A U S G E W Ä H L T E L I T E R a T U R Z U R P
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Rosa-Luxemburg-Stiftung –Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung - Seminarmaterialien A u s g e w ä h l t e L i t e r a t u r z u r P r o b l e m a t i k d e r T ä t e r d e s H o l o c a u s t Dr. Reiner Zilkenat, November 2004 1 Rosa-Luxemburg-Stiftung –Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung - Seminarmaterialien Vorbemerkung Die Anzahl der Veröffentlichungen zu den Tätern im Holocaust ist in den vergangenen Jahren stark angestiegen. Fast könnte man sagen, es habe sich die Täter – Forschung als eine eigenständige Disziplin innerhalb der Zeitgeschichtsschreibung etabliert.1 Dabei geht es nicht nur um biographische Studien von so genannten Schreibtischtätern, die zum Beispiel im Reichssicherheitshauptamt den Völkermord an den europäischen Juden planten und organisierten. Immer stärker geraten die „kollektiven“ Biographien der mit dem Holocaust befassten Funktionseliten des deutschen Faschismus in den Fokus der Historiker. Hier wird der Versuch unternommen, die Frage zu beantworten, ob es übereinstimmende Merkmale, z.B. in der Sozialisation, in der weltanschaulichen Ausrichtung und im beruflichen Werdegang dieser Personengruppe gibt. Zugleich geraten im wachsenden Maße die „Exzess-Täter“ in das Blickfeld der Forschung. Was bewog die Mörder in den Einsatzgruppen, den Polizei-Bataillonen, aber auch die am Holocaust beteiligten Täter aus den Reihen der Wehrmacht, sich ohne erkennbare Skrupel an brutalen Ghetto-Räumungen, an der Jagd auf versteckt gehaltene Juden und an Deportationen sowie schließlich an den Massenerschießungen von wehrlosen Männern, Frauen und Kindern zu beteiligen? Wie sind die menschenverachtenden Handlungen der in den Vernichtungslagern stationierten Wachmannschaften und Ärzte der SS zu erklären? Dabei werden zunehmend private Aufzeichnungen, Briefe an Familienangehörige und Freunde sowie Photographien als von den Historikern bislang vernachlässigte bzw. völlig unberücksichtigte Quellen ausgewertet, um Hinweise und Aufschlüsse über die je individuellen Motive und Rechtfertigungen für das verbrecherische Handeln der Täter, besonders in den vom deutschen Faschismus okkupierten Ländern, zu erhalten. Vor allem sind die Begriffe „Täter“ und „Täterschaft“ selbst stärker differenziert und zugleich weit über den ursprünglich in diesem Zusammenhang bezeichneten Personenkreis ausgedehnt worden. Gerhard Paul – einer der profiliertesten „Täter – Forscher“ – unterscheidet dabei Weltanschauungstäter, die auf allen Hierarchie – Ebenen anzutreffen gewesen seien; utilitaristisch orientierte Täter, die „vor dem Hintergrund antisemitischer Vorprägungen...Juden als ‚überflüssige Esser’ im Kampf um die knapper werden Ressourcen“2 betrachteten; kriminelle Exzesstäter, die „vorrangig aus niederen sexuellen und materiellen Motiven“3 handelten und schließlich traditionelle Befehlstäter, wie sie zum Beispiel in den mordenden Polizei – Bataillonen anzutreffen gewesen seien. In immer zahlreicheren Veröffentlichungen geht darüber hinaus um die „Mit-Täter“ in dem Sinne, dass sich viele „gewöhnliche“ Deutsche bereichert, dass sie zu einem erheblichen Teil wissentlich profitiert haben von der Diskriminierung, Entrechtung und physischen Vernichtung der Juden Europas. Viele Mitarbeiter in Behörden, Institutionen und Körperschaften waren zudem auf ihre Weise an der Vorbereitung und Realisierung der judenfeindlichen Politik der Nazis und des Holocaust beteiligt, sei es in den Finanzämtern oder bei der Deutschen Reichsbahn, sei es in den berufsständischen Kammern oder an den Universitäten und Hochschulen. Historische Verantwortung und Schuld kann so nicht länger allein auf die Himmler und Heydrich, Kaltenbrunner und Eichmann sowie an die „Exzess- Täter“ abgeladen, gleichsam an sie delegiert werden. Mit den Worten von Hans Mommsen: 1 Einschlägige Studien erscheinen vor allem in den Periodika „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“, „Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus“, „Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte“, „Holocaust and Genocide Studies“ sowie im „Bulletin für Faschismus- und Weltkriegsforschung“. 2 Gerhard Paul, Von Psychopathen, Technokraten und „ganz gewöhnlichen Deutschen“, in: derselbe, Hrsg., Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche?, 2. Aufl., Göttingen 2003, S. 61. 3 Ebenda. 2 Rosa-Luxemburg-Stiftung –Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung - Seminarmaterialien „Das Menetekel dieses Geschehens ist nicht zuletzt darin zu erblicken, dass die übergroße Mehrheit der Bevölkerung sich den gegen die Juden...gerichteten Gewalt- und Terrormaßnahmen nicht zu widersetzen wagte. Daher kann sich die deutsche Nation als ganzes von dem Vorwurf gestufter Komplizenschaft an dem Menschheitsverbrechen der Shoah nicht freisprechen.“4 Dieser Literaturbericht zur Problematik der Täter des Holocaust stellt selbstverständlich nur eine knappe Auswahl aus einer rasch anwachsenden und mittlerweile nur noch schwer überschaubaren Zahl einschlägiger Publikationen vor. Er soll aber einen ersten Eindruck über wichtige Veröffentlichungen zur Thematik bieten, vor allem aber andeuten, in welche Richtungen sich die gegenwärtige Forschung bewegt und welche Kontroversen dabei ausgetragen werden. Götz Aly u. Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, 4. Auflage, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2001. Die Autoren nehmen in dieser Studie Täter-Gruppen in den Blick, die bislang nicht oder nur in unzureichender Weise Gegenstand der Holocaust-Forschung waren: Wirtschafts-, Agrar- und Bevölkerungswissenschaftler sowie juristisch ausgebildete Verwaltungsfachleute, deren Ausarbeitungen eine völlige Neuordnung Europas unter der Dominanz des deutschen Faschismus zum Ziel hatten. In diesem Zusammenhang planten sie nicht zuletzt die völlige Neugestaltung von „Siedlungsräumen“, ungeachtet bestehender Grenzen, vor allem aber die „Beseitigung“ von vielen Millionen so genannten unnützen, weil „unproduktiven“ Essern im Osten Europas. Hierzu zählten sie in erster Linie die jüdischen Einwohner in Polen, der Sowjetunion und anderen Gebieten Mittel- und Osteuropas. Die Denkweise und die Sprache dieser Funktionselite des deutschen Faschismus lassen den Leser nicht selten erschaudern. Wertvoll sind die in den Text einmontierten Kurzbiographien einiger dieser „Vordenker der Vernichtung“, wie z.B. des Staatssekretärs im Reichsernährungsministerium Herbert Backe oder des Wirtschaftswissenschaftlers und „Ostraum-Spezialisten“ Prof. Dr. Theodor Oberländer. Die zahlreichen Hinweise auf die erfolgreichen Karrieren vieler dieser „Vordenker der Vernichtung“ nach 1945 stimmen nachdenklich und zornig zugleich. Alles in allem: Ein Standardwerk zur Täter-Forschung. Götz Aly, „Endlösung“. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 1998. Diese Darstellung des Holocaust, die 1939 beginnt und mit der so genannten Wannsee- Konferenz im Januar 1942 endet, entwickelt die Darstellung der „Vordenker der Vernichtung“ (siehe unter Aly/Heim) weiter. Auch in diesem Band werden die Motive der Täter bzw. Tätergruppen ausführlich analysiert, vor allem die Zusammenhänge des Völkermordes an den europäischen Juden mit den weitgespannten imperialen Zielen des deutschen Faschismus, deren Formulierung den Funktionseliten in der SS- nicht zuletzt im Reichssicherheitshauptamt -, in verschiedenen Bürokratien und in wissenschaftlichen Stäben erfolgte. Das Buch endet mit den „Nachsätzen der Mörder“ (S. 403-413), einer gelungenen Zusammenstellung prägnanter und offen formulierter Motive des Judenmordes durch Hitler, Goebbels, Eichmann und anderer planender wie „Exzess“-Täter. 4 Hans Mommsen, Auschwitz, 17. Juli 1942. Der Weg zur europäischen „Endlösung der Judenfrage“, München 2002, S. 189. Vgl. auch Robert Gellately, Hingeschaut und weggesehen. Hitler und sein Volk, Stuttgart u. München 2002, S. 213ff. 3 Rosa-Luxemburg-Stiftung –Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung - Seminarmaterialien Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Mit einem einleitenden Essay von Hans Mommsen, Piper Verlag, 12. Aufl., München 2002. Entstanden ist dieses Buch aus der Zusammenfassung von Reportagen über den 1961 in Jerusalem durchgeführten Eichmann-Prozess, die Hannah Arendt für den „New Yorker“ verfasste - bis zum heutigen Tag die meinungsbildende Zeitschrift liberaler Intellektueller in den USA. „Eichmann in Jerusalem“ schlug aus vielerlei Gründen hohe Wellen. Unter anderem deshalb, weil die Autorin die (erzwungene) Zusammenarbeit jüdischer Organisationen und der so genannten Judenräte mit den Nazi-Terroristen herausarbeitete – bis dahin ein Tabu-Thema in Israel und bei den Überlebenden des Holocaust -, und weil sie die Juden durchaus nicht nur in einer historischen Opferrolle sah, die seit Jahrtausenden ihre Existenz geprägt habe. Angesichts der gegenwärtigen Gedenkveranstaltungen, Fernsehsendungen und Buchpublikationen zum 60. Jahrestag des Attentats vom 20. Juli 1944 sei auch auf Arendts Analysen von Dokumenten der Verschwörer zur „Judenfrage“ hingewiesen. Zu Recht weist sie z.B. darauf hin, dass der als Reichskanzler vorgesehene Carl Goerdeler, der am 2. Februar 1945 in Berlin – Plötzensee erhängt wurde, zwar die Juden für ihre erlittenen Verluste und Misshandlungen „entschädigen“, zugleich aber die Überlebenden aus Deutschland nach Übersee in einen selbständigen Staat verbringen wollte (vgl. S. 186ff.). Antisemitische Ressentiments, ja, durchaus festgefügte judenfeindliche Einstellungen und Überzeugungen