zu kämpfen. So hat das um illegale Zahlungen bei 15 Spieler- Schweizer Fernsehen SRG vorige transfers in Dreyfus’ Zeit als Clubeigner Woche rechtliche Schritte gegen Infront von Olympique Marseille ging es um eingeleitet, wie SRG-Sprecher Max illegale Zahlungen in Höhe von

Gurtner bestätigt. Die SRG hatte von SCHREYER / IMAGO 22 Millionen Euro. Dreyfus’ Anwältin Infront die WM-Übertragungsrechte für Netzer kündigte an, Berufung einzulegen.

152 der spiegel 25/2006 Medien Fernsehen TV-Vorschau griechische Statuen aus der Stürmische Liebe – Swept Away Münchner Glyptothek, de- nen ein wichtiges Stück fehlt. Mittwoch, 20.15 Uhr, ProSieben Viele Sender entsorgen während der Jane Russell – Fußball-WM unauffällig den Sonder- Der Star aus dem Heu müll aus ihren Archiven. Dazu zählt auch diese Produktion, die im Jahr Mittwoch, 23.25 Uhr, 2003 bei den „Razzie Awards“, Hol- Bayerisches Fernsehen lywoods Anti-Oscars, gleich fünf Gol- „Man kriegt ein Mädchen dene Himbeeren gewann, darunter aus dem Heu raus, aber nie- für die schlechteste Schauspielerin. mals das Heu aus einem „Sie war billig und hatte Zeit“, gab Mädchen“, sagt Jane Russell

der britische Regisseur Guy Ritchie über sich selbst. Die Hol- BR als Erklärung an, warum er ausge- lywood-Schauspielerin, der Russell in „Geächtet“ (1943) rechnet seine Gattin, die Popsängerin Eckhart Schmidt zum 85. Ge- Madonna, für die Hauptrolle in burtstag ein liebevolles Porträt widmet, „Sexbombe“ und „Atombusen“ live „Stürmische Liebe“ verpflichtete. kam vom Land, ist als Kind oft mit beizuwohnen glaubt. Dann vertraut ihren Brüdern ausgeritten und hat früh sich Schmidt den vielen Anekdoten gelernt, den Stier bei den Hörnern zu des Stars an, der amüsant von der packen. In Hollywood hat ihr dies sehr Zusammenarbeit mit Robert Mitchum geholfen. Nur US-Milliardär Howard (bei „Ein Satansweib“, 1951) oder Ma- Hughes kriegte sie ins Heu: für die Pin- rilyn Monroe erzählt (bei „Blondinen up-Fotos zu seinem skandalumwitterten bevorzugt“, 1953) und den Zuschauer Western „Geächtet“ (1943). Fortan hatte für eine Stunde ins goldene Zeitalter Russell für einige Jahre das berühmteste Hollywoods zurückversetzt. Dekolleté der Welt. Launig erzählt sie, dass Fotografen auf Leitern kletterten, Ingeborg-Bachmann-Preis um es abzulichten. In einer schwindel- Donnerstag, 8.55 und 15 Uhr, 3sat PRO 7 erregenden Montage schneidet Schmidt Madonna in „Stürmische Liebe“ Brustbilder von Russell und Dokument- Für Ausdauernde: die Live-Übertra- aufnahmen von Atombomben-Pilzen so gung vom Wettlesen in Klagenfurt bei Trotzdem ist das Werk, eine Art Ro- schnell hintereinander, dass der Zu- den „30. Tagen der deutschsprachigen binson-Spiel mit Anfassen auf einer schauer der Entstehung der Begriffe Literatur“ (bis Sonntag). einsamen Insel, nicht nur seiner un- freiwilligen Komik wegen unbedingt sehenswert: Madonna gibt die jäh- TV-Rückblick zornige Diva so überzeugend, dass Afrika berichtete (Schmidt: „Das ist man an Schauspielerei nicht recht ja wie in Bayern“), ergänzte Hartmann: glauben mag. Waldis WM-Club „Wir sind zwar auch schwarz, aber wir machen es besser.“ In diesem Stil Unter deutschen Dächern: 14. Juni, ARD ging es weiter: „Waldis WM-Club“ ist Vom Schweigen der Männer Alles war gesagt an diesem Abend des der offene Kanal der ARD, Geschwafel 1:0-Sieges der deutschen Mannschaft zur Geisterstunde. „Hände weg von Mittwoch, 23.30 Uhr, ARD gegen Polen, aber noch nicht von allen. Bruno I.“, dem wilden Bären, forderte Die renommierte Dokumentarreihe 23.35 Uhr, Auftritt Waldemar Hart- Hartmann, schließlich sei der Bär auch von Radio Bremen widmet sich dies- mann. Der Moderator und notorische das Berliner Wappentier, und in Berlin mal einem Tabuthema: 4,5 Millionen Duzer hockte an einem Tisch („Stamm- finde schließlich das WM-Endspiel statt. Männer leiden in Deutschland unter tisch“) in einem Münchner Studio und Alles klar? Vorschlag für Waldis nächs- Impotenz. Kaum ein Betroffener traut strahlte. Hinter ihm hingen zur Dekora- ten „WM-Club“: bitte mit Bier, aber sich, über sein Problem zu reden. tion Wimpel und Fußballfotos, neben ohne Kameras. „Wenn plötzlich nichts mehr klappt, ihm saßen zur Dekoration der Trainer beginnt das große Schweigen“, sagt Winfried Schäfer und die Klitschko- Autor Andrej Bockelmann. Er hat die Brüder, als Gast war Harald Schmidt bundesweit einzige Selbsthilfegruppe geladen. Nur die Biergläser fehlten. in München sowie einen „Repotenz- Während Schmidt routiniert einige Fuß- kurs“ an einer Klinik in Thüringen ball-Phrasen persiflierte („Zu viel Har- mit der Kamera beobachtet und monie im Team ist schlecht“), bewies tatsächlich einige Männer zum Spre- Hartmann seine Weltläufigkeit. Warum, chen gebracht, für einige der erste fragte er, haben die Afrikaner bisher so Schritt zur Heilung. Einziges Manko schlecht gespielt, „heiß genug war es des ansonsten angemessen sensiblen ja“? Als Schäfer, ehemals Trainer in Ka-

Films ist die oft aufdringliche Symbo- merun, von der Vetternwirtschaft in / ARD KOLLER BAPTIST J. lik: Immer wieder zeigt Bockelmann Hartmann

154 der spiegel 25/2006 Medien

Springer-Konzern und Deutschlands intellektuelle Elite – ser war“ seine Erfahrungen als Redakteur in der Manipula- das ist eine nunmehr rund 40-jährige Geschichte voll von ideo- tionsmaschine von Europas größter Boulevardzeitung. Bis heute logischen Grabenkriegen, persönlichen Fehden und bisweilen boykottiert Literaturnobelpreisträger Günter Grass, 78, die Blät- blankem Hass. Es ist eine Geschichte, die schon vor 1968 be- ter des Konzerns – auch, als er anlässlich des 20. Todestages gann, als sich der Zorn der Studentenproteste gegen den kon- des Verlegers gebeten wurde, ein Manuskript beizusteuern. Im- servativen Verlag nicht mehr nur in Parolen wie „Enteignet merhin erklärte er sich bei dieser Gelegenheit erstmals zum Springer!“ entlud, sondern auch in Straßenkämpfen und An- Dialog mit dem Vorstandschef des Verlags, Mathias Döpfner, schlägen. Der Medienkonzern unter seinem Gründer Axel Cäsar 43, bereit. Ende Mai trafen sich die beiden in Grass’ schleswig- Springer brachte es in der Folge zu meist zweifelhaftem literari- holsteinischem Atelier. Moderiert wurde das Gespräch von schem Ruhm: Heinrich Böll etwa, selbst Springer-Opfer und - dem einstigen „Woche“-Gründer und -Chefredakteur Manfred Gegner, spießte 1974 in „Die verlorene Ehre der Katharina Bissinger. Am Ende empfanden beide Seiten die über dreistün- Blum“ die Methoden und Meinungsmacht von „Bild“ auf, Günter dige Debatte auch als Anfang – eines kritischen Dialogs, in Wallraff schilderte 1977 als „Der Mann, der bei ‚Bild‘ Hans Es- dem noch viele Aspekte der historischen Aufarbeitung harren.

SPIEGEL-STREITGESPRÄCH „Wir Deutschen sind unberechenbar“ Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner debattiert mit Literaturnobelpreisträger Günter Grass über die Medienmacht des Verlags, das Amerika-Bild der Deutschen sowie Verdienste und Fehler der 68er

Bissinger: Sie beide gehören zu den herausragenden Persönlich- keiten der Republik: Der Nobelpreisträger Günter Grass ist erst kürzlich zum obersten Intellektuellen des Landes gekürt worden. Mathias Döpfner führt mit dem Springer-Konzern Europas mäch- tigsten Zeitungsverlag. Was erhoffen Sie sich von diesem Dialog? Döpfner: Günter Grass ist ein Leitwolf der intellektuellen Ent- wicklung der vergangenen 50 Jahre – und für mich in zweierlei Hinsicht ein Bezugspunkt. Politisch ein negativer, künstlerisch ein positiver. Der Sprachvirtuose und Erzähler hat mich seit der Kindheit geprägt. Er wird über das Politische hinaus immer Be- deutung haben. Wegen dieser Widersprüchlichkeit interessiert mich das Gespräch und die historische Auseinandersetzung mit dem Haus Axel Springer. Wir sollten offen und ohne falsche Har- monie unsere Positionen austauschen. Bissinger: Sie argumentieren ja aus sehr unterschiedlichen Welten. Vor der Vergangenheit also erst mal die Gegenwart. Herr Grass, was bedeutet Ihnen Freiheit? Grass: Ich habe gelernt, dass Freiheit kein fester Besitz ist, dass sie Zwängen unterliegt; das beginnt bei der Meinungsfreiheit und en- det bei der Macht des Kapitals, die unsere Freiheit auf unmerk- liche, aber doch spürbare Art und Weise einschränkt. Freiheit ist für mich deckungsgleich mit Demokratie, und unser demokrati- sches System ist mehr und mehr – nicht durch äußere Feinde oder gar durch Terrorismus – gefährdet, sondern durch einen Lobby- ismus, der die Handlungsfreiheit der Parlamentarier einschränkt. Döpfner: Für mich ist Freiheit wichtigste Voraussetzung für eine humane Gesellschaft. Meine Politisierung ist durch den Holo- caust als negativen Ausgangspunkt geprägt. Der Schock meiner Kindheit waren die Bilder und Erzählungen von diesen unver- gleichbaren Verbrechen. Die wichtigste Konsequenz daraus wur- de für mich, die Freiheit des Andersdenkens, die Freiheit des In- dividuums, die Freiheit des Handelns zu sichern. Bissinger: Wie ist das konkret zu verstehen? Döpfner: Über die Jahre hat sich daraus ein Dreieck entwickelt: Da ist die Überzeugung, dass Amerika und England die freiheits- erprobtesten Demokratien sind. Dann Israel. Ich bin ein nicht- jüdischer Zionist. Israel ist ein Land, dessen Existenz gesichert werden muss. Und schließlich die Freiheit des Eigentums, des Handels. Sie können es auch Kapitalismus nennen. Ich glaube, dass Kapitalismus unter allen ungerechten Organisationsformen Anti-Springer-Krawalle (1968 in Berlin), angeschossener Student Benno

156 der spiegel 25/2006 Gesprächspartner Bissinger, Grass, Döpfner: „Man darf nicht zaudern“

Bissinger: Hat das nicht schon vor über einem Jahrzehnt begonnen? Grass: Die Welt war überschaubar und korrigierte sich wechsel- seitig, solange es die Großmächte Sowjetunion und USA neben- einander gab. Beide waren überfordert, beide führten ihre Stell- vertreterkriege, in Vietnam oder in Afghanistan. Nun aber gibt es nur noch die eine Weltmacht, die dazu mit einer gefährlichen Führung ausgestattet ist. Ich halte es für unzulässig, notwendige Kritik an ihr mit dem Schlagetotwort „Antiamerikanismus“ weg- zubügeln. Ihre Zeitungen tun das – „Bild“ grobschlächtig, die „Welt“ ein wenig differenzierter. Ich erlebe das als Einschränkung von Meinungsfreiheit. Döpfner: Auf Ihre gestörte Wahrnehmung unserer Zeitungen kom-

WOLFGANG STECHE / VISUM STECHE WOLFGANG men wir vielleicht später. Zum Thema: Dass man Verbündete und Freunde besonders offen kritisieren muss, ist doch klar. Nicht der Gesellschaft immer noch die gerechteste, die humanste und jede Amerika-Kritik ist Antiamerikanismus. Aber viel Amerika- die freiheitlichste ist. Mein Freiheitsbegriff steht über dem Drei- Kritik, die angeblich nur der gegenwärtigen Regierung gilt, geht eck: Amerika, Israel, Marktwirtschaft – das Gegenbild zu Natio- in Wahrheit tiefer und wurzelt in einem rechts wie links verbrei- nalismus und Sozialismus. teten Ressentiment. Die wirtschafts- und außenpolitischen Grund- Grass: Ich stimme Ihnen zu, wenn Sie sagen, dass Amerika und linien der Vereinigten Staaten werden von jedem Präsidenten England aufgrund der geschichtlichen Entwicklung mustergül- vertreten, ob er nun Clinton oder Bush heißen mag. Amerika hat tig sind in der Handhabung von Demokratie und Vielfalt. Ich erkannt, dass es eine akute Bedrohung für den freien Westen bewundere, wie kritisch die Bürger dort mit ihren eigenen Re- gibt. Und zwar durch nichtfreiheitliche, kollektivistische Strö- gierungen umgehen. Jetzt allerdings müssen wir erleben, wie die mungen, die sich immer wieder in sozialistischen oder faschisti- beiden Führungsmächte des Westens sich selbst und uns in ein schen Diktaturen entwickelt haben und die sich heute in be- Desaster hineingeritten haben, aus dem nur schwer herauszu- stimmten Ausprägungen des islamistischen Fundamentalismus kommen ist. wiederfinden. Bissinger: Sie spielen auf das Ahmadinedschad-Gespräch im SPIE- GEL an? Döpfner: Er spricht die Sprache der Rechtsradikalen. Wer das liest, muss erkennen, wie akut die heutige Führung Irans unsere freiheitliche, offene Gesellschaft bedroht. Mein Wunsch wäre, dass man etwas mehr Sympathie für Amerika und etwas weniger Häme über die Misserfolge im Irak an den Tag legte. Die Ameri- kaner haben entscheidend dazu beigetragen, Europa erst vom Na- tionalsozialismus, dann vom Kommunismus zu befreien. Sie ha- ben die Hausaufgaben der Europäer auf dem Balkan erledigt, und am Ende werden sie Europa auch vor diesem Diktator Ahmadi- nedschad schützen. Grass: Stichwort Iran: Entschuldigen Sie. Wir sind doch beide vom Gedächtnis geschlagen. Und so erinnern wir uns, dass es dort mal eine Reformbewegung gegeben hat – einen Mann namens Mossadegh –, die von der CIA beseitigt wurde. Danach kam das Folter-Regime des Schahs. Wider jeden demokratischen Grund- satz wurde es von den USA geschützt. Dann erst kam eine Re- volution und später das Umkippen ins andere Extrem: religiöser Wahn. Stichwort Irak. Die USA haben mit dem verhassten Sad- dam Hussein einen Pakt geschlossen, haben ihn aufgerüstet gegen Iran. Der erste Golf-Krieg war die Folge. Finanziert von den USA. Das muss man vor Augen haben, um zu begreifen, dass die Bush-Administration – da unterscheidet sie sich von früheren – zu weit gegangen ist mit der Erwägung, gegenüber Iran nötigenfalls auch Nuklearwaffen einzusetzen. Das haben wir im Westen hin- genommen wie einen Nebensatz. Schon Hiroshima und Nagasa- ki waren Kriegsverbrechen mit Folgen bis in die nächsten Gene- rationen hinein. Döpfner: Nur kurz nachgefragt: Würden Sie Ahmadinedschad gewähren lassen, warten, bis er die Atombombe hat? Die Über- zeugung der Amerikaner ist: Man darf nicht zaudern, man muss ein Zeichen der Stärke setzen. Wohin Appeasement führt, haben wir Ende der dreißiger Jahre gesehen. Grass: Gott sei Dank gibt es innerhalb des westlichen Lagers nach wie vor – wahrscheinlich auch gewarnt durch den Irak-Krieg – Re- gierungen, die Verhandlungsmöglichkeiten bis zum Schluss aus- reizen. Ich bin weiß Gott kein Freund dieses iranischen Regimes. Im Gegenteil. Ich lehne es, wie Sie, ab – und ich sehe auch …

G. ROSSKAMP (L.); ULLSTEIN BILDERDIENST (R.) BILDERDIENST G. ROSSKAMP (L.); ULLSTEIN Döpfner: … dass der iranische Staatspräsident Atomwaffen will und Ohnesorg (1967), Springer--Schlagzeilen: „Geschmacklos, abscheulich“ gleichzeitig die Vernichtung Israels zum Regierungsziel erklärt.

der spiegel 25/2006 157 Medien

Grass: Aber natürlich bin ich dagegen. Himmel, Herrgott – Sie be- kennen sich zu Israel, ich bin auch für den Bestand Israels, aber ich nehme auch zur Kenntnis, dass Israel Atomwaffen hat. Und darüber spricht kein Mensch. Döpfner: Jedes nichtmilitärische Mittel muss ausgeschöpft wer- den, da stimmen wir überein. Aber ich glaube, dass man die Ul- tima Ratio im Umgang mit diesem Regime nicht ausschließen darf, weil man sonst als zahnloser Tiger auftritt. Und ich verste- he und kann nachvollziehen, dass ein Land wie Israel, das aus ei- nem Vernichtungstrauma heraus geschaffen worden ist und jetzt wieder mit expliziten Vernichtungsdrohungen zu tun hat – dass dieses Land sich auch mit der Atomwaffe schützen will. Eingesetzt hat es sie bisher nicht. Und wird es hoffentlich auch in Zukunft nie müssen. Grass: Erklären Sie mir bitte, warum die Vereinigten Staaten – und wir immer im Trott hinterher – über Jahrzehnte hinweg Rechts- diktatoren unterstützt haben, nur weil die antikommunistisch waren. Döpfner: Den einen Fehler mit dem anderen zu entschuldigen oder zu relativieren ist eine Rhetorik, der ich mich nicht an- schließe. Natürlich hat es Fehler gegeben. Ohne jede Frage. Aber deswegen muss man sie doch nicht wiederholen. Ich will nichts schönreden. Gerade in der Außenpolitik geht es um Interessen und nicht um Idealismus und Moral in der reinen Form. Aber kön- nen wir uns darauf einigen, dass es erfreulich ist, wenn im Irak heute freie Wahlen stattfinden, dass uns Häme nicht weiterhilft und dass wir alle ein Interesse haben, dass es in Iran nicht zur Eskalation kommt? Grass: Ich stimme Ihnen zu. Nichts ist dem gebeutelten Irak mehr zu wünschen, als dass sich

die Demokratie durchsetzt – und HESS-ASHKENAZI / AP / VISUM (L. + R.); EITAN STECHE WOLFGANG (M.) zwar nach deren eigenem Ver- Palästinensischer Selbstmordanschlag (2003 in Haifa), Springer-Storys: ständnis. Das wird sich nie mit dem decken, was wir im Westen ich notwendige Fragen stellen. Als Bürger, der sich schützend vor „Ich nehme unter Demokratie verstehen. diesen Staat stellt. Das ist mein politisches Engagement. auch zur Kenntnis, Warnen möchte ich aber noch Bissinger: Ihr Engagement, Herr Döpfner, entspringt das auch dass Israel davor, dass die Freiheitsrechte in Ihrem Bürgersinn? den USA selbst immer mehr ab- Döpfner: Mit Sicherheit nicht meinem Politikersinn, Journalismus Atomwaffen hat.“ gebaut werden. Wir müssen auf- ist mir lieber. Ich fürchte, das Bürgertum ist nur noch in ver- passen, dass das nicht auf uns schüchterten Restbeständen vorhanden, und es müsste sich drin- übergreift. Dass wir aus berech- gend neu definieren. Die erste Schlagzeile der „Bild am Sonntag“ tigter Sorge und in Abwehr des Terrorismus zu einem System über Günter Grass lautete übrigens: „Der Bürger und sein kommen, in dem der Bürger nur ein verdächtiges Individuum ist, Schreck“. das möglichst präzise überwacht werden muss. Bissinger: Eine kräftige Zeile. Bevor wir in die 68er-Auseinan- Döpfner: Die berechtigte Kritik an Details darf nicht zu einem pau- dersetzung einsteigen, noch eine klärende Frage: Herr Döpfner, schalen Ressentiment werden. sind Sie Patriot? Grass: Reden Sie jetzt von mir? Döpfner: Ich vermute, ich bin es weniger als Günter Grass. Eine ab- Döpfner: Das war zunächst ganz allgemein gesagt. Aber Sie haben surde, unfreiwillige Ironie, möglicherweise. Der Begriff Patrio- recht, mit Ihrer Rede vor dem PEN-Kongress haben Sie dazu tismus erlebt ja im Moment eine rasante Renaissance. Aber Fah- beigetragen, in bestimmten Milieus ein wohliges Gefühl der nen- und Fußballfröhlichkeit machen noch keinen Patriotismus. Empörung über das gemeinsame Feindbild zu erzeugen. Ich bin Ich kann und will den Begriff so nicht annehmen. Patriotismus davon überzeugt, dass es das falsche Feindbild ist. Wir müssen auf- sollte man praktizieren, aber nicht darüber schwadronieren. Da passen, dass wir mit der Kritik nicht die falschen Konsequenzen klingt immer noch ein Scheppern im Ohr. ziehen, die dann heißen: faule Kompromisse, Anpassung, Ap- Bissinger: Und Sie, Herr Grass? peasement. Grass: Ich bin ausgesprochener Patriot. Der Philosoph Habermas Grass: Ich bin kein Pazifist. Ich bin in der Tat der Meinung, dass, hat den – leider nicht populären – aber für mich sehr brauchba- wenn die Verhandlung am Ende ist, dass dann auch mit militäri- ren Begriff des Verfassungspatrioten geprägt, der gelegentlich in scher Gewalt so etwas wie die Vorstufe zu einem Frieden er- den Feuilletons lächerlich gemacht wird. Unsere Verfassung, so reicht werden kann. beschädigt sie mittlerweile ist, ist ein Juwel. So was haben wir in Döpfner: Wenn Sie noch mal geboren würden und hätten die Mög- Deutschland noch nie gehabt. Die Hypotheken, die wir nach dem lichkeit, ein einflussreicher und die Welt verändernder Politiker Krieg mittlerweile in die dritte Generation hineintragen – das zu werden, würden Sie das lieber sein als Schriftsteller? Stichwort Holocaust ist genannt –, müssen bewusst in die näch- Grass: Nein. Ich bin in der Nazi-Zeit aufgewachsen, verblendet, bis sten Generationen getragen werden. Das ist eine nationale Auf- alles in Scherben fiel, und bis zum Schluss an den Endsieg glau- gabe. Die können wir weder nach Europa noch in die Globali- bend. Ich bin ein gebranntes Kind und habe meine Konsequenzen sierung delegieren. Das müssen wir in Deutschland leisten. Und gezogen und einen künstlerischen Beruf ergriffen. Und doch will wer das tut, der handelt als Patriot.

158 der spiegel 25/2006 CDU einig. Heute droht das zu bröckeln. Stichworte sind die schon erwähnte Industrielobby oder das großmäulige und wi- derliche Verhalten der oberen Etagen, der Banken, die einfach ab- sahnen, um im Jargon der „Bild“-Zeitung zu formulieren. Das ist grauenhafter, ungezügelter Kapitalismus. Döpfner: Oje. Das Problem unserer schwindenden wirtschaftli- chen Erfolge ist nicht ungezügelter Kapitalismus, sondern dass wir ein immer verklemmteres, negativeres Verhältnis zum Kapitalis- mus entwickeln. Dass wir – Stichwort Freiheitsfähigkeit – dem Ka- pitalismus und uns selbst nicht trauen und deswegen immer ver- suchen, ihn und uns selbst an die Zügel zu legen. Bissinger: Helmut Schmidt hat vom Kapitalismus als entfesseltem Raubtier gesprochen. Döpfner: Der Kapitalismus in Deutschland ist eine fett und träge gewordene Hauskatze. Herr Grass, wenn wir uns die Wirklichkeit in Deutschland angucken und vergleichen sie mit erfolgreich deregulierten Gesellschaften wie Australien oder Kanada, dann frage ich mich, warum wir das immer noch so ideologisch be- trachten. Warum vergleichen wir nicht einfach die Erfolgsmodel- le, in Europa etwa Irland und England, mit den Misserfolgs- modellen, etwa Frankreich und Deutschland: Dort geht die oh- nehin schon niedrige Arbeitslosigkeit runter, hier die hohe rauf. Dort steigt das Nettoeinkommen der privaten Haushalte, hier sinkt es. Dort ist Wachstum, hier Stagnation. Fragen Sie mal die Menschen, wo es ihnen besser geht. In Deutschland erhalten 41 Prozent der Wahlberechtigten ihre Bezüge überwiegend vom Staat. Das ist doch absurd. Wir können es ruhig zuspitzen: Bei uns kauft sich der Staat seine Wähler. Wir erleben es gerade wieder mit der neuen Bundesregierung. Das Problem ist nur: Regierun- gen schaffen keine Arbeitsplätze. Grass: Erklären Sie mal den Leuten, die heute arbeitslos sind, war- um gerade jetzt wieder die Gewinne explodieren und für die Menschen kein Mehrwert geschaffen wird. Da schluckt eine Fir- ma die andere, um Leute zu entlassen. Dafür soll ich den Kapi- „Israel ist ein Land, dessen Existenz gesichert werden muss“ talismus lieben? Ich mache mir eher Sorgen um den Kapitalismus. Als Sozialdemokrat würde ich meine Partei auffordern, den Ka- Döpfner: Das sind große Worte. Wissen Sie, der Verfassungspa- pitalismus zu retten, denn wir haben leider nur noch diese eine triotismus und der Sprachpatriotismus, der literarische Patriotis- Möglichkeit. Der Sozialismus kommunistischer Prägung hat völ- mus eines Thomas Mann, das ist natürlich sehr leicht anzuneh- lig versagt, das wissen wir; der men. Da empfinde auch ich so etwas wie Heimat. Aber: Darin er- Kapitalismus ist übriggeblieben. schöpft sich die Sache nicht. Mit der Flucht in diese Begriffe ma- Den müssen wir jetzt zivilisie- chen wir es uns zu einfach. Die Deutschen schwanken zwischen ren. Das hat Helmut Schmidt ge- verklemmtem Selbsthass und provinziellem Nationalismus. Aber meint, und der ist ja weiß Gott beim Patriotismus fehlt uns noch die Leichtigkeit. Vielleicht ist die kein Linker. Verkorkstheit der Deutschen im Umgang mit ihrem eigenen Land Döpfner: Also, die Aktion „Rettet und mit diesen Gefühlen aus historisch sehr erklärbaren Gründen den Kapitalismus“ können wir auch eines der Probleme, warum wir Deutschen immer noch in uns gemeinsam auf die Fahne besonderer Weise unberechenbar sind. schreiben. Wir werden uns nur Bissinger: Unberechenbar? nicht über die richtigen Metho- Döpfner: Ich bin der Meinung, Deutschland hat historisch seine Be- den einigen. Wenn das bedeutet, währungsprobe noch nicht bestanden. Vieles hat sich in den letz- dass man hierzulande nichts „Ich bin ten 50 Jahren in die richtige Richtung entwickelt, und vieles Wichtigeres zu tun hat, als sich ein spricht auch dafür, dass wir ein anderes Volk geworden sind. am Gehalt von Herrn Acker- nichtjüdischer Aber für mich ist der Beweis, ob Deutschland wirklich freiheits- mann abzuarbeiten, dann kann fähig ist, im umfassendsten Sinne, noch nicht erbracht. Deswegen ich nur sagen: „Gute Nacht, Zionist.“ bin ich etwas vorsichtig, was nicht ausschließt, dass ich mich für Deutschland!“ Natürlich gibt es dieses Land engagiere. Ich glaube, Kritik am eigenen Land ist auch in dem einen oder anderen auch eine Form von Liebe. Unternehmen schwarze Schafe. Die aber gibt’s auch unter Jour- Grass: Absolut. nalisten und Schriftstellern. Bissinger: Herr Grass, eine überraschende Aussage: Die Deut- Grass: In der Tat. schen haben ihre Bewährungsprobe noch nicht bestanden? Bissinger: Womit wir beim Thema wären: die Auseinanderset- Grass: Wir sind nach wie vor – zwar fortgeschritten – eine Schul- zung des Schriftstellers Günter Grass mit dem Springer-Verlag. Sie, Demokratie. Wir haben Leistung gebracht. Das Wirtschaftswun- Herr Döpfner, haben diesen Dialog angeregt. Günter Grass gehör- der, sicher, aber die größte Anstrengung waren die 14 Millionen te zu den Initiatoren eines Schriftsteller- und Intellektuellenauf- Flüchtlinge. Sie sind nicht in Lagern gehalten, sondern integriert rufs, die Springer-Zeitungen konsequent zu boykottieren. Er hat worden – und waren damit der Motor des Wirtschaftswunders. das bald 40 Jahre durchgehalten. Anlass für ihn damals waren Die Gefährdungen kamen, weil wir uns auf dem neugeschaffenen Attacken auf seinen Kollegen Heinrich Böll, der Springers „Bild“ Wohlstand ausgeruht haben. Unser Erfolgsrezept nach dem Krieg im SPIEGEL „faschistisch“ nannte und darauf von Springer-Blät- war, den Kapitalismus zu zügeln. Da waren sich sogar SPD und tern zum Freiwild erklärt wurde. Als Günter Grass ihm beisprang,

der spiegel 25/2006 159 Medien geriet er selbst ins Fadenkreuz: „Der Dichter mit der Dreck- schleuder“ war eine der harmloseren Beschimpfungen. Inzwi- schen ist viel passiert. Wollen Sie jetzt Burgfrieden schließen? Döpfner: Burgfrieden, das klingt für mich nach faulem Kompromiss, so als müssten wir ganz viel runterschlucken. Dafür sind wir bei- de nicht geeignet. Aber einen offenen Dialog: Wo kommt es her? Was hat dazu geführt? Und vielleicht, was können wir daraus ler- nen? Das wäre hilfreich. Ich meine, wenn man sich die Eskalation der Vergangenheit aus der heutigen Perspektive ansieht. Vieles ist wirklich nur noch schwer verständlich. Und zwar nicht nur für Menschen meiner Generation – ich bin Jahrgang 1963, ich war, als Böll Anfang 1972 den berühmten Artikel im SPIEGEL geschrieben hat, neun Jahre alt und hab mich mit Mäusezucht und Mädchen beschäftigt, aber nicht mit politischen Debatten; ich kenne sie also nur aus den Akten, aus der historischen Vermittlung heraus: Wie konnte es zu diesen Zuspitzungen kommen? Da ist ja wirklich auf beiden Seiten in einer Emotionalität und Radikalität ausgeteilt worden, dass man sich fragt: Was wollten die Intellektuellen da- mals, was die Studenten, und was wollte Axel Springer? Als sein Interpret allerdings bin ich denkbar ungeeignet, denn ich habe ihn nie kennengelernt. Anders als Günter Grass. Grass: Ich traf ihn 1965. Ich war 1961 aus Paris zurückgekommen, wo „Die Blechtrommel“ entstand. Willy Brandt amtierte als Re- gierender Bürgermeister in Berlin. Die Mauer wurde im August errichtet, im September waren Bundestagswahlen. Brandt ging als Kanzlerkandidat der SPD ins Rennen und hatte damit zu tun, die Studenten der Freien Universität abzuhalten, die Mauer zu er- stürmen – es hätte Tote gegeben. Damals hielt Konrad Adenauer seine berüchtigte Regensburger Rede, wo er Brandt seine un- eheliche Herkunft anlastete und ihn als Emigranten und quasi Va- terlandsverräter darstellte. Diese nicht zu verzeihende Diffamie- rung wurde wie ein Kavaliersdelikt in der Presse wahrgenommen.

Mich hat sie dazu gebracht – ich galt allgemein als unpolitisch oder / VISUM (L. + R.); MICHAEL H. EBNER (M.) STECHE WOLFGANG als Anarchist unter den Schriftstellern –, Brandt einige Male als Rot-grüne Regierungspolitiker Fischer, Schröder (2003), Kampagne in Redenschreiber zu helfen. Vier Jahre später dann wollte ich auf eigene Faust Wahlkampf machen und hatte Sorge, dass ich, wenn re keinen Einfluss.“ Dann habe ich ihm geschmeichelt, habe ich damit anfinge, ins Feuilleton abgeschoben werden würde. Ich gesagt: „Herr Springer, Ihr Verlag, die Zeitungen, sind Sie. Sie wollte aber im politischen Teil stehen. wollen mir doch nicht erzählen, dass Sie keinen Einfluss auf Ihre Bissinger: Und da sollte Ihnen Redakteure haben.“ Beim Abschied sagte er dann: „Ich will Axel Springer helfen? sehen, was ich für Sie tun kann.“ Meine erste Veranstaltung war Grass: Auf einem Flug nach in Hamburg – zusammen mit Karl Schiller –, und die Besprechung Amerika saß ich mit einem stand im politischen Teil der „Welt“. Springer-Journalisten zusammen Bissinger: Sie waren also erfolgreich bei Springer. und sprach mit ihm über meine Grass: Was ich mir im Nachhinein vorgeworfen habe, ist, dass ich Sorge. Der sagte nur: „Sie sollten später keinen Versuch gemacht habe, mit ihm ins Gespräch über vielleicht an Springer, der ist die 68er zu kommen. Ich hatte ja damals auszugleichen versucht. auch ein eitler Mensch, Sie soll- Vielleicht hätte das Wirkung auf seine Leute gehabt und darauf, die ten ihm persönlich einen Brief Auseinandersetzung, die dann zu Toten führte, nicht so eskalieren schreiben, vielleicht reagiert er zu lassen. Es ist meine einzige Begegnung mit Springer geblieben. darauf.“ Da habe ich ihm aus Döpfner: Halten Sie es eigentlich heute, nach allem, was passiert „Von Amerika einen handgeschriebe- ist, für möglich, dass Sie Axel Springer unrecht getan haben? Ausgewogenheit nen Brief geschickt, und als ich Grass: Ich habe Springer nie persönlich angegriffen. Ich habe kann keine zurückkam, lag eine Einladung mich gegen den Missbrauch seiner Pressemacht gewehrt. vor. Ich flog nach Hamburg; er Döpfner: Das hat er aber damals, glaube ich, anders empfunden. Rede sein.“ saß ganz oben im Verlag, hatte Ich kann Springer nur aus dem Gelesenen interpretieren. Manch- Richtung Osten eine große Fens- mal hatte ich das Gefühl: Da wollten eigentlich zwei Kräfte in der terfront. Wenn er sprach, zeigte Gesellschaft vergleichsweise Ähnliches: Nie wieder Krieg, nie er aus dem Fenster. Wir waren uns in einer Sache einig, dass es wieder Diktatur, nie wieder Rassismus. Aber sie haben sich aufs – keiner wusste, warum – zu einer Wiedervereinigung kommen Wüsteste in die Haare gekriegt. Das ist für mich nach wie vor ein würde. Die Teilung Deutschlands war nicht haltbar. Auch die Phänomen, das ich ergründen möchte. Weil die Eskalationen auf Mauer nicht. Springer hatte für mich etwas Don-Quijote-haftes. unterschiedliche Weise bis heute diesem Land und unserem Haus Was ja auch eine liebenswerte Figur ist. geschadet haben. Bissinger: Mindestens eine gute Voraussetzung dafür, ihn für Ihr Bissinger: Bis heute geschadet? Projekt zu gewinnen? Döpfner: Keine Frage. Bis heute. Durch Fehlwahrnehmungen und Grass: Er wollte wissen, was ich von ihm erwarte. Ich erzählte ihm: Fehlentwicklungen der Bundesrepublik. Durch eine Wagenburg- „Ich habe vor, für die Sozialdemokraten Wahlkampf zu machen; und Bunkermentalität in unserem Verlag. Und durch Klischees, ich weiß, Sie sind dagegen, Sie können das auch gern verreißen, die bis heute wirken. Es gab Vorwürfe, die grotesk sind. Axel aber bitte nicht im Feuilleton, im politischen Teil.“ Und dann Springer als Faschisten zu bezeichnen ist einfach zutiefst unge- sagte er: „Sie überschätzen mich, ich habe auf meine Redakteu- recht. Er war Antifaschist.

160 der spiegel 25/2006 Ich möchte Sie eigentlich bitten, lieber Herr Döpfner, doch die Größe aufzubringen, sich in aller Form und deutlich lesbar an ex- ponierter Stelle zu entschuldigen. Döpfner: Herr Grass, wenn man die frühen 68er-Schlüsseltexte liest, dann kann ich nur sagen, eine Entschuldigung müsste dort anfangen. Und wenn ich mir ansehe, was damals Böll im SPIEGEL geschrieben hat, dann ist das natürlich ganz schwer erträglich. Axel Springer ist dort mit den Adjektiven faschistisch und prä- faschistisch in Verbindung gebracht worden. Dann die zwei- oder dreimal auftauchende Sprachfigur von den Gräten des Karpfens, an denen er sich verschlucken möge; die ihm im Halse stecken bleiben mögen. Das kann man als indirekten Todeswunsch inter- pretieren. Ich habe mir sagen lassen, dass Axel Springer es auch so interpretiert hat. Und dass er bis zum Schluss, gerade unter die- ser Drohung, am meisten gelitten hat. Er hat gesagt: „Ich habe vie- le Morddrohungen und Todeswünsche in meinem Leben erhalten. Aber dieser hat mich am allermeisten geängstigt und ging mir am nächsten.“ Bissinger: Umso notwendiger, die Auseinandersetzung aufzu- arbeiten. Döpfner: Es ist wichtig, dass wir uns mit diesem Kapitel deutscher Geschichte und deutscher Pressegeschichte auseinandersetzen, dass man es sehr gründlich versucht aufzuarbeiten und zu do- kumentieren. Unser Haus hat ein Interesse daran, dass das geschieht. Ebenso, dass wir über die eigenen Fehler, die in der damaligen Zeit gemacht worden sind, offen und selbstkritisch sprechen. Das ist kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Zeichen von Souveränität. Es gilt zu ergründen: Warum ist un- ser Haus damals in so eine Bunker- und Barrikadenmenta- „Bild“: „Fast durchgängig vorgeführt worden“ lität hineingetrieben worden und hat zeitweise sogar das Grass: Ich stand zwischen den Fronten. Ich habe auf der einen gefährdet, was die Grundlage Seite den Protest der jungen Generation begrüßt. Weil Tiefschlaf für guten Journalismus ist, im Land herrschte. Wenn an den Unis gestreikt wurde, ging es um nämlich Pluralismus und Offen- „Eine besseres Mensa-Essen und nie um Politik. Dann startete die Pro- heit der Meinungen, auch Selbst- parteipolitische testbewegung in Berkeley und zog über Holland nach Berlin. In- kritik. Und warum haben ge- teressanterweise auf die Freie Universität, eine Campus-Uni- bildete Menschen, Studenten, Agenda versität nach amerikanischem Muster. damals in so verblendeter haben wir nicht.“ Bissinger: Dann kam es zur Eskalation … Weise agiert. Götz Aly hat das Grass: … ein Student wurde ermordet. Ich arbeitete damals an der in einem Essay beschreiben: Vorbereitung der Sozialdemokratischen Wählerinitiative mit Kurt „Die deutschen 68er waren ihren Eltern auf elende Weise Sontheimer, Günter Gaus, Arnulf Baring. Wir haben versucht, mit ähnlich.“ dem Bischof Scharf zu beschwichtigen. Wir hatten die Hassge- Bissinger: Ist es vorstellbar, dass Sie – wie andere Unternehmen sänge auf beiden Seiten. Links Rudi Dutschke, der auf seine Art auch – einen Historiker beschäftigen, der ein gültiges Dokument und Weise Fanatiker war; und rechts die Springer-Zeitungen. Der über die strittige Zeit vorlegt? Dem Ihr Archiv zur Verfügung Unterschied war: Auf der einen Seite junge Leute, auf der ande- steht, auch die Briefwechsel und Dokumente? ren Seite erwachsene Journalisten, die Verantwortung kannten Döpfner: Wir haben gerade ein Buch über Axel Springer heraus- und doch keinen kühlen Kopf bewahrten. Die dazu beigetragen gebracht, in dem Beiträge, gerade auch kritischer Zeitgenossen haben, dass sich beide Seiten immer weiter hochschaukelten. wie Egon Bahr, Otto Schily und Sten Nadolny veröffentlicht sind. Natürlich unter Duldung der Leitung des Hauses. Dafür trägt Wir haben vor einiger Zeit einen Kongress über die 68er-Bewe- Axel Springer Verantwortung. gung in unserem Haus gehabt. Und ich darf Ihnen verraten, dass Bissinger: Haben Sie sich deshalb so vehement für Heinrich Böll der Historiker Hans-Peter Schwarz an einer kritischen Biografie engagiert? Axel Springers arbeitet. Grass: Ich bin mit ihm nicht immer einer Meinung gewesen. Sei- Bissinger: Die 68er-Jahre liegen Jahrzehnte zurück. Was wird von ne Forderung „freies Geleit“ für Ulrike Meinhof entsprach nicht ihnen bleiben? meiner Meinung. Wir waren deshalb aber keine Feinde. Was Döpfner: Aus heutiger Sicht betrachtet, ergibt sich eine fast kuriose „ihr“ daraus gemacht habt, ich sage es zu Ihnen jetzt bewusst im Diagnose. Historisch recht gehabt hat in den meisten Punkten Plural, war eine Schande. Die Springer-Zeitungen haben sich bis Axel Springer. Die Wiedervereinigung ist in friedlicher Weise er- heute nicht – die Kinder leben noch – bei der Familie entschul- reicht worden und von neuem Nationalismus keine Spur. Der digt für das, was sie Heinrich Böll angetan haben. Kommunismus ist zusammengebrochen, und es hat sich gezeigt, Bissinger: Böll war nicht der alleinige „Feind“ des Hauses Sprin- dass er kein System ist, das den Menschen Heil bringt. Berlin ist ger. Sie gehörten mindestens ebenso dazu. die deutsche Hauptstadt. Die erfolgreichere Kampagne aber war Grass: Ich habe vergleichbare Angriffe erlebt, doch ich habe ein die der anderen. Denn sie hat bis heute die Wahrnehmung der anderes Gemüt, und ich weiß mich zu wehren. Was das Springer- Wirklichkeit stärker geprägt, als das, was die Blätter aus Axel Haus mit Böll angestellt hat, ist eine Schande für Ihre Zeitungen. Springers Verlag damals propagiert hatten. Herr Grass, in gewis-

der spiegel 25/2006 161 Medien ser Weise könnte man sagen: Der Zeitgeist sind Sie! Das, wofür Sie seit Jahrzehnten stehen, ist heute Zeitgeist, ist in weite Teile der bürgerlichen Gesellschaft eingedrungen. Es ist sozusagen Establishment. Grass: Sie reden von den zwei Lagern. Sie unterschlagen oder se- hen nicht – und das war damals auch der Fall –, dass es von An- fang an zwischen beiden Fronten einzelne Personen gab, zu de- nen ich mich zähle. Sie vergessen, dass es Rudi Dutschke war, der mich zum Feind Nummer eins ausgerufen hat. Weil ich mich zwar für den Studentenprotest, aber gegen die pseudorevolu- tionären Ziele ausgesprochen habe. Diese mittlere Position ist von Ihren Zeitungen nie wahrgenommen worden. Auch dass Leu- te wie Trittin und Fischer, die zu den 68er-Randgruppen gehör- ten, sich zu Bürgern gemausert und politische Verantwortung übernommen haben, ist ein Erfolg ohnegleichen und hätte eher Zustimmung verdient. Aber passiert ist das Gegenteil in Ihren Blättern. Sie sind wirklich festgenagelt worden als unfähig und untragbar in politischen Positionen. Das zeigt mir doch an, dass der Geist von 68 weiter verfolgt wird. Döpfner: Ist es nicht umgekehrt auch an der Zeit, dass sich die Intellektuellen, wenn man das mal so pauschal fassen will, einer selbstkritischen Revision unter- ziehen sollten: Was ist damals falsch gelaufen? Wo ist die kriti- Verlagsgründer Springer (1984), Autoren Grass, Böll auf SPD-Parteitag sche Auseinandersetzung mit den Beziehungen der 68er zur Döpfner: Ich glaube nicht, dass das ein 68er-Reflex war, sondern DDR und zur Stasi? Wann reden dass sie aus aktuellen Gründen kritisiert wurden. Es gibt nicht die „Der Geist wir wirklich Klartext über die „eine Blattlinie“ bei Axel Springer. Es wird immer wieder be- von 68 Verharmlosung der Terroristen, hauptet, dass es das früher gegeben habe. Ich kann nicht beur- wird weiter die von Mielkes und Wolfs Leu- teilen, wie viel davon Klischee und wie viel davon Wirklichkeit ten unterstützt wurden? Wann war. Ich kann Ihnen nur sagen: Heute ist es so nicht. Es gibt Bin- verfolgt.“ denkt einmal jemand selbstkri- nenpluralismus, und es gibt die Freiheit der Chefredakteure, ihre tisch darüber nach, ob die blind- Blätter so zu positionieren, wie sie es für richtig halten. Es gibt je- wütige Anti-Springer-Kampagne den Tag Beispiele für gegensätzliche Positionen in unseren Zei- damals die Brandanschläge auf Axel Springers Privathäuser, den tungen. Wir haben Werte, gesellschaftspolitische Werte, die in un- Bombenanschlag auf sein Hamburger Verlagshaus ausgelöst und seren Präambeln definiert sind. Das ist die deutsche und die eu- seinen Namen auf die Todeslisten der RAF befördert hat? ropäische Einheit; das ist das Existenzrecht des Staates Israel und Bissinger: Das ändert aber doch nichts an der Tatsache, dass Auf- die Aussöhnung mit den Juden; das ist die Unterstützung des klärung der Ereignisse dringend notwendig ist. transatlantischen Bündnisses; das ist die freie soziale Marktwirt- Döpfner: Ich sage ganz klar: Ich bin bereit im Hinblick auf 1968, für schaft, und das ist die Bekämpfung jeglicher Art von politischem den Axel Springer Verlag eine selbstkritische Revision zu führen. Totalitarismus. Diesen Prinzipien sind wir verpflichtet. Das heißt Ich finde das spannend und glaube, unser Haus kann daraus viel aber nicht, dass nicht hart kritisiert werden darf. lernen. Aber ich sehe leider keine Bestrebungen zu einer ebenso Bissinger: Warum kennen Sie als weiteres Prinzip nicht die Ver- selbstkritischen Debatte über die inhaltlichen Verirrungen der pflichtung zur Vielfalt? 68er-Bewegung. Da herrscht viel Selbstgerechtigkeit. Vielleicht Döpfner: Die gibt es, denn Journalismus ohne Vielfalt ist bere- könnte das ja ein Ergebnis unseres Gesprächs sein, dass Sie sich chenbarer Journalismus. Und den wollen wir nicht. Ich sage nicht, dafür einsetzen, das zu ändern. dass uns das jeden Tag gelingt, Herr Bissinger, ich bin weit entfernt Grass: Durch die 68er-Bewegung ist die Gesellschaft offener, frei- von Selbstgefälligkeit, aber ich sage Ihnen: Darum bemühen wir zügiger, zum Teil aber auch unverantwortlicher geworden. Durch uns. die Überbetonung des Individuums sind Dinge, für die sie anfangs Grass: Ich habe meine eigenen Erfahrungen gemacht. 1968 gab es großmäulig eingetreten waren – Solidarität beispielsweise –, ver- eine regelrechte Hasskampagne gegen Willy Brandt. Und im letz- lorengegangen. Die Überbetonung des Individuellen, der Selbst- ten Wahlkampf konnte ich die Tendenz der Springer-Zeitungen verwirklichung, die gern von rechts und links wahrgenommen zur CDU/CSU wieder erleben. Er war eine einzige Kampagne ge- wurde, hat uns auch im wirtschaftlichen Bereich zu schaffen ge- gen Rot-Grün. Von Ausgewogenheit kann keine Rede sein. macht. Döpfner: Aber Herr Grass, im Gegensatz zu Ihnen, der Sie seit Döpfner: Ich finde, die größte Errungenschaft der 68er-Bewegung Jahrzehnten Wahlkampf für die SPD machen, bemühen wir uns ist ein tiefwurzelnder antiautoritärer Reflex. Dass Autoritäten in wenigstens darum. Eine parteipolitische Agenda haben wir nicht. Frage gestellt werden, dieser Impuls sitzt seither in unseren Ge- Das können Sie auch daran ablesen, dass im Moment der Ein- nen. Das ist aus meiner Sicht unstreitig eine Errungenschaft. Aber druck entstehen könnte, die einzige Opposition, die es in Deutsch- es gibt auch Felder, auf denen die 68er Fehlentwicklungen be- land noch gibt, sind einige der Zeitungen unseres Hauses. Viele fördert haben. Technologiefeindlichkeit, Leistungs- beziehungs- unserer Zeitungen kritisieren die Regierungspolitik außerordent- weise Elitenfeindlichkeit sowie Kapitalismusfeindlichkeit. Diese lich hart. Es gibt eine Treue und Loyalität zu gesellschaftspoliti- Trias ist Zeitgeist geworden. Darunter leidet das Land bis heute. schen Grundsatzwerten, aber keine zu Politikern oder Parteien. Bissinger: Als die 68er erwachsen wurden und an die Regierung Bissinger: Aber Sie bestreiten doch nicht, dass die „Bild“-Zeitung kamen, sind sie fast durchgängig von den Blättern Ihres Hauses Kampagnen geführt hat und auch immer weiter führt, schon weil vorgeführt worden. das ein Teil ihrer Identität ist?

162 der spiegel 25/2006 Grass: Interessant, was Sie sagen. Jetzt weiß ich, warum ich das so viele Jahre durchgehalten habe, mich in Ihren Zeitungen nicht zu bewegen, geschweige denn, mit Ihnen Aufzug zu fahren. Für mich ist die „Bild“-Zeitung geschmacklos und abscheulich. Ich bleibe dabei: Sie appelliert – und das mit Kalkül – an die nied- rigsten Instinkte ihrer Leser. „Bild“ ist eine Droge, und viele ihrer Käufer sind Drogenabhängige. Sie sollten vielleicht in Ihre Grundsätze noch aufnehmen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Döpfner: Das steht doch schon im Grundgesetz. Grass: Dann sollten Sie das Grundgesetz den „Bild“-Redakteuren näherbringen. Bissinger: Gehörte nicht in Ihre Grundlinien hinein, dass Opfern journalistischer Berichterstattung Genugtuung verschafft werden muss? Amerikanische Blätter haben die vielgelesene Korrektur- spalte. Döpfner: Ja, wenn falsch berichtet worden ist, muss das korrigiert werden. Und zwar nicht nur durch eine Gegendarstellung, son- dern auch durch einen redaktionellen Widerruf. Ich finde die amerikanische Einrichtung der Korrekturspalte am festen Ort ausgesprochen sinnvoll. Das begrüße ich sehr. Bissinger: Eine letzte Frage an Sie beide: Wie stellen Sie sich die Rolle der Medien und der Intellektuellen für die künftige Ent- wicklung in diesem Land vor? Döpfner: Die Medien müssen vor allen Dingen neugierig bleiben

WOLFGANG STECHE / VISUM (L. + R.); NAGEL / ULLSTEIN BILDERDIENST (M. L.); K. KUHNIGK / DER SPIEGEL (M. R.) BILDERDIENST / ULLSTEIN / VISUM (L. + R.); NAGEL STECHE WOLFGANG und die andere Seite der Medaille zeigen. Manchmal sind Jour- in Dortmund (1972): Persönliche Verletzungen auf beiden Seiten nalisten zu sehr Herdentiere. Das kontroverse Element wird im- mer der Grundimpuls für guten Journalismus bleiben. Nicht die Döpfner: Wenn wir Kampagne als etwas Positives interpretieren, konstruktive Rolle. Danach soll bitte niemand rufen. Das ist nicht nämlich als ein journalistisches Dranbleiben, als Dinge scharf unsere Funktion. Von den Intellektuellen würde ich mir etwas zeichnen, überzeichnen, durch Wiederholungen deutlich machen, mehr Mut und Interesse für die wirklich kritischen Schlüsselthe- dann machen wir selbstverständlich Kampagnen. Wie im Übrigen men unserer Zukunft wünschen und etwas mehr Veränderungs- andere Zeitungen auch. Die Kampagne ist ein journalistisches bereitschaft und Klischee-Aversion dazu. Intellektuelle könnten Ur-Mittel. Die „Bild“-Zeitung tut alles, was sie tut, lauter und – anders als die Medien, die immer reagieren müssen – Vorden- wirksamer als andere Zeitungen. Das tut sie im Guten, und das ker sein, Avantgarde sein, Gestalter sein. tut sie auch, wenn sie Fehler macht. Es ist so einfach, die „Bild“- Grass: Es gab unter den Intellektuellen und auch unter den Zeitung von der Empore des guten Geschmacks aus zu kritisieren. Schriftstellern – ich zähle mich dazu – solches sehr früh. Dieje- Ich finde es langsam fast kläglich, wie sich manche Intellektuelle nigen beispielsweise, die für erneuerbare Energien eingetreten seit Jahrzehnten an ihr abarbeiten. Da gäbe es für substantielle sind; immer im Gegensatz zu Medienkritik ambitioniertere Ziele. Das ist ungefähr so, als wenn einem Großteil der Medien, in Wagnerianer ihren Hass auf die leichte Muse immer wieder an denen man nach wie vor auf Lehárs Operetten abreagieren. Atomkraft setzte – trotz Tscher- Grass: Es rührt mich fast, wie Sie „Bild“ verteidigen. Und das ge- nobyl. Heute beginnt der Pro- messen an dem, was Sie sich als Wertediskussion für Deutschland zess des Umdenkens bis in die wünschen. Für mich ist die „Bild“-Zeitung aus kaltem, offenbar großen Konzerne hinein. Da intellektuellem Kalkül ein Instrument des Appells an die nied- merken sie, dass Windkraft oder rigsten Instinkte. Da wird Schadenfreude mobilisiert, da wird ein Sonnenenergie Zukunftspro- Personenkult auf der einen Seite betrieben, ebenso wie ein jekte sind, die weiterverfolgt Niedermachen von Personen, wenn sie ihr zu groß geworden werden müssen. Was im Übri- sind, da geht es bis ins Privateste hinein. Da wird es regelrecht gen mich und die gesellschaft- widerlich. Ich sehe zu Ihren Grundwerten in Ihrer Präambel liche Einmischung betrifft – da „Es gibt Felder, auf einen absoluten Widerspruch. „Bild“ ist kein Ruhmesblatt. werde ich so weitermachen wie denen die 68er Bissinger: Sie haben mal gesagt, wenn „Bild“ nicht mehr anstößig bisher, also mich streitig zu Wort Fehlentwicklungen ist, dann muss ich mir Sorgen machen. melden. Ich bin mittlerweile in Döpfner: Das sehe ich auch heute so. einem Alter, in dem man sein befördert haben.“ Grass: Die „Bild“-Zeitung jedenfalls ist geprägt vom täglichen Haus bestellt, und auch nicht so Eindringen in das Privatleben öffentlicher Personen. vernagelt, dass ich sage, meine Döpfner: Größer als die Schlagzeilen der „Bild“-Zeitung ist gele- Ablehnung gegen die Zeitungen des Springer-Verlages ist etwas gentlich nur die Heuchelei mancher Prominenter, wenn sie sich Festgefügtes. Und ich wünschte mir, Herr Döpfner, nicht nur als Opfer stilisieren. Erst wollen sie von der Plattform profitieren, für mich, sondern für unser Land insgesamt, dass in Ihrem macht- und hinterher, wenn’s mal unangenehm wird, kritisieren sie, dass vollen Bereich ein Umdenken beginnt, ein größeres Differenzie- „Bild“ immer noch da ist. Wer Privates schützen will, kann das ren und – das sage ich jetzt als Grafiker – ein Feststellen der in der Regel auch. Oder haben Sie etwa über Schily, Künast, Trit- Grauwerte zwischen Schwarz und Weiß. Raus aus dem Lager- tin oder Köhler irgendwelche Homestorys gelesen? Aber wer mit denken, so dass ich vielleicht in späterer Zukunft, ohne scham- dem Privatleben Wahlkampf macht, der muss auch damit leben, haft erröten zu müssen, bereit sein kann, in der „Welt“ einen Ar- dass die Boulevardpresse da ist, wenn der Haussegen schief hängt. tikel oder ein Interview zu veröffentlichen. Ich jedenfalls traue Für die „Bild“-Zeitung gilt das Prinzip: Wer mit ihr im Aufzug Ihnen zu, dass Sie im Sinne dieses Gespräches im Springer-Kon- nach oben fährt, der fährt auch mit ihr im Aufzug nach unten. Die- zern bis zu Ihrer möglichen Kündigung wegen zu großer Libe- se Entscheidung muss jeder für sich selbst treffen. ralität daran arbeiten. ™

der spiegel 25/2006 163 SERVICE

Leserbriefe SPIEGEL-Verlag, Brandstwiete 19, 20457 Hamburg Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] Brandstwiete 19, 20457 Hamburg, Telefon (040) 3007-0 · Fax -2246 (Verlag), -2247 (Redaktion) Fragen zu SPIEGEL-Artikeln / Recherche E-Mail [email protected] ·SPIEGEL ONLINE www.spiegel.de Telefon: (040) 3007-2687 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] HERAUSGEBER Rudolf Augstein (1923 – 2002) KARLSRUHE Dietmar Hipp, Waldstraße 36, 76133 Karlsruhe, Tel. (0721) 22737, Fax 9204449 Nachdruckgenehmigungen CHEFREDAKTEUR Stefan Aust (V. i. S. d. P.) für Texte und Grafiken: MÜNCHEN Dinah Deckstein, Heiko Martens, Bettina Musall, Conny Nachdruck und Angebot in Lesezirkeln nur mit STELLV. CHEFREDAKTEURE Dr. Martin Doerry, Joachim Preuß Neumann, Lerchenfeldstraße 11, 80538 München, Tel. (089) 4545950, schriftlicher Genehmigung des Verlags. Das gilt auch Fax 45459525 DEUTSCHE POLITIK Leitung: Dietmar Pieper, Hans-Ulrich Stoldt STUTTGART für die Aufnahme in elektronische Datenbanken und (stellv.). Redaktion: Georg Bönisch, Annette Bruhns, Per Hinrichs, Felix Kurz, Eberhard Straße 73, 70173 Stuttgart, Tel. Mailboxes sowie für Vervielfältigungen auf CD-Rom. Carsten Holm (Hausmitteilung), Dr. Hans Michael Kloth, Bernd Kühnl, (0711) 664749-20, Fax 664749-22 : Deutschland, Österreich, Schweiz: Merlind Theile. Autoren, Reporter Henryk M. Broder, Dr. Thomas REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND Darnstädt, Hans-Joachim Noack, Hartmut Palmer, Dr. Klaus Wiegrefe Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966 AMSTERDAM Gerald Traufetter, Keizersgracht 431s, 1017 DJ Amster- HAUPTSTADTBÜRO Leitung: Gabor Steingart, Jan Fleischhauer E-Mail: [email protected] dam, Tel. (0031) 203306773, Fax 203306774 (stellv.), Konstantin von Hammerstein (stellv.). Redaktion Politik: übriges Ausland: Ralf Beste, Petra Bornhöft, Markus Feldenkirchen, Horand Knaup, BELGRAD Renate Flottau, Teodora Drajzera 36, 11000 Belgrad, New York Times Syndication Sales, Paris Roland Nelles, Ralf Neukirch, René Pfister, Alexander Szandar. Tel. (0038111) 2669987, Fax 3670356 Telefon: (00331) 53057650 Fax: (00331) 47421711 Reporter: Matthias Geyer, Marc Hujer. Redaktion Wirtschaft: Sven BOSTON Jörg Blech, 278 Elm Street, Somerville, MA 02144, für Fotos: Afhüppe, Markus Dettmer, Alexander Neubacher, Christian Reier- Tel. (001617) 6281596, Fax 6283137 mann, Wolfgang Johannes Reuter, Marcel Rosenbach, Michael Sauga Telefon: (040) 3007-2869 BRÜSSEL Frank Dohmen, Hans-Jürgen Schlamp. Autor: Dirk Koch, Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] Autoren: Dirk Kurbjuweit, Jürgen Leinemann Bd. Charlemagne 45, 1000 Brüssel, Tel. (00322) 2306108, Fax 2311436 DEUTSCHLAND Leitung: Clemens Höges, Michaela Schießl (stellv.). DER SPIEGEL auf CD-Rom und DVD ISTANBUL Annette Großbongardt, PK 12 Arnavutköy (Bogazici), Redaktion: Dominik Cziesche, Ulrike Demmer, Michael Fröhlingsdorf, 34345 Istanbul, Tel. (0090212) 2877456, Fax 2873047 Telefon: (040) 3007-3016 Fax: (040) 3007-3180 Ulrich Jaeger, Sebastian Knauer, Gunther Latsch, Udo Ludwig, Cor- E-Mail: [email protected] dula Meyer, Andreas Ulrich, Dr. Markus Verbeet. Autoren, Reporter: JERUSALEM Christoph Schult, P.O. Box 9369, Jerusalem 91093, Tel. www.spiegel.de/shop Jochen Bölsche, Jürgen Dahlkamp, Gisela Friedrichsen, Bruno Schrep (00972) 26447494, Fax 26447501 KAIRO Volkhard Windfuhr, Bernhard Zand, 18, Shari’ Al Fawakih, Bestellung von Einzelheften / älteren Ausgaben BERLINER BÜRO Leitung: Heiner Schimmöller, Stefan Berg (stellv.). Redaktion: Markus Deggerich, Irina Repke, Sven Röbel, Caroline Muhandisin, Kairo, Tel. (00202) 7604944, Fax 7607655 Telefon: (040) 3007-2948 Fax: (040) 3007-857050 Schmidt, Michael Sontheimer, Holger Stark, Andreas Wassermann, LONDON Thomas Hüetlin, Studio 5B, 9-15 Neal Street, London E-Mail: [email protected] Peter Wensierski WC2H 9PU, Tel. (0044207) 2401324, Fax 2400246 Abonnenten-Service WIRTSCHAFT Leitung: Armin Mahler, Thomas Tuma. Redaktion: MADRID Helene Zuber, Apartado Postal Número 100 64, Persönlich erreichbar Mo. – Fr. 8.00 – 19.00 Uhr Beat Balzli, Julia Bonstein, Markus Brauck, Dietmar Hawranek, 28080 Madrid, Tel. (003491) 3910575, Fax 3192968 Alexander Jung, Klaus-Peter Kerbusk, Nils Klawitter, Jörg Schmitt, SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, MOSKAU Walter Mayr, Uwe Klußmann. Autor: Jörg R. Mettke, Thomas Schulz, Janko Tietz 20637 Hamburg Ul. Bol. Dmitrowka 7/5, Haus 2, 125009 Moskau, Tel. (007495) AUSLAND Leitung: Hans Hoyng, Dr. Gerhard Spörl, Dr. Christian 96020-95, Fax 96020-97 Umzug/Urlaub: 01801 / 22 11 33 zum Ortstarif Neef (stellv.). Redaktion: Dieter Bednarz, Dr. Carolin Emcke, Man- Fax: (040) 3007-857003 fred Ertel, Rüdiger Falksohn, Joachim Hoelzgen, Siegesmund von NAIROBI Thilo Thielke, P.O. Box 1361, 00606 Nairobi, Fax 00254- 204181559 Zustellung: 01801 / 66 11 66 zum Ortstarif Ilsemann, Jan Puhl, Mathieu von Rohr, Daniel Steinvorth. Autoren, Fax: (040) 3007-857006 Reporter: Dr. Erich Follath, Dr. Olaf Ihlau, Susanne Koelbl, Erich NEW DELHI Padma Rao, 101, Golf Links, New Delhi 110003, Tel. Wiedemann (009111) 24652118, Fax 24652739 Service allgemein: (040) 3007-2700 WISSENSCHAFT UND TECHNIK Leitung: Johann Grolle, Olaf NEW YORK Frank Hornig, Alexander Osang, 516 Fifth Avenue, Pent- Fax: (040) 3007-3070 Stampf. Redaktion: Dr. Philip Bethge, Rafaela von Bredow, Manfred house, New York, N Y 10036, Tel. (001212) 2217583, Fax 3026258 E-Mail: [email protected] Dworschak, Marco Evers, Dr. Veronika Hackenbroch, Julia Koch, PARIS Dr. Stefan Simons, 12, Rue de Castiglione, 75001 Paris, Tel. Beate Lakotta, Hilmar Schmundt, Matthias Schulz, Katja Thimm, (00331) 58625120, Fax 42960822 Abonnenten-Service Schweiz Christian Wüst DER SPIEGEL, Postfach, 6002 Luzern PEKING Andreas Lorenz, Sanlitun Dongsanjie Gongyu 2-1-31, KULTUR Leitung: Dr. Romain Leick, Matthias Matussek. Redaktion: Peking 100 600, Tel. (008610) 65323541, Fax 65325453 Telefon: (0041) 41-329 22 55 Fax: (0041) 41-329 22 04 Verena Araghi, Lars-Olav Beier, Susanne Beyer, Nikolaus von Fes- E-Mail: [email protected] tenberg, Angela Gatterburg, Doja Hacker, Dr. Volker Hage, Ulrike PRAG Jilská 8, 11000 Prag, Tel. + Fax (00420) 2-24220138, 2-24221524 Abonnement für Blinde Knöfel, Dr. Joachim Kronsbein, Dr. Johannes Saltzwedel, Elke RIO DE JANEIRO Jens Glüsing, Caixa Postal 56071, AC Urca, Schmitter, Klaus Umbach, Moritz von Uslar, Claudia Voigt, Mari- Rio de Janeiro-RJ, CEP 22290-970, Tel. (005521) 2275-1204, Fax 2543- Audio Version, Deutsche Blindenstudienanstalt e. V. anne Wellershoff, Martin Wolf. Autoren: Wolfgang Höbel, Urs Jenny, 9011 Telefon: (06421) 606265 Fax: (06421) 606259 Dr. Mathias Schreiber ROM Alexander Smoltczyk, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (003906) E-Mail: [email protected] GESELLSCHAFT Leitung: Lothar Gorris, Cordt Schnibben. Redak- 6797522, Fax 6797768 tion: Anke Dürr, Fiona Ehlers, Hauke Goos, Barbara Hardinghaus, Elektronische Version, Stiftung Blindenanstalt : SHANGHAI Dr. Wieland Wagner, Grosvenor House 8 E/F, Jinjiang Frankfurt am Main Ralf Hoppe, Ansbert Kneip. Reporter Klaus Brinkbäumer, Uwe Hotel, 59 Maoming Rd. (S), Shanghai 200020, Tel. (008621) 54652020, Telefon: (069) 955124-15 Fax: (069) 5976296 Buse, Ullrich Fichtner, Jochen-Martin Gutsch, Barbara Supp Fax 54653311 SPORT Leitung: Alfred Weinzierl. Redaktion: Maik Großekathöfer, E-Mail: [email protected] SINGAPUR Jürgen Kremb, Bureau Southeast Asia / Pacific, 59 A, Detlef Hacke, Jörg Kramer, Gerhard Pfeil, Michael Wulzinger Merryn Road, 298530 Singapur, Tel. (0065) 62542871, Fax 62546971 Abonnementspreise SONDERTHEMEN Leitung: Stephan Burgdorff, Norbert F. Pötzl Inland: zwölf Monate ¤ 166,40 (stellv.). Redaktion: Karen Andresen, Horst Beckmann, Wolfram WARSCHAU P.O.Box 31, ul. Waszyngtona 26, PL- 03-912 Warschau, Sonntagszustellung per Eilboten Inland: ¤ 494,00 Bickerich, Joachim Mohr, Manfred Schniedenharn, Peter Stolle, Tel. (004822) 6179295, Fax 6179365 Studenten Inland: zwölf Monate ¤ 114,40 inkl. Dr. Rainer Traub, Kirsten Wiedner WASHINGTON Georg Mascolo, 1202 National Press Building, Wa- 6-mal UniSPIEGEL PERSONALIEN Dr. Manfred Weber; Petra Kleinau, Katharina Stegel- shington, D.C. 20 045, Tel. (001202) 3475222, Fax 3473194 Schweiz: zwölf Monate sfr 291,20 mann WIEN Marion Kraske, Herrengasse 6-8/81, 1010 Wien, Tel. (00431) 5331732, Fax 5331732-10 Europa: zwölf Monate ¤ 221,00 CHEF VOM DIENST Thomas Schäfer, Karl-Heinz Körner (stellv.), Außerhalb Europas: zwölf Monate ¤ 299,00 Katharina Lüken (stellv.), Holger Wolters (stellv.) DER SPIEGEL als E-Paper: zwölf Monate ¤ 166,40 SCHLUSSREDAKTION Gesine Block, Regine Brandt, Reinhold Buss- DOKUMENTATION Dr. Hauke Janssen, Axel Pult (stellv.), Peter Wahle Halbjahresaufträge und befristete Abonnements mann, Lutz Diedrichs, Dieter Gellrich, Bianca Hunekuhl, Anke Jen- (stellv.); Jörg-Hinrich Ahrens, Dr. Anja Bednarz, Ulrich Booms, werden anteilig berechnet. sen, Maika Kunze, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Manfred Petersen, Dr. Helmut Bott, Viola Broecker, Dr. Heiko Buschke, Heinz Egleder, ✂ Gero Richter-Rethwisch, Hans-Eckhard Segner, Tapio Sirkka, Ulrike Johannes Eltzschig, Johannes Erasmus, Klaus Falkenberg, Cordelia Abonnementsbestellung Wallenfels Freiwald, Anne-Sophie Fröhlich, Dr. André Geicke, Silke Geister, Catrin Hammy, Thorsten Hapke, Susanne Heitker, Carsten Hellberg, bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an BILDREDAKTION Michael Rabanus (verantwortlich für Innere Heft- SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, Stephanie Hoffmann, Christa von Holtzapfel, Bertolt Hunger, Joachim gestaltung), Claudia Jeczawitz, Claus-Dieter Schmidt, Anke Well- Immisch, Marie-Odile Jonot-Langheim, Michael Jürgens, Renate 20637 Hamburg – oder per Fax: (040) 3007-3070. nitz; Sabine Döttling, Torsten Feldstein, Thorsten Gerke, Heidrun Kemper-Gussek, Jan Kerbusk, Ulrich Klötzer, Angela Köllisch, Anna Günther, Andrea Huss, Antje Klein, Elisabeth Kolb, Peer Peters, Kovac, Sonny Krauspe, Peter Kühn, Peter Lakemeier, Dr. Walter Ich bestelle den SPIEGEL Dilia Regnier, Sabine Sauer, Karin Weinberg. E-Mail: bildred@ für ¤ 3,20 pro Ausgabe (Normallieferung) Lehmann, Michael Lindner, Dr. Petra Ludwig-Sidow, Rainer Lübbert, ❏ spiegel.de Dr. Andreas Meyhoff, Gerhard Minich, Cornelia Moormann, Tobias ❏ für ¤ 9,50 pro Ausgabe (Eilbotenzustellung am SPIEGEL Foto USA: Matthias Krug, Tel. (001310) 2341916 Mulot, Bernd Musa, Werner Nielsen, Margret Nitsche, Sandra Öfner, Sonntag) mit dem Recht, jederzeit zu kündigen. GRAFIK Martin Brinker, Gernot Matzke; Cornelia Baumermann, Thorsten Oltmer, Andreas M. Peets, Thomas Riedel, Andrea Sauer- Das Geld für bezahlte, aber noch nicht gelieferte Renata Biendarra, Ludger Bollen, Thomas Hammer, Tiina Hurme, bier, Maximilian Schäfer, Rolf G. Schierhorn, Dr. Regina Schlüter- Hefte bekomme ich zurück. Cornelia Pfauter, Julia Saur, Michael Walter Ahrens, Mario Schmidt, Andrea Schumann-Eckert, Ulla Siegentha- Zusätzlich erhalte ich den KulturSPIEGEL, LAYOUT Wolfgang Busching, Ralf Geilhufe, Reinhilde Wurst; Micha- ler, Margret Spohn, Rainer Staudhammer, Dr. Claudia Stodte, Stefan das monatliche Programm-Magazin. el Abke, Christel Basilon, Katrin Bollmann, Claudia Franke, Petra Storz, Rainer Szimm, Dr. Eckart Teichert, Hans-Jürgen Vogt, Carsten Bitte liefern Sie den SPIEGEL an: Gronau, Jens Kuppi, Sebastian Raulf, Barbara Rödiger, Martina Treu- Voigt, Ursula Wamser, Peter Wetter, Andrea Wilkens, Holger Wilkop, mann, Doris Wilhelm Karl-Henning Windelbandt Sonderhefte: Rainer Sennewald LESER-SERVICE Catherine Stockinger PRODUKTION Christiane Stauder, Petra Thormann Name, Vorname des neuen Abonnenten NACHRICHTENDIENSTE AFP, AP, dpa, Los Angeles Times / TITELBILD Stefan Kiefer; Iris Kuhlmann, Gershom Schwalfenberg, Washington Post, New York Times, Reuters, sid Arne Vogt SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG Straße, Hausnummer oder Postfach REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND BERLIN Pariser Platz 4a, 10117 Berlin; Deutsche Politik, Wirtschaft Verantwortlich für Anzeigen: Jörg Keimer Tel. (030) 886688-100, Fax 886688-111; Deutschland, Wissenschaft, Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 60 vom 1. Januar 2006 PLZ, Ort Kultur, Gesellschaft Tel. (030) 886688-200, Fax 886688-222 Mediaunterlagen und Tarife: Tel. (040) 3007-2475 BONN Combahnstraße 24, 53225 Bonn, Tel. (0228) 26703-0, Fax Postbank AG Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 Ich zahle 26703-20 1 Verantwortlich für Vertrieb: Thomas Hass ❏ bequem und bargeldlos per Bankeinzug ( /4-jährl.) DRESDEN Steffen Winter, Königsbrücker Straße 17, 01099 Dresden, Tel. (0351) 26620-0, Fax 26620-20 Druck: Prinovis, Itzehoe Prinovis, Dresden Bankleitzahl Konto-Nr. DÜSSELDORF Andrea Brandt, Guido Kleinhubbert, Sebastian Ramspeck, Barbara Schmid-Schalenbach, Carlsplatz 14/15, MARKETINGLEITUNG Christian Schlottau 40213 Düsseldorf, Tel. (0211) 86679-01, Fax 86679-11 VERLAGSLEITUNG Fried von Bismarck, Matthias Schmolz Geldinstitut FRANKFURT AM MAIN Matthias Bartsch, Christoph Pauly, Ober- lindau 80, 60323 Frankfurt am Main, Tel. (069) 9712680, Fax 97126820 GESCHÄFTSFÜHRUNG Karl Dietrich Seikel ❏ nach Erhalt der Jahresrechnung. Ein Widerrufs- recht besteht nicht. DER SPIEGEL (USPS No. 0154-520) is published weekly. The subscription price for the USA is $310 per annum. K.O.P.: German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. Telephone: 1-800-457-4443. E-mail: Datum, Unterschrift des neuen Abonnenten SP06-001-WT127 [email protected]. Periodicals postage is paid at Englewood, NJ 07631, and at additional mailing offices. Postmaster: Send address changes to: DER SPIEGEL, German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631.

164 der spiegel 25/2006 Chronik 10. bis 16. Juni SPIEGEL TV

SAMSTAG, 10.6. für rund 800 Millionen Euro auch in DONNERSTAG, 22. 6. Spannungsgebiete liefere. 21.55 – 22.50 UHR VOX MENSCHENRECHTE Im US-Gefangenen- lager Guantanamo auf Kuba haben sich DIENSTAG, 13. 6. SPIEGEL TV EXTRA nach Militärangaben drei Insassen er- Die Häppchenmacher – hängt. BLITZBESUCH US-Präsident George W. Catering für die Wüstensöhne Bush trifft für einen fünfstündigen Besuch Seit zwei Jahren gastiert der interna- NPD In Gelsenkirchen demonstrieren im Irak ein. Der irakische Regierungschef prominente SPD- und CDU-Politiker ge- tionale Rennzirkus im Königreich von Nuri al-Maliki kündigt einen neuen Bahrein. Für das leibliche Wohl von gen einen Aufmarsch von 200 NPD- Großeinsatz gegen Aufständische an. Anhängern zum Beginn der Fußballwelt- Gastgebern, Fahrern und prominenten Fans hat die königliche Familie einen meisterschaft. MITTWOCH, 14. 6. Münchner Partygastronom engagiert. Ein SONNTAG, 11. 6. BETRUG Der US-Rechnungshof stellt die Team von 120 Mitarbeitern ist rund um Veruntreuung von mindestens 1,4 Milliar- die Uhr im Einsatz, um den Gepflogen- IRAK Nach dem Tod von al-Qaida-Führer den US-Dollar fest, die als Hilfsgelder heiten orientalischer Gastfreundschaft Abu Mussab al-Sarkawi verübt die Extre- nach den Hurrikanen „Katrina“ und gerecht zu werden. SPIEGEL TV beglei- mistenorganisation neue Anschläge in „Rita“ ausgezahlt wurden. tet das Catering-Team beim Einsatz in Bagdad. Mehrere Menschen sterben der Wüste. durch eine Autobombe. HARTZ IV Der CSU-Abgeordnete Stefan Müller fordert die tägliche Meldepflicht FREITAG, 23. 6. FÖDERALISMUS Der Vorsitzende der von Langzeitarbeitslosen und deren Ein- 21.50 – 23.50 UHR VOX CDU/CSU-Bundestagsfraktion Volker satz für gemeinnützige Arbeiten. Kauder warnt die SPD vor einem Schei- SPIEGEL TV THEMA WM In Dortmund beschießen Hooligans tern der Förderalismusreform durch „Alles aus Zucker!“ – Nachforderungen im Bildungsbereich. die Polizei mit Signalraketen. 300 Randa- lierer werden festgenommen. das Geschäft mit den Naschwaren MONTAG, 12. 6. Wer in Kaufhäusern, Supermärkten oder DONNERSTAG, 15. 6. Spezialgeschäften vor Regalen mit Süßig- WAFFENHANDEL In einem neuen Bericht EU Die Europäische Union könne auch kritisiert Amnesty International die ohne Großbritannien leben, sagt Luxem- Volksrepublik China, die jährlich Waffen burgs Regierungschef Jean- Claude Juncker vor dem Gipfel zur Verfassungskrise in Brüssel. BÜRGERKRIEG In Sri Lanka bombardiert die Luftwaffe – trotz eines Waffenstill- standes – das Rebellenge- Pralinenherstellung biet der aufständischen Tamilen. keiten steht, hat eine riesige Auswahl. Und Jahr für Jahr bringt die Branche ver- FREITAG, 16. 6. führerische Neuigkeiten auf den Markt. PALÄSTINA In Abstimmung SPIEGEL TV Thema über kalte Kalori- mit Russland, den USA und enbomben, zartschmelzende Kakaoboh- der Uno will Brüssel über nen und vergänglichen Genuss. die EU-Vertretung und die SAMSTAG, 24. 6. Weltbank die Palästinenser- 21.55 – 23.55 UHR VOX gebiete direkt mit 100 Millio- nen Euro unterstützen, ohne SPIEGEL TV SPECIAL dabei die radikal-islamische Hamas-Regierung zu finan- Die Lebensretter – zieren. wie Ärzte schwerkranken Kindern helfen SPIEGEL TV begleitet Kinder und ihre ÄRZTESTREIK Der Marburger Familien vor und nach schweren Opera- Bund und die Tarifgemein- tionen und dokumentiert dabei die Ar- schaft der Länder einigen beit der Ärzte und Krankenschwestern. sich nach monatelangen Es ist eine Expedition in die Grenzberei- Streiks auf einen neuen Ta- che der modernen Hightech-Medizin, rifvertrag für die 22000 Ärz- durch die es heute möglich ist, das Leben te an Unikliniken. der Kinder zu retten.

CDU Der hessische Minister- SONNTAG, 25. 6. präsident Roland Koch RTL will auf Bitte von Kanzlerin Angela Merkel für das SPIEGEL TV MAGAZIN COLOURPRESS Amt des stellvertretenden Braunbär Bruno blamiert seine Verfolger: Bis vergangenen Diese Sendung entfällt wegen eines Son- Parteivorsitzenden kandi- Freitag konnte das Tier in Tirol wildern, trotz derprogramms auf RTL. finnischer Spürhunde und amerikanischer Spezialfalle. dieren.

der spiegel 25/2006 165 Register

gestorben bei Prozessen Ende der neunziger Jahre ans Licht: Bosse der irischen Wirtschaft hat- György Ligeti, 83. Bis in Stanley Kubricks ten ihn seit 1979 mit mindestens zehn Mil- Weltraumepos „2001“ haben es seine irisie- lionen Euro geschmiert. Charles J. Haughey renden Orchesterklänge geschafft. Dabei starb am 13. Juni in Kinsealy bei Dublin. wollte der Siebenbür- gener, dessen unstill- Kenneth Thomson, 82. Sein Vater vererb- bare akustische Neu- te ihm – außer einigen Fernsehsendern, gier Epoche gemacht Reisebüros und Ölbohrungen in der Nord- hat, anfangs Biochemi- see – 148 Zeitungen und 138 Zeitschriften: ker oder Mathematiker darunter „Times“ und „Sunday Times“. werden. Erst 1945, nach Er selbst hinterlässt einen der weltgröß- Zwangsarbeit für die ten Anbieter elektronischer Datenbanken Armee im besetzten mit 40500 Angestellten und acht Milliar-

Ungarn, dem Tod vie- MEYER / AFPDAMIEN den Euro Umsatz. „Times“ und „Sunday ler Angehöriger in Ver- Times“ verkaufte Thomson bereits 1981 nichtungslagern und einer Flucht ums nack- an den australischen Verleger Rupert te Leben, entschied er sich endgültig für Murdoch, weil er anders als sein Vater nicht seine Urleidenschaft, die Töne. Eine zwei- willens war, die bei-

ANTONIO SCORZA / AFP ANTONIO te Flucht – 1956, beim Sowjet-Einmarsch – den Renommierblätter verschlug ihn nach Köln, in die Pionierzeit weiter mit Millionenbe- der elektronischen Musik. Knöpfe und Reg- trägen durchzufüttern. ler jedoch fand sein entdeckerischer Geist Im Jahr 2000 trennte er bald nicht mehr attraktiv. Lieber ließ er sich von 130 nordame- sich von außereuropäischen Traditionen rikanischen Zeitungen, anregen oder stellte 100 Metronome auf, zwei Jahre später über- aus deren chaotischem Ticken erst ein gab er an seinen Sohn.

Rhythmengefüge, dann Stille hervorwächst. / INTER-TOPICS LANDOV Der reichste Mann Ka- Immer wieder hat er Schwingungen und nadas und der – laut Zeitmaße so überlagert, dass die ver- „Forbes“ – neuntreichste der Welt flog Eco- schwimmenden Details neue Klangräume nomy Class, und angeblich hat ihm, um erzeugten, und mit unbändig ironischer Geld zu sparen, seine Frau die Haare ge- Formlust dem Herdentrieb der Avantgarde schnitten. Seine Leidenschaft galt dem getrotzt: Als alle die Oper für tot erklärt Sammeln von Kunst. Den „Bethlehemiti- hatten, schrieb er eine – über den Gaukler schen Kindermord“ von Peter Paul Rubens Tod, „Le Grand Macabre“, der irgendwann erwarb er für 45 Millionen Pfund. Kenneth auch die Pfiffigsten einholt. György Ligeti Thomson starb am 12. Juni in Toronto. starb am 12. Juni in Wien. Hubertus Czernin, 50. Beispiellos prin- Charles J. Haughey, 80. Kein Politiker zipienfest widmete sich der Publizist und Irlands war so umstritten wie der vier- Verleger aus altem österreichischem Adel malige Premierminister – und keiner wurde den Skandalen der Alpenrepublik. Schon in seinem Amt so reich. als 30-Jähriger deckte er im Magazin Als Frauenheld war er „Profil“ die NS-Vergangenheit des späte- legendär, sein dunkles ren Bundespräsidenten Kurt Waldheim auf; Charisma berüchtigt. auch über den Rechtsaußen Jörg Haider Während der 30 Jahre, berichtete er regelmäßig. Seit 1992 war in denen er ein Haupt- Czernin Herausgeber und Chefredakteur darsteller irischer Poli- von „Profil“. Ein Titelblatt, das den Kanz- tik war, nannten sie ihn ler Franz Vranitzky in einer Fotomontage „Houdini“ – wie kein nackt zeigte, führte 1996 zur Entlassung

Zweiter verstand er es, / CINETEXT ALLSTAR des unerschrockenen Enthüllers. Seither sich aus seinen vielen schrieb der studierte Historiker Bücher, Skandalen herauszuwinden. Schon 1970 war zuletzt in einem eigenen Verlag – zum er als Finanzminister über Vorwürfe ge- Beispiel über den Kunstraub und die, wie stürzt, er sei am Waffenschmuggel für die er es nannte, „Austrianisierung“ während IRA beteiligt – neun Jahre später wurde er der NS-Zeit. Die Entscheidung Anfang des zum ersten Mal Premierminister. Als er 1987 Jahres im Fall Bloch- zum dritten Mal ans Ruder kam, legte er Bauer, fünf viele Mil- mit harten Reformen den Grundstein für lionen teure Klimt- Irlands Wirtschaftsaufschwung. Seine Par- Gemälde an die Erben tei, Fianna Fáil, spaltete er als Vorsitzender zu restituieren, war in Bewunderer und erbitterte Gegner. Bei sein letzter Triumph. seinem erzwungenen Abschied aus der Poli- Hubertus Czernin, der tik 1992 verfügte er unter anderem über eine an einer seltenen Zell- Privatinsel, einen Rennstall und einen Land- krankheit litt, starb am

sitz – das ganze Ausmaß der Korruption kam PETER LEHNER 10. Juni in Wien.

166 der spiegel 25/2006 Personalien

Angelika Beer, 49, Europa-Abgeordnete Fischer, er habe damals „zwar die Partei und vormalige Wehrexpertin der Grünen gewechselt“, sei „aber im Herzen immer im Bundestag, hat für diese Woche einen ein Liberaler geblieben“. Schnupperkurs beim Bund belegt. An der Panzertruppenschule in Munster will die Norbert Lammert, 57, Bundestagspräsi- Politikerin – ausgestattet mit dem „vorläu- dent (CDU), kämpft auf internationaler figen Dienstgrad“ eines Oberleutnants – Ebene für Deutschland. In Briefen an die zu einer Kurzwehrübung einrücken. Das Präsidentenkollegen von EU-Kommission Gründungsmitglied der Ökopax-Partei und -Parlament, beschwerte sich der mei- kämpfte im Bundestag für die Verkleine- nungsfreudige Politiker darüber, dass nur rung der Bundeswehr auf 200000 Soldaten englische Vorlagen verbreitet würden, ob- und Abschaffung der Wehrpflicht. Nun wohl „die deutsche Sprache vertraglich

wirbt Beer für mehr Mitspracherechte vorgesehen“ sei. Im Bonner Presseclub IMO THOMAS des Europa-Parlaments bei militärischen verwies der zweithöchste Repräsentant des Lammert Auslandsmissionen. Sie wolle „nicht nur über Einsätze entscheiden, sondern auch ein Gefühl dafür bekommen, was das Charlotte Church, 20, mit über zehn Millionen verkauften Alben international er- im Inneren für die Streitkräfte bedeutet“. folgreichste Klassik-Crossover-Sängerin aus Großbritannien, hält wenig bis nichts von Noch vor einigen Jah- Gesangstechnik und -theorie. Die Ausnahmekünstlerin, die als jüngste Sopranistin ren konnte sie sich ihrer Heimat gefeiert wurde und mit 13 Jahren ihre erste Platte veröffentlichte zwar „nicht vorstel- („Voice of an Angel“), erklärte fast alle Trainer, die sie in ihrer beachtlichen Lauf- len, eine Bundeswehr- bahn kennengelernt hat, kurzerhand zu „Dummköpfen“. Das Gelaber über diese Uniform anzuziehen“. oder jene Methode sei völlig übertrieben. „Für mich klang das immer, als würden Aber nachdem sie bei sie über Geburtsvorbereitung schwadronieren“ und nicht über den simplen Vorgang, etlichen Rekrutenge- „den Mund zu öffnen und zu singen“, meint das Naturtalent. löbnissen die Festan- sprache gehalten hat, möchte sie nun auch Church selbst sechs Tage lang

NASS / T&T NASS „Kameradschaft mit- Beer erleben“. Der Dienst- plan bietet dazu das gemeinsame „Überwinden von Hinder- nissen im Klettergarten“ an, ein Wett- schießen mit Handfeuerwaffen – und ei- nige „Kameradschaftsabende“.

Diether Dehm, 56, Mitglied der Links- fraktion des Deutschen Bundestags, legt gesteigerten Wert auf gutbürgerliche Um- gangsformen. Er monierte gegenüber dem Bundestagspräsidium, dass er schon drei- mal im Plenum gesprochen habe, und jedes Mal sei er „nicht mit dem üblicherweise zum Namen gehörenden akademischen Grad“ betitelt worden. Deshalb bäte er nun darum, „das doch vom Grundsatz her in Ordnung zu bringen“. Dehm, früher als Musikmanager und Songschreiber tätig, ist studierter Sonder- und Heilpädagoge. 1975 promovierte er zum Dr. phil.

Günter Verheugen, 62, Vizepräsident der EU-Kommission in Brüssel, bekennt sich zu seinen politischen Wurzeln. Zum ersten Mal seit 1982, als er von der FDP zur SPD wechselte, weil seine Freidemokraten sich von den Sozialdemokraten ab- und der CDU zugewandt hatten, nahm er jetzt wie- der an einer FDP-Veranstaltung teil. Mit der Brüsseler Auslandsgruppe der Libe- ralen diskutierte der Genosse „aktuelle europapolitische Fragen“. Als dabei auch seine aktuelle parteipolitische Orientierung zur Sprache kam, bekannte der ehemalige SPD-Fraktionsvorständler und Staatsmi- nister im Auswärtigen Amt unter Joschka 168 Landes darauf, dass man über seinen Vor- stoß „auf höherer Ebene sehr verwundert“ über den Ton gewesen sei, obwohl er sich für seine Verhältnisse „sehr moderat“ geäußert habe. Antwort habe er jedenfalls bisher weder von José Manuel Barroso noch aus dem Parlament bekommen.

Manfred Stolpe, 70, Ex-Bundesverkehrs- minister und einstmals hochdekorierter Bürger des untergegangenen Arbeiter-und- Bauern-Staates, hat endlich einen Orden erhalten, über den er sich freuen kann. Anders als die umstrittene „Verdienst- medaille der DDR“, die im November 1978

auf rätselhafte Weise an die Brust des da- (L. CHESS MAGAZINE + M.) BRITISH FOTOS: maligen Kirchenfunktionärs gelangte, ist Aronjan Gormally der in der vergangenen Woche verliehene „Verdienstorden des Landes Brandenburg“ Lewon Aronjan, 23, drittbester Schach- („Roter Adler-Orden“) über jeden Stasi- spieler der Welt, hat die Wut eines Kon- Verdacht erhaben. Die Übergabezeremo- kurrenten schmerzhaft zu spüren be- kommen – ohne auch nur in der Nähe ei- nes Spielbretts zu sein. Auf einer Party während der Schacholympiade in Turin bat der Armenier die australische Spiele- rin Arianne Caoili, 19, zum Tanz. Die beiden amüsierten sich köstlich, bis der englische Großmeister Danny Gormal- Caoili ly, 30, das Paar unsanft stoppte, indem er Aronjan, der als potentieller Weltmeister gehandelt wird, mit der Faust schlug und zu Boden warf. Gormally, der offenbar zu tief ins Glas geschaut hatte, wurde vom

MICHAEL HÜBNER / MAZ Wettbewerb ausgeschlossen. Die hübsche Australierin, in ihrer Heimat Nummer vier Stolpe, Platzeck der Schachfrauen, habe ihm nie wirkliche Avancen gemacht, räumte er später ein, doch sei er in sie verliebt gewesen. „Ich war eifersüchtig“, erklärte Gormally seinen nie in der mit Gladiolen geschmückten Ausraster gegenüber dem armenischen Superstar. „Vielleicht war ich auch eifer- Potsdamer Staatskanzlei war auch alles an- süchtig, weil er Nummer drei ist und ich Nummer zweihundertundnochwas.“ dere als konspirativ: Das Blechbläserquin- tett des brandenburgischen Polizeiorches- ters intonierte feierlich die „Märkische dert, besonders aufzupassen.“ Ohnehin sei Heide“, bevor Ministerpräsident Matthias nicht viel gesprochen worden, bedauert Platzeck, 52, warme Worte für den ver- Stegmann. „Sie behandeln uns wie Fans, dienten Genossen und Amtsvorgänger geben uns Autogramme und schenken uns fand. Stolpe sei „über viele Jahre Sprach- ihre Trikots – mehr nicht.“ rohr des Ostens und Sachwalter ostdeut- scher Interessen“ gewesen, ein regelrechter Jean-François Copé, 42, französischer „Brückenbauer zwischen Ost und West“. Budgetminister und Regierungssprecher, wirbt um mehr Anteilnahme – mit einem Alessandro Del Piero, 31, italienischer Videospiel im Internet. „Ich vertraue dem WM-Fußballer, zeigte einem Kontrahenten Spieler darin meinen Posten an, weil ich in gegenüber ungewöhnliches Mitgefühl. In ein anderes Amt berufen wurde“, erklärt zwei Trainingsspielen der Nationalmann- Copé die fiktive Ausgangslage des pädago- schaft gegen die Junioren des MSV Duis- gischen Spiels. Die Bürger können die burg hielt sich der Stürmer von Juventus französischen Staatsfinanzen anhand realer Turin nicht zurück, wenn es um harten Zahlen unter www.cyber-budget.fr selbst Körpereinsatz ging. „Er kann ziemlich rup- in die Hand nehmen, Steuern senken oder pig sein und ist mir ein paarmal heftig in die anheben und Gelder an Ministerien ver- Knochen gegangen“, sagt der Nachwuchs- teilen. Die virtuellen Staatsdiener werden kicker Niklas Stegmann, 18, der Del Pie- zudem mit unvorhergesehenen Ereignis- ro in beiden Partien zu bewachen hatte. sen und Pressekommentaren konfrontiert „Hinterher hat er sich dafür aber immer und müssen EU-Richtlinien einhalten. Zum entschuldigt.“ Die Duisburger A-Jugendli- Abschluss können sie in einer Computer- chen, als Sparringspartner der italienischen simulation die Konsequenzen ihrer Ent- Stars stets auf Abruf, gehen ihrerseits al- scheidungen bis zum Jahr 2030 überprüfen. lerdings auch nicht allzu behutsam zu Wer- Der 1000. virtuelle Minister, der „Cyber- ke: „Unser Trainer hat uns gesagt, wir sol- Budget“ erfolgreich zu Ende gebracht hat,

len keine Rücksicht nehmen. Und von den ANDREW MEDICHINI / AP wird belohnt: Er darf Copé einen Tag lang Italienern hat uns auch niemand aufgefor- Del Piero, Stegmann im Finanzministerium begleiten.

der spiegel 25/2006 169 Hohlspiegel Rückspiegel Aus dem CSU-Parteiblatt „Bayernkurier“: Zitate „Ausgerechnet Schweinfurt beherbergt Tunesien, wo doch das Schwein im ara- Die „Berliner Zeitung“ zum SPIEGEL- bischen Raum als unrein gilt.“ Artikel „Geheimdienste – Kreuz- berger Mischung“ über die Bespitzelung des Berliner Sozialforums durch den Verfassungsschutz (Nr. 24/2006):

Der Verfassungsschutz hat überraschend Fehler bei der Ausforschung von Aktivisten des linken Berliner Sozialforums einge- räumt. Behördenchefin Claudia Schmid teilte gestern Nachmittag mit, alle Vorgän- Aus den „Potsdamer Neuesten Nachrichten“ ge würden jetzt „einer umfassenden Prü- fung“ unterzogen. Das Magazin DER SPIE- GEL hatte zuvor berichtet, zwei V-Männer Aus der „taz“: „Ursprünglich sollte das der Verfassungsschutzbehörden Berlins und ‚Herkunftslandprinzip‘ gelten. Wenn etwa des Bundes hätten die Aktivitäten des Fo- ein tschechischer Handwerker seine Diens- rums jahrelang beobachtet, indem sie etwa te in Frankreich anbietet, dann sollten die an den regelmäßigen Treffen des Kreises Rechtsbestimmungen aus Polen gelten.“ teilgenommen hätten. Gegründet wurde das Berliner Sozialforum Ende 2003 vom Politologen und Professor der Freien Uni- Aus der „Bild am Sonntag“: „Dean Koontz versität Peter Grottian. Es organisierte hat bereits zu Lebzeiten einen Klassiker unter anderem eine Reihe von öffentlichen der Schauer-Literatur erschaffen.“ Protesten gegen Sozialabbau.

Die „Welt am Sonntag“ zum SPIEGEL- WM-Gespräch „Ein Team von Hermaphroditen“ mit Peter Sloterdijk über Fußballkultur (Nr. 23/2006):

Aus der „Rhein-Zeitung“ Wenn Fußball das Kompensationsschauspiel des nutzlos gewordenen Mannes/Jägers ist, wie der Philosoph Peter Sloterdijk unlängst Aus dem „Allgäuer Anzeigenblatt“: dem SPIEGEL zu Recht erklärt hat, dann „Wenig bekannt über das Allgäu hin- ist Grillen der Fußball des domestizierten aus ist, dass Konrad Zuse mit seiner Mannes (also streng genommen noch eine vollautomatischen Rechenmaschine Z4 Evolutionsstufe weiter). Er hat die Beute in den Jahren 1945 und 1946 mit seiner nicht mehr erlegt, aber reklamiert noch die Frau in Hinterstein lebte, wo auch der Deutungshoheit darüber. Der elektrisch zu diesem Anlass aus Berlin angereiste verfeinerte Herd in der Küche ist seine Referent im November 1945 zur Welt Sache nicht, die vermeintlich ungebändigte kam.“ Flamme im Garten sehr wohl.

Die „Frankfurter Rundschau“ zur SPIEGEL-Meldung „Panorama – Ostländer lenken ein“ über den Streit um die Verschwendung von Solidarpakt-Milliarden (Nr. 24/2006):

Mehr als zehn Milliarden Euro haben die neuen Länder im vergangenen Jahr aus dem Solidarpakt für den Aufbau Ost er- Aus dem „Stader Tageblatt“ halten. Doch über die Hälfte steckten sie nach Berechnungen der Technischen Uni- versität Dresden nicht wie vorgeschrieben Aus einem Kommentar in der „Frankfurter in die Infrastruktur oder in Hilfen für die Allgemeinen“: „Die meisten Kambod- Kommunen, sondern gaben sie für allge- schaner sprechen sich für ein Tribunal aus, meine Zwecke aus. Diese Fehlverwendung aber ebenso viele sehen andere Aufgaben will die Bundesregierung abstellen … Sie als dringlicher an.“ (die Ostländer) könnten daher dem Bund anbieten, ihre Haushaltssituation in den kommenden Jahren deutlich zu verbes- Aus der „Badischen Zeitung“: „Vorrangi- sern, um so künftig die Zuweisungen kor- ges Ziel des Projekts: Die Produktion der rekt einsetzen zu können. Eine solche Ver- durch die durch die Tsetse-Fliege über- pflichtung könnte beispielsweise vom Jahr tragene Schlafkrankheit gebeutelten Rinder 2009 an greifen, heißt es in einem Bericht zu forcieren.“ des Nachrichtenmagazins SPIEGEL.

170 der spiegel 25/2006