Aus: KAS-Auslandsinformationen 1/2001

Reiner Biegel

Die Parlamentswahlen 2000 in Ägypten: Pyrrhussieg der Regierungspartei wird zur Niederlage

Die im Oktober/November 2000 in Ägypten abgehaltenen Parlamentswahlen waren mit großen Erwartungen verbunden. Staatspräsident Mubarak hatte saubere und faire Wahlen versprochen. Zum ersten Mal überwachten Richter in den Wahllokalen den Wahlverlauf. Da nicht genügend Richter zur Verfügung standen, wurden die Wahlen in drei Etappen durchgeführt. Nachdem bereits in der ersten Runde die allein regierende NDP nur auf ein Drittel der Stimmen kam und sich für sie ein Wahldisaster abzeichnete, wurde in der zweiten und dritten Runde den Anhängern der Opposition der Zugang zu den Wahllokalen, teilweise unter Einsatz massiver Gewalt, weitgehend verwehrt. Die Mehrzahl der unabhängigen Kandidaten, die einen Sitz gewonnen hatten, schloß sich umgehend der NDP an, wodurch die NDP mit 388 Sitzen einen klaren Wahlsieg errang. Überraschend gewannen die Islamisten als Unabhängige 19 von insgesamt 444 Sitzen.

Das Verständnis von Opposition in arabischen Staaten

Die im Oktober und November 2000 in Ägypten abgehaltenen Parlamentswahlen geben den Anlaß, grundsätzlich die Frage nach der Bedeutung von Wahlen und Parteien in arabischen Staaten aufzuwerfen1. Wahlen setzen allerdings voraus, daß es echte Alternativen gibt: zwischen einer Regierungspartei oder –koalition, die vom Wähler bestätigt oder durch Oppositionsparteien abgelöst wird, wie dies in den Demokratien westlicher Prägung regelmäßig der Fall ist.

In arabischen Staaten haben die Herrschaftseliten eine Auffassung von Opposition, die mit den Vorstellungen von Opposition in liberal-rechtsstaatlichen Demokratien kaum übereinstimmt. In der engeren politikwissenschaftlichen Diskussion läßt sich Opposition als „legitim anerkannte politische Gegenkraft im Institutionengefüge eines Regierungssystems“ charakterisieren2. Bei den arabischen Staaten handelt es sich um politische Systeme, die bezüglich der Zuweisung von politischen Rechten an Individuen und Gruppen oder Organisationen zwar graduelle Unterschiede aufweisen, aber im wesentlichen dadurch gekennzeichnet sind, daß ihr vorrangiges Interesse dem Machterhalt einer bestimmten politischen, sozialen, religiösen, ethnischen oder familiär definierten Elite gilt. Sie werden deshalb, je nach Standpunkt, mehr oder weniger differenziert als autoritär, patrimonialistisch oder (neo-)paternalistisch bezeichnet.

1 Vgl dazu: Ali E. Hellal Dessouki: „L`évolution politique de l`Egypte: pluralisme démoqratique ou néo- autoritarisme?“, in: Monde Arabe Maghreb-Mashrek 127 (1990), S. 7-16; Michael A. Köhler: „Wahlen – Partizipation – Demokratie? Welchen Einfluß haben Wahlen auf die Entwicklung der parlamentarischen Systeme und der politischen Parteien im Nahen und Mittleren Osten?, in: KAS-Auslandsinformationen 8/1995, S. 26-48; Cilja Harders: „“Die Furcht der Reichen und die Hoffnungen der Armen“ – Ägyptens schwieriger Weg zur Demokratie“, in: Gunter Schubert, Rainer Tetzlaff (Hrsg.): Blockierte Demokratien in der Dritten Welt, Opladen 1998, S. 267-295; Hanspeter Mattes: „Politische Opposition in Nordafrika“, in: Sigrid Faath, Hanspeter Mattes (Hrsg.): Politische Opposition in Nordafrika (= wuqûf Bd. 12, Beiträge zur Entwicklung von Staat und Gesellschaft in Nordafrika), Hamburg 1999, S. 9-77. 2 s. dazu: Walter Euchner: „Opposition“, in: Wolfgang W. Mickel: Handlexikon der Politikwissenschaft, München 1983, S. 322-325. 2

Politische Opposition wird folglich in den arabischen Staaten unterschiedlich definiert. So unterscheiden arabische Herrschaftseliten zwischen loyaler und illoyaler Opposition, was zur Folge hat, daß loyale Opposition als institutionell legalisiert angesehen wird und illoyale als illegitim und somit illegal gilt. Von Staat zu Staat graduell und temporär unterschiedlich wird illoyale (religiöse, ethnische, tribale oder militärische) Opposition strikt unterdrückt oder geduldet.

Die jährlich veröffentlichten Berichte von Organisationen wie Amnesty International u.a. über den Grad an Menschenrechtsverletzungen sowie die Einschränkungen politischer und bürgerlicher Freiheiten in den einzelnen Staaten führen regelmäßig zu dem Ergebnis, daß die arabischen Regime auf den unteren Rängen zu finden sind. Dies wirft eine Reihe von Fragen auf: ist der Islam, der in allen arabischen Ländern Staatsreligion ist, für den autoritären Charakter dieser Staaten allein oder mitverantwortlich?; liegt es an den dominanten klientelistischen Strukturen?; warum hat bisher kein einziger arabischer Staat eine konsolidierte Demokratie hervorgebracht?; warum hat sich noch keine politische Opposition herausgebildet, die in der Lage wäre, einen grundlegenden Systemwandel herbeizuführen?

Bei den Experten gehen die Meinungen, ob es nur eine Frage der Zeit sei, wann in den arabischen Staaten substantielle Anstrengungen in Richtung Liberalisierung und Demokratisierung unternommen werden, weit auseinander. Optimistischere Prognosen, die dies bejahen, führen drei Faktoren ins Feld: 1. langfristig würden die wirtschaftlichen Öffnungsprozesse auch zu einer politischen Liberalisierung führen; 2. erzeuge die wachsende Unzufriedenheit der jüngeren Generationen einen Veränderungsdruck und 3. brächte der schon begonnene Generationenwechsel an der Staatsspitze (Marokko, Jordanien, Syrien) reformfreudigere junge Herrscher an die Macht.

Pessimistischere Kenner der Region nennen fünf Gründe, die auf absehbare Zeit durchgreifende Veränderungen verhindern:

1. Die von den Staatsführungen unterhaltenen Patronagesysteme kooptieren bestimmte politische, soziale oder ethnische Gruppen durch die Gewährung wirtschaftlicher Privilegien (Im- und Exportlizenzen, Schutzzölle, gezielte Auftragsvergabe). Dadurch werden Rentenstrukturen gezielt zementiert. Einflußreiche wirtschaftliche Gruppen und eine entstehende Mittelklasse haben deshalb an einem Systemwandel kein Interesse.

2. Die Unterdrückung politischer Opposition bleibt neben der Kooptation ein bewährtes Mittel zur Aufrechterhaltung des Status Quo. Durch entsprechende Gesetze bleibt der Handlungsspielraum andersdenkender Personen oder Gruppen gering.

3. Die strukturelle Schwäche der Oppositionsparteien (geringes Interesse an Basisarbeit, Mitgliederschwäche, programmatische Defizite, Flügelkämpfe, fehlende Ressourcen, keine innerparteiliche Demokratie) auf der einen Seite und Gesetze, die eine aussichtsreiche politische Oppositionsarbeit systematisch behindern, auf der anderen Seite, lassen einen politischen Wechsel wenig aussichtsreich erscheinen.

4. Viele in den arabischen Staaten bestehende Nichtregierungsorganisationen sind noch kein Indikator für eine sich entwickelnde Zivilgesellschaft. Teils sind sie ebenfalls staatlich kooptiert und somit gebändigt, teils verfolgen sie nicht dem Gesamtwohl dienende Ziele, wie z.B. islamistische Einrichtungen, die nur ihre eigenen Vorstellungen, wie Staat und Gesellschaft aussehen sollen, gelten lassen.

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5. Hierarchisch-patriarchalische Strukturen prägen in arabisch-islamischen Staaten Familie, Unternehmen und Politik. Dem einzelnen Bürger werden kaum Möglichkeiten zu einer individuellen Entfaltung gegeben. Kritik auf allen gesellschaftlichen Ebenen wird deshalb meist als Infragestellung der Autorität von Vater, Ehemann, älterem Bruder, Unternehmens- oder Parteichef oder am Staatspräsident interpretiert. Im politischen Bereich wird damit oft implizit ein Verrat an Staat und Nation suggeriert, weshalb das Wort Opposition gesellschaftlich zwiespältig bleibt: wo ist die Grenze zwischen berechtigter Kritik und wo beginnt Kritik die Grundfesten des Systems zu erschüttern? Solange die Interessenvertretungen, aus der Sicht der Betroffenen durchaus berechtigt, von hierarchisch geprägten Familien-, Stammes- oder anderen Gruppeninteressen bestimmt bleiben, ist es wenig wahrscheinlich, daß der Staat Autorität sukzessive zum Wohl der Bürger abgibt.

Die im Herbst 2000 in Ägypten stattgefundenen Parlamentswahlen illustrieren anschaulich die angeschnittenen Problembereiche. Mittelfristig wird die politische Opposition nicht nur in Ägypten, sondern im gesamten arabischen Raum, weiter zahnlos bleiben. Zwar gab es bei den Wahlen in Ägypten insgesamt Zeichen eines ernsthafteren Bemühens um mehr Pluralismus und Demokratie, aber substantiell wird sich das politische System Ägyptens nicht ändern.

Politische Parteien und Gruppierungen

Zur Zeit sind in Ägypten 15 politische Parteien zugelassen, von denen aber neben der Regierungspartei NDP tatsächlich nur vier Parteien neben den als Unabhängige kandierenden Muslimbrüdern den Sprung in die ägyptische Volksversammlung geschafft haben. Zur regierenden NDP von Präsident Mubarak konnte sich allerdings keine der Oppositionsparteien als ernsthafte politische Gegenkraft etablieren.

Das heutige Parteiensystem Ägyptens ging aus der von Präsident Anwar as-Sadat ab 1974 eingeleiteten politischen Liberalisierung hervor. Nach dem Tode Nassers 1970 entmachtete Sadat, als Vizepräsident war er automatisch sein designierter Nachfolger, im Mai 1971 in der sogenannten „Korrektivrevolution“ alle innenpolitischen Konkurrenten und leitete eine wirtschaftliche Öffnung (arab. infitah) ein, um die stagnierende Wirtschaft zu beleben3. Die nach der ägyptischen Revolution 1952 von gegründeten Einheitsparteien Arabische Union (1957-61), zuletzt ab 1962 die Arabische Sozialistische Union (ASU), umfaßten alle gesellschaftlich relevanten Institutionen (Medien, Gewerkschaften, Universitäten u.a.). Innerhalb der ASU bestanden informell politisch sehr unterschiedliche Gruppierungen. Dies führte noch in der Ära Nasser nach der Niederlage gegen Israel im Juni- Krieg 1967 in und außerhalb der Einheitspartei ASU zu wachsender Kritik an deren Effizienz sowie zu Forderungen nach mehr Demokratie.

Der neue Staatspräsident Sadat glaubte sich aber erst nach dem militärischen Teilerfolg gegen Israel im Oktober-Krieg 1973 stark genug, den Reformforderungen mit eigenen Initiativen begegnen zu können. Im April 1974 stellte er in einem Papier umfassende politische und wirtschaftliche Reformen in Aussicht. Im August des gleichen Jahres löste ein zweites

3 Vgl. dazu Gudrun Krämer: Ägypten unter Mubarak: Identität und nationales Interesse, Baden-Baden 1986, insbes. S. 33-128; Olaf Köndgen: „Ägypten 1993: Politik, Wirtschaft, Gesellschaft“, in: KAS- Auslandsinformationen 9/1993, S. 8-19; Thomas Koszinowski: „Die Ohnmacht der ägyptischen Parteienopposition: strukturbedingt oder hausgemacht?“, in: Sigrid Faath, Hanspeter Mattes (Hrsg.): Politische Opposition in Nordafrika (= wuqûf Bd. 12, Beiträge zur Entwicklung von Staat und Gesellschaft in Nordafrika), Hamburg 1999, S. 99-123; „A rundown of `s political parties“, in: Middle East Times, 22.-28.10.2000. 4

Arbeitspapier eine lebhafte Debatte über mögliche Reformen des Wahlsystems, der Verfassung und der möglichen Zulassung politischer Parteien aus.

1975 beschloß die Einheitspartei ASU die Einführung von sogenannten parteiinternen Meinungsforen, worauf sich rund 40 Foren unterschiedlichster politischer Richtungen bildeten. Sadat, der als Staatspräsident automatisch auch den Vorsitz der ASU übernommen hatte, beabsichtigte ursprünglich durch die Gründung dieser lose strukturierten Foren, die verschiedenen politischen Auffassungen innerhalb der ASU besser kontrollieren zu können. Sadat beschränkte deshalb im März 1976 drastisch die Anzahl der Foren auf drei: eine regierungsnahe „Mitte“, das Demokratisch-Sozialistische Forum unter Ministerpräsident Mamduh Salim, das später in Arabisches Sozialistisches Forum Ägypten umgetauft und kurz Misr-Forum genannt wurde (arab. misr heißt Ägypten); das Sozialistische Forum der Liberalen unter Mustafa Khalid Murad sollte den rechten Flügel vertreten und das National- Progressive Forum, angeführt von Khalid Mohieddin, sollte das linke Spektrum umfassen.

Die drei Foren wurden kurz darauf in „Organisationen“ (tanzimat) umgewandelt und nahmen als Quasi-Parteien an den Parlamentswahlen im Herbst 1976 teil. Bei der Konstituierung des neuen Parlamentes am 11.11.1976 gab Sadat die Umwandlung der Organisationen in politische Parteien bekannt: die Arabische Sozialistische Partei (ASP) ging aus dem Misr- Forum hervor, die Sozialistische Partei der Liberalen (SPL) stand für das rechte Lager und die National-Progressive Unionistische Sammlungs-Partei (NPUSP) versammelte die Anhänger des linken Spektrums. Mit dem Gesetz Nr. 40 vom 3.7.1977, das die Zulassung politischer Parteien regelte, konstituierte sich im August 1977 die Neue Wafd-Partei (NWP). Al-Wafd (arab. Delegation) bezeichnet ursprünglich die Delegation der ägyptischen Nationalbewegung zur Versailler Friedenskonferenz. Ab 1923 war sie die wichtigste Partei Ägyptens bis zur Revolution 1952. Im Juli 1978 gründete Sadat die National-Demokratische Partei (NDP), der umgehend die Mehrzahl der Mitglieder der ASP beitrat. Allerdings war Sadat mit den existierenden Oppositionsparteien nicht einverstanden, weshalb er im Oktober 1978 die Sozialistische Partei der Arbeit (SPA) gründen ließ, die als loyale Oppositionspartei agieren sollte.

Damit war die erste Gründungswelle von Parteien zunächst einmal abgeschlossen. Erst unter Staatspräsident wurden neue Parteien zugelassen. Allerdings erhielten die Parteien ihre Zulassung nicht vom zuständigen Parteienkomitee, sondern sie erstritten sich ihren legalen Status durch die Gerichte, nachdem ihre Anträge auf Zulassung vom Parteienkomitee abgelehnt worden waren. In der ersten Hälfte der neunziger Jahre erfolgte eine wahre Gründungswelle von neuen Parteien. Zuletzt wurde im Jahr 2000 eine nasseristisch orientierte Partei legalisiert. Insgesamt handelt es sich um unbedeutende Splitterparteien, von denen nur die Arabische Demokratische Nasseristische Partei (ADNP) im Parlament vertreten ist. Die Muslimbrüder bemühten sich bisher vergeblich um die Zulassung einer eigenen Partei, obwohl oder weil sie die wichtigste politische Kraft in Ägypten darstellen.

Die Regierungspartei

National-Demokratische Partei (NDP, al-hizb al-watani al-dimuqrati)

Die NDP ging aus der nasseristischen Einheitspartei ASU hervor und stützt sich einerseits auf deren Ideologie und andererseits auf die politischen Überzeugungen des NDP-Gründers Sadat. Aufgrund dieser Vermengung verschiedener ideologischer Standpunkte ist das Konzept der NDP alles andere als einheitlich: in der Partei gibt es sowohl Anhänger eines 5

Sozialismus nasseristischer Prägung als auch jener, die sich auf die von Sadat eingeleitete Öffnungspolitik berufen. Wie in der Verfassung vorgesehen, übernahm Hosni Mubarak als Sadats Stellvertreter nach dessen Ermordung 1981 sowohl das Präsidentenamt als auch den Vorsitz der NDP. Wie in anderen arabischen Staaten (Tunesien, Syrien, Irak) gibt es auch in Ägypten zwischen höchstem Staatsamt und dem Vorsitz der Regierungspartei, die quasi als Einheitspartei fungiert, eine Personalunion4. Mubarak betont zwar, daß er Präsident eines demokratisch-pluralistischen Systems sei, in der Realität agiert er aber eher als Staats- und Parteichef eines nasseristischen Einparteienstaates. Aufgrund der unterschiedlichen ideologischen Standpunkte innerhalb der NDP wirkt die Regierungspartei eher farblos und programmatisch ohne feste Konturen. Dies wird noch durch die Tatsache unterstrichen, daß Mubarak an ideologischen Fragestellungen wenig interessiert ist.

Innenpolitisch unterstützt die NDP offiziell das Mehrparteien- und ein unabhängiges Rechtssystem, sowie die Pressefreiheit. Als Rechtsquelle für die Gesetzgebung, insbesondere für Sozialgesetze, dient das islamische Recht (sharia). In der Wirtschaftspolitik genießt die Privatisierung von Staatsunternehmen oberste Priorität. In der Außenpolitik kommt den ägyptisch-amerikanischen Beziehungen eine hohe Bedeutung zu. Offiziell gilt der ägyptisch- israelische Friedensvertrag als nicht revidierbar. Die herausragende Vermittlerrolle Mubaraks im Nahostkonflikt wird von der NDP mitgetragen.

Die NDP stützt sich als Regierungspartei hauptsächlich auf den staatlichen Verwaltungsapparat, den sie für ihre parteipolitischen Ziele jederzeit mobilisieren kann. Dies ist vor allem deshalb möglich, weil die Provinzgouverneure und andere Spitzenbeamte Mitglieder der NDP sind. Im Unterschied zu den Oppositionsparteien ist die Regierungspartei somit landesweit präsent. Besonders bei Wahlen hat die NDP mit den ihr zur Verfügung stehenden Verwaltungen und Parteizentralen strukturelle Vorteile gegenüber den Oppositionsparteien. Die auf rund 2,5 Millionen geschätzten Mitglieder der NDP kommen vor allem aus der öffentlichen Verwaltung und dem staatlichen Sektor, da eine Mitgliedschaft in der NDP weniger aus Überzeugung angestrebt wird, sondern eher dazu dient, persönliche und berufliche Vorteile zu erlangen.

Obwohl die NDP gegenüber den Oppositionsparteien über entscheidende Vorteile verfügt, ist wie bei allen Parteien ihre Basisarbeit wenig ausgeprägt5. Hohe Wahlsiege der Regierungspartei dürfen daher nicht darüber hinweg täuschen, daß sie ebenso wenig eine Basis in der Bevölkerung hat wie die anderen Parteien. Die Bedeutung der NDP gründet sich auf ihre Rolle als Regierungspartei, die in der Lage ist, die Staatsbürokratie für ihre Interessen jederzeit einspannen zu können. Außerdem übt sie entscheidenden Einfluß durch die Vergabe von Posten und Finanzmitteln aus.

4 Vgl. dazu: Reiner Biegel, „Die neuen und die alten Pharaonen. Das Regime Mubarak nach dem Plebiszit vom 26. September 1999“, in: KAS-Auslandsinformationen 10/99, S. 21-41. 5 Vgl. dazu: The Group for Democratic Development (Hrsg.): „Egyptian Political Parties: Problems and Solutions“, Kairo 1999; darin v.a. die Einleitung des Al-Ahram-Journalisten Ahmed al-Muslimany, S. 11-15, der über die Rolle der politischen Parteien und der berufsständischen Organisationen ein vernichtendes Urteil fällte:„....weak political parties flatter the syndicates and professional syndicates hide their weakness under a pretension of politics. In both cases, the press kept publishing regularly news of financial and political corruption in political parties. In the meantime, the reports of the Central Authority for Auditing accused regularly the unions of financial and professional corruption. Weakness killed politics in parties and politics killed the professional issues in unions. To the great extent there are no longer parties or unions. They have become a group of jobless people making a living in political parties, and of professionals making investments in the syndicates.“

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Vorsitzender der Partei ist Hosni Mubarak, der gleichzeitig Staatspräsident ist und seit 1981 dreimal ohne Gegenkandidaten 1987, 1993 und 1999 per Referendum in seinem Amt bestätigt worden ist. Für die Parteiarbeit von Bedeutung ist der Generalsekretär Yussuf Wali, gleichzeitig Landwirtschaftsminister und dessen Stellvertreter Kamal al-Shazli, der zugleich Minister für Parlaments- und Shura-Angelegenheiten ist.

Die Oppositionsparteien

Sozialistische Partei der Liberalen (SPL, hizb al-ahrar al-ishtiraki)

Die SPL ist eine der drei Parteien, die aus der ASU hervorgegangen ist. Sie sollte nach dem Willen Sadats das rechte Parteispektrum umfassen und vertrat anfangs, hauptsächlich im wirtschaftlichen Bereich, eine liberale Politik und forderte eine Stärkung der Privatwirtschaft. Die politische Bedeutungslosigkeit der Partei war ein Ausschlag gebender Grund dafür, daß sie in den Wahlen von 1987 ein Bündnis mit den Muslimbrüdern einging. Sie zählt mit nur rund 65.000 Mitgliedern zu den kleinen Parteien. Der 1998 verstorbene Parteichef Husain Kamil verhalf der Partei zu einigem Ansehen, da er 1952 Mitglied der Freien Offiziere um Nasser gewesen war. Nach seinem Tod kam es in der Partei zu Machtkämpfen um den Parteivorsitz, die bis heute nicht beendet sind. Viele liberal gesinnte Mitglieder weigerten sich, den islamistischen Kurs zu unterstützen und wechselten zur Wafd-Partei.

National-Progressive Unionistische Sammlungs-Partei (NPUSP, hizb al-tajammu al-watani al-taqqadumi al-wahdawi, kurz al-tajammu)

Die Tajammu-Partei war aus dem linken Lager der ASU hervorgegangen. Sie sieht sich als der Interessenvertreter des nasseristischen Erbes: arabischer Nationalismus und Sozialismus sowie eine laizistische Gesellschaftsordnung bilden die ideologischen Grundpfeiler der Partei. Eine islamisch geprägte Ordnung wird strikt abgelehnt. Die Partei ist ein Sammelbecken für Kommunisten, Marxisten, Atheisten und linke Islamisten. Sadats Öffnungspolitik wurde als Verrat an den Idealen Nassers gesehen und scharf kritisiert. Zwar erhebt die Partei den Anspruch, die Interessen der Arbeiter und Bauern zu vertreten, erhält tatsächlich aber eher von Intellektuellen Unterstützung. Der Rückhalt in der Bevölkerung ist gering, die Zahl der Mitglieder soll rund 150.000 betragen. Ihr Vorsitzender Khalid Mohieddin genießt als einer der noch wenigen lebenden Mitglieder der Freien Offiziere hohes Ansehen und fungiert innerhalb der Partei als Integrationsfigur.

Neue Wafd-Partei (NWP, hizb al-wafd al-jadid)

Mit dem Gesetz Nr. 33 von 1978 „zum Schutz der inneren Front und des sozialen Friedens“, das alle Politiker, die vor der Revolution 1952 das politische Leben „korrumpiert“ hatten, von der aktiven Politik ausschloß, mußte die Wafd-Partei nach nur einjährigem Bestehen ihre Arbeit einfrieren. Sie konnte sich erst am 2.1.1984 neu konstituieren. Bis 1952 hatte die Wafd-Partei das politische Leben in Ägypten bestimmt. Sie vertritt nationalliberale Ordnungsvorstellungen, insbesondere im Wirtschaftsbereich und ein säkularistisches Gesellschaftsmodell, was ihr auch die Unterstützung der koptischen Bevölkerung sichert. Sie unterhält als einzige Oppositionspartei gute Beziehungen zur Wirtschaft, was ihr auch eine gewisse Finanzkraft verleiht. Die Partei setzt sich für eine Direktwahl des Staatspräsidenten ein. Mit geschätzten zwei Millionen Mitgliedern sieht sie sich als einzige ernsthafte Oppositionspartei zur regierenden NDP. Der langjährige Parteichef Fuad Serageddin starb hochbetagt im Sommer 2000. Sein Stellvertreter Numan Goma wurde zum neuen Generalsekretär der Partei gewählt. 7

Sozialistische Partei der Arbeit (SPA, hizb al-amal al-ishtiraki)

Die SPA ist eine Partei, die auf Veranlassung von Sadat als loyale Oppositionspartei gegründet und am 11.12.1978 offiziell zugelassen wurde. Sie entwickelte sich allerdings zu einer äußerst kritischen Opposition unter ihrem Vorsitzenden Ibrahim Shukri, der vor der Revolution der nationalistischen Partei Junges Ägypten angehört hatte. Seit ihrem Wahlbündnis mit den Muslimbrüdern ist der islamistische Einfluß in der Partei stetig gewachsen und ersetzte nach und nach die anfangs sozialistisch-nationalistische Ideologie. Ihr gehören vor allem aus dem Mittelstand kommende Vertreter der islamistisch unterwanderten Berufsorganisationen (Ärzte, Ingenieure, Lehrer) sowie Jugendliche und Studenten an. Mit Parteibüros in 25 Gouvernoraten ist sie neben der Wafd-Partei am weitesten verbreitet. Der Generalsekretär Adil Husain ist der Repräsentant des islamistischen Flügels. Zur Zeit ist die Arbeit der Partei eingefroren und sie war zu den Wahlen nicht zugelassen worden, da sie in der Vergangenheit nach Meinung der Staatsgewalt ihre Kritik am politischen System überzogen habe. Mehrere Journalisten der Parteizeitung Al-Sha`b verbüßen Haftstrafen.

Weitere Oppositionsparteien und Gruppierungen

Bei den übrigen zehn zugelassenen Oppositionsparteien handelt es sich um unbedeutende Splitterparteien, die mit Ausnahme der Arabischen Demokratischen Nasseristischen Partei (ADNP, hizb al-arabi al-dimuqrati al-nasiri) nicht im Parlament vertreten sind. Fast alle Parteien wurden in der ersten Hälfte der neunziger Jahre gegründet. Allen ist gemeinsam, daß sie in der Bevölkerung keine Basis haben. Ihre parteipolitische Programmatik ist diffus, weshalb sie eher als elitäre Debattierclubs anzusehen sind. Das staatliche, von der Regierungspartei NDP dominierte Parteienkomitee handhabt die Zulassung neuer Parteien äußerst restriktiv. Erschwerend kommt für die Zulassung hinzu, daß Parteien vom Parteienkomitee nur legalisiert werden, wenn sich ihre Programme klar von den bereits bestehenden Parteien und deren ideologischer Ausrichtung unterscheiden. So werden Anträge auf Parteizulassung allein meist deshalb verweigert, weil das Parteienkomitee der Ansicht ist, daß es bereits mindestens eine Partei gäbe, deren Programm mit der zuzulassenden übereinstimmt. So wartet mindestens ein knappes Dutzend von Parteien, die das gesamte politische Spektrum umfassen, auf ihre Zulassung.

Die Muslimbruderschaft (al-ikhwan al-muslimun)

Die Bewegung der Muslimbrüder6. wurde 1928 von dem Lehrer Hassan al-Banna gegründet. Es handelte sich um die erste Bewegung, die den Islam politisch instrumentalisierte und eine islamische Herrschaft anstrebte. Ihr Motto „Der Islam ist die Lösung“ (al-islam al-hall) hat bis heute Bestand. Da aber laut Verfassung politische Parteien auf der Grundlage von Religion, Sprache, Region und ethnischer Zugehörigkeit verboten sind, wurden Anträge der

6 Zur Entwicklung der Muslimbrüder s. u.a.: Martin Forstner: „Auf dem legalen Weg zur Macht? Zur politischen Entwicklung der Muslimbruderschaft Ägyptens“, in: Orient 29 (1988) 3, S. 386-422; Olaf Farschid: „hizbiya: Die Neuorientierung der Muslimbruderschaft Ägyptens in den Jahren 1984 bis 1989“, in: Orient 30 (1989) 1, S. 53-73; Gilles Kepel: Der Prophet und der Pharao. Das Beispiel Ägypten: Die Entstehung des muslimischen Extremismus, München 1995; Franz Kogelmann: „“Wenn ihr mit den Ungläubigen zusammentrefft, dann haut ihnen mit dem Schwert auf den Nacken!“ Zur Rechtfertigung der Gewaltanwendung militanter Islamisten in ihrem Kampf gegen den ägyptischen Staat“, in: Sigrid Faath, Hanspeter Mattes (Hrsg.): Politische Opposition in Nordafrika (= wuqûf Bd. 12, Beiträge zur Entwicklung von Staat und Gesellschaft in Nordafrika), Hamburg 1999, S. 79-98; Denis J. Sullivan, Sana Abed-Kotob: Islam in Contemporary Egypt: civil society vs. the state, Boulder 1999.

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Muslimbrüder auf Zulassung als Partei regelmäßig abgelehnt. Um dem Vorwurf zu entgehen, eine rein religiöse Partei zu sein, nahmen die Muslimbrüder bei ihrem 1996 gestellten Antrag auf Zulassung der Zentrumspartei (hizb al-wasat) auch drei Kopten in den 70 Personen umfassenden Gründungsausschuß auf, trotzdem wurde ihrem Antrag nicht stattgegeben.

Die Muslimbrüder, obwohl nicht als Partei zugelassen, sind die einzige ernst zunehmende politische Opposition in Ägypten. Dies hängt vor allem mit den schlechten sozialen Bedingungen zusammen, unter denen mehrere Millionen Ägypter zu leiden haben. Der Staat hat zwar in der Vergangenheit Arbeitsplätze durch die Aufblähung des öffentlichen Sektors geschaffen, kann aber nicht allen Arbeit suchenden Ägyptern eine Stelle beschaffen. Die Arbeitsplatzgarantie im Staatsdienst für Hochschulabgänger war nicht länger finanzierbar und wurde abgeschafft. Im sozialen Bereich hat der Staat weitgehend versagt. Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung sind völlig unzureichend entwickelt. In diese Bresche sprangen die Muslimbrüder, die besonders in Armenvierteln sukzessive Funktionen des Staates übernahmen. Sie gründeten dafür u.a. islamistisch-karitative Organisationen, die Armenspeisungen ebenso übernahmen wie den Unterhalt von Krankenhäusern und Sozialstationen sowie die Schaffung von Arbeitsplätzen, besonders für Jugendliche, die keine Perspektive mehr haben.

Damit verbunden war aber die politische Instrumentalisierung des Islam: mit der Übernahme der Sozialfunktionen ging eine politisch-religiöse Indoktrination einher, die insbesondere in den neunziger Jahren auch einen gewaltbereiten Extremismus einschloß. Durch dieses Engagement für sozial schwache und benachteiligte Bevölkerungsschichten erreichten die Muslimbrüder im Gegensatz zu den politischen Parteien die Menschen direkt und verschafften sich somit breite Unterstützung. Seit dem erkennbaren Scheitern panarabischer sozialistischer Ideologien ist nicht nur in Ägypten eine Rückbesinnung auf islamische Werte zu beobachten. Die von den Muslimbrüdern vertretene Position, allein den Islam und das islamische Recht, die Sharia, als Richtschnur des Handelns zu nehmen, stoßen in weiten Bevölkerungskreisen auf positive Resonanz. Damit verbunden ist eine Zurückweisung importierter (westlicher) Ideologien, umso mehr als das in einigen arabischen Staaten praktizierte Modell einer sogenannten präsidialen Demokratie mit einem eher machtlosen Parlament von einem Großteil der Bevölkerung als für sie unmittelbar nutzlos empfunden wird. Ihr aktive Anhängerschaft wird auf rund eine Million geschätzt.

Tabelle 1: Die politischen Parteien in Ägypten

Gründung/ Parteichef/ Vollständiger Name Zulassug Generalsekretär Parteiorgan Politische Ausrichtung Nationaldemokratische Partei (NDP) 1978 Hosni Mubarak/ Al-Mayo zentristisch GS Jussuf Wali (wöchentlich) liberal Neue Wafd Partei 1978 Dr. Numan Goma Al- Wafd (täglich) Rechts-liberal ( kurz: Al-Wafd) Sozialistische Partei der Liberalen 1976 Mehrere Konkurrenten Al-Ahrar Rechts mit (kurz: Al-Ahrar) (wöchentlich) islamistischen Strömungen National-Progressive Unionistische 1976 Khaled Mohieddin Al-Ahaly links Sammlungs-Partei (kurz: Al- (wöchentlich) (sozialistisch/ Tajammu) marxistisch) Arabisch Demokratische 1992 Diyaa Eddin Dawoud Al-Arabi links, panara- Nasseristische Partei (ADNP) (wöchentlich) bisch, etatistisch 9

Sozialistische Partei der Arbeit (kurz: 1978 Ibrahim Shukri Al-Shaab (2 x Woche) islamistisch/ Al-'Amal) nationalistisch Umma-Partei 1983 Ahmed Al-Sabahi nationalistisch

Partei der Grünen 1991 ? Al-Khodar Schutz der (unregelmäßig) Umwelt Partei für Soziale Gerechtigkeit 1993 Mehrere freiheitlich (kurz: Al-Adala) Konkurrenten Partei Junges Ägypten 1990 Ahmed Sonbul Al-Watani links (kurz: Misr al-Fatat) (wöchentlich) (sozialistisch/ marxistisch) Demokratisch Unionistische Partei 1990 Ibrahim (Abdel Al-Nil (unregelmäßig) Undefiniert/ (kurz: Al-Ittihad) Moneim) Turk Vereinigung mit Sudan Arabische Sozialistische Partei 1992 Gamal Rabie ? Al-Misr (wöchentlich) links Ägyptens (kurz: Misr al-Arabi) Demokratische Volkspartei 1992 Anwar Afifi Al-Alam Al- populistisch (kurz: Al-Sha`b al-dimuqrati) Dimukratiya (wöchentlich) Partei der Solidarität 1995 Osama Shaltut Al-Takaful soziale Solidarität (kurz: Al-Takaful) (unregelmäßig) Partei der nationalen Eintracht (kurz: 2000 Ahmed Shoheid nasseristisch Al-Wafak)

Quelle: Moheb Zaki: Civil Society and Democratization in Egypt, 1981-1994, Kairo 1995, S. 78-79 und Thomas Koszinowski: „Die Ohnmacht der ägyptischen Parteienopposition: strukturbedingt oder hausgemacht?“, in: Sigrid Faath, Hanspeter Mattes (Hrsg.): Politische Opposition in Nordafrika (= wuqûf Bd. 12, Beiträge zur Entwicklung von Staat und Gesellschaft in Nordafrika), Hamburg 1999, S. 99-104.

Grundlagen der Wahlgesetzgebung

Das Wahlgesetz

Das heutige Wahlgesetz stammt aus dem Jahre 1987. In Ägypten gibt es ein zwei Kammer- Parlament: die 454 Abgeordnete umfassende „Volksversammlung“, von denen 444 vom Volk direkt gewählt und zehn vom Staatspräsidenten ernannt werden, übt die Legislativgewalt aus. Der Präsident kann eigene Dekrete erlassen, die ebenfalls Gesetzeskraft besitzen. Der Präsident kann das Parlament nur auflösen, wenn ihn dazu die Bevölkerung in einer Volksabstimmung ermächtigt. Laut Verfassung kann das Parlament Minister durch ein Mißtrauensvotum stürzen, was aber für den Ministerpräsidenten nur bedingt zutrifft. Außerdem schlägt das Parlament mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit den Präsidentschaftskandidaten den wahlberechtigten Ägyptern in einer Volksabstimmung zur Bestätigung vor.

Direktmandate werden durch ein Mehrheitswahlrecht vergeben. Erhält ein Kandidat im ersten Wahlgang nicht die absolute Mehrheit, ist ein zweiter Wahlgang erforderlich, bei dem nur die Kandidaten antreten, die als Arbeiter bzw. Bauer und/oder als Angehörige anderer Berufe (arab. fi`at) das zuvor beste Stimmenergebnis erreicht haben. Selbst wenn in der ersten Runde zwei Kandidaten der fi`at vorne gelegen hätten, muß der zweitbeste zugunsten eines Arbeiter/Bauern-Kandidaten verzichten.

Daneben gibt es noch eine 1980 ins Leben gerufene „Beratende Versammlung“ (majlis al- shura), die aus 258 Abgeordneten besteht und theoretisch von der Regierung unabhängig ist. In der Praxis kommt es aber vor, daß gegen die Regierung gerichtete Entscheidungen des 10

Shura-Rates mit Hilfe des Ausnahmerechtes übergangen werden. Eine Mitgliedschaft in beiden Kammern ist nicht zulässig. Die Dauer der Mitgliedschaft beträgt sechs Jahre, aber alle drei Jahre werden 50 Prozent der Shura-Mitglieder neu gewählt bzw. vom Präsidenten ernannt. Zwei Drittel der Shura-Abgeordneten werden vom Volk gewählt, wobei auch hier 50 Prozent Arbeiter bzw. Bauern sein müssen, ein Drittel wird ernannt.

Das Parteiengesetz

Das Parteiengesetz Nr. 40 von 1977 regelt die Zulassung von politischen Parteien. Es wurde durch das Gesetz Nr. 33 von 1978 „zum Schutz der inneren Front und des sozialen Friedens“ ergänzt. Darin wird Personen, die sich vor der Revolution der „Korrumpierung des politischen Lebens“ schuldig gemacht haben oder von einem Revolutionsgericht wegen „Bildung von Machtzentren“ verurteilt worden sind, jegliche politische Betätigung untersagt. Die Zulassung als Partei ist nur möglich, wenn sie folgende Grundprinzipien anerkennt: das islamische Recht, die Sharia, als Hauptquelle der Gesetzgebung, die Einhaltung der nationalen Einheit, des sozialen Friedens, des sozialistischen demokratischen Systems sowie der sozialistischen Errungenschaften. Ebenso muß jede Partei die Prinzipien der Revolutionen von 1952 und 1971 bejahen. Parteien dürfen nicht Ableger einer ausländischen Partei sein (dies zielt v.a. auf Kommunisten und die beiden Baath-Parteien in Syrien und Irak) und nicht vom Ausland finanziert werden. Ähnlich wie in Algerien und Tunesien sind in Ägypten Parteien nicht zugelassen, die sich in ihrem Namen und ihren Programmen auf eine Religion, Rasse, Region, Sprache, einen Berufsstand oder ein Geschlecht beziehen. Damit sind Parteien auf religiöser Basis (islamistische und koptische Parteien) automatisch ausgeschlossen.

Über die Zulassung als Partei entscheidet ein Parteienkomitee, dem überwiegend Mitglieder der Regierungspartei NDP angehören. Erschwerend kommt hinzu, daß einer neuen Partei als Gründungsmitglieder mindestens 20 Parlamentarier angehören und mindestens die Hälfte der 50 Gründungsmitglieder Arbeiter oder Bauern sein müssen. Somit übt die regierende NDP von Anfang an eine Kontrollfunktion bei der Parteienneugründung aus. Zur Zeit gibt es 15 Parteien in Ägypten, die das gesamte politische Spektrum von ganz links bis ganz rechts umfassen. Dazu kommen Zulassungsanträge von Parteien mit liberaler oder islamistischer Ausrichtung.

Wahlrecht und Wahlmodus

Das aktive Wahlrecht besitzen alle Einwohner, Männer und Frauen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben. Das passive Wahlrecht besitzen Männer und Frauen ab 30 Jahren. Angehörige der Sicherheitskräfte (Polizei, Militär) sind nicht wahlberechtigt.

Ein Relikt der nasseristischen Revolution von 1952 ist die in der Verfassung verankerte Bestimmung, daß mindestens die Hälfte der gewählten Abgeordneten der Volksversammlung entweder Arbeiter oder Bauern sein müssen. Die anderen 50 Prozent dürfen anderen Berufsgruppen angehören. Gleichzeitig gilt, daß auch mehr als 50 Prozent Arbeiter bzw. Bauern ins Parlament einziehen dürfen, nicht aber umgekehrt Angehörige anderer Berufe. Darüber, wer denn nun Arbeiter oder Bauer ist, wurde heftig gestritten7.

Wahlüberwachung

Erstmals in der Geschichte Ägyptens wurden Parlamentswahlen von Richtern überwacht, um einen korrekten Wahlablauf zu gewährleisten. In der ersten und zweiten Wahlrunde wurden je

7 S. dazu: „The silent 50%“, in: Al-Ahram Weekly, 9.-15.11.2000. 11 rund 5.000 Richter eingesetzt, in der dritten waren es rund 6.700. Zuvor gab es heftige Debatten, welche Justizinstitutionen mit der Überwachung zu betrauen seien. Insbesondere in der dritten Runde, als es galt, den Wahlsieg der NDP zu sichern und weitere Sitzgewinne der Muslimbrüder zu verhindern, wurden auch Richter Opfer von Übergriffen seitens der Sicherheitskräfte. Insgesamt wurde die Überwachung von allen politischen Parteien und Gruppierungen als Meilenstein eines transparenteren Wahlverlaufs gelobt. Schon während der Wahlen wurden Wahlausgänge angefochten und von Gerichten als ungültig erklärt. Ob tatsächlich die Gerichtsurteile von Legislative und Exekutive respektiert werden, bleibt offen. Ausländische Wahlbeobachter waren mit dem Hinweis auf die richterliche Überwachung nicht zugelassen worden.

Wahlinformation, Wahlkampf und Wahlverlauf

Für die 444 der durch Direktwahl zu bestimmenden Parlamentssitze stellten sich knapp 4000 Kandidaten und Kandidatinnen zur Wahl8. Zehn Abgeordnete ernennt der Staatspräsident nach den Wahlen. Insgesamt gibt es in den 26 Gouvernoraten 222 Wahlkreise, das bedeutet, daß jeweils zwei Abgeordnete einen Wahlkreis vertreten. Die Hälfte der Abgeordneten eines Wahlkreises müssen Arbeiter oder Bauern sein. Von den 15 zugelassenen Parteien wurde die Sozialistische Partei der Arbeit aufgrund einer vorläufigen Suspendierung ihrer Aktivitäten nicht zu den Wahlen zugelassen. Jedoch kandidierten Parteimitglieder oder der Partei nahestehende als unabhängige Kandidaten. Die überwältigende Mehrheit (rund 80%) der Kandidaten gingen als Unabhängige ins Rennen um einen Parlamentssitz, dazu traten zehn Parteien an9. Fünf Parteien nahmen überhaupt nicht an den Wahlen teil.

Tabelle 2: Wahlkreiseinteilung in Ägypten

Anzahl der 26 Gouvernorate Wahlkreise (insg. 222)

Kairo 25 Giza 14 Alexandria 11 Qalyubiya 9 Sharqiya 14 Gharbiya 13 Beheira 13 Daqahliya 17 Minufiya 11 Matrouh 2 Kafr Al-Sheikh 9 Dumyat 4 Port Said 3 Suez 2

8 Nach der Prüfung der eingereichten Listen wurden vor den Wahlen 4116 Kandidaten zu den Wahlen zugelassen; laut offiziellem Endergebnis waren es schließlich nur noch 3965 Kandidaten.; vgl. dazu Al-Wafd, 27.9.2000, Al-Ahram, 28.9.2000, Al-Hayat, 3.10.2000. Alle Zahlenangaben sind höchst unterschiedlich und ungenau. Auch die vom Innenministerium veröffentlichten Zahlen zum offiziellen Endergebnis sind umstritten und unvollständig. Beste Quellen stellen die drei großen arabischsprachigen Zeitungen Al-Ahram, Al-Hayat, und Al-Wafd dar, auch wenn sie ebenfalls widersprüchliche Informationen liefern, sowie die englischsprachigen Zeitungen Al-Ahram Weekly, Middle East Times und Times. 9 Die Angaben über die definitive Anzahl der Kandidaten sind unterschiedlich; sie schwanken zwischen 3292 und 3387. 12

Ismailiya 3 Nord-Sinai 3 Süd-Sinai 2 Faiyoum 7 Beni Suef 7 Minya 11 Assiut 10 Sohag 14 Qena 11 Assuan 3 Neues Tal 2 Rotes Meer 2

Den Parteiführern wurden insgesamt 40 Minuten Sendezeit in den staatlichen Fernsehprogrammen zugestanden. Die Regierungspartei NDP hatte den Vorteil, auch außerhalb der Wahlwerbesendungen Radio und Fernsehen für ihre parteipolitischen Zwecke zu nutzen, da sie ganzjährig über das Informations- und Meinungsmonopol verfügt. Private arabische Satellitensender, wie der in Qatar stationierte Sender Al-Jazira, haben mittlerweile die Sehgewohnheiten in praktisch allen arabischen Staaten, so auch in Ägypten, radikal verändert. Sie berichten weitaus offener über innen- und außenpolitische Ereignisse in der arabischen Welt und eröffnen somit den Bevölkerungen mehr Informationsvielfalt. Die von arabischen Satellitensendern ausgestrahlten politischen Talkshows, bei denen jeweils sehr pointiert Pro- und Contra-Standpunkte von den Diskussionsteilnehmern vorgetragen werden, relativieren zusätzlich die einseitige Berichterstattung der staatlichen arabischen Fernsehkanäle.

Mit Beginn der Wahlkampagne verwandelten sich die Straßen des Landes in ein buntes Meer von Stoffbannern und Plakaten10. Zwar verbot das Innenministerium das Anbringen von Stoffbannern an großen Straßen, Plätzen sowie an Straßenlaternen, was aber in der Regel weder von den Kandidaten beachtet noch vom Innenministerium konsequent geahndet wurde. Auf den Stoffbannern nahm der Name des Kandidaten den größten Teil der Werbefläche ein, teilweise auch durch ein nach einer Photovorlage realistisch gemaltes Bild ergänzt. Um auf eine entsprechende berufliche Erfahrung oder Qualifikation hinzuweisen, wurden Titel wie „Ingenieur“ oder „Doktor“ immer genannt. Nahm der Bewerber zum Zeitpunkt der Wahlkampagne eine einflußreiche Stellung ein, so nahm er auch darauf Bezug.

Wichtig war der Hinweis, ob der Kandidat als Arbeiter oder Bauer zur Wahl antrat oder ob er einer sonstigen Berufsgruppe zuzurechnen war. Trat ein Kandidat für eine kleine, relativ wenig bekannte Splitterpartei an, war es eher weniger wichtig, diese auf dem Wahlplakat auch zu erwähnen. Bei einer vor den Wahlen gemachten Umfrage konnten nur 1,9% der Befragten die Anzahl der zugelassenen Parteien richtig angeben.

Die hohe Analphabetenquote von knapp 50 Prozent macht es notwendig, daß unabhängig von der Schrift Werbeflächen und Stimmzettel mit Merkmalen versehen werden müssen, die es dem Analphabeten ermöglichen, unzweifelhaft die Kandidaten unterscheiden zu können. Während etwa in Tunesien jeder Partei eine bestimmte Farbe zugeordnet wird, wählt sich in

10 Vgl. dazu: Sherif Mohsen: „Ru`ya naqdia li-l-da`iya al-intikhabiya“ (Die kritische Meinung zur Wahlwerbung) in: Qadaya Barlamaniya 12/2000, S. 8-11. 13

Ägypten jeder Kandidat ein Symbol oder Logo11, das auf den mit Texten versehenen Stoffbahnen ebenso auftaucht wie auf Plakaten mit dessen Photo. In Wahlveranstaltungen weist deshalb der Kandidat besonders auf das zu ihm gehörende Symbol hin. Vor den Wahlen mußte sich jeder zugelassene Kandidat von den staatlichen Behörden ein Logo besorgen, das er dann während der gesamten Wahlkampagne benutzen durfte. Am begehrtesten waren die Symbole „Halbmond“ und „Kamel“. Dies lag einerseits daran, daß diese beiden Logos schon in früheren Parlamentswahlen meist den Kandidaten der Regierungspartei NDP zugesprochen wurden und sie andererseits in weiten Kreisen der Bevölkerung als Glücksbringer gelten. Offiziell kann sich aber jeder Kandidat, unabhängig von seiner politischen Ausrichtung, um jedes Symbol bemühen. Tatsächlich mußten Kandidaten, die nicht für die NDP antraten, die Erfahrung machen, daß am Tag der Zuteilung der Symbole, die begehrten Logos „Halbmond“ und „Kamel“ schon unmittelbar morgens bei Büroöffnung um acht Uhr vergeben waren. Kritiker wiesen darauf hin, daß durch die illegale vorherige Vergabe der Logos schon vor den Wahlen manipuliert würde.

Auch die „Zahlenmagie“ spielt bei vielen Ägyptern eine wichtige Rolle. Obwohl die Numerierung auf den Wahllisten ein reines Ordnungssymbol darstellte, galten einige Zahlen bei den Kandidaten als sehr begehrt, da ihnen im Volksglauben bestimmte Eigenschaften zugesprochen werden: so steht z.B. die „Eins“ für Fortschritt, die „Fünf“ schützt vor Neid und die „Dreizehn“ gilt als schlechtes Omen.

Die Texte auf den Stoffbahnen hatten entweder appellativen Charakter: „Gib deine Stimme dem Kandidaten der Tajammu-Partei – Die Beteiligung des Volkes ist der Weg zur Veränderung – Die Probleme der Jugend und die Arbeitslosigkeit sind unsere Priorität“ oder verkündeten die den Kandidaten unterstützenden Gruppen: „Die Anwohner der Bahgat Ali- Straße schlagen Dr. Helmi Maghrabi als Mitglied im Parlament vor“.

Gegenüber früheren Parlamentswahlen, bei denen es Dutzende von Toten gab, waren bei den Wahlen 2000 weitaus weniger gewalttätige Auseinandersetzungen mit Toten und Verletzten festzustellen. Laut offiziellen Angaben kamen insgesamt sieben Menschen ums Leben, 102 Personen wurden verletzt12. Die Gewalttätigkeiten konzentrierten sich auf den Norden Ägyptens, insbesondere im Nildelta. Fehden zwischen konkurrierenden Familienclans führten dort zur Gewalt, während sie sich in Oberägypten eher mäßigend verhielten. Auch in Orten, wo Mitglieder oder Sympathisanten der verbotenen Muslimbrüder als Unabhängige kandidierten, kam es zu Zusammenstößen zwischen Wählern und Sicherheitskräften, die mit Gewalt gegen die Muslimbrüder und deren Anhänger vorgingen. Mit Absperrungen von Wahllokalen, Ausgangssperren und Abweisen von „islamisch“ aussehenden Wählern („Bärtige“ in traditioneller Kleidung) sowie Übergriffe auf in- und ausländische Journalisten wurde ein Klima der Einschüchterung erzeugt. Während sich in der ersten Phase die Sicherheitskräfte deutlich zurück hielten, schritten sie nach der abzusehenden Wahlschlappe der NDP massiv zugunsten der Regierungspartei ein.

Über die Wahlbeteiligung gibt es keine genauen Zahlen, sie dürfte allerdings nur zwischen 15 und 40 Prozent gelegen haben, obwohl die Rahmenbedingungen durch die richterliche Überwachung der Wahlen eher günstig waren und zu einer größeren Vertrauensbildung bei

11 u.a. wurden folgende Symbole verwendet: Halbmond, Kamel, Laterne, Regenschirm, Lampe, Wanduhr, Armbanduhr, Palme. 12 S. dazu: Reman Maher Kamel: „Zahira al-`unf fi al-intikhabat majlis al-sha`b“ (Das Phänomen Gewalt bei den Parlamentswahlen), in: Qadaya Barlamaniya 12/2000, S. 23-25. 14 den potentiellen Wählern führen sollte13. Die Wahlbeteiligung war generell höher in Mittel- und Oberägypten als Unterägypten, in Dörfern höher als in Städten, in Armenvierteln höher als in Vierteln einkommensstärkerer Schichten. In Kairo lag sie teilweise nur bei 20 Prozent, was dazu führte, daß in einzelnen Wahlbezirken schon 5.000 Stimmen zum Sieg in der ersten Runde ausreichten, während in Oberägypten Kandidaten mit 15.000 Stimmen scheiterten. In Kairo betrug die Wahlbeteiligung in Vierteln mit sozial schwacher Bevölkerung 30-40 Prozent, während sie in Vierteln der Mittel- und Oberschicht nur 5-10 Prozent erreichte. In Mittel- und Oberägypten lag die Wahlbeteiligung bei rund 65 Prozent, wobei insbesondere Frauen häufiger zur Wahl als früher gingen.

In den Medien wurde massiv für die Teilnahme an den Wahlen geworben. Prominente Vertreter der Muslime und Christen riefen dazu auf, sich an den Wahlen zu beteiligen. Der Nahostkonflikt, hier insbesondere die sogenannte „Al-Aqsa-Intifada“ spielte im Wahlkampf eine außerordentlich große Rolle. Da hierüber auch die arabischen Satellitensender ausführlich informierten, führte dies bei großen Teilen der Bevölkerung zu einem geschärfteren Bewußtsein über politische Freiheiten. Im Wahlkampf machten besonders die Muslimbrüder und die Nasseristen den Kampf der Palästinenser zu einem zentralen Wahlkampfthema. Die Korruptionsskandale, in die einige Abgeordnete des letzten Parlamentes verwickelt waren, wurden ebenfalls aufgegriffen. Mehreren Abgeordneten war zuvor die Immunität entzogen und der Prozeß gemacht worden.

Analyse der Wahlergebnisse

Das Wahlergebnis

Zu den Parlamentswahlen waren 24.602.241 eingetragene Wähler aufgerufen. Die erste Wahlrunde fand am 18. und 25. Oktober 2000 statt. In neun Gouvernoraten (Alexandria, Beheira, Minufiya, Port Said, Suez, Ismailiya, Faiyoum, Sohag, Qena) waren 150 Sitze zu vergeben, um die sich 1262 Kandidaten bewarben.

Tabelle 3: Ergebnisse der 1. Runde der Parlamentswahlen (150 Sitze*)

Partei/politische Gruppierung Offizielles Wafd 26.10. Wafd 27.10. Hayat, 26.10. Ergebnis Ahram, 26.10. NDP 58 55 59 118 Unabhängige 85 89 85 26 Davon NDP-Unabhängige Davon Muslimbrüder 6 Davon Nasseristen 1 Davon Islamisten 1 Wafd 1 1 1 1 Tajammu 3 3 3 3 Nasseristen 1 1 Gesamt 148 148 148 148

* Zwei Sitze sind noch nicht vergeben, da die Wahlen in einem Wahlkreis in Alexandria wiederholt werden müssen.

13 S. dazu: Maisa Mohamed Al-Deeb: „al-musharaka al-intikhabiya...al-waqa`i wa al-tatallu`at“ (Die Wahlbeteiligung...Tatsachen und Erwartungen), in: Qadaya Barlamaniya 12/2000, S. 36-39. 15

Die zweite Wahlrunde wurde ebenfalls in neun Gouvernoraten (Daqahliya, Gharbiya, Sharqiya, Kafr Al-Sheikh, Dumyat, Rotes Meer, Nord- und Süd-Sinai, Assuan) am 29. Oktober und 5. November 2000 durchgeführt, wo sich 1358 Kandidaten um 134 zu vergebende Sitze bewarben.

Tabelle 4: Ergebnisse der 2. Runde der Parlamentswahlen (134 Sitze)

Partei/politische Gruppierung Offizielles Wafd, Hayat, Ergebnis, Ahram 06.11. 06.11. 06.11. NDP 48 42 47 Unabhängige 77 87 81 Davon NDP-Unabhängige 54 64 59 Davon Muslimbrüder 9 Davon Nasseristen 1 Davon Islamisten Wafd 3 3 3 Tajammu 1 1 1 Nasseristen 1 1 2 Gesamt 130* 134 134

*: Wafd-Zahlen stimmen nicht ganz!

In der dritten Runde wurde am 8. und 15. November 2000 in acht Gouvernoraten (Kairo, Giza, Beni Suef, Minya, Assiut, Matruh, Neues Tal) gewählt. Um die 160 Sitze konkurrierten 1325 Kandidaten.

Tabelle 5: Ergebnisse der 3. Runde der Parlamentswahlen (160 Sitze)

Partei/politische Gruppierung Wafd Hayat, Offizielles 16.11. Ergebnis NDP 76 Unabhängige 77 Davon NDP-Unabhängige Davon Muslimbrüder 2 Davon Nasseristen Davon Islamisten Wafd 3 Tajammu 2 Nasseristen 1 Ahrar 1 Gesamt 160

16

Abb. 1: Sitzverteilung in der Volksversammlung nach Mandaten

14Unabhängige 7 Nasseristen 6 Tajammu Islamisten 19 1 Ahrar

Wafd 7

NDP 175

213 NDP-Unabhängige

17

Abb. 2: Sitzverteilung in der Volksversammlung nach politischen Strömungen

250

213

200 175

150

100

50

17 14 7 2 5 2 6 1 0 NDP Wafd Ahrar Tajammu Nasseristen Unabhõngige Muslimbr³der unabh. Islamisten NDP-Unabhõngige unabh. Nasseristen Die Regierungspartei NDP: der Pyrrhussieg wird zur Niederlage

Dank der landesweiten Organisationsstruktur der regierenden NDP konnte sie in allen 222 Wahlkreisen die maximale Anzahl von 444 Kandidaten präsentieren. Klares Wahlziel der NDP war, mindestens zwei Drittel der Parlamentssitze zu erringen, damit die Partei im Parlament den Präsidentschaftskandidaten für die Volksabstimmung nominieren und alle Gesetzesvorhaben der Regierung verabschieden kann. Ein Wahlsieg, bei dem die Partei zwar die stärkste Partei würde, aber nicht mehr allein regieren könnte, kam für die NDP überhaupt nicht in Betracht. Da Präsident Mubarak gleichzeitig Parteivorsitzender der Regierungspartei 18

NDP ist, wäre im Selbstverständnis der NDP das Erreichen von weniger als zwei Drittel einer Niederlage gleich gekommen.

Kritiker warfen der Partei vor, sie würde sich weder erneuern noch verjüngen. Eine Gerontokratie beherrsche die Partei seit dem Machtantritt Mubaraks 1981 seit 20 Jahren. Die NDP reagierte und wechselte 42 Prozent der Kandidaten aus14. Unter den Kandidaten waren nur elf Frauen und drei Kopten, 35 Universitätsprofessoren, 45 Anwälte, 30 Ingenieure, sieben Geschäftsleute, 35 Gewerkschaftsfunktionäre und fünf Medienvertreter. Außerdem bewarben sich sechs amtierende Minister: Jussuf Wali, Minister für Landwirtschaft und NDP- Generalsekretär, Kamal El-Shazli, Minister für Parlamentsangelegenheiten, Jussuf Boutros Ghali, Wirtschaftsminister, Mohamed Ibrahim Soliman, Minister für Wohnungsbau, Mahmoud Abu Zeid, Minister für Wasserressourcen und Sayyid Mashal, Minister für Rüstungsproduktion.

Aber schon in der ersten Runde scheiterten prominente NDP-Politiker reihenweise. In Alexandria und in Qena fielen die beiden NDP-Parteisekretäre durch. Drei Vorsitzende von Parlamentsausschüssen wurden nicht wiedergewählt. In der zweiten Runde erreichten weder die beiden NDP-Parteisekretäre von Nord- und Süd-Sinai ein Mandat noch ein weiterer Vorsitzender und ein stellvertretender Vorsitzender von Parlamentsausschüssen. In der dritten Runde fielen zwei ehemalige Minister durch. In einigen Gouvernoraten erlebte die NDP ein Debakel: in Suez verlor sie alle Sitze, in Port Said errang sie nur einen, in Assuan einen von sechs, in Kafr El-Sheikh nur einen von 18 und in Sharqiya acht von 18. Insgesamt kam die NDP in der ersten Runde nur auf 38 Prozent der Stimmen. Durch den unmittelbar anschließenden Übertritt unabhängiger Kandidaten erhöhte sich das Ergebnis auf 76 Prozent. In der zweiten Runde erreichte sie nur 35 Prozent und Erfolge in der dritten Runde konnte sie nur durch das massive Einschreiten der Sicherheitskräfte verbuchen, die potentielle Wähler, die für Unabhängige oder Oppositionsparteien stimmen wollten, vom Urnengang abhielt. Insgesamt kam die NDP auf knapp 40 Prozent (175 Sitze) und zusammen mit den Unabhängigen, die 48 Prozent (213 Sitze) erreichten, hat die NDP nun mit 388 von 444 Sitzen eine komfortable Mehrheit.

Das Wahldebakel löste innerhalb der Partei hitzige Debatten aus. So meinte auch der Sohn des Präsidenten, Gamal Mubarak, daß jetzt eine Erneuerung der Partei dringend geboten sei. Kritiker sehen trotz der massiven Behinderungen im dritten Wahlgang und der Übertritte der Unabhängigen zur NDP als positiv an, daß die Partei, wenn sie nicht weiteren Kredit bei ihren Anhängern verspielen wolle, sich grundlegend reformieren müsse. Dies sei nur möglich, wenn innerhalb der NDP, wie in den anderen Parteien auch, mehr innerparteiliche Demokratie praktiziert werde.

Die Oppositionsparteien: enttäuschendes Abschneiden

Einige der Oppositionsparteien, insbesondere die Wafd-Partei, waren mit großen Erwartungen in die Wahl gegangen. Das mehr als bescheidene Resultat, nur 17 Sitze von bisher 442 vergebenen Sitzen, das entspricht 3,9 Prozent, wirft die Frage auf, warum sie so schwach abgeschnitten haben. Schon bei der Nominierung von Kandidaten blieben die Parteien mit Ausnahme der Wafd-Partei hinter den Erwartungen. Konnte die Wafd-Partei noch 272 Kandidaten in 173 Wahlkreisen aufbieten, so waren es bei der Tajammu nur 52 Kandidaten in

14 S. dazu: Mohamed Hussein Al-Sayyid: „Ada al-hizb al-watani al-dimuqrati“ (Die Leistungen der National- Demokratischen Partei), in: Qadaya Barlamaniya 12/2000, S. 26-30; 19

48 Wahlkreisen, bei den Nasseristen 33 Kandidaten in 31 Wahlkreisen und die Ahrar veröffentlichte überhaupt keine Zahlen15.

In Relation zu den aufgebotenen Kandidaten schnitt die Tajammu am besten ab: von 52 nominierten Kandidaten kamen sechs ins Parlament (11,5%), die Wafd kann sieben von 272 Kandidaten (2,5%) ins Parlament entsenden, die Nasseristen zwei von 33 (6%) und Ahrar ist mit einem Abgeordneten vertreten. Die übrigen fünf angetretenen Oppositionsparteien gingen leer aus.

Die Parteien nutzten ihre parteinahen Zeitungen, um ihre Kandidaten zu unterstützen. Allerdings geschah dies sehr unterschiedlich. Während die Wochenzeitung der Tajammu- Partei, Al-Ahali, eine gleichmäßige Berichterstattung über alle ihre Kandidaten verfolgte und deshalb wohl vergleichsweise gut abschnitt, erhielten bei den Nasseristen nur 22 Kandidaten durch ihr Parteiblatt Al-Arabi eine kontinuierliche Rückendeckung, elf Kandidaten wurden dagegen völlig vernachlässigt. Die Wafd-Partei war nach dem Tod ihres Parteivorsitzenden Serageddin im August 2000 eher mit Personalfragen beschäftigt, anstatt sich um eine gezielte Wahlkampfvorbereitung zu kümmern. Sie erlag der irrigen Annahme, man müsse nur genügend Kandidaten aufstellen, dann würden auch viele gewählt werden. Die kleineren Parteien schnitten auch deshalb besser als die Wafd ab, weil sie ihr Augenmerk, ihrer finanziellen und personellen Schwäche wohl bewußt, auf wenige Wahlkreise konzentrierten. Die Wafd hat kontinuierlich in der Bevölkerung an Rückhalt verloren16. Das gleichnamige Parteiorgan der Partei mußte in den letzten zehn Jahren einen Auflagenrückgang von einmal 250.000 Exemplaren pro Tag auf heute nur noch 60.000 hinnehmen.

Generell kann festgestellt werden, daß die Parteien das Vertrauen der Wähler verloren haben. Der große Erfolg unabhängiger Kandidaten zeigt, daß ausschließlich Personen gewählt werden, die prominenten Familienklans entstammen und die sich ausgeprägter um die Sorgen und Nöte der Menschen in ihren Wahlkreisen kümmern, aber nicht Parteien und deren diffuse Programme Anklang finden.

Die Unabhängigen: die Muslimbrüder sind die eigentlichen Gewinner

Der verbotenen Organisation der Muslimbrüder gelang es mit Duldung des Staates, 75 Sympathisanten bzw. Mitglieder als unabhängige Kandidaten aufzustellen. 17 wurden gewählt (22%), außerdem gewannen zwei weitere Islamisten als Unabhängige je einen Sitz, die sich aber nicht den Muslimbrüdern zugehörig fühlen. Die Staatsgewalt hat die Beharrlichkeit der Islamisten sträflich unterschätzt. Zwar sahen sich schon in der ersten Runde die Muslimbrüder mit Behinderungen konfrontiert, aber erst als nach der ersten Wahlrunde sich beachtliche Gewinne der Islamisten abzeichneten, zog sie die Notbremse und versuchte in der zweiten und dritten Runde weitere Sitzgewinne der Muslimbrüder mit Gewalt und Manipulationen zu verhindern17. Vor und während der Wahlen wurden hunderte von Anhängern der Muslimbrüder verhaftet.

15 S. dazu: Said Okasha: „Ada ahzab al-mu`arida fi al-intikhabat“ (Die Leistungen der Oppositionsparteien bei den Wahlen), in: Qadaya Barlamaniya 12/2000, S. 20-22. 16 S. dazu: „Illusions of grandeur“, in: Cairo Times, 9.-15.11.2000; „Dreaming of better times“, in: Al-Ahram Weekly, 23.-29.11.2000; „Watch this space“, in: Al-Ahram Weekly, 23.-29.11.2000. 17 S. dazu: „Poll tough on Islamists“, in: Al-Ahram Weekly, 19.-25.10.2000; „Competition and apathy“, in: Al- Ahram Weekly, 19.-25.10.2000; „Thugs, clubs and out-of-town buses“, in: Cairo Times, 26.10.-1.11.2000; „Brotherhood makes surprise elections“, in: Middle East Times, 29.10.-4.11.2000; „Against the odds“, in: Al- Ahram Weekly, 2.-8.11.2000; „Brotherhood ahead“, in: Al-Ahram Weekly, 2.-8.11.2000; Capitalising on the clampdown“, in: Al-Ahram Weekly, 16.-22.11.2000; „Back in the saddle“, in: Cairo Times, 16.-22.11.2000. 20

Die Wahlen zeigten eindrucksvoll, daß die Muslimbrüder straff organisiert sind und sich auch durch Behinderungen nicht von ihrem Kurs abbringen ließen. Bei der Auswahl und Nominierung ihrer Kandidaten für die einzelnen Wahlbezirke gingen die Muslimbrüder gezielt strategisch vor. Hatten sie noch bei den letzten Wahlen rund 170 Kandidaten nominiert, so beschränkten sie sich dieses Mal auf 75. In Wahlkreisen, in denen prominente Politiker der Regierungspartei NDP antraten, stellten die Muslimbrüder mit einer Ausnahme erst gar keine Kandidaten auf. In Kairo kandidierte u.a. Seif Al-Islam Hassan Al-Banna, der Sohn des Gründers der Muslimbrüder. Im Wahlbezirk Dokki im Gouvernorat Giza trat, wie schon fünf Jahre zuvor, der Sprecher der Muslimbrüder, der 72jährige Ma`amoun El-Hodeibi, gegen die NDP-Kandidatin und ehemalige Sozialministerin, Amal Osman an. Um den Wahlsieg von El-Hodeibi zu verhindern, ließen die Sicherheitskräfte zu den Wahllokalen schließlich nur sichere NDP-Wähler zu.

Unter den übrigen Kandidaten, die als Unabhängige ins Rennen um einen Parlamentssitz, gingen, waren NDP-Mitglieder, die bei der Kandidatenkür innerhalb der Partei nicht nominiert worden waren. Nachdem sie ein Mandat errungen hatten, schlossen sie sich umgehend der NDP an. Darüber entbrannte in der Öffentlichkeit ein heftiger Streit. Gegner dieser Übertritte beschuldigten diese des Betrugs am Wähler, da sie schließlich als Unabhängige gewählt worden seien. Andere argumentierten, ein Übertritt verletze die Verfassung, da nachträglich eine Rückkehr von NDP-Parteimitgliedern, die als Unabhängige angetreten waren, nicht möglich sei. Eine dritte Gruppe überließ die Entscheidung den Gewählten, da sie schließlich nur ihrem Gewissen verantwortlich seien. Einig waren sich die meisten, daß in dieser Frage die Verfassung nachgebessert werden müsse.

Unter den Unabhängigen waren auch prominente Unternehmer, wie der römisch-katholische Christ Rami Lakah, der in einem Wahlbezirk in Kairo antrat und gewann18. An ihm entzündete sich die Frage, ob Kandidaten mit doppelter Staatsbürgerschaft überhaupt berechtigt seien, an den Wahlen teilzunehmen. Lakah besitzt die französische und ägyptische Staatsbürgerschaft. Kritiker werfen ihm vor, er wolle die mit einem Parlamentsmandat verbundene Immunität nutzen, um ungestört seine Geschäfte zu betreiben und vor möglicher Strafverfolgung sicher zu sein.

Die Frauen: die großen Wahlverliererinnen

1956 erlangten die Frauen umfangreichere politische Rechte, darunter auch das Wahlrecht. Der Anteil von Frauen in der ägyptischen Volksvertretung lag in den letzten 40 Jahren zwischen 0,5 und 2 Prozent19. Eine Ausnahme bildete das Jahr 1979, als der Anteil von Frauen im Parlament 9,7 Prozent betrug. Dies ging zurück auf das Gesetz Nr. 21 von 1979, das vorsah, daß mindestens 30 Sitze im Parlament an Frauen vergeben werden mußten. Mit dem Gesetz Nr. 188 von 1986 wurde die eingeführte „Frauenquote“ zwar wieder rückgängig gemacht, trotzdem blieb der Frauenanteil im Parlament vergleichsweise hoch, da bis 1990 das Listenwahlrecht galt. Wurden auf den Wahllisten der einzelnen Parteien entsprechend Frauen nominiert, kamen bei der Wahl der Liste diese dann auch automatisch ins Parlament. Das Gesetz Nr. 201 von 1990 ersetzte das Listenwahlrecht durch das Personenwahlrecht, weshalb die Anzahl der Frauen von 1990 noch zehn auf 1995 nur noch fünf Frauen zurück ging.

18 S. dazu: „The politician versus the businessman“, in: Al-Ahram Weekly, 9.-15.11.2000; „Citizen Lakah“, in: Cairo Times, 16.-22.11.2000. 19 Vgl dazu: Ashraf Kashk: „Tamtil al-mar´a wa al-aqbat fi majlis al-sha`b“ (Die Vertretung der Frauen und der Kopten im Parlament), in Qadaya Barlamaniya 12/2000, S. 16-19. 21

Nicht nur die Regierungspartei NDP trat deshalb schon im Sommer 2000 mit der Absicht an die Öffentlichkeit, die Frauenquote deutlich erhöhen zu wollen20. Der nationale Frauenrat, dem die Präsidentengattin Suzanne Mubarak vorsteht, legte im August 2000 eine Liste mit 160 Namen von Frauen vor, die für die regierende NDP kandidieren sollten. Die Oppositionsparteien kündigten ebenfalls an, Frauen als Kandidatinnen aufstellen zu wollen. Selbst die als äußerst konservativ geltende Muslimbruderschaft wollte, da als politische Partei nicht zugelassen, Frauen als Unabhängige ins Rennen schicken.

Die hoch gesteckten Erwartungen, die bei unabhängigen ägyptischen Frauenorganisationen und anderen politisch engagierten Frauen geweckt worden waren, lösten die Parteien in keinster Weise ein. Im Gegenteil, ihre Erwartungen wurden bitter enttäuscht. Trotz der prominenten Fürsprache von Suzanne Mubarak präsentierte die Regierungspartei NDP unter ihren 444 Kandidaten gerade mal elf Frauen. Alle Proteste von Frauenorganisationen, ob von der regierungsnahen Alliance for Arab Women (AAW) oder dem kritischeren Egyptian Center for Women`s Rights (ECWR) fruchteten nichts. Die Wafd-Partei brachte es auf acht Frauen unter 272 Kandidaten. Insgesamt stellten die zu den Wahlen angetretenen Parteien nur 24 Frauen auf.

Obwohl seit 1990 die Anzahl der Kandidatinnen sich fast verdreifacht hat (1990: 42 Frauen, 1995: 87 und 2000: 120), blieben die Resultate bescheiden: statt bisher fünf gewählter Frauen, wurden in die neue Volksversammlung sieben Frauen gewählt; das entspricht einem mageren Anteil von 1,6 Prozent statt einer bisherigen Quote von 1,1 Prozent.

Überraschend ist aber, daß fünf der gewählten Frauen aus dem ländlichen Ägypten kommen, Regionen, die allgemein als traditionell und konservativ gelten: je eine Frau wurde im Nildelta (Gouvernorat Dumiyat) gewählt, in der südwestlich von Kairo gelegenen Oase El- Fayoum sowie in den mittel- und oberägyptischen Landstädten Beni Suef, Sohag und Minya (zusammen 71,2% der gewählten Frauen), wobei Sohag und Minya als doppelt brisant gelten: einerseits ist dort der Anteil christlich-koptischer Bewohner überproportional hoch, andererseits gilt der Nilabschnitt zwischen den beiden Landstädten als Hochburg der Islamisten. Im Großraum Kairo, wo der Nil die admininistrative Grenze zwischen den Gouvernoraten Kairo und Giza bildet, schafften nur zwei Frauen von 78 zu wählenden Abgeordneten den Sprung ins Parlament (=28,8%)21.

Tabelle 6: Anzahl der gewählten Frauen im Parlament 1957-2000

Anzahl der Anzahl In Prozent Wahljahr Parlaments- Der Sitze Frauen Juli 1957 360 2 0,5 Juli 1960 360 6 1,6 März 1964 360 8 2,2 Januar 1969 360 3 0,8 November 1971 360 8 2,2 November 1976 360 6 1,7 Juni 1979 392 35 8,9

20 S. dazu: „160 women to represent the NDP in the fall elections“, in: Middle East Times, 24.-30.8.2000; „A voice of their own“, in: Al-Ahram Weekly, 19.-25.10.2000. 21 Zusammen mit der ägyptischen Frauenorganisation ECWR organisierte die KAS einen einjährigen Trainingskurs für 25 Kandidatinnen für die Parlamentswahlen, um den Anteil von Frauen im Parlament signifikant zu erhöhen. Von den 25 Frauen traten schließlich 16 zur Wahl an, zwei Frauen, Neriman Daramalli aus Sohag und Azza El-Kashef aus Dumyat, schafften den Sprung ins Parlament; vgl. dazu: „The meaning of success“, in: Al-Ahram Weekly, 23.-29.11.2000. 22

Mai 1984 458 36 7,9 April 1987 440 18 3,9 Dezember 1990 444 10 2,2 Dezember 1995 444 5 1,1 November 2000 444 7 1,6

Quelle: Atef Saadawi Qasem: Takhsis maqaid li-l-mar`a fi majlis al-sha`b: al-tajriba wa al-waqi (Zuteilung von Parlamentssitzen für Frauen: Experiment und Wirklichkeit), in: Qadaya Barlamaniya 9/2000, S. 24 und Ashraf Kashk: Tamtil al-mar´a wa al-aqbat fi majlis al-sha`b (Die Vertretung der Frauen und der Kopten im Parlament), in: Qadaya Barlamaniya 12/2000, S. 16-19.

Neriman Daramalli aus dem mittelägyptischen Sohag trat zum ersten Mal bei Parlamentswahlen an. In der zweiten Runde, der Stichwahl, erhielt sie 90 Prozent der abgegebenen Stimmen. Auch bei den Frauen zeigt sich, daß im ländlichen Raum die Zugehörigkeit zu einer einflußreichen Familie ein entscheidendes Kriterium darstellt. Frau Daramalli gehört zu einem großen Familienclan, der seit langem eine wichtige Rolle im politischen Leben Mittelägyptens spielt.

In einem Wahlkreis in Alexandria gab es ein Novum, als die Muslimbrüder eine Frau für die Parlamentswahlen aufstellten22. Da ihr Mann, ebenfalls wie sie Mitglied in der verbotenen Muslimbruderschaft, wegen einer dreijährigen Gefängnisstrafe, zu der er 1995 verurteilt worden war, erst sechs Jahre nach der Entlassung wieder kandidieren darf, haben sich die Muslimbrüder zu dem ungewöhnlichen Schritt entschlossen, an seiner Stelle seine Frau zu nominieren, die als Unabhängige ins Rennen ging. Bei der Wahl kam es zu Unruhen, da den Anhängern von Djihan Halafawi der Zugang zum Wahllokal verwehrt wurde. Darauf wurden in zwei Wahlkreisen in Alexandria die Wahlen annulliert und müssen wiederholt werden. Somit sind zwei Sitze im neuen Parlament noch vakant.

Präsident Mubarak hat durch die Ernennung von weiteren vier Frauen (darunter eine Koptin) die Anzahl der Frauen im neuen Parlament auf elf erhöht.

Die Kopten: politisch weiter unterrepräsentiert

Die christlich-koptische Bevölkerung nimmt nach dem letzten Zensus von 1986 einen Anteil von 5,9 Prozent der heute rund 65 Millionen zählenden Ägypter ein. Andere Schätzungen gehen von rund 10 Prozent aus. Ihr Hauptsiedlungsgebiet liegt in Mittelägypten in den Gouvernoraten Assiut und Minya, wo ihr Anteil deutlich höher liegt. Gerade dort kommt es immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der muslimischen Mehrheit, insbesondere auch mit den dort stark vertretenen Islamisten.

Politisch fühlen sie sich marginalisiert und dementsprechend lag ihr Anteil im Parlament seit den siebziger Jahren nur zwischen 1,3 und 3,3 Prozent. Präsident Mubarak hat deshalb regelmäßig bei den von ihm zu ernennenden zehn Abgeordneten für das Parlament Kopten und Frauen berücksichtigt.

Unter den knapp 4000 Kandidaten stellten die Christen mit 74 Kandidaten nur einen Anteil von 1,9 Prozent23. Von den zur Wahl angetretenen Parteien haben nur drei Parteien Kopten als Kandidaten aufgestellt: die regierende NDP drei (4,1% ihrer Kandidaten), die Wafd immerhin zwölf (16,2%) und die Tajammu-Partei vier (7,7%), 55 Kopten (5,4%) traten als

22 S. dazu: „Verschleiert in die Politik“, in: Süddeutsche Zeitung, 5.10.2000. 23 S. dazu: Ashraf Kashk: Tamtil al-mar´a wa al-aqbat fi majlis al-sha`b (Die Vertretung der Frauen und der Kopten im Parlament), in: Qadaya Barlamaniya 12/2000, S. 16-19. 23

Unabhängige an sowie alle koptischen Kandidaten als Angehörige von Berufsgruppen. Die koptische Kirche unter ihrem Papst Shenouda hielt sich bei der Unterstützung koptischer Kandidaten demonstrativ zurück24 In der ersten und zweiten Runde wurde kein einziger Kopte gewählt. Erst in der dritten Runde gelang drei Kopten in Kairo (einer für die NDP, einer für die Wafd und ein Unabhängiger) der Sprung ins Parlament. Die Wahlkreise, in denen Kopten siegten, sind überwiegend von Kopten bewohnt. Die geringe Beteiligung von Christen an den Wahlen ist ein Hinweis auf ihre Minoritätenrolle und das Gefühl, vom politischen Leben ausgeschlossen zu sein. In ihren demographisch gesehenen Hochburgen in Mittelägypten gaben koptische Wähler ihre Stimme eher beduinisch-stämmigen muslimischen Kandidaten. Das Wissen, der Präsident werde weitere Kopten als Abgeordnete ernennen, führt dazu, daß koptische Wähler eher muslimische Kandidaten wählen. Präsident Mubarak hat im Dezember 2000 weitere vier Kopten zu Abgeordneten ernannt, darunter eine Frau.

Perspektiven

Trotz des Pyrrhussieges der regierenden NDP, die ihre Zweidrittelmehrheit im Parlament nur mit dem Übertritt der NDP-Abtrünnigen halten konnte, hat das Parlament ein neues Gesicht. 65 Prozent der ehemaligen Parlamentarier haben ihren Sitz verloren oder wurden nicht mehr nominiert. Die Parlamentsausschüsse müssen, da prominente NDP-Kandidaten gescheitert sind, neu besetzt werden. Die politischen Parteien haben an Gewicht verloren25. Die Wahlen haben gezeigt, daß Parteien, die noch auf Ideologien der Nasser-Zeit aufbauen, in Zukunft weniger Gehör finden werden. Die zunehmende Einbindung Ägyptens in den Weltmarkt und seine strategische Rolle im Minenfeld des Nahostkonfliktes verlangen innenpolitisch wirtschaftliche und soziale Reformen, die dem größten arabischen Staat in der Region mehr Stabilität verleihen.

Die Muslimbrüder, die als Unabhängige ins Parlament eingezogen sind, werden ein echtes Oppositionspotential darstellen. Auch wenn ihre Anzahl gering ist, sind sie doch nicht mehr zu übersehen. Sie können diese Chance nutzen, wenn sie ihre Oppositionsrolle verantwortungsbewußt wahrnehmen und konstruktiv im Parlament mitarbeiten.

24 S. dazu: „On the Coptic campaign trail“, in Al-Ahram Weekly, 19.-25.10.2000. 25 S. dazu: Yusri Ahmed Ibrahim: „Al-mustaqillun al-ahzab“ (Die Unabhängigen und die politischen Parteien), in: Qadaya Barlamaniya 12/2000, S. 12-15.