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KOLONIE STEFAN-LUDWIG HOFFMANN

Stefan-Ludwig Hoffmann ist Associate Professor for Late Modern Europe an der ­University of California at Berkeley. M.A. 1993 Johns Hopkins University, Dr. phil. 1999 Universität Bielefeld mit der Arbeit „Die Politik der Geselligkeit: Frei­maurerlogen in der deutschen Bürgergesellschaft 1840−1918“, ausgezeichnet mit dem Hedwig-Hintze- Preis für herausragende Dissertationen des Verbandes der Historikerinnen und Historiker Deutschlands. Gegenwärtige Forschungsschwer­punkte: Geschichte der Menschenrechte; Kriegs- und Stadtgeschichte; Theorie historischer Zeiten. 2017-18 Guggenheim-Fellow. Jüngste Veröffentlichungen (als Mitherausgeber): Seeking Peace in the Wake of War: ­Europe 1942−1947 (2016); The Ethics of Seeing: Photography and Twentieth-Century German ­History (2017) sowie eine neue Übersetzung der Schriften Reinhart Kosellecks Sediments of Time: On Possible Histories (2018). 2019 erscheint Geschichte der Menschenrechte: Ein Rückblick. – Adresse: Department of History, University of California at Berkeley, 3215 Dwinelle Hall, Berkeley, CA 94720-2550, USA. E-Mail: [email protected].

Im Grunewald gingen über mehrere Jahrhunderte die Hohenzollern zur Jagd bis nach der Finanzkrise von 1873, dem sog. Gründerkrach, der Kaiser einwilligte, einen Teil des waldigen Sumpflandes günstig Investoren zu überlassen, die im Gegenzug der neuen Reichshauptstadt einen Prachtboulevard bauten. Die „Kolonie Grunewald“ gleich hinter dem Kurfürstendamm wurde mit ihren künstlichen Seen, großzügigen Gärten und wilhelminisch-­ausufernden Villen zur Luxusadresse , insbesondere für das deutsch-jüdische Großbürgertum.

106 Wissenschaftskolleg zu jahrbuch 2017/2018 Dass der weitaus größte Teil des Grunewalds zur gleichen Zeit zum öffentlichen Park wurde, verdankt die Stadt nicht nur den bürgerlichen Sozialreformern und Natur­freunden, die sich um die Erholung der Bewohner der explosionsartig wachsenden Industriestadt sorgten, sondern auch dem spröden Charme der Berliner Proleten. Diese bauten sich ­jedes Jahr im November zur Hubertusjagd vor dem Grunewald auf, um das königliche Gefolge zu bestaunen und zu verspotten. Der „Pöbel der Hauptstadt“ ver- wandelte die königliche Jagd in ein Volksfest des Eigensinns. So sah sich Wilhelm II. gezwungen, die Hubertusjagd in entferntere Reviere zu verlegen, und der Grunewald wurde zum Spottpreis an die Stadt abgetreten. Berlin ist eine so grüne Stadt, dass jeder Kiez seinen eigenen Park hat. Wer wie ich am Alexanderplatz aufgewachsen ist, der ging in den Friedrichshain, dort, wo heute die global vernetzten Hipsters neben den deutsch-türkischen Familien grillen. Oder wer aus Schöneweide kommt, der fuhr zum Müggelsee, auch nach dem Fall der Mauer. Zu mei- nem Berlin gehört der Grunewald erst nach diesem Jahr am Wissenschaftskolleg. Ende August schleppten wir unsere kalifornischen Koffer und Kisten über den Dienstboteneingang in den obersten Stock der Villa Walther, meine Partnerin Aglaya Glebova bezog zudem ein Dachzimmer in der American Academy, wo sie für ein ­Semester Axel Springer Fellow war. So führten wir für einige Monate zwischen Wannsee und Grunewald eine Doppelexistenz: doppelt so viele Vorträge und Empfänge, Lunches und Dinners, Fellows und Gäste. Im Herbst schrieb ich die Einleitung zu einem Band mit den theoretischen Schriften Reinhart Kosellecks, die ich gemeinsam mit Sean Franzel in den beiden Jahren zuvor ins Englische übersetzt hatte. Einige Fellows, insbesondere Manu Goswami und Jean-­Philippe Narboux gaben mir helfende Kritik. Im Juni hielt ich zudem in Marbach einen Vortrag auf einer Tagung zu „Koselleck und die Begriffsgeschichte des 20. Jahrhunderts“. Im April konnte ich meine Überlegungen zur Geschichte der Menschenrechte (auf ­Englisch) im Dienstagskolloquium diskutieren. Die Gespräche mit Pascale Cancik, Dieter Grimm, Lisa Herzog und Christoph Möllers wie auch mit Sebastian Conrad, Paul Nolte und ­Michael Wildt (in deren Kolloquien an der FU bzw. HU) haben mir geholfen, aus dem Labyrinth dieses Themas herauszufinden. Vom Rektor wurde ich gebeten, im Juni (auf Deutsch) einen Abendvortrag zu halten zum Thema „Die zerstörte Metropole: Berlin zwischen den Zeiten 1943−1947“, mein anderes Forschungsprojekt in diesem Fellow- Jahr. Der Austausch mit Vittorio Lampugnani zu den architektonischen Kontinuitäts­ linien zwischen 1930 und 1950 wie auch die Präsenz des Bürgerkriegs in Syrien in ­vielfachen

arbeitsberichte 107 Veranstaltungen und informellen Gesprächen am Wiko sind in den Vortrag eingegangen. In der gleichen Woche fand ein Workshop der UC Berkeley mit der International Max Planck Research School for Moral Economies of Modern Societies am Harnack-Haus in statt. So konnten auch meine Berkeley Doktoranden beim Abendvortrag dabei sein. Am Ende des Wiko-Jahres ist der Koselleck-Band Sediments of Time: On Possible Histories bei Stanford University Press erschienen. Es liegt ein erster Entwurf des langen Essays (oder kurzen Buches) zur Geschichte der Menschenrechte vor, der demnächst bei Suhrkamp (Geschichte der Menschenrechte: ein Rückblick) und auf Englisch bei Princeton University Press erscheinen soll. Und ich habe ein Querschnittskapitel der Monografie über Berlin in den 1940er-Jahren geschrieben, das ich als Aufsatz separat veröffentlichen werde – eine Art Leitfaden, um auch dieses Buch bald abzuschließen. Mit anderen Worten, ungeachtet der spielerischen Aufforderung von Luca Giuliani, auch etwas ganz anderes in diesem Jahr zu verfolgen, habe ich ungefähr das zu Papier gebracht, wofür mir im hektischen Universitätsalltag zuletzt die Zeit fehlte. Melancholisch lässt mich der Eindruck dieses Jahres zurück, dass die moralpolitische Berufung auf die Menschenrechte in den beiden Dekaden vor und nach 1990 selbst histo- risch zu werden scheint, gleichsam zu einer „vergangenen Zukunft“. Bis vor kurzem schien es noch so, als seien die Menschenrechte zusammen mit der Globalisierung Leit­ begriff einer neuen Zeit nach dem Ende der Ideologien des 20. Jahrhunderts. Diese neue Zeit verlangte nach einer neuen Geschichte – eine affirmative oder kritische Genealogie, um diese andere Gegenwart zu begreifen. So entstand die Globalgeschichte, aber auch die Menschenrechtsgeschichte als neu zu vermessendes Forschungsfeld, mit eigenen wissen­schaftlichen Zeitschriften und Buchreihen, Konferenzen und Kontroversen. ­Heute scheinen die Menschenrechte abzusinken in die Vergangenheit, werden sie als ­Signum einer Schwellenzeit zwischen dem Ende der 1970er-Jahre und den neuen Kriegen seit der Jahrtausendwende erkennbar. Der Moment scheint gekommen, die historische ­Bilanz dieser globalen Übergangszeit und ihrer Leitbegriffe zu ziehen. Je mehr sich die Menschenrechte in Vergangenheit verwandeln, desto mehr treten vermeintlich überkommene Zeitschichten hervor. Die Krisenerfahrungen Berlins und der Welt in der ersten Jahrhunderthälfte rücken uns wieder näher, scheinen mehr Gegen­ wart und Zukunft, mehr Zeitgeschichte zu enthalten. „The terror of the unforeseen is what the science of history hides, turning a disaster into an epic“, schrieb der in diesem Jahr verstorbene Philip Roth in einem seiner letzten Romane. Der Abendvortrag suchte eine Antwort auf diese Frage: Wie lassen sich vergangene Zeiterfahrungen beschreiben,

108 Wissenschaftskolleg zu Berlin jahrbuch 2017/2018 ohne das Erschrecken über das Unvorhersehbare, den plötzlichen Einbruch der ­Ereignisse, dem ein schleichendes Hinübergleiten in eine andere Zeit voranging, wegzuerzählen? Die ersten zwanzig Jahre meines Lebens verbrachte ich in Berlin-Mitte, die zweiten zwanzig Jahre zumeist in jenem Teil Schönebergs, der nach Speers Plänen für „­Germania“ abgerissen werden sollte. Von dort fuhr ich im Juni 1999 in die Wallotstraße, um dem Wiko-Fellow Hans-Ulrich Wehler meine Doktorarbeit in die Hand zu drücken (am nächsten Tag konnte ich mir das korrigierte Manuskript wieder abholen). Zehn Jahre zuvor endete auch für meinen anderen Bielefelder Lehrer, Reinhart Koselleck, das Fellow-­ Jahr, von dem mir nun Wolf Lepenies berichtete. Einige spätere Freunde und Kollegen aus der anglophonen akademischen Welt traf ich zuerst im Grunewald. Der Umweg ganz nach Westen, bis an den Pazifik, hat mich Kind von Ostberliner Intellektuellen auch für zehn Monate als Fellow in den Grunewald geführt, dort, wo heute die Frauen und Kinder der russischen Oligarchen auf der Koenigsallee entlang­ rauschen, die Nudisten zwischen Autobahn und „Strandbad Halensee“ ihren Körpern den Venice-Beach-Bronzeton geben und sich das alte Westberlin beim Floh am S-Bahnhof Grunewald auf ein Köpi zu Omlett mit Bratkartoffeln trifft, as if nothing ever happened. Das Wiko ist eine Insel der Glückseligkeit in der ehemaligen Villen-Kolonie mit ihrer schwierigen Geschichte, ein mit öffentlichen Geldern ermöglichter und von einem einzig­artigen Mitarbeiterstab täglich neu geschaffener Luxus-Freiraum des gemein­samen Nachdenkens. Für mich einer der gelungensten Orte Berlins, die Wissens-Kolonie am Halensee.

arbeitsberichte 109 Image: Berliner Adreßbuch für das Jahr 1892 (https://digital.zlb.de/viewer/image/10089470_1892/1546/)

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