ETHNISCHE SÄUBERUNG“ 1364 Vertreibung, Zwangsaussiedlung, „Ethnische Säuberung“
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10. VERTREIBUNG, ZWANGSAUSSIEDLUNG, „ETHNISCHE SÄUBERUNG“ 1364 Vertreibung, Zwangsaussiedlung, „ethnische Säuberung“ „Ethnische Säuberung? Allein schon das Wort ist abscheulich. Schmutz wäre, wer vertrieben, wer verschleppt wird? [...] Warum nicht Deportation? Oder sollte etwa der Abtransport meiner Verwandten und Schulkameraden in die Gaskammer gleichfalls eine ethnische Säuberung gewesen sein? Weil die ethnische ‚Sauber- keit‘ ein Wert wäre? Sollte die andere, vielleicht in der Nachbarschaft lebende, Ethnie gar der Schmutz selbst sein?“2835 Der ungarische Schriftsteller György Konrád setzte sich am 10. August 2006 im Berliner Kronprinzenpalais in seiner Eröffnungsrede zur Ausstellung „Erzwun- gene Wege. Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts“ kritisch mit den politischen, ideologischen und psychologischen Hintergründen von „ethni- scher Säuberung“ und „Deportation“ auseinander und traf einige bedenkenswerte Feststellungen: – „Das Recht des Menschen auf jenes Territorium, jene Gegend, jene Siedlung, wo er lebt, wo er gelebt hat, wo seine Vorfahren gelebt haben, ist ein elementares und grundlegendes Menschenrecht. [...] Die Erinnerung ist an den Raum gebunden, unsere Vergangenheit und deren Schauplatz hängen zusammen. Die Wegnahme des Schauplatzes ist der Raub meiner Vergangenheit.“ – „Die Deportation von Menschen oder die mit Drohungen einhergehende Vertreibung von ih- rem Wohnort ist ein international zu verfolgendes Verbrechen. Die Zwangsumsiedlung eines Menschen ist nichts anderes, als einem Körper Wunden beizubringen, Qualen zuzufügen.“ – „Wenn die Idee eines homogenen Nationalstaats als Norm Verbreitung findet, wenn die Gleichsetzung von Staat und Nation geschieht, von Staat und Religion, von Staat und Ethnie, dann kann irgendeine Abstraktion (Nation, Staat, Religion, Klasse, Ideologie) Verursacher von Deportationen sein. [...] Dass der Mensch mit Gewalt vertrieben, von dort weggebracht werden kann, wo er lebt, dieser Brauch entspringt jener politischen Paranoia, die mit den Etatismen des zwanzigsten Jahrhunderts einhergegangen ist, namentlich jene Vorstellung, dass der Staat über den einzelnen, über ein Volk verfügen, dass er Menschen umsetzen, zum Militärdienst, Mord und Ermordetwerden verpflichten darf. Die radikale Ausübung na- tionalen Selbstbestimmungsrechts erfolgt zum Nachteil des Selbstbestimmungsrechts des einzelnen. Der Wert welchen Subjekts ist höher anzusetzen: die Souveränität der Staaten oder die des einzelnen?“ – „Ein höheres Interesse, durch das Deportationen zu rechtfertigen wären, gibt es nicht. Kol- lektive Bestrafung und Verfolgung von Gemeinschaften können weder politisch noch reli- giös legitimiert werden. Die Bestrafung von Kindern für die Vergehen der Eltern darf nicht zugelassen werden. Die Bestrafung darf nicht auf die Familie übertragen werden. [...] Kei- nerlei gewaltsame Deportation ist als endgültig abgeschlossen zu betrachten. Jeder Depor- tierte, unabhängig von seiner nationalen, ethnischen, religiösen Zugehörigkeit, hat ein Recht auf – zumindest moralische – Wiedergutmachung.“ – Ethnische Säuberung ist eine „Deportation gepaart mit dem Genuss patriotischer Plünde- rung“. Solche Maßnahmen sind nicht nur für die unmittelbar Betroffenen schlecht, sondern auch für die Zurückgebliebenen, wissen sie doch nicht, durch wen die Deportierten ersetzt 2835 György KONRÁD, Gibt es eine gute Deportation? Eröffnungsrede zur Ausstellung „Erzwungene Wege. Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts“ am 10. August 2006 im Kron- prinzenpalais in Berlin, Zentrum gegen Vertreibungen (Hg.), (Berlin 2006) 14-17. Vertreibung, Zwangsaussiedlung, „ethnische Säuberung“ 1365 werden: „Neulinge, Wütende, Barbaren“. Meist gelingt die Ansiedlung schlecht, der An- gesiedelte empfindet das neue Haus nicht als seines, befürchtet, der alte Besitzer könnte zurückkommen, und statt das Haus instandzuhalten, hegt er lieber Groll gegen die vorher- gehenden Bewohner.2836 Bereits nach dem Münchener Abkommen Ende September 1938, vor allem aber nach Beginn des deutschen Angriffs auf Polen Anfang September 1939, hatte im östlichen und südöstlichen Europa eine der größten Umsiedlungs-, Flucht-, Vertreibungs- und Aussiedlungsaktionen in der Geschichte Europas begonnen, die bis 1950 insgesamt mehr als 35 Millionen Menschen erfasste. Betroffen waren etwa 14 Millionen Deutsche, 7 Millionen Juden (ohne westeuropäische Juden), 5 Millionen Polen, 2,5 Millionen Russen und Weißrussen, 2 Millionen Ukrai- ner, 1,9 Millionen Tschechen und Slowaken, 700.000 Südslawen, 500.000 Grie- chen, 400.000 Finnen und Karelier, 300.000 Magyaren, 250.000-300.000 Italie- ner, 250.000 Letten, 190.000 Krimtataren, 190.000 Litauer, 180.000 Bulgaren, 160.000 Esten, 100.000 Rumänen sowie Zehntausende Roma und Sinti, Albaner, Türken und andere.2837 In diesen Zahlen sind die über 10 Millionen „Fremdarbei- ter“ im Deutschen Reich sowie die temporär aus den verschiedenen Frontgebie- ten Geflüchteten noch nicht mitgezählt. Nicht mitgezählt sind auch die über 20 Millionen gewaltsam ums Leben gekommenen Zivilisten – die Mehrheit Juden, Weißrussen, Ukrainer, Russen, Polen, Jugoslawen, Griechen, Balten und Deut- sche. Die ethnische Karte, wie sie noch für Ostmitteleuropa 1914 zwischen Oder und Dnipro, zwischen Böhmerwald und Dnister sowie zwischen Istrien und Süd- karpaten gegolten hatte, existierte nicht mehr; auch die alten politischen, wirt- schaftlichen, sozialen und kulturellen Ordnungen waren zerstört.2838 Karl Schlögel fragt zu Recht: „War es nicht ein grandioses, aus purer Ignoranz gespeistes Missverständnis zu glauben, man könne europäische Geschichte im 20. Jahrhundert überhaupt unterrichten, ohne Umsiedlung und Vertreibung zur Sprache zu bringen?“ Trotz der europäischen Dimension von gewaltsamen Bevöl- kerungsverschiebungen, trotz der Europäizität von Umsiedlung und Vertreibung habe es keine europäische Öffentlichkeit und keinen europäischen Diskurs zum Vertreibungs- und Umsiedlungskomplex gegeben. Die wissenschaftliche Reflexi- on blieb weit hinter der millionenfach gemachten kollektiven Erfahrung zurück. 2836 KONRÁD, Deportation, 14-17. 2837 Paul Robert MAGOCSI, Historical Atlas of Central Europe. From the Early Fifth Century to the Present (Seattle & Toronto ²2002) 164-168; The Oxford Companion to the Second World War, 295f., 934-936; Flucht und Vertreibung. Europa zwischen 1939 und 1948, hg. von der Redaktion GEO (Hamburg 2004); Umsiedlung, Flucht und Vertreibung der Deutschen als internationales Problem, hg. vom Haus der Heimat des Landes Baden-Württemberg (Stuttgart 2005); Flucht, Vertreibung, Integration. Begleitbuch zur Ausstellung im Haus der Geschichte der Bundesrepu- blik Deutschland (Bielefeld ²2006); Erzwungene Wege. Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts. Katalog zur Ausstellung im Kronprinzenpalais, hg. vom Zentrum gegen Ver- treibungen (Berlin 2006); Grzegorz HRYCIUK [et alii] (Hgg.), Wysiedlenia, wypedzenia i uciezki 1939-1959. Polacy, Zydzi, Niemcy, Ukraincy. Atlas ziem Polski (Warszawa 2008). 2838 MAGOCSI, Historical Atlas, 189-193. 1366 Vertreibung, Zwangsaussiedlung, „ethnische Säuberung“ Trotz des in den 1950er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland durchgeführ- ten Großforschungsprojektes „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“ benötigten deutsche „Großhistoriker“ und Nobelpreisträger bis in die 1990er Jahre, um die Zusammenhänge zwischen Hitlers „ethnischer Flur- bereinigung“, Hitlers „Endlösung“, der Eroberung Ostmitteleuropas durch die Rote Armee, der Flucht und Vertreibung von 13 bis 14 Millionen Deutschen und dem Zusammenbruch des deutschen Ostens zu thematisieren. Nach 1989 konnte endlich die säkulare Tendenz, die offensichtlich den Umsiedlungs- und Vertrei- bungsabsichten innewohnt, deutlich aufgezeigt werden: die ethnische Homoge- nisierung als Programm des modernen Nationalstaates und die ethnische Säube- rung als Methode von ethnic and social engineering. Flucht und Vertreibung sind nun im gesamteuropäischen Bildervorrat deutlich verortet: Flüchtlingstrecks mit Pferdegespannen, Marschkolonnen, Orte der Gräuel, Beschlagnahme-, Selekti- ons- und Ausweisungskommanden, Kennzeichnung durch Armbinden, Viehwag- gons für die Deportation, Evakuierungsschiffe, Barackenlager. Andererseits, so Schlögel: „Mit den Menschen ist die lebendige Erinnerung verloren gegangen.“ Die Vertriebenen haben den Kontakt zu ihrer alten Heimat vielfach verloren, die Neueingesiedelten haben andere Kulturen mitgebracht und geschaffen. Michael Schwartz hebt in seinem fundierten Beitrag im letzten Band der Reihe „Das Deut- sche Reich und der Zweite Weltkrieg“ den „Prozesscharakter“ dieser „ethnischen Säuberungen“ zwischen 1941 und 1950 [besser: zwischen 1938 und 1950] hervor, erwähnt die „Vorerfahrungen“ seit den Balkankriegen und dem griechisch-türki- schen Krieg 1922, macht aber die historischen Wirkungszusammenhänge und po- litischen Verantwortlichkeiten doch zu einseitig an der NS-Gewaltherrschaft fest, obwohl er andererseits auf die Vertreibungsplanungen der alliierten Kriegsgegner seit 1939 und die Verschleppungen und Zwangsumsiedlungen in der Sowjetunion seit September 1939 verweist.2839 Die Aufteilungs- und Bürgerkriege im ehemaligen Jugoslawien seit 1991 mit offensichtlich geplanten Vertreibungen von Millionen Menschen aus ihren Woh- nungen, Häusern, Dörfern und Städten ließen in der öffentlichen Meinungsbildung den Terminus „ethnische Säuberung“ (etničko čišćenje) entstehen, der erstaunlich rasch Eingang in die internationalen Medien fand. Historikern war freilich be- wusst, dass dieses