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Rosa-Luxemburg-Stiftung –Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung - Seminarmaterialien

A u s g e w ä h l t e L i t e r a t u r z u r

P r o b l e m a t i k d e r T ä t e r d e s

H o l o c a u s t

Dr. Reiner Zilkenat, November 2004

1 Rosa-Luxemburg-Stiftung –Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung - Seminarmaterialien

Vorbemerkung

Die Anzahl der Veröffentlichungen zu den Tätern im Holocaust ist in den vergangenen Jahren stark angestiegen. Fast könnte man sagen, es habe sich die Täter – Forschung als eine eigenständige Disziplin innerhalb der Zeitgeschichtsschreibung etabliert.1 Dabei geht es nicht nur um biographische Studien von so genannten Schreibtischtätern, die zum Beispiel im Reichssicherheitshauptamt den Völkermord an den europäischen Juden planten und organisierten. Immer stärker geraten die „kollektiven“ Biographien der mit dem Holocaust befassten Funktionseliten des deutschen Faschismus in den Fokus der Historiker. Hier wird der Versuch unternommen, die Frage zu beantworten, ob es übereinstimmende Merkmale, z.B. in der Sozialisation, in der weltanschaulichen Ausrichtung und im beruflichen Werdegang dieser Personengruppe gibt. Zugleich geraten im wachsenden Maße die „Exzess-Täter“ in das Blickfeld der Forschung. Was bewog die Mörder in den Einsatzgruppen, den Polizei-Bataillonen, aber auch die am Holocaust beteiligten Täter aus den Reihen der , sich ohne erkennbare Skrupel an brutalen Ghetto-Räumungen, an der Jagd auf versteckt gehaltene Juden und an Deportationen sowie schließlich an den Massenerschießungen von wehrlosen Männern, Frauen und Kindern zu beteiligen? Wie sind die menschenverachtenden Handlungen der in den Vernichtungslagern stationierten Wachmannschaften und Ärzte der SS zu erklären? Dabei werden zunehmend private Aufzeichnungen, Briefe an Familienangehörige und Freunde sowie Photographien als von den Historikern bislang vernachlässigte bzw. völlig unberücksichtigte Quellen ausgewertet, um Hinweise und Aufschlüsse über die je individuellen Motive und Rechtfertigungen für das verbrecherische Handeln der Täter, besonders in den vom deutschen Faschismus okkupierten Ländern, zu erhalten. Vor allem sind die Begriffe „Täter“ und „Täterschaft“ selbst stärker differenziert und zugleich weit über den ursprünglich in diesem Zusammenhang bezeichneten Personenkreis ausgedehnt worden. Gerhard Paul – einer der profiliertesten „Täter – Forscher“ – unterscheidet dabei Weltanschauungstäter, die auf allen Hierarchie – Ebenen anzutreffen gewesen seien; utilitaristisch orientierte Täter, die „vor dem Hintergrund antisemitischer Vorprägungen...Juden als ‚überflüssige Esser’ im Kampf um die knapper werden Ressourcen“2 betrachteten; kriminelle Exzesstäter, die „vorrangig aus niederen sexuellen und materiellen Motiven“3 handelten und schließlich traditionelle Befehlstäter, wie sie zum Beispiel in den mordenden Polizei – Bataillonen anzutreffen gewesen seien. In immer zahlreicheren Veröffentlichungen geht darüber hinaus um die „Mit-Täter“ in dem Sinne, dass sich viele „gewöhnliche“ Deutsche bereichert, dass sie zu einem erheblichen Teil wissentlich profitiert haben von der Diskriminierung, Entrechtung und physischen Vernichtung der Juden Europas. Viele Mitarbeiter in Behörden, Institutionen und Körperschaften waren zudem auf ihre Weise an der Vorbereitung und Realisierung der judenfeindlichen Politik der Nazis und des Holocaust beteiligt, sei es in den Finanzämtern oder bei der Deutschen Reichsbahn, sei es in den berufsständischen Kammern oder an den Universitäten und Hochschulen. Historische Verantwortung und Schuld kann so nicht länger allein auf die Himmler und Heydrich, Kaltenbrunner und Eichmann sowie an die „Exzess- Täter“ abgeladen, gleichsam an sie delegiert werden. Mit den Worten von Hans Mommsen:

1 Einschlägige Studien erscheinen vor allem in den Periodika „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“, „Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus“, „Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte“, „Holocaust and Genocide Studies“ sowie im „Bulletin für Faschismus- und Weltkriegsforschung“. 2 Gerhard Paul, Von Psychopathen, Technokraten und „ganz gewöhnlichen Deutschen“, in: derselbe, Hrsg., Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche?, 2. Aufl., Göttingen 2003, S. 61. 3 Ebenda. 2 Rosa-Luxemburg-Stiftung –Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung - Seminarmaterialien

„Das Menetekel dieses Geschehens ist nicht zuletzt darin zu erblicken, dass die übergroße Mehrheit der Bevölkerung sich den gegen die Juden...gerichteten Gewalt- und Terrormaßnahmen nicht zu widersetzen wagte. Daher kann sich die deutsche Nation als ganzes von dem Vorwurf gestufter Komplizenschaft an dem Menschheitsverbrechen der Shoah nicht freisprechen.“4 Dieser Literaturbericht zur Problematik der Täter des Holocaust stellt selbstverständlich nur eine knappe Auswahl aus einer rasch anwachsenden und mittlerweile nur noch schwer überschaubaren Zahl einschlägiger Publikationen vor. Er soll aber einen ersten Eindruck über wichtige Veröffentlichungen zur Thematik bieten, vor allem aber andeuten, in welche Richtungen sich die gegenwärtige Forschung bewegt und welche Kontroversen dabei ausgetragen werden.

Götz Aly u. Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, 4. Auflage, Fischer Taschenbuch Verlag, am Main 2001. Die Autoren nehmen in dieser Studie Täter-Gruppen in den Blick, die bislang nicht oder nur in unzureichender Weise Gegenstand der Holocaust-Forschung waren: Wirtschafts-, Agrar- und Bevölkerungswissenschaftler sowie juristisch ausgebildete Verwaltungsfachleute, deren Ausarbeitungen eine völlige Neuordnung Europas unter der Dominanz des deutschen Faschismus zum Ziel hatten. In diesem Zusammenhang planten sie nicht zuletzt die völlige Neugestaltung von „Siedlungsräumen“, ungeachtet bestehender Grenzen, vor allem aber die „Beseitigung“ von vielen Millionen so genannten unnützen, weil „unproduktiven“ Essern im Osten Europas. Hierzu zählten sie in erster Linie die jüdischen Einwohner in Polen, der Sowjetunion und anderen Gebieten Mittel- und Osteuropas. Die Denkweise und die Sprache dieser Funktionselite des deutschen Faschismus lassen den Leser nicht selten erschaudern. Wertvoll sind die in den Text einmontierten Kurzbiographien einiger dieser „Vordenker der Vernichtung“, wie z.B. des Staatssekretärs im Reichsernährungsministerium Herbert Backe oder des Wirtschaftswissenschaftlers und „Ostraum-Spezialisten“ Prof. Dr. Theodor Oberländer. Die zahlreichen Hinweise auf die erfolgreichen Karrieren vieler dieser „Vordenker der Vernichtung“ nach 1945 stimmen nachdenklich und zornig zugleich. Alles in allem: Ein Standardwerk zur Täter-Forschung.

Götz Aly, „Endlösung“. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 1998. Diese Darstellung des Holocaust, die 1939 beginnt und mit der so genannten Wannsee- Konferenz im Januar 1942 endet, entwickelt die Darstellung der „Vordenker der Vernichtung“ (siehe unter Aly/Heim) weiter. Auch in diesem Band werden die Motive der Täter bzw. Tätergruppen ausführlich analysiert, vor allem die Zusammenhänge des Völkermordes an den europäischen Juden mit den weitgespannten imperialen Zielen des deutschen Faschismus, deren Formulierung den Funktionseliten in der SS- nicht zuletzt im Reichssicherheitshauptamt -, in verschiedenen Bürokratien und in wissenschaftlichen Stäben erfolgte. Das Buch endet mit den „Nachsätzen der Mörder“ (S. 403-413), einer gelungenen Zusammenstellung prägnanter und offen formulierter Motive des Judenmordes durch Hitler, Goebbels, Eichmann und anderer planender wie „Exzess“-Täter.

4 Hans Mommsen, Auschwitz, 17. Juli 1942. Der Weg zur europäischen „Endlösung der Judenfrage“, München 2002, S. 189. Vgl. auch Robert Gellately, Hingeschaut und weggesehen. Hitler und sein Volk, Stuttgart u. München 2002, S. 213ff. 3 Rosa-Luxemburg-Stiftung –Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung - Seminarmaterialien

Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Mit einem einleitenden Essay von Hans Mommsen, Piper Verlag, 12. Aufl., München 2002. Entstanden ist dieses Buch aus der Zusammenfassung von Reportagen über den 1961 in Jerusalem durchgeführten Eichmann-Prozess, die Hannah Arendt für den „New Yorker“ verfasste - bis zum heutigen Tag die meinungsbildende Zeitschrift liberaler Intellektueller in den USA. „Eichmann in Jerusalem“ schlug aus vielerlei Gründen hohe Wellen. Unter anderem deshalb, weil die Autorin die (erzwungene) Zusammenarbeit jüdischer Organisationen und der so genannten Judenräte mit den Nazi-Terroristen herausarbeitete – bis dahin ein Tabu-Thema in Israel und bei den Überlebenden des Holocaust -, und weil sie die Juden durchaus nicht nur in einer historischen Opferrolle sah, die seit Jahrtausenden ihre Existenz geprägt habe. Angesichts der gegenwärtigen Gedenkveranstaltungen, Fernsehsendungen und Buchpublikationen zum 60. Jahrestag des Attentats vom 20. Juli 1944 sei auch auf Arendts Analysen von Dokumenten der Verschwörer zur „Judenfrage“ hingewiesen. Zu Recht weist sie z.B. darauf hin, dass der als Reichskanzler vorgesehene Carl Goerdeler, der am 2. Februar 1945 in Berlin – Plötzensee erhängt wurde, zwar die Juden für ihre erlittenen Verluste und Misshandlungen „entschädigen“, zugleich aber die Überlebenden aus Deutschland nach Übersee in einen selbständigen Staat verbringen wollte (vgl. S. 186ff.). Antisemitische Ressentiments, ja, durchaus festgefügte judenfeindliche Einstellungen und Überzeugungen seien bei den vorzugsweise aus dem Offizierskorps und gehobenem Bürgertum stammenden Widerständlern durchaus verbreitet gewesen. Besonders umstritten war und bleibt Hannah Arendts Bild von . Über ihn schreibt sie u.a.: „Außer einer ganz ungewöhnlichen Beflissenheit, alles zu tun, was seinem Fortkommen dienlich sein konnte, hatte er überhaupt keine Motive...Er hat sich...niemals vorgestellt, was er eigentlich anstellte...Es war gewissermaßen schiere Gedankenlosigkeit..., die ihn dafür prädisponierte, zu einem der größten Verbrecher jener Zeit zu werden..“ (S.56f.) In Anbetracht der inzwischen vorliegenden Forschungsergebnisse über die maßgeblichen Schreibtisch- wie Exzesstäter im Holocaust, darunter auch Adolf Eichmann, ist diese These Arendts nicht haltbar.5 Eichmann und seinesgleichen waren in der Wolle gefärbte, militante und unversöhnliche Antisemiten, die genau wussten, warum sie die Juden Europas physisch vernichten wollten. Die „weltanschauliche“ Komponente stand durchaus im Zentrum ihres Handelns, weniger eine unspezifische Bürokraten-Mentalität ohne jegliche Eigeninitiative, die sie alles ausführen ließ, was „von oben“ befohlen wurde. Eher umgekehrt: Was „von oben“ befohlen wurde, stimmte nahtlos mit den eigenen Vorstellungen und Überzeugungen überein. Auf Eichmanns Selbstinszenierung vor Gericht, der hier die Rolle des im Reichssicherheitshauptamt agierenden „kleinen Rädchens im Getriebe“ spielte, fiel jedoch nicht nur Hannah Arendt herein. So antwortete Eichmann auf die Bemerkung des israelischen Vernehmungs – Offiziers Hauptmann Less, er stelle seinen Anteil an den Judendeportationen immer so dar, als sei er „lediglich ein Transportoffizier gewesen und nichts mehr“: „Was in derRegel auch gewesen ist, Herr Hauptmann.“6 Schade ist es, dass der einleitende Essay aus der Feder von Hans Mommsen aus dem Jahre 1986 stammt und deshalb die Thesen und Interpretationen Hannah Arendts nicht im Lichte der neueren Holocaust-Forschung bewerten kann. Insgesamt: Nach wie vor ist und bleibt dieses Buch – bei aller Notwendigkeit einer historisierenden Lektüre – eine Pflichtlektüre für alle, die sich mit den Tätern im Holocaust beschäftigen wollen.

5 Vgl. hierzu weiter unten die Rezension des Buches von Irmtrud Wojak, Eichmanns Memoiren. 6 Jochen v. Lang, Das Eichmann – Protokoll. Tonbandaufzeichnungen der israelischen Verhöre, Berlin 192, S. 112. 4 Rosa-Luxemburg-Stiftung –Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung - Seminarmaterialien

Jens Banach, Heydrichs Elite. Das Führerkorps der Sicherheitspolizei und des SD 1936- 1945, Schöningh Verlag, 3., durchgesehene u. erweiterte Auflage, Paderborn 2003. Zusammen mit Michael Wildts Studie über das Führerkorps des Reichssicherheitshauptamtes (siehe unten) ist dieses Buch „das“ Standardwerk zur sozialen Herkunft und Sozialisation, zur Ideologie und zu den Karrieren führender SS-Offiziere im „Dritten Reich“, wobei es hier in erster Linie um die kollektiven Biographien leitender Kader der Kriminalpolizei, der und des „Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS“ handelt. Sehr nützlich ist das Nachwort zur 3. Auflage: „Anmerkungen zur neuesten Forschung“ (S. 359ff.), in dem die einschlägigen Publikationen zur Thematik vorgestellt werden, die seit der Mitte der neunziger Jahre veröffentlicht worden sind.

Richard Breitman, Der Architekt der „Endlösung“. Himmler und die Vernichtung der europäischen Juden, Schöningh Verlag, Paderborn 1996, S. 325ff. Hierarchisierung der Schuld; Unterscheidung zwischen „treibenden Kräften“, den „unmittelbar Beteiligten“ an der Vernichtung der Juden und der Gesellschaft in Nazi- Deutschland, die „im großen ganzen das Programm nicht ablehnte“ (326). Klar herausgearbeitet wird die zentrale Rolle Himmlers als des zentralen Organisators und Ideologen des Völkermordes an den europäischen Juden.

Christopher R. Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen. Mit einem Nachwort (1998), Neuausgabe, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1999. Der Autor schildert die willfährige Teilnahme von Angehörigen der Hamburger Polizeireserve am Judenmord in Polen. Nur 12 von 500 Angehörigen des Bataillons nahmen das vom Kommandeur der Einheit unterbreitete Angebot wahr, nicht an den Vernichtungsaktionen teilzunehmen. Übrigens wurde kein einziger Polizist, der sich weigerte, an den barbarischen Tötungsaktionen teilzunehmen, bestraft, sondern schlimmstenfalls von seinen Kameraden gehänselt oder „geschnitten“. Allerdings blieb es ihnen nicht erspart, sich z.B. an der Jagd auf Juden und an anderen Aktionen zur organisatorischen Vorbereitung und Durchführung der Morde zu beteiligen. Browning schildert die blutige Spur, die das Morden des Bataillons hinterließ. Er hat hierzu in den Akten der „Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen“ in Ludwigsburg, die bundesweit für die Strafverfolgung von Nazi – Verbrechen zuständig war, und im Yad – Vashem – Archiv in Jerusalem aussagekräftiges Material gefunden und aufbereitet. Statistiken, „Erfolgsmeldungen“ und Briefe der Täter veranschaulichen dem Leser, mit welch’ unerhörter Brutalität und Menschenverachtung Tausende unschuldiger Menschen ermordet wurden. Die Angehörigen des Bataillons – in der Regel zu alt für den regulären Fronteinsatz bei der Wehrmacht – stammten vornehmlich „aus Deutschlands unteren Gesellschaftsschichten. Soziale und geographische Mobilität war ihnen fremd“ (S. 69). Etwa jeder Vierte von ihnen war Mitglied der NSDAP. Browning scheut nicht davor zurück, die genauen Umstände der Mordaktionen aus den Quellen zu rekonstruieren, denen oft menschenverachtende Demütigungen der Opfer vorausgingen, an deren Leiden und Ängsten sich nicht wenige der Mörder in Polizeiuniformen ergötzten. Eine besonders schwierige Lektüre sind die zitierten Briefe oder

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Zeugenaussagen, in denen das verbrecherische Handeln gegenüber den Juden im besetzten Polen sogar noch gerechtfertigt werden soll. So sagte beispielsweise in einem späteren Gerichtsverfahren in der Bundesrepublik der Angeklagte Alfred B., ein fünfunddreißigjähriger Metallarbeiter aus Bremerhafen, aus: „Ich habe mich...bemüht, nur Kinder zu erschießen. Es ging so vor sich, dass die Mütter die Kinder bei sich an der Hand führten. Mein Nachbar erschoss dann die Mutter und ich das dazugehörige Kind, weil ich mir aus bestimmten Gründen sagte, dass das Kind ohne seine Mutter doch nicht mehr leben konnte. Es sollte gewissermaßen eine Gewissensberuhigung für mich selbst sein, die nicht ohne ihre Mutter mehr lebensfähigen Kinder zu erlösen.“ (S. 107) Im Kapitel „Ganz normale Männer“, das dem Band insgesamt auch den Titel gab, untersucht der Verfasser die Ursachen für die bereitwillige Mitwirkung der Angehörigen an der Jagd auf Juden und ihre Ermordung. Brownings Schlussfolgerung in diesem Zusammenhang lautet: „Das kollektive Verhalten des Reserve-Polizeibataillons 101 hat aber zutiefst beunruhigende Implikationen. Es gibt auf der Welt viele Gesellschaften, die durch rassistische Traditionen belastet und aufgrund von Krieg oder Kriegsdrohungen in einer Art Belagerungsmentalität verfangen sind. Überall erzieht die Gesellschaft ihre Mitglieder dazu, sich der Autorität respektvoll zu fügen, und sie dürfte ohne diese Form der Konditionierung wohl auch kaum funktionieren. Überall streben die Menschen nach beruflichem Fortkommen. In jeder modernen Gesellschaft wird durch die Komplexität des Lebens und die daraus resultierende Bürokratisierung und Spezialisierung bei den Menschen, die die offizielle Politik umsetzen, das Gefühl für die persönliche Verantwortung geschwächt. In praktisch jedem sozialen Kollektiv übt die Gruppe, der eine Person angehört, gewaltigen Druck auf deren Verhalten aus und legt moralische Wertmaßstäbe fest. Wenn die Männer des Reserve-Polizeibataillons 101 unter solchen Umständen zu Mördern werden konnten, für welche Gruppe von Menschen ließe sich dann noch Ähnliches ausschließen ?“ (S. 246f.) Ohne Unvergleichbares miteinander vergleichen zu dürfen: Tatsächlich stellen sich angesichts bestimmter Fotos und Fernsehbilder zur Zeit ganz bestimmte Assoziationen ein, liest man diese warnenden Aussagen Christopher R. Brownings.

Christopher R. Browning, Der Weg zur “Endlösung”. Entscheidungen und Täter, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2002. Interessant vor allem die Studie „Bürokratie und Massenmord: Was deutsche Verwaltungsbeamte unter ‚Endlösung’ verstanden (S. 113ff.). Browning vertritt die Auffassung, dass „es für nationalsozialistische Verwaltungsbeamte, die sich schon explizit der ‚Lösung der Judenfrage’ verschrieben hatten, zum Massenmord nur ein weiterer Schritt und kein Quantensprung war. Sie hatten sich bereits einer politischen Bewegung, einer Karriere und einer Aufgabe verschrieben. Sie lebten in einem Umfeld, das schon von Massenmord durchdrungen war...Durch die Art ihrer bisherigen Aktivitäten hatten diese Männer Ansichten und Karriereinteressen entwickelt, die unauflösbar und unerbittlich zu einer...mörderischen ‚Lösung’ der ‚Judenfrage’ führten.“ (S. 134)

Christopher R. Browning, Die Entfesselung der „Endlösung“. Nationalsozialistische Judenpolitik 1939 – 1942. Mit einem Beitrag von Jürgen Matthäus, Propyläen Verlag, München 2003. Dieser Band erscheint in der Reihe „The Comprehensive History of “. Zum Thema „Täter im Holocaust“ ist Brownings Darstellung eine wahre Fundgrube. Aufbauend auf der umfangreichen, einschlägigen Literatur und angereichert durch eigene Archivstudien, haben er und sein Co-Autor Jürgen Matthäus die komplizierten

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Entscheidungsabläufe aufzuhellen versucht, die schließlich in das Programm zur Vernichtung der europäischen Juden einmündeten. Sowohl die individuell verantwortlichen Täter in ihren je unterschiedlichen Funktionen als auch die Institutionen, die den Holocaust planten und durchführten, werden beim Namen genannt. Brownings Urteile sind dabei deutlich und hart. Zur Nazi-Wehrmacht heißt es z.B.: „Weil sie es versäumte, in Polen (nach der Okkupation und den hier seit Ende 1939 begangenen Verbrechen – R.Z.) eine klare Grenze zu ziehen, wurde die Wehrmacht zum ‚Komplizen’ des Regimes. Sie sollte danach nie wieder in der Lage sein, prinzipiell Stellung gegen Verbrechen des NS-Regimes zu beziehen, obwohl sie dem Nazimoloch durch ihre militärischen Eroberungen immer mehr Opfer zuführte.“ (S. 42). Ausführlich werden die Vorbereitungen der SS auf den Überfall gegen die damalige Sowjetunion analysiert (S. 332ff.), detailliert sind die sich steigernden Mordaktionen der Einsatzgruppen aufgelistet. Immer wieder werden dabei auch die teilweise kaum zu ertragenden Grausamkeiten geschildert, mit denen die brutalen Mörder der SS, der Reserve- Polizei-Bataillone oder anderer Formationen zu Werke gingen (z.B. S. 375). „Menschenskinder, verflucht noch mal, eine Generation muss dies halt durchstehen, damit es unsere Kinder besser haben“ (S. 373) – mit diesen Worten versuchte ein Schutzpolizist aus Memel, der an Massentötungen von Juden beteiligt war, sein „Gewissen“ zu beruhigen. Brownings Fazit zur Haltung der Masse der deutschen Bevölkerung hinsichtlich des Holocaust: „Die Lösung der ‚Judenfrage’ durch das letztliche Verschwinden der Juden – irgendwann und irgendwie –erschien als Selbstverständlichkeit.“ (S. 616). Angesichts der anhaltenden Debatten über den Anteil der Wehrmacht am Holocaust, sind die Passagen in Brownings Darstellung besonders erhellend, die sich mit der Kooperation des faschistischen Militärs mit der SS und den Polizeieinheiten, die hinter den Frontlinien ihr blutiges Werk vollbrachten, befassen. Der Autor kann den Nachweis erbringen, dass die Zusammenarbeit – vor allem im Kampf gegen tatsächliche oder vermeintliche Partisanen – prinzipiell reibungslos funktionierte. Bei der Wehrmacht sei man sich durchaus darüber im klaren gewesen, dass „Jude“ und „Partisan“ von der SS als Synonyme benutzt und auch Frauen und Kinder unter dem Vorwand der „Partisanenbekämpfung“ ermordet wurden (vgl. z.B. S. 406ff.). Auch die Wehrmacht selbst handelte nach dieser „Logik“: „Nach Auffassung des Abwehroffiziers der 211. Sicherungsdivision bestand der Schlüssel zur ‚totalen politischen und wirtschaftlichen Befriedung’ in der ‚souveränen Beherrschung dieses alten Volkstumskampfes unter gleichzeitiger Ausmerzung des Judentums’. Dieser Strategie folgten die Militärs überall in der besetzten Sowjetunion, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität.“ (S. 406f.) Bereits am Vorabend des Überfalls auf die Sowjetunion hatten Armee – Kommandeure in ihren jeweiligen Befehlen die unmittelbar bevorstehende Aggression als Weltanschauungskrieg gegen den „jüdischen Bolschewismus“ charakterisiert und damit schon die Massaker gegen die jüdische Bevölkerung quasi legitimiert. So sprach z.B. Generaloberst Hoeppner, später als Widerständler am 8. August 1944 in Berlin – Plötzensee hingerichtet – Anfang Mai 1941 als Kommandeur der Panzergruppe 4 in einem Befehl vom Krieg gegen die Sowjetunion als „Verteidigung europäischer Kultur gegen moskowitisch – asiatische Überschwemmung“ und der „Abwehr des jüdischen Bolschewismus“ (S. 367). Auffällig ist, dass Browning, wenn von Tätern die Rede ist, häufig von „den“ Deutschen spricht (hier mitunter Goldhagen ähnlich, den er seinerzeit kritisierte).7

7 Vgl. Daniel Jonah Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, vollständige Taschenbuchausgabe, München 2000 u. Christopher R. Browning, Der Weg zur „Endlösung“. Entscheidungen und Täter, Reinbek 2002, S. 173ff. 7 Rosa-Luxemburg-Stiftung –Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung - Seminarmaterialien

Wer sich künftig über die Täter und ihre Motive, die Juden Europas systematisch auszurotten, zuverlässig informieren will, muss diesen Band aus der Feder von Christopher Browning in die Hand nehmen.

Ursula Büttner, Hrsg., Die Deutschen und die Judenverfolgung im Dritten Reich, Hamburg 1992, überarbeitete Neuausgabe, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 2003. Der Sammelband enthält zahlreiche Artikel, die einzelne Aspekte der Thematik „Täter im Holocaust“ aufarbeiten. Besonders geht es dabei um den Beitrag, den „gewöhnliche“ Deutsche am Holocaust hatten. Gerade deshalb ist dieser Band überaus wichtig. Hervorgehoben seien an dieser Stelle nur der Beitrag der Herausgeberin über den „Alltag der Judenverfolgung und den Anteil der Bevölkerung“ (S. 86ff.) und Wolf Gruners Aufsatz „Die Lager für den ‚jüdischen Arbeitseinsatz’ (1938-1943) und die deutsche Bevölkerung“ (S. 160ff.). In beiden Arbeiten wird deutlich, dass Mitwisserschaft und Mittäterschaft, die von der Bereicherung auf Kosten der verfolgten Juden bis schließlich zur Teilhabe an der Vorbereitung der physischen Vernichtung der jüdischen Bürgerinnen und Bürger reichten, auf vielfache und mitunter nur schwer zu entwirrende Weise miteinander verquickt waren. Dabei trug eine „Vielzahl von Gründen dazu bei, dass die permanente Verschärfung der Judenpolitik von der Mehrzahl der Deutschen hingenommen, wenn nicht unterstützt wurde: die Erleichterung über die Überwindung der Wirtschaftskrise und der Arbeitslosigkeit, die Freude über die außenpolitischen Erfolge im Kampf gegen ‚Versailles’, das Bedürfnis, in der homogenen, scheinbar konfliktfreien ‚Volksgemeinschaft’ alle Spannungen auszugleichen, die Wirkung der jahrelangen antisemitischen Propaganda, die selbst Oppositionelle glauben ließ, dass es tatsächlich eine ‚Judenfrage’ gebe. Die Verbindung des Kampfes gegen die Juden mit dem Feldzug gegen die ‚Bolschewisten’, die Überzeugung, im Krieg um jeden Preis zusammenstehen zu müssen...Wesentlich war bei alledem aber doch die innere Distanz zu den Juden, die Anteilnahme an ihrem Schicksal verhinderte, die es erlaubte, die ‚Judenfrage’ ganz abstrakt zu behandeln und die Folgen der Entrechtung, Ausraubung, Vertreibung und Deportation zu übersehen. Die Juden waren Fremde im deutschen Volk, sie wurden nicht erst von den Nationalsozialisten dazu gemacht“ (Ursula Büttner, S. 102).

Ebbo Demandt, Hrsg., Auschwitz-„Direkt von der Rampe weg...“ Kaduk, Erber, Klehr: Drei Täter geben zu Protokoll, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1979. Drei an den Selektionen in Auschwitz beteiligte SS-Täter im Interview: Außerordentlich erhellend und informativ, zumal die bei solchen Gelegenheiten vorgetragenen Verharmlosungs- Entschuldigungs- und Verdrängungs“argumente“ hier paradigmatisch formuliert werden!

Jens Ebert u. Insa Eschebach, Hrsg., „Die Kommandeuse“. Erna Dorn – zwischen Nationalsozialismus und Kaltem Krieg, Dietz Verlag, Berlin 1994. Erna Dorn, 1911 in Tilsit geboren, gehörte zu den weiblichen Angehörigen der Geheimen Staatspolizei. In ihrer Heimatstadt versah sie zunächst ihren Dienst als Ermittlerin gegen illegal tätige Sozialdemokraten und Kommunisten, aber auch gegen solche Personen, die „Gerüchte“ verbreiteten. Seit Ende 1941 arbeitete sie in der Politischen Abteilung des Frauen- Konzentrationslagers Ravensbrück, in das auch Jüdinnen sowie Frauen eingewiesen wurden, die in so genannten Rassenschande-Prozessen wegen ihrer Beziehungen zu jüdischen Männern abgeurteilt worden waren. Nach eigener Aussage oblag ihr vornehmlich die

8 Rosa-Luxemburg-Stiftung –Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung - Seminarmaterialien erkennungsdienstliche Erfassung und Bearbeitung der KZ-Insassen, tatsächlich aber stieg sie zur verantwortlichen Leiterin der Abteilung auf. Nach der Befreiung änderte Frau Dorn ihre Identität und versuchte, ihre Spuren als Gestapo- Angehörige zu verwischen. Mehr noch: Sie legte sich eine neue Identität als Verfolgte des NS-Regimes zu, wurde Mitglied der KPD und des FDGB. 1949 erfolgte ihre Verhaftung, am 1. Oktober 1953 wird sie hingerichtet. Die Lebensgeschichte dieser NS-Täterin, vor allem aber ihre Biographie nach 1945, als sie z.B. am 17. Juni 1953 aus dem Gefängnis in Halle befreit wurde und sie sich offenbar sofort an den Aktionen der Aufständischen beteiligte,, dokumentiert dieser Band mit großer Anschaulichkeit. Insgesamt 36 Dokumente (S. 118ff.), zum Teil als Faksimiles abgedruckt, ermöglichen es dem Leser, sich sein eigenes Bild über die Persönlichkeit der Erna Dorn zu bilden, einer Frau, die womöglich stellvertretend für andere Täterinnen der Zeit des Faschismus steht.

Wolfgang Dreßen, Betrifft: „Aktion 3“. Deutsche verwerten jüdische Nachbarn. Dokumente zur Arisierung, Aufbau Verlag, Berlin 1998. Ein beunruhigendes Buch, das „gewöhnliche Deutsche“ als Profiteure der Entrechtung, Enteignung und Ermordung der Juden in Deutschland und Europa vorstellt. Entstanden ist dieser Band als Katalog einer im Stadtmuseum von Düsseldorf in den Jahren 1998/99 gezeigten Ausstellung, die übrigens 2004 auch in den Räumen des Erich – Fried – Gymnasiums in Berlin – Friedrichshain gezeigt wurde. Dem Autor gelingt die minutiöse Rekonstruktion einiger der zahllosen Aktionen, mit denen die Bereicherung der deutschen Bevölkerung realisiert wurde. Aus ganz Europa zusammengestohlenes Hab und Gut von jüdischen Deportierten wurde u.a. mit Schleppkähnen und mit Lastkraftwagen in deutsche Städte verbracht und zum Beispiel im Hamburger Hafen und in den Kölner Messehallen versteigert. An den Transporten des so genannten Judengutes war nicht zuletzt auch die heute noch existierende Großspedition Kühne und Nagel beteiligt, die fast eine monopolartige Stellung auf diesem lukrativen Markt einnahm. Um einen Eindruck von der Größenordnung der den Juden Europas geraubten Güter zu gewinnen, seien folgende Beispiele aus Dreßens Band zitiert: „Im September 1942 unternahm ein Geschäftsführer der Firma Kühne und Nagel zusammen mit Vertretern des ‚Sonderkommandos’ eine Dienstreise nach Biarritz. Sie besichtigten Möbellager und stellten befriedigt fest, dass die Feldkommandantur Dax bereits alle Juden erfasst hatte. Die jeweiligen Standortkommandanten der Wehrmacht seien überaus hilfreich, ebenso wie die örtlichen französischen Verwaltungen. Aber, so ein Resultat der Dienstreise, eine ‚Durchkämmung’ mehrerer Orte sei noch notwendig. Züge und Schiffe brachten die begehrten Gegenstände ‚vor Ort’. So fuhr im November 1942 ein Zug mit vierzig Waggons direkt nach Düsseldorf. Im Oktober 1943 verließ ein Schiff mit 3880 Kubikmetern ‚Wohnungseinrichtungen’ Antwerpen. Das Ziel war Köln, gechartert war das Schiff von der Firma Kühne und Nagel...Insgesamt brachten bis Anfang 1944 674 Züge mit mehr als 26.000 Waggons den Deutschen die ‚Entjudungsgewinne’ bis vor die Haustür.“ (S. 47f.) Über die Herkunft der Möbel, der Bekleidung und der Spielsachen gab es für alle, die zum „Schnäppchenpreis“ fündig wurden, nicht den geringsten Zweifel: „Auf den Berechnungsvordrucken stand: ‚Eigentum des Juden – der Jüdin’. Meist war diese ‚politisch korrekte’ Bezeichnung durchgestrichen und durch den handschriftlichen und durch den handschriftlichen Zusatz ‚Eigentum verschiedener Juden’ ersetzt.“ (S. 45). Die eingenommenen Gelder wurden jeweils durch den Gerichtsvollzieher, der die Versteigerung geleitet hatte, der Staatskasse überwiesen. Dreßen dokumentiert anhand von Beispielen, wie der Prozess der Enteignung der Juden bzw. der Bereicherung durch „gewöhnliche Deutsche“, Unternehmen und Körperschaften im

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„Dritten Reich“ organisiert wurde. Dabei hat er viele fotokopierte Akten in die Darstellung einbezogen, die eine besondere Anschaulichkeit vermitteln. Der Einsatz dieses Buches in der politischen Bildung und im Geschichtsunterricht erscheint ganz besonders empfehlenswert.

Christian Gerlach, Krieg, Ernährung, Völkermord. Deutsche Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, Pendo Verlag, Zürich 2001. Der Band vereinigt drei Studien, die wichtige Aspekte der Vernichtungspolitik des deutschen Faschismus beinhalten. Besonders bedeutsam ist der Artikel „Die Wannsee-Konferenz, das Schicksal der deutschen Juden und Hitlers politische Grundsatzentscheidung, alle Juden Europas zu ermorden“ (S. 79ff.). 1997 erstmals veröffentlicht, formuliert der Autor die These, dass Hitler persönlich in einer Rede am 12. Dezember 1941 vor „Reichs- und Gauleitern“ in Berlin, der weitere wichtige Besprechungen zu diesem Thema folgten, die systematische Ermordung der europäischen Juden befohlen habe. Die seitdem an dieser Auffassung geäußerte Kritik sowie Gerlachs Antikritik finden sich ausführlich auf den S. 235ff. In seinem Artikel „Die Ausweitung der deutschen Massenmorde in den besetzten sowjetischen Gebieten im Herbst 1941. Überlegungen zur Vernichtungspolitik gegen Juden und sowjetische Kriegsgefangene“ thematisiert der Autor u.a. den so genannten Hungerplan, der wesentlich vom Staatssekretär im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft, Dr. Herbert Backe, ausgearbeitet worden war und der die Vernichtung Dutzender Millionen Menschen in den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion beinhaltete, darunter auch die Ermordung sowjetischer Juden bis zum Ende des Jahres 1941. Dabei kommt Gerlach zu der Schlussfolgerung, dass „wirtschafts- und sozialpolitische Zielsetzungen zur Ausweitung der Morde beigetragen“ (S. 65) hätten, die von den Einsatzgruppen des SD, von anderen Einheiten der SS, aber auch von der Wehrmacht durchgeführt wurden. In diesem Zusammenhang tritt der Verfasser aufgrund der von ihm ausgewerteten Quellen der immer noch anzutreffenden Anschauung entgegen, in Deutschland selbst habe es eine weitest gehende Unkenntnis über den Judenmord im Osten gegeben: „Die Kenntnis, dass in den besetzten sowjetischen Gebieten die Juden in großer Zahl erschossen wurden, verbreitete sich überdies durch Urlauber, Verwundete und auf anderen Wegen. Zwar waren beispielsweise im Warthegau schon mehr oder weniger unabhängig hiervon Überlegungen zur raschen Vernichtung eines Teils der jüdischen Bevölkerung angestellt worden, doch das Wissen um die beispiellosen Morde im Osten wirkte wie ein Katalysator für neue, größere Vernichtungspläne gegen die Juden, ihre Konkretisierung und Ingangsetzung in anderen Regionen des deutsch besetzten Europa.“ (S. 78)

Daniel Jonah Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Siedler Verlag, Berlin 1996 (Taschenbuch-Ausgabe: Goldmann Taschenbuch Verlag, München 2000). S. 71ff. ausführliche Darlegung seiner These vom „eliminatorischen Antisemitismus im modernen Deutschland“, dessen logische Konsequenz in der Shoah bestanden habe. S. 439ff. die Diskussion einschlägiger Interpretationen über die Motive der Täter. „Die Täter waren als Antisemiten von der Vorstellung getrieben, dass die Juden den Tod verdienten, und waren darum auch keine gefühllosen Henker, die ihre Befehle blind ausführten.“ (S. 465) Kritisch hierzu: Dieter Pohl, Die Holocaust-Forschung und Goldhagens Thesen, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 45. Jg., 1997, 1. Heft, S. 1ff. “Der Autor unterstreicht die These, dass die NS-Täter aus der Mitte der deutschen Gesellschaft kamen. Gerade dies wirkt auf viele deutsche Leser verstörend.“ (S.42) Die lang anhaltende und mit

10 Rosa-Luxemburg-Stiftung –Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung - Seminarmaterialien wissenschaftlichen, politischen und – wie sollte es bei dieser Thematik auch anders sein? – emotionalen Argumenten geführte „Goldhagen-Debatte“ wird vor allem von dem folgenden Sammelband gut dokumentiert: Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit. Der Streit um Daniel J. Goldhagen, hrsg. v. Johannes Heil u. Rainer Erb, Frankfurt a.M. 1998.

Georg M. Hafner u. Esther Schapiro, Die Akte Alois Brunner. Warum einer der größten Naziverbrecher noch immer auf freiem Fuß ist, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2002. Die Autoren schildern die Biographie des SS-Offiziers Brunner, der u.a. die Deportation der Juden in Österreich, Frankreich und in der Slowakei organisierte und zu Eichmanns „besten Männern“ gehörte. Die Autoren zeichnen die Stationen seiner Karriere nach, wobei der grenzenlose Judenhass Brunners, den er in Interviews bis in die jüngste Vergangenheit offenbarte, als Antrieb seines Handelns deutlich gemacht wird.

Hamburger Institut für Sozialforschung, Hrsg., Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944. Ausstellungskatalog, Hamburger Edition, Hamburg 2002. Auf den S. 77ff. wird in großer Ausführlichkeit die aktive Beteiligung der Wehrmacht am Holocaust dargestellt. Eine Vielzahl von Fotos, Schaubildern und Akten-Faksimiles veranschaulichen die Thematik. Einige Täter-Biographien (z.B. der General der Waffen-SS Friedrich Jeckeln, Generalfeldmarschall Ernst v. Manstein oder Oberst Schmidt von Altenstadt) sind in die Darstellung einbezogen. Dieser voluminöse Band dürfte für lange Zeit „das“ Standardwerk zum Thema Holocaust und Wehrmacht bleiben. Kritik erfährt die neu gestaltete Ausstellung von mehreren Seiten, so. u.a. vom Leiter der ersten Ausstellungsvariante Hannes Heer, der vom „Verschwinden der Täter“ spricht und eine bedenkenswerte Kritik „von links“ an der Neukonzeption formuliert: Hannes Heer, Vom Verschwinden der Täter. Die Auseinandersetzungen um die Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 50. Jg., 2003, Heft 10, S. 869ff. Von einer eher “traditionalen” Sicht der faschistischen Wehrmacht geprägt ist der in Teilen exkulpatorische Aufsatz von Christian Hartmann, Verbrecherischer Krieg – verbrecherische Wehrmacht? Überlegungen zur Struktur des deutschen Ostheeres 1941-1944, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 52. Jg., 2004, H. 1, S. 1ff. Zum (Konkurrenz-?) Projekt des Münchner Instituts für Zeitgeschichte “Wehrmacht in der nationalsozialistischen Diktatur“ vgl. Christian Hartmann, Johannes Hürter, Dieter Pohl u. Andreas Toppe, Wehrmacht in der nationalsozialistischen Diktatur. Ein Forschungsprojekt des Instituts für Zeitgeschichte München, in: Zeitgeschichte, 30. Jg., H. 4, Juli/August 2003, S. 192ff., bes. 198ff.

Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903-1989, Verlag J.H.W. Dietz, Bonn 1996 (Studienausgabe 2001). Eine bahnbrechende Studie über den SS-Obergruppenführer Werner Best, der führend am Aufbau der Gestapo und des Reichssicherheitshauptamtes beteiligt und nach dem Krieg jahrelang als Rechtsanwalt bzw. Justitiar des Stinnes-Konzerns tätig war. Ulrich Herbert gelingt die Einbettung der Biographie eines Organisators des SS – Repressionsapparates, der leider nie angemessen zur Rechenschaft gezogen wurde, in die Architektur der Gesellschaft und des sozialen Milieus, die ihn prägten. Er analysiert tieferliegende politische, sozial- und geistesgeschichtliche Strukturen, die nicht nur einen Werner Best, sondern nicht wenige aus der „Kriegsjugendgeneration“ des Ersten

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Weltkrieges charakterisierten, die schließlich den Weg in die NSDAP und in die SS fanden, um dort an exponierter Stelle den Völkermord an den europäischen Juden zu exekutieren. Insofern hat die Biographie des ehemaligen SS – Obergruppenführers Werner Best für den Verfasser zugleich einen paradigmatischen Charakter. Ulrich Herbert schlägt dabei den Bogen von der „völkischen Bewegung und der ‚konservativen Revolution’ der 20er Jahre über den Aufstieg des Nationalsozialismus hin zur Politik und weltanschaulichen Verankerung des Sicherheitsapparates des Regimes, über die deutsche Besatzungspolitik in Europa bis hin zum Zusammenbruch der Diktatur, von den Nachkriegsprozessen gegen die einstigen NS – Größen und den verschiedenen Schüben der Auseinandersetzung mit der NS – Vergangenheit in Deutschland bis in die Gegenwart – eine Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts in Deutschland also aus der sehr spezifischen, aber in diesem Jahrhundert eben auch sehr bedeutsamen Perspektive eines Mitglieds der engen Führungsgruppe des nationalsozialistischen Führungsapparates.“ (S. 20f.) Wie auch bei anderen führenden Nazi – Politikern und SS – Angehörigen haben bei Werner Best die Erfahrungen seiner Studienzeit einen überaus prägenden Einfluss auf seine Persönlichkeit und seine politischen wie weltanschaulichen Überzeugungen gewonnen: „Völkisches Denken“, kompromisslose, weil „rassisch“ fundierte Judenfeindschaft, prinzipielle Ablehnung der Weimarer Republik und der ihr zugrunde liegenden Ideen einer bürgerlich – parlamentarischen Demokratie, die Bereitschaft, diese Republik notfalls auch gewaltsam zu bekämpfen, die Organisation in elitären Zirkeln und „Bünden“ – dies alles gehörte gleichsam zur „geistigen Grundausstattung“ vieler der in den 20er und frühen 30er Jahren ausgebildeten Akademiker. Von hier aus boten sich zahlreiche Anknüpfungspunkte zur Politik und Ideologie der NSDAP. Werner Best, ursprünglich Mitglied der Deutschnationalen Volkspartei, tritt im November 1930 zur Nazipartei über, die nur zwei Monate zuvor mit ihrem erdrutschartigen Wahlerfolg bei den Reichstagswahlen nach der SPD zur zweitstärksten Partei in Deutschland avanciert war. Ein Jahr später wird Best Mitglied der SS und Landtagsabgeordneter in Hessen. Sein Aufstieg im „3. Reich“ endet als Stellvertreter Reinhard Heydrichs im Reichssicherheitshauptamt, nach dem Zerwürfnis mit ihm als Zivilverwaltungschef beim Militärbefehlshaber in Frankreich und schließlich als „Bevollmächtigter des Deutschen Reiches“ im besetzten Dänemark. Bests Karriere ist jedoch 1945 keineswegs beendet. Nachdem er 1951 von der dänischen Justiz begnadigt worden war, begann der ehemalige SS – Obergruppenführer eine neue berufliche Existenz. In diesem Zusammenhang beleuchtet der Verfasser zum ersten Mal in der gebotenen Ausführlichkeit die Aktivitäten des Juristen, damaligen FDP-Bundestagsabgeordneten und langjährigen Vorsitzenden des Außenpolitischen Ausschusses im Deutschen Bundestag, Ernst Achenbach (S. 461ff.), dessen Anwalts - Kanzlei zur Anlauf stelle und zu einer Art Stellenvermittlungs- und Empfehlungszentrale für ehemalige Angehörige der NS-Elite wurde, nicht zuletzt für Täter mit einem hohen SS-Offiziersrang. Hier konnte auch Werner Best geholfen werden, der seine juristischen und sonstigen Kenntnisse und Erfahrungen zunächst innerhalb der Achenbachschen Kanzlei, dann sogar als Justiziar beim Stinnes – Konzern in Anwendung bringen kann. Dies war keineswegs ein Einzelfall: „Während sich die vorwiegend aus dem Milieu der ungebundenen Arbeiterschaft und dem Kleinbürgertum rekrutierenden mittleren und zum Teil auch hohen Ränge von Partei und SA, wohl auch der Waffen – SS, offenbar häufig noch bis in die späten 50er Jahre hinein keine stabile wirtschaftliche Grundlage für sich erreichen konnten und ihr Auskommen im übrigen auf höchstens mittlerem Niveau fanden, gelang außer den leitenden Ministerial- und Justizbeamten auch den ehemaligen Spitzen von Sicherheitspolizei und SD, in denen der Typus des, meist juristisch ausgebildeten, Akademikers aus der Mittel- und Oberschicht

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überwog, die Rückkehr in die Bürgerlichkeit auf zum Teil sehr hohem Niveau. Die Industrie an Rhein und Ruhr bot dabei für viele ein neues Betätigungsfeld.“ (S. 475) Zusammengefasst: Vielleicht die beste „Täter-Biographie“ eines führenden SS-Mannes, die bislang publiziert worden ist, zumal der Autor die Nachzeichnung des Lebensweges eben nicht mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges abbrechen lässt, der häufig keineswegs das Ende der beruflichen Karrieren ehemaliger Täter im Holocaust bedeutete. Dem Autor gelingt in bis dahin nicht gekannter Weise die organische Verknüpfung der Biographie eines NS-Täters mit den politischen, sozialen, geistigen und ökonomischen Rahmenbedingungen, in denen sich seine Sozialisation vollzog und sich seine politisch- weltanschaulichen Überzeugungen ausprägten. Dabei stellt Ulrich Herbert immer wieder die Frage nach zu verallgemeinernden, generationsspezifischen Elementen, nach „Schlüsselerlebnissen“, die Werner Best mit anderen Altersgenossen teilte, die ähnlich wie er sozialisiert worden sind. Sicherlich eines der bedeutendsten Bücher, die je zur Geschichte des „3. Reiches“ und seiner Täter veröffentlicht worden sind.

Ulrich Herbert, Hrsg., Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939-1945. Neue Forschungen und Kontroversen, 4. Aufl., Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2001. Zahlreiche Beiträge in diesem Band befassen sich mittelbar oder unmittelbar mit den Motiven der NS-Täter und „Täter-Fraktionen“ im Holocaust, so z.B. der deutschen Militäradministration in Paris. Eine zusammenfassende Behandlung dieses Themas erfolgt im Beitrag von Christopher R. Browning, Die Debatte über die Täter des Holocaust (S. 148ff.), in dem er sich vor allem mit den Thesen von Goldhagen kritisch auseinandersetzt.

Raul Hilberg, Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933-1945, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1996. Der Autor analysiert die Voraussetzungen für den Völkermord an den Juden durch den Einsatz des gesamten Staatsapparates in Nazideutschland wie folgt: „Die antijüdischen Maßnahmen verteilten sich auf den Staatsdienst, das Militär, die Unternehmen und die Partei. Alle deutschen Organisationen wurden in das Projekt einbezogen. Jede einzelne Behörde trug dazu bei; man nutzte jede Spezialisierung; und an der Umklammerung der Opfer waren durchweg alle Gesellschaftsschichten beteiligt...Die gemeinsame Aufgabe einte Menschen mit ganz unterschiedlicher Herkunft, Ausbildung und psychischer Veranlagung. Auch wenn sie zu Beginn isoliert gestanden haben mögen, fügten sie sich allmählich zu einer gewaltigen Maschinerie zusammen.“ (S. 33 u. 38)

Rudolf Höß, Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen des Rudolf Höß, hrsg. v. Martin Broszat, 18. Auflage, deutscher taschenbuch verlag, München 2002. In polnischer Haft nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges entstanden, zählen die autobiographischen Texte von Höß seit ihrer Erstveröffentlichung im Jahre 1958 zu den am meisten gelesenen und zitierten autobiographischen Quellen exponierter Täter im Holocaust. Beispielgebend blieb das hier entwickelte Argumentationsmuster, das lange Zeit auch von der bundesdeutschen Historiographie akzeptiert und übernommen wurde: Die selbstgestrickte Legende über den Bürokraten Höß, der angeblich kein fanatischer Antisemit, sondern lediglich ein „kleines Rädchen im Getriebe“ der Nazi-Vernichtungsmaschinerie, ein funktionierender Bürokrat gewesen sei, der zuvörderst nicht nach Sinn und Zweck der ihm übermittelten verbrecherischen Anweisungen und Befehle gefragt habe. Er habe sich „nur“ als

13 Rosa-Luxemburg-Stiftung –Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung - Seminarmaterialien ausführendes Organ ohne eigenständigen Anteil am Völkermord begriffen, der sich in Auschwitz und anderswo vollzog. Deshalb gestatten die hier publizierten Texte, jenseits aller Informationen über die Organisation und Durchführung des Holocaust aus der Feder eines der abscheulichsten Täter des NS-Regimes, einen ausgezeichneten Einblick in die Entstehung und Argumentationslinien der nach 1945 gestrickte Mär, man habe lediglich als Befehlsempfänger weisungsgemäß und nicht primär durch eigene politisch-weltanschauliche Überzeugungen geleitet, sein blutiges Geschäft exekutiert. Die vom verstorbenen Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München verfasste Einleitung rekonstruiert und kommentiert die Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte der insgesamt drei Aufzeichnungen aus den Jahren 1946 und 1947.

Eric A. Johnson, Der nationalsozialistische Terror. Gestapo, Juden und gewöhnliche Deutsche, Siedler Verlag, Berlin 2001. Johnson schreibt über die Verantwortung und Schuld der deutschen Bevölkerung an der Shoah: „Viele gewöhnliche Deutsche beteiligten sich unmittelbar an der Verfolgung und Ermordung der Juden...Millionen Deutsche sahen weg, als jüdische Geschäfte boykottiert wurden, ein Gesetz nach dem anderen den Juden das Leben in Deutschland immer unerträglicher machte und als schließlich die Synagogen angezündet wurden. Millionen gewöhnliche Deutsche wussten bereits während der Kriegsjahre von der Vernichtung der Juden und versuchten nicht, ihr Einhalt zu gebieten.“ (S. 515)

Jochen von Lang, Das Eichmann-Protokoll. Tonbandaufzeichnungen der israelischen Verhöre. Mit 66 faksimilierten Dokumenten, Severin und Siedler Verlag, Berlin 1982 u.ö. Ausweichen, herunterspielen, leugnen, Gedächtnislücken in Anspruch nehmen, nur das zugeben, was zweifelsfrei bewiesen werden kann – Adolf Eichmann praktizierte bei seinen Verhören in Israel diejenigen Verhaltensweisen, die in der Regel von Straftätern gegenüber der Polizei und der Staatsanwaltschaft angewandt werden. In diesem erstmals vor über zwanzig Jahren veröffentlichten Buch finden sich entlarvende Aussagen eines der Architekten des Holocaust, der für sich die Rolle des willenlosen Befehlsempfängers reklamiert, dem es an jeder individuellen Verantwortung und Schuld am Holocaust fehle. „Ich habe nie einen Sonderauftrag gehabt und habe – ich muss immer wieder dabei bleiben – mit der Tötung nichts zu tun gehabt.“ (S 88). „Sie wollen“, formulierte der verhörende israelische Hauptmann Less – „immer die Sache darstellen, als ob Sie lediglich ein Transportoffizier gewesen seien und nichts mehr.“ Eichmanns Replik: „Was in der Regel auch gewesen ist, Herr Hauptmann.“ (S. 112) Im Anhang befinden sich faksimilierte Dokumente zur Biographie Eichmanns, etwa sein eigenhändig geschriebener Lebenslauf vom 19. Juli 1937 sowie Schriftstücke zur Organisation des Judenmordes. Insgesamt eine überaus wichtige Publikation, die einen vorzüglichen Einblick in die Vertuschungs- und Verdrängungsstrategien von exponierten Tätern im Holocaust gestattet, die nach 1945 allesamt keine überzeugten Antisemiten und Nazis gewesen sein wollten. Für den Geschichtsunterricht ist dieser Band geradezu eine Pflichtlektüre.

Yaacov Lozowick, Hitlers Bürokraten. Eichmann, seine willigen Vollstrecker und die Banalität des Bösen, Pendo Verlag, Zürich u. München 2000. Innerhalb des „Reichssicherheitshauptamtes“ (RSHA), der Terror-Zentrale des „3. Reiches“, existierte die berühmt-berüchtigte Abteilung IV B 4 unter der Leitung des SS- Obersturmbannführers Adolf Eichmann. Dieser Abteilung ist der von Lozowick verfasste Band gewidmet. Der Autor schildert die den Völkermord organisierende Tätigkeit von IV B

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4, vor allem aber: Er widmet sich den Tätern und ihren Motiven. Dabei kommt er zu der Schlussfolgerung, sie hätten ihre Mission „mit ganzem Herzen“ (S. 337), als fanatische Nazis und Antisemiten, erfüllt. Die später von den überlebenden SS-Tätern konstruierte These, sie seien mehr oder weniger willenslose „Rädchen im Getriebe“ einer Großbürokratie gewesen, ist spätestens mit dieser Arbeit eindrucksvoll widerlegt. Die Judenmörder des RSHA waren Überzeugungstäter, die mit großer Initiative und nicht enden wollendem Fleiß den Holocaust organisierten und an den Orten der Vernichtung nicht selten auch selbst in die Hand nahmen.

Klaus – Michael Mallmann, Volker Rieß u. Wolfgang Pyta, Hrsg., Deutscher Osten 1939 – 1945. Der Weltanschauungskrieg in Photos und Texten, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2003. Die Herausgeber haben einen außerordentlich wichtigen Beitrag zur „Täter-Forschung“ geleistet, indem sie Quellen zugänglich machen, die uns die unmittelbare Perspektive der Mörder des Holocaust bieten: Ihre Interpretationen für die „Notwendigkeit“ des Holocaust, ihre versuchte Rechtfertigung der von ihnen begangenen Verbrechen und ihre subjektive Verarbeitung des beispiellos grausamen und menschenverachtenden Geschehens im „deutschen Osten“. Die Herausgeber haben nicht nur in Archiven und Gerichtsakten von NS – Prozessen in der Bundesrepublik, sondern auch in privaten Nachlässen recherchiert und geforscht, wobei Tagebücher, private Briefe und Fotos ans Tageslicht gelangten, die durchaus neue Aufschlüsse über die Motivation der Täter, in diesem Fall der Exzess – Täter, im Holocaust gestatten. „Ausschlaggebendes Kriterium für die Auswahl war darum, ob und inwieweit ein Text Hinweise auf die innere Verfasstheit, letztlich die Motivation der Täter beinhaltet.“ (S. 9) Den Herausgebern ist zu bescheinigen, dass die von ihnen vorgenommene Auswahl den von ihnen zugrundegelegten Kriterien voll und ganz entspricht. Vor allem die hier veröffentlichten Fotos, in der Regel von - und SS – Angehörigen aufgenommen, haben hohen dokumentarischen Wert und visualisieren auf ihre spezifische Weise das Morden in den von der Wehrmacht eroberten Gebieten im Osten Europas. Von den abgedruckten schriftlichen Quellen seien an dieser Stelle nur drei kurz zitiert. So schrieb der Polizei – Sekretär Walter Mattner am 2. Oktober 1941 aus Mogilew an seine Ehefrau: „Es ist ganz einfach furchtbar, diese asiatischen Horden ansehen zu müssen. Wie kommen wir europäischen Menschen uns da vor...Du kannst also die Verbitterung verstehen, die mich beherrscht und die alle hier fühlen in dem Gedanken an unsere Heimat und unseren großen Schicksalskampf, den wir hier für unser Volk durchkämpfen müssen. Was liegt schon an tausendzweihundert Juden, die wieder irgendeinmal in einer Stadt zu viel sind und umgelegt werden müssen, wie es so schön heißt.. Es ist nur die gerechte Strafe für soviel Leid, das sie uns Deutschen angetan haben und noch immer antun. Bis ich nach Hause komme, werde ich Dir ja schöne Sachen erzählen. Doch heute genug davon, sonst glaubst Du, dass ich blutrünstig bin.“ (S. 27) Tagebuchnotizen des SS – Hauptsturmführers Artur Wilke aus Ruthenien vom 8. Februar 1943: „4 h Wecken, 4.30 Antreten, 4.45 Abmarsch, 5 h Beginn im Ghetto. Anfang sehr gut. 1300 werden rausgeholt (3100 sollen es sein), nachmittags entscheidet sich der Gebietskommissar Carl zum Abbrennen. Ca. 3 – 400 Juden kommen aus den Bunkern. Major Dr. K. aus dem Ghetto gewiesen. Brigadeführer v. Gottberg im Ghetto, Oberführer Hartmann. 20 h Abrücken. Geschlafen wie ein toter Bär.“ (S. 49) Staatsanwaltliche Vernehmung von Johannes Schlupper, ehemals SS – Obersturmführer, vom 11. Mai 1962 über die Kommandoübergabe in Thigina an den damaligen SS – Sturmbannführer Bruno Müller: „Als erster trat Müller zu einer Jüdin, die ein etwa dreijähriges Kind am Arm hatte, und die von irgend jemand vorgeführt worden war...’Ihr

15 Rosa-Luxemburg-Stiftung –Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung - Seminarmaterialien müsst sterben, damit wir leben können.’ Dann zog er seine Pistole und erschoss zunächst das Kind und dann die Frau.“ (S. 153) Dem Leser dieser ebenso erschütternden wie überaus wichtigen Dokumentation stellt sich u.a. die Frage, wie viele solcher verräterischen Fotos, Tagebücher, Briefe und Notizen sich wohl noch unerschlossen in privater Hand befinden mögen. Es dürfte wohl mehr davon geben, als man hoffen möchte.

Jürgen Matthäus, Konrad Kwiet, Jürgen Förster u. Richard Breitman, Ausbildungsziel Judenmord? „Weltanschauliche Erziehung“ von SS, Polizei und Waffen-SS im Rahmen der „Endlösung“, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2003. Die Autoren analysieren die Bedeutung der weltanschaulichen Indoktrination für die Angehörigen der SS, unter besonderer Berücksichtigung ihrer Funktionalisierung für den Völkermord an den europäischen Juden. Bedeutsam ist die erstmalige Veröffentlichung von insgesamt 16 aussagekräftigen Dokumenten aus dem Zeitraum von 1934 bis 1944 (S. 143ff.), bei denen es sich um entsprechende „Dienstanweisungen“ und um Auszüge aus den so genannten SS-Leitheften mit Schulungsmaterialien handelt. Ausdrücklich hingewiesen sei auf Konrad Kwiets Beitrag „Von Tätern zu Befehlsempfängern – Legendenbildung und Strafverfolgung nach 1945“ (S. 114ff.), der die später praktizierten Verteidigungsstrategien der Täter thematisiert, aber auch manche ihrer erstaunlichen Nachkriegskarrieren behandelt.

Ingrid Müller-Münch, Die Frauen von Majdanek. Vom zerstörten Leben der Opfer und der Mörderinnen, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1982. Die Autorin hat den Majdanek-Prozess vor dem Düsseldorfer Landgericht vom ersten bis zum letzten Verhandlungstag verfolgt und in diesem Taschenbuch ihre Eindrücke von den Täterinnen, den Aufseherinnen in SS-Uniform, festgehalten. Sie verfolgt den Lebensweg mehrerer Aufseherinnen – z.B. der wegen ihrer Grausamkeit gefürchteten „Blutigen Brygida“ oder dem „Perlchen“, einer Frau, die zumindest gelegentlich Anzeichen von Mitgefühl für die gequälten und gedemütigten weiblichen Häftlinge zeigte. Manche Schilderung von Grausamkeiten, begangen durch die weiblichen Angeklagten, sind nur schwer zu ertragen. Bedenkenswert sind die eingangs formulierten, folgenden Sätze der Verfasserin: Ihr Buch solle „warnen davor, so überheblich zu sein, dass man die Beschäftigung mit dem, was aus so genannten Kleinbürgern Massenmörder macht, als unwichtig beiseite schiebt. Wer kann schon ganz sicher sein, dass derartiges ihm nicht auch hätte widerfahren können? Wer will ähnliches für die Zukunft ausschließen?“ (S. 13)

Harry Mulisch, Strafsache 40/61. Eine Reportage über den Eichmann-Prozess, 3. Auflage, Aufbau Verlag, Berlin 2002. Der bekannte niederländische Schriftsteller gelingt ein prägnantes Psychogramm eines der Hauptakteure des Holocaust. Als ergänzende Lektüre zu Hannah Arendts „Eichmann in Jerusalem“ unbedingt zu empfehlen.

Kurt Pätzold u. Erika Schwarz, Tagesordnung: Judenmord. Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942. Eine Dokumentation zur Organisation der „Endlösung“, 4. Auflage, Metropol Verlag, Berlin 1998.

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Die bislang umfangreichste und vollständigste Darstellung und Dokumentation der so genannten Wannseekonferenz. Besonders wertvoll sind die biographischen Skizzen der insgesamt fünfzehn beteiligten Personen, von denen einige auch historisch Interessierten weitgehend unbekannt sein dürften. Dazu gehörten etwa der Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt, Martin Luther bzw. der SS-Gruppenführer und stellvertretende Leiter der Parteikanzlei der NSDAP, Dr. Gerhard Klopfer. Bedeutsam und sehr erhellend ist die Lektüre der auf den S. 129ff. abgedruckten Nachkriegs-Aussagen von überlebenden Teilnehmern der Wannsee-Konferenz.

Gerhard Paul u. Klaus-Michael Mallmann, Hrsg., Die Gestapo. Mythos und Realität, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1995 (Sonderausgabe: Primus Verlag, Darmstadt 2002). Dieser umfangreiche Sammelband bietet auf seinen beinahe 600 Druckseiten das bislang wohl umfassendste Bild von der „Geheimen Staatspolizei“, einem der am meisten gefürchteten Terror-Institutionen des deutschen Faschismus. Vor allem der IV. Abschnitt – „Mitarbeiter, Zuträger, Partner“ – gestattet ein plastisches Bild über die Angehörigen der Gestapo und ihre zahlreichen Spitzel. Wir möchten in diesem Zusammenhang besonders auf drei Beiträge hinweisen: Die biographische Skizze über den Gestapo-Chef Heinrich Müller von Andreas Seeger (S. 255ff.), Karl-Michael Mallmanns Studie über die V-Leute der Gestapo (S. 268ff.) und Gerhard Pauls Analyse von Nachkriegskarrieren prominenter Gestapo-Beamter (S.529ff.).

Gerhard Paul, Hrsg., Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche?, 2. Auflage, Wallstein Verlag, Göttingen 2003. Der Herausgeber hat in seiner Einleitung (S. 13-90) unter dem Titel „Von Psychopathen, Technokraten des Terrors und ‚ganz gewöhnlichen Deutschen’ “ eine vorzügliche Bilanz des bisher erreichten Forschungsstandes zu Papier gebracht. In den zahlreichen Anmerkungen findet der interessierte Leser auch an entlegenen Stellen publizierte Studien. Die anderen Beiträge dieses Sammelbandes befassen sich u.a. mit der Teilhabe ukrainischer Hilfskräfte am Holocaust (Dieter Pohl) und mit den SS-Tätern in den Konzentrations- und Vernichtungslagern (Karin Orth).

Dieter Pohl, Verfolgung und Massenmord in der NS-Zeit 1933-1945, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2003. Eine überaus wertvolle und für die Einarbeitung in das Thema nützliche Darstellung. Der Autor informiert auch über Täter und „Täterapparate“ (z.B. S. 23ff.). Einige der Exponenten des Judenmordes werden in Kurzbiographien vorgestellt: u.a. die berüchtigten SS-Führer Erich von dem Bach-Zelewski, Friedrich Jeckeln (jeweils S. 71) und Odilo Globocnik (S. 90). Auszüge aus Briefen, Reden und Aktenstücken geben Aufschluss über die rassistischen und imperialistischen Motive des Holocaust. Auf S. 158 finden sich im Literaturverzeichnis auch einige Titel zur Täter-Forschung.

Hans Safrian, Eichmann und seine Gehilfen, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1997. Bald nach dem „Anschluss“ Österreichs an Hitlerdeutschland im März 1938 begann eine kleine Gruppe von SS-Offizieren, die „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ in Wien aufzubauen. An der Spitze dieser Gruppe stand ein gewisser Adolf Eichmann, der mit seinen

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Mitarbeitern – darunter auch Alois Brunner (s.u. Georg M. Hafner u. Esther Schapiro) – die systematische Ausplünderung, Vertreibung und physische Vernichtung der österreichischen Juden betrieb. Das von ihnen kreierte „Wiener Modell“ fand später Eingang in den systematischen Völkermord an den Juden Europas, Eichmann und seine Mitarbeiter machten Karriere in der SS.

Bernhard Sauer, Schwarze Reichswehr und Fememorde. Eine Milieustudie zum Rechtsradikalismus in der Weimarer Republik, Metropol Verlag, Berlin 2004. Was hat ein Buch über die „Schwarze Reichswehr“ in einer Literaturliste zu suchen, die sich mit den Tätern im Holocaust befasst? Vordergründig nichts, bei näherer Betrachtung jedoch sehr viel. Denn nicht wenige der späteren Täter waren in den Krisenjahren am Beginn der Weimarer Republik Angehörige von so genannten Einwohnerwehren und Freikorps oder der „Schwarzen Reichswehr“. Als Beispiele genannt seien hier nur der Kommandant von Auschwitz, Rudolf Höß, der SA-Führer von Berlin, Graf Helldorf und der Chef der Ordnungspolizei und SS-Obergruppenführer, Karl Daluege. Sauer arbeitet in seinem Buch die Spezifika des Milieus der so genannten Schwarzen Reichswehr und die Mentalitäten der hier versammelten Landsknechte deutlich heraus. Als ergänzende Lektüre sei in diesem Zusammenhang noch auf die ältere, ebenfalls außerordentlich informative Studie von Bernd Kruppa, Rechtsradikalismus in Berlin 1918-1928, Berlin 1988, hingewiesen.

Dieter Schenk, Die braunen Wurzeln des BKA Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2003. Ein überaus beunruhigendes Buch. Der Autor, selbst über lange Jahre ein leitender Mitarbeiter des Bundeskriminalamtes in Wiesbaden, schildert mit großer Ausführlichkeit die personellen Kontinuitäten vom Reichssicherheitshauptamt und anderen Behörden der Nazizeit zum BKA der Bundesrepublik Deutschland. Die Täter von gestern mutierten zu „demokratischen“ Strafverfolgern in der Gegenwart. Der Autor nennt Namen und Verantwortlichkeiten, wobei er naturgemäß von seinen Kenntnissen als Insider der obersten bundesdeutschen Polizeibehörde profitiert. Vor allem aber: Dieter Schenk gelingt der Nachweis, dass die Nazi-Täter auch ihren (Un-) Geist in das BKA hinüberretteten und ihn an die neuen politischen Rahmenbedingungen anpassten. „Es kann nicht überraschen“, schreibt der Verfasser, „dass sich im Bundeskriminalamt, das über zwei Jahrzehnte von gewendeten Nationalsozialisten aufgebaut und zwangsläufig auch geformt wurde, Gesinnung tradierte. Das hatte katastrophale Auswirkungen und zugleich Einfluss auf Strategien und Konzepte. Grundüberzeugungen und Einstellungen erfuhren...keine wirkliche Veränderung und vererbten sich von einer Führungsgeneration auf die nächste.“ (S. 308) Vor allem die Biographien der Ex-(?) Nazis Dr. Bernhard Niggemeyer und Paul Dickopf werden von Schenk in diesem Zusammenhang analysiert. Insgesamt: Ein Buch über Täter in der NS- Zeit, das wie kaum eine andere Veröffentlichung die verhängnisvolle Kontinuität der Eliten des „3. Reiches“ zu denen der Bundesrepublik Deutschland am Beispiel der obersten Polizeibehörde in einer geradezu beängstigenden Weise nicht in propagandistischer Absicht behauptet, sondern mit Akribie und Detailreichtum nachweisen kann.

Heribert Schwan u. Helgard Heindrichs, Der SS-Mann. Josef Blösche – Leben und Sterben eines Mörders, Droemersche Verlagsanstalt, München 2003. Eines der bekanntesten und erschütternsten Fotos, das während der brutalen Liquidierung des Warschauer Ghettos im Mai 1943 aufgenommen wurde: Ein SS-Mann, den Karabiner im Anschlag, zielt auf einen kleinen Jungen, der die Hände erhoben hat. Die Identität dieses

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Mannes – Josef Blösche - konnte festgestellt und der in der damaligen DDR lebende Nazi- Verbrecher am 11. Januar 1967 festgenommen werden. Am 29. Juli 1969 wird der zum Tode Verurteilte in Leipzig hingerichtet. Beide Autoren zeichnen den Lebensweg des 1912 im Sudetenland geborenen Blösche akribisch nach, der seine kriminelle Laufbahn in der faschistischen Sudetendeutschen Partei des Konrad Henlein beginnt, für die er nicht zuletzt als Schläger gegen politisch Andersdenkende tätig wird. Nach der Besetzung des Sudetenlandes im Oktober 1938 sowie der anderen Gebiete der Tschechoslowakei im März 1939 durch die Nazi-Wehrmacht, wird Blösche Mitglied der NSDAP und schließlich Angehöriger der SS. Im Warschau gehörte er zu den am meisten gefürchteten Verbrechern in schwarzer Uniform. Ein Zeitzeuge erinnert sich: „Vor Blösche hatte jeder Angst. Jeder, der noch ein Körnchen Verstand hatte, wusste, er musste sich vor Blösche hüten. Denn der brauchte keinen Grund, um zu töten. Er konnte nicht ins Ghetto kommen, ohne einige Menschen umzubringen...Ich kann für sein Verhalten kein richtiges Wort finden, und ich bin ziemlich viel herumgekommen, in Majdanek, in Treblinka. Er war aber der Schlimmste von allen. Er war der Schlimmste, weil er Menschen ohne einen Grund umgebracht hat.“ (S. 122f.) Ein überaus wichtiger Band, das detailliert die Biographie eines Exzess-Täters im Holocaust analysiert und darüber hinaus auch ausführlich den Strafprozess in der DDR thematisiert, an dessen Ende das Todesurteil stand. Dieses Buch, das zugleich das Begleitmaterial eines Fernsehfilm des Westdeutschen Rundfunks über Blösche darstellt, erscheint wegen seiner Anschaulichkeit und der auch jungen Leuten zugänglichen Sprache hervorragend geeignet, im Schulunterricht wie in der politischen Bildungsarbeit insgesamt eingesetzt zu werden.

Gudrun Schwarz, Eine Frau an seiner Seite. Ehefrauen in der „SS-Sippengemeinschaft“, 2. Auflage, Aufbau Verlag, Berlin 2001. Die Autorin widmet sich einer lange vernachlässigten, ja, beschwiegenen Thematik: Dem Anteil von Frauen als Täterinnen im Holocaust. Gudrun Schwarz verdeutlicht, dass es hier nicht vordergründig und ausschließlich um Frauen als „Exzess-Täterinnen“ geht, die selbst Jüdinnen (und andere Opfer der deutschen Faschisten) denunzierten, demütigten, ausraubten, quälten und ermordeten. Vielmehr hatten Frauen von SS-Männern ihre spezifischen Funktionen innerhalb der „SS-Sippengemeinschaft“ zu erfüllen, die vor allem in der nahtlosen politischen und weltanschaulichen Übereinstimmung mit ihren Ehemännern und im Aufbau eines „rassereinen, arischen“ Familienverbandes bestanden. Die Autorin belegt dies anhand auch von Aussagen Heinrich Himmlers, der mit seiner SS eben mehr als einen „Männerbund“ stiften wollte. Natürlich kommt in diesem Band aber der Aspekt unmittelbarer Täterschaft von Frauen im Holocaust nicht zu kurz. Die Verfasserin untersucht zahlreiche Fälle, wo Ehefrauen von SS-Offizieren als Zuschauerinnen bei Ghetto- Räumungen und Deportationen beobachtet werden konnten, ja, sie führt nicht wenige Beispiele dafür an, dass Frauen – beginnend bei den Ehefrauen von Reinhard Heydrich und – im besetzten Polen, im so genannten Reichsprotektorat Böhmen und Mähren und in der okkupierten Sowjetunion ein System der Selbstbereicherung errichteten, aber auch selbst mit ihrem Herrschaftssymbol, der öffentlich zur Schau getragenen Peitsche, „rassisch minderwertige“ Personen schlugen und bisweilen auch selbst zu Mörderinnen wurden (vgl. vor allem S. 187ff. u. 200ff.). Ein Buch, das manches (auch wissenschaftlich verbrämtes) Vorurteil über die „männerspezifische“ Gewaltbereitschaft und Gewaltanwendung von Tätern im deutschen Faschismus in Frage stellt, wenn nicht sogar widerlegen kann. Besonders wertvoll ist das ausführliche Literaturverzeichnis (S. 287-303), das wohl alle relevanten Veröffentlichungen zur Thematik enthält.

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Tom Segev, Die Soldaten des Bösen. Zur Geschichte der KZ-Kommandanten, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1995. Der Autor geht in seinem Buch den Biographien der Kommandanten der Konzentrations- und Vernichtungslager nach. Rudolf Höß (Auschwitz), Franz Stangl (Treblinka), Karl Koch (Majdanek, Buchenwald) – um nur diese zu nennen – werden ebenso porträtiert wie der berüchtigte Kommandant der SS-Totenkopfverbände Theodor Eicke, dem die Wachmannschaften der Lager unterstanden (S. 119ff).

Claudia Steur, Theodor Dannecker. Ein Funktionär der „Endlösung“, Klartext Verlag, Essen 1997. Der SS-Hauptsturmführer Dannecker gehörte zu den engsten Vertrauten Adolf Eichmanns, der vor allem führend an den Deportationen der französischen und bulgarischen Juden beteiligt war. Die Autorin fasst im Kapital „Beweggründe eines Täters“ (S. 151ff.), die Motive Danneckers für seine aktive Teilhabe am Holocaust zusammen.

Karla Tupath-Müller, Verschollen in Deutschland. Das heimliche Leben des Anton Burger, Lagerkommandant in Theresienstadt, Aufbau Verlag, Berlin 2000. Die Karriere des SS-Hauptsturmführers „vom Handlungsgehilfen zum Herrenmenschen“, der u.a. für die Deportation der griechischen Juden verantwortlich war, weist durchaus paradigmatische Züge für den Lebenslauf vieler SS-Offiziere auf. Herausgearbeitet wird der fanatische Judenhass Burgers, der 1991 verstarb, unbehelligt und unter falschem Namen in Deutschland lebend.

Ulrich Völklein, Josef Mengele. Der Arzt von Auschwitz, Steidl Verlag, Göttingen 1999. Der im Februar 1979 in Brasilien verstorbene KZ-Arzt und SS-Hauptsturmführer Dr. Mengele gilt als Inkarnation der medizinischer Verbrechen in der Zeit des NS-Regimes. Selbst ein überzeugter Antisemit und Faschist, experimentierte er vor allem mit Zwillingen, die er bei den Selektionen an der berüchtigten Rampe in Auschwitz - bei der Ankunft deportierter Juden, Zigeuner und anderer Verschleppter mit der Eisenbahn – aussonderte und bei denen er verbrecherische medizinische Eingriffe vornahm. Nach dem Krieg entkam dieser Massenmörder im Arztkittel mit der Unterstützung zahlreicher Helfershelfer nach Südamerika, ohne je für seine Untaten zur Verantwortung gezogen zu werden. Bis zu seinem Tode blieb Mengele ein fanatischer Judenhasser. Ulrich Völklein resümiert: „Der Jude ist der Feind der Menschheit. Der Jude muss entlarvt werden und gehört zerstört. Das war Mengeles Botschaft.“ (S. 283)

Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Studienausgabe, Hamburger Edition, Hamburg 2003. Der beinahe 1.000 Seiten umfassende Band gilt bereits jetzt als Standardwerk zur Geschichte der SS, ja, zur Geschichte der Täter im „Dritten Reich“ insgesamt. Der Autor hat die Karrieren zahlreicher Offiziere des RSHA – auch nach 1945! – rekonstruiert und fragt dabei nach zu verallgemeinernden Ursachen, die den Weg in die Zentrale des Völkermordes, der Überwachung und der Repressionen geebnet haben könnten. Er kommt dabei zu der Schlussfolgerung, dass es sich beim „Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes“ um

20 Rosa-Luxemburg-Stiftung –Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung - Seminarmaterialien eine „besondere Tätergruppe“ handele, „deren Typologie nicht ohne weiteres verallgemeinert werden darf“ (S.846). Unter anderem hebt er als gemeinsames Charakteristikum der leitenden RSHA - Mitarbeiter das Erlebnis des 1. Weltkrieges und der instabilen ökonomischen und politischen Lage in der Nachkriegszeit hervor. In der Regel selbst nicht aus der so genannten Frontkämpfergeneration stammend, lehnten sie grundsätzlich die bestehende Weimarer Republik, Demokratie und Gewaltenteilung, die „Ideen von 1789“, aber auch die konservativ-reaktionären Traditionen des Kaiserreiches ab. Der politische Konservatismus der Weimarer Republik, wie er sich besonders in der durchaus einflussreichen Deutschnationalen Volkspartei organisiert hatte, galt ihnen als zu wenig prinzipiell und bei weitem nicht radikal genug. Viele der leitenden RSHA - Mitarbeiter stammten aus der unteren Mittelschicht, hatten (nicht selten als Erste in ihrer Familie) ein Studium absolviert und nicht wenige hatten es sogar mit einer Promotion erfolgreich beendet. „Führerschaft, Tat, Idee- das sind die Elemente, um die das politische Denken dieser jungen Männer kreiste. Führerschaft gründete sich auf das Wissen um die organische Entwicklung von Natur und Volk und bestätigte sich durch die Tat...Was die Weltanschauung dieser Generation auszeichnete, waren nicht so sehr spezifische politische Inhalte als vielmehr eine bestimmte Struktur politischen Denkens. Politik zielte immer auf Unbedingtheit, auf das Ganze, durfte weder einer regulierenden Norm noch irgendeinem Moralgesetz unterworfen sein.“ (S. 854). Zugleich warnt der Autor vor zu schnellen Generalisierungen hinsichtlich der Täter- Typologie: „Nicht die Annahme eines dominanten Tätertypus wird den Weg der künftigen Forschung weisen, als vielmehr die Analyse des Zusammenhangs verschiedener Akteure und Institutionen, von intentionalem Vernichtungswillen und strukturellen Bedingungen, von Ideologie und Funktion, individuellem Vorsatz und situativer Gewaltdynamik“ (S. 23) Wer sich der Mühe unterzieht, diesen dickleibigen Band zu lesen, wird mehr über die Täter des Holocaust und ihre Motive erfahren, als aus beliebigen anderen Büchern.

Michael Wildt, Hrsg., Nachrichtendienst, politische Elite und Mordeinheit. Der Sicherheitsdienst des Reichsführers SS, Hamburger Edition, Hamburg 2003. In zahlreichen Artikeln analysieren Autoren aus Deutschland und den USA die bis heute noch nicht hinreichend erforschte Tätigkeit des SD, der u.a. „Denkfabrik“ der SS, Exekutor des Holocaust und eine national wie international wirkende Überwachungs- und Spionageorganisation war. Über die dem Sicherheitsdienst angehörenden Täter im Holocaust und ihre Motive informieren vor allem die Beiträge von Jürgen Matthäus (Konzept als Kalkül. Das Judenbild des SD 1934-1939, S. 118ff.) und Andrej Angrick (Otto Ohlendorf und die SD-Tätigkeit der Einsatzgruppe D, S. 267ff.). Der von dieser Einsatzgruppe „durchgeführte Genozid“ – so Angrick, dabei ähnlich argumentierend wie Götz Aly und Susanne Heim – sei „nicht als rein destruktives Mordprogramm eines freigesetzten Rassismus“ zu interpretieren, „sondern als die zielgerichtete Realisierung einer völkischen Utopie, wo zunächst der weltanschauliche Gegner restlos vernichtet werden musste, um danach das eigentliche Projekt – die Besiedlung des neueroberten ‚Lebensraumes’... – beginnen zu können.“ (S. 301).

Susanne Willems, Der entsiedelte Jude. Albert Speers Wohnungsmarktpolitik für den Berliner Hauptstadtbau, Edition Hentrich, Berlin 2002. Hitlers „Lieblingsarchitekt“ und Rüstungsminister Albert Speer strickte nach Verbüßung seiner Gefängnisstrafe mit Vorliebe an der Legende des „verführten Technokraten“, der von den Verbrechen des Nazi-Regimes gegen die Juden nichts, jedenfalls nichts Genaues, gewusst

21 Rosa-Luxemburg-Stiftung –Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung - Seminarmaterialien habe. Eine direkte Beteiligung am Holocaust wies er stets und mit Empörung weit von sich. Die Autorin belegt akribisch aus den einschlägigen Akten, dass Speer zu den Tätern gerechnet werden muss. Gewiss hat er an keinen Exekutionen teilgenommen, doch als „Generalbauinspektor der Reichshauptstadt“, der die neu zu gestaltende Hauptstadt „Germania“ zu entwerfen hatte, gehörte er zu den Organisatoren und Profiteuren des Völkermordes. Denn die „Entfernung“ der Juden aus Berlin/“Germania“ war fester Bestandteil dieser Planungen. Deshalb galt in diesem Zusammenhang: „In Berlin stand nicht die Transportliste am Anfang der Deportation. Auch führte der Generalbauinspektor die Wohnungsräumaktion nicht durch, um den Beginn der Deportationen zu tarnen. Vielmehr hatte der GBI die Massendeportationen der Berliner Juden als Bestandteil des Räumungsprozesses eingeplant.“ (S. 280) Spätestens seit dieser Veröffentlichung wird man Albert Speer zu den bedeutenden planenden und organisierenden Tätern im Holocaust rechnen müssen, zumal seine immer wieder formulierte Aussage, er habe so weit es ging nicht mit der SS kooperiert, wie ein Kartenhaus zerbricht. Das Gegenteil war der Fall. Ein überaus wichtiges Buch, das zur Debatte um die Täter des Holocaust neuen Aufschluss bietet und neue Anregungen für die Diskussion vermittelt.

Irmtrud Wojak, Eichmanns Memoiren. Ein kritischer Essay, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 2004. Die Autorin analysiert vor allem die insgesamt drei autobiographischen Texte, die der Organisator des Judenmordes formuliert hat: Ein sehr ausführliches Interview mit dem ehemaligen „SS-Kameraden“ Sassen, aus dem 1960 kurze Auszüge in „Time/Life“ und im „Stern“ publiziert wurden sowie zwei Aufzeichnungen, die in israelischer Haft entstanden sind. Vor allem das Sassen-Interview, das in Argentinien durchgeführt wurde, verdient besondere Beachtung. Eichmann, der hier noch von der Annahme ausging, unentdeckt zu bleiben und nicht zur Verantwortung für seine Verbrechen gezogen zu werden, diktierte dem ehemaligen SS- Untersturmführer Sassen offen sein unverändertes antisemitisches Weltbild in die Feder, ja, er rechtfertigte ohne Einschränkungen den millionenfachen Mord an den Juden Europas. „Und jetzt will ich Ihnen sagen“, so Eichmann zu seinem Interviewer, „...mich reut gar nichts. Ich krieche in keinster Weise zu Kreuze...Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, hätten wir von den 10,3 Millionen Juden...10,3 Millionen Juden getötet, dann wäre ich befriedigt und würde sagen, gut, wir haben einen Feind vernichtet. Nun da durch des Schicksals Tücke der Großteil dieser 10,3 Millionen Juden am Leben geblieben sind, sage ich mir, das Schicksal wollte es so.“ (S. 63). Die Autorin schildert ausführlich, in welcher Weise Eichmann später – nämlich vor der israelischen Justiz – die Rolle des am Judenmord emotional unbeteiligten Bürokraten spielte, wie er versuchte, sich selbst sogar als Opfer zu stilisieren. Interessant ist der in diesem Zusammenhang von der Autorin angestellte Vergleich mit den autobiographischen Aufzeichnungen des Auschwitz-Kommandanten Höß, der sich in gleicher Weise wie Eichmann mit einer „Aura von Tragik“ umgab: „Das Gefühl ihrer immerwährenden Rechtschaffenheit erlaubte es ihnen, sich für mitleidige und gefühlvolle Menschen zu halten und den Massenmord, den sie mitbefohlen hatten, in eine Tragik des Mörders zu verwandeln“. (S. 82) Irmtrud Wojaks Buch enthält allerdings weitaus mehr, als sein Titel aussagt. In Wahrheit handelt es sich um einen Versuch, die Biographie Eichmanns in der Nazi- und Nachkriegszeit aufzuarbeiten. Ob wir aus der Feder der Autorin nach dieser lehrreichen und lesenswerten Studie in einigen Jahren die erste wissenschaftliche Biographie Adolf Eichmanns erwarten dürfen?

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Jean Ziegler, Die Schweiz, das Gold und die Toten, Goldmann Taschenbuch Verlag, München 1998. Der schweizerische Parlamentsabgeordnete hat in seinem gut recherchierten Buch zum ersten Mal die – wie er sie nennt - „schuldigen Schuldlosen“ zum Gegenstand einer Untersuchung gemacht: Bankiers, Wirtschaftsmanager und Politiker aus der Schweiz, die den deutschen Faschisten halfen, das den Juden Europas geraubte Eigentum in den „normalen“ Wirtschaftskreislauf einzuschleusen. Ob es sich dabei um Gold, Devisen, Wertpapiere oder Edelsteine handelte – stets waren Schweizer Institutionen bereit, beide Augen vor der allseits bekannten Herkunft der entsprechenden Vermögenswerte fest zu verschließen. Nicht zuletzt dieses Buch war der Anlass für Politik und Geschichtsschreibung in unserem Nachbarland, sich endlich systematisch mit dieser Thematik zu befassen und den weitgehend uneingeschränkten Zugang zu den einschlägigen Archiven zu gestatten.

Bemerkungen zur Problematik der „Täter – Forschung“

Ein wesentliches Problem, das bei der Lektüre der einschlägigen Literatur deutlich wird, scheint im Begriff „Täter“ selbst begründet zu sein. Es besteht die Notwendigkeit zu klären, welche Verhaltensweise bzw. welche Funktionen innerhalb des faschistischen Repressionsapparates die Zuordnung zur Gruppe – genauer: zu jeweils welcher Gruppe – der „Täter“ sinnvoll erscheinen lassen. Es besteht die Gefahr, dass die inflationäre und undifferenzierte Verwendung des „Täter“ – Begriffs ihn konturenlos und inhaltsleer werden lässt. Ist zum Beispiel der Bahnhofsvorsteher oder der für Fahrplanangelegenheiten zuständige Reichsbahn – Angestellte, der für den reibungslosen Transport deportierter Juden in die Vernichtungslager sorgte, ein „Täter“? War es der Beamte in einem Berliner Bezirks oder Finanzamt, der in die verwaltungstechnischen Abläufe der so genannten Arisierung einbezogen war? Wenn ja, welcher Kategorie ist er zuzuordnen? Bestände eine Voraussetzung, um als „Täter“ zugelten, für ihn etwa darin, dass er bewusst handelte – aus weltanschaulicher oder politischer Überzeugung? Ist der Historiker oder Ökonom „Täter“, der Gutachten zur „Neuordnung“ Europas verfasst und – damit im Zusammenhang stehend – „Umsiedlungen“ großen Stils vorschlug? Unter welche Kategorie von „Täterschaft“ sind die zahlreichen Autoren von antisemitischen Hetzartikeln für die Tagespresse oder von Schulungsheften der NSDAP, der Hitlerjugend oder der SS zu subsumieren? Von entscheidender Bedeutung scheint bei alldem zu sein, dass einerseits keine Nivellierung des Schuldmaßes zwischen den sowohl politisch Verantwortlichen für den Holocaust in der Führung der Nazipartei und des faschistischen Staates als auch den intellektuellen „Vordenkern der Vernichtung“ und den Mördern in der Uniform der SS, der Sicherheitspolizei und der Wehrmacht und andererseits den vielen mittelbar oder unterstützend am Holocaust Beteiligten zugelassen wird. Allerdings haben auch letztere eine schwerwiegende Schuld auf sich geladen. Hilfreich erscheint beim heutigen Stand der Forschung die eingangs von Gerhard Paul zitierte, notwendigerweise grobe Unterscheidung von vier voneinander zu unterscheidenden „Täter“ – Gruppen, die aber sicherlich weiterer Ausdifferenzierungen bedarf. Worum es bei alledem geht, ist die Unterscheidbarkeit von Tätern und Tätergruppen nach dem Maß ihrer individuellen Verantwortung und Schuld, nicht etwa die Exkulpation der Masse der Bevölkerung, die mehr vom Holocaust gewusst hat, als sie nach der Befreiung zugab und die materiell durchaus von der Entrechtung, Enteignung und Ermordung der Juden profitierte.

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Um jedes Missverständnis auszuschließen, sei hier betont, dass es einen bedeutsamen Fortschritt der bundesdeutschen Geschichtsschreibung darstellt, wenn sie sich – endlich! – der Täter annimmt und dabei auch immer wieder die Biographien der betreffenden Personen nach 1945 untersucht. Besonders begrüßenswert ist es, dass in diesem Zusammenhang die faschistische Wehrmacht als Institution und in Gestalt einzelner Einheiten sowie am Holocaust beteiligter Generäle, Offiziere und Soldaten in den Fokus der Historiographie gerückt worden ist8 Allerdings besteht die Gefahr, dass dort, wo zunehmend von „Täterforschung“ die Rede ist, die Analyse der Herrschaftsverhältnisse, der gesellschaftlichen Strukturen und Interessen vernachlässigt wird, die den Holocaust ermöglichten, schließlich auf die Tagesordnung setzten und die Täter sozialisiert und konditioniert hatten, die schließlich keinerlei Skrupel kannten, an der Ermordung von sechs Millionen Juden ebenso wie am millionenfachen Mord an sowjetischen Kriegsgefangenen, der polnischen Intelligenz und den Sinti und Roma, den „Zigeunern“, teilzuhaben. Es verhielt sich wohl eher so: Die „Verhältnisse“ waren es, die sich die „Täter“ schufen – nicht umgekehrt. So bleibt aus unserer Sicht abschließend festzuhalten, dass – mit den Worten von Kurt Pätzold – „die jüdischen Menschen Europas das Opfer einer Strategie wurden, die einem umfassenderen imperialistischen Konzept zugehörte: dem Plan des deutschen Imperialismus, die Welt zu beherrschen, in ihr für alle Zeiten faschistisches ‚Recht’ zu setzen und über Leben und Tod von Dutzenden von Völkern zu entscheiden.“9

8 Vgl. Hamburger Institut für Sozialforschung, Hrsg., Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941 – 1944. Ausstellungskatalog, Hamburg 2002, bes. S. 77ff.; Inzwischen liegt – nicht zuletzt von der „Wehrmachts – Ausstellung“ angeregt – eine Fülle von Literatur zu diesem Thema vor. Vgl. z.B. Rolf – Dieter Müller u. Hans – Erich Volkmann, Hrsg., Die Wehrmacht. Mythos und Realität, München 1999; Kurt Pätzold, Ihr waret die besten Soldaten. Geschichte einer Legende, Leipzig 2000; Rolf – Dieter Müller, Hitlers Krieg im Osten 1941 – 1945, Darmstadt 2000; Omer Bartov, Hitlers Wehrmacht. Soldaten, Fanatismus und die Brutalisierung des Krieges, 2. Aufl., Reinbek 2000; Detlef Bald, Johannes Klotz u. Wolfram Wette, Mythos Wehrmacht. Nachkriegsdebatten und Traditionspflege, Berlin 2001; Wolfram Wette, Die Wehrmacht. Feindbilder – Vernichtungskrieg – Legenden, Frankfurt a. M. 2002; Hannes Heer, Vom Verschwinden der Täter. Der Vernichtungskrieg fand statt, aber keiner war dabei, Berlin 2004 (eine Kritik „von links“ an der neuen Konzeption der Wehrmachts – Ausstellung). Aus der älteren Literatur ist vor allem empfehlenswert: Arno J. Mayer, Der Krieg als Kreuzzug. Das Deutsche Reich, Hitlers Wehrmacht und die „Endlösung“, Reinbek 1989. 9 Kurt Pätzold, Von der Vertreibung zum Genozid. Zu den Ursachen, Triebkräften und Bedingungen der antijüdischen Politik des faschistischen deutschen Imperialismus, in: Faschismusforschung. Positionen – Probleme – Polemik, hrsg. v. Dietrich Eichholtz u. Kurt Gossweiler, Köln 1980, S. 207f. 24