Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte

Herausgegeben von der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg

unddem Württembergischen Geschichts- und Altertumsverein

66.Jahrgang

W. Kohlhammer Verlag Stuttgart 2007 0'1-/ A ~ll~ Die Welfen

Adelsentwürfe im hohen Mittelalter

Von BERND SCHNEIDMÜLLER, MATIHIAS BECHER, THOMAS ZOTZ und WERNER HECHBERGER Adelshaus oder Wechselrahmen?

Einführung in Wege der Welfenforschungl

Von BERND SCHNEIDMÜLLER

Seit ihren Anfängen als kritische Wissenschaft beschäftigt sich die Geschichtsfor- schung mit den Welfen. Kein geringerer als Gottfried Wilhelm Leibniz finanzierte mit dem reich dotierten Auftrag zu einer fürstlichen Hausgeschichte/ den Großteil seiner Arbeit, auch wenn diese zum Leidwesen seiner Gönner leider nicht die ersehnte Hi- storia domus hervorbrachte. Die welfischen Wünsche an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert waren klar formuliert. Die Größe des Hauses sollte aus einer glorreichen Vergangenheit entwickelt werden. Geschichte als Argument - Geschichte als Waffe: Das Recht auf die neunte Kurfürstenwürde im Heiligen Römischen Reich war damit ebenso gut zu begründen wie der Anspruch auf den englischen Throrr'. Mit dem Ende der Monarchien verwandelte sich das Interesse an europäischer Adelsgeschichte. Begleitet von manchen Welfentaten rückte das fürstliche Haus im- mer wieder in den Brennpunkt des öffentlichen wie des wissenschaftlichen Interesses.

I Einleitende Worte zur Sektion .Die Welfen. Adelsentwürfe im hohen Mittelalter" auf der Jahrestagung der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg am 24.06.2005 in Weingarten. 2 Gottfried Wilhelm Leibniz: Schriften und Briefe zur Geschichte. Bearbeitet, kommentiert und hg. von Malte-Ludolf Babin/Gerd van den Heuvel (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 218). Hannover 2004. J Armin Reese: Die Rolle der Historie beim Aufstieg des Welfenhauses 1680-1715 (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 71). Hildesheim 1967 - Horst Eckert: Gott: fried Wilhelm Leibniz' Scriptores Rerum Brunsvicensium. Entstehung und historiographische Bedeutung (Veröffentlichungen des Leibniz-Archivs 3). Frankfurt am Main 1971 - Günter Scheel: Braunschweig-Lüneburgische Hausgeschichtsschreibung im 18. und 19.Jahrhundert im Anschluß an das historiographische Erbe von G. W. Leibniz. In: Beiträge zur niedersächsischen Landesgeschichte. Hg. von Dieter Brosius/Martin Last. Hildesheim 1984. S.220-239 - Leibniz und Niedersachsen. Hg. von Herbert Breger/Friedrich Niewöhner (Studia Leibnitiana. Sonder- heft 28). Stuttgart 1999. Zum welfischen Aufstieg im 17.118. Jahrhundert Georg Schnath: Ge- schichte Hannovers im Zeitalter der neunten Kur und der englischen Sukzession 1674-1714, 5 Bde. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hannover, Oldenburg, Braun- schweig, Schaumburg-Lippe und Bremen [bzw.: der Historischen Kommission für Niedersach- sen und Bremen] 18). Hildesheim (Leipzig) 1938-1982. Adelshaus oder Wechselrahmen? 13

Der Verkauf zentraler Stücke der mittelalterlichen Repräsentationskunst verdeutlich- te den alten Rang. Die Veräußerung des grandiosen Welfenschatzes, der welfischen Münzsammlung oder des Evangeliars Heinrichs des Löwen und Mathildes, 1983 das teuerste Buch der Welt, machte über die Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts den Zauber einer einzigartigen, einer europäischen, einer mäzenatischen Hofkultur offenkundig". Zum öffentlichen Interesse gehörte das wissenschaftliche dazu. In den letzten 50 Jahren entfaltete sich die moderne Adelsforschung vor allem aus Fallstudien zu den mittelalterlichen Welfen. Sie waren weitaus mehr als beliebige Beispiele. Vielmehr bot die einzigartige schriftliche wie künstlerische Überlieferung aus dem Umkreis der fürstlichen Familie die Wegmarken für die Interpretation von Geschichtswissen- schaft, Kunstgeschichte oder Germanistik'', Der räumliche wie funktionale Wandel adliger Lebenswelten, das Bewußtsein als konstituierende Grundlage von Rang, die Spannung regionaler Verortung und europäischer Handlungsbezüge - all das wurde immer wieder und gerade aus der schwäbischen, bayerischen oder sächsischen Über- lieferung aus welfischem Umkreis beschrieben. Die Freiburger Schule um Gerd TeI- lenbach und andere haben hier seit den 1950er Jahren Bahnbrechendes geleistet. Na- men wie Josef Fleckenstein", Kar! Schrnid", Hansmartin Schwarzmaier'', Otto Ger-

4 Das Evangeliar Heinrichs des Löwen. Kommentar zum Faksimile. Hg. von Dietrich Kötz- sehe. Frankfurt am Main 1989.Vgl. auch: Der Welfenschatz und sein Umkreis. Hg. von Joachim EhlerslDietrich Körzsche, Mainz 1998 - Heinrich der Löwe. Herrschaft und Repräsentation. Hg. vonJohannes Fried/Ono Gerhard Oexle (Vorträge und Forschungen 57). Ostfildern 2003- Helmarshausen. Buchkultur und Goldschmiedekunst im Hochmittelalter, Hg. von Ingrid Baumgärtner. Kassel 2003. 5 Interdisziplinäre Ansätze in: Heinrich der Löwe und seine Zeit. Herrschaft und Repräsenta- tion der Welfen 112S-1235. Katalog der Ausstellung Braunschweig 1995. 3 Bände. Hg. von Jo- chen LuckhardtlFranz Niehoff. München 1995 - Die Welfen und ihr Braunschweiger Hof im hohen Mittelalter. Hg. von Bernd Schneidmüller (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 7).Wiesba- den 1995. 6 Hier wie in den folgenden Anmerkungen muß aus der Fülle einschlägiger Publikationen ei- ne knappe Auswahl getroffen werden. Josef Fleckenstein: Über die Herkunft der Welfen und ihre Anfänge in Süddeutschland. In: Studien und Vorarbeiten zur Geschichte des großfränkischen und frühdeutschen Adels. Hg. von Gerd TeIlenbach (Forschungen zur oberrheinischen Landes- geschichte 4). Freiburg i. Br. 1957. S.71-136. 7 Wegweisend Karl Schmid: Welfisches Selbstverständnis. In: Adel und Kirche. Festschrift Gerd TeIlenbach. Hg. von Josef Fleckenstein/Karl Schmid. Freiburg/BasellWien 1968. S.389- 416. Zusammenfassend Karl Schmid: Geblüt, Herrschaft, Geschlechterbewußtsein. Grundfra- gen zum Verständnis des Adels im Mittelalter. Hg. von Dieter MertenslThomas Zotz (Vorträge und Forschungen 44). Sigmaringen 1998. 8 Hansmartin Sclnaarzmaier: Die Welfen und der schwäbische Adel im 11. und 12.Jahrhun- dert in ihren Beziehungen zum Vinschgau. In: Der Vinschgau und seine N achbarräume. Hg. von Rainer Loose. Bozen 1993.S.83-98 - ders.: Dominus totius domus comitisse Mathildis. Die Wel- fen und Italien im 12. Jahrhundert. In: Festschrift Eduard Hlawitschka. Hg. von Karl Rudolf SchnithlRoland Pauler (Münchener Historische Studien. Abteilung Mittelalterliche Geschichte 5). Kallmünz 1993.S.283-305 =ders., Uta von Schauenburg, die Gemahlin Welfs VI. In: WeHVI. Hg. von Rainer Jehl (Irseer Schriften 3). Sigmaringen 1995. S.2~2 - ders.: Wege des schwäbi- 14 Bernd Scbneidmidler hard Oexle9,Johannes Friedlo,Joachim Ehlers!', Michael Borgolte'j, Gerd Althoff"! oder Stefan Weinfurter14 zeigen an, daß führende deutsche Mediaevisten mit Welfen- forschung Geschichte schrieben. So entwickelten sich im letzten Viertel des 20. Jahr- hunderts methodische Debatten, die das Fach und seinen Umgang mit den Quellen im Kern berührten. Wie sollte, wie konnte, wie durfte man ein Memorialbild wie die be- rühmte Krönungsminiatur Heinrichs des Löwen und Mathildes im Welfenevangeliar

sehen Adels nach Italien im 12.Jahrhundert. In: Schwaben und Italien im Hochmittelalter. Hg. von Helmut Maurer/Hansmartin SchwarzmaierfThomas Zotz (Vorträge und Forschungen 52). Stuttgart 2001. S.151-174. Zusammenfassend ders: Der Ausgang der Stauferzeit (1167-1269). In: Handbuch der baden-württembergischen Geschichte. Bd.l, 1:Von der Urzeit bis zum Ende der Staufer. Hg. von Meinrad Schaab/Hansmartin Schwarzmaier. Stuttgart 2001. S.52~19. 9 Otto Gerhard Oexle: Die "sächsische Welfenquelle" als Zeugnis der welfischen Hausüber- lieferung. In: Deutsches Archiv 24 (1968) S.435-497 - ders.: Bischof Konrad von Konstanz in der Erinnerung der Welfen und der welfischen Hausüberlieferung während des 12.Jahrhundens. In: Freiburger Diözesan-Archiv 95 (1975) S.7-40 - ders.: Welfische und staufische Hausüberliefe- rung in der Handschrift Fulda D 11 aus Weingarten. In: Von der Klosterbibliothek zur Landesbi- bliothek. Hg. von Artur BraII. Stuttgart 1978. S.203-231 - ders.: Adliges Selbstverständnis und seine Verknüpfung mit dem liturgischen Gedenken - das Beispiel der Welfen. In: ZGO 134 (1986) S.47-75 - ders.: Die Memoria Heinrichs des Löwen. In: Memoria in der Gesellschaft des Mittelalters. Hg. von Dieter Geuenich/Otto Gerhard Oexle (Veröffentlichungen des Max- Planck-Instituts für Geschichte 111). Göttingen 1994. S.I28-177 - ders: Welfische Memoria. Zugleich ein Beitrag über adlige Hausüberlieferung und die Kriterien ihrer Erforschung. In: Die Welfen und ihr Braunschweiger Hof (wie Anm.5) S.61-94. 10 Johannes Fried: Königsgedanken Heinrichs des Löwen. In: Archiv für Kulturgeschichte 55 (1973) S.312-351 - ders.: Der Löwe als Objekt. Was Literaten, Historiker und Politiker aus Heinrich dem Löwen machten. In: Historische Zeitschrift 262 (1996) S.673-693. 11 Joachim Eblers: Ausgewählte Aufsätze. Hg. von Martin Kintzinger/Bernd Schneidmüller (Berliner Historische Studien 21). Berlin 1996- ders.: Heinrich der Löwe. Europäisches Fürsten- tum im Hochmittelalter (Persönlichkeit und Geschichte 154/155). Göttingen/Zürich 1997 - ders: Literatur; Bildung und Wissenschaft am Hof Heinrichs des Löwen. In: Kultureller Aus- tausch und Literaturgeschichte im Mittelalter. Hg. von Ingrid KastenlWerner Paravicini/Rene Perennec (Beihefte der Francia 43). Sigmaringen 1998.S.61-74 - ders: Heinrich der Löwe in den Urkunden Friedrich Barbarossas. In: Frühmittelalterliche Studien 36 (2002) S.355-377. 12 Michael Borgolte: Geschichte der Grafschaften Alemanniens in fränkischer Zeit (Vorträge und Forschungen. Sonderband 31). Sigmaringen 1984- ders.: Die Grafen Alemanniens in mero- wingischer und karolingischer Zeit. Eine Prosopographie (Archäologie und Geschichte 2). Sig- maringen 1986. U Gerd A/thoff: Heinrich der Löwe und das Stader Erbe. Zum Problem der Beurteilung des .Annalista Saxo". In: Deutsches Archiv 41 (1985) S.66-100 - ders.: Anlässe zur schriftlichen Fi- xierung adligen Selbstverständnisses. In: ZGO 134 (1986) S.34-46 - ders.; Konfliktverhalten und Rechtsbewußtsein: Die Welfen in der Mitte des 12.jahrhunderts. In: Frühmittelalterliche Stu- dien 26 (1992) S.331-352 =ders.; Die Historiographie bewältigt. Der Sturz Heinrichs des Löwen in der Darstellung Arnolds von Lübeck. In: Die Welfen und ihr Braunschweiger Hof (wie Anm.5) S.163-182. 14 Stefan Weinfurter: Gelebte Ordnung - Gedachte Ordnung. Ausgewählte Beiträge zu Kö- nig, Kirche und Reich. Hg. von Helmuth Kluger/Hubertus Seibert/Werner Bomm. Ostfildern 2005. Adelshaus oder Wechselrahmen? 15 beurteilen und datieren?15 Wer stand hinter den Texten, die sich uns als Genealogia oder Historia Welforum aus dem 12. Jahrhundert erhalten haben? Der Zweck des Schreibens und die Träger des kulturellen Gedächtnisses gerieten immer wieder auf den Prüfstand historischer Interpretationskunst. Dabei sind man- che herrschende Lehren strittig geworden. Was hat Heinrich der Löwe mit der schwä- bischen Heimat seiner Vorfahren, was mit der Historia Welforum zu tun? Dürfen wir heute noch das beliebte Thema .Der staufisch-welfische Gegensatz" in Staatsexamina abprüfen? Arbeiten von Matthias Becherl6, Werner Hechbergerl? und Thomas Zotzl8 haben in jüngster Zeit dazu viele Frage- und Ausrufezeichen gesetzt. Es ist schön, daß sich diese drei namhaften Welfenforscher zu einer Sektion in Weingarten und zur anschlie- ßenden Publikation in dieser Zeitschrift versammelten. Hier können natürlich nicht

IS Zur Kontroverse Otto Gerhard Oexle: Das Evangeliar Heinrichs des Löwen als geschicht- liches Denkmal. In: Das Evangeliar Heinrichs des Löwen. Kommentar (wie Anm.4) S.9-27- ders: Zur Kritik neuer Forschungen über das Evangeliar Heinrichs des Löwen. In: Göttingische Gelehrte Anzeigen 245 (1993) S.70-109 - Johannes Fried: .Das goldglänzende Buch". Heinrich der Löwe, sein Evangeliar, sein Selbstverständnis. Bemerkungen zu einer Neuerscheinung. In: Göttingisehe Gelehrte Anzeigen 242 (1990) S.34-79 - Wolfgang Milde: Christus verheißt das Reich des Lebens. Krönungsdarstellungen von Schreibern und Stiftern. In: Die Welfen und ihr Braunschweiger Hof (wie Anm. 5) S.279-296 - Joachim Ott: Krone und Krönung. Die Verhei- ßung und Verleihung von Kronen in der Kunst von der Spätantike bis um 1200 und die geistige Auslegung der Krone. Mainz 1998 - Bernd Schneidmü//er: Kronen im goldglänzenden Buch. Mittelalterliche Welfenbilder und das Helmarshausener Evangeliar Heinrichs des Löwen und Mathildes. In: Helmarshausen (wie Anm.4) S.123-146. 16 Matthias Becher: WeIfVI., Heinrich der Löwe und der Verfasser der Historia Welforum. In: Die Welfen. Landesgeschichtliche Aspekte ihrer Herrschaft. Hg. von Karl-Ludwig Ay/Lorenz Maier/joachim Jahn (Forum Suevicum 2). Konstanz 1998. S.151-172 - ders., Der Verfasser der ,Historia Welforum' zwischen Heinrich dem Löwen und den süddeutschen Ministerialen des welfischen Hauses, in: Heinrich der Löwe. Herrschaft und Repräsentation (wie Anm.4) S.347- 380 - Welf IV. - Schlüsselfigur einer Wendezeit. Regionale und europäische Perspektiven. Hg. von Dieter R. Bauer/Matthias Becher (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte. Beiheft 24). München 2004. 17 Werner Hechberger: Staufer und Welfen 1125-1190. Zur Verwendung von Theorien in der Geschichtswissenschaft (Passauer Historische Forschungen 10). KölnIWeimarlWien 1996 _ ders.: Graphische Darstellungen des Welfenstammbaums. Zum .welfischen Selbstverständnis" im 12.Jahrhundert. In: Archiv für Kulturgeschichte 79 (1997) S.269-297 - ders.: Die Vorstellung vom staufisch-welfischen Gegensatz im 12.Jahrhundert. Zur Analyse und Kritik einer Deutung. In: Heinrich der Löwe. Herrschaft und Repräsentation (wie Anm.4) S.381-425 - ders.: Adel im fränkisch-deutschen Mittelalter. Zur Anatomie eines Forschungsproblems (Mittelalter-For- schungen 17). Ostfildern 2005. 18 Thomas Zotz: Die frühen Welfen: Familienformation und Herrschaftsaufbau. In: König, Kirche, Adel. Herrschaftsstrukturen im mittleren Alpenraum und angrenzenden Gebieten (6.- 13.Jahrhundert). Hg. von Rainer Loose/Sönke Lorenz. Lana 1999.S.189-205 - ders.: Ottonen-, Salier- und frühe Stauferzeit (911-1167). In: Handbuch der baden-württembergischen Geschich- te (wie Anm. 8) S.380-528 - ders.: Heinrich der Löwe und Schwaben. Nähe und Distanz in per- sönlicher und räumlicher Hinsicht. In: Heinrich der Löwe. Herrschaft und Repräsentation (wie Anm.4) S.311-345. 16 Bernd Schneidmüller

alle aufregenden Kontroversen der letzten 20 Jahre zu Wort kommen. Aber wir wol- len nach einem halben Jahrhundert engagierter Welfenforschung Positionen abstek- ken und über unser Verständnis mittelalterlicher Adelsgeschichte nachdenken. Gibt es die homogene Adelsfamilie? Gibt es das adlige Haus des Hochmittelalters in mo- dernen Verwandtschaftskonzepten noch? Taugt das Modell vom Wandel einer cogna- tischen zur agnatischen Familienstrukturierung im 11. und 12. Jahrhundert für die Zu- kunft?19 Wir hatten das Glück und die Freude, solche Themen an einem besonderen welfi- schen Erinnerungsort erörtern zu dürfen. Weingarten macht sicher und bescheiden zu gleich. Sicher - weil die Grablege der Welfen bis ins erste Viertel des 12. Jahrhunderts das Geschlecht nicht in virtuellen Diskursen zerrinnen läßt. Die Präsenz welfischer Gebeine, der Stifterwille und die Erinnerung erhielten sich über die Jahrhunderte und bieten Merkpunkte der Erinnerung. Bescheiden - weil wir hier nur einer Etappe welfi- scher Wege durch die Jahrhunderte begegnen. Wir sehen heute schärfer noch als unse- re Vorgänger die Adelsgeschichte als Abfolge beständiger Brüche'P, An die Stelle eines adligen Hausbewußtseins tritt die produktive Kraft der Spannungen und Widersprü- che - Adelsentwürfe statt Geschlechterbewußtsein. Das Konstrukt der homogenen Familie könnte eher einen Wechselrahmen denn ein konsistentes Adelshaus bieten. Das Denken und Schreiben des Mittelalters folgte den Spuren der Fürsten. In einer Epoche europäischer Weitung entdecken wir über ältere landesgeschichtliche Engfüh- rungen wieder den größeren Handlungsrahmen fürstlicher Existenz im früheren Mit- telalter. Es ist gut, wenn sich eine Kommission für geschichtliche Landeskunde mit dem Nahen und dem Fernen zugleich beschäftigt, mit der Einfügung Weingartens in größere Zusammenhänge hochmittelalterlicher Raum- und Wissensergreifung. Da- rum sind wir froh, daß uns die Plattform für diese Präsentation gegeben wurde.

19 Hierzu sind demnächst die Drucklegungen der Düsseldorfer Habilitationsschrift von Ger- hard Lubich und eines von Karl-Heinz Spieß herausgegebenen Bands über Verwandtschaft in der Reihe. Vorträge und Forschungen- zu erwarten. 20 Bernd Schneidmüller. Die Welfen. Herrschaft und Erinnerung (819-1252) (Urban-Ta- schenbücher 465). Stuttgart/Berlin/Köln 2000 - ders., Die neue Heimat der Welfen. Von der kai- serlichen Landschaft zum Herzogtum Braunschweig (1125-1252). In: Die Braunschweigische Landesgeschichte. Jahrtausendrückblick einer Region. Hg. von Horst-Rüdiger JarcklGerhard Schildt. Braunschweig 2000. 5.177-230. Erbe von Kaisers Gnaden

Welf IV. und das süddeutsche Erbe der Welfen

Von MATrHIAS BECHER

Als dem oberitalienischen Markgrafen Albert Azzo aus der weitverzweigten Fami- lie der Otbertiner und seiner Gemahlin, der Welfin Kuniza, im zweiten Viertel des 11. Jahrhunderts ein Sohn geboren wurde, konnte niemand ahnen, daß dieser dereinst das Erbe der Welfen in Süddeutschland antreten würde. Sein Onkel Welf Ill. hatte das Er- be inne und würde es aller Wahrscheinlichkeit nach an seine Nachkommen weiterge- ben. Aber es kam anders, wie man in der um 1170 entstandenen Historia Welforum nachlesen kann: ..Schließlich wurde dieser Welf [Ill.] im jugendlichen Alter, während er sich gerade auf der Burg Bodman aufhielt, von einer tödlichen Krankheit befallen; als er sich vom Tod bedroht sah, schenkte er, da er keinen leiblichen Erben hatte, sein ganzes Erbgut mit den Ministerialen dem heiligen Martin im Kloster Altdorf zu ewi- gem Besitz und übertrug die Ausführung vertrauensvoll zweien seiner Großen, die damals bei ihm waren. Als er seinen letzten Tag beschlossen hatte, wurde er dorthin gebracht und unter größtem Wehklagen der Seinen und der ganzen Nachbarschaft be- graben. Bald nach der Beisetzung wollten nun die Beauftragten die Schenkung vollzie- hen, wurden aber an ihrem Vorhaben gehindert. Denn weil seine Mutter wußte, daß sie über ihre Tochter einen Erben hatte, schickte sie Boten nach Italien und ließ ihn herbeiholen. Als er kam, untersagte er die ganze Schenkung und erklärte, daß er der echte und wahre Erbe sei."!

t Historia Welforum. Ed. Erich König (Schwäbische Chroniken der Stauferzeit 1). 21978.c. 12,S. 18:Hie denique Gwelf sub iuvenili aetate, cum esset in castro Botamo, morbo correptus est; vidensque sibi imminere mortem omne patrimonium suum cum ministerialibus, quia heredem non habuit per se, ad coenobium Altorfense saneto M artino in perpetuam possessionem donavit et hoc perficiendum duobus de maioribus suis, qui tunc tecum aderant, [idelissime commisit. Ipse oe- ro diem claudens extremum illo deportatus est et cum maximo planetu suorum ac totius vicinitatis sepultus. Mox expleta sepultura, quibus iniunetum [uerat donationem perficere, uolentes probibiti sunt. Materenim ipsius, sciens se heredem habere ex [ilia, missis in Italiam legatis iussit eum addu- ci. Et oeniens donationem penitus interdixit et se certum et verum esse heredem proclamavit; kor- rigierte Übersetzung ebd. S.19. 18 Matthias Becher

Während für die ältere Forschung der Tod Welfs Ill. am 13. November 10552 gleich- bedeutend war mit dem Aussterben der älteren - eigentlichen - Welfenfamilie und der Herrschaftsantritt seines Neffen Welf IV. den Anfang der jüngeren Welfen markierte, hat die jüngere Forschung seit Kar! Schmid ihr Augenmerk eher auf das in der Historia Welforum fixierte Selbstverständnis der Welfenfamilie gerichtet, so daß der Bruch von 1055 keine Rolle mehr spielte]. In jüngster Zeit haben Bernd Schneidmüller und Wer- ner Hechberger dieses Problem wieder thematisiert, ohne in ältere Sichtweisen zu- rückzufallen". Stellvertretend sei die Einschätzung der Germanistin Beate Kellner in ihrer 2004 erschienenen Habilitationsschrift zitiert: "Das Fehlen männlicher Erben in gerader Linie, das Vermächtnis ans Kloster und das gleichzeitige Auftreten des Neffen bzw. Enkels als rechtmäßigem Erben könnte erhebliches Konfliktpotential in sich bergen. Und doch wird von einem Erbstreit nichts berichtet: Der jüngere Gwelf (IV.) '" scheint sich k~aft seiner kognatischen Zugehörigkeit zum Welfengeschlecht ohne größere Schwierigkeiten gegen das Testament seines Onkels durchsetzen zu können- so jedenfalls inszeniert die Quelle den Erbgang, ihn möglicherweise entproblematisie- rend.cs In diesem Sinne scheint etwa die Angabe der Historia Welforum, Imiza habe sich ih- res Enkels in Italien erinnert, der, so muß man wohl zwischen den Zeilen lesen, Welf Ill. gleichgültig oder gar unbekannt gewesen sei, eine reine Schutzbehauptung zu sein. Denn Katrin Baaken konnte wahrscheinlich machen, daß der Herzog in engeren Be- ziehungen mit seinen Verwandten in Italien stand, als bislang angenommen, hielt er sich doch etwa im Mai 1050 in Vicenza auf, also rund 30km von den otbertinischen Hauptorten Montagnana und Este entfernt", Welf Ill. könnte damals also durchaus seine Schwester und seinen Schwager besucht und dabei auch seinen Neffen kennen- gelernt haben. Unsere Quelle ist also nicht die beste, wenn es um die mit der Nachfol- ge Welfs Ill. verbundenen Probleme geht. So erhebt sich die Frage, wie seine Mutter Imiza ihren Einspruch gegen das Testament des Sohnes genau begründete; und weiter:

2 Zum Datum Necrologium Weingartense. Ed. Franz Ludwig Baumann (MGH Necrologia Germaniae 1).1888. S.230; Ernst Steindorff Jahrbücher des deutschen Reiches unter Heinrich IlI., Bd.2. 1881. S.320 AnmA. 3 Karl Schmid: Welfisches Selbstverständnis. In: Adel und Kirche. Gerd TeIlenbach zum 65. Geburtstag dargebracht von Freunden und Schülern. Hg. von Josef Fleckenstein - Kar! Schmid. 1968.S.389-416. ND in: Kar! Schmid: Gebetsgedenken und adliges Selbstverständnis im Mittel- alter. Ausgewählte Beiträge. Festgabe zu seinem sechzigsten Geburtstag. 1983. S.424-453. 4 Bernd Schneidmüller. Die Welfen. Herrschaft und Erinnerung (819-1252). 2000. S.128; Werner Hechberger. Die Erbfolge von 1055und das welfische Selbstverständnis im 12.Jahrhun- dert. In: Welf IV.- Schlüsselfigur einer Wendezeit. Regionale und europäische Perspektiven. Hg. von Dieter R. Bauer - Matthias Becher (Beihefte zur Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Reihe B 24). 2004. S.129-155. 5 Beate Kellner. Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelal- ter. 2004. S.327f. 6 Katrin Baaken: Welf IV. Der ,geborene Italiener' als Erbe des Welfenhauses. In: Bauer- Be- cher. Welf IV. (wie Anm.4) S.199-225, S.209, unter Verweis auf I placiti dei .Regnum Italiane", Ed. Cesare Manaresi (Fonti per la storia d'Italia 97).1960. Nr.384, S.187ff. Erbe von Kaisers Gnaden 19 wie reagierten die Vertrauten des Herzogs bzw. das ursprünglich begünstigte Kloster Altdorf? Gab es möglicherweise einen Rechtsstreit und wer entschied diesen? Die Hi- storia Welforum schweigt sich darüber aus und betont bei allen von ihr angesproche- nen Aspekten der Diskontinuität letztlich doch die familiäre und erbrechtliche Konti- nuität und somit den Fortbestand der Welfenfamilie. Der Erblasser Welf Ill. könnte eigentlich eine hervorragende Stelle in der Geschich- te des Welfenhauses einnehmen, war er doch der erste Familienangehörige, der zum Herzog und damit in die erste Gruppe der Fürsten des Reiches aufgestiegen war/, 1047 belehnte ihn Kaiser Heinrich Ill. mit dem Herzogtum Kärnten. Den Aufstieg zum Herzog verdankte er letztlich wohl der hochrangigen Verwandtschaft seiner Mutter Imiza, die sowohl von der Historia Welforum als auch von der noch älteren Genealogia Welforum für die Nachwelt festgehalten wurde: Sie sei aus einem salischen Geschlecht von der Burg Gleiberg hervorgegangen und die Schwester des Herzogs Heinrich von Bayern, des Herzogs Friedrich von Lothringen und des Bischofs Adal- bero von Metz gewesen'', Nach modernem Verständnis entstammte sie dem Haus der Luxemburger, das seit dem Beginn des 11.Jahrhunderts mehrere Herzöge von Bayern und Lothringen gestellt hatte", Hatte ein Familienangehöriger einmal den herzogli- chen Rang erworben, so kamen auch weitere, ja sogar Seitenverwandte wie Welf Ill. für eine solche Position in Frage. Die prominenteste Verwandte Imizas verschweigen die welfischen Autoren er- staunlicherweise, nämlich ihre Tante Kunigunde, die Gemahlin Kaiser Heinrichs II.lo Wenigstens mittelbar wird das Kaiserpaar in der welfischen Hausüberlieferung jedoch angesprochen, nämlich im Zusammenhang mit dem reichen Landbesitz, den die Wel- fen Imiza verdankten. Sie habe ihrem Gemahl Welf 11. und dem gesamten Welfenge- schlecht das königliche Dorf Mering und den überaus vornehmen Hof Elisina in der Lombardei eingebracht!', Auf die Luxemburger gehen weder Mering bei Augsburg

7 Vgl, Heinz Dopscb: Welf Ill. und Kärnten. In: Bauer - Becher. Welf IV. (wie Anm. 4) S.84- 128. 8 Genealogia Welforum. Ed. Georg Waitz. Über eine alte Genealogie der Welfen. In: Abhand- lungen der königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, philosophisch-historische Klas- se, Bd.2. 1881. C. 7,S.14 (= MGH SSXIII.1881. S.735); Genealogia Welforum. Ed. König (wie Anm.1) S.78 (künftig hiernach benutzt); Historia Welforum. Ebd. c. 8. S.14. 9 Vg!. Heinz Renn: Das erste Luxemburger Grafenhaus (963-1136) (Rheinisches Archiv 39). 1941;Hermann May: Die Grafschaft an der mittleren Lahn (Gießen-Wetzlar) und die Erben ih- rer aussterbenden Grafen von Luxemburg-Gleiberg im 12.Jahrhundert. In: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 25 (1975)S.I-{'3, S.4f.; Markus Twellenkamp: Das Haus der Luxemburger. In: Die Salier und das Reich, Bd.1: Salier,Adel und Reichsverfassung. Hg. von Stefan WeinfuTter. 1991. S.493-495. 10 Nach Renn: Luxemburger (wie Anm.9) S.137, wurde Welfs und Imizas Tochter Kuniza nicht nur nach der Kaiserin benannt, sondern diese war auch ihre Patin. 11 Genealogia Welforum. Ed. König (wie Anm.1) c.7, S.78: Per eam {lmizam] habemus oil- lam Moringen et Elisinam curtem in Longobardia MC mansuum sub uno vallo; Historia Welfo- rum (wie Anm.l) c.8, S.14: Per quam habemus regalemvillam Moringen et in Longobardia Eli- sinam curtem nobilissimam, cuius sunt undecim milia mansuum uno vallo comprebensi. . 20 Matthias Becher noch Elisina in der östlichen Emilia Romagna zurück'F, Zumindest für Mering be- zeugt die Historia We/forum die Herkunft aus Königsgut13• Daher vermutet die For- schung, daß die Übertragung der beiden Güter an Imiza auf die Kaiserin Kunigunde bzw. auf deren Gemahl Heinrich 11.zurückgeht", Mering und Elisina sicherten die Brennerroute, die wichtigste Verbindung zwischen Deutschland und Italien. Da Welf 11.wohl von Heinrich 11.auch noch Grafschaftsrechte in Südtirol erhalten hatte15, fü- gen sich die Zeugnisse zu einem klaren Bild. Die Ehe wurde in beiderseitigem Interes- se geschlossen und brachte sowohl dem Kaiser als auch Welf 11.Vorteile. Die Eheschließung wird von der Forschung üblicherweise auf ea. 1010-1015 da- tiert. Doch sprechen gute Gründe für einen späteren Termin, da Kaiser Heinrich 11. sich erst 1017 mit seinem Schwager Heinrich V.von Bayern, dem Onkel Imizas, aus- söhntel", Man kann die Heirat zeitlich noch enger eingrenzen, falls Mering zur Mitgift Imizas gehört hattet7• Im November 1021 hielt sich Heinrich 11.auf dem Marsch zu seinem dritten Italienaufenthalt dort auf und stellte dem Kloster Weihenstephan eine Urkunde aus. Mering gehörte damals also noch zum Reichsgut und war noch nicht an Imiza bzw. ihren Gemahl übertragen worden'", Die beiden müssen also 1021 oder kurz darauf geheiratet haben, da der Kaiser 1024 verstarb und sein Nachfolger Konrad n. keine Veranlassung mehr hatte, die Heirat Welfs und Imizas zu fördern. Was wir

12 Anders Eduard Hlawitschka: Der Thronwechsel des Jahres 1002 und die Konradiner. Eine Auseinandersetzung mit zwei Arbeiten von Armin Wolf und Donald C. Jackman. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abteilung 110 (1993) S.149-248, S.197ff., der Elisina für luxemburgischen Besitz hält, dafür aber für Imizas Vater Friedrich vorn Moselgau eine zweite Ehe mit einer oberitalienischen Adligen postulieren muß. 13 Historia Welforum (wie Anm. 1) c. 8, S.14; diese Information enthält die ältere Genealogia Welforum. Ebd. (wie Anm.l) c.7, S.78, noch nicht. 14 Vgl. etwa Wilhe1mStörmer. Die Welfen in der Reichspolitik des I1.Jahrhunderts. In: Mit- teilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 104 (1996) S.252-265, S.257f. IS Vgl. Störmer. Welfen (wie Anm.14) S.256; Ders.: Die süddeutschen Welfen unter besonde- rer Berücksichtigung ihrer Herrschaftspolitik im bayerisch-schwäbischen Grenzraum. In: Die Welfen. Landesgeschichtliche Aspekte ihrer Herrschaft. Hg. von Karl-Ludwig Ay - Lorenz Maier- JoachimJahn (Forum Suevicum 2).1998. S.57-96, S.73. 16 Störmer. Welfen (wie Anm.14) S.257; Stefan Weinfurter. Heinrich n. (1002-1024). Herr- scher am Ende der Zeiten. 1999. S.107; Marco Innocenti: Art. ,Imiza von Luxemburg'. In: Bio- graphisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd.19. 2001. Sp.756-764. 17 Burchard von Ursberg: Chronicon. Ed. Oswald Holder-Egget - Bernhard von Simson (MGH SSrer. Germ. (16)). 1868.S. 10,interpretierte die Bemerkungen seiner eng mit Genealogia Welforum und Historia Welforum verwandten Vorlage in diesem Sinne, denn er bezeichnet Elisi- na als dos, die Welf 11.von seiner Gemahlin erhalten habe; der Chronist erwähnt Mering zwar nicht, aber Elisina und Mering werden in den beiden genannten welfischen Texten derart eng miteinander verknüpft, daß ein Analogieschluß erlaubt scheint. 18 D H 11.Ed. Harry Bresslau - Hermann Bloch. In: MGH DD regum et imperatorum Ger- maniae Ill. S 1957.Nr.459 (14.Nov. 1021),S.581£.; zur Deutungin unserem Sinne und zur Echt- heit dieser Urkunde vgl. Katrin Baaken: ,Elisina curtis nobilissima'. Welfischer Besitz in der Markgrafschaft Verona und die Datierung der Historia Welforum. In: Deutsches Archiv 55 (1999) S.63-94, S.67 mit Anm.22; Störmer. Herrschaftspolitik (wie Anm.15) S.74f., datiert die Übertragung Merings sogar auf 1025. Erbe 'VonKaisers Gnaden 21

über das Alter ihres einzigen Sohnes, Welf 111.,wissen, widerspricht dem nicht: Nach der Historia We/forum verstarb der Herzog 1055 sub iuvenili aetate'", Die Altersstufe der iuuentus reichte laut Isidor von Sevilla, dem frühmittelalterlichen Universalge- lehrten schlechthin, vom 28. bis zum 49. oder 50. Lebensjahr, während Honorius Au- gustodunensis dieses Lebensalter um 1130 vom 22. bis zum 50. Jahr reichen ließ2o. Demnach könnte Welf zwischen 100617 und 1028 bzw. zwischen 1005 und 1024 gebo- ren sein. Diese langen Zeitspannen helfen nicht weiter, aber immerhin konnte Adolf Hofmeister zeigen, daß iuuentus und verwandte Begriffe nicht selten auf jüngere Män- ner angewandt wurderr", Zudem starb Welf Ill. unverheiratet, so daß er durchaus in den beginnenden 1020er Jahren geboren sein kann. Die mutmaßlich enge Verbindung der Welfen zu Heinrich n. wurde nach dessen Tod 1024 nutzlos, und sie verloren ihre bisherige Königsnähe. Schon bald geriet Welf n.in Gegensatz zum neuen Herrscher, dem Salier Konrad 11.,und suchte Anschluß an oppositionelle Kreise. Er schloß sich eng an Herzog Ernst von Schwaben an, den auf- ständischen Stiefsohn des neuen Kaisers. Daher verlor Welf 1027 seine Grafschafts- rechte in Südrirol, die an den Bischof von Trient fielen22. Welfs Tod imJ ahr 1030 stürz- te die Welfen in eine noch größere Krise, da sein gleichnamiger Sohn und Erbe noch minderjährig war. Der Witwe Imiza fiel daher allem Anschein nach die Aufgabe zu, die Zukunft ihrer Familie zu sichern. Sie allein tritt uns daher nun als Handelnde ent- gegen, so in der Nachricht Hermanns von Reichenau über eine Reorganisation des Klosters Altdorf im Jahr 1036, als Nonnen (vielleicht auch Kanonissen) an die Stelle von Weltgeistlichen traten23. Etwa zu dieser Zeit soll Imiza auch die entscheidenden Weichen für die Zukunft der Familie gestellt haben, indem sie ihre nach der Kaiserin Kunigunde benannte Tochter Kuniza mit dem oberitalienischen Markgrafen Azzo verband. Die Forschung datiert diese Heirat seit Harry Bresslau auf ea, 1035, der dafür folgende Überlegungen an- führte: Da Welf IV. 1055/56 bei der Übernahme des Welfenerbes handlungsfähig ge- wesen sei, wie die Historia We/forum bezeuge, müsse er damals ca. 20 Jahre alt gewe-

19 Historia Welforum (wie Anm.l) c.12 S.18. 20 Isidor von Sevilla:Differentiarum sive de proprietate sermonum libri duo. Ed. Jacques-Paul Migne. In: Patrologiae cursus completus, Series latina 83. 1862.11, 19,75, Sp, 81; Isidor von Sevil- la: Etymologiarum sive originum libri viginti. Ed. Wallace M. Lindsay. Bd. 2. 1911, XI, 2, 5; Ho- norius Augustodunensis: De imagine mundi libri tres. Ed. Migne. In: Patrologiae cursus cornple- tus, Series latina 172. 1895. 11, 75, Sp.156; vgl. Adolf Hofmeister: Puer, iuvenis, senex. In: Papsttum und Kaisertum. Forschungen zur politischen Geschichte und Geisteskultur des Mit- telalters. Paul Kehr zum 65. Geburtstag dargebracht. Hg. von Albert Brackmann. 1926. S.287- 316, S.289f., 293f. 21 Hofmeister. Puer (wie Anm.20) S.305 mit Anm.2, 316. 22 Vgl. Hansmartin Schwarzmaier: Die Welfen und der schwäbische Adel im 11.und 12.Jahr- hundert in ihren Beziehungen zum Vinschgau. In: Der Vinschgau und seine Nachbarräume. Hg. von Rainer Loose. 1993. S.83-98, S.86f.; Störmer. Welfen (wie Anm.14) S.256; Ders.: Herr- schaftspolitik (wie Anm.15) S.72f. 23 Hermann von Reichenau: Chronicon. Ed. Georg Heinrich Pertz (MGH SS V). 1844. a. 1036, S.122. 22 Matthias Becher sen sein; dies führe auf ea, 1035als sein Geburtsjahr. Ungefähr zu dieser Zeit seien drei weitere Heiratsverbindungen zwischen deutschen und italienischen Adelsgeschlech- tern geschlossen worden, so daß die welfisch-otbertinische Heirat hervorragend dazu passe/". Betrachtet man die anderen Ehen jedoch etwas näher, so tun sich Zweifel an Bresslaus Argumentation auf, denn sie betrafen sämtlich das unmittelbare Umfeld des Herrschers: Des Kaisers Stiefsohn Hermann von Schwaben heiratete Adelheid, die Erbin von Turin, deren Schwester Irmgard wurde mit Otto von Schweinfurt, wie Her- mann ein Babenberger, vermählt, und Beatrix, die Nichte und Adoptivtochter der Kaiserin Gisela, ehelichte Bonifaz von Tuszierr". Diese Ehen sicherten also den Ein- fluß des Kaisers in Italien. Daß Konrad 11.ausgerechnet die Welfen, die in der Person Welfs 11.zu seinen entschiedensten Gegnern gehört hatten, in diese Politik einbezogen haben soll, leuchtet nicht recht ein. Die Frage, warum Konrad seinen einstigen Fein- den eine Möglichkeit eröffnet haben soll, wieder an Macht und Einfluß zu gewinnen, bleibt bei Bresslau und anderen unbeantwortet. Auch Bresslaus erstes Argument, Welf IV. sei 1055/56 bereits rund 20 Jahre alt ge- wesen, weil er von der Historia We/forum als handlungsfähig gezeichnet wurde, kann nicht recht überzeugen. Schließlich wurde die Chronik erst mehr als 100 Jahre nach dem Ereignis aufgezeichnet, so daß ihre Aussagen als einzige Stütze nicht ausreichen. Andere Quellen, die wohl direkter auf die Erbauseinandersetzung zurückgehen, spre- chen jedenfalls Imiza als die entscheidende Handlungsträgerin an26• Sie war gar nicht auf einen männlichen Verwandten angewiesen, als sie das Testament ihres Sohnes an- focht. So hat der Autor der Historia Welforum in der Rückschau die Rolle Welfs IV. wohl etwas überzeichnet, als er ihn gegen die letztwillige Verfügung seines Onkels vorgehen ließ. Damit entfällt auch das zweite Argument Bresslaus für eine Heirat Ku- nizas und Azzos um 1035. Schließlich könnte man zugunsten dieser Datierung noch auf das Lebensalter Az- zos verweisen. Dieses wird mittelbar bezeugt von dem Chronisten Bernold, der an- gibt, der Markgraf sei 1097 im Alter von mehr als 100Jahren verstorben". Demnach wäre Azzo 1035bereits fast 40Jahre alt gewesen. Da - nach allem was wir wissen - Ku- niza seine erste Gemahlin wa~8, hätte er also erst in recht fortgeschrittenem Alter ge-

24 So etwa Harry Bresslau: Jahrbücher des Deutschen Reichs unter Konrad 11.,Bd.1. 1879. S.421f.; Fritz Curschmann: Zwei Ahnentafeln. Ahnentafeln Kaiser Friedrichs I.und Heinrichs des Löwen zu 64 Ahnen (Mitteilungen der Zentralstelle für Deutsche Personen- und Familienge- schichte 27).1921. S.32f.; Renn: Luxemburger Grafenhaus (wie Anm. 9) 5.138; Eckhard Müller- Mertens - Wolfgang Huschner: Reichsintegration im Spiegel der Herrschaftspraxis Kaiser Kon- rads 11.(Forschungen zur Mittelalterlichen Geschichte 35).1992.5.261 mit Anm.225; Herwig Wolfram: Konrad 11.Kaiser dreier Reiche. 2000. 5.145. 2S Vg!. Wolfram: Konrad 11.(wie Anm.24) 5.146. 26 Vgl. unten, nach Anm.82. 27 Bernold: Annales. Ed. Ian 5. Robinson. In: Die Chroniken Bertholds von Reichenau und Bernolds von St. Blasien (MGH 55 rer. Germ. N.S.14). 2003. a. 1097,5.531. 28 Margherita Giuliana Bertolini: Art .•Albert Azzo'. In: Dizionario Biografico degli Italiani, Erbe von Kaisers Gnaden 23 heiratet. Eine noch spätere Eheschließung wäre demnach äußerst unwahrscheinlich. Vor allem aber ist die Angabe Bernolds kein belastbares Fundament. Hofmeister miß- traute ihr, zumal Bernold selbst seine Angabe mit einem ut aiunt einschränkte/". Ein Blick auf Azzos Biographie zeigt, wie unwahrscheinlich auch sein weiterer Lebens- weg klingt, legt man Bernolds Angabe zugrunde; so wäre Azzo mit fast 60Jahren er- neut in den Stand der Ehe getreten und hätte schließlich mit nahezu 80 Jahren aber- mals das Ja-Wort gegeben. Diese letzte Ehe mit der Schwester Bischof Wilhelms von Pavia wurde von Gregor VII. Ende des Jahres 1074 wegen zu naher Verwandtschaft heftig attackierr'P, aber das hohe Alter Azzos spielte in den Ermahnungen des Papstes keine Rolle-". Daher sollte man einem sowohl zeitlich als auch räumlich fernstehen- den Chronisten, der seiner Angabe sogar selbst nicht recht getraut hat, keinen unein- geschränkten Glauben schenken'",

Bd. I. 1960.5.753-758,5.754; Theo Kötzer, Art. ,Albert Azzo'. In: Lexikon des Mittelalters, Bd.l, 1980. 5p.283f. 29 Vg!. Hofmeister. Puer (wie Anm.20) 5.293 Anm.t. 30 Regesta pontificum Romanorum. Ed. Philipp jaffe, 2. Aufl. ed. Wilhe1m Wattenbach u.a., Bd. I. 1885.Nr.4834, 5.604, Nr.4882, 5.607, Nrr. 4908f., 5.610; Italia Pontificia, Bearb. van Paul Fridolin Kehr, Bd.7, 1. 1923.Nrr. 3f., 5.204; Das Register Gregors VII. Ed. Erich Cespar. Bd.l (MGH Epp. se!. n, 1). 1920. I, 57, 5.84f.; n, 9. 5.139f.; n, 35f., 5.171£.; zu Azzos dritter Gemah- lin vg!. auch Gerhard Schwartz: Die Besetzung der Bistümer Reichsitaliens unter den sächsischen und salischen Kaisern mit den Listen der Bischöfe 951-1122. 1913. 5.144. 3! Nicht einmal beim Verbot des Beischlafs ohne Erlaubnis des Papstes, Register Gregors VII. (wie Anm.30) Il, 36,5.172. 32 Man könnte einwenden, jener Azzo passe doch bestens in die Genealogie der Otbertiner zu Beginn des 11.Jahrhunderts; freilich ruht die Rekonstruktion dieser Familie auf keinem sicheren Grund, da in den einschlägigen Urkunden immer wieder diverse Adalberts, Alberts und Azzos genannt werden, weshalb die Forschung diverse Familienzweige postuliert; vg!. Bresslau: Jahr- bücher, Bd.l (wie Anm.24) 5.417ff.; Fernando Gabotto: I marchesi Obertenghi fino alla pace di Luni (945-1124). In: Giornale storico della Lunigiana 9 (1918) 5.3-47, ND in: Biblioteca della 50- cietä storica subalpina 96 (1922) 5. 149-190; Cinzio Violante: A1cune caratteristiche delle srruttu- re familiari in Lombardia, Emilia e Toscana durante i secoli XI - XII. In: Ders.: Famiglia e paren- tela nell'Italia medievale. 1981.5.19-82, insbes. die Tafeln 5 und 6; Mario Nobili: Formarsi e defi- nirsi dei nomi di famiglia nelle stirpi marchionali dell'Italia centro-settentrionale: il caso degli Obertenghi. In: Nobiltä e chiese nel Medioevo e altri saggi. Scritti in onore di Gerd TeIlenbach. Hg. von Cinzio Violante (Pubblicazioni dei Dipartimento di Medievistica dell'Universitä di Pisa 3).1993.5.77-95. Diese Rekonstruktion erscheint bisweilen sehr gewagt und gewollt, zumal da- bei gerade Bernolds Altersangabe für Azzo immer wieder eine tragende Rolle spielt, so etwa Eduard Hlawitschka: Zur Otbertinergenealogie am Ausgang des 10. Jahrhunderts: Markgraf Adalbert und seine Frau Bertrada. In: Societä, istituzioni, spiritualitä, Studi in onore di Cinzio Violante (Collectanea, Centro italiano di studi sull'alto medioevo 1). 1994.5.459-475,5.464. Da wir wissen, daß nicht nur Azzo, sondern auch sein Vater diesen Namen trug, wäre eine Ver- wechslung wohl die einfachste Erklärung. Dazu würde auch passen, daß unser Azzo erst seit den 1040er Jahren in den oberitalienischen Quellen begegnet. Er könnte also durchaus 1020 oder kurz vorher geboren sein, so daß er in den Augen der Zeitgenossen immer noch ein biblisches Al- ter erreicht hätte, was wiederum Bernolds Angabe zwanglos erklären würde, vg!. auch schon Hofmeister. Puer (wie Anm.20) 5.293 Anm.t. 24 Matthias Becher

Es ergab sich bisher also kein zwingender Grund, die Heirat Azzos und Kunizas in die Mitte der 1030er Jahre zu datieren. Dagegen weist eine Angabe der Historie Welfo- rum in eine ganz andere Richtung. Folgt man dieser Quelle, so ist Welf IV. 1101 zum Kreuzzug aufgebrochen, als er endlich das Greisenalter, senectus, erreicht hatte33• Nach mittelalterlichen Vorstellungen begann die senectus mit 50 oder aber mit 70Jah- ren, jedenfalls lassen sich beide Angaben in den Werken Isidors von Sevilla finden, während Honorius Augustodunensis allein von 50Jahren schrieb'". Auch eine Hand- schrift des l1.Jahrhunderts aus Chiemsee verzeichnet diese Altersgrenze=, Dies wür- de bedeuten, daß Welf 1101,so er, wie es Kontext und Wortlaut der Historie We/forum nahelegen, kürzlich diese Altersgrenze überschritten hätte, zwischen 1040und 1050- eher später als früher - geboren wäre. Damit könnte auch die Eheschließung seiner El- tern entsprechend datiert werden, in die Zeit Heinrichs Ill. Diese Verbindung ließe sich bestens in die Politik des zweiten Saliers einfügen, der in vielem eine andere Politik betrieb als sein Vater Konrad 11. und nach dessen Ausein- andersetzungen mit Erzbischof Aribert von Mailand sehr an einem deutsch-italieni- schen Austausch interessiert wacl6• Zudem stand er den Welfen viel positiver gegen- über als sein Vorgänger. Seine Bereitschaft, Welf Ill. 1045 das reiche Erbe der Grafen von Ebersberg zu übergeben, und die Verleihung des Herzogtums Kärnten 1047 ge- ben davon jedenfalls ein sicheres Zeugnis'", Kärnten war seit 1039 nicht besetzt gewe- sen, hatte also dem Herrscher selbst direkt unterstanden'", Das Land selbst war kein Gewinn, da die landfremden Herzöge sich nur schwer gegen den einheimischen Adel durchsetzen konnterr'", aber entscheidend war die damit verbundene Rangerhöhung, mit der Welf in den ersten Kreis der Fürsten des Reiches aufstieg. Dazu kamen die mit Kärnten verbundenen Nebenländer, insbesondere die Markgrafschaft Verona, ein in- teressantes und gewinnbringendes Betätigungsfeld. In diese Zeit würde - um den Faden der genealogischen Überlegungen wieder auf- zunehmen - eine Heiratsverbindung mit einem oberitalienischen Adelsgeschlecht wie den Otbertinern hervorragend passen. Von ihnen läßt sich möglicherweise auch ein

33 Historia Welforum (wie Anm. 1)c. 13,S.20: Denique cum ad senilem aetatem peruenisset ..• J.4 Isidor von Sevilla: Diff. (wie Anm.20) 11,19, 75, Sp. 81; Ders.: Etym. (wie Anm.20) XI, 2, 6£.; Honorius Augustodunensis: De imagine (wie Anm.20) 11,75, Sp.156; vgl. Hofmeister: Puer (wie Anm.20) 5.289f., 294. 35 Hofmeister: Puer (wie Anm.20) 5.295f. Anm.2. 36 Vgl. Wolfgang Huschner. Bischöfe und Kleriker südalpiner Provenienz in Schwaben und im nordalpinen Reich während des It. Jahrhunderts. In: Schwaben und Italien im Hochmittelal- ter. Hg. von Helmut Maurer - Hansmartin Schwarzmaier - Thomas Zotz (Vorträge und For- schungen 52). 2001. S.109-149, 5.111£f., 114f. 37 Zum Ebersberger Erbfall vgl. unten, nach Anm.69. 38 Die Quellen geben keine Auskunft, ob Heinrich III. nach dem Tod Konrads des Jüngeren formal zum Herzog bestellt worden ist, vgl. Ernst Steindorff Jahrbücher des deutschen Reiches unter Heinrich Ill., Bd.1. 1874.S.59, 81; Die Kärntner Geschichtsquellen. 811-1202. Ed. August vonJaksch (Monumenta historica Ducatus Carinthiae 3).1904. Nr.255, S.108. 39 Dopsch: Welf III. (wie Anm. 7) S.109f. Erbe 'Von Kaisers Gnaden 25

Bogen zu Heinrich Ill. schlagen. Nach Wolfgang Huschner suchte der Kaiser eine Verklammerung von nord- und südalpinem Reich zu erreichen, indem er in Deutsch- land einige Bischöfe italienischer Herkunft einsetzte. Einer dieser italienischen Geist- lichen im Umkreis des Kaisers war Opizo- Huschner zufolge möglicherweise ein Ot- bertiner. Er amtierte seit 1046 als Hofkapellan und war bald ein enger Vertrauter des Kaisers. 1050 stieg er sogar zum italienischen Kanzler auf40• Der Gedanke liegt nahe, daß Heinrich Ill. auch andere Otbertiner enger an sich binden wollte, indem er eine Ehe zwischen einem weiteren Familienmitglied und den ihm seit spätestens 1045 ver- pflichteten Welfen anbahnte. Der Aufstieg Welfs Ill. zum Herzog von Kärnten und Markgrafen von Verona 1047 hing daher vermutlich eng mit der Ehe seiner Schwester Kuniza mit dem Otbertiner Azzo zusammen, der u.a. im nordöstlichen Italien reich begütert war. Die Heirat selbst dürfte daher kurz vor- oder nachher stattgefunden ha- ben. WelfIII. gehörte in den folgendenjahren zu den engeren Helfern des Kaisers. So er- hielt er 1051 während eines Ungarnfeldzuges zusammen mit Bischof Gebhard von Regensburg und Herzog Bfetislav I.von Böhmen den Auftrag, das Gebiet nördlich der Donau zu verheeren", Spätestens dieser Feldzug brachte Welf in Kontakt mit Gebhard, dem Onkel des Kaisers und allem Anschein nach einflußreichsten Ratgeber in den bayerisch-ungarischen AngelegenheiterrS. Der Ungarnkrieg, den der Kaiser wider alle Vernunft mit aller Macht militärisch für sich entscheiden wollte, ist nur ein Aspekt der Krise, in die Heinrich Ill. damals geraten warH• Nach der Rückkehr von einem neuerlichen Feldzug 1052 gegen den östlichen Nachbarn kam es zu einer discor- dia zwischen Gebhard und Herzog Konrad von Bayern wegen dessen gewalttätiger Amtsführung't". Aber auch ein grundsätzlicher Dissens über die Ungarnpolitik spielte

40 Vg!. Huscbner: Bischöfe (wie Anm.36) S.133ff. 41 Hermann: Chronicon (wie Anm.23) a. 1051,5.130. 42 Zu ihm vg!. Paul Kebr: Vier Kapitel aus der Geschichte Kaiser Heinrichs III. (Abhandlun- gen der preußischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse 3). 1931. 5.27; Stefan Weinfurter. Die Geschichte der Eichstätter Bischöfe des Anonymus Haserensis. Edition - Übersetzung - Kommentar (Eichstätter Studien 24). 1987. S.182f. (Kommentar Nr.I77); Egon Bosbof: Bischöfe und Bischofskirchen von Passau und Regensburg. In: Die Salier und das Reich, Bd. 2: Die Reichskirche in der Salierzeit. Hg. von Stefan Weinfurter. 1991.S.l13- 154,S.122ff. 43 Vg!. Egon Bosbof: Das Reich in der Krise. Überlegungen zum Regierungsausgang Hein- richs Ill. In: Historische Zeitschrift 228 (1979) S.265-287; Friedrich Prinz: Kaiser Heinrich III. Seine widersprüchliche Beurteilung und deren Gründe. In: Historische Zeitschrift 246 (1988) S.529-548; Johannes Laudage: Heinrich Ill. (1017-1056). Ein Lebensbild. In: Das salische Kai- ser-Evangeliar. Der Kommentar, Bd. 1.Hg. von Johannes Ratbofer. 1999.S.87-195, 5.115 H.; Ste- fan Weinfurter: Das Jahrhundert der Salier (1024-1125). 2004. S.106ff. 44 Hermann von Reichenau: Chronicon (wie Anm. 23) a. 1052,S.131;Annales Altahenses. Ed. Edmund eos Oefele (MGH SSrer. Germ. [4]).1891. a. 1053,5.48 (ohne Angabe eines Grundes); Steindorff Jahrbücher, Bd.2 (wie Anm.2). S.218f.; zu Konrad, einem Angehörigen der Familie der sogenannten Ezzonen, als Herzog von Bayern vg!.Wilhe1mStörmer. Bayern und der bayeri- sehe Herzog im 11.Jahrhundert. Fragen der Herzogsgewalt und der königlichen Interessenpoli- tik: In: Die Salier und das Reich, Bd.l (wie Anm.9). 5.503-547, S.531H. ~-I

26 Matthias Becher dabei vermutlich eine wichtige Rolle: Während Konrad auf einen Ausgleich mit dem Nachbarn im Osten bedacht war, kann Gebhard als Haupt der ungarnfeindlichen Par- I tei am Kaiserhof gelten45. Folgerichtig stellte sich der Kaiser gegen den bayerischen Herzog. Auf einem Hof- tag in Merseburg im April I 053 ließ er Konrad von einem Fürstengericht das Herzog- tum Bayern absprechen". Der Zeitgenosse Hermann von Reichenau schließt die fol- gende Bemerkung an seinen Bericht über dieses Geschehen an: ..Zu dieser Zeit murr- ten sowohl die Großen des Reichs als auch die Geringeren immer häufiger gegen den Kaiser und klagten, er falle schon längst von seiner anfänglichen Haltung der Gerech- tigkeit, des Friedens, der Milde und der Gottesfurcht .•. allmählich mehr und mehr ab zu Gewinnsucht und einer gewissen Sorglosigkeit und werde bald vie! schlechter sein als am Anfang."47 Damit macht der Chronist deutlich, daß gerade das Vorgehen des Kaisers gegen den Herzog von Bayern die Großen des Reiches irritierte. Mehr noch: Bei Hermann "erscheint Konrad als Exponent einer allgemeineren Unzufriedenheit mit dem Kaiser"48,während die Altaicher Annalen das rechtmäßige Vorgehen des Kai- sers beronen'", Folgerichtig erwähnt allein Hermann den berühmten Vorbehalt, den

45 Boshof: Krise (wie Anm.43) 5.281; Ders: Das Reich und Ungarn in der Zeit der Salier. In: Ostbairische Grenzmarken 28 (1986) 5.178-194, 5.185; Ders.: Das Herzogtum Bayern in der Sa- lierzeit, In: Ostbairische Grenzmarken 37 (1995) 5.9-23, 5.17; Störmer. Bayern (wie Anm.44) 5.532£.;weiterführende genealogische Überlegungen bei Helmuth Kluger: Propterclaritatem ge- neris. Genealogisches zur Familie der Ezzonen. In: Köln. Stadt und Bistum in Kirche und Reich des Mittelalters. FS für Odilo Engels zum 65. Geburtstag. Hg. von Hanna Vollrath - Stefan Weinfurter (Kölner Historische Abhandlungen 39). 1993. 5.223-258, S.248ff. 46 Hermann von Reichenau: Chronicon (wie Anm.23) a. 1053,5.132; Annales Altahenses (wie Anm.44) a. 1053,5.48; Steindorff: Jahrbücher, Bd.2 (wie Anm.2). S.223f.; zu diesem Für- stengericht vgl, Monika Suchan: Fürstliche Opposition gegen das Königtum im 11.und 12.Jahr- hundert als Gestalterin mittelalterlicher Staatlichkeit, In: Frühmittelalterliche Studien 37 (2003) S.141-165, S.149f.; nach Kurt Reindeli Bayern vom Zeitalter der Karolinger bis zum Ende der Welfenherrschaft. Teil I: Die Politische Entwicklung. In: Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd.1: Das alte Bayern. Das Stammesherzogtum bis zum Ausgang des 12.Jahrhunderts. Hg. von Max Spindler. 2., überarb. Aufl. 1981.S.318, war der. wahre Grund- für Konrads Absetzung der Wunsch Heinrichs 111.,das Herzogtum seinem Sohn übertragen zu können; dagegen vermutet Ursula Lewald: Die Ezzonen. Das Schicksal eines rheinischen Fürstengeschlechts. In: Rheini- sche Vierteljahrsblätter43 (1979) 5.120-168, S.14of., Konrad habe aus Enttäuschung darüber re- belliert, daß er nach der Geburt des ältesten Kaisersohnes Heinrich die Hoffnung auf eine mögli- che Nachfolge im Reich verloren habe, vg!.auch Kluger. Propter (wie Anm. 45) S.247f.;Jonathan Rotondo-McCord: Body Snatching and Episcopal Power: Archbishop Anno 11 of Cologne (105(,,-1075),Burials in St. Mary's ad gradus, and the Minority of Henry IV.In: Journal of Medie- val History 22 (1996) S.297-312, S.309 Anm.42; dagegen betont Störmer. Bayern (wie Anm. 44) S.531, Konrad habe in Absprache mit dem Kaiser Judith, die Tochter Herzog Ottos von Schwa- ben, geheiratet. 47 Hermann von Reichenau: Chronicon (wie Anm.23) a. 1053,5.132; vg!. etwa Boshof Krise (wie Anm.43) 5.266£.; Prinz, Heinrich Ill. (wie Anm.43) S.539f. 48 Ulrich Hoffmann: König, Adel und Reich im Urteil fränkischer und deutscher Historiker des 9. bis 11.Jahrhunderts. Diss. 1968. 5.98 Anm.5. 49 Annales Altahenses (wie Anm. 44) a. 1053,5.48; zur Quelle allgemein vgl, Wilhe1m Watten- Erbe von Kaisers Gnaden 27 die Fürsten im Herbst des gleichenjahres anläßlich der Wahl des Kaisersohnes Hein- rich IV. in Tribur machten: Sie wollten dem jungen König nur dienen, wenn er sich als gerechter Herrscher erweise5o• Erneut stellt der Reichenauer Mönch einen Zusam- menhang mit Herzog Konrad her, der in Tribur nicht erschienen sei, sondern mit den Ungarn Verbindung aufgenommen habe und in Kärnten eingefallen sei5t• Aber Her- mann stand mit seiner Einschätzung wohl nicht allein. Auch den in Tribur versammel- ten Fürsten dürfte die Auseinandersetzung des Kaisers mit Konrad bewußt gewesen sein, und es ist wahrscheinlich, daß sie dem Kaiser den genannten Vorbehalt bei der Königswahl abnötigten, weil sie sein Verhalten wenigstens teilweise mißbilligten. Das Vorgehen gegen Konrad hatte also die Herrschaft des Saliers ein Stück weit destabili- siert. Vor diesem Hintergrund war ein Ausgleich mit Andreas I.von Ungarn dringend ge- boten, bei dem Konrad Zuflucht gesucht hatte. In Tribur setzte sich vor allem Geb- hard von Regensburg für Friedensverhandlungen mit einer ungarischen Gesandt- 52 schaft ein • Die Verhandlungen verliefen erfolgreich, aber Konrad gelang es, König Andreas umzustimmen, mit dessen Hilfe er in Kärnten einfiel'". Diesen Fehlschlag hat Heinrich Ill. seinem Onkel verübelt, weshalb er vermutlich nicht diesen, sondern des- sen Neffen und Protege Bischof Gebhard von Eichstätt zum ,Vormund' für den Kö- nigssohn und damit zum faktischen Verwalter Bayerns bestimmte'", Wohl aus Enttäu- schung darüber schloß sich der Regensburger Oberhirte den Aufständischen um Konrad an, die nun wohl nicht nur einen Ausgleich mit Ungarn erreichen, sondern den Kaiser auch ermorden und Konrad an dessen Stelle setzen wollten55• Gebhard von Regensburg dürfte Welf Ill. zur Teilnahme an diesem Komplott ani- miert haben'". Heinz Dopsch hat einige Indizien dafür gesammelt, daß Welf auch schon vorher zumindest Sympathien für Konrad gehegt hatte: So agierte der abgesetz- te Bayernherzog 1053 vor allem in Kärnten, also in Welfs Herrschaftsgebiet, was auf ein (heimliches) Einverständnis zwischen den beiden schließen lasse'", Der Herzog von Kärnten galt den Weißenburger Annalen sogar als Haupt der Verschwörer58• Der bach - Robert H oltzmann: Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Die Zeit der Sachsen und Salier.TeiJ2: Das Zeitalter des Investiturstreits (1050-1125). Neuausgabe besorgt von Franz- Josef Schmale. 1967. S.S4sff. 50 Hermann von Reichenau: Chronicon (wie Anm.23) a. 1053,5.133. 51 Hermann von Reichenau: Chronicon (wie Anm.23) a. 1053,5.133. 52 Hermann von Reichenau: Chronicon (wie Anm.23) a. 1053,5.133; vg!. Steindorff: Jahrbü- cher, Bd.2 (wie Anm.2) S.228f. 53 Hermann von Reichenau: Chronicon (wie Anm.23) a. 1053, 5.133. 54 Anonymus Haserensis (wie Anm. 42) c. 35, S.63; Steindorff: Jahrbücher, Bd.2 (wie Anm.2) 5.232; zum Einfluß Gebhards von Regensburg auf die Ernennung Gebhards von Eichstätt An- onymus Haserensis. c. 34, S.6lf.; vg!. ebd. S.I77ff. (Kommentar Nr.17S). 55 Boshof: Krise (wie Anm.43) 5.283; Ders.: Die Salier. 4., aktualisierte Auflage 2000. 5.147. 56 Vgl, Dopscb: Welf Ill. (wie Anm.7) 5.125. 57 Dopsch: Welf Ill. (wie Anm.7) S. 120£. 58 Annales Weissenburgenses. Ed. Oswald Holder-Egget (MGH SS rer. Germ. [38]).1894. a. 1055.5.51. 28 Matthias Becher

Grund für Welfs Haltung ist nur schwer zu erschließen. Möglicherweise hat das Schicksal Konrads ihm bewußt gemacht, wie schnell ein Herzog seine Position verlie- ren konnte. Zudem hatten sie beide jeweils ein Herzogtum übernommen, das der Kai- ser zuvor selbst verwaltet hatte. Daher war Welf vielleicht darüber beunruhigt, daß Bayern 1053 zunächst an Heinrich, den älteren Sohn des Kaisers, im folgendenjahr an dessen jüngeren Sohn Konrad und nach dessen Tod im April lOSS an die Kaiserin Ag- nes fiel. Der Kaiser schien also entschlossen, Bayern erneut fest an die salische Dyna- stie zu binden. Dies mag Welf zu Befürchtungen Anlaß gegeben haben, der Kaiser könnte früher oder später auch Kärnten wieder an sich ziehen. Aus den welfischen Quellen erfahren wir nichts von alledem: Die Historia Welfo- rum betont zwar mit schönen Anekdoten die Unabhängigkeit des Herzogs vom Kai- ser, aber über seine Untreue schweigt sie sich konsequent aus59• So sind wir auf Quel- len angewiesen, die der Mitte des 11. Jahrhunderts näher, doch den Welfen etwas fer- ner stehen. Die Annalen des ungefähr auf halbem Wege zwischen Regensburg und Passau gelegenen Klosters Niederaltaich berichten zum Jahr 1055, während des Ita- lienzuges hätten einige Fürsten, die dem Kaiser scheinbar besonders nahe standen, nämlich sein Onkel Bischof Gebhard von Regensburg, Herzog Welf von Kärnten und einige andere, Verbindung mit, wie es heißt, ,Staatsfeinden' aufgenommen, um Hein- rich zu töten und den abgesetzten Herzog Konrad von Bayern zum König zu erhe- ben60• Sowohl Berthold von Reichenau in der ersten Fassung seiner Chronik als auch die noch nicht edierten St. Galler Annalen bestätigen die enge Verbindung zwischen Gebhard und Welf, lassen Konrad von Bayern aber unerwähnt. Die St. Galler Quelle wirft den beiden vor, sie hätten dringende Angelegenheiten vorgetäuscht, um die kai- serliche Genehmigung zur Heimkehr zu erlangen'", Berthold sucht dagegen nach ei- ner Entschuldigung für die beiden und schiebt die Verantwortung für den Aufruhr nachgeordneten Personen zu: Die milites Gebhards und Welfs hätten sich ohne Wis- sen ihrer Herren gegen den Kaiser verschworen'S, Beide Quellen erhellen außerdem die Chronologie: Erst nach der Gefangennahme der Markgräfin Beatrix von Tuszien Anfang Juni in Florenz hätten Gebhard und Welf vom Kaiser die Erlaubnis für eine Rückkehr in die Heimat erbeten. Demnach kann ein Zusammenhang ihrer Revolte mit der Auseinandersetzung des Kaisers mit Gottfried dem Bärtigen und dessen Ge- mahlin Beatrix von Tuszien nicht ganz ausgeschlossen werden63, Im übrigen spiegeln

59 Zu diesen Anekdoten vg!. Baaken: Welf IV. (wie Anm.6) S.213f.; Dapsch: Welf III. (wie Anm.7) S.12lf. 60 Annales Altahenses (wie Anm.44) a. 1055, S.51f.; vgl. Stefan Weinfurter. Ordnungskonfi- gurationen im Konflikt. Das Beispiel Kaiser Heinrichs Ill. In: Mediaevalia Augiensia. Forschun- gen zur Geschichte des Mittelalters. Hg. von Jürgen Peterson (Vorträge und Forschungen 54). 2001. S.79-100, S.96. 61 St. Galler Annalen. Staats- und Stadtbibliothek Augsburg Hs.2° Cod 254. fol.14'. a. 1055; vgl. Wolf Gehrt: Die Handschriften der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg 2° Cod 25l-400e (Handschriftenkataloge der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg 4).1989. S.2f. 62 Berthold: Chronicon (wie Anm.27) a. 1055, S.178. 63 Zu dieser vg!. Egon Boshaft Lothringen, Frankreich und das Reich in der Regierungszeit ~.~---_ ..__ ._--_._------~------~

Erbe von Kaisers Gnaden 29 Berthold und der St. Galler Autor die gegensätzlichen Sichtweisen des sogenannten Investiturstreits wider. Während für beide Autoren Konrad von Bayern uninteressant geworden war, suchten sie die Schuldfrage auf je eigene Weise zu beantworten: Wäh- rend der Annalist aus St. Gallen als kaiserlicher Parteigänger die zu seiner Zeit im gre- gorianischen Lager stehende Welfenfamilie als seit jeher aufsässig zeichnete, wollte Berthold als Anhänger des Papstes die Welfen entlasten. In diesem Sinne sind auch die weiteren Unterschiede beider Quellen interessant. Während der St. Galler Autor meldet, nach dem überraschenden Tod des Herzogs sei- en seine Pläne nicht verwirklicht worden, berichtet Berthold, Welf sei zumJammerfür die Seinen und das gesamte Volk vom Tode überrascht und in Altdorf begraben wor- den'", In der überarbeiteten Fassung fügt der Chronist hinzu, Welf habe sich vor sei- nem Ableben Gott geweiht und das Mönchsgelübde abgelegt. Weitere wichtige Infor- mationen ergänzen die Altaicher Annalen: Als der schwer kranke Herzog sein Ende habe kommen fühlen, sei er von Reue ergriffen worden, habe öffentlich seine Sünden eingestanden und den Kaiser inständig um Vergebung gebeten. Er habe ihm das Gut Utting am Ammersee übergeben lassen und die Namen seiner Mitverschworenen ge- nannt65• Persönlich hat Welf den Kaiser davon jedoch nicht in Kenntnis gesetzt, da der sich am 11. November 1055, also zwei Tage vor Welfs Ableben, noch in Verona auf- hielt und eine Urkunde für das dortige Kloster St. Zeno ausstellte'". Da Heinrich Ill. damals eine Schenkung Welfs Ill. bestätigte und ihn bei dieser Gelegenheit als glorio- sus dux bezeichnete, hatten ihn bis dahin wohl weder Nachrichten über die Beteili- gung des Herzogs am Aufstand noch dessen Boten erreicht'". Der Kaiser erhielt also ein doppeltes Vermächtnis: einmal Informationen über den Aufstand und dann das Gut Utting68• Mit letzterem wollte Welf wohl nicht nur die

Heinrichs III. In: Rheinische Vierteljahrsblätter 42 (1978) 5.63-127, S.106ff.j Ders.: Salier (wie Anm.55) S.143f.; Elke Goez: Beatrix von Tuszien. Eine Untersuchung zur Geschichte des 11. Jahrhunderts. 1995. S.140ff. 64 Berthold: Chronicon (wie Anm.27) a. 1055,5.177. 65 Annales Altahenses a.1055 (wie Anm.44) 5.52; zur Lage des Ortes an der alten römischen Brennerstraße Pankraz Fried - Sebastian Hiereth: Landgericht Landsberg und Pfleggericht Rau- henlechsberg / Pankraz Fried: Landgericht, Hochgericht und Landkreis Schongau (Historischer Atlas von Bayern, Teil Altbayern 22/23). 1971. S.13; laut Steindorff: Jahrbücher, Bd.2 (wie Anm. 2) 5.298 mit Anm.4; Baaken: Welf IV. (wie Anm. 6) 5.214 Anm. 65, hielt sich Heinrich Ill. bereits im Frühjahr 1055 vor seinem Italienzug in Utting auf, D H Ill. Nr.333 (12. März 1055). Ed. Harry Bresslau - Paul Kehr. In: MGH DD regum et imperatorum Germaniae V. 1926-31. S.455f., doch ist die Identifizierung dieses Vtingen umstritten; zudem passt der Ort nur schlecht in sein Itinerar, vg!.Ernst Müller: Das Itinerar Heinrichs III. 1039-1056 (Historische Studien 26). 1901. S.106; sowie die Vorrede zur Urkunde. 66 D H III. (wie Anm.65) Nr.357 (11. November 1055). 5.485£. 67 Kehr: Vier Kapitel (wie Anm.42) S.23; anders Baaken: Welf IV. (wie Anm.6) 5.214, die meint, die Gegnerschaft Heinrichs und Welfs könne nicht sehr tiefgreifend gewesen sein, und Dopsch: Welf Ill. (wie Anm. 7) 5.125, der eine Aussöhnung von Kaiser und Herzog bei der Ur- kundenausstellung voraussetzt; zum engen Verhältnis Welfs zu St. Zeno, ebd. S.116. 68 Laut Historia Welforum (wie Anm. 1) c. 7, 5.12, soll der letzte Graf von Ebersberg Utting und Sielenbach Welf 11.als dem Bruder seiner Gemahlin Richgard vermacht haben; möglicher- 30 Matthias Becher

Verzeihung des Saliers erreichen, sondern auch vorsorglich dessen Unterstützung für seinen letzten Willen. Er hat, so darf man vermuten, wohl nicht angenommen, sein Te- stament würde unangefochten bleiben. Immerhin waren ihm die Existenz eines Nef- fen und damit auch dessen Erbansprüche durchaus bekannt, zumal gerade er selbst sich einmal in einer vergleichbaren Position befunden hatte. 1045 waren mit Adalbero Il. die Grafen von Ebersberg ausgestorbent". Der Graf vertraute sein gesamtes Gut seiner Frau, der Welfin Richlint, an, die für sein Seelenheil die Grafschaft Persenbeug dem Kloster Ebersberg übergab. Die übrigen Ebersberger Lehenund Grafschaften sollte nach Richlints Willen ihr Neffe - Welf Ill. - erhalterr", obwohl es auf Seiten ih- res Mannes ähnlich nahe Verwandte gab, insbesondere dessen Großneffen Ulrich von Weimar-Orlamünde, später Markgraf von Krairr". Von Richlint nach Persenbeug ge- rufen, wollte Heinrich Ill. Welf bereits mit dem Abtsstab des anwesenden Altmann von Ebersberg investieren, als der Boden unter ihnen nachgab und alle Anwesenden in den darunterliegenden Baderaum fielen. Während Heinrich nur leichte Blessuren da- vontrug, erlagen Richlint, Altmann und auch Bischof Brun von Würzburg später ih- ren Verletzungen. Ob dieser Unfall verhinderte, daß Welf die ihm zugedachten Besit- zungen erhielt, ist unbekannt, aber wenigstens einige Güter aus dem Ebersberger Erbe

weise liegt hier eine Verwechslung mit Welf Ill. vor; dieser kurze Bericht weist weitere Unstim- migkeiten auf: Die Gräfin von Ebersberg hieß Richlint und nicht Richgard; ihr Mann hatte, an- ders als von der Historia Welforum behauptet, keines der drei Klöster Ebersberg, Kühbach und GeisenfeId gegründet; weiter stammte Utting nicht aus dem Erbe der Ebersberger, sondern dem der Kühbacher, vg!. Ludwig Holzjurtner: Die Grafschaft der Andechser. Comitatus und Graf- schaft in Bayern 1000-1180 (Historischer Atlas von Bayern, Teil Altbayern II/4).1994. S.109f., der angesichts dieser Ungereimtheiten die ansprechende Überlegung anstellt, es habe zwei nach Bayern verheiratete Welfinnen gegeben: Richlint, Gemahlin des Adalbero von Ebersberg, und Richgard, Ehefrau eines Kühbacher Grafen. 69 Vg!. Gottfried Mayr. Ebersberg - Gericht Schwaben (Historischer Atlas von Bayern, Teil Altbayern 48).1989. S.110; Günther Flohrschütz: Der Adel des Ebersberger Raumes im Hoch- mittelalter (Schriftenreihe zur Bayerischen Landesgeschichte 88). 1989. 5.45, 112f£.; Ludwig HolzJurtner. Ebersberg - Dießen - Scheyern. Zur Entwicklung der oberbayerischen Grafschaft in der Salierzeit. In: Die Salier und das Reich, Bd.l (wie Anm. 9) S.549-577, S.554;Dopsch: Welf Ill. (wie Anm.7) S.96ff. 70 Chronicon Eberspergense. Ed. Wilhelm Arndt (MGH SS XX). 1868. S.14; Annales Alta- henses (wie Anm. 44) a. 1045,S.39f., zu einem früheren Versuch, das Erbe den Welfen in der Per- son Konrads zu verschaffen, vg!. Matthias Becher. Der Name ,Welf' zwischen Akzeptanz und Apologie. Überlegungen zur frühen welfischen Hausüberlieferung. In: Bauer- Becher: Welf IV. (wie Anm.4) S.156-198, S.177 mit Anm. 78; Konrad war ein weitererSohn Welfs 11.und Imizas; nachzutragen ist, daß Konrad auch in einem Reichenauer Gedenkbucheintrag (Cod. Aug. pag. 158) unter den Nachkommen dieses Paares erscheint, vg!. Hansmartin Schwarzmaier. Reiche- nauer Gedenkbucheinträge aus der Anfangszeit der Regierung Konrads 11.In: ZWLG 22 (1963) S.19-28, S.27. 71 Zu ihm vg!. Ingrid Würth: Die Grafen von Weimar-Orlamünde als Markgrafen von Krain und Istrien. In: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 56 (2002) S.91-132, 5.117 Anm. 134; gemeinhin werden auch Ulrich Ambitionen auf das Erbe seines Großonkels unter- stellt, doch geht dies aus der Ebersberger Chronik nicht hervor. Erbe 'lion Kaisers Gnaden 31 finden wir später tatsächlich in seinem Besitz'". Vielleicht war es die Erinnerung an diesen unglücklichen Tag, die Welf dazu veranlaßte, seinen eigenen Neffen zu überge- hen und Kloster Altdorf nicht nur einen Teil, sondern angesichts seiner Sünden sein gesamtes Erbe zu vermachen. Wie im Falle des Grafen von Ebersberg war die letztwillige Verfügung des Herzogs von Kärnten eine Angelegenheit von reichsweiter Bedeutung, die dem Kaiser ange- sichts der jüngsten Entwicklungen nicht gleichgültig sein konnte. Die Initiative lag je- doch nicht bei ihm, sondern bei Imiza, die den Rechtsweg beschritt, um das Testament ihres Sohnes anzufechterr". Dabei lag es für sie nahe, sich an den Kaiser zu wenden, da ihr Sohn mit seiner Rebellion sich und seine ganze Familie in eine schwierige Lage ge- bracht hatte. Außerdem mußte sie rasch tätig werden, bevor das Testament vollstreckt war. Tatsächlichhätte sie bald nach dem Tod ihres Sohnes am 13. November 1055 Ge- legenheit gehabt, ihren Einspruch gegenüber dem Kaiser selbst zu formulieren. Hein- rich Ill. war im November von Italien aus nach Bayern aufgebrochen, erreichte am 14. Dezember VIm und feierte Weihnachten in Zürich" •. Möglicherweise berührte er auf diesem Weg sogar welfisches Gebiet. Vielleicht noch in Zürich verurteilte er Gebhard von Regensburg als Maiesrätsverbrecher", Der Kaiser war den Verschwörern gegen- über also keineswegs milde gestimmt. So dürfte er - von Imiza angerufen - das Testa- ment des anderen Aufrührers kassiert haben. Für unsere Annahme spricht, daß Heinrich Ill. sich damals auch mit anderen Pro- blemen beschäftigt hat, die eng mit Welf Ill. zusammenhingen. Einmal erstattete er Anfang 1056 dem Kloster Benediktbeuern Güter zurück, die der Herzog innegehabt hatte/", Weiter überließ er Arno Borst zufolge ungefähr zu dieser Zeit Bischof Ru-

72 Vgl. Flohrschütz: Adel (wie Anm.69) S.112ff., zu Welf 114. 73 Daran dachte schon der Autor der Historia Welforum, denn er benutzte mit dem Verb pro- clamare einen Ausdruck, mit dem in aller Regel die öffentliche Bekundung eines Rechts gemeint war, vg!. Jan Frederik Niermeyer: Mediae latinitatis lexicon minus. 1976 s.v.;so auch an anderer Stelle in der Historia Welforum (wie Anm. 1)c. 25, S.50; zu dieser Angelegenheit vgl. Karin Feld- mann: Herzog Welf VI. und sein Sohn. Das Ende des süddeutschen Welfenhauses. Mit Regesten. Diss. 1971. S.14f.; Egon Boshof: Staufer und Welfen in der Regierungszeit Konrads Ill.: Die er- sten Welfenprozesse und die Opposition Welfs VI. In: Archiv für Kulturgeschichte 70 (1988) S.313-341, S.331; Werner Hechberger: Staufer und Welfen 1125-1190. Zur Verwendung von Theorien in der Geschichtswissenschaft. 1996. S.210; Baaken: Welf VI. (wie Anm.6) S.15; Jan Paul Niederkam: Welf VI. und Konrad Ill. In: Ay - Maier - [ahn: Die Welfen (wie Anm.15) S.143f. 7. Steindorff: Jahrbücher, Bd.2 (wie Anm.2) S.324. 75 Er übergab Gebhard dem Grafen Kuno von Achalm, der ihn zunächst in Wülflingen im Thurgau und später auf der Burg Stoffeln im Hegau gefangenhielt, St. Galler Annalen (wie Anm.61) foI.14". a. 1056;Berthold: Chronicon (wie Anm.27) a. 1056, S.179;Steindorff: Jahrbü- cher, Bd.2 (wie Anm.2) S.323; der Kaiser nahm Gebhard, der schon vorher freigekommen war, im Juli 1056in Worms wieder in seine Huld auf, ebenso den Ezzonen Konrad, der nach dem Tod des Kaisers von dessen Witwe Agnes sogar das Herzogtum Kärnten erhielt und damit Welfs Nachfolge antrat. 76 D H Ill. (wie Anm.65) Nr.362a (januar 1056). S.492ff.; zu der komplizierten Überliefe- rungsgeschichte vgl. neben der Vorrede auch Franz Ludwig Baumann: Die Benediktbeurer Ur- 32 Matthias Becher mold von Konstanz den Wildbannbezirk Höri, zu dem auch der westliche Teil des al- ten Fiskus Bodman gehörte. Damit wollte der Kaiser vermutlich den Ambitionen Welfs Ill. (bzw, seiner Erben) in dieser Region einen Riegel vorschieben, die sich aus dem Aufenthalt Welfs in Bodman ableiten lasserr", Der Ort war eine alte Königspfalz, die in der Karolinger- und frühen Ottonenzeit zu den Zentren Schwabens gehört, aber Mitte des 11. Jahrhunderts an Bedeutung verloren hatte. Dennoch blieb Bodman ein symbolträchtiger Ort, und so könnte Welfs Aufenthalt dort durchaus im Zusammen- hang mit seiner Rebellion gestanden haben78• Möglicherweise wollte er gerade die alte Königspfalz und dazu den Wildbannbezirk Höri in Besitz nehmen, als sein Schicksal ihn ereilte. Da der Kaiser sich damals also gleich zweimal mit Hinterlassenschaften des verstor- benen Herzogs auseinandergesetzt hat, dürfte er sich auch mit dessen eigentlichem Er- be befaßt haben, denn der Einspruch Imizas gegen das Testament ihres Sohnes bot ihm die einmalige Chance, den welfischen Nachlaß in seinem Sinne zu ordnen. Dabei er- öffnete ihm die Herkunft Welfs IV. aus der otbertinischen Familie die Möglichkeit, seiner italienischen Politik Flankenschutz zu geben. In Zürich verlobte Heinrich Ill. seinen gleichnamigen Sohn und Erben mit Bertha von Turin und setzte damit die Poli- tik der Verklammerung von nord- und südalpinem Reich fort79• Das Bündnis mit dem Haus Turin stärkte seine Position in der Auseinandersetzung mit Gottfried dem Bärti- gen und Beatrix von Tuszienf". Weitere Verbündete in Oberitalien waren dem Kaiser in dieser Situation sicherlich willkommen. Der welfische Erbstreit eröffnete ihm die Möglichkeit, den mächtigen Markgrafen Azzo enger an sich zu binden, indem er des- sen Sohn die welfischen Besitzungen zusprach. Sollte Azzo über'seinen Schwager Welf Ill. sogar in den jüngsten Aufstand involviert gewesen gewesen sein'", so gab die-

kunden bis 1270. In: Sitzungsberichte der bayerischen Akademie der Wissenschaften, Phil-hist. Klasse. 1912/2. S.52ff.; Ludwig Steinbergen Benediktbeuerer Studien. In: Historisches Jahrbuch 38 (1917) S.237-283, S.272ff.; Josef Hemmerle: Die Benediktinerabtei Benediktbeuern (Germa- nia Sacra NF 28: Die Bistümer der Kirchenprovinz Mainz. Das Bistum Augsburg 1). 1991.5.187. n Arno Borst: Die Pfalz Bodman. in: Bodman. Dorf - Kaiserpfalz - Adel. Hg. von Herbert Berner. Bd.1. 1977. S.169-230, S.217f.; Heinrichs Maßnahme ist zu erschließen aus D F I. Nr.12S (27. Novemer 1155). Ed. HeinrichAppelt. In: MGH DD regum et imperatorum Germa- niae XII. 1975.5.212-216; vgl. auch Helmut G. Walther: Der Fiskus Bodman. In: Bodman. S.231-275; Karl Schmid: .Eberhardus comes de Potamo", Erwägungen über das Zueinander von Pfalzort, Kirche und Adelsherrschaft. Ebd. S.317-344; Helmut Maurer: Bodman. In: Die deut- schen Königspfalzen, Bd. 3: Baden- Württemberg, 1. Lieferung 1988. S.18-45. 78 Bezeichnenderweise nennt allein die Historia Welforum (wie Anm.l) c. 12, S.18, Bodman als Welfs Sterbeort; normalerweise nennt die Chronik nur die Begräbnisstätte; nur im Falle von Welfs Onkel Heinrich, der dem hI. Otmar den schuldigen Zins nicht mehr entrichten wollte, nennt sie mit Lana ebenfalls den Sterbeort (c. 7, S.12);für die welfische memoria waren also beide Orte sehr wichtig, wie Borst: Pfalz Bodman (wie Anm.77) 5.217, konstatiert: "Den Kundigen genügte das Stichwort Bodman, um an einen alten Fluch zu erinnern." 79 Zuletzt dazu Thomas Zotz: Turegum nobilissimum Sueuiae oppidum. Zürich als salischer Pfalzort auf karolingischer Basis. In: Frühmittelalterliche Studien 36 (2002) S.337-354, S.349. 80 Vg!. Steindorff:Jahrbücher, Bd.2 (wie Anm.2) S.324f. 8! ImJuni hatte Azzo auf den HofNaseto zugunsten des Klosters 5. Prospero in Reggio ver- Erbe von Kaisers Gnaden 33 se Konstellation dem Kaiser ironischerweise die Möglichkeit, mit Hilfe der Hinterlas- senschaft des einen Oppositionellen einen anderen auf seine Seite zu ziehen. Die von uns angenommene Entscheidung Heinrichs Ill. entsprach aber durchaus auch der Rechtslage, wie sie im Weingartener Nekrolog von ca. 1200 und im Weingar- tener Traditionscodex aus dem 13. Jahrhundert festgehalten ist. In der zweiten Quelle werden etwa auch die Beauftragten genannt, denen Welf Ill. die Durchführung seines Testaments anvertraute: Es handelte sich um Reinhard und Dietrich von Irsee, nach Hansmartin Schwarzmaier zwei hochadlige Gefolgsleute der Welfen82• Die Quelle enthält also unabhängige Informationen. Weiter heißt es, Welfs Mutter, der nach dem ius gentium das gesamte Erbe zugestanden habe, habe die Verfügung angefochten, weil sie ohne ihre Zustimmung zustande gekommen sei83• Mit dem ius gentium war nicht etwa das Völkerrecht gemeint, sondern das für alle Menschen geltende Recht. Es handelte sich also um einen allgemeinen Grundsatz, wobei die Verwendung des Wor- tes in unseren Quellen vermutlich auf die Rezeption des römischen Rechts zurück- geht, aber im 11. Jahrhundert bereits "überraschend breite Verwendung" fand, ob- wohl von ihm "in der theologischen Literatur und auch in den geläufigen Rhetorikbü- ehern kaum die Rede war. "84 Selbst in einschlägigen Zusammenhängen kommt der Begriff schon vor. So berichtet Lampert von Hersfeld, der flandrische Grafensohn Ro- zichten müssen, D H HI. (wie Anm.65) Nr.348 (IS. Juni 1055). 5.475f., was nach Baaken: Welf IV. (wie Anm.6) 5.209f., im Zusammenhang mit den Irritationen zwischen Heinrich Ill. und Welf Ill. stehen könnte. 82 Hansmartin Sehwarzmaier: Königtum, Adel und Klöster zwischen oberer Iller und Lech (Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft bei der Kommission für bayeri- sehe Landesgeschichte 1/7). 1961. 5.78ff. 83 Necrologium Weingartense (wie Anm.2) 5.230: Welfo dux Carinthie, hie sepultus, qui in extremis positus omne patrimonium suum duobus ex suis delegatum ecclesie Altorfensi donari de- creoit, sed mater superstes, hane tradition em iure gentium irritam faciens, pro anima filii hec pre- dia dedit: Lancrein, Luotirbrunnon, Gulinwillar, Fridehardeswillar, Azelunwilar, Heiligunbuo- ke, Chrotebach, Etbinisbouen; ausführlicher: Codex maior traditionum Weingartensium. Ed. Christoph Friedrich von Stälin. In: Wmembergisches Urkundenbuch (= WUB), Bd.4. 1883 (ND als Württembergisches Urkundenbuch. 1974). Anhang, S.Vif.: Post hec filius eorum [Welf 11.und Irmentrud] dux Carinthiorum Welf universum predium suum fidelitati duorum fratrum militum suorum, Reginhardi scilicet de Vrsinun [Irsee] et Tieterici, delegavit iuramento eos obli- gans, ut post mortem ipsius conmissum sibi predium Altorjensi ecclesie sollempni donatione firma- rent. Sed mater ftlio superstes, ad quam tota hereditas iure gentium pertinuit huiusmodi traditio- nem quippe se adhue oioente neque in hac consentiente irritam fore conuicit; vgl. auch noch De translatione sanguinis Christi. Ed. Georg Waitz. In: MGH SS XV/I. 1887 (ND 1963). S.923; Summula de Guelfis (14.Jh.). Ed. Gerhard Hess. In: Monumentorum Guelficorum pars historica seu scriptores rerum Guelficarum. 1784. S.123f. (mit falschen Einzelheiten). 84 Harald Dickerhof: Wandlungen im Rechtsdenken der Salierzeit am Beispiel der lex natura- lis und des ius gentium. In: Die Salier und das Reich, Bd. 3: Gesellschaftlicher und ideengeschicht- licher Wandel im Reich der Salier. Hg. von Stefan Weinfurter. 1991. S.447-476, S.450; vg!. auch Tilman Struue: Die Salier und das römische Recht. Ansätze zur Entwicklung einer säkularen Herrschaftstheorie in der Zeit des Irrvestiturstreits (Abhandlungen der Mainzer Akademie der Wissenschaften und Literatur, Geistes- u. sozialwiss. Klasse 1999/5). 1999. bes. S.19, zur Ver- wendung des Begriffs ius gentium im Zusammenhang mit Majestätsverbrechen. 34 Matthias Becher bert der Friese habe sich auf das ius gentium berufen, als er seinen älteren Bruder Bal- duin aufforderte, das väterliche Erbe mit ihm zu teilen'", In der Steingadener Fortset- zung der Historie Welforum ist im Zusammenhang der Einsetzung Friedrich Barba- rossas zum Erben Welfs VI. immerhin von der lex gentium die Rede'". Auch der Sache nach gibt esviele Parallelen zum erbrechtliehen Vorrang der Mutter wie im welfischen Fall, besonders aus dem Sachsen des 10.Jahrhunderts. So stellte die adlige Dame Eddila im Jahr 960 Otto dem Großen vier curtes für die Ausstattung des Klosters Hilwartshausen (Stadt Dussel, Kreis Northeim) zur Verfügung, die sie aus der Erbschaft ihrer verstorbenen Söhne erhalten hatte87• Zwischen 1015 und 1020ver- machte Graf Dodiko von Warburg seinen gesamten Besitz mit allen Rechten, insbe- sondere Grafschaftsrechten in mehreren Gauen, und acht Mühlen der Kirche von Pa- derborn. Dem stimmte Dodikos Mutter Hildegunde als heres primitiva zu, als erste oder ursprüngliche Erbin. Erst nach ihr wird ihr zweiter Sohn, Graf Sigebodo, ohne Hinweis auf sein Erbrecht aufgeführt88• Die Mutter ging im Erbrecht also sogar dem Bruder vor. Sigebodo machte übrigens ungefähr zur gleichen Zeit seinerseits der Pa- 89 derborner Kirche eine Schenkung, und wiederum stimmte Hildegunde als Erbin ZU • Der welfische Fall von 1055/56 steht also keinesfalls allein. Da Welf Ill. die Zustim- mung Imizas nicht eingeholt hatte, waren deren Ansprüche auf das Welfenerbe durch- aus rechtens, und die Entscheidung zu ihren Gunsten entsprach der Rechtslage. Nach diesem rechtlichen Erfolg vollendeten Imiza und Welf IV.wenig später ihren Herrschaftsantritt. Wohl noch 1056 vertauschten sie die Konvente von Altdorf und Altomünster: Die Altdorfer Nonnen wurden nach Altomünsterverlegt, die Benedik- tiner zogen von dort nach Altdorf um90• Dieser Wechsel verhinderte wohl auch, daß allzu viele Einzelheiten über das Geschehen der Nachwelt überliefert wurden - anders als etwa im Fall des Ebersberger Erbes, über den die im Kloster Ebersberg entstandene

85 Lampert von Hersfeld: Annales. Ed. Oswald Holder-Egger (MGH 55 rer. Germ. [38]). 1894. a. 1071,5.123; vg!. Tilman Struve: Lampert von Hersfeld. Persönlichkeit und Weltbild ei- nes Geschichtsschreibers am Beginn des Investiturstreites. Teil B. In: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 20 (1970) 5.32-142, 5.50; Dickerhof: Wandlungen (wie Anm. 84) 5.452. B6 Historia Welforum (wie Anm.l) cont. 5taingad., S.70: Imperator ergo Fridericus ... in auro et argento toto nisu satisfaciens avunculo traditam sibi hereditatem lege gentium possedit et quae- dam in signum possessionis sibi retinuit, reliquis vero ipsum Gwelfonem inbeneficiavit, quaedam etiam de suis superaddidit. 87 DOl. Nr.206 (12. Februar 960). Ed. Theodor Sickei. In: MGH DD regum et imperatorum Germaniae I. 1879-1884. S.284f. 88 Vita Meinwerci episcopi Patherbrunnensis. Ed, Franz Tenckhoff (MGH 5Srer. Germ. [59]). 1921. c. 59, S.45; hierzu und zum folgenden vg!. Franz Irsigler: Divites und pauperes in der Vita Meinwerci. Untersuchungen zur sozialen und wirtschaftlichen Differenzierung Westfalens im Hochmittelalter. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 57 (1970) 5.449- 499, S.476ff.; Hermann Bannasch: Das Bistum Paderborn unter den Bischöfen Rethar und Mein- werk (983-1036) (Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte 12). 1972. 5.260ff. 89 Vita Meinwerci (wie Anm. 88) c. 49, S.41f. 90 Sönke Lorenz: Weingarten und die Welfen. In: Bauer- Becher: Welf IV.(wie Anm.4) S.30- 55. Erbe 'lion Kaisers Gnaden 35

Chronik berichtete, erinnerte man in Altdorf bzw. Weingarten lieber nicht an das Ge- schehen von lOSS/56. Aber die Welfen selbst empfanden diesen Sieg wohl als proble- matisch, war doch gegen den erklärten Willen eines sterbenden Fürsten verstoßen und zudem der hI. Martin um reiche Besitztümer gebracht worden. Dieses Unbehagen las- sen die verschiedenen Texte der welfischen Hausüberlieferung erkennen, insbesonde- re diejenigen, die älter sind als die Historia Welforum. Denn sie stellen den Übergang auf Welf IV. völlig anders dar als diese. Die um 1125 auf Veranlassung Heinrich des Schwarzen entstandene Genealogia Welforum verschweigt Welf Ill. völlig und läßt Welf IV. direkt auf seinen Großvater Welf 11. folgen, nach dessen Tod er herbeigeeilt sei, um die Erbschaft zu übernehmen 91. Ganz ähnlich ging der Autor der sogenannten sächsischen Welfenquelle mit der Vergangenheit um, der sein Werk zwischen 1132 und 1137 vermutlich im Kloster St. Michael in Lüneburg verfaßte. Auch er übergeht Welf Ill. und thematisiert damit auch den Erbgang nicht, sondern beschränkt sich dar- auf, Welf IV, als Sohn der Welfin Kuniza und des Markgrafen Azzo anzusprechen'<. Das Wissen um die Vorgänge von 1055/56 war also trotz des Schweigens dieser beiden Quellen noch nicht erlorschen, als der Autor der Historia Welforum sein Werk verfaß- te. Wir haben also ein Lehrbeispiel für die teils bewußte, teils unbewußte Verformung der Überlieferung durch die Verfasser historischer Quellen vor uns. Die Autoren, die den Welfen und persönlich den problematischen Ereignissen zeitlich noch recht nahe standen, übergingen diese der Einfachheit halber. Erst in einem größeren zeitlichen Abstand war es allem Anschein nach wieder möglich, unangenehme Begebenheiten zu thematisieren. Allerdings war zu diesem Zeitpunkt die Kenntnis der näheren U mstän- de bereits verloren gegangen, die wir lediglich mit Hilfe zeitnaher Quellen rekonstru- ieren können. Hier zeigte sich, daß Welf Ill. von einem treuen Gefolgsmann Hein- richs Ill. zu dessen Gegner geworden war. Zudem dürfte der Kaiser auch ein gewichti- ges Wort bei der Entscheidung mitgesprochen haben, Imiza und Welf IV. das welfi- sche Erbe zuzuweisen. Davon wollten die Welfen möglicherweise seit ihrem antikai- serlichen Engagement im Investiturstreit nichts mehr wissen, und so zeichnete die Hi- storia Welforum über 100 Jahre später das völlig entgegengesetzte Bild einer adelsstol- zen und königsfernen Familie. Burchard von Ursberg faßte dies in dem schönen Dik- tum zusammen, das berühmte und edle Geschlecht der Welfen habe stets auf Seiten der römischen Kirche gestanden und den Kaisern oft Widerstand geleistet'", Doch es war ein Kaiser gewesen, der ihnen lOSS/56 das Fortbestehen gesichert hatte.

91 Genealogia Welforum. Ed. König (wie Anm.1) c. 8, 5.78. 92 Die Quelle ist zu erschließen aus dem Annalista Saxo. Ed. Georg Waitz. In: MGH SSVI. 1844. a. 1126, hier S.764, und dem Anhang IV der Sächsischen Weltchronik. Ed. Ludwig Wei- land. In: MGH Deutsche Chroniken 11. 1877. Hier 5.83, wiederabgedruckt bei König (wie Anm.l) 5.84. 93 Burchard von Ursberg: Chronicon (wie Anm.17) 5.8. Der gespaltene Stammbaum: Die Welfen im 12. Jahrhundert

Von THOMASZOTZ

Auch wenn die" Welfen"! Gegenstand dieses Beitrags und der Arbeitsgruppe insge- samt sind, welche Bernd Schneidmüller für die Jahrestagung der Kommission für ge- schichtliche Landeskunde in Baden- Württemberg 2005 in Weingarten organisiert hat, so sei doch gestattet, mit den "Staufern"2 zu beginnen, um zum angesprochenen The- ma des gespaltenen Stammbaums hinzuführen. Im Jahre 1139 regelte König Konrad Ill. die Vogteiverhältnisse im Kloster Lorch, das sein Vater, Herzog Friedrich I.von Schwaben, um 1100 gegründet hatte3: Auf Wunsch der Brüder bestimmte der König, wie er in dem bei seinem Aufenthalt im Kloster gegebenen Diplom formulieren läßt\ seinen Verwandten (cognatus) Herzog Friedrich - es handelt sich dabei immerhin um seinen Bruder! - zum Inhaber der Vogtei, die dieser bereits früher ausgeübt, aber zwi- schenzeitlich aufgegeben hatte und die dann vom Kloster an Friedrichs (und Konrads) Schwager Hermann von Stahleck übertragen worden warS; nach Friedrichs Tod, so setzte König Konrad 1139 fest, soll die Vogtei erhalten, wer als maior natu ex eadem parentela durch die Wahl des Abtes und der Brüder dazu bestimmt worden ist: als der jeweils Älteste in einer Generation derselben Familie. Welche Familie ist hier gemeint? Nur die Nachkommen des nun als Vogt amtierenden Herzogs Friedrich oder auch die König Konrads? Im "Stiftungsbrief" Herzog Friedrichs I. von Schwaben von 1102,

! Vg!. neuerdings im großen Überblick Bernd Schneidmüller. Die Welfen. Herrschaft und Er- innerung (819-1252). 2000. 2 Hierzu Odilo Engels: Die Staufer. 82005; Grafen, Herzöge, Könige. Der Aufstieg der frühen Staufer und das Reich (1079-1152). Hg. von Hubertus Seibert und Jürgen Dendorfer (Mittelal- ter-Forschungen 18).2005; Knut Görich: Die Staufer. Herrscherund Reich. 2006. Zur Problema- tik der Namen Staufer und Welfen grundsätzlich Werner Hechberger. Staufer und Welfen 1125- 1190. Zur Verwendung von Theorien in der Geschichtswissenschaft (Passauer historische For- schungen 10). 1996. J Vg!. jetzt 900 Jahre Kloster Lorch. Eine staufisehe Gründung vom Aufbruch zur Reform. Hg. von Felix Heinzer, Robert Kretzschmar und Peter Rückert. 2004 . .. MGH D KollI 38. Zum Aufenthalt vg!. Helmut Maurer. Lorch. In: Die deutschen Königs- pfalzen Bd. 3.1: Baden- Württemberg 1.Bearb. von Helmut Maurer. 2004. S.369-388, hier S.379f. S Vg!. Hans- Martin Maurer. Zu den Anfängen Lorchs als staufisches Hauskloster. In: 900 Jah- re Kloster Lorch (wie Anm. 3) S.1-28, insbes, S.8ff. Der gespaltene Stammbaum: Die Welfen im 12. Jahrhundert 37 den Hans-Martin Maurer jüngst noch einmal gründlich untersucht hat', ist davon die Rede, daß Vogt sein soll, wer immer von seiner cognacio, seiner Familie, der Ältere isr', Damit war gewiß mehr als eine Generation gemeint, doch bleibt offen, wie das in einer künftigen Verzweigung der Familie funktionieren so1l8, Während in der Urkunde Konrads Ill. für Lorch 1139 undeutlich bleibt, welche Reichweite die Wendung ex eadem parentela mit Blick auf die Staufer hatte, formu- liert die nächste Urkunde, in der es um die Vogtei des Klosters geht, wesentlich genau- er: Aus dem Mai 1154 ist ein Diplom Friedrichs I.Barbarossa für Lorch erhalten, das dieser im nahen Göppingen ausgestellt hat", Es gilt der Forschung als Empfängeraus- fertigung, und so spiegelt sich in ihr gewiß die klösterliche Sicht auf die Vogteifrage, die es zwei Jahre nach der Thronbesteigung Friedrich Barbarossas offensichtlich neu 1o zu regeln galt • Damals gehörte neben dem König auch dessen Vetter Friedrich, Sohn Konrads 111.,zu den Nachkommen Herzog Friedrichs I.von Schwaben; beide verkör- perten die dritte Generation nach der Brüdergeneration Herzog Friedrichs 11. und König Konrads 111.". Was wird nun in der Urkunde von 1154 geregelt? Folgt man dem Kopfregest der MGH-Edition, so bestätigte hier der König dem Kloster "die ihm von Konrad Ill. verliehenen Vergünstigungen, besonders das Recht der Wahl des Vogtes aus dem stau- fischen Hause". Doch bei genauerem Hinsehen bietet der Text eine etwas andere Aus- sage: Friedrich (oder das durch Friedrich sprechende Kloster) setzt-durchaus mit Be- zug auf Konrad Ill. und sein Diplom von 1139 - fest, daß Abt und Konvent des von seinen parentes fundierten Klosters die Freiheit haben sollen, eligendi quemquam maiorem natu inter descendentes de genere regis Cunradi et Friderici duos clarissimi, "einen ältesten unter den Nachkommen aus dem Geschlecht König Konrads bzw. aus dem Geschlecht des hochberühmten Herzog Friedrich zu wählen." Die Rede ist also von zwei genera, zwei Geschlechtern, die ihre eigenen Deszendenten haben, unter de- nen es pro Generation jeweils einen Ältesten gibt; zwischen ihnen soll das Kloster die Wahlfreiheit haben. Wenn bis dahin, wie zu vermuten steht, Friedrich Barbarossa als Sohn und herzoglicher Nachfolger Friedrichs 11. die Loreher Vogtei innegehabt hat, so scheint er, König geworden, im Zusammenhang mit der Überlassung des Herzog-

6 Maurer (wie Anm.5). 7 WUB I Nr.264, S.334f. 8 Maurer (wie Anm. 5) S.8 nimmt an, daß damit .der Anwärter auf das Herzogsamt und auf den Besitz des " gemeint war. 9 MGH DFI 77. 10 Maurer (wie Anm.5) S.10; Hansmartin Schwarzmaier. Die Göppinger Urkunde König Friedrichs I.vom Mai 1154und die staufische Hausordnung. In: Stadt, Kirche, Adel. Göppingen von der Stauferzeit bis ins späte Mittelalter. Hg. von WaIter Ziegler. 2006. S.9-36. 11 Zu der Konstellation der beiden Vettern vg!. Thomas Zotz: Friedrich Barbarossa und Her- zog Friedrich (IV.)von Schwaben. Staufisches Königtum und schwäbisches Herzogtum um die Mitte des 12.Jahrhunderts. In: Mediaevalia Augiensia. Forschungen zur Geschichte des Mittelal- ters. Vorgelegt von Mitgliedern des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte. Hg. vonJürgen Petersohn (Vorträge und Forschungen 54). 2001. S.285-306. 38 Thomas Zotz turns Schwaben und der Burg Hohenstaufen an seinen Vetter auch die Rechte an Lorch zur Disposition gestellt zu haben'j. Dem Kloster wurde die Freiheit zugestan- den, sich den Vogt aus einer der beiden Linien zu wählen; die Wahl fiel auf Herzog 13 Friedrich (IV.) von Schwaben, der im Jahre 1165 in dieser Funktion begegnet • In den Loreher Vogteibestimmungen liegt - und deshalb war die staufische Kon- kurrenz anfangs ins welfische Spiel zu bringen - eine ganz besondere und besonders aufschlußreiche Überlieferung vor, da hier sozusagen über drei Generationen fami- lienbezogen formuliert wurde und zwar am konkreten Anhaltspunkt der Klostervog- tei. Im Laufe der Zeit oder anders ausgedrückt im Laufe der Verzweigung in die Söh- negeneration und von hier aus in die durch die Söhne geschaffenen genera änderte sich der Blick auf die Vogtei und ihre Regelungspraxis. Im Diplom Friedrich Barbarossas von 1154ist dann noch ein Satz angefügt, der nun unmittelbar zu dem Thema des wel- fischen Stammbaums hinüberleitet: Falls der aus dem Kreis der descendentes beider genera gewählte maior natu durch Entfremdung der Kirchengüter von der stirps pa- rentalis abgeirrt sein sollte (aberraverit), dann soll in gemeinsamer Abstimmung der fratres ein anderer geeigneter Vogt gewählt werden. Die stirps parentalis, der Stamm- baum, wird hier als Figur aufgerufen, ganz offensichtlich als der die beiden genera um- fassende Rahmen. Was hier textlich gefaßt ist, begegnet im Welfenstammbaum der l4 Weingartner Handschrift D 11 der Hessischen Landesbibliothek Fulda im Bild : die Darstellung der Generationenfolge einer parentela und deren Spaltung in zwei genera, das genus Heinrichs des Stolzen und das genus Welfs VI. Eine solche Abfolge oder Entwicklung eines adligen Stammbaums, sein durch bio- logischen Zufalllange Zeit einheitliches Wachstum und seine Spaltung ab einem be- stimmten Zeitpunkt, sind nun gewiß keine Seltenheit, vielleicht sogar eher der Nor- malfall adliger Familiengeschichte und nicht nur dieser. Hierfür ließen sich allein für das 11. und 12.Jahrhundert eine Reihe anderer prominenter Beispiele anführen, etwa das der Salier von Worms, die sich letztlich in die beiden Vettern Konrad verzweigten, die 1024 bei der Königswahlversammlung von Kamba gegeneinander antraten", oder das der Zähringer und Markgrafen von Baden, die sich aus der stirps Herzog Bertholds I.von Kärnten verzweigt haben'", Im folgenden geht es darum, wann und unter welchen Umständen der gespaltene Stammbaum der Welfen aus der Gemeinsamkeit des Stammes, wie sie im Bild assozi- iert wird, zu einer deutlichen Trennung geführt hat. Dies soll an der Historia Welfo-

12 Maurer(wieAnm.5)5.10f. 13 WUB 1I Nr.386, 5.151£. mit Datumskorrektur auf 1165 ebd. VII 5,477. 14 Vg!. dazu grundlegend Otto Gerhard Oexle: Welfische und staufisehe Hausüberlieferung in der Handschrift Fulda D 11 aus Weingarten. In: Von der Klosterbibliothek zur Landesbiblio- thek. Beiträge zum 200jährigen Bestehen der Hessischen Landesbibliothek Fulda. Hg. von Artur Brall (Bibliothek des Buchwesens 6). 1978. 5.203-231. IS Dazu 5tefan Weinfurter. Das Jahrhundert der Salier (1024-1125). 2004. S.13f£. 16 Vg!. Ulrich Parlow: Die Zähringer. Kommentierte Quellendokumentation zu einem süd- westdeutschen Herzogsgeschlecht des hohen Mittelalters (VKfgL A 50). 1999; Karl Schmid: Vom Werdegang des badischen Markgrafengeschlechtes. In: ZGO 139 (1991) 5.45-77. Der gespaltene Stammbaum: Die Welfen im 12.Jahrhundert 39 rum vel rectius Chronica Altorfensium!" untersucht werden, die, wie Werner Hech- berger neuerdings noch einmal klar herausgearbeitet hatt8, wohl gleichfalls mit einer bildliehen Umsetzung der generationes principum nostrorum, wie die ersten Worte der HistorialChronica lauten, abgeschlossen worden ist, einer bildlichen Umsetzung, die im Weingartner Codex als Veranschaulichung der im dortigen Nekrolog aufge- führten und memorierten Personen erhalten ist. Auch dieses Nekrolog gilt es unter dem Aspekt des gespaltenen Stammbaums genauer zu betrachten. Beginnen wir mit der Historia Welforum: Auch wenn sich die Forschung nicht ganz einig darüber ist, wo die Historia aufgezeichnet worden ist, ob am süddeutschen Wel- fenhof in oder im Umkreis Heinrichs des Löwen19, so besteht doch kein Dissens in der Frage des Zeitpunkts, nämlich um 1170, also bald nach dem Tod Welfs VII.; mit diesem Ereignis verband sich bekanntlich die Frage, wie es mit dem patrimo- nium Altorfensium weitergehen würde, und diese Situation dürfte Anlaß und Motiv für den Blick auf die Geschichte der principes nostri gewesen sein2o• Wie werden nun in dieser Aufzeichnung die, wenn man angesichts der Arkadenarchitektur so formulie- ren darf, Insassen des gespaltenen Stammbaumes angesprochen und in ihren Hand- lungen präsentiert? Im Kapitel Iö ist davon die Rede, daß Heinrich der Stolze, Herzog von Bayern und (wohl bereits seit 1126) Herzog von Sachsen'", die Hochzeit mit der Königstochter Gertrud aus Sachsen auf dem Gunzenle bei Augsburg gefeiert und sei- ner Gemahlin für einige Monate die Ravensburg zugewiesen habe22• Das Hochzeits- fest fand in der Oktav von Pfingsten am 29. Mai 1127 statt. Von diesem Ereignis im Kernbereich der welfischen Herrschaft an der Grenze von Schwaben und Bayern be- richtet allein die Historia Welforum23; die übrige, vornehmlich aus Sachsen stammen- de Überlieferung erwähnt lediglich die Übergabe von Gertrud an Heinrich durch Kö-

17 Historia Welforum. Neu hg., übersetzt und erläutert von Erich König (Schwäbische Chro- niken der Stauferzeit 1).1938. Ndr.1978. Hierzu und zur Bezeichnung Chronica Altorfensium in der handschriftlichen Überlieferung Ono Gerhard Oexle in: Heinrich der Löwe und seine Zeit. Herrschaft und Repräsentation der Welfen 1125-1235. Katalogband. Hg. vonjochen Luck- hardt und Franz Niehoff. 1995. S.67ff. 18 Werner Hechberger. Graphische Darstellungen des Welfenstammbaums. Zum .welfischen Selbstverständnis" im 12.Jahrhundert. In: Archiv für Kulturgeschichte 79 (1997) S.269-299. 19 Vg!. zuletzt Matthias Becher. Der Verfasser der ,Historia Welforum' zwischen Heinrich dem Löwen und den süddeutschen Ministerialen des welfischen Hauses. In: Heinrich der Löwe. Herrschaft und Repräsentation. Hg. vonJohannes Fried und Otto Gerhard Oexle (Vorträge und Forschungen 57). 2003. S.347-380; Thomas Zotz: Herrschaftswechsel und Identität des Hofes im 12. und frühen 13.Jahrhundert.In: Fürstenhöfe und ihre Außenwelt. Aspekte gesellschaftli- cher und kultureller Identität im deutschen Spätmittelalter. Hg. von Thomas Zotz (Identitäten und Alteritäten 16). 2004. S.1-20, hier S.8f£. 20 Vg!. Thomas Zotz: Heinrich der Löwe und Schwaben. Nähe und Distanz in persönlicher und räumlicher Hinsicht.In: Heinrich der Löwe (wie Anm.19) S.311-345, hier S.336ff. 21 Dazu Regesta Imperii IV, I, 1:Lothar III. 1125(1075)-1137. Neu bearb. v.Wolfgang Petke, 1994. Nr.115. 22 Historia Welforum cap.16 (wie Anm.17) S.28ff. 23 Vgl, Schneidmüller (wie Anm.l) S.164. 40 Thomas Zotz nig Lothar auf dem Merseburger Pfingsthoftag". Süddeutsche Perspektiven in der Historia! In deren 23. Kapitel kommen dann ausführlich - unter Rekurs auf die Chronik Ot- tos von Freising - Heinrichs des Stolzen kriegerische Heldentaten in Italien zur Spra- che, als er Kaiser Lothar Ill. imJahre 1136dorthin begleitete. Bei Otto von Freising ist zu lesen: Porro Heinricus Noricorum dux, gener regis,per Tusciam exercitum ducens summo pontifici usque ad imperatorem conductum prebuif5. In der Historia ist der Anfang des Satzes verändert: Porro Heinricus noster per Tusciam exercitum duxit, quam et ab imperatore in beneficio obtinuit, Romamque oeniens summo pontifici In- nocentio usque ad imperatorem conductum praebuif6• Die Edition von König hat zwar das noster als Eigendiktat der Historia Welforum gekennzeichnet, aber nicht die sonstige Umgestaltung des Textes aus Ottos Chronik, abgesehen von dem Relativsatz, berücksichtigt; solche Genauigkeit bleibt einer künftigen Neuedition vorbehalten. Heinricus noster: Das klingt vertraut und erinnert an das Ende der sog. Genealogia Welforum von ea. 1126, wo es von Heinrich dem Schwarzen heißt, er habe mit Wulf- hild, der Tochter des Herzogs Magnus von Sachsen, Heinrich und Gwelfonem no- strum, also Heinrich den Stolzen und Welf VI., gezeugr", Aber auch Friedrich Barba- rossa wird so angesprochen, als er zum ersten Mal in der Historia Welforum Erwäh- nung findet: Judith, eine der vier Töchter Heinrichs des Schwarzen, habe den Herzog Friedrich von Schwaben geheiratet und Fridericum imperatorem nostrum geborerr". Wegen des Kaisertitels mag dem noster hier nicht so viel Gewicht zukommen, aber in Kapitel2S, wo von dem Schwabenherzog Friedrich Ill., dem nachmaligen König und Kaiser, als Vermittler zwischen König Konrad Ill. und WeIf VI. imJahre 1150 die Re- de ist, wird Friedrich in seiner Ecksteinrolle alsfratuelis regis ebenso wie als sororius eiusdem Gwelfonis definierr'", Heinrichs des Stolzen Sohn Heinrich der Löwe begegnet an zwei Stellen in der Hi- storia Welforum, einmal im Zusammenhang mit der Tübinger Fehde (cap. 31) und ih- 30 rem Abschluß in VIm 1166: in praesentia ducis Heinrici, domini nostri • Es ist diese

24 Regesta Imperii IV, 1,1 (wie Anm.21) Nr.139. 25 Ono von Freising, Chronic a sive Historia de duabus civitatibus VII/19. Hg. v. Adolf Hof- meister (MGH SS rer. germ. in usum schol. [45]).1912. S.337. 26 Historia Welforum cap.23 (wie Anm.17) S.44. 27 Genealogia Welforum cap.IO. In: Historia Welforum (wie Anm.17) S.80. 2B Historia Welforum cap. IS (wie Anm.17) S.26. Im selben Kapitel ist von Wulfhild, der Tochter des Herzogs Magnus von Sachsen und Ehefrau Herzog Heinrichs des Schwarzen, als Wulfhild nostra die Rede. Vgl. zu diesen Stellen auch schon Helene Wieruszowski: Neues zu den sog. Weingartener Quellen der Welfengeschichte. In: Neues Archiv 49 (1932) S.56-85, hier S.79; Becher (wie Anm.19) S.352, 370. 29 Historia Welforum cap.28 (wie Anm.17) S.56. 30 Historia Welforum cap. 31 (wie Anm.17) S.66. Es ist in der Forschung strittig, ob die Anga- be dominus noster als Erläuterung zu dem zuvor genannten Herzog Heinrich dem Löwen zu ver- stehen ist oder eine andere Person, in diesem Fall dann Welf VI., meint. Für die zweite Möglich- keit spricht sich Gerd Altho!!: Konfliktverhalten und Rechtsbewußtsein. Die Welfen im 12.Jahr- hundert. In: Frühmittelalterliche Studien 26 (1992) S.331-352, hier S.34l£. Wieder in: Ders., Der gespaltene Stammbaum: Die Welfen im 12.Jahrhundert 41

Stelle, die berechtigt, davon auszugehen, daß Heinrich der Löwe zur Zeit der Nieder- schrift der Historia, also um 1170,als der (künftige) Herr despatrimonium Altorfensi- um galt, insofern man den Ravensburger Hof als Entstehungsort der Historia ansieht. Die andere Stelle3! hat der Verfasser aus der Chronik Ottos von Freising geschöpft32: Nach dem Tod Heinrichs des Stolzen hätten sich die Sachsen aus Liebe zu seinem klei- nen Sohn, den er ihnen noch zu Lebzeiten anvertraut hatte, von neuem gegen den Kö- nig (Konrad III.) erhoben. Es versteht sich von selbst, daß Welf VI., der seinen Bruder Heinrich um 52 Jahre überlebt hat, ungleich häufiger in der Historia vorkommt; selbst mit Blick auf deren Niederschrift um 1170 hat Welf VI. ea, 30Jahre mehr Geschichte geschrieben als sein bereits 1139 verstorbener älterer Bruder+'. Es fällt weiter auf - und Werner Hechber- ger hat vor Jahren mit Nachdruck darauf hingewiesen''" -, daß in Sachen Herzogtum Bayern und welfischer Anspruch hierauf der Verfasser der Historia ganz auf Seiten Welfs VI. steht und von dessen erblichem Anspruch auf Bayern berichtet3S, während er die von Otto von Freising in den Gesta Friderici erwähnte Reklamation Heinrichs des Löwen auf Bayern iure hereditario verschweigr'", Wenn man nach Anhaltspunkten sucht, wann die Spaltung des welfischen Stamm- baums auch eine konfliktträchtige Distanzierung zwischen beiden Linien bedeutete, dann scheint es die causa Bayern nach dem Tod Heinrichs des Stolzen gewesen zu sein, die zwischen Welf VI. und Heinrich dem Löwen, zwischen Vaterbruder und Neffen, Unfriede stiftete. Zwar war dies auf Jahre ein Anspruchsstreit, bis 1155 auf dem Re- gensburger Hoftag Heinrich der Löwe schließlich possessiosua und die sedespatrum suorum erhielt, wie Otto von Freising formuliere". Das persönliche Verhältnis zwi- schen Heinrich und seinem Onkel väterlicherseits blieb seither gespannt und unter- kühlt, wohingegen sich Welf VI. und sein Schwestersohn Friedrich Barbarossa durch- aus nahestanderr'f; dies spiegelt sich schon früh im gemeinsamen Lager der beiden auf dem Zweiten Kreuzzug'", Gleichwohl hat, um zur Historia Welforum zurückzulen- ken, um 1170 Heinrich der Löwe als Erbe des patrimonium Altorfensium und aus

Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde. 1997.S.57-84, hier S.70, aus. Anders Becher (wie Anm. 19) S.368, 372; Zotz (wie Anm.20) S.335. 31 Historia Welforum cap.25 (wie Anm.17) S.50. 32 Otto von Freising, Chronica VIl/25 (wie Anm.25) S.349. 33 Zu Welf VI. vg!. Karin Feldmann: Herzog Welf VI. und sein Sohn. Das Ende des süddeut- schen Welfenhauses (mit Regesten). Diss. phi!. masch. Tübingen 1971; WelfVI. Hg. von Rainer JehI (Irseer Schriften 3). 1995. 34 Hechberger (wie Anm.18) S.281ff. 3S Historia Welforum cap.25 (wie Anm.17) S.50. 36 Otto von Freising und Rahewin, Gesta Friderici I. imperatoris 1/45. Hg. von Georg Waitz (MGH SS rer. germ. in usum schol, [46]). 31912.S.63f. 37 Ebd. IU43. S.151. 38 Vg!. hierzu Hechberger (wie Anm.2) S.288ff. 39 Regesta Imperii IV,2: Die Regesten des Kaiserreiches unter Friedrich 1.1152 (1122)-1190, 1. Ug. 1152 (1122)-1158. Neu bearb. von Ferdinand Opll. 1980. Nr.34. 42 Thomas Zotz

Sicht des süddeutschen Welfenhofes als dominus noster gegolten; ein weiteres Wachs- tum der stirps parentalis stand deshalb zu erwarten. Ein anderes Stadium der Spaltung des Stammbaums und deren Wahrnehmung durch die Zeitgenossen vermittelt das Weingartner Nekrolog'P, nach den Forschun- gen von Otto Gerhard Oexle nach Beginn der 80erJahre und vor 1191,dem Todesjahr Welfs VI., zu datieren", Diesem Nekrolog ist die bildliehe Darstellung des Welfen-

V r stammbaums angeschlossen (fol.13 ), während das in der Handschrift auf fol.14 fol- gende Bild des inmitten seiner Söhne König Heinrich und Herzog Friedrich thronen- den Kaisers Friedrich Barbarossa der Historia Welforum vorangestellt ist. Mit dieser zeitlichen Einordnung des Nekrologs und der mit ihm verbundenen Vi- sualisierung der welfischen stirps parentalis befinden wir uns bereits in einem neuen Stadium despatrimonium Altorfensium, nämlich seinem Übergang in die Hand Fried- rich Barbarossas und seines Sohnes Herzog Friedrich V. (VI.) von Schwaben"2. Was vermittelt nun das damals angelegte Nekrolog des welfischen Hausklosters Weingar- ten"J für einen Eindruck? Ein deutlicher Akzent liegt auf den Einträgen der in Wein- garten beigesetzten, insgesamt 13 Angehörigen der Familie der Altorfenses bis hin zu Heinrich dem Schwarzen, der am 13. Dezember 1126verstorben ist: Heinricus dux et m. n. c., qui dedit predium ad Einode. pater Welfonis, hic sepultus44• Heinrich der Schwarze war der letzte aus der Familie, der hier sein Begräbnis erhielt. Er wird hier als Vater Welfs, Welfs schlechthin, was Welf VI. für die Weingartner Mönche jener Zeit eben war, angesprochen, nicht übrigens auch als Vater Heinrichs des Stolzen. Wie ist das Nekrolog nun mit Heinrich dem Stolzen (t 1139) und mit Welf VII. (t 1167) umgegangen, von denen der erste in der Klosterkirche von Königslutter an der Seite seiner Schwiegereltern Kaiser Lothars Ill. und Richenzas, der zweite in der Klosterkirche von beigesetzt worden ist? Zu Heinrich dem Stolzen lesen wir beim 20. Oktober: Heinricus dux de Saxonia, qui dedit dimidium mansum ad Be- zelinisruoti (Wetzisreute bei Ravensburg) et omnem decimam in Spiezberg (Spiesberg bei Wangen) colligendam'", Heinrich der Stolze wird als Herzog von/aus Sachsen be- zeichnet; die anlegende Hand kennt übrigens durchaus die korrekte Form, wie pro- vinziale duces heißen: dux Sweworum, dux Carinthie. Es erscheint nun interessant, daß im 13.Jahrhundert eine Hand hinzugefügt hat: W. sepultus, in Weingarten beige- setzt. In gleicher Weise hat eine Hand des 13.Jahrhunderts zum Eintrag von Herzog Welf V. (Welf Pinguis dux) an seinem Todestag, 24. September, obwohl bereits klar als hie sepultus gekennzeichnet, noch beigefügt: W. se46• Somit wird völlig klar, was der

"0 Necrologium Weingartense. Hg. von Franz Ludwig Baumann. In: MGH Necrologia Ger- maniac 1. 1888. S.221-232. 41 Oexle (wie Anm.14) S.207£f. 42 Dazu Zotz (wie Anm.20) 5.336ff. 43 Übersichtlich Thomas Zotz: Weingarten. In. Lexikon des Mittelalters 8.1997. 5p.2132f. 44 Necrologium (wie Anm.40) S.230. 45 Ebd. S.229. 46 Ebd. S.228. Der gespaltene Stammbaum: Die Welfen im 12.Jahrhundert 43

Zusatz zum Eintrag von Heinrich dem Stolzen meint: Auch dieser Welfe, dessen das Kloster an seinem Todestag gedachte, galt im 13.Jahrhundert demnach als in Weingar- ten zur letzten Ruhe gebettet, nicht anders als die zahlreichen Angehörigen der stirps parentalis vor ihm. Anders verhält es sich bei Welf VII., der am 12. September 1167 ums Leben gekommen ist. Zu diesem Tag findet sich die Notiz: Wolf dux iunior; qui dedit 3 mansus in Sindilfingin47• Hier ist später niemand von einer Sepultur in Wein- garten ausgegangen. Diesem Weingartner Nekrolog ist der berühmte Stammbaum angefügt worden. Er endet in seinem obersten, gespaltenen Teil einerseits mit dem gerade erwähnten Welf VII., andererseits mit Heinrich dem Löwen, der übrigens im Nekrolog zum 6. August als Heinricus dux Saxonie et Bawarie, pater Ouonis imperatoris eingetragen worden ist48• Über Heinrich den Löwen als den einen Strang der stirps sah man in Weingarten zu jener Zeit keine Fortsetzung mehr in Bezug auf das patrimonium Altorfensiam ebensowenig wie auf der anderen, von Welf VI. und Welf VII. repräsentierten Linie, die kinderlos dem Aussterben preisgegeben war. Dies galt bekanntlich nicht für Hein- rich den Löwen, und folglich ist das Ende dieses Stranges anders, nicht im biologi- schen Sinne zu verstehen. Dennoch ist die Gleichartigkeit der Darstellung nicht zu übersehen: Beide, Welf VII. wie Heinrich der Löwe, werden ohne Ehefrau dargestellt, als ob hier wie dort die Ehelosigkeit eine Fortsetzung des Stammes verhindern würde. Eine de facto unterschiedliche Situation bei den beiden Linien des Stammes wird in der bildliehen Darstellung vereinheitlicht im Sinne eines Aus-, eines Absterbenst", Beiseite gedrückt wird der Stamm aber durch das auffällig große Medaillon am obe- ren Bildrand in der Mitte, mit Fridericus imperator beschriftet und mit einer nur ange- deuteten bildliehen Wiedergabe Friedrich Barbarossas, des Erben des patrimonium Altorfensium, verwandtschaftlich begründet über seine Mutter Judith, die eine Toch- ter Heinrichs des Schwarzen war. Sie gebar, als Gattin Herzog Friedrichs n. von Schwaben5o, "unseren Kaiser Friedrich", wie die Historia Welforum formuliert51• Ist Friedrich damit quasi zum Welfen geworden? Bei aller Ecksteinposition, die Friedrich nach den Worten Ottos von Freising52 zwischen den beiden Wänden (parietes) einge- nommen hat, haben die damit umschriebenenfamiliae, die Heinrici de Gueibelinga und die Guelfi de Aldorfio, doch einen je eigenen Identitätskern besessen. Er ist greif- bar in einem Kloster wie Lorch mit der darüber ausgeübten Vogtei, deren innerfami- liäre Regelung die Konstellation der stirps parentalis auf den Begriff bringt, wie an der

47 Ebd.S.228. 48 Ebd.S.227. 49 Vg!. zu dieser Bildquelle auch Otto Gerhard Oexle: Welfische Memoria. Zugleich ein Bei- trag über adlige Hausüberlieferung und die Kriterien ihrer Erforschung. In: Die Welfen und ihr Braunschweiger Hof im hohen Mittelalter. Hg. von Bernd Schneidmüller (Wolfenbütteler Mit- telalter-Studien 7). 1995. S.61-94. 50 Zu ihm vg!. Hansmartin Schwarzmaier. Pater imperatoris. Herzog Friedrich Il. von Schwa- ben, der gescheiterte König. In: Mediaevalia Augiensia (wie Anm.1I) 5.247-284. SI Historia Welforum cap. IS (wie Anm.17) 5.26. 52 Otto von Freising und Rahewin, Gesta Friderici 1. imperatoris 11/2 (wie Anm.36) 5.103. 44 Thomas Zotz

Abb.l: Stammbaum der Welfen aus dem Kloster Weingarten (zwischen 1185 und 1191). Hs. D 11, f. 13v. der Hochschul- und Landesbibliothek Fulda. Der gespaltene Stammbaum: Die Welfen im 12. Jahrhundert 45

Serie der Loreher Vogteiurkunden zu sehen ist. Dieser Identitätskern kommt aber auch in einem "Adelsentwurf- wie der bildliehen Darstellung des Stammbaums und seiner Insassen als Träger des patrimonium Altorfensium zum Ausdruck. Es sind be- stimmte Orte, an denen Familie und Familienbewußtsein festgemacht, konkretisiert wurden, und das gilt auch für die häufig und auch hier zitierte Stelle aus den Gesta Fri- derici, an der die beiden in Frage stehenden Familien von Waiblingen bzw. von Alt- dorf her definiert werden53• Gleichwohl handelt es sich hier um eine besondere Formulierung, die vom üblichen Typ des vom Stammsitz her gebildeten Familiennamen, z.B. ZaringilZähringer, ab- weichr'", Denn die Rede ist von den Heinrichen von Waiblingen, den Welfen von Alt- dorf: Leitname und Stammsitzname erscheinen kombinierrv. Hintergrund dieser Junktur war vielleicht, daß Otto von Freising mit der Bezeichnung .Heinriche von Waiblingen' das Herrschergeschlecht der Salier assoziiert sehen wollte; denn diesem entstammten bekanntlich die vom Chronisten so nicht auf den Begriff gebrachten Staufer, für welche das hier auf die Salier gemünzte Merkmal, große Könige hervorzu- bringen, aus der Perspektive des mittleren 12. Jahrhunderts gleichermaßen zutraf. Die Namenselemente Welfen und Altdorf, die bei Otto von Freising miteinander verbunden sind, stehen in späteren Familienbelegen für sich allein: einerseits Altorfen- ses, andererseits Welfones. Mit Blick auf die Spaltung des Stammbaums ließe sich nun fragen, wie die Namensformen nachgewirkt haben. In Schwaben waren beide ge- bräuchlich: Die Weingartner Fortsetzung der Chronik Hugos von St. Viktor spricht vom Ende der nobilitas Altorfensium bzw. Welforum56, und die Chronik Burkhards von Ursberg enthält den Abschnitt De generatione Welforum57• Am Stauferhof schob Gottfried von Viterbo in seinen Gesta Friderici eine Passage De nobilitate et moribus Guelforum ein, um dabei den ex hac stirpe stammenden Heinrich den Löwen und sein Scheitern aufs Korn zu nehmen58• Doch in Sachsen und im Umfeld Heinrichs des Lö- wen und seiner Nachkommen ist von Welfones nichts zu hören; wohl aber einmal von Altdorf: In der Chronik von St. Michael in Lüneberg von ca. 1230 heißt es über Otto

53 Vg!. auch Karl Schmid: ,De regia stirpe Waiblingensium'. Bemerkungen zum Selbstver- ständnis der Staufer. In: ZGO 124 (1976) S. 63-73. Wieder in: Ders : Gebetsgedenken und adliges Selbstverständnis im Mittelalter. Ausgewählte Beiträge. 1983. S.454-464. 54 Dazu Karl Schmid: Welfisches Selbstverständnis. In: Adel und Kirche. Festschrift für Gerd TeIlenbach. Hg. von Josef Fleckenstein und Karl Schmid. 1968. S. 389-416. Wieder in: Ders.: Ge- betsgedenken und adliges Selbstverständnis im Mittelalter (wie Anm.53) S.424-453; Thomas Zotz: Dux de Zaringen - dux Zaringiae. Zum zeitgenössischen Verständnis eines neuen Herzog- tums im 12. Jahrhundert. In: ZGO 139 (1991) S.1-44, hier S.ll. 55 Zu ihrvg!. auch Hechberger(wie Anm.2) S.140f. S6 E eontinuatione Chronici Hugonis a sancto Victore. Hg. von Ludwig Weiland. In: MGH SS 21.1869. S.477: In quo (seil. WelfVI.) nobüitasAltorfensium non mediocritercompleta desiit. [00'] Diffusa late Welfonum nobilitate,lNomine postremus obit et oirtute supremus. S7 Die Chronik des Burchard von Ursberg. Hg. von Oswald Holder-Egger und Bernhard von Simson (MGH SS rer. germ. in usum schol. [16]). 21916. S.8ff. S8 Gottfried von Viterbo, Gesta Friderici. Hg. von Georg Waitz. In: MGH SS 22. 1872. S. 332f. 46 Thomas Zotz das Kind, er sei der einzige Überlebende der nobilissima generatio, die nach Altdorf und Ravensburg benannt sei59• Bernd Schneidmüller formulierte in seinem Welfen- Buch: ..Die ,Welfen' schlechthin gab es im Hochmittelalter nicht. Das adlige Haus ent- stand immer wieder neu aus seinen konkreten und divergierenden politischen Bedin- gungen und Ansprüchen'vP. Wann, so ließe sich die Frage anschließen, haben sich die Nachkommen Ottos des Kindes aus der nobilissima generatio que de Althorp et Ra- oensburg nominatur, als Welfen verstanden, sind sie als Welfen wahrgenommen wor- den? Zunächst wurden Braunschweig und Sachsen die örtlichen und räumlichen Be- zugspunkte des 1235 für Otto das Kind geschaffenen neuen Herzogtums'", und es dauerte lange, bis sich die Herzöge von Braunschweig ihrer welfischen Ursprünge be- sannen und das von ihnen aus tagespolitischem Interesse bei Gottfried Wilhelm Leib- niz in Auftrag gegebene Erinnerungswerk schließlich um die Mitte des 18.Jahrhun- derts als Origines Guelficae durch Christian Ludwig Scheidt vollendet wurde62• Der gespaltene Stammbaum: Der bildliehe Adelsentwurf in der welfischen Ge- schichte des 12.Jahrhunderts mit Rückgriff auf die damals memorierten Anfänge in karolingischer Zeit bot Anlaß, danach zu fragen, wie in der schriftlichen Überliefe- rung des Hauses63 und des Hausklosters Weingarten, also in der bei Hofe entstande- nen Historia Welforum und im klösterlichen Nekrolog, dem die Bildquelle unmittel- bar zugeordnet wurde, die Trennung der Linien wahrgenommen und verarbeitet wor- den ist. Dabei war darauf zu achten, daß die beiden schriftlichen Zeugnisse aus unter- schiedlicher Zeit stammten, das eine, die Historia, vor der Entmachtung Heinrichs des Löwen 1179/8064, verbunden mit dem Verlust des patrimonium Altorfensium, das an die Staufer fiel, das andere, das Nekrolog, aus der Zeit unmittelbar danach: Das mit dem Tod Welfs VI. absehbare Ende der nobilitas Altorfensium erhielt bildlich seine Entsprechung im gleichfalls abgeschnittenen Ast der anderen Linie Heinrichs des Stolzen, wenngleich diese in der Nachkommenschaft Heinrichs des Löwen weiter blühen sollte. Nur blühte sie nicht mehr in Süddeutschland, und dies war für die Per- spektive des einstigen Hausklosters Weingarten maßgeblich.

S9 Chronicon sancti Michaelis Luneburgensis. Hg. von Ludwig Weiland. In: MGH SS 23. 1874. S.397. 60 Schneidmüller (wie Anm.l) S.39. 61 Vgl. Bernd Schneidmüller. Billunger - Welfen - Askanier. Eine genealogische Bildtafel aus dem Braunschweiger Blasius-Stift und das hochadlige Familienbewußtsein um 1300. In: Archiv für Kulturgeschichte 69 (1987) S.30-61; Die Welfen und ihr Braunschweiger Hof (wie Anm. 49). 62 Vgl. Schneidmüller (wie Anm.l) S.288ff. 63 Zur Forschungsdiskussion um die Frage der Hausüberlieferung Gerd Althoff Anlässe zur schriftlichen Fixierung adeligen Selbstverständnisses. In: ZGO 134 (1986) S.34-46; Oexle (wie Anm.49). 64 Vgl. hierzu Stefan Weinfurter. Erzbischof Philipp von Köln und der Sturz Heinrichs des Löwen. In: Köln. Stadt und Bistum in Kirche und Reich des Mittelalters. Festschrift für Odilo Engels zum 65. Geburtstag. Hg. von Hanna Vollrath und Stefan Weinfurter. 1993. 5.455-481; Ders.: Die Entmachtung Heinrichs des Löwen. In: Heinrich der Löwe und seine Zeit. Herrschaft und Repräsentation der Welfen 1125-1235. Essayband. Hg. von Jochen Luckhardt und Franz Niehoff. 1995. S.18CH89. Haus und Geschlecht

Anmerkungen zu den Welfen des 12. Jahrhunderts

Von WERNER HECHBERGER

"Adelsgeschlechter sind Abstammungsgemeinschaften der dem adligen Haus zuge- hörenden Familie" 1. Mit diesen Worten hat Otto Gerhard Oexle vor einigen Jahren ei- ne Formel geprägt, mit deren Hilfe ein Konsens über die Verwendung der modernen Terminologie bei der Untersuchung adliger Familien des hohen Mittelalters auf einen knappen Nenner gebracht worden ist. Oexle unterschied einerseits die domus, das Haus der adligen Familie, das die jeweils gegenwärtige Existenzform einer Adelsfami- lie repräsentierte, und das adlige Geschlecht andererseits, das die historische Dimen- sion der domus umfaßte, die Erinnerung an Vorfahren und Ahnen. Das Adelsge- schlecht sei ein "mentales Phänomen", das durch die Erinnerung an Vorfahren konsti- tuiert werde. Daß diese Unterscheidung nicht unmittelbar durch den Verweis auf die Quellenter- minologie zu begründen ist2, kann keineswegs ein Kritikpunkt sein. Selbstverständ- lich sind die Begriffe Haus und Geschlecht im hier gemeinten Sinn sogenannte "mo- derne Vereinbarungsbegriffe" . Das heißt, daß bei ihrer Verwendung stets ein theoreti- scher Kontext mitgedacht werden muß. Erkennbar wird dies durch einen kleinen Ausschnitt aus der Forschungsgeschichte. Die Untersuchung adliger Familien des ho- hen Mittelalters fand nämlich nicht im luftleeren Raum statt. Sie stand und steht viel- mehr im Zusammenhang mit umfassenderen Themen der Mediävistik. Eine Erörte- rung von Grundlagen und Folgen dieses Phänomens kann Aufschluß geben über die Probleme, die sich daraus bei der Untersuchung der Welfen ergeben.

lOtto Gerhard Oexle: Adliges Selbstverständnis und seine Verknüpfung mit dem liturgi- schen Gedenken - das Beispiel der Welfen. In: ZGO 134 (1986) S,47f. - Die Vortragsfassung wurde weitgehend beibehalten, die Nachweise in den Anmerkungen wurden auf das Nötigste beschränkt. Zum Kontext des Problems vgl, Werner Hechberger: Adel im fränkisch-deutschen Mittelalter. Zur Anatomie eines Forschungsproblems. 2005. S.30~328. 2 Zur Quellenterminologie vgl, etwa Historia Welforum. Hg. v. Erich König (Schwäbische Chroniken der Stauferzeit 1).21978. c. 1 S.2, c. 14 S.22. Begriffe wie generatio oder domus wer- den dort sichtlich synonym verwendet. 48 Wemer Hechberger

Dem größten Teil der stark rechtshistorisch geprägten Forschung des 19.Jahrhun- derts galt ..der Adel" als ein Rechtsstand. Demzufolge wurde für das frühere Mittelal- ter die Existenz eines Adels häufig in Zweifel gezogen: Erst im Zuge der Auflösung des Karolingerreichs sei der Adel des Mittelalters entstanden, als die karolingischen Herrscher während der inneren Auseinandersetzungen in der Endphase des Franken- reichs nicht mehr in der Lage gewesen seien, ihre Amtsträger effektiv zu kontrollie- rerr', Daß die Adelsfamilien des hohen Mittelalters im Mannesstamm nicht in die Frühzeit zurückgeführt werden konnten, schien ein Beleg für diese Sicht zu sein. Das Phänomen der "kurzen" Stammbäume hochmittelalterlicher Adelsfamilien hat sogar noch Mare Bloch in seinem klassischen Werk über die Feudalgesellschaft dazu ge- führt, sich dieser Ansicht anzuschließen". Der Untersuchung adliger Familien wurde im Rahmen dieses Ansatzes kein son- derlich hoher Stellenwert zugeschrieben. Einer eher nationalen und liberalen, am Ein- heitsstaat orientierten Mediävistik galt der Adel als destruktives Element im Staatsauf- bau. Er erschien als Unterdrücker und Usurpator, dem auf lange Sicht sogar der Un- tergang des Reichs zur Last gelegt wurdet, Historiker, die sich mit regional bedeutsa- men Adelsfamilien befaßten, sahen sich seit der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts nicht eben selten dem Verdacht ausgesetzt, partikularistische Tendenzen zu vertreten. Die Welfen dürften in dieser Hinsicht sogar das Musterbeispiel sein. Welfen waren für die Geschichtsschreibung des ausgehenden 19.Jahrhunderts aus naheliegenden Grün- den personae non gratae, und ihre Historiographen waren es auch. Das Schicksal von Onno Klapp, dem letzten welfischen Haushistoriographen im klassischen Sinn, dürf- te dies hinlänglich belegen. Er wurde nicht nur politisch, sondern auch wissenschaft- lich marginalisiert'', Diese Einschätzung änderte sich grundsätzlich seit den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts. Ein neues Bild der mittelalterlichen Gesellschaft wurde entworfen, das im Prinzip sogar auf einem neuen Bild der gesamten deutschen Geschichte beruhte. Die herkömmliche Vorstellung, daß man für die germanische und für die frühe fränki- sche Zeit von einer Gesellschaft sprechen könne, die im Kern aus rechtlich wie wirt- schaftlich gleichgestellten Freien bestanden habe, geriet von verschiedenen Seiten un- ter Beschuß und wurde schließlich weitgehend aufgegeben", Die Welt des Mittelalters

J Vgl. Hechberger, Adel (wie Anm.l) S.I5-34. Zum Kontext vgl. Ernst- Wolfgang Bäckenfär- de: Die deutsche verfassungsrechtliche Forschung im 19.Jahrhundert. Zeitgebundene Fragestel- lungen und Leitbilder. 21995. • Vg!. Mare Bloch: Die Feudalgesellschaft. 1982 (erstmals 1939). S.341-344. 5 Vgl. zu diesem Geschichtsbild bereits die - kritischen - Ausführungen von Bernhard Schmeidler. Königtum und Fürstentum in Deutschland in der mittelalterlichen Kaiserzeit. In: Preußische Jahrbücher 208 (1927) S.280-301. 6 Vgl. Lorenz Matzinger. Onno Klopp (1822-1903). Leben und Werk. 1993. 7 Vgl. Bäckenfärde, Forschung (wie Anm.3) S.15-18. - Franz Irsigler. Untersuchungen zur Geschichte des frühfränkischen Adels. 21981, S.53. - Otto Gerhard Oexle: "Wirklichkeit"- .Krise der Wirklichkeit" - .Neue Wirklichkeit". Deutungsmuster und Paradigmenkämpfe in der deutschen Wissenschaft vor und nach 1933.In: Die Rolle der Geisteswissenschaften im Drit- Haus und Geschlecht 49

sei eine aristokratische Welt, so meinte Heinrich Dannenbauer im ersten Satz eines programmatischen und viel zitierten Aufsatzes aus dem Jahre 19418• Die Kontinuität adliger Herrschaft habe die deutsche Geschichte geprägt. Im Rahmen der durchaus "zeitgebundenen" Bemühungen, gerade die germanischen Wurzeln der deutschen Geschichte hervorzuheben, spielte die These von der Kontinuität der Adelsherrschaft nicht nur eine, sondern sogar die zentrale Rolle9• Mit genealogischen Ansätzen herkömmlicher Art konnte diese These allerdings nicht belegt werden; man wandte sich daher anderen Methoden zu. Kar! Hauck unter- nahm in mehreren Arbeiten den Versuch, in der sogenannten haus- und sippengebun- denen Literatur des hohen Mittelalters verschüttete Elemente eines germanischen Adelsstolzes festzustellen'P, Auf der Grundlage einer Analyse späterer Quellen taste- te sich Hauck in die Vergangenheit zurück und versuchte, Kontinuitäten in vorchrist- liche Zeit zurückzuführen. Prämisse einer solchen Verfahrensweise war die Überzeu- gung, daß christliche Elemente des Selbstverständnisses adliger Familien des hohen Mittelalters späteres Beiwerk waren. Hauck ging davon aus, daß man von einer christ- lichen Umformung eines älteren Gedankenguts ausgehen müsse; wenn man diese christlichen Zusätze analytisch entferne, könne man den ursprünglich germanischen Kern herausarbeiten. Noch imJahre 1978 wies Waiter Kienast in einem Aufsatz, der als abschließende und quellengesättigte Zusammenfassung des damit verwandten Problems gedacht war, ob es denn ein germanisches "Königsheil" gegeben habe, auf die methodischen Schwierigkeiten hin, die sich in dieser Perspektive zu ergeben schie- nen: "Die ganze Überlieferung unserer heidnischen Vorzeit ist durch das klerikale Sieb gepreßt" 11. Hauck versuchte bei seiner Untersuchung der Quellen über hochmit- telalterliche Adelsgeschlechter folglich, jene "klerikalen" Elemente herauszufiltern, ten Reich 1933-1945. Hg. v. Frank-Rutger Hausmann. 2002. S.1-20, bes. S.6. - Hechberger, Adel (wie Anm.1) S.34-54, 536-540, 547ff. 8 Vg!.Heinrich Dannenbauer: Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen. In: Historisches Jahrbuch 61 (1941) S.1-50. ND in: Herrschaft und Staat im Mittelalter. Hg. v. Hellmut Kämpf 1956 (ND 1974). S.66-134. ND in: Heinrich Dannenbauer: Grundlagen der mittelalterlichen Welt. Skizzen und Studien. 1958. S.121-178. 9 Vg!. nur Karl Bosl: Die Germanische Kontinuität im deutschen Mittelalter (Adel- König- Kirche). In: Antike und Orient im Mittelalter. Hg. v. Paul Wilpert. 21971.ND in: ders.: Historia Magistra. Die geschichtliche Dimension der Bildung. 1988. S.63-85. 10 Vg!. Karl H auck: Geblütsheiligkeit. In: Liber Floridus. Mittellateinische Studien. Paul Leh- mann zum 65. Geburtstag. Hg. v. Bernhard BischoffISuso Brechter. 1950. S.187-240. - ders.: Le- bensnormen und Kulturmythen in germanischen Stammes- und Herrschergenealogien. In: Sae- culum 6 (1955)5. 186-223. - ders.: Haus- und sippengebundene Literatur mittelalterlicher Adels- geschlechter. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 62 (1954) 5.121-145. ND in: Geschichtsdenken und Geschichtsbild im Mittelalter. Hg. v. Walther Lam- mers. 1965. S.165-199. Zum Kontext vgl. ders.: Die geschichtliche Bedeutung der germanischen Auffassung von Königtum und Ade!. In: XI- Congres International des Sciences Historiques. Rapports Ill: Moyen Age. 1960. 5.96-120. 11 Walther Kienast: Germanische Treue und ..Königsheil" . In: Historische Zeitschrift 227 (1978) 5.324. 50 Wemer Hecbberger und er kam zu dem Ergebnis, daß man durchaus "Bruchstücke" einer germanischen Vorstellung von adliger Geblütsheiligkeit feststellen könne. Man habe am "Adelsstolz und der damit verbundenen ursprünglich sakralen Hausüberlieferung auch über die Schwelle der Christianisierung hinweg" festgehaltenl-, Eine besondere, epochema- chende Tat habe die glückhafte Heiligkeit eines "Helden" erwiesen und dazu geführt, daß dieser als "Spitzenahn" Ahnherr und Vorbild seiner Nachkommen geworden seitJ. Noch heute beeindrucken diese subtilen Analysen. Angesichts des außerordentlich spröden Quellenmaterials war diese Subtilität aber auch nötig. Es wäre höchst vermes- sen, Hauck vorzuwerfen, daß er dies nicht selbst erkannt habe. Er war sich des metho- dischen Problems sehr wohl bewußt und sprach im Hinblick auf seine Ergebnisse vor- sichtig von "Beleginseln", die ihm beim Gang durch die Jahrhunderte als "Schrittstei- ne" dienten'". Die Schwierigkeiten einer solchen Verfahrensweise werden allerdings sofort deutlich, wenn man an das vielleicht bekannteste Beispiel adliger Hausüberlie- ferung im hochmittelalterlichen Deutschland denkt: an die Historia Welforum. Nach vorherrschender, wenngleich nicht unumstrittener Ansicht der Forschung entstand sie wohl gegen 117015; sie ist jedenfalls aber eine der frühesten Quellen dieser Art. Schon im ersten Kapitel wird allerdings berichtet, daß die Franken und damit auch die Welfen von den Trojanern abstammtenl''. Dieser Abstammungsmythos ist im Mittel- alter bekanntlich weit verbreitet; im Hinblick auf die Fragestellung allerdings verweist er auf ein grundlegendes Problem: Für Bemühungen, spezifisch germanische Wurzeln des Selbstverständnisses eines hochmittelalterlichen adligen Geschlechts zu finden, ist diese Erzählung natürlich kontraproduktiv. Damit ist überhaupt die Frage aufzuwerfen, ob der Gedankengang des Ansatzes tragfähig ist. Adelsdynastien als mentale Konstruktionen entstehen seit dem 12.Jahr- hundert, und zwar nicht zuletzt dadurch, daß die Geschichte von Vorfahren als eine Einheit verstanden und manchmal schließlich sogar schriftlich fixiert wird. Sichtbar

12 Hauck, Haus- und sippengebundene Literatur (wie Anm.l0) S.182. 13 Hauck, Haus- und sippengebundene Literatur (wie Anm.l0) bes. S.173. Schon Ottokar Lorenz betonte, daß Stammväter oder -mütter nicht biologisch bestimmbar sind. Das Bewußt- sein der Nachkommen entscheide darüber, wem diese Rollen zugeschrieben werden (vg!.Otto- kar Lorenz: Lehrbuch der gesammten wissenschaftlichen Genealogie. 1898. S.123). 14 Hauck, Geblütsheiligkeit (wie Anm.l0) S.237. IS Zur heutigen Sicht vg!. Alfred Haverkamp: 12. Jahrhunden (Gebhardt - Handbuch der deutschen Geschichte). 1°2003.S.7. Zur neueren Debatte um die Datierung der Historia Welfo- rum vgl, Katrin Baaken: Elisina curtis nobilissima. Welfischer Besitz in der Markgrafschaft Vero- na und die Datierung der Historia Welforum. In: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelal- ters 55 (1999) S.90ff. - Matthias Becher. Der Verfasser der Historia Welforum zwischen Heinrich dem Löwen und den süddeutschen Ministerialen des welfischen Hauses. In: Heinrich der Löwe. Herrschaft und Repräsentation. Hg. v.Johannes Fried/Otto Gerhard Oexle. 2003. S.348. - ders.: Der Name" Welf" zwischen Akzeptanz und Apologie. Überlegungen zur frühen welfischen Hausüberlieferung. In: Welf IV. - Schlüsselfigur einer Wendezeit. Regionale und europäische Perspektiven. Hg. v. Dieter R. Bauer/Matthias Becher. 2004. S.168£. mit Anm. 50. 16 Vgl. Historia Welforum (wie Anm.2) c. 1 S.2. Haus und Geschlecht 51 wird Adelsherrschaft im hohen Mittelalter nicht nur an Symbolen, die den Zeitgenos- sen tatsächlich vor Augen standen, wie etwa der Stammsitz oder die Grablege in einem Hauskloster. Zu diesen Merkmalen der Adelsherrschaft gehörte auch die Geschichte vornehmer Vorfahren. In Anlehnung an die Definition Otto Gerhard Oexles ist dabei zu berücksichtigen, daß es sich bei einer solchen Geschichte ebenfalls immer um eine "Konstruktion" handelt. Man begann, sich für Vorfahren zu interessieren, und hielt deren Geschichte fest. Am Beispiel der Historia Welforum wird unmittelbar deutlich, daß nicht einfach aufgeschrieben wurde, was man ohnehin noch wußte: Der Verfasser berichtet am Beginn seiner Darstellung explizit, daß er alte Aufzeichnungen durchge- sehen habe". Aus den prinzipiell zur Verfügung stehenden Vorfahren wurde ausge- wählt, und dies bedeutet, daß auch Darstellungen der Frühzeit solcher Dynastien zu- allererst die Perspektive der jeweiligen Gegenwart der Verfasser widerspiegeln. Die nächste gravierende Änderung bei der Erforschung des früh- und hochmittelal- terlichen Adels fand seit der Mitte des zwanzigstenjahrhunderts statt. Mit den perso- nengeschichtlichen Untersuchungen Gerd Tellenbachs begann die moderne Adelsfor- schung in der deutschen Mediävistik'", Auch dies ist nicht zu erklären ohne den Ver- weis auf einen wissenschaftsgeschichtlichen Kontext. Bedeutung gewannen Tellen- bachs Untersuchungen im Rahmen einer berühmten Kontroverse um die Entstehung des deutschen Reichs'", Martin Lintzel oder Walter Schlesinger hatten die Auflösung des Karolingerreichs noch in erster Linie als Ausdruck des Wiedererstarkens ethni- scher Einheiten beschrieben. Im Hintergrund stand dabei die seit dem 19. Jahrhun- dert, in Analogie zur Reichsgründung von 1871, entworfene Vorstellung, daß die Stämme das deutsche Reich gegründet hätten. Reichlich zugespitzt war bei einigen Historikern sogar von einem Ausbruch der germanischen Stämme aus dem Völkerge- fängnis der Karolinger die Rede20• Tellenbach dagegen versuchte zu zeigen, daß andere Kontinuitäten eine Rolle spiel- ten. Man könne vom Weiterleben einer karolingischen _Reichsaristokratie" sprechen. Ausgangspunkt dieser These waren personengeschichtliche Untersuchungen, die seit- her als methodischer Standard der Adelsforschung gelten und die zunehmend als un-

17 Vgl. Historia Welforum (wie Anm.2) c. 1 S.2. 18 Vgl. Gerd Tellenbacb: Königtum und Stämme in der Werdezeit des Deutschen Reiches. 1939.- ders.: Vom Karolingischen Reichsadel zum deutschen Reichsfürstenstand. In: Adel und Bauern im deutschen Staat des Mittelalters. Hg. v. Theodor MayeT. 1943 (ND 1976). S.22-73. ND in: Gerd Tellenbach: Ausgewählte Abhandlungen und Aufsätze, Bd.3. 1988. S.889-940. Zum Ansatz TeIlenbachs vg!. Hagen Keller. Das Werk Gerd TeIlenbachs in der Geschichtswis- senschaft unseres Jahrhunderts. In: Frühmittelalterliche Studien 28 (1994) S.374-397. 19 Vg!. dazu die Beiträge in: Die Entstehung des Deutschen Reiches (Deutschland um 900). Hg. v. Hellrnut Kämpf ·1976. 20 Vgl. zu einer solchen Sichtweise nur Georg Waitz: Deutsche Verfassungsgeschichte. 31896. S.36, 132-143. - Ernst Dümmler: Geschichte des Ostfränkischen Reichs, Bd. 2: Die letzten Karo- linger. 1865. S.560,571. - Wilhelm von Giesebrecbt: Geschichte der deutschen Kaiserzeit, Bd.l: Gründung des Kaisertums. 1881. S.167-189. 52 Werner Hechberger befriedigend empfundenen ständegeschichtlichen Ansätze ablösterr". Nach TeIlen- bach stammten alle Herzöge des Ostreichs aus dem karolingischen Reichsadel; von ei- nem neuen Adel könne keine Rede sein. Daß die konkreten Verwandtschafts- und Abstammungsverhältnisse im einzelnen nicht immer exakt geklärt werden können, spielte in diesem Ansatz keine Rolle. Für Stellung und Selbstverständnis der Adligen hätten agnatische wie cognatische Vorfah- ren und Verwandte zunächst dieselbe Bedeutung genossen. Diesen Befund nahm dann Josef Fleckenstein zum Anlaß, die Herkunft der Welfen aus der Reichsaristokratie nachzuweisen+. Der Franke Ruthard sei der früheste erkennbare Ahnherr der Welfen gewesen. Ob Ruthard ein Vorfahre der männlichen Linie war, war zwar nicht zu klä- ren und ist sogar eher unwahrscheinlich; in diesem Modell war dies aber nicht weiter relevant. Die Welfen avancierten im Rahmen dieses Ansatzes zum Musterbeispiel für die These von der Kontinuität der fränkischen Reichsaristokratie. Kar! Schmid hat diesen Grundgedanken dann zu einer Entwicklungstheorie ausge- baut. Sein Modell, in dem die Entwicklung von der locker gefügten Adelssippe des frühen Mittelalters zum Adelsgeschlecht des hohen Mittelalters beschrieben und er- klärt wird, hat zahlreiche Arbeiten beeinflußt und wird, trotz kritischer Einwände, von einem Großteil der deutschen Forschung auch heute noch in seinen Grundzügen als gültig erachter'". Die Untersuchung neuer oder zumindest bislang nicht hinrei- chend beachteter Quellen, der sogenannten ,.Memorialquellen"24, führten zur An- nahme, daß man jetzt endlich den bislang nur schemenhaft erkennbaren Adel des 9. und beginnenden 10.Jahrhunderts konkretfassen könne. Bemerkenswert ist, welchen Stellenwert Schmid dem Gebetsgedenken zuschrieb. Insbesondere die Gründung ei- nes Klosters, das als Grablege einer Familie gedacht war, habe wichtige Folgen nach sich gezogen. Seit dem ausgehenden It. Jahrhundert gründeten Adlige Klöster, be- dachten sie mit Schenkungen und versuchten, sich die Vogtei als erbliches Recht vor- zubehalten. Dies sicherte den Bestand der Gründung; im Gegenzug sorgte das Kloster für das Totengedenken und pflegte damit die Memoria einer Familie. Durch diese

21 Vg!. dazu programmatisch Gerd TeIlenbach: Zur Bedeutung der Personenforschung für die Erkenntnis des früheren Mittelalters. In: Freiburger Universitätsreden. Neue Folge 25. 1957. S.5-24. ND in: ders: Ausgewählte Abhandlungen und Aufsätze, Bd.3. 1988. S.943-962. 22 Vg!.Josef Fleckenstein: Über die Herkunft der Welfen und ihre Anfänge in Süddeutschland. In: Studien und Vorarbeiten zur Geschichte des großfränkischen und frühdeutschen Adels. Hg. v. Gerd TeIlenbach. 1957. S.71-136. 23 Vg!. die gesammelten Aufsätze in: Karl Schmid: Gebetsgedenken und adliges Selbstver- ständnis im Mittelalter. Ausgewählte Beiträge. Festgabe zu seinem sechzigsten Geburtstag. 1983. S.183-446. - ders.: Geblüt, Herrschaft, Geschlechterbewußtsein. Grundfragen zum Verständnis des Adels im Mittelalter. 1998. Vg!. zusammenfassend ders.: Zur Entstehung und Erforschung von Geschlechterbewußtsein. In: ZGO 134(1986) S.21-33. Zur heutigen Debatte um die Tragfä- higkeit der Thesen Schmids vg!. nur: Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte: Die Familie in der Gesellschaft des Mittelalters. Protokoll Nr. 393 über die Arbeitstagung auf der Reichenau vom 15.-18. März 2005. Ms. 2005. 24 Vg!. Michael Borgolte: Memoria. Zwischenbilanz eines Mittelalterprojekts. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 46 (1998) 5.197-210. Haus und Geschlecht 53

Form der Erinnerung wurde das Geschlecht als eine gedankliche Konstruktion erst dauerhaft konstituier~5. Dieser Ansatz hatte Folgen - und er hat seine Tücken. Die Frage nach der "Her- kunft" von Adelsfamilien des hohen Mittelalters konnte und mußte nun anders be- handelt werden. Die daraus resultierenden methodischen Probleme können allerdings kaum überschätzt werden. Gibt man die Vorstellung von der Priorität der männlichen Abstammung preis, so machen schon schlichte mathemarisehe Überlegungen auf den ersten Blick klar, daß Adelsfamilien des 12.Jahrhunderts zahllose Vorfahren im frühe- ren Mittelalter haben mußten. Die Welfen des 12.Jahrhunderts hatten natürlich bairi- sche, alemannische und fränkische, aber selbstverständlich auch italienische Ahnen. Die Kontroverse um die "Herkunft" der Welfen, die auf den unterschiedlichen Auf- fassungen schon mittelalterlicher Autoren beruht, dürfte demnach kaum allein durch genealogische und besitzgeschichtliche Argumentationen zu klären sein, so ausgefeilt diese auch sein mögen. Daß man darüber hinaus die Präzision der sogenannten genea- logisch-besitzgeschichtlichen Methode höchst unterschiedlich einschätzen kann, hat sich in jüngerer Zeit gezeigt26• Kar! Schmid hat seinerzeit daraus eine wichtige Konsequenz gezogen. Statt genea- logischer Rekonstruktionen rückte für ihn das Selbstverständnis des hochmittelalter- lichen Adelsgeschlechts ins Zentrum der Betrachtung: das Wissen des Adelshauses von der eigenen Geschichtlichkeir", Genau diese Überlegung führte letztlich zu der oben erwähnten Definition Oexles: Geschlechter sind mentale Konstruktionen-s,

25 Vg!. v.a. Karl Schmid: Adel und Reform in Schwaben. In: Investiturstreit und Reichsverfas- sung. Hg. v. Josef Fleckenstein. 1973.5.295-319. ND in: ders., Gebetsgedenken (wie Anm.23) 5.337-359. Zur Weiterführung dieses Gedankengangs vg!. Otto Gerhard Oexle: Memoria und Memorialbild. In: Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter. Hg. v. Karl Schmid/Joachim Wollasch. 1984.5.384-440. - ders.: Aspekte der Ge- schichte des Adels im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. In: Europäischer Ade11750-1950. Hg. v. Hans-Ulrich Wehler. 1990. S.25f. Zum Fall der Welfen vg!. ders., Adliges Selbstverständ- nis (wie Anm.l) 5.47-75. 26 Vg!. Ludwig Holzfurtner: Untersuchungen zur Namengebung im frühen Mittelalter nach den bayerischen Quellen des achten und neunten Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 45 (1985) 5.3-21. - Wolfgang Hartung: Tradition und Namengebung im frü- hen Mittelalter. In: Früh- und hochmittelalterlicher Adel in Schwaben und Bayern. Hg. v. Immo EberllWolfgang Hartung/JoachimJahn. 1988. 5.23-79. - Klaus Graf(Rezension zu:) Eberll Hartung/Jahn, Früh- und hochmittelalterlicher Adel in Bayern. In: Zeitschrift für Hohenzolle- rische Geschichte, 24/25 (1988/89) S.24lff. Zum Problem vg!. Hecbberger, Adel (wie Anm.l) 5.318-321. 27 Vg!. Karl Schmid: Programmatisches zur Erforschung der mittelalterlichen Personen und Personengruppen. In: Frühmittelalterliche Studien 8 (1974) 5.116-130. ND in: ders., Gebetsge- denken (wie Anm.23) 5.3-17, bes, 5.12. - ders.: Zur Problematik von Familie, Sippe und Ge- schlecht, Haus und Dynastie beim mittelalterlichen Ade!. In: ZGO 105 (1957) 5.1-62. ND in: ders., Gebetsgedenken (wie Anm.23) 5.183-244, bes. 5.239. Zum Begriff des Selbstverständnis- ses vgl. Michael Borgolte: .Selbstverständnis· und .Mentalitäten·. Mittelalterliche Menschen im Verständnis moderner Historiker. In: Archiv für Kulturgeschichte 79 (1997) 5.189-210. 28 Vg!. Oexle, Adliges Selbstverständnis (wie Anm.l) 5.47. 54 Werner Hechberger

Menschen - tote und lebende - werden gedanklich zu einer Einheit zusammenge- faßt. Ein zentraler Gegenstand der Adelsforschung ist seither das "Erinnerungswissen" der Zeitgenossen. An welche Vorfahren erinnerte man sich, an welche konnte man sich noch erinnern? An welche wollte man sich denn erinnern, und welche vergaß man? Wie prägend das Spannungsfeld zwischen Erinnern und Vergessen für das adlige Selbstverständnis war, hat erst in jüngster Zeit Bernd Schneidmüller im einschlägigen Standardwerk über die mittelalterlichen Welfen demonstrierr'", Mit dieser Vorstellung sind aber ebenfalls Probleme verbunden. Wenn man die männliche Abstammung als Definitionskriterium aufgibt, muß man zwangsläufig das Erinnerungswissen in den Vordergrund rücken. Dann aber sollte man sich vor der Vorstellung hüten, daß es "die Welfen" schon seit dem frühen Mittelalter gegeben ha- be, daß sie sich dieser Tatsache aber erst allmählich bewußt geworden seien. Als Adels- geschlecht entstehen die Welfen nach dieser Definition erst durch die Erinnerung im hohen Mittelalter. Dabei ist zu bedenken, daß allein schon die Voraussetzung für diese "Erinnerung" von dynastischen Zufällen abhängt. Nach dem Bericht der Historia Welforum schenkte Welf Ill. im Jahr 1055, als ihm wegen einer schweren Erkrankung der Tod vor Augen stand, seinen Besitz samt den dazugehörigen Dienstmannen dem Kloster Altdorf, weil er keinen Erben hatte. Die Ausführung dieses Vermächtnisses wurde al- lerdings verhindert. Welfs Mutter Imiza ließ ihren Enkel Welf, den Sohn ihrer Tochter Chuniza und des Markgrafen Azzo aus der Familie der Otbertiner, aus Italien holen. Als Welf IV. eintraf, untersagte er den Vollzug der Verfügung und erklärte sich zum unzweifelhaften und wahren Erben30• Wenn die Pläne Welfs Ill. über seine Erbschaft 1055 realisiert worden wären, gäbe es keine "frühmittelalterlichen Welfen" - weder für Welfen des 12. Jahrhunderts noch für die moderne Forschung". Und dabei han- delt es sich mitnichten um ein genealogisches Problem. Das zweite Problem betrifft die Frage nach der Einheitlichkeit der Hausüberliefe- rung. Klaus Graf hat, im Anschluß an Gerd Althoff, diesen Punkt hervorgehoben: Von einer einheitlichen adligen Hausüberlieferung kann man nur dann sprechen, wenn diese vom Adelshaus akzeptiert wird32• Wenn man an die Definition Oexles

29 Vgl. Bernd Schneidmüller. Die Welfen. Herrschaft und Erinnerung (819-1252). 2000. Bes, 5.7, 17-40,288-300. 30 Vgl. Historia Welforum (wie Anm.2) c. 12 5.18. 31 Vgl. Karl Schmid: Welfisches Selbstverständnis. In: Adel und Kirche. Gerd Tellenbach zum 65. Geburtstag dargebracht von Freunden und Schülern. Hg. v.Josef Fleckenstein/Karl Schmid. 1968.5.389-416. ND in: Schmid, Gebetsgedenken (wie Anm.23) S.424-453, bes. S.438. - ders., Geblüt (wie Anm.23) S.133. - Werner Hechberger: Die Erbfolge von 1055 und das welfische Selbstverständnis im 12.Jahrhundert. In: Bauer/Becher, Welf IV. (wie Anm.15) S.147f. 32 Vgl. Klaus Graf Literatur als adelige Hausüberlieferung? In: Literarische Interessenbil- dung im Mittelalter. Hg. v.Joachim Heinzle. 1993. 5.126-144, bes. S.128f. Zu diesem Problem vg!. grundsätzlich Gerd Althoff Anlässe zur schriftlichen Fixierung adligen Selbstverständnis- ses. In: ZGO 134 (1986) S.34-46. Haus und Geschlecht 55 denkt, dann hängt das Geschlecht als Ergebnis der Erinnerung vom Haus ab. Nun gab es im 12.Jahrhundert mehrere Häuser der Welfen. Ein identisches Selbstverständnis besaßen sie keineswegs, und das ist nicht zufällig. Die domus Heinrichs des Löwen hatte eine andere Geschichte als die domus seines Oheims Welf VI. Heinrich der Löwe konnte auf bedeutendere Vorfahren verweisen als auf die süddeutschen Welfen, insbe- sondere natürlich auf Kaiser Lothar, seinen Großvater. Noch mehr gilt das später dann für seinen Sohn Otto IV. Es dürfte kaum ein Zufall sein, daß der einzige" welfische" Kaiser in keiner einzigen zeitgenössischen Quelle als" Welfe" bezeichnet wird. Alle Zeitgenossen - nicht nur in Sachsen - sehen in Otto einen Nachkommen sächsischer Adelsfamilien. Und natürlich werden auch seine englischen Vorfahren hervorgehe- ben33• Sachlich ist daran nichts auszusetzen. Im 13.Jahrhundert werden Heinrich der Löwe und seine Nachkommen dann fest im Gefüge der Geschichte sächsischer Adels- geschlechter verankerr'". Wenn man in der Mediävistik heute von "Welfen" spricht, dann ist dies nicht zuletzt die Folge der Tatsache, daß seinerzeit gerade in Süddeutsch- land - aus gegebenen Anlässen - die Geschichte von" Welfen"häusern intensiver be- handelt worden ist als im Norden. Soll man dies nun als Wandel "eines" welfischen Selbstverständnisses betrachten? Wenn man das Phänomen der Erinnerung näher betrachtet, so wird man hier vielleicht eher vorsichtig sein. Gewöhnlich geht man implizit davon aus, daß das Wissen um die Vorfahren ein konstitutiver Bestandteil des adligen Selbstverständnisses gewesen ist, ein Wissen, das quasi beliebig abrufbar war. Die schriftlichen Quellen, in denen das Erinnerungswissen zum Ausdruck kommt, wären dann gewissermaßen Momentauf- nahmen, in denen der jeweilige Entwicklungsstand des adligen Selbstverständnisses erkennbar wird. Auf der Basis dieser Prämisse kann man dann als Historiker die ein- zelnen Quellen einer Gesamtanalyse unterwerfen, einen kleinsten gemeinsamen Nen- ner herausfiltern und dessen Veränderung beobachten. Diese Verfahrensweise wirft allerdings Schwierigkeiten auf. Gerade in jüngster Zeit hat sich die Mediävistik mit dem Phänomen der Erinnerung intensiv beschäftigt.". Die Ergebnisse sind ernüchternd, und ihre Konsequenzen für die historische Methode sind noch keineswegs ganz ausgelotet worden. Erinnerung ist jedenfalls nicht nur se- lektiv und perspektivisch; Erinnerung ist darüber hinaus ein kreativer Akt, der von der jeweiligen Gegenwart abhängt. Es handelt sich dabei keineswegs um ein bloßes Abrufen von gespeichertem Wissen. Erinnerungen verändern sich mit dem Wandel

33 Vg!. Werner Hechbergen Staufer und Welfen. Zur Verwendung von Theorien in der Ge- schichtswissenschaft. 1994. S.120-127, 133. 34 Vg!. Bernd Schneidmüller. Billunger - Welfen - Askanier. Eine genealogische Bildtafel aus dem Braunschweiger Blasius-Stift und das hochadlige Familienbewußtsein in Sachsen um 1300. In: Archiv für Kulturgeschichte 69 (1987) S.30-61. 3S Vgl. v.a. Johannes Fried: Geschichte und Gehirn. Irritationen der Geschichtswissenschaft durch Gedächtniskritik (Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse,Jg. 2003 N r.7). 2003. - ders.: Der Schleier der Erin- nerung. Grundzüge einer historischen Memorik. 2004. S.255-284. 56 Wemer Hechberger der Gegenwart, und zwar nach den Bedürfnissen der Gegenwart. Unterschiedliche Ergebnisse eines solchen Aktes sind wohl nicht immer und wahrscheinlich nicht ein- mal im Normalfall das Resultat gezielter Manipulationen. Wenn man von "einem" welfischen Selbstverständnis spricht, das sich mehrfach verändert habe, unterstellt man zumindest implizit eine Stabilität des Erinnerns, die es bei den Welfen des 12.Jahrhunderts wohl nicht gegeben hat und die nach den Ergeb- nissen der neueren Untersuchungen zum Phänomen der Erinnerung auch eher un- wahrscheinlich wäre. Ein kontinuierlicher Prozeß liegt hier nicht vor. Dies zeigt sich in der Praxis der Forschung zum vorliegenden Problem auch daran, daß bei den Welfen nicht - wie es das Modell von Schmid erfordern würde - von "ei- nem- Hauskloster die Rede sein kann. Wenn man daran denkt, wie eng die Memoria und das adlige Selbstverständnis in diesem Modell zusammenhängen, dann wird auch deutlich, welche Folgen dies hat. Selbstverständlich ist Weingarten das "klassische" welfische Hauskloster. Es verlor diesen Status allerdings schon im 12. Jahrhundert. Daß Heinrich der Stolze Königslutter als Begräbnisstätte wählte und damit an andere Ahnen anknüpfte, ist noch einfach zu erklären: Heinrich stellte sich damit in die Tradi- tion seines kaiserlichen Schwiegervaters. Wenn aber auch sein Bruder Welf VI. wenig Interesse an Weingarten zeigte" und sich mit seinem Sohn in Steingaden begraben ließ, so ist das weniger leicht zu verstehen. Man kann - allerdings ohne konkreten Be- leg - vielleicht vermuten, daß sich Welf in seiner eigenen Gründung Steingaden besse- re Bedingungen für sein und seines vor ihm verstorbenen Sohnes Gedächtnis erhoffte als in Weingarten. In Weingarten wäre er nur einer unter vielen gewesen. Steingaden war offenbar das Hauskloster Welfs VI. Wenn man es einfach als ein weiteres" welfi- sches Hauskloster" bezeichnet, trifft man den Kern des Problems wohl nicht. Überhaupt kann die Frage aufgeworfen werden, ob der Begriff des Hausklosters nicht einer präziseren Definition durch moderne Historiker bedarf37• Dabei handelt es sich nicht um müßige Kritteleien über Begriffe. Im Hintergrund steht das Problem, ob die Gründung mehrerer Grablegen für die Angehörigen desselben "Geschlechts" im heutigen Sinn nicht als Indikator für das Fehlen eines Zusammengehörigkeitsge- fühls zu verstehen sind. Die jüngst geäußerte Ansicht, daß Adelsfamilien durch die Anlage mehrerer Grablegen sogar eine Art Territorialpolitik betrieben hätten, wäre dann nämlich hinfällig38; sie unterstellt den Adelsgeschlechtern (nach heutiger Defini-

36 Von Welf VI. und dessen Sohn sind nur zwei Schenkungen an Weingarten überliefert (vg!. Kann Feldmann: WelfVI. und sein Sohn. Das Ende des süddeutschen Welfenhauses [mit Rege- sten). Diss. masch. 1971. Regesten 168, 194; vg!. dazu Alfons Dreher. Zur Gütergeschichte des Klosters. In: Weingarten 1056-1956. 1956. S.140). Im Gegensatz dazu hatte Heinrich der Stolze das Kloster noch reichlich bedacht. Schenkungen Heinrichs des Löwen an Weingarten sind nicht bekannt. l7 Vgl. zum Folgenden Werner Hechberger. Konrad Ill. - Königliche Politik und Dstaufische Familieninteressen .? In: Grafen, Herzöge, Könige. Der Aufstieg der frühen Staufer und das Reich. Hg. v. Hubertus Seibm/]ürgen Dendorfer. 2005. S.327-330. l8 Vg!. zu diesem Problem Hansmartin Schwarzmaier. Die monastische Welt der Staufer und Haus und Geschlecht 57 tion) ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das in Quellen nicht zu erweisen ist. Zumin- dest für den Fall Steingadens trifft eine solche Annahme sicher nicht zu: Die Wahl die- ser Grablege kann nicht mit irgendwelchen zukunftsweisenden territorialpolitischen Hoffnungen in Verbindung gebracht werden. Ein Seitenblick auf die Staufer kann diesen Gedanken untermauern. Wenn man an Lorch denkt, das als das klassische Hauskloster der Staufer gilt, wird das Problem deutlich-". Gerade die wichtigsten Staufer liegen nicht in Lorch. Für Lorch sollte man vielleicht weniger von einem Bedeutungsverlust des Klosters für die Gründerfamilie sprechen als von nie wirklich ganz geglückten Bemühungen, für die Nachkommen der Gründer überhaupt wichtig zu werden. Gerade bei der Untersuchung jener schriftlichen Quellen, die über das welfische Selbstverständnis Auskunft geben können, sind im Augenblick zentrale Fragen um- stritten. Dennoch wird man einige Thesen wagen können. Sowohl die Genealogia Welforum als auch die Historia Welforum sind nicht in einem Hauskloster entstan- den, gleich, wie man diesen Begriff definieren will. Beide Quellen gehen auf einen fürstlichen Auftrag zurück. Der Anlaß für die schriftliche Fixierung war dabei sehr unterschiedlich. Dies könnte erklären, warum unterschiedliche und zum Teil auch wi- dersprüchliche "Erinnerungen" festgehalten wurden. Die Genealogia Welforum ent- stand vielleicht angesichts der Heiligsprechung des Bischofs Konrad von Konstanz/P. Der primäre Akzent dieser Erinnerung galt dem Nachweis, daß und wie Heinrich der Schwarze mit dem neuen Heiligen verwandt war. Die Historia Welforum dagegen wurde niedergeschrieben angesichts des Wissens, daß das Haus Welfs VI. nicht durch einen männlichen Nachkommen fortgesetzt werden würde. Im Hinblick auf den zu- künftigen Erben erzählt die Historia Welforum daher die Geschichte der Entstehung und Vererbung eines adligen Besitzes -und die Geschichte der ihn beherrschenden ad-

Welfen im 12. Jahrhundert. In: Von Schwaben bis Jerusalem. Facetten staufischer Geschichte. Hg. v. Sönke Lorenz/Ulrich Schmidt. 1995. S.241-259. 39 Vgl, Hechberger, Konrad Ill. (wie Anm.37) S.327-330. Die Loreher ..Staufer-Überliefe- rungen" deuten eher darauf hin, daß man sich im Kloster bemühte, die Staufer als Gründerfamilie überhaupt erst für sich zu vereinnahmen. Zur Überlieferung vgl, v.a. Klaus Graf: Kloster Lorch im Mittelalter. In: Lorch. Beiträge zur Geschichte von Stadt und Kloster. Heimatbuch der Stadt Lorch im Remstal, Bd. I. 1990. S.39-95, bes. S.49, 72-76, 78. - ders.:Staufer-Überlieferung aus Kloster Lorch. In: Von Schwaben bis Jerusalem (wie Anm.38) S.214-229, 237f. - Gerhard Lu- bich: Auf dem Weg zur "Güldenen Freiheit". Herrschaft und Raum in der Francia orientalis von der Karolinger- zur Stauferzeit. 1996. S.I72f., 246-272. - Tobias Weller. Auf dem Weg zum "staufischen Haus", Zu Abstammung, Verwandtschaft und Konnubium der frühen Staufer. In: Grafen, Herzöge, Könige (wie Anm.37) S.41-63, bes. S.56-63. - ders.: Die Heiratspolitik des deutschen Hochadels im 12.Jahrhundert. 2004. S.196-226. 40 Genealogia Welforum. Hg. v. Georg Waitz. In: Monumenta Germaniae historica. Scripto- res 13. 1881 (ND 1943) S.733f. Vgl. Renate Neumüllers-Klauser. Zur Kanonisierung Bischof Konrads. In: Der heilige Konrad - Bischof von Konstanz. Hg. v.Helmut Maurer/Wolfgang M üL- Ler/Hugo Ott. 1975. S.73-78. - Otto Gerhard Oexle: Bischof Konrad von Konstanz in der Erin- nerung der Welfen und der welfischen Hausüberlieferung während des 12. Jahrhunderts. Ebd. S.I4-22. - Hechberger, Erbfolge (wie Anm. 31) S.144ff. 58 Wemer Hechberger ligen Familie'", Der Name Welf und die Geschichte von dessen Trägern rücken ins Zentrum des Interessest/. Angesicht dieses Befundes ist es wenig erstaunlich, daß die Anwendung des Mo- dells von Karl Schmid im Falle der Welfen auf einige Schwierigkeiten stößt. Genau je- ne Quellen, die Auskünfte über das Selbstverständnis "der Welfen" zu liefern verspre- chen, erfüllen die Anforderungen des Modells nicht. Die Folgen zeigen sich etwa bei der Frage nach dem ..Spitzenahn" . Da diese Quellen nicht primär entstanden sind, um von Ruhm und Ehre eines Adelsgeschlechts zu künden, blieb die Frage nach einem Spitzenahn offen. Der Verfasser der Genealogia Welforum suchte nicht nach einem Fürsten, der ein Geschlecht begründete. Für ihn war es wichtig zu zeigen, daß und wie Heinrich der Schwarze zu den Verwandten des heiligen Konrad gehörte. Der Autor der Historia Welforum fragte ebenfalls nicht nach dem Begründer eines Geschlechts im heutigen Sinn - er suchte nach den frühesten Vorfahren der Altdorfer. Von einer ge- schlechtsbegründenden Tat ist demnach in beiden Quellen keine Rede. In der moder- nen Forschung hat dies zu Unsicherheiten bei der Frage geführt, wer denn eigentlich der ,.Stammvater" der Welfen gewesen sei. Nicht weniger als fünf Fürsten sind ex post zum welfischen Spitzenahn ..erklärt" worden: Azzo ..von Este", der italienische Pfalzgraf Otbert, der erste Welf, Eticho und Ruthard+'. Ganz offensichtlich bereitet der Fall der Welfen der Geschichtswissenschaft Schwierigkeiten, wenn es um die Be- schreibung der Entstehung von Adelsgeschlechtern geht. Spätestens seit der Mitte des 13. Jahrhunderts gab es kein ..welfisches" Selbstver- ständnis mehr, wenn man darunter die Auffassung versteht, daß die Erinnerung an welfisch-süddeutsche Vorfahren für das Selbstverständnis eines noch existierenden Adelshauses eine Rolle gespielt habe. Dies führt zur Frage, ob es denn in der frühen Neuzeit überhaupt noch ..Welfen" gab. Diese Frage ist weniger trivial, als dies aus

41 Vgl. Werner Hechberger: Graphische Darstellungen des Welfenstammbaums. Zum welfi- schen Selbstverständnis im 12.Jahrhundert. In: Archiv für Kulturgeschichte 79 (1997) S.294f. 42 Vgl. Mauhias Becher, Der Name,. Welf" (wie Anm.15) S.156-198. 43 Vgl. Gottfried Wilhe1mLeibniz: Entwurf der Welfischen Geschichte. In: ders.: Gesammelte Werke, I.: Geschichte, Bd.4: Geschichtliche Aufsätze und Gedichte. Hg. v. Georg Heinrich Pertz: 1847 (ND 1966) S.248. Vgl. auch ders : Bericht über die Erfolge der Reise nach Süd- deutschland u. Italien für die Welfische Geschichte. Ebd. S.256-259. - Georg Heinrich Pertz: Vorrede. In: Gottfried Wilhe1m Leibniz: Gesammelte Werke, I.: Geschichte, Bd.1. 1843 (ND 1966) S.V.VI, XVIII. - Adolf Hofmeister: Genealogie und Familienforschung als Hilfswissen- schaften der Geschichte. In: Historische Vierteljahrsschrift 15 (1912) S.478. - Odilo Engels: Neue Aspekte zur Geschichte Friedrich Barbarossas und Heinrichs des Löwen. In: Selbstbe- wußtsein und Politik der Staufer (Vorträge der Göppinger Staufertage in den Jahren 1972, 1973 und 1975). 1977.S.32.- Scbmid, Welfisches Selbstverständnis (wie Anm.31) bes. S.430f. VgLfer- ner ders: Adelssitze und Adelsgeschlechter rund um den Bodensee. In: ZWLG 47 (1988) S.13.- Karl Jordan: Heinrich der Löwe. Eine Biographie. 21980, S.l ff. - Hansmartin Schwarzmaier: Staufer, Welfen und Zähringer im Lichte neuzeitlicher Geschichtsschreibung. In: ZGO 134 (1986) S.85. - Irene Schmale-Ott, in: Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vom Tode Kaiser Heinrichs V. bis zum Ende des Interregnums, Bd. I.Hg. v. Wilhe1m WattenbachlFranz- Josef Schmale. 1976. S.297. Vgl. dazu Hechberger, Staufer und Welfen (wie Anm.33) S.174f. l Haus und Geschlecht 59 heutiger Sicht erscheinen mag, zumindest dann nicht, wenn man ein Adelsgeschlecht durch Memoria und Erinnerung definiert - und es sei wiederholt: Dies ist logisch zwingend erforderlich, wenn man die Vorstellung aufgibt, allein die männliche Ab- stammung definiere ein Adelsgeschlecht. Natürlich gab es die Herzöge von Braun- schweig mit ihren Nebenlinien. Als" Welfen" sahen sie sich aber zunächst nicht. Als Gottfried Wilhelm Leibniz seine historischen Forschungen aufnahm, ging es nicht darum, bereits vorhandenes Traditionsgut mit Quellenangaben zu unterfüttern'". Die Situation, in der sich Leibniz befand, war nicht unähnlich jener, in der sich seinerzeit der Verfasser der Historia Welforum befunden hatte. Alte Aufzeichnungen mußten durchgesehen werden. Die Historia Domus, die Leibniz planre", wäre keine Ge- schichte der" Welfen" im heutigen Sinn geworden. Leibniz hat in seinen Briefen ge- wöhnlich von der domus der Herzöge von Braunschweig gesprochen'", Die Historia Welforum, die für die heutige Forschung von so zentraler Bedeutung ist, war für ihn durchaus eine wichtige Quelle, allerdings vor allem unter einem ganz bestimmten Aspekt: Mit ihr konnte nachgewiesen werden, daß das Haus Este und das Haus Braunschweig gemeinsame Vorfahren hatten - in Italien'", Die Welfen des Mittelalters waren für Leibniz ein Geschlecht, von dem die Herzöge in Braunschweig auch ab- stammten. Diese Historia Domus wurde bekanntlich nicht geschrieben. Wie gesagt: Sie wäre keine Geschichte der Welfen im heutigen Sinn geworden. Immerhin hat Leibniz die

H Vgl. allgemein Armin Reese: Die Rolle der Historie beim Aufstieg des Welfenhauses 1680- 1714. 1976. - Schneidmüller, Welfen (wie Anm.29) S.288-291. 45 Vgl. Werner Conze: Leibniz als Historiker (Leibniz zu seinem 300. Geburtstag 1646-1946. Hg. v. E. Hochstetter, Lieferung 6). 1951. S.8-20. - Horst Ecken: Gottfried Wilhe1m Leibniz' Scriptores rerum Brunsvicensium. Entstehung und historiographische Bedeutung. 1971.S.17f£., 43f. - Bernd Schneidmüller. Mittelalterliche Reduktion - neuzeitlicher Aufbruch. Die Territoria- lisierung welfischen Adelsbewußtseins im 13.Jahrhundert und seine Europäisierung durch Leib- niz. In: Leibniz und Niedersachsen. Tagung anläßlich des 350. Geburtstages von G.w. Leibniz. Hg. v. Herbert Breger/Friedrich Niewöhner. 1999. S.87-104, bes. S.87-90, 10-14. Zur Konzep- tion der Annales Imperii vgl. Nora Gädecke: Hausgeschichte - Reichsgeschichte - Landesge- schichte in den Annales Imperii: die Behandlung des "Sachsenherzogs" Widukind. Ebd, S.105- 125, bes. S.109. Zum politischen Kontext vg!. auch Reese, Rolle (wie Anm.44) bes. S.127f.; zum allgemeinen Hintergrund der "historischen Spurensuche" im Umkreis des Braunschweiger Hofs vgl. Bernd Schneidmüller. Landesherrschaft, welfische Identität und sächsische Geschichte. In: Regionale Identität und soziale Gruppen im deutschen Mittelalter. Hg. v. Peter Moraw. 1992. S.93££. 46 Vg!. Conze, Leibniz (wie Anm.45) bes. S.9-20, 28f. - Reese, Rolle (wie Anm.44), 5.132.- Alois Schmid: Die Herkunft der Welfen in der bayerischen Landeshistoriographie des 17.Jahr- hunderts und bei Gottfried Wilhe1m Leibniz. In: Leibniz und Niedersachsen (wie Anm.45) S.143. 47 Vg!. als klassisches Beispiel Gottfried Wilhe1mLeibniz: Lettre sur la connexion des maisons de Brunsvic et d'este, 1695. Vg!. dazu auch den Brief an Francesco Sigismondo d'Este vom De- zember 1695. In: Genfried Wilhelm Leibniz: Allgemeiner politischer und historischer Brief- wechsel. Bd.12 (Sämtliche Schriften und Briefe 1,12).1990. Nr.191 S.278f. Zu diesem Problem vg!. auch Alois Schmid, Herkunft (wie Anm.46) bes. S.143. 60 Werner Hechberger

Quellen für sein Projekt herausgegeben. Sie erschienen unter dem bezeichnenden Ti- tel Scriptores rerum Brunsvicensium'", und dieser Titel war Leibniz so wichtig, daß er sich auf einen Streit mit dem Verleger einließ'". Die Edition einer späten Abschrift der Historia Welforum findet sich zwar im ersten Band, aber keineswegs an herausragen- der Stelle50• Auch für Leibniz stand noch die sächsische Vorgeschichte des Hauses im Vordergrund. Erst unter seinen Nachfolgern änderte sich dies: Die Herausgeber der Origines Guelficae orientieren sich zumindest bei der Namengebung ihres Werks primär an den süddeutschen Vorfahren des Hauses der Herzöge von Braunschweig'". Tatsäch- lich sind erst jetzt diese Herzöge auch als Welfen bezeichnet worden52• Die damit ver- bundene Sichtweise hat sich bis in die Gegenwart hinein durchgesetzt. Aber man soll- te festhalten, daß das Geschlecht der Welfen, wie man es heute in Lexika, Handbü- chern oder auf der Internetseite'" der Welfen findet, ebenfalls eine mentale Konstruk- tion ist. Wenn sich heutige Welfen an ihre Vorfahren erinnern - die Internetseite der Welfen gestaltet Prinz Heinrich von Hannover selbst -, dann handelt es sich dabei um einen Akt. der sich von ähnlichen Prozessen im hohen Mittelalter nicht grundsätzlich unterscheidet: Vorfahren werden in Auswahl unter einem bestimmten Begriff zusam- mengefaßt. Erst im 20. Jahrhundert ist auch der Name "Welf" bei den Welfen spora- disch wieder verwendet worden. Generell wird man festhalten dürfen, daß die Untersuchung von Haus und Ge- schlecht der Welfen des hohen Mittelalters einige typische Probleme der modernen Adelsforschung deutlich machen kann. Treffend ist bemerkt worden, daß sich jeder Historiker, der den Zusammenhang zwischen Formierung des adligen Hauses, der Entstehung fürstlicher Mittelpunkte und der Pflege des liturgischen Gedächtnisses darstellen will, tunliehst mit der Geschichte der Welfen beschäftigen solle'", Tatsäch- lich lassen sich am Beispiel der Welfen zentrale Hypothesen der modernen Mediävi- stik bei der Untersuchung hochmittelalterlicher Adelsgeschlechter demonstrieren. Im Hinblick auf die Frage allerdings, wie aus den adligen Familienverbänden des frühen Mittelalters die Adelsdynastie des Hochmittelalters entstanden ist, sind die Welfen ein weniger gutes Beispiel. Dies gilt sowohl für die behauptete enge Beziehung zwischen einem Hauskloster und der adligen Familie als auch für die Bedeutung, die einem Spit-

48 Vg!. Scriptores rerum Brunsvicensium. Hg. v. Gottfried Wilhe1m Leibnix. 3 Bde. 1707- 1710. Vg!. dazu Conze, Leibniz (wie AnmA5) S.2Sf. - Eckert, Scriptores (wie Anm.45). 49 Vgl, Ecken, Scriptores (wie AnmAS) SA3f. so Scriptores rerum Brunsvicensium (wie Anm.48) Bd. I. S.781-784. Vgl. Ecken, Scriptores (wie Anm.<45)S.120. st Vg!. Origines Guelficae, ex iIIustrium virorum Godofredi Guilielmi Leibnitii, loh. Georgii Eccardi, et loh. Danielis Gruben schedis manuscriptis editum curante Christiano Ludovico Scheidio I.C. <4Bde. 175CH753. 52 Vg!. Hermann Grate: Geschichte der Welfischen Stammwappen. 1863. S.11, 13. 53 Vgl, www.welfen.de. 54 Vg!. Bernd Schneidmü/ler. Welf IV. 1101-200t. Kreationen fürstlicher Zukunft. In: Bauerl Becher, Welf IV. (wie Anm.15) S.9. I l ----~----~~------~

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zenahn in der Erinnerung zugeschrieben werden konnte. Und es gilt vor allem für die Vorstellung, man könne für die Entwicklung des adligen Selbstverständnisses von ei- nem kontinuierlichen Prozeß sprechen. Bei den Welfen des hohen Mittelalters war dies keineswegs der Fall.