Der Verfasser Der ›Historia Welforum‹ Zwischen Heinrich Dem Löwen Und Den Süddeutschen Ministerialen Des Welfischen Hauses
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Der Verfasser der ›Historia Welforum‹ zwischen Heinrich dem Löwen und den süddeutschen Ministerialen des welfischen Hauses VON MATTHIAS BECHER Die Adelsgeschichte ist seit langem ein Schwerpunkt mediävistischer Geschichtsfor- schung. Dabei stehen nicht nur Probleme der Genealogie oder der Besitzgeschichte im Mittelpunkt des Interesses, sondern mehr und mehr auch die Frage nach dem Selbstver- ständnis adliger Geschlechter1). Insbesondere Karl Schmid hat sich auf diesem Gebiet gro- ße Verdienste erworben2). In seiner Arbeit über das welfische Selbstverständnis im Hoch- mittelalter hat er der Forschung entscheidende Impulse gegeben und die Historia Welfo- rum als das Hauptwerk des welfischen Traditionszusammenhanges beschrieben3). Zu die- sem gehören außerdem die kurz vor 1126 am süddeutschen Hof Welfs VI. entstandene Ge- 1) Vgl. etwa die Beiträge zu der Tagung ›Staufer, Welfen, Zähringer. Ihr Selbstverständnis und ihre Ausdrucksformen‹, in: ZGO 134 (1986); im einzelnen: K. Schmid, Zur Entstehung und Erforschung von Geschlechterbewußtsein, ebd., S.21–33; Gerd Althoff, Anlässe zur schriftlichen Fixierung adli- gen Selbstverständnisses, ebd., S.34–46; O.G. Oexle, Adliges Selbstverständnis und seine Verknüp- fung mit dem liturgischen Gedenken – das Beispiel der Welfen, ebd., S.47–75; Hansmartin Schwarz- maier, Staufer, Welfen und Zähringer im Lichte neuzeitlicher Geschichtsschreibung, S.76–87. 2) K. Schmid, Über das Verhältnis von Person und Gemeinschaft im früheren Mittelalter, in: Früh- mittelalterliche Studien 1 (1967) S.225–249; ders., Heirat, Familienfolge, Geschlechterbewußtsein, in: Il matrimonio nella società altomedievale (Settimane di studio del centro italiano di studi sull’alto medioevo 24) Spoleto 1977, S.103–137; ND beider Beiträge in: ders., Gebetsgedenken und adliges Selbstverständnis im Mittelalter. Ausgewählte Beiträge, Sigmaringen 1983, S.363–387 u. S.388–423; vgl. O.G. Oexle, Gruppen in der Gesellschaft. Das wissenschaftliche Oeuvre von Karl Schmid, in: Frühmittelalterliche Studien 28 (1994) S.410–423. 3) Historia Welforum, neu hg., übers.u. eingeleitet von Erich König (Schwäbische Chroniken der Stauferzeit 1), Stuttgart u.a. 1938, S.2–75; K. Schmid, Welfisches Selbstverständnis, in: Adel und Kir- che. G. Tellenbach zum 65. Geburtstag dargebracht von Freunden und Schülern, hg. von J. Flek- kenstein und K. Schmid, Freiburg u.a. 1968, S. 389–416, ND in: ders., Gebetsgedenken (wie Anm.2), S.424–453; zur Chronik allgemein vgl. auch Wilhelm Wattenbach und Franz-Joseph Schmale, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vom Tode Kaiser Heinrichs V. bis zum Ende des Interregnum, Bd.1, Darmstadt 1976, S.298–302; Peter Johanek, Art. ›Historia Welforum‹, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, begründet von Wolfgang Stammler, fortgeführt von Karl Langosch, zweite, völlig neu bearbeitete Auflage hg. von Kurt Ruh zusammen mit G. Keil u.a., Bd.4, Berlin 1983, Sp.61–65; Ders., Art. ›Historia Welforum‹, in: Lexikon des Mit- telalters, Bd.5, München u.a. 1991, Sp.44f. 348 MATTHIAS BECHER nealogia Welforum4) und die sogenannte sächsische Welfenquelle, die zwischen 1132 und 1137 wahrscheinlich im Kloster St. Michael in Lüneburg verfaßt wurde5). Die welfische Geschichtsschreibung ist damit nicht nur das früheste Beispiel einer adligen Historiogra- phie im Reich nördlich der Alpen, sondern zeichnet sich zudem durch eine große Vielfalt aus. Der Autor der Historia Welforum nahm die verschiedenen Traditionsstränge auf und verfaßte eine beeindruckende Chronik des Welfenhauses, die vom ersten Träger des Wel- fennamens zur Zeit Karls des Großen und Ludwigs des Frommen bis zum Tod Welfs VII. im Jahr 1167 reicht6). Wer aber war dieser Autor, in wessen Auftrag und in welcher Situa- tion verfaßte er sein Werk? Wie viele mittelalterliche Geschichtswerke ist die zwischen 1167 und 1174 entstandene Historia Welforum nur anonym überliefert7). Man wird daher kaum erwarten können, den Verfasser namhaft machen zu können. Aber zumindest das Umfeld läßt sich näher eingren- zen. Derzeit geht man davon aus, daß die Historia Welforum am Hof Welfs VI. entstanden 4) Genealogia Welforum, ed. Georg Waitz, Über eine alte Genealogie der Welfen, in: Abhandlungen der königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, phil.-hist. Klasse, 2. Abh. (1881) S.13–15 = MGH SS 13, Hannover 1881, S.733f.; ND in: König (wie Anm.3), S.76–80; vgl. Waitz, Genealogie, passim; Karl Schmid, Probleme um den ›Grafen Kuno von Öhningen‹ Ein Beitrag zur Entstehung der welfischen Hausüberlieferung und zu den Anfängen der staufischen Territorialpolitik im Boden- seegebiet, in: Dorf und Stift Öhningen, hg. von Herbert Berner, Singen 1966, S. 43–94, ND in: Ge- betsgedenken (wie Anm.2), S.127–179; ders., Welfisches Selbstverständnis (wie Anm.3), S.391f.; Wattenbach und Schmale (wie Anm.3), S.296ff.; Oexle, Adliges Selbstverständnis (wie Anm.1), S.50f.; eine andere Abfassungszeit und einen anderen Zweck erwägt Gerd Althoff, Heinrich der Löwe und das Stader Erbe. Zum Problem der Beurteilung des ›Annalista Saxo‹, in: DA 41 (1985) S.66– 100, S.99 Anm.120; ders., Verwandte, Freunde und Getreue. Zum politischen Stellenwert der Grup- penbildungen im früheren Mittelalter, Darmstadt 1990, S.76; dazu jetzt Otto Gerhard Oexle, Welfi- sche Memoria. Zugleich ein Beitrag über adlige Hausüberlieferung und die Kriterien ihrer Erfor- schung, in: Die Welfen und ihr Braunschweiger Hof im Hohen Mittelalter, hg. von Bernd Schneid- müller (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 7), Wiesbaden 1995, S.61–94, S.73f. 5) Zu erschließen aus dem Annalista Saxo a. 1126, ed. Georg Waitz (MGH SS 6), Hannover 1844, S.764f. und dem Anhang IV der Sächsischen Weltchronik, ed. Ludwig Weiland (MGH Deutsche Chroniken 2), Hannover 1877, S.274–276; ND in: König (wie Anm.3), S.80–86; vgl. Schmid, Welfi- sches Selbstverständnis (wie Anm.3), S.392ff.; O. G. Oexle, Die ›sächsische Welfenquelle‹ als Zeug- nis der welfischen Hausüberlieferung, in: DA 24 (1968) S.435–497; ders., Bischof Konrad von Kon- stanz in der Erinnerung der Welfen und der welfischen Hausüberlieferung während des 12. Jahrhun- derts, in: Freiburger Diözesan-Archiv 95 (1975, = Der heilige Konrad – Bischof von Konstanz. Stu- dien aus Anlaß der tausendsten Wiederkehr seines Todesjahres, hg. von Helmut Maurer, Walter Müller und Hugo Ott) S.7–40, S.16ff., 36ff.; Wattenbach und Schmale (wie Anm.3), S.297f.; an- dere Bewertung bei Althoff, Stader Erbe (wie Anm.4), S.86ff.; dazu Oexle, Welfische Memoria (wie Anm.4), S.74ff. 6) Zu den verschiedenen Kernen der welfischen Überlieferung vgl. Schmid, Welfisches Selbstver- ständnis (wie Anm.2), S.397ff.; Oexle, Bischof Konrad (wie Anm.5), S.26ff. 7) König, Einleitung (wie Anm.3), S.VIII. DER VERFASSER DER ›HISTORIA WELFORUM‹ 349 sei, ja, daß dieser Fürst die Chronik in Auftrag gegeben habe8). Sie wird daher bisweilen als Kronzeuge für ein sich auseinanderentwickelndes Selbstverständnis des süddeutschen und des norddeutschen Welfenhofes, also Welfs VI. und seines Neffen Heinrich des Löwen an- geführt9). Allerdings spricht der Chronist Heinrich den Löwen an einer Stelle seines Wer- kes mit dominus noster an10), während er Welf VI. diese Bezeichnung vorenthält. Diesen als Auftraggeber der Chronik anzusehen, ohne dabei die besondere Wertschätzung des Ver- fassers für Heinrich den Löwen zu berücksichtigen, erscheint daher nicht angebracht11). Andererseits ist es zumindest auf den ersten Blick eher unwahrscheinlich, daß Verbindun- gen zwischen dem vor allem in Sachsen tätigen Heinrich den Löwen und dem Verfasser die- ser süddeutschen Chronik existierten. Erich König, der die Historia Welforum zuletzt herausgegeben und übersetzt hat, ordne- te sie als erster dem unmittelbaren Umkreis Welfs VI. zu12). Zunächst wies er die ältere Auf- fassung zurück, die Chronik sei im Kloster Weingarten entstanden. Dann bemühte er sich, den Standort des Verfasser näher zu lokalisieren und kam zu dem Schluß, daß dieser im oberschwäbischen Herrschaftsgebiet der Welfen tätig war. Dabei schloß König einen Mönch als möglichen Autor aus: »Er spricht überall vom Standpunkte des Welfenge- schlechts aus, ja er setzt sich an vielen Stellen mit ihm geradezu gleich. Es muß also ein Weltgeistlicher sein, der – etwa als unehelicher Sproß – diesem Geschlechte selber angehört hat oder ihm zum mindesten besonders nahe gestanden hat, als ein in seinen unmittelbaren Diensten tätiger Mann, dem die Angehörigen der Familie den Stoff zu seiner Erzählung ge- liefert haben. Und da in der zweiten Hälfte immer stärker Welf VI., das Haupt ihres süd- deutschen Zweiges, in den Vordergrund tritt, so wird man in erster Linie an jemand zu den- 8) Vgl. etwa Hans Patze, Adel und Stifterchronik. Frühformen territorialer Geschichtsschreibung, in: BlldtLG 100 (1964) S.8–81 und 101 (1965) S.67–128, S.109ff.; Karin Feldmann, Herzog Welf VI. und sein Sohn. Das Ende des süddeutschen Welfenhauses. Mit Regesten, Diss. phil. Tübingen 1971, S.98; Wattenbach und Schmale (wie Anm.3), S.300; Joachim Bumke, Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland 1150–1300, München 1979, S.142; Oexle, Adliges Selbstverständnis (wie Anm.1), S.48; Peter Seiler, Welfischer oder königlicher Fu- ror? Zur Interpretation des Braunschweiger Burglöwen, in: Die Romane von dem Ritter mit dem Lö- wen, hg. von Xenia von Ertzdorff (Chloe. Beihefte zum Daphnis 20) Amsterdam 1994, S.135–183, S.150; Hans Pörnbacher, Welf VI. und die Literatur, in: Welf VI. Wissenschaftliches Kolloquium zum 800. Todesjahr Welfs VI. im Schwäbischen Bildungszentrum Irsee, hg.