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100 JAHRE KINO LOKOMOTIVE DER GEFÜHLE Hellmuth Karasek über den Siegeszug des Films (II): DIE BILDER LERNEN SPRECHEN

Szene aus DeMilles Hollywood-Monumentalfilm „Samson

m das Jahr 1950 herum erlebte und gerträumen, ihrem System der Verhei- packte das Kino da, wo es am empfind- durchlitt die amerikanische Filmin- ßungen auf Erden und ihrer neuen My- lichsten war – bei den Zuschauern, die Udustrie ihre bis dahin größte Krise, thologie, dem Starkult, schien unaus- es zu TV-Sehern konvertierte, in den die den Film buchstäblich in seiner Exi- weichlich der Verdrängung durch den Augen der Filmschaffenden: pervertier- stenz erschütterte – das Fernsehen be- kleinen schwarzweiß rauschenden Ka- te. gann seinen Siegeszug durch Amerikas sten und seinem phosphoreszierenden Wir wissen heute, daß das Kino aus Wohnstuben; das Pantoffelkino schickte Licht ausgeliefert. Der neue Todfeind diesem Krieg letztlich gestärkt hervor- sich an, dem Kino seine Zuschauer weg- des Kinos verdankte sein Dasein dem ging, weil es einerseits sein Publikum zunehmen. Aus dem Publikum des Ki- gleichen Antrieb: einer Kamera. Er zurückerobern konnte, raus aus der nos wurden wieder vereinzelte Glot- zer, die, in Familienrudeln versammelt, schließlich das weltweite elektronische Dorf bilden sollten, wie es Marshall McLuhan später beschrieb. Die Television war für das Kino kein Spaß, sie ging ihm an den Kragen. Da- bei hatte mit dem Sieg der Alliierten über Hitler, den Duce und den Tenno gerade ein unvorstellbarer Siegeszug Hollywoods rund um den Erdball be- gonnen, der nur an dem Eisernen Vor- hang haltmachte. Mit den einmarschierenden GIs ka- men nicht nur Coca-Cola, Camel, Kau- gummi und Nylons, sondern auch die Filme aus der Traumfabrik Kaliforniens und propagierten, willentlich und auch unbewußt, den American Way of Life als die Zivilisationsform der zweiten Jahrhunderthälfte. Das drohte jetzt durch die TV-Revolte zu Bruch zu ge- hen. Der Film als Medium, als Bot-

schaftsträger der US-Kultur mit ihrer KINOARCHIV ENGELMEIER Mittelstandsphilosophie, ihren Aufstei- Publikum in einem 3-D-Film (1953): Gemeinsames Erleben im Kino

140 DER SPIEGEL 1/1995 . EVERETT COLLECTION und Delilah“ (1950)*: Mit großem Format gegen den kleinen schwarzweiß rauschenden Kasten

Wohnung, zurück zum gemeinsamen In all dem ersten Schrecken reagierte technischer Pionier, kündigte im Febru- Erleben. Und weil es andererseits eine die Industrie, als ihr das Wasser bis zum ar 1953 an, daß er 48 Warner-Kinos mit seltsame Symbiose mit dem ursprüngli- Kinn stieg, instinktiv richtig. Sie machte 3-D-Leinwänden und Warner Phonic- chen Todfeind einging: Beide leben als die Leinwand größer, breiter, die Bilder Tonsystemen ausstatten werde, die spe- Parasiten voneinander. Das Fernsehen plastischer. Cinemascope wurde erfun- ziell für 3-D-Filme entwickelt wurden. ist auf das Abspielen von Filmen ange- den, Vistavision, Todd-AO, Panavision, Im April hat der erste große 3-D-Film wiesen. Das bringt wiederum das Geld, 3-D-Kino und wie die Breitwandsyste- Premiere. Es ist das Gruselstück „Das das die Filmindustrie für ihre immer auf- me alle heißen. Der Warner-Konzern, Kabinett des Professor Bondi“ von An- wendigeren Projekte braucht. schon bei der Erfindung des Tonfilms dre´ de Toth. Das Werk läuft in Stereo- ton. Im September des gleichen Jahres wird der erste Cinemascope-Film urauf- geführt: Henry Kosters Monumental- schinken „Das Gewand“. Auch thema- tisch flüchtet sich der Film ins große Format: Er setzt auf „Sandalenfilme“ („Samson und Delilah“ von Cecil B. DeMille zum Beispiel) und deren Mas- senszenen und Kostümpracht. Man kul- tiviert Stars ins Überlebensgroße: die Krisenjahre waren auch die Jahre der Marilyn Monroe. Daß gleichzeitig, während die Holly- wood-Industrie durch den Ansturm des Fernsehens ins Wanken geriet, Holly- wood durch die McCarthy-Zeit in sei- nem Innersten schwer und existentiell beschädigt wurde, steht auf einem ande- ren Blatt. Im Rückblick stellt sich die Zeit der Schnüffeleien und Denunziationen durch den Ausschuß zur Untersuchung PHOTOFEST US-Familie beim Fernsehen (1950): Weltweit daheim vor der Glotze * Mit Hedy Lamarr und Victor Mature.

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unamerikanischer Umtriebe seit 1947 unter anderem als der Versuch des puritani- schen Amerika dar, den Sün- denpfuhl Hollywood (dessen Hauptsünde der Liberalis- mus Rooseveltscher Prägung war) auszutrocknen. Nach- träglich ist auch die anti- semitische Komponente der McCarthy-Ära nicht zu ver- kennen. Man sah mit Arg- wohn den „Internationalis- mus“, das Weltbürgertum der Industrie, die Sympathie für linke Ideen. Neal Gabler hat dies in seinem Buch „An Empire of Their Own – How the Jews Invented Holly- wood“ vielleicht am besten zusammenfassend analysiert. In schwierigen Zeiten, in sogenannten Epochen der Bewährung, besinnen sich Menschen gern auf ihre Ge- schichte – auf verflossene schwierige Zeiten, die gemei- stert wurden und in denen sich Menschen angesichts der Herausforderung bewährt

hatten. Das war beim Film, KINOARCHIV ENGELMEIER der sich gern auch selbst zum Filmprospekt (1953): In der existentiellen Krise 3-D-Gruselstück mit Stereoton Thema hat, nicht anders. So erinnerte man sich in der zweiten gefährliche Viper nähert, angstvoll und Die Story, die sich um die verregnete großen Umwälzung (der um das Jahr angeekelt beiseite. Glanznummer des getanzten Titelsongs 1950) an die erste (die um das Jahr 1952 drehten Stanley Donen und rankt, erzählt von der Zeit, als der Ton- 1930) – als der Stummfilm dem Ton- Gene Kelly, der auch die Hauptrolle film wie ein Gewitter über Hollywood film die Leinwand räumen mußte. tanzte und spielte, mit Debbie Rey- kam. Verstörte Studios reagierten zu- Auch damals waren Karrieren, Syste- nolds, Jean Hagen und Donald O’Con- nächst panisch auf die Erfindung. me, Firmen, Gewohnheiten zerbro- nor das geglückteste und stimmigste Im Film ist es das Stummfilmpaar Li- chen; ein Sturm der Zerstörung und Musical aller (Film-)Zeiten: „Singin’ in na Lamont und Don Lockwood, das auf Erneuerung war über die Kinoland- the Rain“, das in den Jahrzehnt-Umfra- einmal, bei den Dreharbeiten, von gro- schaft gekommen. gen der Kritiker und Filmschaffenden ßen stummen Gebärden auf flotte seit 1958 stets unter die Dialoge umschalten muß: aus der besten zehn Filme ge- (ursprünglich) stummen Plotte „The Mit der Tonfilmrevolution wird kürt wird. Duelling Cavalier“ wird das beredte „Singin’ in the Rain“ Musical „The Dancing Cavalier“. die blonde Stummfilm-Diva (deutscher Titel: „Du Aber, o Graus, die dumme blonde erfrischend grausam abserviert sollst mein Glücksstern Diva (hinreißend entsagungsvoll ge- sein“) ist der Versuch spielt von Jean Hagen) hat eine scheuß- einer opulenten Ant- lich kreischige Stimme und ist auch zu wort auf das Fernse- dämlich, die Dialogregie des Tonfilms 1950 zeigte sein großes hen: mit viel Musik, vielen Kostümen, zu begreifen – am Ende wird sie abser- Hollywood-Melodram „Sunset Boule- rauschenden Tanzvisionen. viert und durch ihr Stimmdouble (Deb- vard“, in dem ein Opfer der Zeitenwen- Auch „Singin’ in the Rain“ handelt bie Reynolds) ersetzt: Die Star-Ablö- de vom Stumm- zum Tonfilm, der von der Tonfilmrevolution, wenn auch sung vollzieht sich mit der erfrischenden Stummfilmstar Norma Desmond (ge- nicht elegisch-satirisch wie Wilders Grausamkeit, mit der sie von den Stu- spielt von einem der größten Stumm- „Sunset Boulevard“, sondern, wie es dios Ende der zwanziger Jahre prakti- filmstars, nämlich Gloria Swanson), sich bei der MGM, der größten Filmge- ziert wurde – a star is born, a star is vorgeführt wird. Ein Opfer und dessen sellschaft, gehörte, optimistisch über- gone. Tragödie. mütig. „We had faces!“, wir hatten Der Film, der 1927 diesen Umsturz Unvergeßlich die Szene, in der die (damals im Stummfilm noch) Gesichter, tatsächlich spektakulär einleitete, war Swanson auf dem Set von Cecil B. De- sagt die abgehalfterte Stummfilmdiva in „The Jazz Singer“ der Warner-Brothers- Mille kommt. DeMille hatte schon in „Sunset Boulevard“, eine große Ver- Studios. Schon im Jahr zuvor hatten die Stummfilmzeiten Kolossalwerke produ- gangenheit gegen eine billige Tonfilm- Warners, die Brüder Harry, Albert, ziert. Jetzt dreht er „Samson und Deli- gegenwart verteidigend. Erst wenn der Sam und Jack (Jack wurde später der ei- lah“ mit Ton. Und so schiebt die Swan- Film zu sprechen beginnt, verliert er sei- gentliche Herr des gigantischen Studios) son, die einen Moment auf dem Regie- ne stumme Stupidität – so ungefähr sagt mit „Don Juan“ (Regisseur beider Fil- stuhl DeMilles sitzt, das Mikrofon, das es Debbie Reynolds in „Singin’ in the me: Alan Crosland) die Tonfilmevoluti- sich ihr, so kommt es ihr vor, wie eine Rain“. on in Gang gesetzt: zu dem stummen

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Mantel-und-Degen-Melodram mit John Barrymore und Mary Astor lief syn- chron über ein Plattenabspielgerät na- mens „Vitaphone“ die Musik zu dem Film. Mit der Flucht in die technische (Tonfilm-)Zukunft rettete sich das Stu- dio der Warner Brothers vor der Pleite und gehörte fortan zu den großen fünf Hollywood und später die (Film-)Welt beherrschenden Studios. Der entscheidende Durchbruch er- folgte mit dem „Jazz Singer“, auf dessen Gesangsnummern und Dialogfetzen das Publikum frenetisch reagierte: Die Menschen gerieten angesichts des spre- chenden Kinos außer Rand und Band. Es war ein lauthals hörbarer Sieg des

(damals noch geglaubten) Fortschritts, KINOARCHIV ENGELMEIER ein neues Medium war kreiert, der Film Swanson in „Sunset Boulevard“ (1950): Opfer der Zeitenwende zum zweitenmal geboren. Der große Hollywood-Regisseur Billy ich den ersten Dialog. Es klang wie die die Herzen des Stummfilmpubli- Wilder, damals Drehbuchautor der (erst ,Huppa, huppa, muppa, muppa.‘“ Er- kums bewegt hatten, wie der über die stummen, dann tönenden) Ufa in Ber- neut riesiger Jubel. Mutter des Helden: „God made her a lin, hat als Augenzeuge den triumphalen Beim „Jazz Singer“, zwei Jahre zuvor, woman, and love made her a mother“ – Einzug des Tonfilms in 1929 er- herrschte eine ähnlich überbordende Gott hat sie als Frau geschaffen, die Lie- lebt: „Das Land ohne Frauen“ hieß der Begeisterung, als Al Jolson von der be aber hat sie zur Mutter gemacht. Film, den Carmine Gallone für die Leinwand lippensynchron (und nur we- Die Akteure spielen (für heutige Ver- F.P.S.-Film nach dem Roman „Die nig gepreßt) so schmalzige Lieder wie hältnisse) zum Steinerweichen, mit rol- Braut Nr. 68“ von Peter Bolt gedreht „Mother I Still Have You“ und so fetzi- lenden Augen, zuckenden Lippen, ver- hatte. Am 30. September 1929 hatte er ge Songs wie Irving „Blue Skies“ zweifelt und barmend gereckten Armen in Berlin Uraufführung, ein Stummfilm, oder „Toot Toot Tootsie Goodbye“ – das volle Repertoire des Stummfilm- in dem nur einige wenige Szenen schon (Kahn/Erdman/Russo) sang – mit dem melodrams. synchron mit Sprache und Gesang auf- ersten wirklichen Tonfilm schickte sich Aber zwischendurch wird eben gesun- genommen worden waren. der Broadway an, Hollywood zu er- gen. Der Titelheld singt schon als Conrad Veidt, Held des in Australien obern. Oder, umgekehrt, Hollywood 13jähriger – da allerdings nur aus der spielenden Sitten- und Abenteuerfilms, verleibte sich den Broadway ein: das Distanz fotografiert, weil die Lippen hatte, so erinnert sich Wilder, eine Ton- Filmmusical war geboren – die Operette nicht gesangssynchron sind. Erwachsen szene: „Er ging eine Treppe hinauf und des Zeitalters der technischen Reprodu- singt Al Jolson mit wiegenden Hüften drückte auf eine Klingel. Es klingelte, zierbarkeit. und „einer Träne in der Stimme“ seine und man hörte das Klingeln im Kino. Im Grunde war auch „The Jazz Sin- schmissigen und herzerweichenden Tausend Leute sprangen jubelnd auf ger“ nichts weiter als ein durch Gesangs- Songs – und, siehe da!, die Lippen be- und klatschten in wilder Begeisterung. nummern aufgemotzter Stummfilm – wegen sich exakt zum Ton. Kurz darauf“, so Wilder weiter, „hörte mit all den rührenden Zwischentiteln, Aber man hört noch mehr. Das Ohr vernimmt das Klopfen der Gäste auf den Tischen der Kneipe, in der der künftige Broadway-Star zunächst singt. Man hört das Beifallklatschen der begei- sterten Theaterbesucher am Broadway. Man vernimmt das Zischen einer Eisen- bahn, die in einen Bahnhof einfährt. Auch hört man mit Staunen, wie der Jazzsänger Al Jolson, kunstvoll zwit- schernd wie ein Vogel, auf den Fingern pfeift. Überhaupt sollten musikalische Signale künftig so etwas wie filmische Leitmotive werden – man denke nur an den Kindermörder, den Peter Lorre bei 1931 in „M – eine Stadt sucht einen Mörder“ spielte: Er pfeift ein paar Takte aus Edvard Griegs „Peer Gynt“ („In der Halle des Bergkönigs“) – jedes- mal ein grausiges akustisches Signal. Aber der „Jazz Singer“ war, und das machte ihn vollends zur Sensation, der erste Film mit Dialog. Man kann mit- zählen, daß Al Jolson genau 281 Wörter laut über die Lippen bringt, zusätzlich einiger weniger erstaunter improvisier-

PHOTOFEST ter Antworten, die Eugenie Besserer als Die Warner-Brüder (1927): Umsturz mit Gesangsnummern und Dialogfetzen liebend barmende Mutter des Helden

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im Stile von „Ach was!“, „Ach Gott!“, „Was du nicht sagst“ einwirft. Diese mütterlichen Dialog- fetzchen sind deutlich leiser zu hören als der Gesang und die Sätze Al Jolsons. Und sowohl dieser Dialog wie auch die kur- ze Confe´rence Al Jolsons in ei- ner anderen Szene sind sicht- lich untrennbar an Musiknum- mern gekoppelt und gefesselt. Das zeigt deutlich, daß das Mikrofon dem Film zunächst Probleme bescherte – neben dem Gewinn des Tons. Einmal war synchrones Sprechen und Singen nur in an einem Stück durchgedrehten Szenen mög- lich. Man konnte lange noch nicht synchron schneiden. Der Film verlor (zunächst) mit ei- nem Schlag die bereits zum höchsten Raffinement entwik- kelte Montagetechnik. So nahm der Ton dem Film zunächst auch seine Mobilität.

Nicht nur war auf einmal der EVERETT COLLECTION Regisseur, der laut fluchend Jolson in „Jazz Singer“ (1927): Siehe da, die Lippen bewegen sich exakt zum Ton und anfeuernd neben seinen reitenden Cowboys herfuhr, undenkbar angebende Kulturschicht der Schmelz- Gage noch – und das wog schwerer – geworden. Auch der Set, der Drehort tiegelmetropole vorhielt und in dem sie über den Ausgang der Geschichte. wurde, weil die Tonaufnahmeapparatur ihre Probleme und Konflikte darge- Im Musical kehrt der Sohn, im Kon- nicht sehr beweglich war und dazu sehr stellt und gelöst sah: die aufsteigende flikt zwischen Broadway und Synagoge, empfindlich, beinahe so etwas wie ein und aufgestiegene Schicht der Juden in als Kantor zum Religionsdienst zurück, fester Theaterspielplatz. Hatte die Oper ihrem Konflikt zwischen jüdischer Tra- er gibt seine Musical-Karriere zugunsten das Stummfilmkino mit ihren großen, dition und ihrem neuen amerikani- der Tradition auf, wird Kantor als Nach- einfachen Gefühlsäußerungen, deren schen Patriotismus und Selbstverständ- folger seines sterbenden Vaters. vergrößerten Gesten des Schmerzes, der nis. Im Film riskiert er seine Karriere nur Verzweiflung und der Liebe und Freude So gesehen hat Raphaelson im „Jazz vorübergehend. Er „schmeißt“ eine angeregt, so zog jetzt mit dem Ton das Singer“ Al Jolsons Werdegang darge- Vorstellung, als sein Vater im Sterben Schauspiel in den Film ein – kammer- stellt: in der Geschichte des Sohns ei- liegt, springt als Kantor in der Synagoge spielartige Szenen mit intimen Dialogen nes jüdischen Kantors (Vorsänger in nur ein, indem er am Abend von Jom der Synagoge), der Kippur den „Kol Nidre“ singt. Aber der vom Vater verstoßen Broadway „verzeiht“ ihm die geplatzte Die meisten Filmpioniere waren und verflucht wird, Vorstellung und den Verstoß gegen das weil er weltliche, sprich eherne Gesetz des Showbiz: „The show begeisterte Amerikaner und (Neger-)Musik singt, must go on.“ kaschierten ihre jüdischen Namen eben „Jazz“. Der Sohn Das ist eine bedeutsame Änderung, zieht schon als 13jähri- und die Umbesetzung von Jessel zu Jol- ger in die Welt hinaus, son hatte, so folgert Gabler, eine tiefere verwandelt seinen Na- Ursache: Jessel war für die Warners, die wurden möglich. Der Zuschauer als Voy- men von Jakie Rabinowitz zu Jack Ro- im „Jazz Singer“ auch so etwas wie ein eur wurde zum Lauscher an der (unsicht- bin (so wie sich im Film ein Mädchen Gleichnis ihrer eigenen Erfolgs- und As- baren) vierten Wand. namens „Levy“ in eines namens „Lee“ similationsgeschichte sahen, zu jüdisch, Der eine neue Epoche einläutende verwandelt), wird ein Star und versöhnt während Jolson, ein phänomenal erfolg- „Jazz Singer“ war die Filmadaption eines sich im Erfolg mit seiner väterlichen reicher Broadway-Star, den assimilier- Broadway-Musicals von Samson Ra- Tradition. ten Juden geradezu ideal verkörperte – phaelson, der später der wichtigste Dreh- Das Musical wie der Film beschreiben auch in seiner Vita. Als Sohn eines aus buch- und Dialogschreiber des großen einen Assimilationsprozeß, den die jüdi- Rußland eingewanderten wenig duldsa- Ernst Lubitsch werden sollte. Raphael- schen Einwanderer meist schon in der men Rabbis durchlitt er den Konflikt son kam vom Broadway nach Hollywood ersten, in den USA geborenen Genera- des Jazz Singers – und war wohl Rapha- – ein in der Tonfilmära oft beschrittener tion leisten wollten und mußten. elsons lebendes Vorbild: der hatte als Weg zu Erfolg und Geld. Lubitsch schaff- Neal Gabler berichtet, daß ursprüng- Student Jolsons erste Auftritte erlebt. te den Übergang vom Stummfilm zum lich George Jessel, der den „Jazz Sin- Jolsons Bruder Harry hat den Famili- Tonfilm spielend und elegant – vielleicht ger“ am Broadway triumphal gesungen enkonflikt – es war der Generalkonflikt auch, weil er ursprünglich in Berlin ein hatte, von den Warners engagiert wur- der meisten Künstler und Manager am Mann des Theaters war. de, um die Rolle dann auch im Film zu Broadway wie in Hollywood – auf den Der Broadway und sein Musical waren spielen. Aber er konnte sich mit den Punkt gebracht: „Die Hauptschwierig- seit eh und je der Spiegel, den sich die ton- Warners nicht einigen, weder über die keit bei uns zu Hause war, daß Al und

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ich von den amerikanischen Gewohn- schichte die Konflikte seiner eigenen heiten, der amerikanischen Freiheit der Erfolgsgeschichte erzählt und reflek- Gedanken und dem amerikanischen tiert. Way of Life völlig absorbiert waren. Wenn Al Jolson sich im „Jazz Singer“ Mein Vater dagegen war fest dem Be- auf seinen großen Auftritt in einem wußtsein strenger orthodoxer Lehren Broadway-Theater vorbereitet, Verhei- und Sitten der Alten Welt verhaftet.“ ßung und Ziel jedes Schauspielers in den Das ließe sich so wortwörtlich von USA, schminkt er sich schwarz, läßt ei- den meisten Gründervätern Hollywoods nen großen, breiten weißen Mund in der sagen. Viele Filmpioniere stammten schwarzen Maske übrig und setzt sich ei- entweder aus dem New Yorker Ghetto ne Perücke kurzen Kraushaars auf – es an der Lower East Side, oder sie waren ist die übliche Maskierung der Minstrel- wie Samuel Goldwyn unter ungeheuren Shows, einer Theaterform, bei der Wei- Entbehrungen ins gelobte Land gekom- ße sich die Musik der Schwarzen in de- men, wo sie sich mit eiserner Disziplin ren Erscheinungsbild stereotypisch an- und großer Erfindungsgabe emporarbei- eigneten. teten – so den „pursuit of happiness“ Während der Pause in der New Yor- durchs eigene Leben bestätigend. ker Premiere des „Jazz Singer“ stürzte Sie wurden alle begeisterte Amerika- Walter Wanger, ein junger leitender ner, belohnt durch einen immensen Er- Angestellter der Paramount, ans Tele- folg und enormen Reichtum. „In one fon und rief Jesse Lasky, einen der Para- Generation from Poland to Polo“ – so mount-Chefs, in Kalifornien an: „Jesse, hat es Goldwyn als eines seiner unnach- das ist eine Revolution!“ ahmlichen Goldwynismen formuliert. Am nächsten Morgen ließ Adolph Sie änderten ihre Namen, beispielsweise Zukor, Mitbegründer und oberster Chef von Gelbfish in Goldwyn. Sie kaschier- der Paramount, 50 seiner Executives zu ten, ja verleugneten in den christlich ge- sich in seine Savoy-Plaza-Suite kommen prägten Vereinigten Staaten ihre jüdi- und donnerte sie zusammen: „Warum schen Wurzeln. So lehrten sie die Nati- haben wir keinen Tonfilm gemacht?“ on mittels ihres Mediums Film deren ei- wollte er wissen. Filmangestellte rea- gene Ideale, Tugenden, Sitten und Le- gierten wie aufgescheuchte Hühner, bensumstände. Insofern ist der „Jazz Köpfe rollten, Karrieren knickten. Ähn- Singer“ nicht nur der erste Tonfilm, son- liche Szenen spielten sich auch bei allen dern wahrscheinlich auch der erste Film, anderen großen Studios ab. mit dem Hollywood als Broadway-Ge- Wenn es trotz der Publikumsbegeiste- rung, die der Ton des „Jazz Singer“ aus- löste, und trotz der fieberhaften An- strengungen aller Studios etwa fünf Jah- re dauerte, bis sich der Tonfilm durch- setzte, so lag das an den immensen Inve- stitionskosten, die er nötig machte. Die Tonaufnahmegeräte, die die Stu- dios sich anschaffen mußten, kosteten bis zu einer halben Million Dollar pro Stück; um die Tonapparatur in den ein- zelnen Kinos zu installieren, brauchte man 15 000 Dollar, wobei die Geräte Eigentum der Western Electric blie- ben. Die hohen Kosten waren es auch, die die europäische Filmindustrie, allen vor- an den deutschen Giganten Ufa, zögern ließ, sich dem neuen Medium gleich be- geistert in die Arme zu werfen. Im Gegenteil. Wie Klaus Kreimeier in seiner Ufa-Geschichte festhält, beschloß der Vorstand des Konzerns noch im April 1927 verbindlich, die Ufa solle sich „mit dem sprechenden Film vorläu- fig nicht weiter beschäftigen“. Dabei hatten drei deutsche Erfinder, Hans Vogt, Jo Engl und Joseph Massol- le, schon Anfang der zwanziger Jahre das „Tri-Ergon“-Verfahren erfunden und entwickelt, das Schallwellen in Lichtschwankungen übersetzt, die, in elektrische Impulse verwandelt, wieder-

ULLSTEIN um als Schallwellen hörbar gemacht Tonfilm-Erfinder Massolle (1928) werden konnten. Die erste öffentliche „Tri-Ergon“-Verfahren entwickelt Tonfilmvorführung nach dieser Metho-

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de fand am 17. September 1922 im Ber- Bernards aufnahm und den Dialog oft Augen- und Ohrenzeugen sind. Wo ein liner Alhambra-Kino am Kurfürsten- durch Musik ersetzte. Auch der franzö- Vulkan ausbricht, steht unser Kamera- damm statt. Die Zuschauer waren hin- sische Tonfilm verdankt seine Geburt mann, wo ein Tiger brüllt, lauert unser gerissen; nicht so die Presse und die der inspirierenden Umarmung durch die Kameramann. Unsere Tonkamera ver- Filmwirtschaft. Musik. säumt nichts, fängt die Schönheitsköni- Es sollte sieben Jahre dauern, bis die Aber der erste große Sieger des Ton- gin, wenn sie gekrönt wird, und über- Ufa ihren „richtigen“ ersten Tonfilm auf systems war die Wochenschau, die mit mittelt ihnen die Begrüßungsworte des die Leinwand projizierte. Das war dem O-Ton jetzt ihren Triumphzug um Boxweltmeisters an sein Volk.“ Schon „Melodie des Herzens“, bei der Hanns die Welt begann. Der Produzent Wil- das Kino machte die Menschen, lange vor dem Fernsehens, zu Voyeuren der Zeitgeschichte, Anteilnehmer ohne Teilhabe. Parallel zur Entwicklung des Tonfilms vollzog sich ein Rechtsruck in Deutsch- land – auch in der Ufa. Hugenberg, seit März 1927 Konzernboß, war Deutsch- nationaler, mit Hitler, den er an die Kette legen wollte, durch die „Harzbur- ger Front“ verbunden. Ein Wunder, daß unter als „Produktions- leiter“ noch ein Film wie der „Blaue En- gel“ realisiert werden konnte, dessen Autor, Heinrich Mann, Symbolfigur des demokratischen Deutschland war. Als der deutsche Film zu sprechen be- gann, tat er es bald in markig nationa- len, nationalistischen, ja nationalsoziali- stischen Worten. Nach 1933 vertrieb er seinen wichtigsten Produzenten, Erich Pommer. Mit ihm gingen Regisseure, Autoren, Schauspielerinnen, Schauspie- ler, Komponisten – Fritz Lang wie Elisa-

BPK beth Bergner, , Lucie Fritsch (r.) in „Die Drei von der Tankstelle“ (1930)*: In der Hitze der Studios Mannheim, Werner Richard Heymann wie Felix Bressart, Conrad Veidt . . . Schwarz Regie führte und zu der Wer- liam Fox kaufte für seine Wochenschau- Aber wahrscheinlich hätte die deut- ner Richard Heymann die Musik en bei Western Electric das „Movieto- sche Filmwirtschaft den Wettlauf mit schrieb. Auch der erste Ufa-Tonfilm ne“-Verfahren – „Fox tönende Wochen- Hollywood trotz ihres perfekten Tonsy- war also so etwas wie ein „Musical“, ei- schau“ war geboren. Noch in den sechzi- stems auch ohne die Abkapselung und ne Filmoperette, und schuf sich gleich ger Jahren war sie in vielen Kinos die den Rassenwahn der Nazis sowieso ver- seinen ersten Star: Willy Fritsch, dessen Ouvertüre zum Film, ihre Stimmen ha- loren. Allein durch die Sprache. Partnerin hier noch nicht Lilian Harvey ben Ältere bis heute im Ohr. Zunächst jedoch rüstete sich die Ufa war – die beiden wurden erst mit den Wie die Wochenschau der erste Sie- für die neue Tonfilmzeit. Die geräusch- „Die Drei von der Tankstelle“ (1930) ger des Tonfilms war, wurde sie auch empfindlichen Glasfensterstudios mit das erste Kino-Todes- natürlichem Sonnenlicht verschwanden, opfer des Fernsehens. statt dessen errichtete man in Babels- „Wo ein Vulkan ausbricht, steht Historisch gesehen berg das sogenannte Ton-Kreuz; der wurde der Zweite Komplex aus vier bunkerartigen, in unser Kameramann, wo ein Tiger Weltkrieg auch mit den Kreuzform aneinandergerichteten Ate- brüllt, lauert unsere Kamera“ Wochenschauen und liers wurde am 29. September 1929 ein- deren Propaganda-Re- geweiht – bis heute bildet das inzwi- portagen aller Seiten schen mit historischer Patina bedeckte, geführt, wobei das mu- angegammelte Gebäude das (moribun- und „Der Kongreß tanzt“ (1931) das sikalische Leitmotiv (in Deutschland: de) Herzstück von Babelsberg. deutsche Tonfilm-Traumpaar. „Les Pre´ludes“ von Franz Liszt) das Hier wurden nun die ersten Tonfilme, Ähnlich wie bei der Ufa verlief die Kriegsgeschehen gleichsam auf Zellu- da Deutsch keine Weltsprache war und Entwicklung in Paris. Der erste franzö- loid zu Marmor heroisierte. an Synchronisation noch nicht gedacht sische Tonfilm ist Andre´ Hugons „Les In Deutschland lief die erste Ufa-Ton- werden konnte, in mehreren Versionen trois masques“ von 1929, im Jahr, als wochenschau am 10. September 1930. gedreht – Teams aus England, Frank- auch der „Jazz Singer“ nach Frankreich Für ihr Debüt hatte das Unternehmen reich oder auch Ungarn benutzten die kam. Allerdings mußten Hugons „Drei Emil Jannings gewonnen – den Star des gleichen Kulissen und Drehorte. Das Masken“, weil die technischen Ausrü- „Blauen Engel“, der ein halbes Jahr zu- war teuer. Und umständlicher als Holly- stungen dazu in Frankreich noch fehl- vor seine triumphale Premiere hatte. woods Vertrauen auf die Weltsprache ten, in England gedreht werden: in den Für die erste Wochenschau hielt Jan- Englisch. Twickenham Studios in London. nings eine gutgelaunte „Tonbild-An- Von dem ersten Tonfilm, der „Melo- Ein Jahr später bereits schuf Rene´ sprache“, in der er dem Publikum ver- die des Herzens“ wurde auch eine Clair sein Meisterwerk „Sous les toits de kündete: „Auf der ganzen Welt kann Stummfilmversion gedreht – für die vie- Paris“, in dem er den Bilderrhythmus ei- nichts mehr geschehen, ohne daß Sie len Kinos, die noch keine Ton-Zurü- nes Stummfilms im musikalischen stung hatten. Dann wurde Szene für Rhythmus der Kompositionen Armand * Mit Oskar Karlweis und Heinz Rühmann. Szene, Take für Take für eine deutsche,

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stören. Und Schweigen ist das Wesen des Films.“ Einer der schönsten Tonfilme aller Zeiten, Marcel Carne´s „Les En- fants du Paradis“ („Kinder des Olymp“) von 1945, hat einen Pantomimen (Jean- Louis Barrault) zum Hel- den, der auf der Bühne die Herzen durch sein Stumm- sein rührt – eine hinreißen- de Reminiszenz und Reve- renz. 1976 – der Stummfilm war seit fast 50 Jahren mit- samt seiner pantomimi- schen Kunst tot – drehte der ingenieuse Filmwitz- bold Mel Brooks in parodi- stischer Absicht, aber auch als Hommage an vergange- ne Filmtage, einen Stumm- film mit dem programmati- schen Titel „Silent Movie“

SÜDD. VERLAG („Stummfilm“). In dem Wochenschau-Aufnahmeteam (1932)*: „Begrüßungsworte des Boxweltmeisters“ Film wird die „unerhörte Schönheit des Schweigens“ dann eine englische Version („Melody Autojagden und Eisenbahnfahrten, oh- nur durch ein einziges Wort unterbro- of the Heart“), eine französische ne kühne Ritte der Cowboys in wilder chen. Ausgerechnet der große Pantomi- („Me´lodie du cœur“) und eine ungari- Natur. me und Theater-Schweiger Marcel Mar- sche („Vasa´rnap delu´tan“) gedreht – al- Der größte Stummfilmstar, das Pan- ceau sagt es. Und es lautet: „Non!“ le mit den gleichen Schauspielern. tomimen- und Slapstick-Genie Charlie Das wurde kurz darauf ein wenig an- Chaplin, wehrte sich denn auch gegen ders. Heinz Rühmann, der mit „Die das neue tönende Ungeheuer. „Was ich Im nächsten Heft Drei von der Tankstelle“ 1930 einen tri- zum Sprechfilm zu sagen habe“, schrieb umphalen Durchbruch als Komiker er- er 1929 und begann mit einer Warnung: „Gone with the Wind“: Technicolor trium- lebte, erzählte mir 1992, wie er damals „Der Sprechfilm birgt eine große Ge- phiert – Farbiger Lügenbaron für Propa- zwischen den einzelnen Drehszenen des fahr in sich. Er könnte imstande sein, gandaminister – Hasardeur Selznick ver- Wilhelm-Thiele-Films lange Pausen hat- die älteste Kunst der Welt, die Kunst liert alles – Viscontis „Leopard“ stürzt te. Weil dann ein französisches Team der Pantomime, zu zerstören. Sie bildet Produzenten in den Bankrott – „Heavens mit französischen Akteuren die franzö- die Grundlage der Filmkunst . . . Die Gate“: Eine Rieseneiche entblättert sich sische Version nachdrehte. sogenannte Sprechfilmkunst will die un- – „Cleopatra“: Antike Leidenschaft en- „Willy Fritsch und ich“, so Rühmann, erhörte Schönheit des Schweigens zer- det im Desaster „knatterten dann, obwohl das nicht er- laubt war, mit meinem Motorrad ins Grüne.“ Nur Lilian Harvey habe immer in allen Versionen ihre Rolle gespielt, „da sie Englisch und Französisch so gut wie Deutsch beherrschte.“ Rühmann er- innerte sich auch an die unerträgliche Hitze in den frühen Tonfilmstudios – wegen der Geräuschempfindlichkeit konnte ja auf einmal nur noch bei Scheinwerferlicht unter totaler Abschot- tung von der Außenwelt gedreht wer- den. Besonders die Kameraleute hatten, so Rühmann, zu leiden. Sie saßen we- gen der Eigengeräusche der Kamera die ganze Drehzeit in einer engen, schall- dicht abgeschlossenen Holzkiste und schwitzten sich schier zu Tode. Der Film als Tonfilm verlor für Jahre die Außenwelt, er büßte die Kunst der Montage ein, wurde unbeweglich, ohne Schnittkünste, ohne die Tricks der Orts- wechsel, ohne rasante Fahrten, wilde

* Vor dem Pavian-Gehege im Hamburger Tierpark KINOARCHIV ENGELMEIER Hagenbeck. Barrault in „Kinder des Olymp“ (1945): Stummer Held im Tonfilm

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