NNR.R. 110707 NNOVEMBEROVEMBER 22011011

ensuiteKKULTURMAGAZINU L T U R M A G A Z I N ensuite

art Schweiz sFr. 7.90, Schweiz sFr. Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien € 7.50 Inkl. Kunstmagazin

rn e a nd B ge ra tu e ul b r K he a lic g ht sic s er u üb it AAusgabeMMit übersichtlicher KulturagendaBern Uraufführung Choreographie von Cathy Marston Musik: Felix Mendelssohn Bartholdy, Gabriel Prokofiev Stadttheater / ab 3. November 2011 Bern:Ballett Berner Symphonieorchester

Izumi Shuto Foto: Michael von Graffenried

Premiere: 03. November 2011 / Weitere Vorstellungen: 12./15./24. November //

10./16./21./26. Dezember 2011 // 15./21./22./31. Januar 2012

Billette: Bern Billett / 031 329 52 52 / www.bernbillett.ch / www.stadttheaterbern.ch

Meisterkonzert www.zpk.org

LP’s CD’s Singles DVD’s über 150’000 Tonträger Ankauf Verkauf Eintausch Der Platten ! Pop/Rock Heavy Metal Punk laden Trio Zimmermann Jazz Frank Peter Zimmermann Violine Blues Antoine Tamestit Viola Funk/Disco Hip Hop Effingerstrasse 4 Christian Poltéra Violoncello Reggae 3011 Bern Latin So 6. November 2011, 17 Uhr World 3 Min. ab Bahnhof, Auditorium Martha Müller, Zentrum Paul Klee beim Hirschengraben um die Ecke Electronic L.v. Beethoven Streichtrios op. 9 Nr. 1 – 3 Klassik Eintritt inkl. Willkommensgetränk Soundtracks Mo bis Fr 12:00 – 18:30 und Ausstellungsbesuch Volksmusik Do 12:00 – 20:00 Vorverkauf: www.kulturticket.ch Sa 10:00 – 16:00 MATS BÄCKER MATS

: Schlager Tel. 0900 585 887 (CHF 1.20/Min.) FOTO günstige DVD’s Tel. 031 312 19 87 Platten- und CD-Zubehör www.oldiesshop.ch IInhaltnhalt 2255 2277

2222 3333

5 KULTURESSAYS 24 De-/Montieren oder die PERMANENT Bastelanleitung fürs Leben 7 25 Jahre Naturton Von Fabienne Naegeli Von Lukas Vogelsang 5 GÄSTE UND WIRTE 10 Saftig kontaminierter Kreis 25 MUSIC & SOUNDS 6 SENIOREN IM WEB – Von der Kunst ins Leben und zurück 25 Das Universum des Von Caroline Komor Müller und Barbara Mosca Von Till Hillbrecht 6 KURZNACHRICHTEN 12 Wut, die 27 Ooh, ooh, I‘m an Eliane … Von Frank E.P. Dievernich Von Luca D‘Alessandro 7 FILOSOFENECKE 13 Tatort Kasse 29 Phall Fatale Von Barbara Roelli Von Sandro Wiedmer 9 MENSCHEN & MEDIEN 15 Der lange Weg vom Narzissten zum 30 Konzert Theater Bern – keine Mitbestim- Individuum mung für KünstlerInnen PIS INES 13 É F Von Stanislav Kutac Von Karl Schüpbach 16 Als Künstler anfangen - Teil 2 21 LITERATUR-TIPPS Von Albert le Vice 32 KINO & FILM 18 Mit Sue am See 26 WEIN? GUT! 32 Vielleicht war es Zufall Von Stanislav Kutac Von Lukas Vogelsang 27 INSOMNIA 19 Auf den ersten Blick ist es 33 Summergames Von Peter J. Betts Von Lukas Vogelsang 37 TRATSCHUNDLABER 20 LITERATUR 33 The Mill and the Cross Von Sandro Wiedmer 38 DAS ANDERE KINO / PROGRAMM 20 Seit jeher unterwegs 34 Internationale Kurzfilmtage Winterthur Von Konrad Pauli Von Walter Rohrbach 40 IMPRESSUM 20 Lesezeit 35 Welt trifft Winterthur Von Gabriela Wild Von Florian Imbach 22 TANZ & THEATER 36 Mein bester Feind ensuite.ch Von Lukas Vogelsang 22 «Ich bin ich, was halten 37 A Dangerous Method Sie davon, Präsident?» Von Sonja Wenger Titelbild: 5. & 6. November: «Ein Mädchen auf See» im Von Belinda Meier Stadttheater Bern - Bild: zVg. 40 50/50 23 Das Festkomitee Von Morgane A. Ghilardi Von Lilo Lévy ensuite - kulturmagazin Nr. 107 | November 2011 3 17– 20 NOVEMBER17. Internationale Messe für Gegenwartskunst | ABB Halle 550 | Zürich-Oerlikon Do und Fr 16 bis 22 Uhr | Sa 11 bis 19 Uhr | So 11 bis 18 Uhr | www.kunstzuerich.ch

Partner Medienpartner Patronat

Fr, 18. November Sa, 19. November So, 20. November SAINT 20:00 Uhr 20:30 Uhr 19:00 Uhr ESBEN AND ANIKA (UK) MARC THE WITCH (UK) GHETTO HAUSCHKA (D) ALMOND (UK) EVANGELISTA / SCORN (UK) Das Musikfestival der CARLA 20:30 Uhr SYG BAAS (CH) Dampfzentrale Bern BOZULICH (USA) JA, PANIK (D/A) KRAUT (CH) 18. – 20. November 2011 NATALIE Fr. 40.—/30.— erm. BERIDZE (GE) Fr. 55.—/45.— erm.

DAVE Festivalpass — PHILLIPS (CH) Nur Fr. 100. 80.— erm. Vorverkauf: www.starticket.ch Fr. 40.—/30.— erm. Dampfzentrale Bern, Marzilistrasse 47, 3005 Bern www.dampfzentrale.ch www.saintghetto.blogspot.com

Info-Tag 2. Dezember 2011 11.00 –19.00 Uhr

www.hslu.ch/ design-kunst KKulturessaysulturessays

eensuiteKKULTURMAGAZINU nL T UsR uM A iG AtZeI N

EDITORIAL

Foto: stanislavkutac.ch Foto: Gäste und Wirte Von Lukas Vogelsang

s ist für mich immer noch nicht verständ- Kunst, wieder mit Gruppen. Der Mechanismus E lich, wie viele Kulturbetriebe von Juni bis ist der Gleiche. Oktober Ferien machen können. Das sind 5 Mo- Viele Kultur-Gastwirte laden heute einfach nate – fast ein halbes Jahr. Mit dem Argument, per E-Mail ein. Die Gruppen existieren nur in dass bei schönem Wetter die Zuschauer nicht einer Mailingliste oder im Facebook. Das ist vorbeikommen, habe ich Mühe. Und dass die- so unpersönlich und seelenleer, dass es kaum se Kulturbetriebe dann auch nicht fähig sind, meine Aufmerksamkeit erhält. Vor allem füh- wenigstens während dieser Pause die Presse- le ich mich nicht persönlich eingeladen, werde arbeit und Vorbereitungen zu erledigen – das als Gast anonym behandelt. Das ist nicht gast- ärgert mich regelrecht. Das hat nichts mit Geld freundlich. Dabei gilt bei der Gastfreundschaft zu tun, nichts mit dem Publikum. Oftmals ist immer auch die umgekehrte Seite: Man erhofft das einfach unprofessionell. sich, dass der Gast sich revanchiert. Wer Kultur anbietet ist ein Gastgeber. Kul- Das klingt natürlich etwas abstrakt und lust- turinstitutionen - und dazu zähle ich auch je- los, ist unromantisch, aber auf dem Boden. Und des Restaurant, Kino, jeden öffentlichen An- diese Zusammenarbeit gilt eben auch für die lass - «bewirten» Publikum. Man verdient Geld Presse: Wie wollen die Kulturschaffenden uns damit, dass man Gäste bei sich aufnimmt und Presseschaffende für sich gewinnen, wenn sie ihnen nach bestem Wissen und Können einen uns nur ein E-Mail senden? Wenn sie immer angenehmen Aufenthalt verschafft. Allerdings «last-minute»-Promo machen? Viele Veranstal- macht man das normalerweise so geschickt, terInnen und KünstlerInnen sehen es als die dass nicht das Geldverdienen im Vordergrund Pflicht der Medien an, dass wir über sie sch- steht und das Publikum wieder kommen will. reiben müssen. Wozu? Warum? Und sagt jetzt Sie lachen jetzt vielleicht – doch erlebe ich oft- nicht: «Weil es wichtig ist!» Das fühlt sich an, mals, dass ich ausser einer Ticketkasse und ei- wie der Staubsaugerverkäufer oder die Zeugen nem dunklen stickigen Raum nicht viel mehr zu Jehovas vor der Haustüre. sehen kriege. Ich habe schon vor zehn Jahren Ich habe im Oktober das Verständnis von erklärt, dass nicht nur das künstlerische Event Gastfreundschaft auf eindrückliche Weise er- EEchtechte auf der Bühne, sondern auch der Ort und die leben dürfen: Ich wurde an eine Ausstellungs- Menschen drumherum wichtig sind. Wir sind eröffnung nach Paris eingeladen, Flug und KKulturmagazineulturmagazine in der Schweiz kulturell übersättigt und ge- Hotel wurden bezahlt. Nicht einmal während niessen die Freiheit, unser Freizeitprogramm der gesamten Zeit wurde eine Bedingung an iimm AAbonnementbonnement wählen zu können. Das bedingt natürlich, dass uns Medienschaffende gestellt, noch wurden man sich als Veranstalter hervorheben oder wir darauf angesprochen, über die Ausstel- wwww.ensuite.chww.ensuite.ch charakterisieren muss. Das scheint bei vielen lung zu schreiben. Für den Gastgeber war es Kulturanbietern vergessen gegangen zu sein. selbstverständlich, dass er die Medien aus al- Verstanden haben das die Club-BetreiberInnen, ler Welt einfliegen liess (schön, wenn man das die ohne diese Spezialisierung gar kein Über- Geld dazu hat). Die internationale Presse hatte leben hätten. dadurch Zeit, sich in aller Ruhe mit der Sache Kultur formiert immer Gruppen, bildet Men- auseinanderzusetzen. Keine Forderungen – nur gen, verbindet und trennt. Dies ist hauptsäch- Einladungen. Das hat Stil und gibt uns Medien- lich der Grund, warum Kultur wichtig ist: Wir schaffenden eine faire Freiheit zurück – diese lernen uns zu definieren, was wir sind, sein dürfen und können wir wiederum mit unseren wollen und was nicht. Durch Gruppierungen LeserInnen teilen. Also, liebe VeranstalterIn- gelingt es uns, eine Identität zu erhalten oder nen: fertig Ferien. Um die Gunst der Presse anzunehmen. Versuchen sie das mal alleine, muss man sich bemühen. So geht das. es ist ziemlich schwierig. Natürlich verbinden wir uns auch über das Bühnenprogramm, der

ensuite - kulturmagazin Nr. 107 | November 2011 5 SENIOREN IM WEB Von Willy Vogelsang, Senior KKurznachrichtenurznachrichten

ls Hauptargument für einen PC in der A guten Stube von uns Senioren höre ich meist: «Ich möchte mit meinen Kindern oder Bekannten in Verbindung bleiben, mailen, Fotos austauschen.» Das Mailprogramm aber benutzt das Internet als Verbindung. Und schon sind wir – auch – im weltweiten Netz und haben Zugang zu dessen Angeboten. Nebst fast grenzenloser Information ist eine der interessantesten Anwendungen die Kommu- nikation mit mir oft noch ganz fremden Men- schen, weltweit. Solche Portale nennt man Com- munities. Twitter, Facebook u.a.m. laden mich ein, «Freunde zu sammeln.» Wie wenn ich nicht schon genug Kontakte zu pflegen hätte. Man- chmal aber nehmen diese ja im Alter eher ab; sie werden weniger oder vielleicht auch uninteres- santer. So sind neue Beziehungen willkommen. Seniorweb.ch bietet unter «Club» Kommuni- kation und Begegnung unter Menschen der äl- teren Generation – also ab 50+ - an. Sie können sich als Mitglied registrieren, sind so ansprech- bar und können selbst andere Mitglieder anspre- GRABENKÄMPFE chen. Dies geschieht über persönliche Nachrich- ten oder aber über die Diskussionsforen ganz n Zollikofen zeigt die Galerie im Graben seit welche per Telefon verlauten liess, so etwas unterschiedlicher Thematik. Indem Sie sich am I Dienstag dem 18. Oktober an ihrer Hausfas- ginge gar nicht, schon gar nicht an einem denk- Gespräch oder am Erfahrungsaustausch beteili- sade grossflächige Bilder des Künstlers Bruno malgeschützten Gebäude. gen, bekommen Sie ein «Profil». Sie werden als Arn. So lange nun aber keine schriftliche Rechts- Person wahrgenommen und erhalten Echos. Was eigentlich als Blickfang für Passantin- mittelbelehrung vorliegt, welche besagt, dass Auch hier gilt: Wie man in den Wald ruft . . . nen und Automobilisten und auch als Aktion, an einem Gebäude, welches notabene unter an- Sie werden bald Ihre Lieblingsthemen und die Aufmerksamkeit auf die Galerietätigkeit zu derem als Galerie und Malschule genutzt wird, Gleichgesinnte finden. Und wenn Sie Lust lenken, gedacht war, entpuppte sich bereits bei keine temporären Installationen angebracht bekommen, diesen auch einmal persönlich zu der Montage als kontroverse Diskussionen aus- werden dürfen, bleibt die Kunst am Bau und begegnen, bieten sich in Ihrer Nähe Regional- lösender Zankapfel innerhalb des Quartiers und kann bis auf weiteres besichtigt werden. Eine gruppen an, die sich real zusammenfinden zu der Gemeinde. Während der Künstler und die echte Alternative zu den in letzter Zeit doch regelmässigen Treffs, Ausflügen oder Unterneh- Handwerker bereits bei ihrer Arbeit während sehr aggressiven Wahlplakatierungen! (Presse- mungen. Aus eigener Erfahrung kann ich nur dem Aufhängen von einem Nachbarn unflätig text) sagen, das sind Highlights, wenn sich hinter ei- beschimpft wurden, wurde am nächsten Tag nem Pseudonym im Web ein wertvoller, inter- ebenfalls die Gemeindeverwaltung vorstellig, Infos: www.galerieimgraben.ch essanter Mensch persönlich zeigt und wir uns gegenseitig einander vorstellen! Als begeisterter Föteler habe ich so eine ganze Reihe von Gleichgesinnten kennen und schätzen gelernt. Wir geben einander Tipps und LESERFORUM zeigen unsere Kreationen aus der «Werkstatt.» [email protected] Dies gibt mir oft ganz neue Impulse für mein Hobby und es macht Freude, die Bilder im Web LESERBRIEFE ensuite dankt für die finanzielle Unterstützung: zu veröffentlichen. Wie das geht, finden Sie un- ter Hilfe auf der Webseite oder im Forum «Foto, Wir freuen uns über Zuschriften. Wir sind Audio, Video», wo Sie ganz einfach Ihr Problem aber ein Kulturmagazin und fordern Anstand schildern können. und Seriosität. Die Redaktion behält sich vor, Wenn Sie Ihr Beziehungsnetz erweitern, Zuschriften verkürzt abzudrucken. Es wer- ergänzen oder ausbauen möchten, bietet sich in den nur Zuschriften publiziert, welche uns der Fülle der Angebote im Internet die grösste mit Namen, Adresse und Telefon zugestellt Plattform für die Generation 50+ in der Schweiz werden. Der Ttext wird nur mit Namen veröf- an. Merken Sie sich als Favorit: fentlicht. Einsendungen an: ensuite - kulturmagazin, Leserdienst, www.seniorweb.ch Sandrainstrasse 3, 3007 Bern oder per informiert • unterhält • vernetzt E-Mail: [email protected]

6 KKulturessaysulturessays FILOSOFENECKE Von Ueli Zingg

A rose is a rose is a rose. Gertrude Stein 1913 Il nome della rosa. Umberto Eco 1980 A rose by any other name would smell as sweet. William Shakespeare 1600

o die Dinge sind, wie sie sind, ist W kein Schein, der trügt, kein Alter, das nicht könnte, keine Jugend, die nicht wüsste. Wo die Dinge sind, wie sie sind, ist alles frag- los. Das Ende der Fragen, ist das Ende des Ver- gleichs und also der Existenz. A rose is a rose. Nennen wir das Kind beim Namen! Trotz- dem, das Kind bleibt das Kind, der Name bleibt der Name. Unüberwindbar die Differenz von Benennendem und Benanntem. Namen sind das Allgemeine, das, was unsere Kommu- nikation ermöglicht, sind die sprachliche Ver- einbarung, in der sich das Einzelne zu indi- vidualisieren sucht. Unüberwindbar, dass das Individuum auch in der Kommunikation All- gemeines bleibt. Doch wehe, das Gegenüber 25 Jahre Naturton nimmt etwas persönlich, gewissermassen von Individuum zu Individuum, schliesst das All- Von Lukas Vogelsang Bild: zVg. gemeine als Schutz vor der Verletzlichkeit des Selbst aus! Wobei Gespräche vielleicht erst eit 25 Jahren sind Willi Grimm und Gér- sich 1986 das erste Mal zu einer Ambient Night da beginnen. Der Name ist nicht die Rose, er S hard Widmer mit dem Didjeridu und der in Bern getroffen. Seit 2006 ist es etwas ruhig meint sie nur. Die Irritation der Bedeutungs- Fujara unterwegs. Sie spielen oftmals in impo- geworden um die beiden – allerdings auch nur vielfalt ist eine Chance der Zivilisation: Das santen Klangräumen, und noch viel imposanter deswegen, weil jeder mit seinen eigenen Pro- Gemeinte kann nur das Vermeintliche sein. ist der Klangraum, den die beiden mit ihren jekten beschäftigt war. Mit dem Jubiläum wird Darin ist Versöhnung, Interpretation, Entwick- Instrumenten zu öffnen vermögen. Das Didje- auch eine neue CD erscheinen. Zum Redakti- lung. ridu ist ein australisches Instrument der dor- onsschluss lag leider noch keine Aufnahme vor, Alles könnte stets auch anders sein: ‚Ein tigen Urbevölkerung, der Aborigines, und die doch touren Naturton jetzt durch die Schweiz: Tisch ist ein Stuhl’. ‚Wartet nicht hinrichten’. Fujara wird im Gebiet um Bratislava (Slowakei) Am 9. November zu hören in der Kirche St. Pe- Sprache spielt mit sich selbst, ist vielmehr gespielt. Eine interessante Mischung, die oft ter in Zürich und am 25. November in der Drei- noch ein Spiel mit der Situation, in der sich mit anderen Natur- und Obertoninstrumenten faltigkeitskirche in Bern. Weitere Daten sind so genannte Realität manifestiert. Wer Spra- angereichert wird. Grimm und Widmer haben auf www.naturton.ch ersichtlich. che und deren Wörter beim Wort nimmt, verliert ihre Dimension, übersieht ihre Miss- verständlichkeit, ihre Mehrdeutigkeit, ihren Anzeige: Schalk, ihre lebenserhaltende Ironie, verkennt die Gleichzeitigkeit des Andern. Ach Du, mei- Die kleine Hexe und ihr Freund Abraxas - ne Kuh, Du! – kann eine Liebeserklärung sein; mein lieber Schwan! der Ansatz zur Verbalin- das Musical von und mit Ernesto Hausammann jurie. A rose by any other name would smell Das Theaterereignis des Jahres – in Mundart – für die ganze Familie as sweet. Feiern Sie Ihren Kindergeburtstag mit der Kleinen Hexe! Allerdings stellt sich die Frage, ob den ab 22.10. jeden Mi, Sa, So um 14.30 Uhr / THEATER SZENE • Rosenweg 36 • 3007 Bern • Dingen ohne (meine) Sprache überhaupt eine Vorverkauf: 031 849 26 36 • www.theaterszene.ch oder bei allen Ticketcorner-Vorverkaufsstellen Existenz zukommt. Quantenphysiker haben da ihre Zweifel. Was wir nicht benennen können, nehmen wir nicht wahr, weil es vielleicht gar nicht existiert. Könnte also doch sein, dass die Namen das Eigentliche sind. Und die einzel- nen Dinge – was soll’s! Das Gespräch findet statt am Mittwoch, 30. November 2011, 19.15h. Sternengässchen 1; 2. [email protected] Stock; läuten bei Maja Kern. Mit einer Rose im www.buchhandlung-amkronenplatz.ch Knopfloch?

ensuite - kulturmagazin Nr. 107 | November 2011 7 Konzert Ensemble Paul Klee             Vierte Mahler   Rachel Harnisch Sopran

So 20. November 2011, 17 Uhr Zentrum Paul Klee Gustav Mahler (1860 –1911) Vierte Symphonie (Arr. Erwin Stein)

               !""#$  #  % &'#$  *#$ +  ,  % -#  .  "#   %   /0*#$    % 1  2 !1#$   %  .$3   5   # % # 6"#1!.+17. , %   #0 #"# 1#$ 8 % ,#9 ."  :5# !1 ." #1  ; <1$   = "# +# , ;  1>#  < *#$  ; / 91   /0*#$ www.zpk.org  Vorverkauf: www.kulturticket.ch 6# #  ?@ ? Tel 0900 585 887 (CHF 1.20/Min)  %.0A>>>1  #$ $   !

SPECTRES 69(1$8*867,-1(1

«SPRINGEN SIE AUF» DruckEinfach.ch der Preisjumper!

CHASING SHADOWS 6$17802)2.(1* \HDUVRISKRWRJUDSKLFHVVD\V

Kunsthalle Bern 2NWREHUï1RYHPEHU - KKulturessaysulturessays CARTOON www.fauser.ch

VON MENSCHEN UND MEDIEN Wenn einer die Medien kritisiert Von Lukas Vogelsang

ahrscheinlich werden wir jetzt jedes um die grösstmögliche Rendite aus dem Be- jenen, welche die journalistischen Texte sch- W Jahr die gleiche Leier hören: Der Pu- trieb rauszuholen – und die JournalistInnen reiben. Warum? Weil die keine Stimme haben. blizistikprofessor Kurt Imhof wird in seinem sind faul geworden. Die Spesen sind gestrichen Nun, wer selber Internetangebote betreut Jahrbuch die Qualität der Medien verklagen, und «schnell, schnell» zum Ziel bedeutet mehr weiss, dass die Zahlen und Statistiken nicht und die Mediengilde wird jedes Mal in ihrer Zeit für andere Dinge. aussagekräftig sind. Es gibt noch heute keine Übermacht zurückschlagen. Es ist ein doofes Professor Kurt Imhof kritisierte in seinem verbindliche Messung, welche die Wahrheit Spiel: Wer Journalisten kritisiert, kriegt gleich neusten Jahrbuch den Online-Journalismus – widerspiegelt. Die Hauptprobleme dabei sind doppelt zurück. Dabei kämpft Professor Kurt ausgerechnet das Steckenpferdchen, die grosse die Roboter, welche ebenfalls die Webseiten Imhof auf der gleichen Seite wie die Journalis- Hoffnung der Medienbranche. Da wagt also durchforsten, die Suchmaschinen, ein Haufen ten, und versucht nichts weiter, als dem Beruf einer zu behaupten, dass nicht alles Gold ist, ChinesInnen, JapanerInnen, RussInnen, und der JournalistInnen die Würde zurückzugeben. was glänzt, und dies in Zeiten, wo der Goldpre- die immer noch links fahrenden EngländerIn- Ich persönlich fühle mich auf jeden Fall is ins Schwindelerregende steigt und das Fuss- nen, welche die deutsche Sprache immer noch durch die Arbeit von Professor Kurt Imhof in volk damit spekuliert, ob es sich vielleicht doch als Provinzdialekt ihrer Landessprachen ver- meiner Meinung und in meiner Wahrnehmung lohnt, den goldenen Ehering zu verhökern. stehen. Ein Beispiel: ensuite.ch hat sieben ver- bestätigt. Ich mache ebenfalls die Erfahrung, Professor Kurt Imhof hat selbst in seinen schiedene Traffic-Messmethoden – doch keine dass die Qualität der sogenannten Berichter- Veröffentlichungen einige Fehler gemacht. einzige ist der anderen gleich. Allerdings sind stattung bereits weit unten im Boden liegt. Zahlen oder Studien waren allem Anschien jene Messinstrumente, welche den Werbever- Vielleicht muss man anfügen, dass es gewisse nach nicht so gut recherchiert, oder die Zahlen mittlern am Nächsten stehen, auch jene mit Disziplinen gibt, die übler dran sind als an- falsch berechnet. Solche Dinge sind natürlich den höchsten Resultaten. Deswegen appellie- dere. Aber jede Zeitung die ich öffne, strotzt übel und miserabel. Allerdings haben am lau- ren die Medienvertreter so vehement gegen die von fadenscheinigen Artikeln, schlechten Re- testen eben jene Medienvertreter geschrien, Studie von Professor Kurt Imhof: Es könnte ja cherchen. Je nachdem, welche politische PR- nach derer Präzision wir täglich die Lotto- sein, dass die «Erfolgsmeldungen» der Verlags- Maschine grad am Rollen ist, fallen die Beri- Scheine ausfüllen können: 20 Minuten, Tag- leiterInnen und ChefredaktorInnen bezüglich chte aus. Das ist in der Politik genauso, wie esanzeiger, Weltwoche. Auffallend ist auch, der Online-Auswertungen ebenfalls falsch lie- in der Sektion Lifestyle oder Wirtschaft. Jour- dass die Kurt-Imhof-Kritiker fast ausnahmslos gen. Soviel zur Genauigkeit und Glaubwürdig- nalistInnen sind nicht mehr draussen, «uf dr die Chefs dieser Medien sind. Also verlagsleit- keit im Journalismus. Ein Hoch auf Professor Gass» anzutreffen. Heute hat man ein Telefon ernahe oder gar die Verleger selber, Chefredak- Kurt Imhof und sein Team. Ich hoffe, dass wir und Email. Hauptsache der Bürostuhl klebt gut toren, welche die rechte und die linke Hand der noch viel mehr Kritik zu hören bekommen… – aber die Augen des Gegenübers kennt man Verleger sind… Aber wir hören eigentlich ke- nicht. Und warum? Die Verleger wollen sparen, ine Stimmen aus den «niederen» Rängen – also

ensuite - kulturmagazin Nr. 107 | November 2011 9 KKulturessaysulturessays Saftig kontaminierter Kreis – Von der Kunst ins Leben und zurück Rückblick Sommerakademie im Zentrum Paul Klee 16. -26. August 2011 Von Caroline Komor Müller und Barbara Mosca - Kreislauf der Kunst Bilder: zVg.

m 26. August 2011 ist die sechste, äu- zu garantieren. Am Ende der Akademie wurden A sserst erfolgreiche Sommerakademie die Vitrinen, welche während den zehn Tagen Fellows 2011 zum Thema «Saftig kontaminierter Kreis - Von laufend angereichert geworden waren, im Fo- Dineo Seshee Bopape (Südafrika) der Kunst ins Leben und zurück» zu Ende ge- rum des Zentrum Paul Klee als «Work in Pro- Claire Breukel (Südafrika) gangen. Unter der Leitung der Gastkuratorin gress» der Öffentlichkeit präsentiert. Pedro De Llano (Spanien) Pipilotti Rist und der kollaborativen Gastku- Vernetzung am Kulturstandort Bern Die Quynh Dong (Schweiz) ratorin Franziska Dürr trafen sich KünstlerIn- Sommerakademie legt grossen Wert auf ihre lo- Samah Hijawi (Jordanien) nen, KulturvermittlerInnen und Wissenschaf- kale Vernetzung, und ging dieses Jahr Partner- Florencia Malbran (Argentinien/Italien) terInnen aus dem In- und Ausland in Bern. schaften mit dem Zentrum Paul Klee, mit der Shana Moulton (USA) Sie loteten aus, welche Wechselwirkungen es Stadtgalerie im PROGR Bern, mit der Kunsthal- Mykola Ridnyi (Ukraine) zwischen Kunst und Publikum geben kann. Die le Bern und dem Kunstmuseum Thun ein. Wäh- Mika Rottenberg (Israel) Ergebnisse wurden ebenfalls in öffentlichen rend einer von den Fellows sehr geschätzten Francisco Sierra (Schweiz) Vorträgen dem interessierten Publikum zu- Führung durch verschiedene Künstler-Ateliers Peterson Kamwathi Waweru (Kenia) gänglich gemacht. im PROGR Bern und Anna Witt (Deutschland) Am Eröffnungs- einem anschliessenden abend im Zentrum Paul «Es ist Aufgabe der Kunst, gemeinsamen Künstle- Gastkuratorin 2011 Klee stellte Pipilot- ressen wurde man dem Pipilotti Rist (Schweizer Video-Künstlerin) ti Rist dar, wieso sie die Sinne zu schärfen und Anliegen der Sommer- dieses Thema gewählt Verstand und Instinkt akademie gerecht, die Kollaborative Gastkuratorin 2011 hat, und was es für sie Fellows mit den loka- Franziska Dürr (Aargauer Kunsthaus / Kunst- bedeutet. Es folgten miteinander zu versöhnen.» len Kunstschaffenden vermittlerin und Leiterin Lehrgang Kuverum) diverse Vorträge, und in Bern zusammen zu eine Performance in Pipilotti Rist, Gastkuratorin 2011, anläss- führen. Speakers 2011 der Stadtgalerie PRO- lich ihrer Rede im Zentrum Paul Klee Wie jedes Jahr ha- Constanze Eckert GR Bern. Eine Video- ben die Fellows im ge- (Verantwortliche Qualifizierung Kulturagen- Night im Zentrum Paul Klee bot Einblick in schlossenen Kreis auch an einer eintägigen Ex- ten- Programm, Forum K&B GmbH, Berlin) aktuelle Videoarbeiten der Kunstschaffenden, kursion teilgenommen, welche dieses Jahr ins Pascale Grau genannt «Fellows», die an der Sommerakade- Berner Oberland führte. Dem Akademie-Thema (Zürcher Hochschule der Künste ZHdK) mie 2011 teilgenommen hatten. Es wurden elf entsprechend wurden, nach einem Brunch auf Werke von sieben Fellows präsentiert, die in dem Niesen und einer Schifffahrt auf dem Thu- Henrietta Hine ihren Arbeiten die Vielfalt ihrer Kulturen wie- nersee, im Thuner Panorama und im Kunstmu- (Courtauld Institute of Art, University of London) dergeben und eine breite Palette von visuellen, seum Thun verschiedene Formen der Kunstver- sozialen und politischen Themen aufgreifen. mittlung betrachtet. Wieviel und welche Kulturvermittlung Collective Performance Ihren fulminanten Die Sommerakademie ist eine alljährlich wie- braucht es? Die 12 Fellows arbeiteten wäh- Abschluss fand die Akademie in der «Collec- derkehrende internationale Plattform für Ge- rend 10 Tagen im Zentrum Paul Klee. Sie ha- tive Performance» der Fellows im Rahmen der genwartskunst mit themengebundenen Work- ben die zentrale Frage, mit welchen Methoden Abschlussfeier. Die Kunstschaffenden hatten shops, und fördert die künstlerische Produktion die Kunst ins Leben der Betrachtenden gelangt in der Museumsstrasse des Zentrum Paul Klee und Reflexion, sowie deren Vermittlung. Die Ak- und wie ein Rückfluss aussehen kann intensiv eine passend zum Akademiethema kreisförmi- tivitäten der Sommerakademie sind Bestandteil diskutiert, und auch ausprobiert. Jeder Fellow ge Bar eingerichtet. Das Besondere war, dass des Gesamtkonzepts des Zentrum Paul Klee. Die hatte zu Beginn der Akademie die Aufgabe, die Gäste ihre Getränke nicht selber wählen Stiftung Sommerakademie ist ein Ausbildungs- eine Vitrine mit Material zu bespielen, welches konnten, sondern die Fellows einen auf den engagement der BEKB-BCBE (Berner Kantonal- für seine Schaffensweise repräsentativ ist. Die- jeweiligen Gast zugeschnittenen, mehr oder bank AG). se Vitrinen waren Basis der Auseinanderset- weniger «kontaminierten», originell dekorier- zung, sie waren im ganzen Zentrum Paul Klee ten, wunderbar farbigen und freudigen Drink an verschiedenen Orten im öffentlichen Be- servierten. reich verteilt. In Form der Workshop-Reihe «12 meet 12» waren während der Akademiezeit un- Unter www.sommerakademie.zpk.org finden terschiedliche kunstnahe und kunstferne Grup- Sie weitere Informationen, Bildmaterial und Vi- pen von jeweils zwölf Personen eingeladen, die deoclips zur Sommerakademie 2011. repräsentativen Beiträge der zwölf Fellows zu Text: Caroline Komor Müller, Assistentin Sommerakademie betrachten, ein Feedback abzugeben, mit den im Zentrum Paul Klee; Barbara Mosca, Managerin Sommer- Fellows zu diskutieren, und so den Rückfluss akademie im Zentrum Paul Klee

10 ensuite - kulturmagazin Nr. 107 | November 2011 «Die Vitrine ist kein abschliessendes Kunstwerk. Ich habe Material mitgebracht, welches um meine Arbeit kreist. Die Idee ist, dass ich dieses brauchen kann um mit Personen über mein Schaffen zu diskutieren.»

Anna Witt, Fellow 2011, anlässlich der Präsen- tation der Vitrinen im Zentrum Paul Klee

von oben links: Anna Witt, Dineo S. Bopape, Francisco Sierra, Shana Moulton

von oben mitte: Claire Breukel, Florencia Malbran, Mika Rottenberg von oben rechts: Pedro de Llano, Peterson Kamwathi Wareru, Quynh Dong, Samah Hijawi, Mikola Ridnyi

11 KKulturessaysulturessays

LEXIKON DER ERKLÄRUNGSBEDÜRFTIGEN ALLTAGSPHÄNOMENE (X)* Wut, die Von Frank E.P. Dievernich as war das bislang für ein Jahr? Ge- Gesellschaft, oder besser, der gesellschaftlich- Spiel weiter, da schnell klar wird, dass diese Ge- W sellschaftliche Umwälzungen, ange- öffentliche und vordergründig organisations- sellschaft selbst eben nur als Ansammlung von trieben von einer Wut, angestaut über viele freie Raum wird dabei zum Überdruckventil, Organisationen existiert. Organisationen machen Jahre, zeigen plötzlich, dass die Haut der Ge- um das ausagieren zu können, was innerhalb was sie wollen – mit oder ohne uns. So sind wir sellschaft nicht deckend ist, sondern porös. So der Organisationen trotz deren Suggestionen in den Schulen unserer Kinder nicht nur Eltern; gesehen erscheint es weniger als Zufall, dass nicht möglich ist. durch die Möglichkeit, Vergleiche anstellen zu der neue Almodóvar-Film «La piel que habi- Verweilen wir noch für einen kleinen Moment können, mutieren wir selbst zu semi-professio- to» die Haut zum zentralen Thema macht. Das bei der emotionalen Entschärfungsfunktion von nellen Erziehern, ohne dass sich am Schulsystem Phänomen des Aufplatzens ist nicht neu, ha- Organisationen. Die Rollen, die Personen inner- etwas ändern würde. Wir sind überall dabei, um ben doch bereits die 1968er gezeigt, dass es halb von Organisationen einnehmen, ermögli- doch nicht ganz dabei zu sein. Wir reden über- Zeitpunkte gibt, in denen die Gesellschaft sich chen eine Identität, eine komplexitätsreduzie- all mit, werden dazu noch eingeladen, und ha- ihrer alten Strukturen entledigen möchte. Wut, rende Adresse, hinter der man sich verschan- ben dennoch nichts zu entscheiden. Und wenn als treibende Kraft einer Veränderung, ist also zen kann. Rollen finden immer im Kontext von es irgendwo noch eine Wissenslücke gibt, so bekannt. Was hat es mit den Ausbrüchen der Funktionen statt, und diese sind mit anderen erhebt uns das Internet zum Experten. In dieser jüngsten Zeit auf sich? Kairo, Athen, London, verbunden, so dass die Person dahinter ganz eigenwilligen Form eines Expertenstatus erken- Rom, um vier Städte zu nennen, die als «Label» bestimmten Erwartungen ausgesetzt ist, denen nen wir uns als Mitglieder jener Unternehmen für die auf einen Ort fokussierte Wut zu be- sie nachkommen muss, will sie in diesem sicher- wieder, die unökologisch produzieren, und lesen zeichnen sind, sind und werden aktuell zu ei- heitssuggerierenden Spiel bleiben. Auch der hi- in den Zeitungen, wie die Bevölkerung dagegen, nem Synonym. Dazu gesellen sich die aktuellen erarchische Status einer Person verleiht Identität also auch gegen uns, aufbegehrt. Wir sind Mit- Schlachten in Zürcher Fussballstadien. So un- und Verhaltenssicherheit. Ganz zu schweigen glieder jener Finanzinstitute, deren Produkte wir terschiedlich die Beweggründe und Kontexte vom Bild, welches ein Unternehmen als «Corpo- selbst nicht mehr verstehen, obwohl wir doch sein mögen, so deutlich tritt aber das einigen- rate Identity» produziert. Wenn das alles so funk- überall suggeriert bekommen, dass alles verstan- de Phänomen der Wut auf. Interessant dabei tionieren würde wie beschrieben, hätten wir es den werden kann. Wir steigern im Arbeitsalltag ist, dass in unserer überorganisierten Gesell- mit einer schönen, heilen, weil kalkulierbaren die Effizienz unserer Organisationen und wählen schaft diese Ausbrüche im öffentlichen Raum Welt zu tun. Genau das ist sie aber nicht. Die Un- im Gegenzug jene Parteien, die für die Verein- stattfinden, und eben nicht an jenen Stellen, ternehmen selbst haben die Büchse der Pandora barkeit von Beruf und Familie eintreten. Was die eigentlich für die Entstehung solcher Be- geöffnet, in dem sie durch Beobachtungsvorteile nun die Wut angeht, so entsteht sie also über- dingungen verantwortlich sind, nämlich in und den Markt beherrschen wollen. Dafür brauchen all dort, wo beobachtet wird, dass das Handeln zwischen unseren Organisationen, in denen sie zunehmend die Mitarbeiter – jenseits ihrer der einen Organisation zur Erschütterung einer wir tagtäglich leben. Auch die Wut in Manhat- Funktionen und Rollen. Und weil das alle tun, anderen beiträgt, und man sich selbst als Binde- tan wurde bislang nur in die Wall Street, und sind die Beobachtungsvorteile immer nur von glied dieser perversen Wechselbeziehung ent- nicht in die sie säumenden Organisationen ge- kurzer Dauer, während der Markt anfängt, resul- larvt, ohne in diesem Zwischenraum auf eine tragen. Wie steht es also konkret um die Wut tierend aus den zunehmenden Beobachtungen, Auflösung drängen zu können. Und wenn man in unseren Unternehmen? Dabei soll hier von sich immer schneller zu drehen. An dieser Stelle dabei noch vorgeführt bekommt, dass das organi- dem alltäglichen Ärger mit dem Vorgesetzten ist relevant, dass mit der gesellschaftlichen Zu- sationale Gerangel auch ohne einen abläuft, ist und den Kollegen abstrahiert, und auf jenes nahme an Möglichkeiten und tatsächlich wah- sehr schnell zu sehen, dass man funktionalisiert subtile Wut-Klima fokussiert werden, welches rgenommen Perspektiven gleichzeitig auf Seiten ist, trotz der (durch die Organisation eingeforder- sich überall dort einnistet, wo der Mensch sich der Mitarbeiter die Kontingenz ersichtlich wird, ten) Beobachtungsfähigkeit, die dennoch keinen selbst nicht mehr (bemerkbar) verorten kann, die in sozialen Verhältnissen liegt. Niemand wird Unterschied macht. Einen Unterschied würde es weil er durch sich selbst und andere nicht mehr mehr in gesellschaftliche Rollen und Milieus hi- nun machen, seine Wut zu organisieren, und in- als relevante Grösse wahrgenommen wird. Der neingeboren, die nicht zu verändern sind. Das nerhalb der Organisation wirken zu lassen, statt Grund-Gedankengang ist, dass Organisationen hat zur Folge, dass Optionen, aber auch die Be- im gesellschaftlichen Raum dazwischen, also im in Bezug auf die Wut sich als janusköpfige Ge- schränkungen von sozialen Situationen sichtbar organisationalen Vakuum. Die Wut in der Gesell- stalten offenbaren. Zum einen produzieren sie werden, gegen die man sich auflehnen kann. Und schaft zum Ausdruck zu bringen braucht Mut. die Zustände, die zur Wut führen, weil sie Per- auch Beschreibungen des Marktes sind mit ei- Noch mehr Mut braucht es aber, sie in den Or- sonen als Unpersonen funktionalisiert behan- nem Gegenargument, einer anderen Beobachtung ganisationen zum Ausdruck zu bringen; wenn deln, obwohl sie auf der Ebene der «Tonspur» zu wiederlegen. Da dieses Prinzip nun für jeder- man daran beteiligt sein will, zu klären, wo man vorgeben, auf das ganze Individuum einzuge- mann offen liegt, kommen die Organisationen einen Unterschied machen soll und wo nicht, und hen. Zum anderen entschärfen sie die Wut im ins Straucheln, da das Prinzip der steuer- und welchen Unterschied die Organisationen in Ein- Kontext der eigenen «vier Wände», in dem sie berechenbaren Ordnung, und damit der Sicher- klang mit unseren Werten in der Gesellschaft ma- in Form von Funktionen und Rollen, um nur heit, nicht mehr aufrechterhalten werden kann. chen sollen, in der wir leben wollen. zwei Beispiele zu nennen, Berechenbarkeiten, Es bleibt nicht unbemerkt, dass man als Mitarbe- Sicherheiten und (dadurch) Entlastungen schaf- iter, wenn überhaupt, nur halb und funktionalisi- *bewirtschaftet vom Forschungsschwerpunkt Unternehmens- fen. Der Preis der einen Seite ist die Vorausset- ert in der eigenen Organisation vorkommt. Und entwicklung der Berner Fachhochschule, www.wirtschaft.bfh. zung für das Entstehen der anderen Seite. Die auch ausserhalb der Organisationen geht dieses ch, Kontakt: [email protected]

12 KKulturessaysulturessays ÉPIS FINES Von Michael Lack

ESSEN UND TRINKEN Tatort Kasse Von Barbara Roelli Bild: Barbara Roelli

aben sie sich auch schon überlegt was auf den anderen losgeht. Vielleicht hat ihn der H wäre, wenn sie beim Grossverteiler an andere nur schräg angeschaut oder gesagt, er der Kasse etwas fallen lassen? In der Hektik solle mit seinem Einkaufswagen nicht mitten etwas aus dem Einkaufswagen heben würden im Weg stehen – es gäbe auch noch andere – dabei nicht genügend fest zupacken, sodass Leute, die zu den Regalen wollen. Und er, der es ihnen aus der Hand rutschte? Angezogen in Ruhe einkaufen wollte und überfordert war, von der Schwerkraft würde sich das Lebens- weil er sich zwischen all den Produkten – den mittel so schnell dem Boden nähern, dass sie über dreissig Joghurtsorten, zwanzig Fertigpiz- kaum Zeit hätten, einmal zu blinzeln. Mit ei- zen und Bananen, Max Havelaar oder Chiquita, nem dumpfen «Flop» würde der Joghurtbecher entscheiden musste – er fühlte sich in seiner DIE SCHWEIZER- auf den Steinboden fallen, der Aluminiumde- Freiheit angegriffen. Er müsse sich von einem MACHER-RÖSTI ckel könnte dem Druck nicht standhalten und Dahergelaufenen nicht sagen lassen, was er zu würde reissen. Oder das Tetrapack Milch – es tun habe, und überhaupt ginge es ihn einen würde sich beim Aufprall wie eine Tischbombe feuchten Dreck an, wie er sich durch die Regale Jeder kennt sie, die Rösti! entladen. Und unter all den glotzenden Augen- dieses Ladens bewege. In diesem Land würde paaren, die hinter ihnen anstehen und endlich einem schon oft genug gesagt, was man zu tun 500 Gr. Bio- Kartoffeln ihre Einkäufe bezahlen möchten, müssten sie und zu lassen habe. Er habe die Nase voll von 1 Stk. Tomate die Folgen ihres Malheurs beseitigen. all diesen Vorschriften! Und noch mehr habe er 60 Gr. Schinken Neulich im Coop hörte ich solch einen verrä- genug von solchen Kontrollfreaks wie ihm! Da- 20 Gr. Champignons frisch terischen Knall. Jemandem muss an der Kasse rauf konterte der «Kontrollfreak», dass es zum ½ Stk. Zwiebel etwas zu Boden gefallen sein. Zwischen den Re- Glück Regeln gebe, weil sonst genau solche An- 60 Gr. Geriebener Käse galen recken die Kunden ihre Hälse. Der Knall archisten, wie er einer sei, die Schweiz in ein war unüberhörbar und typisch für Glas, das zer- Chaos stürzen würden. Das war zuviel für den Vorbereitung splittert. Erst als ich mich in die Warteschlange «Anarchisten». Kurzerhand schnappte er den Kartoffeln im Wasser bissfest kochen und einfüge sehe ich, was passiert ist. Unter dem Pinot noir, den er nach langem Auswahlpro- durch den Röstiraffler reiben. Tomate, Cham- Förderband ergiesst sich eine bordeauxrote zess in den Wagen gelegt hatte, und ging damit pignons und Zwiebel in Ecken schneiden. Lache über den kalten Steinboden, die bereits auf den «Kontrollfreak» los, der Richtung Kas- Schinken in Streifen schneiden. Ofen auf 180c vom Haushaltspapier daran gehindert wird, se flüchtete. An der Kasse holte ihn der «An- vorheizen. sich weiter zu verbreiten. Wie ein Schwamm archist» ein und wuchtete ihm die Rotweinfla- nimmt das Papiertuch die rote Flüssigkeit auf. sche über den Schädel. Zubereitung Bilder eines Tatorts. Grüne Glassplitter geben «Fräulein, sie sind an der Reihe», sagt ein Die Rösti mit etwas Salz und Pfeffer würzen. den Hinweis auf die Tatwaffe. Mitten in der alter Mann hinter mir. «Oh, Entschuldigung!», Nun in einer Bratpfanne mit etwas Butter gold- Lache entdecke ich einen abgebrochenen Fla- sage ich, und lege schnell meine Einkäufe auf gelb braten. Die restlichen Zutaten darauf le- schenhals. Ungewöhnlich still stehen die Kun- das Förderband. Die Kassiererin grüsst mich gen und für ca 10 min in den Ofen schieben. den an der Kasse an, wo das Unglück passiert und bemerkt: «Passen sie auf die Scherben auf! Die Rösti schön gratinieren. ist. Betroffen schauen sie zu Boden und sind Da hat vorhin jemand eine Flasche Rotwein fal- bemüht, nicht in die dunkle Pfütze zu treten. len lassen. Ist ja nicht weiter schlimm, kann je- Langsam beginnt sie einzutrocknen... dem mal passieren.» Es war wohl eine Frage der Zeit, bis so et- was passieren würde. Dass einer austickt und

ensuite - kulturmagazin Nr. 107 | November 2011 13 WIR " < ,/  BRINGEN  *,",

EUCH Zubin Mehta KLASSIK MIGROS-KULTURPROZENT-CLASSICS, SAISON 2011/12 ORCHESTRA DEL MAGGIO MUSICALE FIORENTINO Mittwoch, 9. November 2011, 19.30 Uhr, Tonhalle Zürich Zubin Mehta (Leitung) Francesco Piemontesi (Klavier)* *Schweizer Talent Ludwig van Beethoven: Ouvertüre «Egmont» op. 84 Wolfgang Amadeus Mozart: Konzert für Klavier und Orchester Nr. 25 C-Dur KV 503 Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 3 Es-Dur op. 55 «Eroica»

Billette ab Fr. 25.- (Schüler/Studenten/AHV ab Fr. 15.- an der Abendkasse). Vorverkauf: Migros City, Billett-Service, Tel. 044 221 16 71; Tonhalle, Billettkasse, Tel. 044 206 34 34, und übliche Vorverkaufsstellen.

www.migros-kulturprozent-classics.ch

Jazz, Weltmusik, neues Songwriting und Elektronik:

Zürcher Hochschule Live-Musik in der Turnhalle des PROGR Bern – jeden Mittwoch für Angewandte Wissenschaften und jeden Sonntag.

School of 02.11.11 MARK BERUBE (CANADA) WORLD FOLK Management and Law 06.11.11 PHALL FATALE (CH/UK) HARDCORE POP JAZZ 09.11.11 FINK (UK) PERFECT DARKNESS 13.11.11 NIK BÄRTSCH’S RONIN (CH) RITUAL GROOVE MUSIC 16.11.11 INFINITE LIVEZ SOLO (UK) NEO RAP & ELECTRONICA 20.11.11 IN THE COUNTRY (NORWAY) GREAT NEW TRIO JAZZ Informationsveranstaltung 23.11.11 70 JAHRE IRÈNE SCHWEIZER – LES DIABOLIQUES (CH/FRANCE/UK) MAS Arts Management JAZZ & MORE 27.11.11 AURELIO & GARIFUNA SOUL (HONDURAS) Dienstag, 29. November 2011, 18.15 Uhr AFRO CARIBBEAN SOUNDS Stadthausstrasse 14, SC 05.77, 8400 Winterthur 30.11.11 SOCALLED (CANADA) Start der 13. Durchführung: 20. Januar 2012 JIDDISH RAP POP

ZHAW School of Management and Law – 8400 Winterthur Zentrum für Kulturmanagement – Telefon +41 58 934 78 54 Konzertort: im PROGR Vorverkauf/Tickets: www.zkm.zhaw.ch Speichergasse 4 www.starticket.ch 3011 Bern www.petzitickets.ch Building Competence. Crossing Borders. OLMO Ticket, Zürcher Fachhochschule Programminfos: www.bee-fl at.ch Zeughausgasse 14, 3011 Bern KKulturessaysulturessays

Der lange Weg vom Narzissten zum Individuum

Von Stanislav Kutac Bild: stanislavkutac.com

nterscheidungsvermögen ist die Krö- Erwachen unterdrücken wir jäh mit dauerhaf- egoistischen Motiven. Freilich auf deren Er- U nung eines langen Weges vom Minder- ter Ablenkung und gegebenenfalls mit Pharma- rungenschaften basierend sich bequemend, wert hin zur Verantwortung. Im Zeitfragment zeutika. mal etwas für das Wohl der ganzen Zivilisation von Facebook und Datenschutz tanzt der ruhe- Selig die, welche in diesem Dilemma den zu tun. So hehre Motivationsschübe mögen die lose Netzwerker mit seinem Arsch auf hundert Egoisten in sich entdecken. Die persönliche eigene Bedeutung um ein Vielfaches himmel- Hochzeiten und bleibt ledig seiner selbst. Wir Neurose wenigstens zum Eigennutz missbrau- wärts schrauben, andererseits zwingen sie den geben alles Preis ohne uns selbst zu kennen. chen. Dadurch eine gewisse Rücksichtslosig- Individualisten zur Verantwortung, denn nun Wir wollen überall dabei sein ohne auf etwas keit zum Leben erwecken, die sie zwangsläufig wird er von den vielen, die das Individuum in zu verzichten. Wir schreien nach Liebe und Altes über Bord schmeissen lässt und Lücken sich noch vermeiden, beäugt, beurteilt, benie- wissen es besser. Nichts als Widersprüche, öffnen für Neues, noch Unbezogenes. Diese den, manchmal sogar verherrlicht. die uns vor sich hertreiben, wie Schäferhunde Form der Kreativität mag sich zwar noch vom Was aber ist das Individuum? Streng ge- ihre Herde. Ja, die Masse, das sind wir. Wir, Falschen ernähren, gebiert aber so manches nommen weist es auf das Unteilbare in uns hin. die wir glauben so besonders zu sein mit unse- Wunder, das den Täter eines Besseren zu be- Also das Indiskutable. Das unanfechtbar Sei- ren Ansichten, Sehnsüchten und Ängsten. Mo- lehren vermag. Eigennutz und Rücksichtslosig- ende. Also genau das, was dem Narzissten so derne Software analysiert uns mit Leichtigkeit keit, kreativ genutzt, nicht wie meist nur um schmerzlich zu fehlen scheint. Womit sich der und ohne Skrupel oder Moral, besser als jeder sich vor vermeintlichen Gefahren zu schützen, Kreis schliesst. Ein Kreis, der auf Ursache und Psychiater. Sie sagt uns nur nicht, wie durch- bedarf schon ziemlicher Entschlossenheit ei- Wirkung beruht, und dennoch bei genauem schnittlich wir sind. Das, von dem wir glauben, nes Menschen, dessen Selbstwert nur so vor Hinsehen in sich längst rund ist, frei ist sich im dass es uns unterscheidet, macht uns gleich. sich hindümpelt. Schon deshalb schaffen es Kreis zu drehen, oder das ganze Spektrum vom Wir leben in einer narzisstischen Welt, deren nur wenige «Consuming Dependents» von ih- konformistischen Narzissmus bis hin zum tran- Grundlage von Minderwert geprägt ist, deren rer Sucht loszukommen. szendenten Individualismus hinter sich zu las- Sucht die Kompensation ist, mit der wir uns Einen noch grösseren Schritt bedeutet es, sen – fähig geworden selbst zu unterscheiden. identifizieren, während wir fortwährend ih- als Folge eines vielleicht einmal momentwei- ren Ursprung negieren. Zweifelsohne ist das se gesättigten egoistischen Eigenvorteilsden- gut fürs Geschäft. Verleugnete Unzufrieden- kens den Individualisten in sich hervorzukeh- heit kommt in einem ästhetischen Gewand da- ren. Den unabhängigen Freidenker, dessen her und hat Hochkonjunktur. Aufkommendes Zivilcourage nicht mehr nur geprägt ist vom www.individualist.ch

ensuite - kulturmagazin Nr. 107 | November 2011 15 KKulturessaysulturessays

EIN LEBEN AUS IDEEN Als Künstler anfangen - Teil 2 Von Albert le Vice

FORTSETZUNG...

Die beiden versagen nicht. Nach gut einjähri- ger Bauzeit sind sie Besitzer des ersten fahrbaren Kleintheaters, das diesen Namen auch verdient.

In diesem Moment beginnt ein grosses Aben- teuer: wirklich, handfest und rea1.

Die Betteltour beginnt. Und alle Welt findet die Idee fantastisch, aber leider ... Die netten Ausreden sind vielfältig, zahlreich und äusserst kreativ.

Es ist eben ein wirkliches Kleintheater, ein kleines Theater-Haus mit geschlossenem Zu- schauerraum für gut 120 ZuschauerInnen, Büh- Das permanente Rechnen fängt an, das Pla- ne, Stühlen, rotem Vorhang und mit brauchbarer nen, das Feilschen, das Organisieren von Fach- Heizung für den Winterbetrieb ... Und die Betteltour endet dort, wo solche Tou- wissen, und das Aushalten der bangsten aller ren der Söhne zu enden pflegen, in der Obhut bangen Fragen: ... was passiert mit uns, wenn wir sich sorgender Eltern, die sich für einen Bank- versagen? kredit verbürgen.

16 ensuite - kulturmagazin Nr. 107 | November 2011 Es ist ein Theater im selben Geist wie jenes in den Kellern, nur eben noch etwas frecher, noch gewagter, aber auch professioneller – nämlich in der Weise, dass es seine Protagonisten zu ernäh- ren vermag. Und das sind mittlerweile drei Per- sonen ... Der dritte Schritt Am 9.Oktober 1968 erlebt «das schiefe Theater» (so heisst dieses fahrende Kleintheater nämlich) seine Premiere. Gerade diese Frage, die Frage nach gesell- schaftlicher Relevanz in der Kunst, ist zu jener Zeit, also 1968, und von den Achtundsechzi- gern gestellt, zentral; und sie bringt zwei junge Künstler, die von sich sagen, sie wollten Poesie ins Alltägliche bringen, in arge Bedrängnis. Für die Dogmatiker von damals ist es unverständlich, dass es Leute gibt, die dem Gewöhnlichen die Ausstrahlung des Unerwarteten, des Absurden geben wollen, und die dem nicht Routinierten, Wer nach diesem Anfang traditionelle Clow- dem nicht Schematisierten und dem nicht Ge- nerien erwartet, täuscht sich. Im schiefen Thea- wohnheitsmässigen das Wort reden. Der Main- ter spielt die Clownerie durchaus eine Rolle, aber stream der 68er verlangt in jener Zeit nach ei- das Alltägliche, das sich ins Absurde steigert, ist nem politischen Programm in unseren Geschich- weitaus wichtiger. ten – und er irrt sich. Die erste Vorstellung spielt sich etwa so ab: Das Haus ist gerammelt voll – bis auf den letz- Zum Beispiel – die Geschichte mit den zwei Soweit meine heutige Geschichte über die ten Platz besetzt. Die Leute sitzen dicht an dicht, Taschenlampen (nur als bunte Lichter sichtbar), Idee «schiefes Theater», die für die beiden da- und die ersten beginnen bereits zu schwitzen. die sich ineinander verlieben; oder die Geschich- mals jungen Theatermenschen wegweisend (Weg Das Saalicht geht aus, man hört, wie sich der Vor- te von der Standuhr, die aus dem Tick-Tack-Takt weisend im Wortsinn) war. Gewiss, das Risiko für hang öffnet. Ein lauter Tusch (wie zum Beispiel fällt und mit ihrem eigenen Pendelschlag in Kon- uns war riesig gross und ein Scheitern hätte ein im Zirkus üblich). Auf den letzten Ton des Tuschs flikt gerät; dann die Geschichte von den zwei sich jahrelanges Abstottern der durch den Bau ent- leuchtet ein Scheinwerferkegel senkrecht auf die langweilenden Engeln auf des Himmels Wolken, standenen Schulden zur Folge gehabt. Die Kehr- Bühne. Der erste der beiden Spieler, der Grosse, die aus lauter Langeweile in der Hölle zu fischen seite der Medaille: Zwei junge Künstler haben, tritt auf und stellt sich in den Kegel – gekünstelt beginnen; oder jene eines Pariser Pissoirs, das dieser Idee wegen, ihren Weg in die Kleinkunst lächelnd. Zweiter Tusch. Sein letzter Ton, auf den zur Bühne für Männerbeine wird usw. usf. gefunden – und waren glücklich. Sieben Jahre der zweite Lichtkegel aufleuchten sollte, miss- war das schiefe Theater in Europa auf Tournee. glückt: Er quietscht wie ein missratener Klarinet- Aber davon dann später, in einer weiteren Ge- tenton: hoch, hässlich und von magerer Qualität. schichte. Und anstelle des grossen Scheinwerferkegels wird jetzt ein kleines, mickriges Lichtlein sicht- bar. Der Auftritt des Kleinen geht in die Hose. Die Geschichte beginnt. PAUSE

17 KKulturessaysulturessays Werbung im ensuite wird gelesen! Das haben Sie sich selber gerade bewiesen.

ensuiteKULTURMAGAZIN

Im Dezember sind wir wieder das Highlight für 105 000 LeserInnen! Buchen Sie jetzt, schnell. Wir haben nicht unbeschränkt Platz.

WIR OFFERIEREN - SIE PROFITIERN Gute Sichtbarkeit kostet auch im Jahr 2011 Geld. Werbung macht man im- mer noch mit klassischer Werbung, Facebook & Co. sind nur Teilkon- zepte. Und Erfolg kommt auch nur durch Ihren Einsatz: Die Anzeige. Im ensuite sind Sie günstig einen Monat Mit Sue am See lang sichtbar und werden gelesen. Von Stanislav Kutac Bild: stanislavkutac.com Wir helfen Ihnen beim Werbekonzept - inhaltlich, wie produktionstechnisch. ie hatte Sommersprossen. Als wir uns am und deren offenes Herz zart das Miteinander- S See nicht nur zum Baden trafen, schien die sein gewährt. Wenn der Spiegel dann zurück- Reden Sie mit uns: Sonne noch kräftig und verschwieg glaubhaft schnalzt, der angehaltene Atem wieder in Gang Telefon 031 318 60 50 den Sturm, der sie vertreiben sollte, noch bevor kommt, um im nächsten Augenblick wieder still [email protected] der Abend das Selbige tat. Wir liessen uns nicht zu werden gleich dem zugekniffenen Auge, be- stören, auch von fremden Blicken nicht derje- herrscht eine seltsame Anmut den Rhythmus nigen, die jenseits am anderen Ufer ihren Lie- des Geschehens. Klack. Klack. Klack. Angezo- ensuite.ch gestuhl aufgeschlagen hatten und so taten als gen von der Berauschtheit, setzte sie sich nie- kulturagenda.ch würden sie nichts sehen von all dem, was wir der, vielleicht um auszuruhen, vielleicht aus pu- vor hatten. Libellen flogen umher wie kleine rer Neugier, vielleicht... «Stechen die?» – «Nein bunte Hubschrauber, kaum Schnaken, dafür Ge- die stechen nicht. Die fressen nur Fleisch!» zwitscher mal nicht vom IPhone. Gelassenheit, Tatsächlich kam die besagte Libelle mehr- Gras und Milde legten sich über uns von Ort mals angeflogen, setzte sich auf Sues Körper zu Ort Getriebene. Für den einen Moment ge- nieder, und liess sich bereitwillig fotografieren. ZZinggingg nügten wir uns, sahen nur uns und dankten der Ich weiss nicht welchen Mut sie dafür aufbrin- Ein filosofisches Gespräch: Insel für ihren Schutz vor eigenen und frem- gen musste. Ich weiss nur, dass sie es freiwillig den Gedanken. Wer einmal vom Wasser umge- tat, genauso wie sie den Zeitpunkt wählte, wie- ben festen Boden unter den Füssen verspürt der weg zu fliegen und sich ihren angestamm- hat, eine kleine, übersichtliche, geordnete Welt ten Interessen zu widmen. Aber, wer weiss das A rose is a rose mit klaren Grenzen, der weiss, dass er seiner schon so genau, was in einer Libelle vor sich is a rose. Lebtage davon träumen wird, dorthin zurückzu- geht? Gertrude Stein 1913 kehren. Wir mussten nicht träumen. Träumen Il nome della rosa. von Bildern, die andere sich machen müssen, Umberto Eco 1980 weil sie sich diese nicht zugestehen. Bilder von Eingeborenen, die freudig sind mit dem, was A rose by any sie nicht kennen, deshalb nach nichts trachten, other name would was sie wegbringen könnte vom Eiland ihrer smell as sweet. Vorerfahrenen. An so einem Ort sind wir ge- William Shakespeare 1600 wesen, gar nicht weit weg, ganz nah und doch in einer anderen Welt. Einer aus Körper und Beschreibung einer Fotosession Mittwoch, 30. November 2011, 19:15h, Wahrnehmung erschaffenen Welt. Einer Welt mit Stanislav und Sue. Sternengässchen 1, 3011 Bern (Maja Kern) deren Augen sehen, deren Hände berühren, Kontakt Fotosessions: stanislavkutac.com/?cat=7

18 KKulturessaysulturessays

KULTUR DER POLITIK Auf den ersten Blick ist es Von Peter J. Betts uf den ersten Blick ist es zum Schreien gehört hatten, hinaus, damit möglichst rasch die lange die Versicherungen bezahlen, sind alte, sehr A komisch; auf den zweiten erschliesst sich zerschmetterte Leiche zugedeckt und die Kinder alte Menschen ganz bis zum Schluss eine willkom- verstehendes Schmunzeln; auf den dritten klickt in die Häuser hineingezerrt werden konnten. Ver- mene Verdienstquelle, helfen das Bruttoinlandpro- – vielleicht – der Denkapparat an. Vielleicht denkt such einer Trauma-Prävention für viele bei einer dukt steigern, und damit das Wachstum der Bran- mein Vetter in Hong Kong, ich hätte Sinn für Iro- finalen Problemlösung eines einzelnen Menschen. che. Weder Würde noch Glück sind statistisch er- nie... Jedenfalls sendet er mir eine Bilderserie, Ein Städtischer Baudirektor, der Doktor in Büch- fassbar, politisch also irrelevant. Und gibt es am die von einer Organisation unter dem Namen ners «Woyzeck» würde ihn als «ein guter Mensch» Ende doch Verzweifelte? EXIT hilft vielleicht, aber «Friends of Irony» zusammengestellt worden ist. bezeichnet haben, hat während seiner Amtszeit nur bei nachweislich unheilbaren Krankheiten. Zum Schreien komisch. Etwa eine stark verros- veranlasst, dass etwa zwei Meter unterhalb der Und der Anteil Menschen mit psychischen Stö- tete Blechbüchse, die «Rost-Öl» enthält, mit dem Mauerkante um die Münsterplattform herum ein rungen – was immer das heissen mag, was immer Werbespruch: «Verhindert das Rosten!». Oder solides, schräg gegen oben gerichtetes Drahtnetz die Folgen sind – nimmt in unserer Gesellschaft die Aufnahme eines Privatflugplatzgebäudes mit gespannt worden ist. Wer nach dem verzweifelten ständig zu. Sich vor einen Zug werfen? Wer heilt dem Namen «American Aviation» und dem gro- Sprung über die Brüstung dort landet und unver- dann den psychisch krank gewordenen Lokomo- ssen Plakathinweis auf die Flugschule, mit dem letzt bleibt, wird so geschockt und auch entwür- tivführer? Wer ist schon Apotheker oder Chemike- Bild eines kleinen, modernen Hochdeckers mit digt sein, dass sie oder er, auch wenn es theore- rin, oder wirkliche/r Kenner/in der Wirkung gifti- Bugrad, darunter der auf den Hauseingang wei- tisch möglich wäre, kaum die Netzschräge hinauf- ger Pilze, so dass ein sanftes Entschlafen möglich sende Pfeil und die höchst suggestive Aufforde- klettert und sich zum endgültigen Flug über die wäre, ohne dass ein Lokomotivführer oder eine rung: «Lerne HIER fliegen!» – am Boden ein paar Netzkante hinüberwälzt. Einsichtig geworden? Kinderschar traumatisiert werden müsste – wenn Schneeflecken, der majestätische Baum vor dem Statistisch betrachtet vermutlich schon, und der die Verzweiflung zu gross ist? Auf den ersten Eingang noch ohne Laub – in der Baumkrone das Erfolg der politischen Kultur wird fast ausschliess- Blick sind die mir von meinem Vetter zugeschick- jämmerliche Wrack eines Tiefdeckers, der offen- lich statistisch gemessen. Das Kinderspiel in der ten Bilder einfach nur lustig. Unbeabsichtigte Zu- bar die Landung nicht ganz geschafft hat. Oder Matte wird obsolet geworden sein. Beidseitig der fälle, mag man denken. Unbeabsichtigte? Unbe- ein Yachthafen, könnte in Nizza sein, wo zwei Kornhaus- und der Kirchenfeldbrücke verhindern wusste? Zwei Plakate übereinander. Das obere: Touristen auf einen Kastenwagen weisen, der Drahtnetze den Sprung über die Geländer, zumin- eine besorgt dreinschauende «Ärztin», rechts der ganz offensichtlich zu spät gebremst hat, über dest an den meisten Stellen, und Plakätchen an Text: Kinderfettleibigkeit solle nicht leichtgenom- die Hafenmauer abgekippt ist, und Schnauze vo- den Drahtnetzen erklären klar, dass das Klettern men werden; das untere: eine strahlende junge ran im Meer steckt; der Werbeaufdruck auf der auf den Netzten VERBOTEN IST. Gute Bürgerin- Frau mit Einkaufslisten in beiden Händen – auf ei- Seite des Kastenwagens: «TITANIC Service» mit nen und Bürger übertreten Verbote nicht. Nicht nem McDonald’s Plakat; geplanter(?) zufälliger(?) Telefonnummer. Sehr lustig! Heiter! Oder an ei- einmal zuletzt. Falls die Selbsttötungsrate – dank Widerspruch auf ein und dem selben Bild? Oder: nem Brückenpfeiler die grosse quadratische Tafel, der baulichen Massnahmen – gesunken ist: ein zu- willkommene Kulturvermittlung: Plakat für eine darauf steht ganz gross: KRISENBERATUNG, dar- verlässiger Hinweis, dass die Bevölkerung Berns Ausstellung des «African American Museum» im unter zwei Zeilen: ES GIBT HOFFNUNG / RUFEN glücklicher geworden ist? Vergleichbarer Mecha- Sedgwick Gefängnis? Oder das Wochenprogramm SIE AN, darunter etwas kleiner, dafür eingerahmt: nismus wie bei den Ausgesteuerten: sie erschei- in einem Kirchgemeindehaus: Montag: Anonyme DIE FOLGEN EINES SPRUNGS VON DIESER BRÜ- nen in den Statistiken auch nicht als arbeitslos. Alkoholiker; Dienstag: missbrauchte Ehefrauen; CKE SIND TÖDLICH UND TRAGISCH – darunter Problem gelöst? Arbeitsdruck gesunken? Mob- Mittwoch: Essstörungen; Donnerstag: Sag NEIN der offene Kasten mit dem Nottelefon, über dem bing eliminiert? Sinnentleerte Arbeit auch? Eben- zu Drogen; Freitag: Wache gegen Selbstmorde Nottelefon ebenfalls ein Plakat: «Zur Zeit ausser so wie Aufstiegsgerangel? Ablenkungsangebot als von Teenagern; Samstag: Suppenküche; Sonntag Betrieb, benützen Sie Ihr Handy», und die Ruf- Zusatzversicherung tauglich? Kommunikations- «Amerikas Frohe Zukunft». Gedankenlosigkeit? nummer. Ha, Ha, Ha? Oder: Falls Sie sich von ei- probleme inexistent? Wie es ja auf dem Plakat der Blanker Zynismus? Hegemonie der Werbung auf ner Brücke zu stürzen gedenken, vergessen Sie Ihr amerikanischen Brücke heisst: Es gibt Hoffnung... allen Fronten? Lesen- und Schreibenkönnen ein Handy nicht? Ha? Ha? Ha? Ein Denkversuch? Ein Und die meisten Menschen haben ein Handy. Ob Privileg? Friends of Irony liefern auch dazu ein befreundeter Regisseur lebte als Kind im Berner sie lesen können oder nicht. (Zurück zu den Sta- Beispiel, diesmal aus England: Einer britischen Mattequartier. Die Elternteile zu Hause, damals tistiken: Ist nicht jede fünfte Person nicht alpha- Umfrage ist zu entnehmen, dass die Frage, ob meist Mütter, lebten, wenn die Kinder vor dem betisiert? Lesen und schreiben einfacher Texte man der Meinung sei, es gebe gegenwärtig zu vie- Hause, unter der Mauer der Münsterplattform nur einer privilegierten Minderheit zugänglich? le Fremde im Lande, von 18% mit JA beantwortet spielten, unter ständiger Spannung. Ein beliebtes Haben Sie sich selber schon ertappt, wie Sie unter worden sei, 82% hätten wie folgt geantwortet: (es Spiel der Kinder hiess: «S chunnt wider eine!» – Analphabetismus leiden? Beispielsweise in einer folgt eine Zeile in arabischer Schrift). Der Vor- Der Spielverlauf? Eines der Kinder, in der Mitte asiatischen oder orientalischen Kleinstadt, in der schlag aus den USA: Können Sie nicht lesen? Dann der Kinderschar, warf eine Stoffpuppe so hoch wie Sie keinen einzigen Strassennamen, keinen Wer- schreiben Sie uns... Wir helfen. Auf den ersten nur möglich in die Luft und schrie dabei: «S chun- bespruch lesen können, und sich etwa ausgerech- Blick ist es zum Schreien komisch; auf den zwei- nt wider eine!» – alle Kinder stoben auseinander. net erst wieder als Mensch fühlen, wenn Sie eine ten erschliesst sich verstehendes Schmunzeln; auf Wer dann am nächsten bei der Aufschlagstelle der Coca-Cola-Reklame des Logos, der Farben wegen den dritten klickt – vielleicht - der Denkapparat Puppe war, hatte verloren. Nun, die Mütter hat- entdecken?) Wenn die Selbsttötungsrate – dank an. Vielleicht denkt mein Vetter in Hong Kong, ich ten alle einen kleinen Stapel Wolldecken drinnen der baulichen Massnahmen – gesunken ist: wo hätte Sinn für Ironie. Was er mir geschickt hat, vor der Haustüre placiert. Rief eine der Mütter: «S bleibt der Beitrag zur Problemlösung der Überal- geht tief. Ein bisschen Ironie? chunnt wider eine!», rannten alle anderen, die es terung der Gesellschaft? Nur halb so schlimm: so

ensuite - kulturmagazin Nr. 107 | November 2011 19 LLiteraturiteratur

LITERARISCHE FRAGMENTE 20 Seit jeher unterwegs Von Konrad Pauli

ie Vater, als er um Mutter zu werben Abständen, ein Fremder sozusagen in ihr Re- nun seinerseits Augen und Ohren offen, er- W anfing, sie auf einstündigem Fuss- vier, in ihre Jagdgründe eindrang und, worauf hielt von der jungen Frau auch den einen oder marsch zu Hause auf dem Hügel vor dem Wald denn sonst, auf Beute aus war. Auch wenn kein- anderen Hinweis, so dass er sich zu wappnen aufsuchte, sonntags, wenn die Arbeit eine Weile er von ihnen in der Gunst der jungen Frau auch wusste, stets ausgeklügeltere Umwege ein- und ruhen durfte. Die erste Zeit gab es für ihn je- nur die geringste Chance hatte – es gehörte sich ausbaute, und schliesslich dem unverdienten weils einen andern Grund, Vorwand, den Besuch nicht, verletzte jeden wenn auch ungeschrie- Strafgericht mit Erfolg entging. zu machen: Als junger Schneider kam es vor, benen Ehrenkodex, dass einer von ausserhalb dass man ihm eine Arbeit brachte, die mit Vor- sich gewissermassen wildernd im eigenen Ter- Die Texte von Konrad Pauli sind gesammelt als Buch erschienen: zug eine Frau, Damenschneiderin, zu erledigen ritorium herumtrieb. Also fingen sie an, dem verstand. Ja, er kenne eine Schneiderin, er wer- fremden Frevler aufzulauern – was für sich al- de ihr die Arbeit, den Auftrag bringen, die Sache lein schon ein reizvolles Wochenendvergnügen nach Erledigung auch dort wieder abholen. war – warteten womöglich stundenlang, um Schliesslich glückten dem jungen Mann die den Übeltäter zu stellen, ihm eine Lektion zu Seit jeher unterwegs - Prosa Sonntagsbesuche auch ohne Vorwand. Kam aber erteilen – ein für allemal. Edition Isele, Kreuzlingen/Eggingen dazu, dass die ortsansässigen jungen Männer Über Spürsinn verfügte indessen auch der 2011. S. 296 Wind davon bekamen, dass, in regelmässigen Verliebte und fremde Bewerber – und er hielt ISBN 978-3-86142-511-3

LESEZEIT Bann, unter ihnen Gerhard Optatus Bauer, wie sie Lebende kennen, und die selbst für ein begeisterter Blumenbergianer, und die die kleinste Unterscheidung notwendig ist. Von Gabriela Wild exzentrische Isa, die sich hoffnungslos in Lose Zeilen aus einem Goethe Vers: «Nicht den Professor verliebt hat. Sterben müssen mehr bleibest du umfangen/in der Finster- er Professor wundert sich, und ent- alle fünf, inklusive Professor, knapp hin- nis Beschattung,/und dich reisset neu Ver- D schliesst sich kurzerhand auch ein- tereinander, auf wenigen Seiten, und das langen/auf zu höheren Begattung» – Und so mal zu einer ungewöhnlichen Handlung. Er nicht aus einem erzähltechnischen Zusam- kommt es zur angekündigten Verwandlung: schenkt sich ein Glas Wein ein, und setzt menhang, nein, fast schon in der Art einer «Königlich, königlich schollernden Klan- sich mitsamt dem Glas im Schneidersitz buchhalterischen, grausamen Aufzählung. ges fuhr Blumenberg! aus dem Rachen des auf den Boden, in etwa zwei Metern Ent- «Der Erzähler hätte besser daran getan, Ver- Löwen. War der Mann in der Höhle bisher fernung zum Löwen. Der Löwe seinerseits zicht zu üben und nicht mit einer solchen nicht viel mehr gewesen als Luft an der nimmt es gelassen, und Blumenberg, so der Häufung aufzuwarten», meldet sich kein Luft, schien auf den Namenszuruf hin eine Name des Professors, hat den Eindruck, der anderer als der Erzähler selbst zu Wort. andere Materie ihn zu befüllen. Lichtsen- Löwe freue sich. Blumenberg mustert das «Ein Erzähler hat aber die Pflicht, auch das dendes Blut zirkulierte in seinen Adern. Er helle Haar am Bauchrand des Löwen und Unwahrscheinliche wahrheitsgetreu zu ver- strahlte und zitterte und hielt die schwan- an der Unterseite der Pranken. Rechts auf zeichnen. Möglichst knapp. So wurde in der kenden Arme weit ausgebreitet. Da hieb seiner Brust verläuft eine lange Narbe bis Geschichte nun mal gestorben, und so wur- ihm der Löwe die Pranke vor die Brust und zum Ansatz des Vorderbeines. Hatte ein de es eben festgehalten, festgehalten zum riss ihn in eine andere Welt.» übergrosser Wille dem Löwen dazu ver- Zweck neuerlicher Verwandlung, wie sich Ein virtuos geschriebener Roman von holfen, sich selbst das Existenzprädikat zu bald zeigen wird.» Ketzerisch endet das Sibylle Lewitscharoff, und scheinbar wie geben, oder war der Löwe etwa doch nur Kapitel: «(…) all diese Tode wären jeweils nebenbei eine Hommage an den Philoso- ein Hirngespinst von ihm, Blumenberg? ein ganzes Leben wert gewesen. Waren sie phen Hans Blumenberg (1920-1996). Blu- Leidet er an Halluzinationen? Er kann den es? Das Gegenteil könnte genau so gut der menberg sammelte während vielen Jahren Löwen, der ihn seit kurzem regelmässig Fall sein – der Tod hat keinen Wert, das Le- in Literatur und Bildender Kunst Löwen- im Arbeitszimmer oder im Vorlesungssaal ben allen.» Nach dem Tod treffen sie wieder Geschichten und -Bilder. Die Löwen von besucht, sogar riechen. Nervenexzentrisch, aufeinander, in einer Art Nirwana-Zustand, Henri Rousseau zum Beispiel betrachtete vielleicht, aber nicht verrückt – doch be- in einem areligiösen Himmel, oder auf einer er als «verhinderte» Löwen, weil Rousseau unruhigen tut es den Philosophieprofessor Beckettschen Bühne. Sich in der Schwebel- das Paradies malte, einen Ort an dem Lö- schon, dass ausser ihm niemand den Löwen age zwischen Heilsanteil und Schuld befin- wen am wenigsten das sein können, was sieht. Zumal das Auftauchen des Tieres in dend. Die Studenten richten die Blicke auf sie sind.

mehrere Leben hinein wirkt. Ohne es zu ihren Professor. Doch Blumenberg fehlt die Sibylle Lewitscharoff, Blumeberg, merken, geraten fünf Studenten in seinen Angriffslust, der Antrieb durch die Sorge, Roman, Suhrkamp 2011.

20 LLiteratur-Tippsiteratur-Tipps

Helgason, Hallgrimur: Eine Frau bei Düffel, John von: Goethe ruft 1000 Grad. Roman. Aus dem Isländi- an. Roman. Dumont. Köln Hacker, Katharina: Eine Dorfgeschich- schen von Karl-Ludwig Wetzig. J.G. 2011. ISBN 978 3 8321 9649 te. S. Fischer. Frankfurt am Main 2011. Cotta’sche Buchhandlung. Stuttgart 3. S. 318. ISBN 978 3 10 030066 9. 125. 2011. ISBN 978 3 608 50112 4. S. 400.

Goethe und Eckermann Magischer Sommer Unkraut vergeht nicht John von Düffel: Goethe ruft an. Roman Katharina Hacker: Eine Dorfgeschichte. Hallgrimur Helgason: Eine Frau bei 1000 Grad. Roman. Übersetzung: Karl-Ludwig Wetzig.

oethe ruft an ist nicht nur Titel, sondern lle Sommer zusammen, die die Geschwis- ie 1929 geborene, in der Jetztzeit in einer G auch erster Satz des neuen Romans des A ter Simon, Frederik und die namenlose D Garage ans Bett gebundene, von Krebs Schriftstellers und Dramaturgen John von Düf- Ich-Erzählerin in einem Dorf im Odenwald ver- zerfressene Isländerin Herbjörg Maria Björns- fels, in welchem es über weite Strecken um bringen, sind eine Zeit für sich. Als würden dort son begleiten wir auf eine Zeitreise durch das erste Sätze geht. Auch über die Konkurrenz, andere Uhren gehen, sind sie nach der Ankunft letzte Jahrhundert. die nicht sein kann, jene zwischen dem Gross- aus der Stadt aus allen Pflichten, die Zuhause gel- Brütet sie in ihrem letzten Lebensabschnitt schriftsteller Goethe, der zwar nicht wirklich ten mögen, entlassen. Die Mutter ruft am ersten wie ein Huhn auf einer Handgranate, um sich Goethe ist, aber sicher ebenso klassisch, und Abend nicht einmal zum Essen, und die Kinder wenigstens diese letzte Handlungsmöglichkeit der sogar über sein alter ego schreibt und dürfen sich, so wie sind, ins Bett legen. Ungewa- noch offenzuhalten, ist der Erzählton, in wel- es mit diesem Werk in China auf Platz eins schen, mit Spuren aus Feld und Wald an Händen chem sie die märchenhaften Jahre ihrer Kind- schafft, und dem erfolglosen Ich-Erzähler, für und Gesicht. heit auf Island beschreibt, ein ganz anderer. welchen das Schreiben ein steter Kampf ist. Die Grossmutter, die die Kinder vergöttern Düsterer hingegen das Kapitel zum Zweiten Nun ruft Goethe an, um seinen, zumindest und von der sie die körperliche Zuwendung er- Weltkrieg, in dem die Familie auseinanderge- schriftstellerisch, unbedeutenden Freund um halten, welche ihnen die Mutter verwehrt, pflanzt rissen wurde und sie bei ihren Grosseltern in einen Gefallen zu bitten. Dieser soll ihn näm- Beete an, zunächst mit Gemüse, später mit Ro- Dänemark landete. Dort wird ihr die Schule lich in seinem Sommerkurs «Leichtschreiben» sen. Der Grossvater, der ständig etwas repariert durch ihre Mitschüler, denen sie allen «zu is- in der Lausitz vertreten, er selbst muss nach und an seinem Stock spazieren geht, ist den Kin- ländisch» ist, vergällt. Es beginnt eine Zeit der China. dern dagegen weniger nah. Ihr Vater tritt kaum sexuellen Übergriffe und später noch der se- Die nötigen Instruktionen werden ihm ei- in Erscheinung. xuellen Ausschweifungen, daraus entstandene gens von der Assistentin, vom Ich-Erzähler Sie sind «die aus der Schule», weil sie wäh- Kinder behindern Herbjörg nicht in ihrem Frei- Eckermann genannt, überbracht, inklusive ei- rend ihres Aufenthalts in der ehemaligen Schu- heitsdrang. Immer wieder proklamiert sie wäh- nes Füllers, denn nur von Hand kann Leicht- le wohnen. Andere Dorfgestalten werden nach rend der 400 Seiten des Romans ihre Pionier- schreiben gelingen. ihren körperlichen Besonderheiten oder ihrer rolle als emanzipierte Frau in einer Zeit, als ein In aller Herrgottsfrühe reist der Ich-Erzäh- Funktion benannt: Der Hinker, der Korbflechter, Grossteil der Frauen dies eben nicht war. ler in Richtung des Luxushotels. Dort trifft er der Jäger. Ganz zeitgemäss surft die alte Dame in ih- auf den Literaturkritiker Schwamm, der einst Der blinde Korbflechter, der mit seinen hand- rem Garagendomizil im Internet und findet so seinen ersten Roman verrissen hat und nun gefertigten Produkten regionale Berühmtheit er- heraus, dass ihre drei Söhne sie nicht nur abge- selbst seit Jahren mit dem perfekten ersten langt und, wenn auch kein Virtuos an der Orgel, schoben und um Haus und Vermögen betrogen Satz kämpft, die promiskuitive Unterhaltungs- diese doch spielen kann, fasziniert die Kinder haben, sondern sehnsuchtsvoll auf ihr Ableben schriftstellerin Court-Mahler, die sich vergeb- und macht ihnen gleichzeitig Angst. Den behäbi- warten, um auch noch an das restliche Erbe he- lich um Tiefe bemüht, das Ehepaar Rotten- gen, etwas schwermütigen Jäger, der sich nur mit ranzukommen. Doch Herbjörg lässt sich nicht meier, das aufs Protokoll bedacht ist und die Mühe in die Hochsitze wuchten kann, begleiten lumpen und bedient sich neuerer krimineller Anweisungen des Kursleiters sklavisch befolgt die Kinder zuweilen. Methoden, um gegen ihre nächste Verwandt- – bis dato zumindest. Wobei Herr Rottenmeier Die Erzählebenen verschwimmen, nun ist es schaft vorzugehen. unerwartet für eine kleine literarische Sensa- die Ich-Erzählerin, die als einzige der Geschwis- Dem 1959 geborenen Helgason gelang 1996 tion sorgt. ter mit ihren eigenen Töchtern für die Sommer- mit «101 Reykjavik» – vielen mag der gleichna- Schnell ist klar, dass alle Teilnehmer auf der frische zurückkehrt. Der einst kleine Frederik mige Film noch in Erinnerung sein – der inter- Jagd nach dem Manuskript mit der Geheimfor- ist nach Amerika ausgewandert, und der ältere nationale Durchbruch. Seit da ist er auch aus mel fürs Leichtschreiben sind, das der neue Bruder Simon stirbt noch als relativ junger Mann der internationalen Literaturwelt nicht mehr Kursleiter bereits am ersten Tag verloren hat. und wird auf dem Friedhof des Dorfes beigesetzt. wegzudenken. Mit viel lauten, zwischendurch Eines Nachts aber gelingt ihm das scheinbar Die Grosseltern sind ebenfalls längst verstorben. aber auch leisen Tönen beschreibt er die acht Unmögliche: mit seinem Füller schreibt er sei- Lange tot. Das Dorf der Kindheit, eine Welt voller Jahrzehnte umspannende Biografie von Herb- ne eigene Anleitung zum Leichtschreiben. Geheimnisse, Geisterwesen und Märchenwälder, jörg, der das Leben zwar manchmal auch übel Von Düffels virtuoser Klamauk ist von poin- durchsetzt mit Zeugnissen des Krieges, welcher mitgespielt hat, die daran aber keineswegs zer- tenreichen Dialogen getragen, eine positive die Spiele der Kinder prägt und sie mit Ausdauer brochen ist. «déformation professionelle» des Theaterman- Flüchtlingszug spielen lässt, wird auch mit dem nes, und der Witz sprüht nur so. Wir lassen Älterwerden nie ganz entzaubert. Das magische uns das gerne gefallen, wenn auch der Roman Denken und die Freiheit nehmen, zumindest in etwas kürzer hätte geraten dürfen. der Erinnerung, kein Ende.

ensuite - kulturmagazin Nr. 107 | November 2011 21 TTanzanz & TheaterTheater

«LEONCE UND LENA» AM SCHAUSPIELHAUS ZÜRICH «Ich bin ich, was halten Sie davon, Präsident?» Von Belinda Meier Foto: Matthias Horn

Ein politisches Märchen, das von der inhaltleeren Befehlen ausdrücken. Michael sind jedoch alles andere als voneinander an- Liebe zweier füreinander bestimmter Neuenschwander glänzt in der Rolle dieses getan. Leonce ist ein Müssiggänger durch Menschen handelt. Seine Sprache verwirrten, von der realen Welt abgedrifteten und durch. Er vertreibt sich den Tag mit Ab- schwelgt in der Poesie, und die Insze- Königs, der unverständliche Ansprachen hält, surditäten wie dem Zählen von Staubkörnern, nierung lebt von viel Körpereinsatz und sich einen Knoten ins Schnupftuch bindet, um dem auf Steine Spucken, oder Erörterungen sich an sein Volk zu erinnern, und der vor dem wie warum sich der Mensch die Nase mit den Humor. Mit grandios interpretierten versammelten Staatsrat nichts zu sagen weiss Händen putzt und nicht mit den Füssen, wie musikalischen Intermezzi bedient sie ausser: «Ich bin ich – was halten Sie davon, es die Fliegen tun. Um der Hochzeit und den alle Kanäle. Das ist Georg Büchners Präsident?». Das Phänomen der Langeweile ist Aufgaben als zukünftiger Herrscher zu ent- «Leonce und Lena» unter der Regie aber nicht an eine historische Zeit gebunden. kommen, flieht Leonce zusammen mit dem ar- von Barbara Frey. Auch die moderne Gesellschaft kennt sie. Die beitsscheuen Herumtreiber Valerio kurzerhand Industrialisierung und Technologisierung hat nach Italien. Prinzessin Lenas Welt sieht ähn- ie Langeweile kehrt in allen Schriften uns den Fortschritt gebracht und uns mehr Zeit lich leer aus. Sie fühlt sich eingesperrt und ein- D Büchners wieder, so auch in «Leonce eingeräumt, die sogenannte Freizeit. In dies- sam hinter den königlichen Mauern und flieht und Lena». Unter anderem als Folge politischer er Freizeit treiben wir Sport, treffen uns mit zusammen mit ihrer Gouvernante ebenfalls Desillusionierung musste Büchner die Lange- Freunden, gehen tanzen, lesen Bücher, hören nach Italien. Dort treffen sie durch Zufall au- weile selbst am eigenen Leibe erfahren. Um Musik, schauen Fernsehen, gehen Shoppen und feinander, verlieben sich, und schaffen es letzt- den richtigen Ausdruck des 19. Jahrhunderts vieles mehr. Tun wir das, um vor der Lange- lich durch eine raffinierte Täuschung, doch zu verwenden spricht man korrekterweise von weile zu flüchten? Weil wir uns sonst mit uns noch von König Peter getraut zu werden. «ennui». Damit wird ein beklemmender Zu- selbst und unserer Sterblichkeit beschäftigen Flucht in die Komik Vor dem Hintergrund stand bezeichnet, der durch die Ohnmacht her- müssten? Wahrscheinlich. Das Bühnenbild von dieser Handlung sind es die Dialoge, die bril- vorgerufen wird, nichts bewirken zu können, Bettina Meyer deutet jedenfalls darauf hin: Die lanten poetischen Wortschöpfungen und phil- und schliesslich in der Resignation mündet. Langeweile, die durch Beschäftigungstherapie osophischen Gedankenkonstrukte, welche die Im postrevolutionären Europa litt vor allem die unterdrückt werden will, wird mit zahlreichen thematische Reichweite begrifflich machen. Oberschicht darunter. Schaufensterfronten von Boutiquen und Läden Die Figuren, allesamt bizarre, verschrobene Flucht vor dem Ich? In «Leonce und Lena» angedeutet. Gestalten, wissen weder ihre Pflichten wah- parodiert Büchner das politische System Langeweile und Ohnmacht «Leonce und rzunehmen, noch sind sie ihrer selbst Herr. des Spätabsolutismus, treibt dabei die Aus- Lena» erzählt die Geschichte der beiden Sie sind Ohnmächtige, und damit Gefangene wüchse des «ennuis» auf die Spitze, die sich Königsfamilien Pipo und Pipa, die sich durch ihrer Körper, ihres Standes und ihrer Zeit. Die in König Peters skurriler Regentschaft, sein- eine Heirat zusammenschliessen wollen. Prinz Komik dient als Fluchtweg. Die Sprache, in der en Nonsense-Reden ebenso wie in seinen Leonce von Pipo und Prinzessin Lena von Pipa das lyrische Wort der Handlung vollkommen

22 ensuite - kulturmagazin Nr. 107 | November 2011 TTanzanz & TTheaterheater überlegen ist, ruft sie ebenso hervor wie der Kontrast zwischen der Sprache und dem, der sie spricht. Letztlich ist es natürlich auch die zelebrierte Langeweile selbst, die Anlass zum Schmunzeln gibt. Schauspiel und Gesang zum Besten gegeben Regisseurin Barbara Frey versteht es bestens, diese Komik auszuloten, dabei aber nie die Grenze zur reinen Lächerlichkeit zu übersch- reiten. Die Ernsthaftigkeit, mit der die Figuren ihrem Schicksal begegnen sowohl als auch die Ruhe, die sie trotz ihres tölpelhaften Wesens bewahren, machen dies möglich. So gelingt es Jirka Zett in der Rolle des Leonce sehr gut, die Facetten seiner Figur, die vom Müssiggän- ger über den Träumer, dem Verliebten bis hin zum Gelangweilten und Resignierten reichen, überzeugend darzustellen. Valerio, dieser Leb- enskünstler, der sich ebenfalls sehr gerne re- den hört, und dazu noch, wie Leonce, keine Anstalten macht, einer anständigen Arbeit THEATERGRUPPE BURGDORF nachzugehen, wird von Markus Scheumann verkörpert. Die Gratwanderung zwischen ein- fältigem und genialem ebenso wie zwischen mysteriösem und närrischem Wesen meistert Das Festkomitee er vorzüglich. Wenn er dann noch mit dem leg- endären Song «I Put a Spell on You» von Screa- Von Lilo Lévy Bild: zVg. min’ Jay Hawkins die Gouvernante bezirzt, stiehlt er Leonce vollends die Show, und macht as Image einer Kleinstadt soll aufpoliert die Bühne zur seinigen. «I Put a Spell on You», D werden, denn sie soll attraktiv für Tou- Spieldaten 1956 herausgebracht, ist aber nicht irgendein risten werden. Es wird beschlossen, ein Stadt- Casino Theater Burgdorf Lied. Dieses exzentrische Liebeslied, welches spektakel zu veranstalten, und ein Festkomitee trotz dem Boykott seitens der Radiostationen gegründet, dessen Mitglieder bei den Vorbe- Première Fr. 25.November 2011 und einiger Plattenläden zum grossem Erfolg reitungen auf ein scheinbar historisch beleg- Sa. 26. November 2011 wurde, erzählt von einer Liebe, die sowohl aus- tes, jedoch völlig unbekanntes Helden-Duo der So. 27. November 2011 weglos als auch bedingungslos ist, und wird Stadtvergangenheit stossen. Der perfekte Stoff Sa. 03. Dezember 2011 von schrillem Geschrei, Gebrüll und Grunzen für ein historisches Festspiel mit Umzug. Al- So. 04. Dezember 2011 begleitet. Ob es nun «I Put a Spell on You» lein, das Vorhaben in die Tat umzusetzen er- Fr. 09. Dezember 2011 von Hawkins ist, «Good Night» von den Bea- weist sich als schwieriger als gedacht. Nicht Sa. 10. Dezember 2011 tles, «Hör ich das Liedchen klingen» von Rob- zuletzt, weil die unterschiedlichen und zuwei- So. 11. Dezember 2011 ert Schuhmann oder ein anderes Lied, die In- len störrischen Mitglieder des Komitees unge- Dernière Sa. 31.Dezember 2011 terpretationen sind bestechend (Musik: Claus bremst aufeinander prallen. Die turbulenten Boesser-Ferrari; Barbara Frey) und die Songs Vorbereitungen enden schliesslich im komplet- sorgfältig in die Handlung eingebettet. ten Chaos, und das Festspiel entwickelt eine Freitag und Samstag, jeweils um 20.00 Uhr. Barbara Freys Inszenierung überzeugt Eigendynamik, mit der niemand gerechnet hat. Sonntag 17.00 Uhr durch die schauspielerischen Leistungen eben- Die unterschiedlichen Charaktere des «Fest- Silvester Dernière 18.00 Uhr so wie durch das moderne Bühnenbild und die komitees» machen Alan Ayckbourns Theater- Interpretationen der musikalischen Intermezzi. stück zu einer Gesellschaftsstudie der be- Vorverkauf Die Thematik der Langeweile, die als Folge von sonderen Art. Obwohl der Regisseur Stefan Buchhandlung am Kronenplatz Überdruss und Ohnmacht schliesslich in eine Meier (Hausregisseur Theater an der Effinger- 034 422 21 75 existentielle Krise mündet, hat universalen strasse Bern) in seiner Mundart-Adaption die Tourist Office Bahnhof Burgdorf Charakter, und wird in Freys Inszenierung be- Geschichte in eine Kleinstadt in der Schweiz 058 327 50 52 hutsam angedeutet – zeitweise fast zu behut- versetzte, könnte sie überall stattfinden. Denn Online www.theaterburgdorf.ch sam, sodass hinter der Komik der Ernst zu ver- wer kennt sie nicht, den umständlichen Komi- schwinden droht. teevorsitzenden, seine bestimmende Frau, den Die Abendkasse öffnet eine Stunde vor Vor- sozialistischen Lehrer, die liebenswerte, aber stellungsbeginn. etwas schwerhörige Protokollführerin, den en- Telefon 034 422 40 00 ergischen Ex-Militär, und all die anderen sch- www.tgburgdorf.ch rulligen Kleinstädter. Rasant, turbulent und mit einer gehörigen Portion Ironie überzeich- Nächste Spieldaten: 1., 9., 10., 11., 21., 29.11., 3. net Ayckbourn dabei das kleinbürgerliche Und 5.12., jeweils 20h Denken, immer augenzwinkernd und moralin- (Originaltitel «ten times table» Uraufführung Infos und Tickets: www.schauspielhaus.ch frei. Ein schräg-heiteres Vergnügen, garantiert 1977 im Stephen Joseph Theatre in Scarbor- Telefon 044 258 77 77 ohne Nebenwirkungen. ough) von Alan Ayckbourn.

23 TTanzanz & TTheaterheater

MUSIKALISCHE THEATERPERFORMANCE De-/Montieren oder die Bastelanleitung fürs Leben

Von Fabienne Naegeli – Best Practice liefert «Life under Construction» Bild: zVg.

erzlichen Glückwunsch zu Ihrer Ent- gesunder, von sich überzeugter Künstler mit ernst nehmen, oder entsprechen mir doch eher H scheidung! Mit dem Kauf einer unserer Dauerlächeln im Gesicht, der glaubt ein ori- Yoga, Feng Shui, Zen und die Lebensweisheiten Identitäten haben Sie sich für breite Funkti- ginelles, selbstbestimmtes Leben zu führen, meines Personal Lifestyle-Coaches und Motiva- onalität, grosse Variabilität, ein preiswertes bricht bei den Dreharbeiten unerwartet zu- tionstrainers? Was macht für mich Glück aus? Programm und einen hohen Qualitätsstandard sammen und versinkt in seine eigene Welt. Welches sind meine Bedürfnisse, Wünsche und entschieden. Lesen Sie bitte vor dem Visionen? Kann ich meine Identität Aufbau Ihres Ichs diese Montagean- anders als mit Konsum ausdrücken, leitung durch. Sie enthält wichtige respektive, was bleibt am Schluss Informationen für eine fachgerechte von meinem Ich übrig, wenn mein Bedienung, die unbedingt beachtet iPad und meine Nespresso-Maschi- werden müssen. Garantieleistungen ne weg sind? Vielleicht die Liebe gewähren wir nur bei Ausführung – oder doch nicht? Das Vordringen durch qualifiziertes Personal mit des Schauspielers in seiner Eigen- entsprechendem Werkzeug, sowie welt, das Entdecken wie auch Aus- bei zulässigem Einsatz des Lebens. probieren der Konstruktion seines Auf Wunsch ist eine Lieferung wei- Selbst wird durch das ständige Ab- terer Einzelteile möglich. Wir bera- bauen, Neukonstruieren, Bemalen, ten Sie gerne individuell für Ihren Zusammenschweissen, Zerlegen Charakter-Bedarf. und Umwandeln der Bühne visu- Für fast alles gibt es Gebrauchs- alisiert. Ein Lebensplan wird als anweisungen, Handbücher, Leitfä- unbrauchbar verworfen, ein neuer den und Ratgeber, die einem in ei- wird gestrickt, der schlussendlich nigen wenigen Schritten mit zahlrei- auch nicht aufgeht, der Schauspieler chen Tipps & Tricks, Strategien und hadert, pickt den nächsten heraus, hilfreichen Konstruktionsplänen er- befolgt ihn, scheitert wieder. Durch klären, wie man etwas zusammen- diese permanenten Anläufe entste- bauen oder bedienen muss, damit es hen immer neue, oft Fragment blei- funktioniert, und was man zu beach- bende Bilder, welche die Musik aus ten hat, um seine eigene Sicherheit Geräuschen, Keyboard, Harfenklän- dabei nicht zu gefährden. Doch ein gen, Samples und elektronischen Leben nach perfekt vorgefertigtem Sounds untermalt, oder denen sie Muster wie der Bauanleitung eines Themen entgegensetzt und neue Im- Ikea-Regals – gibt es das? Das The- pulse gibt. Während der Proben zu ater- und Kunstkollektiv Best Practi- «Life under Construction» brachte ce thematisiert in ihrem ersten ge- jeder der Künstler von Best Practi- meinsamen Stück «Life under Con- ce aus seinem Bereich Materialien struction» solch ideale Lebenspläne und Ideen mit. Gemeinsam bastelte und deren (Un-) Möglichkeiten. Beim man an den Versuchsmomenten und Dreh eines Werbefilms für eine Le- verflocht Kunstformen sowie Medi- bensversicherung lassen sie hinter en zu einem stillen, melancholisch- die Kulissen dieser Scheinwelt mit ihren mo- Vorsichtig, voller Neugierde, und verwundert ironischen Abend mit ein paar kurzen, lauten dellhaften Charakteren blicken. Die Regie- und über sich und das ihm Begegnende tastet er Höhepunkten, der, so Andrea Brunner, die Mu- Produktionsleiterin mit ihrem Funkgerät hat sich unter den fremden, unsicheren Umständen sikerin von Best Practice, den «Charakter einer Kommunikationsschwierigkeiten, und ist über vorwärts. Geleitet von Klängen und dem sich Jam-Session» hat. das langsame Voranschreiten der Low-Budget- permanent verändernden Raum begibt er sich Produktion genervt. Die Statisten werden ange- in dieser anderen Realität mit ihren verschro- 2., 3., 5. November, 20:30 Uhr im halten ihre Sitzplätze zu wechseln, da sie an- benen Perspektiven auf die Suche nach seiner Tojo Theater (Bern) sonsten im Bild erscheinen. Der Kameramann Ich-Identität. Der von Konventionen, Regeln Idee, Konzept, Performance: Best Practice. schraubt noch an der Technik herum, und auf und Gesetzen geprägte Alltag weit entfernt, Sound: Andrea Brunner. Bühne/Visuelle Ge- dem armseligen Set, bestehend aus billigen nur noch in der Erinnerung, muss er sich den staltung: Klaus Fromherz. Text/Dramaturgie: Pappe-Wänden, wärmt sich der in Hemd und grossen Fragen des Lebens stellen. Wie ist die Dominique Müller. Endregie: Michel Schröder. Krawatte gekleidete Schauspieler Zigaretten Welt entstanden? Welche Meinung habe ich zu Lichtdesign: Daniel Müller. Kostüm/Bühnenas- rauchend auf. Er, eigentlich ein erfolgreicher, Religion? Gibt sie mir Halt und kann ich sie sistenz: Luisa Beeli.

24 MMusicusic & SoundsSounds

Das Universum des Carsten Nicolai Von Till Hillbrecht - Dem Nicolaischen Laboratorium für Feinton-Belastung

entkeimt ein neues Album Foto: Sebastian Mayer

eine Frage, Carsten Nicolai gehört zu Nicolai selber als Teil universeller Gesetzmä- Inhaber Olaf Bender (Rastermusic) und Nico- K den facettenreichsten Künstlern unserer ssigkeiten sieht, die zu brechen aber im Pakt lai (Noton) zu einem Label zusammenspannten, Zeit. Der Labelchef, bildende Künstler und Mu- mit einer Art natürlicher Kreativität stehen: und bis heute gemeinsame Sache im Musik- siker aus Berlin tanzt solide auf verschiedenen «Viele meiner Arbeiten unterliegen einer Re- Kollektiv «Signal» machen. Hochzeiten: Bereits seine Malereien und Ins- gel und beinhalten Modellcharakter. Das Mo- Die entzückende Reduktion in der Klang- tallationen in den 80er-Jahren weisen starken dell als Ordnungsprinzip um chaotische Bewe- welt des Alva Noto Nicolai betreibt eine stark musikalischen Charakter auf. Die verschiede- gungen erkennen zu können. Mich interessie- wissenschaftliche Auseinandersetzung mit nen Hochzeiten sind bei genauerer Betrachtung ren diese beiden Momente, sie liegen ungeheu- Kunst. Daraus folgen algorithmische, kettenre- dann doch nur eine einzige: Nämlich die kon- er nah nebeneinander.» aktionäre Gebilde als Basis für sein Schaffen. sequente Prozession eines persönlichen künst- Als Musiker unter dem Pseudonym Alva Gerade für seine installativen Arbeiten bedient lerischen Prinzips, aus dem unterschiedliche Noto (zuvor nur Noto) veröffentlichte Carsten sich Nicolai prozessualen Vorgehensweisen um Projekte verschiedenster Gattungen entsprin- Nicolai bisher über 20 Alben auf seinem Label physische Gebilde zu konstruieren. gen. Nicolais gesamtes Werk, welches 2005 «Raster-Noton – Archiv für Ton und Nichtton». Nicht nur sein visuelles Schaffen ist sehr erstmals in einer Überblicksausstellung ge- Die Berliner Plattform für experimentelle Mu- physisch, auch Nicolais` Soundstrukturen ar- zeigt wurde, ist eine physische, experimentier- sik, namentlich der «Clicks&Cuts»-Szene, gilt beiten in stark raumgedachten Dimensionen, freudige Auseinandersetzung mit Strukturen heute als eine der weltweit wichtigsten Pro- indem er sein Klangmaterial an gegenüber- und seriellen Mechanismen. Bereits seine frü- duktionsstätten solider elektronischer Klang- liegende Pole heftet: Frequenzen, die gerade hen Arbeiten als bildender Künstler weisen werke. Vorausgegangen waren die beiden noch im höchsten hörbaren Bereich liegen, einen stark sequenziellen Charakter auf, den Labels Rastermusic und Noton, deren beide stellen sich dem Schlagabtausch mit akribisch

ensuite - kulturmagazin Nr. 107 | November 2011 25 MMusicusic & SSoundsounds WEIN? GUT! Von Claudia Langenegger

fein getrimmten Bewegungen im Subbassbe- worden. Es umfasst 14 Stücke, die allesamt mit reich. Polarisierend sind auch die selten ab- dem Präfix «uni» im Titel beginnen, die sich weichenden, rhythmischen Bewegungen seiner in ihrer Klangmaterie im wesentlichen auf ma- Ramos RReserva - dder PPortugiesei partikelartigen Grooves aus Strom- und Stör- nipulierte Knackser, Stör-, Strom- und Span- für trübe Novembertage geräuschen. Die statische, vertikale Klangle- nungsgeräusche beschränken und die Ästhe- gierung ist sorgsam homogen gehalten, und tik der nunmehr zwei Jahrzehnte Nicolaischer ls erstes: die Farbe. Ein bündiges Dun- es fallen jene Sounds auf, die darin gar nicht Minimalistik-Arrangierung beibehalten. Zum A kelrot, das, je nach Licht, das an diesem vorkommen: Nicolais Kompositionen arbeiten Glück: Das Werk ist das Resultat einer versier- Herbsttag durch die gelborangenen Bäume in auf eine gewisse Weise mit Negativ-Klangräu- ten Analyse musikalischer Dramaturgie, die mit meine Küche scheint, ein Violett durchschim- men, die zu füllen eine Schande wäre. Gemüts- reduzierten Mitteln prächtiger gedeiht als üp- mern lässt. Dominant aber das warmbraune zustand beim Anhören von Nicolais Alben? Re- pig orchestrierte Tanzmusik. Es ist die Gegen- Bordeaux, das sich mit dem Anfüllen des Gla- lativ neutral, angenehm neutral. Denn in dia- überstellung von dicht geschichteter Feinton- ses in durchscheinendes Schwarz verwandelt. tonische, harmonischere Gefilde bewegt sich Belastung und Stille, von weit gezogenem Tief- Ein gutes Zeichen, finde ich: Schwarz bedeu- Alva Notos Musik nur, wenn er einen Kollabo- ton-Puls und dem wilden Gestikulieren hoher tet kräftig. Und in diesen bitter-trüben Ta- rationspartner hat, der sich in diesem Bereich Klangfragmente. Wie physisch dieses Werk ist, gen liegt alkoholisch nur eins drin: stark und auskennt. Da wäre zum Beispiel Blixa Bargeld zeigt eine kleine Untersuchung seiner differen- wärmend, ab gutem Rotwein aufwärts. Dann von den Einstürzenden Neubauten zu nennen, zierten Klanglichkeit, wenn man «univrs» über kommt die Nase – wie eine waschechte Wein- der vor Jahresfrist zusammen mit Carsten Ni- Laptop-Lautsprecher hört und danach über die kennerin schwenke ich das Glas, bis der Wein colai das fulminante Album «ANBB» aufgenom- etwas besser ausgestattete Musikanlage zuhau- schön schwingt. Ich stecke meine Nase rein. men hat. Wenn Vokal-Künstler Bargeld darauf se abspieltt – die extremen Frequenzbereiche, Ich rieche, ja. Ich rieche etwas Gutes, Wohl- «One is the loneliest number» zu synthetischen die einen beachtlichen Teil der Kompositionen tuendes. Aber wie beschreiben? Schwer, kräf- Pad-Sounds trällert, wird sogar eine solide Pop- ausmachen, können von den zartkleinen Memb- tig, und doch irgendwie fruchtig. Blumen, Zit- Nummer Teil des hübsch strukturierten Nicolai- ranen der Computerlautsprecher gar nicht erst rusfrüchte, Pflaume? Nein, komplett daneben. schen Chaos-Masterplans. Das Lied, notabene, wiedergegeben werden. Hmm – ja, klar, was denn sonst: es riecht ist ein Cover von Harry Nilssons «One» aus dem Mit den nicht immer ganz einfach zu ver- nach reifen Trauben! Nach Weintrauben, die Jahre 1968. Empfehlenswert auch das Original. dauenden Musikproduktionen hat sich Raster- Trincadeira, Aragonez und Syrah heissen, Weiter zu nennen als meisterhafte Kolla- Noton schon seit Jahren eine solide Anhänger- und im Alentejo, gut 150 Kilometer östlich boration ist das Gespann Alva Noto & Ryuichi schaft geschaffen, die gerade im asiatischen von Lissabon, im Weingut von Joao P. Ramos Sakamoto, welches sich bereits mehrfach be- Raum erstaunlich gross ist und schnell wächst. aufgewachsen sind. wiesen hat. Neuestens auf dem ebenfalls 2011 Erst seit wenigen Jahren aber mischen sich un- Dieser Joao, Önologe von Beruf, versteht erschienen Album «Summvs», dann zwischen- ter dieses spezialisierte Publikum für schrä- etwas von seinem Handwerk. Seinen Ramos zeitlich auf «utp» (2008), zusammen mit dem ge Töne auch vermehrt Dancefloor-orientierte Riserva, von dem ich nun den dritten Schluck Kammerorchester «ensemble modern» und als Nachtschwärmer. Zum Zirkel der populären nehme, ist rund im Geschmack, voll und doch erste gemeinsame Arbeit auf «» und «vri- Noise-Meister um das Label gehören neben süffig. Keiner, bei dem das Tanin pelzig auf oon» (2004). Der Erfolg des japanischen Avant- Nicolai auch Ryoji Ikeda, Frank Brettschnei- der Zunge kleben bleibt, keiner, der ohne Es- garde-Pianisten und des Deutschen Soundtüft- der und Ben Frost. In einem der angesagtes- sen nicht getrunken werden kann, und doch lers beruht wohl auf der virtuosen Behandlung ten Dancefloor-Clubs der Welt, dem Berghain einer, der bei kräftigen Winter-Znachts und ihrer Instrumente und dem beinahe lückenlo- in Berlin, treten diese Künstler regelmässig Apéros aromatisch bestehen kann. Zum Test sen Wissen, wie weit sie sich mit ihrem Klang- vor vollen Rängen auf. Die totale Physikalität gehören der rezente Gruyere «extravieux» raum ausweiten können und dürfen, ohne sich der Musik ist denn auch am ehesten Live zu und scharfer Vacherin meiner Käserei des gegenseitig auszuliefern. Ryuichi Sakamotos erfahren, nicht zuletzt durch überdurchschnitt- Vertrauens. Selbst mit diesen geschmacklich feine Akkorde, vorsichtig angedacht zwischen lich hohe Dezibelwerte in gleissenden Höchst- hammerartigen Bissen im Mund schlängelt Erik Satie und reduziertem Free-Jazz, bieten frequenzen und druckvollen Subbassbereichen, sich der Ramos mit Leichtigkeit daran vor- diesmal nicht den Pol, sondern die Ergänzung die man dann vor allem in der Magengegend zu bei, und dockt an die Geschmacksknospen an, zu Alva Notos Klangschichtung, die teilweise spüren bekommt. Wie Carsten Nicolai einmal so dass ich staune. Der Portugiese gesellt sich aus manipulierten Samples aus Ryuichis Kla- schön gesagt hat: Sein Kammerton ist die Fre- so hemmungslos zu den Schweizer Deftigkei- vierspiel stammt. In der Regel aber bleiben No- quenz der elektrischen Spannung von 50 Hertz. ten, dass ich begeistert bin. Mein Nachbar, tos Sounds weit entfernt von allem, was einem Ziemlich deutlich unter dem gängigen Konzert- seines Zeichens Weinexperte, riecht, nimmt Instrument im klassischen Sinne klanglich nahe kammerton A mit 440 Hertz. Und persönlich einen Schluck, sagt kurz und knapp: «Wald- kommen könnte. befriedigend seien Klänge um 11100 Hertz, das beeren, rund, sehr gehaltvoll. Und Preis/Leis- kompakt/lose, langsam/schnell, sehr hoch/ entspricht der Tonhöhe beim Einschalten des tung? Einmalig!» sehr tief: Das neue Album «univrs» Unter dem Fernsehgerätes. Und die 440 Hertz liegen bei Titel «Univrs» ist in diesem Oktober nun das Alva Noto bestenfalls irgendwo ungehört in ei- Aprior Weinhandel, Wasserwerkgasse 10, 3011 Bern, Di.-Fr. jüngste Album von Alva Noto veröffentlicht nem Off-Space. 17h-19h. Sa. nach Absprache, Tel. 031 311 05 06 Preis: 12.50 SFR. 26 MMusicusic & SSoundsounds INSOMNIA IRGENDWO IM MITTELLAND Von Eva Pfirter endeln – das ist ein Leben auf Rädern, ein P Leben im Zugabteil, ein Leben zwischen gepunkteten SBB-Sitzen. Wenn man mit Pen- deln anfängt, ist es, als ob man in eine unsicht- bare Gruppe bestimmter Menschen aufgenom- men würde – in die Gruppe jener, die täglich JAZZ zwei oder drei Stunden im Zug verbringen, im Zug Kaffee schlürfen, im Zug arbeiten, im Zug mit den Liebsten telefonieren. Plötzlich wird Ooh, ooh, I‘m an Eliane… das Zugabteil zum Wohnzimmer, in dem man mal alleine ist, mal nicht. Man wird ganz unver- Von Luca D‘Alessandro Bild: zVg. hofft zur Spezialistin für SBB-Wagen. Niegelna- gelneuer Wagen mit gepunkteten Sitzen? Sehr «…I’m an Eliane in New York…» – In der zählen Prince, Björk und der «Godfather of Soul» gute Beinfreiheit, im Sommer jedoch eindeutig US-Metropole ist es im Mai erschienen, James Brown, was aber nicht heisst, dass sie zu kalt. Eleganter ICE? Phantastisch, viel Platz bei uns seit zwei Monaten verfügbar: deren Musik imitiert. Eliane Amherd schreibt für Gepäck und mit ein bisschen Glück ein gan- «Now and from Now on», das Debüt- ihre eigenen Texte, komponiert und arrangiert zes 6er-Abteil für sich alleine. Dann ist es fast album der Jazzsängerin und Gitarri- die Titel und organisiert die Aufnahmen. wie im Schlafwagen: Türe zu, Musik ins Ohr Die Vereinigten Staaten sind Elianes Wahl- und wegdösen. Doppelstöcker? Sehr empfeh- stin Eliane Amherd. heimat geworden. Da lebt sie, tüftelt an neuen lenswert ist da das 2er-Abteil oben unmittelbar Projekten, die sie dann in der Schweiz auf ih- an der Treppe. Und wenn immer möglich den as Wallis ist nicht nur für seine Berge ren Besuchen zweimal jährlich präsentiert. «Oft Spielwagen umgehen: Zu laut, zu hektisch, zu D und die malerischen Feriendörfer be- ergibt es sich aber auch, dass ich mit Leuten anstrengend für regelmässig Zugfahrende. kannt. Es beherbergt auch Talente. Sina ist uns aus der Schweiz spontan etwas mache. Die- Während die Stunde Feierabend, die man vertraut. Auch der Moderator Sven Epiney hat sen Sommer zum Beispiel war ich am Festival im Zug verbringt, so richtig mühsam ist, hat den Sprung nach ganz oben geschafft. Im Ver- «Klanglandschaften» in Blatten zu Gast, wo ich die Reise am frühen Morgen hin und wieder gleich dazu ist Eliane Amherd der breiten Mas- mit dem Organisator ein spontanes Konzert ge- auch etwas Schönes. Es kann gar richtig zau- se noch unbekannt, was sich vielleicht schon ben durfte. Er spielte Akkordeon, ich Gitarre. berhaft sein, im durch die grünen Wiesen rol- bald ändern wird, denn: Die Sängerin, Gitarris- Es sind wertvolle Begegnungen, die es mir er- lenden Zug langsam wach zu werden: Das Ber- tin und Songwriterin hat geschafft, wovon vie- möglichen, den Kontakt zur hiesigen Jazzszene ner Münster schaut verschlafen aus dem Dunst le nur träumen. Sie hat die Top Ten verschie- aufrecht zu erhalten.» über der blaugrünen Aare, ein roter Bus schau- denster Radiosender in den USA gestürmt, und Für ihre CD-Releasetour, die im Septem- kelt über die Lorrainebrücke, und am Horizont nicht nur von der Fachpresse hervorragende ber auch einen Stop in der ONO Bar in Bern macht sich hinter blaugrauer Alpenkulisse ein Noten bekommen; auch die New Yorker Musik- beinhaltete, hat Eliane Amherd ihre New Yor- rosa Streifen breit. Später grüsst im Mittelland szene ist begeistert von ihr. «Eliane rocks», ker Band in die Schweiz einfliegen lassen. Das linkerhand der welsche Jura, der wie Streu- liess sich etwa der Gitarrist Marc Ribot sei ihr wichtig, sagt sie, «schliesslich gibt es sel aus einem rahmigen Nebelkuchen schaut. zitieren. nichts Besseres als das Debütalbum gleich mit Nebelschwaden, überall Nebelschwaden – als Doch stellen wir uns zunächst die Frage: jenen Musikern zu präsentieren, die auch bei wäre das Flachland zwischen Bern, Zürich und Wie kommt eine Rhonetalerin dazu, die New den Aufnahmen dabei waren.» Es sind dies un- Basel eine grosse, halberloschene Feuerstelle, Yorker Szene derart aufzumischen? «Aufmi- ter anderen der Drummer Willard Dyson, der aus der unaufhörlich Rauch aufsteigt. Es ist die schen? Na ja», lacht Eliane, «nach Abschluss in der Vergangenheit mit Cassandra Wilson perfekte Kulisse für meinen Unterwegs-Song der Jazzschule in New York entschloss ich auf der Bühne gestanden hat, oder der Bassist von Züri West: «Dr Kanton Aargou flügt vrbii mich, die Zelte noch nicht abzubauen. Es folg- Gustavo Amarante aus Brasilien, der mit John / u millione toti Flüger / chläbe chrüz u quer / te eine arbeitsintensive Zeit mit zahlreichen Scofield eine CD aufgenommen und mit Romero verquetscht a mire Windschutzschibe / voruss Konzerten, an denen ich sowohl die Rolle als Lubambo des öfteren zusammen gespielt hat. wird‘s langsam Morge / u vor mir am Horizont Frontfrau als auch als Sidewoman übernahm. Begleitet wurde Eliane Amherd auf ihrer Tour- gseht me em Jurasüdfuess sini grüene Socke Das ist der Vorteil an New York: Du kannst je- nee von Carmen Bayard an den Back Up-Vocals rächts am Biudrand /chliini Dörfli i de Hügle / den Abend irgendwo auf der Bühne stehen. Am – einem Walliser Nachwuchstalent, welches na- luter Hüsli wit u breit / wie Pfäfferchörner über Ende hatte ich genug Routine, mein eigenes tionale Auftritte mit Stephanie Heinzmann zu nes gigantischs Rüehrei gschtröit.» Projekt zu pushen.» ihrem Curriculum zählen kann. Und manchmal, wenn es ganz still ist im Eliane Amherd denkt stilübergreifend, lässt Zug, kommt mir noch ein anderer Satz von sich nicht kategorisieren, und probiert gerne Eliane Amherd Kuno in den Sinn: «Mir si die letschte Mönsche neue Genres aus. Ihr Debütalbum «Now and Now and from Now on (ELI) uf dr Wält...» Doch irgendwann endet das stille from Now on» ist ein lockerer Mix all ihrer Ein- Eliane Amherd (g, voc), Bill Ware (vibes), Gustavo grüne Mittelland und wir erreichen den Bahn- flüsse, die von brasilianischen Beats über Pop Amarante (b), Willard Dyson (dr), Ze Mauricio (p) hof. Und stürzen uns hinaus in den reißenden bis hin zum Soul reichen. Zu ihren Vorbildern Info: www.elianeperforms.com Menschenstrom, der uns unaufhaltsam vor- wärts treibt.

ensuite - kulturmagazin Nr. 107 | November 2011 27 Immer gratis ein Kulturmagazin zu lesen zeugt von wenig Respekt der Kultur gegenüber.

Wir brauchen mehr AbonnentInnen.

✓Ja, ich will ab sofort ensuite abonnieren. Im Abo inklusive ist das Schweizer Kunstmagazin artensuite. Pro Jahr 11 Ausgaben (Juni/Juli ist eine Doppelnummer). Preis pro Jahr: 77 Franken / AHV und Studierende 52 Franken Ich wünsche  Ausgabe Bern  Ausgabe Zürich

Name, Vorname des neuen Abonennten

Strasse, Nummer

PLZ, Wohnort

E-Mail

e oder Telefonnummer it u n s te n as te fk r rie Ort, Datum und Unterschrift a B & im ch h tli Ein Abonnement ist ab Rechnungsdatum für ein Jahr gültig. Ohne Kündigung ic na r mo wird das Abo um ein Jahr verlängert. Eine Kündigung ist jeweils jährlich, ü - Z bt 2 Monate vor Ablauf des Abonnements, möglich. , le n dt er ta r S B ne e ei Ausschneiden und Einsenden an: b D a in ensuite - kulturmagazin | Sandrainstrasse 3 | 3007 Bern sg as u , w en AAusgabeiss Bern, Zürich & artensuite WWissen, was in Deiner Stadt lebt - monatlich im Briefkasten MMusicusic & SSoundsounds Der Rosen- kavalier Stummfi lm mit Live-Musik

MUSIKGESCHICHTE Phall Fatale Von Sandro Wiedmer Bild: zVg.

Schon mit der Formation OM hat Fre- ihrer Ausdruckspalette mittels Sampling und dy Studer die Musikgeschichte der anderen elektronischen Mitteln, was sie an- Schweiz fortgeschrieben, nicht minder fänglich mit der Formation Lauschangriff aus innovativ und prominent tut er das glei- Zürich unternommen hat, in ihrem Solo-Projekt che mit dem Trio Koch Schütz Studer, Oy, mit dem Duo Stade aus Lausanne, seit ei- niger Zeit nun auch mit den Bernern Filewile. ganz zu schweigen von den unzähligen – Zwischen Norwegen und der Schweiz pendelt anderen Aktivitäten des umtriebigen die in Schaffhausen aufgewachsene Joana Ade- Luzerners. Nun hat er mit dem neuen ri, welche neben ihren Aktivitäten als Stimm- Projekt Phall Fatale ein weiteres Pferd Akrobatin, unter anderen mit ihrem Solo-Act im Stall. Eiko, auch praktizierende Free Climberin ist. Am Festival «Stimmen» in Lörrach vor zwei Jahren war sie zusammen mit dem korsischen at Ornette Coleman einst mit der Grün- Vokal-Ensemble A Filetta beteiligt an einem H dung seiner Prime Time Band die Jazz- multimedialen Projekt mit Texten von Fernan- welt revolutioniert, indem er Schlagzeug, Bass do Pessoa. – Der britische Kontrabassist John und Gitarre doppelt besetzte, den Boden für Edwards gehört sicher zu den prominentesten sein Saxophon und die Geige zu schaffen, kehrt Exponenten der (Free) Jazz- und Avant Garde- Sa, 26.11.11 19h30 Fredy Studer nun sozusagen das Konzept auf Szenen. Teil von Kevin Martins legendärer ne- den Kopf, indem er als Schlagzeuger zwei Kont- unköpfigen Formation God, der B-Shops for the So, 27.11.11 15h00 rabässe und zwei Frauenstimmen befeuert. Bei Poor, später Remote Viewers, ist er mit seinem Stadttheater Bern der Gründung 2008 konnte zunächst einmal Instrument ebenso solo wie als gefragter Ses- von einer Versuchsanordnung gesprochen wer- sion-Musiker unterwegs. – Der Churer Daniel den, inzwischen ist das Projekt zu einer Band Sailer schliesslich, der es mit Vorliebe laut und Berner Symphonieorchester zusammengewachsen, wie sich auf dem Ende heftig mag, ist mit Krakatau, Plutoniumtrans- Frank Strobel Dirigent Oktober erschienenen Album-Erstling «Charco- port und dem Duo Frachter unterwegs, vor kur- al from Fire» nachhören lässt, welches das La- zem ist er auch zum Duo Cortex von Alex Buess Regie: Robert Wiener (Österreich 1926) bel Kuenschtli als Doppel-Vinyl und CD heraus- und Daniel Buess gestossen. Musik: Richard Strauss gebracht hat. Produziert hat das Werk niemand Was die fünf auf die Bühne bringen wird geringerer als Roli Mosimann (Swans, Young in der Schublade «Rock» abgelegt, ist aber der Mit Einführung vor dem Konzert im Foyer des Stadttheaters: Gods, Wiseblood etc.), aufgenommen wurde in Song-Form etwa zu gleichen Teilen verpflich- Ulrich Wünschel Im Gespräch mit dem Polen. tet wie der Improvisation. Das kann gehörig Dirigenten Frank Strobel Es versteht sich wohl von selbst, dass auch grooven, wobei der Sprechgesang der Frauen die Besetzung nicht anders als hochkarätig ge- schon fast als Rap daherkommt, oft lässt auch e nannt werden kann: Die Frauenstimmen kom- die «Hardcore Chambermusic» von Koch Schütz it Karten: BERN BILLETT, Nägeligasse 1A u n men von Joy Frempong und Joana Aderi, welche Studer grüssen. In ruhigeren Momenten können s te T: 031 329 52 52 | www.bernbillett.ch n as beide auch Electronics in den Mix bringen, die aber auch stimmungsvolle, flächige Ambient- te fk r rie Kontrabässe werden von John Edwards und Da- Passagen entstehen, die Geschichten erzählen. a B & im niel Sailer bearbeitet, welcher zudem mit einer Neben vorwiegend eigenem Material gehören www.bernorchester.ch ch h tli Reihe von Effekten und ebenfalls mit elektro- zum Repertoire auch eigenwillige Interpreta- ic na r mo nischem Gerät arbeitet. – Ihre Ausbildung zur tionen von Bob Dylans «Desolation Row» und ü - Z bt , le Jazz-Sängerin habe ihr zu mehr stimmlicher «Four Women» von Nina Simone. Wohl ist es Karten: BERN BILLETT n dt er ta Flexibilität verholfen, meint Joy Frempong, die- eine Freude, dieses vielseitige, schillernde Al- Nägeligasse 1A r S B ne se zur Interpretation von Jazz-Standards einzu- bum anzuhören, zu überwältigen, zu begeistern Mit freundlicher e ei T: Unterstützung031 329 52der 52 b D setzen hat sie jedoch bisher nicht gereizt. Viel- vermögen die fünf jedoch vor allem live auf der a in www.bernbillett.ch sg as mehr experimentiert sie mit der Erweiterung Bühne. u , w en A iss W www.nachtdermusik.ch ensuite - kulturmagazin Nr. 107 | November 2011 www.bsorchester.ch29 MMusicusic & SSoundsounds

KULTUR IM DIALOG Konzert Theater Bern – keine Mitbestimmung für KünstlerInnen Von Karl Schüpbach - Ein markanter Rückschritt

n der Oktober-Nummer von ensuite, habe derselbe Herr Lauri an einer Pressekonferenz erwähnten Artikels in der Oktober-Nummer I ich unter dem Titel «Politik und Kultur – den Theater-Künstler Stephan Märki als neuen von ensuite habe ich die Behauptung auf- kann es je zu einem vollwertigen interdiszip- Leiter von KTB vorstellte, er verlor kein Wort gestellt, dass die Beziehung Politik und Kul- linären Austausch kommen?» die leidige Tat- über die Gründe dieses gewichtigen Meinung- tur – in unserem Falle zwischen PolitikerInnen sache beklagt, dass es zwischen Politik und swechsels. Ob gewollt oder nicht, er signalisi- und dem Symphonieorchester – fruchtbar ge- Kultur keinen Austausch gibt, und dies in ei- erte damit, dass einzig die Politik bestimmt, staltet werden kann. Aus Platzgründen konnte ner Zeit, wo fachübergreifende Gespräche im- wo es lang geht. ich darauf nicht näher eintreten. Dies sei hier mer mehr zu einem Muss werden. Dies klingt Wenn ich nun auch die andere Seite kriti- nachgeholt, als Herzstück des vorliegenden Ar- sehr allgemein, das soll es auch, aber in un- siere, den Orchestervorstand des Berner Sym- tikels. serem Zusammenhang soll präzisiert werden: phonieorchesters (BSO), genauer seinen gegen- Vorgeschichte Ich habe in verschiedenen es geht um die Unmöglichkeit eines echten wärtigen Präsidenten, so geschieht dies nicht Ausgaben von ensuite immer wieder darauf Austausches zwischen der Politik von Kanton, nur aus sachlicher Notwendigkeit heraus, nein, hingewiesen, dass ich ab 1964, meinem Amt- Stadt und umliegenden Gemeinden einerseits, ich entgehe dadurch auch der Gefahr einer ein- santritt in Bern, nicht «nur» als Geiger für das und den grossen kulturellen Institut Stiftung seitigen, und somit unberechtigten Schuldzu- Orchester gearbeitet habe, sondern dass ich Berner Symphonieorchester (BSO) und Stadt- weisung. mich, bis zu meiner Pensionierung, mit allen theater Bern (STB), neuerdings fusioniert un- In den frühen 70er Jahren wurde ich als Kräften auch kulturpolitischen Fragen zuge- ter dem Namen Konzert Theater Bern (KTB), stimmberechtigter Delegierter der Musikerin- wandt habe. Dabei war es mir ein grosses Anli- andererseits. In einer ersten Fassung dieses nen und Musiker in das damalige Gremium des egen, den Kampf gegen die eben beschriebene Artikels habe ich Ihnen, liebe Leserinnen und Arbeitgebers gewählt. Der damalige Arbeitge- Misere im Verhältnis Politik Orchestermusiker Leser, eine Anzahl von handfesten Beweisen ber, der Bernische Orchesterverein, war zu Re- aufzunehmen. Ich merkte bald einmal, dass mir für diese gegenseitige Verständnislosigkeit cht stolz auf die Tatsache, dass das Orchester, ein umfassendes Wissen um die Probleme der formuliert. Davon möchte ich Abstand nehmen: als einer der ersten Klangkörper unseres Lan- Alltagspolitik fehlte, weshalb schlicht mein ich wiederhole mich in unserem Kulturmaga- des, mit vollem Stimmrecht an den Verhandlun- Verständnis bedrohlich hinten nachhinkte. Als zin immer wieder, und davon habe ich genug, gen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern Folge trat ich in die SP meiner Wohngemeinde umso mehr als ich feststellen muss, dass es mitwirken konnte. Diese grosse soziale Er- Worb ein, wo ich sehr schnell das Präsidium sich immer wieder um Themenkreise der Ver- rungenschaft wurde bei der Ausarbeitung der der Partei übernahm. Sehr bald ergab sich ein gangenheit, oder aber um das Zustandekom- Strukturen von KTB schlicht vom Tisch gefegt, enger Kontakt mit dem Gemeindepräsidenten men der bereits erwähnten Fusion handelt, um im neuen Stiftungsrat gibt es keine Vertretung von Worb. Unsere Gespräche drehten sich um es nochmals klar fest zu halten, es geht mir von Künstlern mehr, weder vom BSO noch vom das mühsame Prozedere der Subventionen der immer wieder um das Wie, aber nicht um die STB. Es übersteigt mein Fassungsvermögen, Agglomerationen an die grossen kulturellen In- in meinen Augen klare Notwendigkeit. dass der Orchestervorstand nicht alle Hebel in stitutionen der Stadt Bern, die für uns leben- Nicht viele, nur zwei Beispiele, die das Fe- Bewegung gesetzt hat, um dieses fahrlässige swichtig waren und sind. Den Höhepunkt un- hlen eines echten Dialoges belegen sollen Auf Zurückdrehen des Rades der Geschichte zu ve- serer Gespräche bildete eine Aussage, die mir Seiten der Politik: der für die Fusion bei gezo- rhindern. bis heute unvergesslich bleibt: gene – und vielfach hochgejubelte Basler Kul- Fazit: mit der Art und Weise wie diese Fu- «Ihr habt keine Wahl, Ihr müsst Euch poli- turmanager (seine Vorschläge erwiesen sich sion vorgenommen wurde, ist eine grosse tisieren» Beim ersten Anhören klang dies für Bern als nicht brauchbar) Cyrill Haering Chance vertan worden, mit einer öffentlich wie eine Einbahnstrasse: wir MusikerInnen sah es für unabdingbar an, dass an der Spitze geführten Diskussion das gespannte Verhält- müssen uns auf die PolitikerInnen zubewe- der neu zu gründenden Institution nicht ein nis zwischen Künstlern und Politikern – lies gen. Dem war aber nicht so: Herr Bernasconi Künstler, sondern ein Manager zu stehen habe. zwischen Laien und Profis – zu entkramp- präzisierte, dass Politiker und Künstler lernen Herr Hans Lauri, der Präsident der neuen Stif- fen. Es ist für mich nicht nachfühlbar, warum müssen, in einen unverkrampften, von gegen- tung übernahm diese Forderung wie ein Dog- darüber, wenn überhaupt, nur hinter vorge- seitigem Respekt geprägten, Dialog zu tre- ma, eine Diskussion darüber – Künstler oder haltener Hand getuschelt wird. ten. Wir liessen den Worten gleich Taten fol- Manager wurde in der Öffentlichkeit nicht ge- Es geht auch anders, gerade in Bern wurde gen: 1992 fand nach enger Zusammenarbeit führt. Umso grösser war das Erstaunen, dass der Beweis dazu erbracht Am Schluss des oben zwischen politischen Behörden, Sponsoren und

30 Die exklusive Konzertreihe im Kultur-Casino Bern

Sir Roger Norrington 29.10.2011

Alfred Brendel 18.11.2011 dem Orchester in Worb das erste Konzert einer Es wäre höchst ungerecht, wenn ich die Konzertserie statt, die wir «Die Kammerforma- Anstrengungen der jetzt arbeitenden Orchester- tion des Berner Symphonieorchesters spielt in Administration, die auch auf die Annäherung der Agglomeration» nannten. Im Zeitraum von von Politik, Publikum und Orchester zum Ziel Grigory Sokolov 3 Jahren sind wir in über 15 Gemeinden aufget- haben, nicht dankbar erwähnen würde, etwa 23.11.2011 reten, in mehreren nicht nur einmal. Das klingt die Musikvermittlung und den Konzertbus. so leicht und selbstverständlich, was trügt: die Leider aber doch: Verhandlungen mit den Gemeindebehörden Die abschliessende bange Frage an Politik- und Sponsoren waren oft sehr zeitraubend und er und den Orchestervorstand Es gelingt mir Matthias Goerne brauchten viel Geduld. nicht, die hässlichen Nebengeräusche während 21.12.2011 Ich möchte Ihnen, liebe Leserinnen und der Entstehungsgeschichte von KTB zu ver- Leser, an Hand eines besonders typischen gessen: arrogante Äusserungen von Politik- Beispiels, den Nutzen für eine Gemeindebe- ern in der Presse (z.B. der Herr Stadtpräsident hörde, das Publikum und das BSO vor Augen sinngemäss: wenn die beiden Institution BSO führen: wir wussten von einer wichtigen Vo- und STB jetzt nicht endlich spuren, werden wir Sol Gabetta rortsgemeinde, dass dort die Zustimmung der den Geldhahn zudrehen), eine unqualifizier- 28.1.2012 Gemeindeversammlung für die Subvention an bare Berichterstattung der Bernischen Presse, das BSO an einem Faden hing, wir waren auch mit ihren unobjektiven, einseitigen Schuldzu- dahingehend orientiert, dass der Gemeinde- weisungen in Richtung Stiftung BSO, oder eine Radu Lupu präsident selber dagegen war. Unser Zeitplan Kommunikation, die den einfachsten Anforder- 26.2.2012 liess es zu, dass wir vor der Versammlung mit ungen nicht gerecht zu werden vermochte. Un- ihrer Abstimmung in der betreffenden Gemei- sere Zeit, mit extrem kurzem Gedächtnis, wird nde auftreten konnten, es war übrigens ein einwenden: Schnee von gestern. Ich streite dies besonders gelungenes Konzert. Es ist dem Ge- entschieden ab, ich bin überzeugt, dass es ein- meindepräsidenten hoch anzurechnen, dass en direkten Zusammenhang zwischen diesen Maurice Steger er mir nach dem Konzert seine Zweifel offen Misstönen und der oben beschriebenen verhän- 4.5.2012 darlegte, was es mir möglich machte, ihn auf gnisvollen Beschneidung der vertraglichen Re- Missverständnisse und falsche Einschätzungen chte der KünstlerInnen von BSO und STB gibt. aufmerksam zu machen. Er wiederum versprach So gesehen: kann dies auf die Dauer gut ge- mir, seine Meinung zu ändern und sich an der hen? Sichern Sie sich jetzt Ihre Plätze Gemeindeversammlung zu Gunsten der Sub- für die ganze Saison. Verkauf und vention einzusetzen. An der Gemeindeversam- Abonnementsverwaltung ZKO-Billettkasse, Tel. 0848 84 88 44 mlung konnte ich natürlich nicht teilnehmen, [email protected] aber ich habe aus zuverlässiger Quelle vernom- men, dass er sein Wort gehalten hat, die Ab- Einzelkarten jeweils 4 Wochen vor dem stimmung verlief positiv, und die Gemeinde- Konzert bei Bern Billett, Nägeligasse 1 A, behörden ernteten von der Bevölkerung viel Tel. 031 329 52 52, www.bernbillett.ch Beifall für das ausserordentliche Konzert. Sie sehen, es gab an diesem Abend nur Gewinner. www.bern.meisterzyklus.ch Was ist davon übrig geblieben? Leider nich- ts. Nach zunehmenden Quereleien einer kleinen Minderheit innerhalb des Orchesters, und nach PRÄSENTIERT VON PATRONAT wachsenden Meinungsverschiedenheiten mit der Verwaltung (nicht etwa mit der heutigen), habe ich das Handtuch geworfen.

ensuite - kulturmagazin Nr. 107 | November 2011 31 KKinoino & FilmFilm

SCHWEIZER KINO Vielleicht war es Zufall Von Lukas Vogelsang Bild: zVg.

Der Titel ist eigenartig: «Eine ruhige einer Behinderung. So lernte ich Roman und Andersartigkeit angesehen, und dies, obwohl Jacke». Auch der Hauptprotagonist Xaver kennen und kam mit einer Thematik in er durchaus lebensbeeinträchtigende Auswir- Roman ist anders. Aber Roman will Berührung, die meine Fragen nach Zwischen- kungen hat. Grundsätzlich liegt jedoch bei nur als «totaler Mensch» wahrgenommen menschlichkeit, Anteilnahme und Verständnis sehr wenigen autistischen Menschen eine geis- werden, auch wenn er seit 26 Jahren für einen anderen Menschen in ein komplett tige Behinderung vor. Der Intelligenzquotient neues Licht rückten. ist in den meisten Fällen normal bis überdurch- nicht spricht. Im Film überrascht er Ich stellte mir die Frage, zu welcher Art schnittlich. Auch Roman ist weder körperlich uns: Zum einen ist da Roman mit sei- von Beziehungen ein Mensch fähig ist, dem noch geistig behindert. Und doch werden sei- nen Stereotypen, der betreut werden als einzige Überlebensstrategie die absolute ne äussere Erscheinung und sein Verhalten als muss – und dann erleben wir einen Selbstisolation bleibt, obwohl er das gleiche «behindert» interpretiert. Die eigentliche Dis- Roman, der sich mitteilt, und dies mit Bedürfnis nach Zuneigung und Austausch ha- krepanz zwischen seiner äusseren Erscheinung erschütterndem Tiefgang. ben müsste und sich vielleicht besonders stark und seinem eigentlichen Wesen entsteht erst danach sehnt, von seiner Umgebung wahrge- aus der Beziehung zu uns. Das symptomatische pätestens, als Romans Betreuer stirbt, die nommen und anerkannt zu werden. Und um- Vorurteil, dass es autistischen Menschen ver- Swohl wichtigste Bezugsperson in seinem gekehrt: Welche Art des Verstehens kann ich wehrt bleibe, Mitgefühl für Andere zu entwi- Leben, erwacht auch der Zuschauer aus der (als «beziehungsfähiger» Mensch) für Roman ckeln, deutet auf diese Irritation hin. Dass es «Behindertenzone». Im Film ist der Moment, entwickeln, welcher, so nehme ich an, auf ganz ihnen schwer fällt, zwischenmenschliche Inter- als man ihm die Todesnachricht mitteilt, fest- andere Weise empfindet? aktionen «richtig» zu interpretieren, sei hier- gehalten. Durch ein spezielles Schreibgerät Die Annahme, dass Roman, bedingt durch mit nicht in Frage gestellt; ebenso, dass sich kann Roman kommunizieren. Und was teilt uns seinen Autismus, hauptsächlich auditiv-visuell diese Verunsicherung als ein bedrohliches Ge- ein Mensch mit, dessen Hülle wir sehen, dessen und eben nicht sprachlich-begrifflich denkt, fühl äussert und sich auf ihre Haltung gegen- Verstand wir aber wohl nie erfassen können? veranlasste mich, die filmische Suche vorwie- über Anderen überträgt. Und trotzdem geben Autisten stehen heute auf der besseren Sei- gend auf seine ganz eigene Art der Wahrneh- diese Eigenheiten keinen Aufschluss darüber, te als noch vor einigen Jahren. Ramòn Giger hat mung auszurichten. Häufig war ich voreinge- welche Gefühlsregungen sich wirklich im Inne- sich in das Thema eingearbeitet und schafft für nommen, beeinflusst von Klischees und wis- ren von autistischen Menschen abspielen. uns ein neues Bild über «andersartige» Men- senschaftlichen Thesen, wie die Welt eines au- Ist es denn nicht bei uns allen so, dass wir schen. Es gelingt ihm grossartig, in den sechs tistischen Menschen funktioniere. Ich musste die wirkliche Begegnung erst zulassen, wenn Monaten der Dreharbeiten die Begegnung mit einen Prozess des radikalen Umdenkens durch- etwas Unausweichliches passiert? Ich kann Roman festzuhalten. Die Dokumentation ist laufen. Es war Roman selbst, der die wichtigs- mir sehr gut vorstellen, dass ich mich am Ster- absolut sehenswert, und für alle, die mehr über te Regieanweisung gab: «Als totaler Mensch» bebett meines Vaters darauf besinnen werde, Menschen wissen wollen – vor allem über de- wolle er verstanden werden, nicht bloss als welche Gelegenheiten ich verpasste, ihm wirk- ren grenzenlose Möglichkeiten des Seins – eine Mensch mit autistischen Störungen. lich zu begegnen. Und ich werde mich fragen, Kinopflicht. In den Presseunterlagen fanden Meine neuen Einsichten, welche jegliche wieso es mir zuvor nicht gelang, diese intime wir die «Gedanken des Regisseurs»: Psychologisierung ablehnten, erschlossen eine Verbindung zuzulassen. In dieser Hinsicht sehe «Auf der Suche nach meiner eigenen Sozi- ganz neue Perspektive bezüglich Roman. In ge- ich mich nicht anders als Roman.» alkompetenz, machte ich meinen Zivildienst- wissen Fachkreisen wird Autismus nicht mehr Der Film läuft ab 22. Dezember in den einsatz in einem Pflegeheim für Menschen mit als eine Behinderung, sondern vielmehr als Schweizer Kinos.

32 ensuite - kulturmagazin Nr. 107 | November 2011 KKinoino & FFilmilm

SUMMERGAMES Von Lukas Vogelsang

olando Colla gräbt in diesem Film, der üb- R rigens als offizielle Schweizer Oscar-Ein- reichung 2012 als «Bester ausländischer Film» teilnimmt, in unseren Kindheitserinnerungen. KINO Die Geschichte spielt auf einem Campingplatz in der Maremma, in der Toskana. Zwei zerrüt- tete Familien, die eine kurz vor dem Ausein- anderbrechen, bei der zweiten ist der Vater The Mill and the Cross früh verstorben – was aber den Kindern nicht mitgeteilt wurde. Genug Sprengstoff, der sich Von Sandro Wiedmer Bild: zVg. im Zelt, auf nächster Nähe, immer wieder ent- zünden kann. Nic und Marie sind Sprösslinge ine Bildanalyse wird zum Spielfilm: Auf- grossen Vorbild Bruegels, in einen Spielfilm. dieser beiden Familien, und verarbeiten in ih- E grund des Buches, welches Michael Fran- Majewski war begeistert vom Buch, wollte rer Freizeit ihre Ängste und die Spannungen, cis Gibson über das Gemälde «Der Kreuzweg» jedoch, statt die Kamera mit einem Kommentar welche sie durch die Erwachsenenwelt mitbe- oder «Die Kreuztragung» (1564) von Pieter über das Gemälde fahren zu lassen, in Zusam- kommen. Die Spiele miteinander sind schwie- Bruegel dem Älteren geschrieben hat, drehte menarbeit mit Gibson einzelne Schicksale der rig, aber auch befreiend. Da ist Hass und Liebe der polnische Regisseur, Dichter und Schrift- im Gemälde dargestellten Personen als Spiel- nahe beieinander. Und bei den vorpupertieren- steller, unter anderem auch Drehbuchautor von fim aufleben lassen: Mit dem Maler als Darstel- den Kinder brennt das Leben. «Basquiat», Maler und Video-Künstler Lech ler, welcher seinem Freund und Geldgeber Der Film berührt tatsächlich unsere eigenen Majewski den Film «The Mill and the Cross», seine Gedanken während der Komposition des Kindheitserinnerungen. Allerdings bleibt er in welchem Rutger Hauer als Bruegel seinem Gemäldes darlegt, in welchem er Alltagsskiz- dort auch hängen. Die Dramaturgie ist zu be- Mäzenen Nicolaes Jonghelinck (Michael York) zen zu einem Kommentar zum unmittelbaren, rechenbar, die Geschichte ist zu klischiert, die Entstehung und Komposition der bildlichen bedrohlichen Zeitgeschehen verdichtet, sollen Gefühle konstruiert. Der Filmschnitt ist denn Darstellung erklärt. die Abläufe eines Tages der in seinem Werk auch der grosse Dämpfer der Geschichte: Der Für seine Schaffensperiode, die Renais- in einem bestimmten Moment dargestellten Rhythmus ist träge. Ich kann die Lobeshymnen sance untypisch, standen für Bruegel nicht Por- Figuren in wortlosen, oft statischen, durch- der anderen Kritiker nicht teilen – vielleicht, träts, Stilleben oder religiöse Motive im Vor- komponierten Bildern zum Leben gebracht weil eben gerade die Erinnerungen an meine dergrund seiner Malerei, das bäuerliche Leben werden. Kindheit noch wach genug sind, dass ich weiss, seiner Umgebung, eingebettet in oft weiten, Das Resultat ist atemberaubend: Mittels was man als 12 - 14-Jähriger erlebt. Zudem fand malerisch ausgearbeiteten Landschaften stand Computer-Grafik wurden sämtliche Gestalten ich, dass sich in der «Erwachsenenwelt» zu vie- im Mittelpunkt seines Werkes. Gleichsam die aus dem Gemälde entfernt, nur die Darstellung le Drama-Geschichten angesammelt haben. Da Zeit im Stillstand festhaltend verstand er es, der Landschaft als Hintergrund übrig gelas- ist die Frau, die von ihrem gewalttätigen Mann in seinen Gemälden unzählige Geschichten sen. Die Umgebung der im Realfilm agierenden nicht weg kann, da ist die Frau, die wegen dem anzudeuten und zu erzählen, manchmal ironi- Menschen geht nahtlos über in den gemalten verstorbenen Vater im Selbstmitleid erstickt, sierend, bisweilen ins Groteske übersteigert. Hintergrund, für die Erzählung geschaffene da ist der Mann, der mit seiner Unfähigkeit, So tummeln sich beispielsweise um die 500 Innenräume zeigen durch geöffnete Türen und mit seinem gebrochenen Stolz umzugehen, Figuren in seinem Bild «Der Kreuzweg Chris- Fenster die mit dem Pinsel geschaffene Land- nicht klar kommt, da ist der «Freibeuter» auf ti», welches den Weg auf Golgatha nach Flan- schaft, den Himmel darüber. Die für das Gemäl- dem Motorrad, der die Verführung spielt… und dern verlegt, seine damals vom spanischen de zentrale, für die Analyse titelgebende Mühle ein böser Bauer, der die Kinder immer von ih- Thron okkupierte Heimat, in welcher die In- wurde allein für den Film gezimmert. Kon- rem Versteck wegjagt. Die Spiele der Kinder quisition mit gnadenloser Brutalität gegen die struktionslinien und Fluchtpunkte, wie sie der wirken gehemmt, willentlich gebremst. Zwar protestantische Bevölkerung vorging. Maler dem Publikum erklärt, werden reflektiert ist das Thema gut, aber man muss sich dafür Mit der Vorstellung, aus seinem Buch «The durch die Ansichten, die die künstlich geschaf- interessieren – unterhaltsam ist der Film nicht Mill and the Cross – Pieter Bruegel’s Way to fene Welt gewährt. Durch die Montage, die wirklich. Ich kann mir kaum vorstellen, dass Calvary» einen Dokumentarfilm zu gestal- zum Beispiel ein sich drehendes Mühlrad auf die Schweiz mit diesem Beitrag bei der Oscar- ten, überreichte Gibson den Band auch Lech den sich drehenden Schleifstein treffen lässt, Verleihung punkten kann. Majewski, dessen «The Garden of Earthly De- an dem die Soldaten ihre Schwerter schleifen, lights» er gesehen hatte, eine Umsetzung des werden neue Konstruktionslinien, diejenigen Der Film läuft zur Zeit in den Schweizer Kinos. Tryptichons von Hieronymus Bosch, einem des Films offenbar.

33 KKinoino & FFilmilm

FILMFESTIVAL Internationale Kurzfi lmtage Winterthur Von Walter Rohrbach Bild: zVg.

Viel zu entdecken an den Internatio- emanzipieren sich die Frauen und gehen mit damit nehmen die Zusammenstösse mit der Po- nalen Filmtagen in Winterthur! Vor- einem neuen Selbstbewusstsein in die Zuku- lizei zu – ebenso der Druck auf die Medien. Die wiegend aus Afrika – einem Kontinent, nft. Wie beispielsweise in Liberia, wo mit El- drei VNS-Journalisten müssen ihre Arbeit von dessen Filme nicht oft hiesige Cine- len Johnson-Sirleaf das erste weibliche Staat- der Strasse zunehmend auf die umliegenden asten erreichen. soberhaupt Afrikas gewählt wurde. Viele neue Häuser und Dächer verschieben. Von dort aus Filme sind entstanden, welche die afrikanisch- wird das Geschehen aufgezeichnet, es entste- en Geschlechterrollen thematisieren und ein- hen über 3000 Stunden Video- Material, und uf geht’s nach Afrika! Gestartet wird am en «stillen» Wandel der afrikanischen Gesell- damit eine umfassende Dokumentation der A 9. November 2011 in verschiedenen Win- schaft dokumentieren. Dieser liegt aber auch politischen Unruhen. Aus diesem Material ist terthurer Kinosälen, wo mit dem diesjährigen in den Händen der Jugendlichen: Werden sie es 2004 die 12-teilige Serie «History Uncut» ent- Programmschwerpunkt das aktuelle afrikani- schaffen, mit ihren Vorstellungen und Hoffnun- standen, welche möglichst ungeschnitten die sche Kurzfilmschaffen präsentiert wird. Wer gen die Gesellschaft und die Zukunft Afrikas historischen Schlüsselmomente aus dem Origi- kennt ihn nicht, diesen wunderschönen Kon- neu zu gestalten? Die jüngeren Generationen, nalmaterial rekonstruiert. Die 25-minütigen tinent? Wiege der Menschheit, Kontinent des ihre Ideale und ihr Wille zur Veränderung, sind Sequenzen folgen nicht der «logischen Kau- Aufbruchs, der Revolutionen und der Hoffnung, die treibende Kraft des Wandels, sie haben den salität der Geschichtsschreibung», sondern ge- aber auch eine Region des Hungers, der Krie- «Arabischen Frühling» ausgelöst, auf die Stras- ben unkommentiert die Ereignisse wieder. Mit ge und der Verzweiflung. Die fünf gezeigten se und auf die Leinwand gebracht. Darryl Els – Kurator des Independent-Kinos Programme bieten die Möglichkeit, Kurzfilme Ähnlich dramatisch ist ein weiterer Bioscope in Johannesburg – kommt zudem ein zu sehen, die nur selten unseren Kontinent er- empfehlenswerter Teil des Programms na- Fachmann an die Winterhurer Kurzfilmtage, reichen, und erlauben einen bewegenden Blick mens «History Uncut». Südafrika, Ende der über die historischen Hintergründe und auf das Afrika der Vergangenheit, der Gegen- der 1980er Jahre, die Nationale Partei (NP) die aussergewöhnlichen Produktionsbedingun- wart und der Zukunft. regiert das Land der strikten Rassentren- gen von «History Uncut» Auskunft geben kann. Unglaublich was in den letzten Monaten nung: Ehen zwischen den verschiedenen Weitere thematische Programmpunkte, die in den nördlichen Staaten Afrikas passiert Rassen sind verboten, und in allen öffentli- den Kontinent aus der Makroperspektive be- ist. Ausgehend von Tunesien breitet sich die chen Einrichtungen, Behörden, Verkehrs- leuchten, sind «Africa is Heritage», «Africa is Revolution auch auf andere arabischen Staaten mitteln, sogar auf den Toiletten wird nach Ras- Migration» und «Africa is Imagination». Nordafrikas aus. Das Volk lehnt sich gegen die sen unterschieden. Schwer wiegen auch die Natürlich bildet das hier erwähnte nur ein- herrschenden Machtverhältnisse auf, fordert ökonomischen Diskriminierungen. Der «Mines en kleinen Teil des reichhaltigen «Winterthur- mehr Transparenz, Demokratie und Menschen- and Works Act» von 1911 beispielsweise verp- er» Programms ab. Geht hin, informiert Euch rechte. Die afrikanische Gesellschaft befindet flichtet Schwarze, ausschliesslich niedere Ar- – und entdeckt weitere spannende Einblicke in sich im Wandel – zweifelsfrei. Bloss – in welche beiten zu verrichten, und garantiert damit die die Welt des aktuellen Kurzfilms. Richtung? Dem Thema des gesellschaftlichen Verfügbarkeit billiger Arbeitskräfte. Das süd- Wandels widmet sich das Programm «Africa afrikanische Apartheidregime kommt Ende der 15. Internationale Kurzfilmtage Winterthur is Social Change». Kurzfilme dieser Rubrik 1980er Jahre unter Druck, und die Machthaber Winterthur zeigen subtile Zeichen des Umbruchs auf. versuchen den Medien die unabhängige Bericht- 9. bis 13. November 2011 Beispielsweise der Film «The A77A Project erstattung in dieser turbulenten Zeit zu un- Programmschwerpunkt: Africa is. (on Presidents and Superheroes)» der bere- terbinden. So auch die Arbeit des «Video Weitere Programmhighlights: Hilfe. Die its 2009 entstanden ist, und erste Anzeichen News Service Kollektivs» (VNS), welches eng Schweiz kommt! – zur humanitären Tradition der Veränderung darstellt. Weitere spannende mit der Widerstandsbewegung zusammenar- der Schweiz; Von Hiroshima bis Fukushima – Kurzfilme dokumentieren die Veränderung des beitet. Dieses dokumentiert die Aktionen der nukleare Propaganda; Deimantas Narkevicius afrikanischen Geschlechterverständnisses. Ab- Widerstandbewegung, deren Streiks, Wahl- – Revisiting Utopia; Nocturnes: Science Fiction seits der westlichen Berichterstattung werden boykotte und Versammlungen. Ein politischer & Heavy Metal. alte, patriarchale Strukturen aufgebrochen, Machtwechsel in Südafrika liegt in der Luft, www.kurzfilmtage.ch

34 ensuite - kulturmagazin Nr. 107 | November 2011 FOKUS FILMFESTIVAL Welt trifft Winterthur Von Florian Imbach Bild links: Rebekka Friedli, Katerina Gnehm, Stefan Dux und Dirbdil Assefa Akriso / rechts: Dirbdil Assefa Akriso und Stefan Dux

Fünf Regisseure – einer pro Kontinent Spurensuche im Friedhof Rosenberg. Winter- in einer WG: in einer Villa in Winterthur, – werden in die Schweiz eingeladen, thur ist sein Schauplatz. durch einen Sponsor bereitgestellt. Sie ko- um je einen Kurzfilm für die Kurzfilm- Winterthur als Ausgangspunkt war eine chen zusammen, tauschen sich aus, sprechen tage in Winterthur zu drehen. Mit ih- bewusste Wahl von Projektleiterin Ivana La- über die Probleme beim Dreh. Der Austausch rer Aussensicht sollen die Künstler aus lovic von der ZHdK (Zürcher Hochschule der und die gemeinsame Zeit in der Villa sei eine Künste). Sie lud Dirbdil für diesen Kurzfilm in wichtige Stütze. «Zwischen uns Regisseuren aller Welt unsere Welt zeigen, wie sie die Schweiz ein, nebst vier anderen Regisseu- hat sich eine Freundschaft entwickelt», sagt sie sehen. ren, die auch je einen Kurzfilm drehen. «Win- Dirbdil, unterwegs zum nächsten Drehort auf terthur ist eine super Stadt für unser Projekt. dem Friedhof Rosenberg. «Wir sind sehr unter- irbdil Assefa Akriso schaut zu, wie ein Sie hat eine gute Grösse, die Menschen sind schiedlich.» Er zum Beispiel, Dirbdil, sei eher D Sarg in den Ofen geschoben wird. Vom offen und machen mit.» Ivanas Projekt heisst nebenbei zum Film gekommen. Er unterrichtet Angestellten des Krematoriums Winterthur «5x5x5». 5 Regisseure aus 5 Kontinenten reali- Politikwissenschaften und internationale Be- lässt er sich genau erklären, wie nun die sterb- sieren 5 Kurzfilme über das Land, das sie ein- ziehungen an der Universität in Addis Abeba, lichen Überreste verbrannt werden. Ein unge- lädt, in diesem Fall eben die Schweiz. Ivana hat und hat mit dem Filmen als Hobby angefangen. wöhnlicher Vorgang für den 31-Jährigen. «Bei selbst als Regisseurin für ein ähnliches Projekt «Meinen ersten Film habe ich mit Erspartem uns in Äthiopien wirst du beerdigt, wenn du in Belgien Europa vertreten. «Eine prägende finanziert.» Ein Glücksfall war, dass eines sei- stirbst. Egal was passiert, wenn du tot bist, lan- Erfahrung», sagt sie. Sie habe so etwas unbe- ner Werke am Weltklimagipfel in Kopenhagen det dein Leichnam unter der Erde.» Wir unter- dingt auch in der Schweiz verwirklichen wol- gezeigt wurde. «Ich habe in dem Film erzählt, halten uns auf Englisch. Dirbdil spricht leise len. «Wenn ein Regisseur aus der Schweiz ein wie bei uns in Äthiopien, wo Ausdauersport und unaufgeregt. Überhaupt ist seine ganze Thema aufgreift, wird er immer eine schweize- und damit körperliche Gesundheit so wichtig Art sehr distanziert. Dass Menschen beispiels- rische Perspektive haben. Das ist anders, wenn ist, viele alte Autos fahren, die sehr ungesunde weise in Indien nach dem Tod verbrannt wür- jemand Fremdes hierhin kommt und das The- Abgase produzieren.» den, sei ihm schon bekannt gewesen. «Aber ma aus einer Perspektive betrachtet, die wir, Dirbdil und sein «Team Afrika» haben mitt- dass dies hier in der Schweiz so beliebt ist, hat die ja hier leben, noch nie gesehen haben.» Im lerweile den Drehort auf dem Friedhof gefun- mich sehr überrascht.» Idealfall könne so der Alltag auf eine neue und den. Der Äthiopier geht als Protagonist in sei- Der äthiopische Regisseur dreht einen unbekannte Art gezeigt werden. Ein weiterer nem eigenen Film einer Wand mit Urnengräbern Kurzfilm über die Kremation in der Schweiz, Aspekt des Projekts ist der Austausch zwi- entlang. Die Szene ist wichtig für den Essay- und behandelt dabei als Gast in einem frem- schen Regisseur und Team. Denn jedes Team gedanken des Films. Während Dirbdil geht, den Land einen für ihn fremden Aspekt. «Ich wird mit Filmstudenten aus der Schweiz kom- streift Filmstudentin Rebekka Friedli unruhig möchte den Tod thematisieren, weil sich die plettiert, und zudem durch einen Mentor oder auf dem Set umher. «Wir konnten am Morgen Menschen in der Schweiz nicht bewusst sind, eine Mentorin betreut, die Winterthur gut ken- ein Interview mit einem Pfarrer führen», sagt was es für Folgen hat, wenn du verschiedene nen. «Dabei verdient übrigens niemand. Nie- sie. Das sei zwar gut für Dirbdil, aber eben Möglichkeiten hast, wie nach dem Tod mit mand im ganzen Projekt bekommt Geld», sagt nicht geplant, darum seien sie jetzt nicht mehr dir verfahren wird.» Mit einem Team von wei- Ivana – und dieser Aspekt ist ihr wichtig. Was im Zeitplan. Kein Spass für eine Regieassis- teren drei Leuten, Kamera, Ton und Regie- verständlich ist, bei einem Gesamtbudget von tentin. «Die Arbeit ist zwar sehr streng: In so assistenz, dreht Dirbdil sein persönliches Essay 150’000 Franken. kurzer Zeit einen Film organisieren, zu drehen über das Verbrennen der Toten in der Schweiz. Die fünf Regisseure aus Äthiopien, Aus- und zu schneiden, aber ich lerne viel, und es ist Er spricht mit Betroffenen, mit einem Pfarrer, tralien, Serbien, Peru und Kirgistan wohnen sehr spannend», sagt Rebekka. besucht eben das Krematorium, und geht auf während der ganzen fünf Wochen zusammen Ich spreche sie auf die Zusammenarbeit mit

35 KKinoino & FFilmilm den Regisseur an. Sie antwortet mit Begeiste- rung: «Unglaublich, wie er die Sache angeht.» Dirbdil habe eine direkte Art, auf Menschen zuzugehen, und verlange Vorschläge vom Team. «Wenn wir dann einen Kontakt für ein Interview vorschlagen, den er spannend findet, wartet er keine Sekunde. Wir müssen gleich anrufen oder vorbeigehen, und einen Termin für den Dreh ausmachen.» So hätten sie innert kürzester Zeit einen randvollen Terminkalen- der gehabt. «Dirbdil hat klare Vorstellungen davon, was er will, und er tauscht sich mit uns vom Team aus.» Sie, Rebekka, habe übrigens lange gezögert, ehe sie sich für das Projekt angemeldet habe. «Ich hatte Bedenken, dass meine Englischkenntnisse nicht ausreichen würden.» KINO Diese Bedenken zersdtreuten sich zum Glück. Der Austausch innerhalb der Gruppe, die Dynamik wirkt auf mich sehr erfrischend, und Rebekka scheint einen guten Job zu ma- Mein bester Feind chen. Dirbdil bespricht gerade mit Kamera- mann Stefan Dux die nächste Einstellung vor Von Lukas Vogelsang Bild: zVg. einem Urnengrab. Ich frage ihn, wieso er sich gerade für den Tod und die Kremation als The- s ist etwas fragwürdig, eine Komödie der Freund entpuppt sich als Feind. Smekal ist ma entschieden habe. «Das kam so: Hier in der E über den zweiten Weltkrieg, die Juden, ein Nazi, und bringt durch sein Wissen über Schweiz ist alles so nett und ordentlich. Den deren Verfolgung und Entwürdigung zu dre- die Familie die Kaufmanns ins KZ. Doch da Menschen geht es gut, und man ist freundlich. hen. «Mein bester Feind» ist da keine Ausnah- ist noch diese Zeichnung von Michaelangelo, Da habe ich mir gedacht, es muss doch in der me. Obwohl das mit dem spannenden Aufgebot welche ein Vermögen wert ist, und die die Na- Schweiz etwas geben, was nicht so ordentlich aus der deutschen SchauspielerInnen-Riege zis unbedingt haben wollen – sie haben durch ist, etwas, wovor die Leute Angst haben.» Und sehr gut funktioniert. Aber die Motivation der Smekal nur eine Kopie erhalten, und das hat er sei zum Schluss gekommen, dass dieses «Et- Inszenierung ist ein paar Bedenkzeilen wert. Smekal bei den eigenen Leuten in Bedrängnis was» der Tod sei. Im hiesigen Alltag fehle der Der Regisseur Wolfgang Murnberger meint: gebracht. Wo ist also die Originalskizze? Der Tod, sagt Dirbdil. Darum mache er diesen Film; «Dachte ich früher, dass «Schindlers Liste» ein alte Kaufmann ist im KZ gestorben, der junge, für die Menschen in der Schweiz und in Win- Film ist, den alle Juden mögen, wurde ich in- Victor, war seit der Kindheit Smekals bester terthur. «Ich könnte auch eine Geschichte über zwischen eines Besseren belehrt. Die Juden Freund. Ein Katz- und Mausspiel beginnt. Sme- die Brunnen machen. In Addis Abeba, wo ich waren Hitlers Opfer in der realen Geschichte, kal soll Victor nach Berlin bringen, doch das herkomme, gibt es kein Brunnensystem.» Aber und sie sind es müde, in der Filmgeschichte Flugzeug stürzt ab. Beide überleben, und Vic- dies würde wohl die Menschen in der Schweiz wiederum nur als Hitlers Opfer dargestellt zu tor hat die Rollen vertauscht. Jetzt wird es bit- nicht interessieren. «I want this film to have werden.» Diese Aussage hinkt insofern, als der terböse – es sei hier nichts verraten, am besten, an impact on people here in Switzerland», sagt 1960 geborene Regisseur nicht mehr einer Ge- man schaut sich den Film an. Dirbdil. neration angehört, die den zweiten Weltkrieg Mit Moritz Bleibtreu (Victor), Georg Fried- hautnah miterlebt und Mitmenschen verloren rich (Smekal), Udo Samel (Vater Jakob Kauf- Première: Im Rahmen der Kurzfilmtage hat. Seine Generation steht bereits vor den mann), Uwe Bohm, Rainer Bock, und all den Winterthur. 11. November 2011, 20 Uhr, Casi- Denkmälern, vor der bereinigten Geschichte. weiteren bekannten Gesichtern ist der Film so- notheater Winterthur. So gesehen gleicht sein Statement einem wil- lide besetzt und wirklich unterhaltsam. Wolf- lentlichen Vergessen der Geschichte – was na- gang Murnberger hat gut hinbekommen, dass türlich nicht heissen soll, dass man keine Ko- der Film nicht nur eine oberflächliche Lach- mödie über den zweiten Weltkrieg verfilmen nummer bleibt, sondern auch zum Denken an- dürfte. regt. Auf jeden Fall bietet der Film eine ge- Die Geschichte selber ist verworren: Da lungene Mischung zwischen Unterhaltung und ist die reiche jüdische Kunstsammlerfami- Geschichte – wenn auch einer völlig erfunde- lie Kaufmann, und der Freund, Rudi Smekal, nen. Das ist gutes Kino. welcher nach Jahren der Verschollenheit wie- Der Film läuft ab 1. Dezember in den der auftaucht. Das ist zu Kriegsbeginn – doch Schweizer Kinos.

36 KKinoino & FFilmilm TRATSCHUNDLABER Von Sonja Wenger

ndlich, meine Damen und Herren, ist mal E was los in der Bude. Allerorts laufen die Fässer über, kommt die Galle hoch, macht sich Empörung Luft: die Empörung der sogenannten 99 Prozent über ihre selbst verschuldete Realität; KINO die Empörung der besorgten Banker, Volksvertre- ter und Diktatoren über ihre gefährdete Fiktion; und nicht zuletzt die Empörung der Tierliebhaber über einen «Coup de Chèvre», der deutlich zeigt, A Dangerous Method wo gewisse Mitbürger ihre Prioriäten setzen. Denn weder die anstehende Kampagne «ge- Von Sonja Wenger Bild: zVg. gen die Masseneinwanderung», noch der Abbau bei Sozialleistungen, der uns, meine Damen und it «A Dangerous Method» bringt der ka- als «gefährliche Methode» galt, was dem gerade Herren, alle betreffen kann, ja nicht einmal der M nadische Regisseur David Cronenberg begonnenen Siegeszug der Psychoanalyse aller- immer noch nächste sinnlose «Bail Out» bewegt einen für ihn ungewöhnlichen Film ins Kino. dings wenig Abbruch tat. die Schweizer Gemüter so wie es die Entführung Ungewöhnlich im Sinne des von ihm gewähl- Spielrein war eine der ersten Patientinnen, von Zottel tat, gerade so, als sei die SVP-Ziege, ten Stoffes, welcher das Publikum in die Zeit bei denen Jung die Psychoanalyse anwand- vor laufender al-Kaida-Kamera, geschächtet wor- zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Zürich te. Die hochintelligente Frau litt unter Hyste- den – quasi vom Maskottchen zum Märtyrer ge- und Wien und in die Anfangszeit der Psycho- rie und war gefangen in einem Teufelskreis macht. Ein Gregor Schär sah sich sogar soweit analyse versetzt. Ungewöhnlich auch durch die aus Selbstverachtung und einem unterdrück- getrieben, auf der Webseite des «TagesAnzei- dezent zurückhaltende Regie, da er auf seinen ten Sexualtrieb mit stark masochistischen gers» folgenden Kommentar zu schreiben: «Die üblichen Symbolismus und auf Gewaltexzesse Zügen. Dank der Therapie erholte sie sich je- erbärmlichen Typen=Entführer, die das getan ha- verzichtet, und dadurch die Leistungen seiner doch schnell, und begann nach Abschluss der ben, sollten gemetzget werden.» exzellenten Besetzung zur vollen Entfaltung Behandlung selbst mit einem Medizinstudium. Das, meine Damen und Herren, das ist ech- bringt. Und ungewöhnlich letztlich durch die Während kurzer Zeit war sie zudem Jungs Ge- te Empörung! Doch während Zottel wieder eigentümliche Intensität, mit der das gesamte liebte – eine intensive, aber hoffnungslose Affä- daheim ist, und, wie sein abgewähltes Herr- Werk berührt und lange in der Erinnerung hän- re, die den überaus korrekten Jung in einen tie- chen, wegen posttraumatischen Verhaltensstö- gen bleibt. fen emotionalen und berufsethischen Konflikt rungen behandelt wird, böse Zungen munkeln Keira Knightley, Michael Fassbender und trieb, den er unter anderem in Gesprächen mit Stockholm-Syndrom, kümmert sich niemand Viggo Mortensen spielen in «A Dangerous Me- Freud zu lösen versuchte. um die seit langem anhaltende und noch im- thod» die Hauptpfeiler der historisch belegten Jung führte mit Freud über Jahre eine in- mer ansteckende Störung der menschlichen Dreiecksbeziehung zwischen Sabina Spielrein, tensive Korrespondenz, bevor sich die beiden Wahrnehmung. Nein, meine Damen und Her- Carl Gustav Jung und Sigmund Freud. Der Film auch wegen ihrer unterschiedlichen Vorstellun- ren, hier bleiben die Gregor Schärs dieser Welt basiert auf dem 2002 uraufgeführte Theater- gen bezüglich weiterführenden Behandlungs- stumm. Sie bleiben stumm, derweil in Ostafri- stück «Die Methode» («The Talking Cure») des methoden überwarfen. In der Folge wurden sie ka ohne Unterbruch weiter gehungert wird, in britischen Bühnenautors Christopher Hampton, zu – beruflichen – Rivalen. Ein Streit, der durch Westafrika neun Staaten von einer Cholera- der auch gleich selbst das Drehbuch verfasste, den Umstand noch gefördert wurde, dass sich epidemie betroffen sind, auf der ganzen Welt und dessen Stück wiederum auf den Roman Spielrein nach ihrem Studium auch bei Freud Menschenrechte, Umweltschutz und kluge Al- «Eine gefährliche Methode: Freud, Jung und Sa- weiterbildete. ternativvorschläge für eine bessere Welt weiter bina Spielrein» von John Kerr zurückgreift. «A Dangerous Method» fokussiert aber we- mit Füssen, Freihandelsverträgen und Falschin- Ausgangspunkt des Films ist der Moment, niger auf den fachlichen Hintergrund dieses formationen getreten, unterdrückt und ignoriert als 1904 die damals achtzehnjährige Russin Sa- Streits, konzentriert sich statt dessen auf das werden. bina Spielrein zum Schweizer Psychiater Carl Gefühlsleben der Hauptfiguren, alles prächtig Und doch, es gibt Hoffnung, meine Damen Gustav Jung in die Klinik Burghölzli in Behand- verpackt in wunderbar intelligente Dialoge, die und Herren, denn die Hoffnung stirbt bekanntlich lung kommt. In einer Zeit, als Eisbäder, Elektro- eines gewissen Humors nicht entbehren, und zuletzt. Immer mehr Menschen glauben daran, schocks und andere «Behandlungsmethoden», eingebettet in ein visuell einnehmendes, präzi- dass die «Occupy»- und Indignados-Bewegung die heute als Folter klassifiziert würden, noch se rekonstruiertes Zeitbild. Doch was den Film den Mächtigen tatsächlich gefährlich werden die bevorzugten Mittel waren, um Menschen zu jenem cineastischen Leckerbissen macht, kann, weil «die Menschen sich aus einer Ohn- mit seelischen Qualen zu «kurieren», griff Jung der er ist, verdankt er dem schlicht grossar- macht, die ihnen eingeredet worden ist, befreien die neue Methode der Psychoanalyse auf, die tigen Schauspiel von Knightley und Fassben- und die unzufriedenen Bürger wieder ein politi- der österreichisch Arzt Sigmund Freud einige der. So kann man nur atemlos zusehen, wenn scher Faktor werden», wie der Philosoph Richard Jahre zuvor entwickelt hatte. Freud behandelte die beiden versuchen, ihre Gefühle einerseits David Precht kürzlich sagte. dabei seine Patienten, indem er sie ihre Trau- auszuleben, sie dabei aber gleichzeitig in das Endlich also haben die Empörten ein Label, matisierung im Gespräch selbst erforschen und enge Korsett der gesellschaftlichen Werte und endlich kann man die Maske von Guy Fawkes benennen liess – Traumatisierungen, bei denen Erwartungen zu zwängen. Ein zeitloses Thema, richtig einsetzen, und endlich, nach dem Parla- es sich, zumindest laut Freud, fast ausschliess- das seine Faszination wohl niemals verlieren mentswahlkrampf und dem Eurotrauerendspiel, lich um sexuelle Gewalterfahrungen und unter- wird. tanzen nun doch noch alle Puppen – macht auf drückte sexuelle Bedürfnisse handelte. Wenig «A Dangerous Method». USA/Deutschland 2011. Regie: David der Bühne Licht, meine Damen und Herren, wir wundert es, dass die Gesprächstherapie damals Cronenberg. Länge: 99 Minuten. Ab 10. November in Deutsch- tanzen, bis der Schuppen wackelt und zusam- schweizer Kinos. menbricht.

ensuite - kulturmagazin Nr. 107 | November 2011 37 DDasas aanderendere KKinoino - WWerbungerbung

www.cinematte.ch / Telefon 031 312 45 46 www.kellerkino.ch / Telefon 031 311 38 05 www.kinokunstmuseum.ch / Telefon 031 328 09 99

ordlichter – Kalte Hände – Warmes Herz er November steht einerseits im Zeichen eues mexikanisches Kino «Es ist das un- N Die klirrend kalten Winternächte im hohen D von The Whistleblower von Larysa Kon- N ideologische, intellektuell aber hoch re- Norden scheinen endlos zu dauern. Zeit genug, dracki, mit Rachel Weisz, die aufwühlend Ka- flektierte Interesse an der Realität gepaart mit sich bis in die frühen Morgenstunden herzerwär- thryn Bolkovac verkörpert. Die amerikanische konsequentem filmischem Formwillen, das das mende Filmgeschichten auszudenken. O’Horten Friedenswächterin in Bosnien deckt 1999 die mexikanische Kino derart aufregend macht.» zum Beispiel: Der norwegische Regisseur Bent Verstrickungen der UN-Mission in den Frau- (Thomas Allenbach) In Zusammenarbeit mit Hamer (Kitchen Stories) schickt in seiner melan- enhandel auf. Da die Täter diplomatische Im- Filmar en América Latina sind mehrere Premi- cholischen Komödie einen pensionierten, wortkar- munität haben, wird niemand belangt und das eren ausgewählt worden: Revolucíon: 100 Jahre gen Lokführer auf eine skurrile Reise ins Glück. involvierte Militärunternehmen DynCorp wird nach dem grossen historischen Ereignis zeigen Eine ganz andere Odyssee unternimmt der breit- später wieder im Irak eingesetzt. zeitgenössische mexikanische Filmschaffende – schultrige Jomar im «antidepressiven Off-Road- Wie jedes Jahr steht der November im Zei- u.a. Mariana Chenillo, Carlos Reygadas, Paul Le- movie» Nord: Bei Minustemperaturen macht er chen von Queersicht (www.queersicht.ch), das duc – in einem Kompilationsfilm auf, was vom sich auf einem Schneemobil und mit genügend vom 10. bis 16. November das ganze Programm Geist der Revolution übrig geblieben ist. Sehens- Schnaps ausgestattet auf die Suche nach seinem im Kellerkino bestreitet. Während Queersicht wert auch: Parque Via von Enrique Rivero; Norte- unbekannten Sohn. Der 17-jährige Nói hingegen hat Off Beat Première im Kino Kunstmuseum. ado von Rigoberto Pérezcano; A tiro de piedra von sitzt fest: Im wunderbar absurden Debütfilm Nói Das Kellerkino wird Off Beat von Jan Gass- Sebastián Hiriart; Chicogrande von Juan Manuel Albinói des Isländers Dagur Kári sehnt sich der mann mit dem bekannten Rapper Chocoloco- Bernal; Asalto al cine von Iria Gómez Concheiro. kahlköpfige Antiheld weit weg aus seinem islän- colo (Hans-Jakob Mühlethaler) in der Rolle des Aus Kolumbien kommt der Animationsfilm Pe- dischen Heimatkaff ins sonnige Hawaii. Baltasar Lukas ab dem 17. November zeigen. (Auch The queñas voces von Jairo Carillo, am 5.11. in Anwe- Kormákur liefert in 101 Reykjavik eine Liebeser- Whistleblower wird nach der Zäsur von Queer- senheit des Regisseurs. – Ab 5.11. klärung der schrägeren Art an seine Heimatstadt sicht wieder im Programm sein.) Der Rapper Off Beat – Jan Gassmann und die Mundartisten und Aki Kaurismäkis Ariel startet in Lappland Lukas (26) spürt sich nur noch im Moment des Neben Ho und überall über den Musiker Simon Ho und endet in Helsinki. Exzesses. Nach dem Ende der turbulenten Lie- von Peter Guyer, Amiet von Iwan Schumacher, ist Schlussbouquet Wiederum zeigen wir zum Jah- besbeziehung mit seinem Produzenten Mischa im Rahmen von Queersicht Jan Gassmanns Film resende eine kleine Auswahl an cineastischen Le- (46) muss er gegen seinen kleinen Bruder Sämi Off Beat zu sehen. Der Zürcher Regisseur setzt ckerbissen. Da wäre vorerst der CH-Klassiker Ro- antreten, der inzwischen seinen Platz einge- sich darin mit dem Thema der Homosexualität in meo und Julia auf dem Dorfe von Hans Trommer nommen hat. Hip-Hop-Kreisen auseinander, die im internatio- (1941). Weiter geht’s nach Mexiko mit Como Agua Zudem wird der ausserordentlich schöne nalen Kontext oft nur einseitig und eher negativ Para Chocolate von Alfonso Arau von 1992. Der Dokumentarfilm Silvesterchlausen von Thomas behandelt wird. Am 11. November sind Chocoloco- dritte Liebesfilm stammt aus Frankreich, wurde Rickenmann ab dem 20. November im Sonn- colo und Jan Gassmann sowie am 14. November 1966 lanciert und vereint Anouk Aimée und Jean- tagsprogramm sein. Silvesterchlausen zeigt Chocolococolo und Knackeboul von den Mundar- Louis Trintignant in Claude Lelouchs Un Homme die Menschen, die hinter diesem Brauchtum tisten im Kino Kunstmuseum zu Gast. 11.- 15.11./ et Une Femme. Nebst diesen Liebesfilmen zeigen aus dem Appenzellerland stehen. Das Anferti- ab 17.11. im Kellerkino. wir die tolle Gaunerkomödie The Ladykillers von gen der Chlausenmasken beschäftigt sie übers Filmgeschichte in 50 Kapiteln 15.11.: Zabris- Alexander Mackendrick. Wir wünschen ein schö- ganze Jahr. Anders als etwa die Baslerfasnacht kie Point. Michelangelo Antonioni vermittelt in nes neues Jahr mit vielen tollen Kinoerlebnissen. ist das Silvesterchlausen nie zum nationa- seinem Meisterwerk ein treffendes Bild der ame- Die Stiftung für Freiheit und Menschenrechte len Ereignis geworden, und daher wohl auch rikanischen Jugend in den 70er Jahren zwischen zeigt: Aunhg San Suu Kyi - La Dame de Rangoun viel näher bei seinen Wurzeln geblieben. Der Verunsicherung und Rebellion.Einführung: Fran- – 3.11. 18.30h – Aung San Suu Kyi, Friedensnobel- Schmied macht jährlich die Schellen in völliger ziska Oliver, Kulturkritikerin, Zürich. 29.11.: Touki preisträgerin aus Burma und Tochter des burmesi- Handarbeit, sogar die Holzkohle für das Auf- Bouki. Der Klassiker des afrikanischen Kinos von schen Nationalhelden Aung San, kehrte erst 1988 heizen der Esse stellt er selber her. Die Bilder Djibril Diop Mambéty. Einführung: Elke Kania, nach 30 Jahren im Ausland nach Rangun zurück, der verschneiten Landschaft und der Silvester- Kunst- und Filmwissenschaftlerin, Köln. um ihre Mutter zu pflegen. Bei den Wahlen von nacht verschmelzen mit den Urmusikklängen Kinderfilm Die Kinderfilmreihe, eine Zusam- 1990 ging die von ihr geführte National League des Volksbrauchtums. menarbeit mit dem Kinderkulturkalender Lepo- of Democracy als unerwartete Wahlsiegerin her- rello (leporello.ch) widmet sich Verfilmungen der vor. Das Resultat wurde aber von der Militärjunta berühmten Kinderbuchautorin Cornelia Funke: nicht anerkannt. Ab 5.11. mit Die wilden Hühner.

38 ensuite - kulturmagazin Nr. 107 | November 2011 DDasas aanderendere KKinoino - WWerbungerbung KI N O in der Reitschule www.reitschule.ch / Telefon 031 306 69 69 www.lichtspiel.ch / Telefon 031 381 15 05 www.pasquart.ch / Telefon 032 322 71 01

ressen – Queer Essen, die wohl (zweit-) anzibar Soccer Queens (2008) Wie kommt eue Filme aus Lateinamerika werden wäh- F schönste Nebensache der Welt. Gemein- Z es, dass die Begeisterung für den Frau- N rend fünf Wochen in Biel zu sehen sein. Im sam am Tisch sitzen, gut essen, eine Flasche enfussball im heutigen Afrika so gross ist? Die Rahmen des Festivals Filmar en América Latina Wein trinken und stundenlang diskutieren. Wer Fussballerinnen des Woman Fighter Club San- werden an den ersten beiden Wochenenden im lässt sich nicht gerne ein gutes Abendessen sibar führen es vor: Sport kann ein Weg sein, November zehn Filme gezeigt, die nur für kurze kochen. Könnte man meinen... Mit dem Zyklus selbstbestimmte Lebensträume zu verwirklichen Zeit in der Schweiz zirkulieren. Das detaillierte Fressen und gefressen werden... zeigt das Res- und feste Rollenzuteilungen zu überwinden. Flo- Programm ist unserer Internetseite zu entneh- taurant Sous le Pont im Kino in der Reitschule rence Ayisis Dokumentarfilm gibt einen span- men. Der Eröffnungsfilm wird mit stimmungsvol- eine etwas andere Sicht auf das Essen. Hast du nenden Einblick in das Leben und die Erfahrung ler Live-Musik umrahmt, und an den Sonntagen dir schon überlegt wie unsere Nahrungsmittel fussballspielender Frauen in Afrika. (4.11.) wartet ein Buffet mit Leckereien aus Kuba. Die hergestellt werden? Und wie und woher sie bis Disagio e Follia nel Cinema Italiano Der kurze Filme werden in Originalsprache mit französi- auf unseren Teller gelangen? Wer pflanzt un- Zyklus wirft einen Blick auf Pathologie und Ver- schen Untertiteln gezeigt. Wem deutsche Unter- sere Nahrungsmittel an, wer transportiert sie, rücktheit im italienischen Kino und reflektiert titel fehlen, soll nicht leer ausgehen: In También wer verkauft sie, und wer steckt am Schluss die gesellschaftliche Definition von «gesund» la Lluvia (19.-21.11.) drehen Sebastián und Costa den Gewinn ein? Und ist Nahrung gesund oder und «krank». In Le Chiavi di Casa lernt ein Vater (Gabriel García Bernal und Luis Tosar) in Bolivien können uns genmanipulierte Pflanzen scha- seinen stark gehbehinderten Sohn kennen (7.11.), einen Spielfilm über Christoph Kolumbus. Sie wol- den? Fressen und gefressen werden soll un- Senza Pelle erzählt, wie sich ein psychotischer len zeigen, welche Konsequenzen die Gold-Gier seren Umgang mit dem Essen reflektieren. Im Junge unsterblich in eine verheiratete Postange- der Neuankömmlinge für die amerikanischen Rahmen des Zyklus zeigen wir unter anderem stellte verliebt (14.11.). Um mysteriöse Gescheh- Ureinwohner hatte. Mitten in den Dreharbeiten die Schweizer Premiere des Films Black Brown nisse in einem venezianischen Palazzo geht es in wiederholt sich die Geschichte - 500 Jahre nach White von Erwin Wagenhofer. Dino Risis Anima Persa (21.11.), während in Anto- Kolumbus kommt es erneut zur Konfrontation. Wir wünschen ä guete! nionis Deserto Rosso eine Frau nach einem Un- Diesmal geht es um Wasser… Los Colores de la fall mit psychotischen Ängsten zu kämpfen hat Montaña (25./26./28.11.) spielt in einem kleinen Das lesbisch-schwule Filmfestival Queer- (28.11.). Dorf in den kolumbianischen Bergen. Für den Sicht ist bei uns vom 11 bis 13. November zu Sortie du Labo: Von Heiligtum zu Heiligtum 9-jährigen Manuel erfüllt sich ein Traum, als Gast: www.queersicht.ch (CH 1917) Seit 1815 richtete die Basler Mission in sein Vater ihm zum Geburtstag einen Fussball verschiedenen Weltgegenden Missionsstationen schenkt. Kurz darauf landet dieser unerreichbar Wie jeden ersten Sonntag im Monat gibt es ein, von wo aus das Christentum verbreitet wer- in einem Minenfeld. Manuel lässt nichts unver- auch diesen Monat wieder Kinderfilm am Floh- den sollte, von wo aber auch schulische und me- sucht, um mit seinen Freunden den Ball zurück zu mi-Sonntag. Dieses Mal lernen unsere kleinen dizinische Initiativen ausgingen. Der Film führte holen. Konsequent aus der Perspektive der Kinder Gäste die Streiche von Mein Name ist Eugen das Publikum in eine unbekannte Welt religiöser wird der Alltag von Bauern zwischen den Fronten kennen. und gesellschaftlicher Bräuche. Elefanten, Fakire eines bewaffneten Konflikts gezeigt. La Yuma (2.- und Exorzismus rahmen das Bild der spannenden 5.12.) ist neugierig auf die Welt und das Leben. So fremden Welt ein. Musik: W. Pipczynski (17.11.) versucht sie mit einer Karriere als Sportlerin den Cinémanalyse Mehr als 500’000 Italiener-In- Slums von Managua, Nicaragua zu entkommen. nen kamen anfangs der 60erJahre in die Schweiz Als sie auf den angesehenen Box-Coach Polvorita – die boomende Wirtschaft brauchte ihre Arbeits- trifft, scheint sie endlich einen Förderer gefunden käfte. Für seinen Dokumentarfilm Siamo Italiani zu haben... (1964) besuchte Alexander Seiler die Einwande- Im Rahmen der 6. Bieler Philosophietage su- rer aus Süditalien, die in unwürdigen Wohnver- chen Wissenschaftler in L’Enfance sous contrôle hältnissen in der Schweiz lebten, hart arbeiteten am 18.11. nach medizinischen Ursachen für ge- und sozial ausgegrenzt wurden. (24.11.) Septem- walttätiges Verhalten von Jugendlichen – mit an- berwind (2003) porträtiert vierzig Jahre darauf schliessender Diskussion. erneut einige der damaligen MigrantInnen und Jacques Dutoit füllte mit seinem neusten Film erzählt, was aus ihnen und ihren Kindern, den den Saal der Cinémathèque in Lausanne und wird Secondos und Terzas geworden ist. (16.12.) am 27.11. mit Tracer la Route nun auch in Biel zu www.lichtspiel.ch Gast sein.

Für das Tagesprogramm die Tageszeitung oder das Internet www.bernerkino.ch 39 KKinoino & FFilmilm IMPRESSUM

KINO Herausgeber: Verein WE ARE, Bern Redakti- on: Lukas Vogelsang (vl); Anna Vershinova // Peter J. Betts, Luca D’Alessandro (ld), Morga- ne A. Ghilardi, Till Hillbrecht, Florian Imbach, 50/50 Hanspeter Künzler, Michael Lack, Claudia Langenegger, Hannes Liechti, Andreas Meier, Von Morgane A. Ghilardi – Eine «Krebs-Komödie» Belinda Meier, Fabienne Nägeli, Konrad Pauli, Eva Pfirter, Barbara Roelli, Walter Rohrbach, s wäre übel gewesen, eine schlechte Ko- Freundin Rachael (Bryce Dallas Howard) be- Karl Schüpbach, Miriam Suter (ms), Willy Vo- E mödie über Krebs zu drehen, meinte Seth wundernswert, die es schafft, auf vergnügliche gelsang, Simone Wahli (sw), Sonja Wenger Rogen sehr treffend in einem Interview. Zum Art unbeschreiblichen Abscheu hervorzurufen. (sjw), Sandro Wiedmer, Gabriela Wild (gw), Glück ist mit «50/50» (2011) jedoch eine sehr Gordon-Levitt, der sein breitgefächertes Ueli Zingg (uz). gelungene Abhandlung zu einer schweren, po- Können wiederholt in Filmen wie «Mysterious Cartoon: Bruno Fauser, Bern; Bundesrat tentiell humorlosen Thematik entstanden. Skin» (2004), «Brick» (2005), «(500) Days of Brändli: Matthias «Willi» Blaser; Kulturagen- Man muss tatsächlich einen Sinn für Humor Summer» (2009) oder «Inception» (2010) be- da: kulturagenda.ch; ensuite - kulturmagazin, haben, wenn man als gesunder junger Mann in wiesen hat, stellt den etwas trockenen, mit allevents, Werbe & Verlags AG, Zürich. Korrek- den Zwanzigern eine sehr seltene und schwer sich kämpfenden Adam mit herzerwärmendem torat: Sandro Wiedmer (saw) zu behandelnde Art vom Krebs hat. Wenn Hundeblick dar. Der pragmatische Charakter dann der Arzt so viel Takt wie ein Klumpen seiner Figur bietet das Gegenstück zu Rogens Abonnemente: 77 Franken für ein Jahr / 11 Beton hat, und man mit der Freundin eigent- Darstellung des Kindskopfs, der es immer wie- Ausgaben, inkl. artensuite (Kunstmagazin) lich erst die zarten Anfänge einer Beziehung der schafft, völlig daneben zu sein, womit er Abodienst: 031 318 6050 / [email protected] ertastet, scheint die Diagnose wie ein kosmi- eigentlich zur Inspiration für jemanden wird, ensuite – kulturmagazin erscheint monatlich. scher Schlag ins Gesicht. Doch es gibt noch dessen Regelbewusstsein schlussendlich nic ht Auflage: 10 000 Bern, 10 000 Zürich Hoffnung für Adam (Joseph Gordon-Levitt), viel bringt. Rogens Figur wirkt auch des Öf- denn seine Überlebenschancen stehen 50:50. teren abstossend drollig, und gibt nicht nur Anzeigenverkauf: [email protected] Lay- Mit genügend Willen und wirksamer Chemo- seinem erkrankten Freund, sondern auch dem out: Lukas Vogelsang Produktion & Druck- therapie kann dem Krebs der Kampf angesagt Publikum Anlass für enerviertes Gelächter, die vorstufe: ensuite, Bern Druck: Fischer AG für werden. Gekämpft wird aber auf einmal auch nötige Entspannung angesichts der beklem- Data und Print Vertrieb: Abonnemente, Auf- im sozialen Umfeld, wenn man sich mit der Un- menden Lage. lage in Bern und Zürich - ensuite 031 318 60 mut der Mutter (Anjelica Huston) gegenüber Beim Film handelt es sich um eine wahre 50; Web: interwerk gmbh der Freundin und dem an Alzheimer leidenden Geschichte; nicht nur im Kontext aller Krebs- Vater herumschlagen muss, oder wenn bester diagnosen, mit denen täglich Menschen allen Hinweise für redaktionelle Themen erwünscht Kumpel Kyle (Seth Rogen) überzeugt ist, dass Alters und Lebenssituationen konfrontiert bis zum 11. des Vormonates. Über die Publikati- Krebs das beste Mittel ist, um Frauen aufzurei- werden, sondern auch weil Drehbuchautor Will on entscheidet die Redaktion. Bildmaterial di- ssen. Zur Seite steht Adam die doktorierende Reiser mit «50/50» seine eigene Geschichte gital oder im Original senden. Wir senden kein Katherine (Anna Kendrick), deren Versuche, erzählt. Mit der Unterstützung seines Busen- Material zurück. Es besteht keine Publikations- Adam angemessen zu therapieren, nicht immer freunds Seth Rogen hat Reiser selbst vor Jah- pflicht. Agendahinweise bis spätestens am 18. ganz hinhauen. Während Adams Gelassenheit ren mit dieser Krankheit fertig werden müs- des Vormonates über unsere Webseiten einge- gegenüber seinem Zustand wahrscheinlich ei- sen. Dass Rogen im Grunde sich selbst spielt, ben. Redaktionsschluss der Ausgabe ist jeweils nerseits auf Verdrängungsversuche und ande- legt nahe dass der Film vielleicht ein Verarbei- am 18. des Vormonates (www.kulturagenda.ch). rerseits auf eine bodenständige Reaktion auf tungsversuch für die Freunde darstellt, welche, die Situation hindeutet, bleibt das Glas nicht dem Film nach zu urteilen, einige Hürden über- Die Redaktion ensuite - kulturmagazin ist po- immer halbvoll. Ab und zu muss auch den winden mussten um ihre Männerfreundschaft litisch, wirtschaftlich und ethisch unabhängig Ängsten und Frustrationen freier Lauf gelas- zu bewahren. und selbständig. Die Texte repräsentieren die sen wird. Der Film unterscheide sich von anderen Meinungen der AutorInnen, nicht jene der Re- Man spürt bei diesem Film, dass so einiges «Krebsfilmen», weil er sich nicht nur der Dra- daktion. Copyrights für alle Informationen und hätte schief gehen können. Wäre der Film zu matik der Lage oder der Endzeitstimmung an- Bilder liegen beim Verein WE ARE in Bern und oberflächlich, die Inszenierung zu pathetisch nehme, welche die Krebsdiagnose in irgendei- der edition ensuite. «ensuite» ist ein eingetra- oder die Gefühlsdarstellung zu kitschig, wäre ner Form mit sich bringe, beteuert Seth Rogen, gener Markenname. daraus kaum eine befriedigende Geschichte und so ist es auch. Er betont den Umgang mit geworden. Solche Schwächen plagen zum Bei- den Chancen, die einem gegeben werden, und Redaktionsadresse: spiel den thematisch verwandten «Funny Peo- wie diese ein Leben verändern oder eben nicht. ple» (2009) – übrigens auch mit Seth Rogen Das Bangen um Adams Leben steht weniger im ensuite – kulturmagazin –, der durch krampfhafte Versuche, eine tod- Zentrum, als dessen Verlauf, und die Begleiter Sandrainstrasse 3; CH-3007 Bern ernste Situation mit der Komik des Lebens zu auf seinem Weg. Der Film wird zur Abhand- Telefon 031 318 60 50 vereinen, am Ziel vorbei schoss. «50/50» ver- lung über die Absurdität des Lebens. Wie der Fax 031 318 60 51 rennt sich mit der Konturierung der Charaktere Untertitel verrät: «It takes a pair to beat the E-Mail: [email protected] weder in karikierender Vereinfachung noch in odds». bodenloser Zynik. Vielmehr spürt man die na- türliche Art von Humor, die man im Alltag an- Der Film kommt Anfangs 2012 in Schweizer www.ensuite.ch trifft und schätzt. Auch ist die Darstellung der Kinos.

40