Editorial

Lob der Komplexität Von Martin Bialecki, Chefredakteur

Zum ersten Mal versammelt die IP die Texte der Sylke-Tempel-Fellows in einer Sonderausgabe. Es gibt dafür viele gute Gründe, von denen der Name der heraus- ragenden früheren Chefredakteurin dieser Zeitschrift gewiss der nächstliegende ist. „Israel und Deutschland im US-Wahljahr: Nationale Narrative, Identitäten und Außenpolitik“ – so lautete die Überschrift der Ausschreibung für diesen Jahrgang. Der Trias dieser Länder war Sylke Tempel auf besondere Weise verbun- den, und zu jedem einzelnen der genannten Begriffe hätte sie 100 kluge Fragen stellen können, Hinweise geben, Debatten anstoßen, sie humorvoll ergänzen oder gelassen zerlegen. Der zweite Grund ist die Komplexität der Aufgabenstellung. Diese Zeitschrift bemüht sich um Klarheit und Prägnanz; sie bleibt aber auch dann das richtige Medium für Darstellung und Analyse, wenn sich manche Komplexität schlicht nicht reduzieren lässt. Das deutsch-israelische Verhältnis gehört gewiss dazu, Israels Geschichte, das Verhältnis Israels zu Muslimen, die Rolle der USA sowie angelsächsischer Denkschulen und vieles mehr. Wir laden Sie herzlich ein, sich mit den folgenden Texten im inneren Gepäck auf die Reise durch dieses weite Feld zu begeben. Dritter Grund: die Autorinnen und Autoren. Sechs junge Menschen – drei Frauen, drei Männer; aus Israel und aus Deutschland – sind eingetaucht in Traditionen, Geschichte, in Knäuel von Fragen. Ihre Texte legen immer wieder Zeugnis ab davon, dass solche Auseinandersetzungen nichts Altes an sich haben müssen und nichts Fades. Der gemeinsame Spirit der Fellows war begeisternd. Gerne hätten wir – und sie selbst – davon mehr persönlich erlebt, aber auch die Arbeiten in diesem Heft entstanden schließlich unter Corona-Bedingungen. Viertens schließlich: Sie, unsere Leserinnen und Leser. Die IP bietet Ihnen mit den IP Specials einen weiten Bogen regionaler oder thematischer Fokussierung im Kontext unseres Markenkerns, der Außenpolitik. Dass auf diesem Weg so früh ein Heft im Geiste Sylke Tempels möglich war, freut uns sehr.

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heit“ erkannt haben und deren abstruse, partiell menschenverachtende und wenig erleuchtende Plädoyer Mythen sich wie mit Lichtgeschwindigkeit im di- gitalen Raum ausbreiten. Wer mit wenig Wissen gegen die und Skrupel bepackt ist, läuft einfach schneller. Hinter der Proklamation der Wahrheit verbirgt sich häufig nicht das Ergebnis eines Erkenntnis- Wahrheit prozesses, sondern der Anspruch auf die alleinige Deutungshoheit über einen Sachverhalt, das Er- heben der eigenen Perspektive zur obersten Le- Zum Sylke-Tempel- gitimationsinstanz, der allein Wahrheitsgehalt zugesprochen wird. Journalismus sucht nicht nach Fellow­ship-Programm der einen Wahrheit, sondern nach den vielen un- erzählten Geschichten, nach Perspektivenvielfalt auf einen Sachverhalt. Genau das erwarten wir Von Tamara Or von unseren Sylke-Tempel-Fellows, die ihre Stim- men auch künftig über Ländergrenzen hinweg als a gut, ich gebe zu, der Titel ist provokant junge Expert*innen, Journalist*innen und medial gewählt. Provokant war auch Sylke Tem- Aktive in gesellschafts- und außenpolitische De- Npel, der zu Ehren die Stiftung Deutsch-­ batten in Deutschland und in Israel einbringen. Israelisches Zukunftsforum das Sylke-Tempel-­ Es waren drei Länder – Deutschland, Israel Fellowship-Programm eingerichtet hat. In einer und die USA –, die Sylke Tempel besonders am ihrer scharfsinnigen Ausführungen zur „Methode Herzen lagen. In allen drei Ländern hat sie gelebt Trump“ erklärte sie – ganz im Sinne von Hannah und gearbeitet. Gemeinsam mit unseren Koopera- Arendt –, dass wir den Begriff der Wahrheit lieber tionspartnern (siehe S. 51) und unter der Schirm- aus den medialen politischen Diskussionen her- herrschaft des Vorsitzenden der Atlantik-Brücke, aushalten und den Philosophen oder Propheten Bundesminister a.D. Sigmar Gabriel, haben un- überlassen sollten. Recht hatte sie. Der Begriff der sere Fellows in diesem Jahr einzelne Aspekte des Wahrheit wird im politischen Diskurs nur im Plu- übergeordneten Jahrgangsthemas „Israel und ral demokratischen Ansprüchen gerecht. Deutschland im US-Wahljahr. Nationale Narrative, Dennoch erfreut sich zurzeit kaum ein ande- Identitäten und Außenpolitik“ miteinander und rer Begriff der öffentlichen politischen Debatte so mit ihren Mentor*innen Raphael Ahren, Dr. Nicola großer Beliebtheit – eng umschlungen von seinem Albrecht, Dr. Max Czollek, Kerstin Müller, Christi- Antonym. Joe Biden schimpfte Donald Trump im na Pohl und Adar Primor diskutiert. In ihren Bei- ersten Duell der Präsidentschaftskandidaten einen trägen zeigen sie aktuelle Grenzverschiebungen Lügner, dieser verwies auf gegen ihn gerichtete und neue Legitimationsdebatten in allen drei Län- „Fake News“. Israels Premier Benjamin Netanjahu dern und in ihren Beziehungen zueinander auf. sicherte im Vorfeld der dritten Parlamentswahlen Das Plädoyer gegen die Wahrheit ist ein Plä- innerhalb von anderthalb Jahren der israelischen doyer für Perspektivenvielfalt im Rahmen der Öffentlichkeit zu, dass das gegen ihn laufende Ge- Rechtsstaatlichkeit und für eine demokratische richtsverfahren „die ganze Wahrheit“ ans Licht Kultur der Balance, in der es nicht um die eine bringen werde. In Deutschland demonstrieren Wahrheit geht, sondern um ein bestmögliches im Rahmen sogenannter Hygienedemos Zehn- Miteinander – Werte, für die das Fellowship-Pro- tausende Menschen mit Verschwörungstheoreti- gramm steht und für die auch Sylke Tempel ge- ker*innen, die entgegen jeder Faktizität „die Wahr- stritten und gelebt hat.

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Inhaltsverzeichnis

Plädoyer gegen die Wahrheit 2 Von Tamara Or Mit Hirn und Herz 4 Grußwort von Sigmar Gabriel Fließende Grenzen 6 Populismus und Liberalismus in den USA, Deutschland und Israel Von Itamar Ben-Ami Mehrheit und Minderheiten 14 Plurale Gesellschaften gründen auf der Vielfalt von Minderheiten Von Hanno Hauenstein Kommt es zum Bruch? 22 Die Beziehungen zwischen Israel und der jüdischen Diaspora sind im Keller Von Benjamin Brown Jenseits von Idealisierung 28 und Entfremdung Jüdisch-muslimische Beziehungen in Deutschland, Israel und den USA Von Beyza Arslan Willkommen bei den Jeckes 36 Die deutsch-jüdische Vergangen- heit und israelische Gegenwart der Shtark­manns Von Steffi Hentschke Die jüdische Identität: 44 Warum Amerika? Drei Generationen einer Familie: Wie sehr leitet sie, woher sie stammen? Von Noa Rekanaty Impressum 49 Die Fellows 2020 50 Die Kooperationspartner 52

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dungen zwischen diesen Nationen sind einerseits durch geopolitische und wirtschaftliche Überle- Mit Hirn gungen bestimmt. Auf der anderen Seite stehen Geschichte, Religion, Ethnie und Identität, nicht und Herz als naturwüchsige Gründe nationaler Zugehörig- keit, sondern als Faktoren, die die Lebensrealität der Menschen beeinflussen, die auch ihre Stellung Ein Grußwort von Sigmar Gabriel zur Politik beeinflussen. Diese Seite ist mindestens ebenso wichtig und sollte nicht durch brachiale politische Entscheidungen ignoriert werden. Sonst wird es immer wieder ungelöste Konflikte geben. n seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung Deutschland und Israel sind für immer durch des Friedenspreises des Deutschen Buchhan- das Unrecht der nationalsozialistischen Herrschaft Idels sagte der israelische Schriftsteller Amos Oz und die Gräuel des Holocaust miteinander verbun- etwas, das mir sehr gefiel, weil es gleichermaßen den. Diese Geschichte bestimmt nicht nur die Be- idealistisch wie realistisch war. Es ging ihm dar- ziehungen auf diplomatischer Ebene, sie lebt bis um, wie in seinem Heimatland Israel, aber auch heute in den Erinnerungen und Erzählungen in überall sonst auf der Welt unterschiedlichste Men- Familien beider Länder fort, einer Geschichte von schen in Frieden miteinander leben können, ohne Trauer und Wut, Schuld und Verantwortung. Doch ihre Unterschiede aufzugeben: „Wir sollten versu- es ist nicht nur die Geschichte ab 1933, die eine chen, innerhalb einer umfassenden Gemeinschaft Rolle spielt: Auch die Identifikation mit und Liebe der Menschheit die verschiedenen Wünsche nach zu Deutschland und Europa, die viele Juden vor Identität und Selbstbestimmung zu verwirklichen. ihrer grausamen Ermordung oder ihrer Flucht emp- Wir sollten eine vielstimmige Welt errichten und fanden, ist ein Teil des komplizierten Mosaiks von nicht eine voller Dissonanzen, voller selbständiger Identität in diesem Verhältnis. Nicht zuletzt gibt und selbstsüchtiger Nationalstaaten.“ Realistisch es auch die Beziehungen, die heute neu geknüpft ist der Gedanke, weil er die Unterschiede nicht werden, von jungen Israelis und Deutschen, die kleinredet, idealistisch, weil er den Glauben dar- sich – sicher nie ganz unbefangen, aber doch neu- an behält, dass Unterschiede ohne Gegnerschaft gierig und aufgeschlossen – einander annähern. möglich sind. Dieser Ansatz scheint mir eine gute Die Beziehungen Israels zu den Vereinigten Ausgangsbasis für eine Welt, in der die Dissonan- Staaten von Amerika sind gekennzeichnet durch zen immer lauter werden. enge familiäre Bindungen zwischen den beiden Um Unterschiede miteinander vereinen zu kön- Ländern und durch den Bezug der jüdischen Di- nen, ist es in erster Linie wichtig, sie zu verstehen. aspora in den USA zum Staat Israel. Doch auch Das Gefühl von Zugehörigkeit, zu einer Familie, die Gruppe der Evangelikalen, die mitunter ein einer Gruppe, einer Nation, ist für Menschen von äußerst zwiespältiges Verhältnis zum Judentum großer Bedeutung. Jeder hat eine Identität, wie hat, beeinflusst das amerikanisch-israelische auch immer sie oder er diese definiert. Sie kann Verhältnis. Schon während seines ersten Wahl- Motor für vieles sein – im Guten wie im Schlechten, kampfs war Israel ein zentrales Thema für Donald im Großen wie im Kleinen. Es ist unerlässlich, ihr Trump, der die umstrittene Anerkennung Jerusa- auf den Grund zu gehen, wenn man nachvollzie- lems als Hauptstadt Israels und die Verlegung der hen will, was die Menschen und letztlich auch US-Botschaft dorthin schnell nach seiner Wahl die Politik antreibt. Das gilt insbesondere für zum Präsidenten in die Tat umsetzte. Im aktuellen das vielschichtige Beziehungsgeflecht zwischen Wahljahr spielen die amerikanisch-israelischen Deutschland, Israel und den USA. Die Verbin- Beziehungen wieder eine herausgehobene Rolle.

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und Deutschland im US-Wahljahr: Nationale Nar- rative, Identitäten und Außenpolitik“ gewidmet hat. Die Medienschaffenden aus Deutschland und Israel, die das Fellowship erhalten haben, beleuchten Aspekte der Beziehungen, die wir nicht ignorieren sollten. Sie befassen sich mit Sigmar Gabriel war Außenminister, Vizekanzler, jüdischer Identität, mit dem Umgang mit Min- ­Wirtschafts- und Umweltminister, Vorsitzender der SPD; derheiten in Deutschland, Israel und den USA, derzeit ist er u.a. Vorsitzender der Atlantik-Brücke. mit der Annäherung von Juden und Muslimen, mit Populismus, mit der Rolle der jüdischen Dias- pora und dem deutschen Erbe jüdischer Israelis. Die Regierung Trump, die internationale Zusam- Dass junge Menschen diesen Fragen nachgehen, menarbeit ansonsten häufig für überflüssig hält, die Vielschichtigkeit der politischen Realität auf- sieht sich hier in ihrer traditionellen Rolle des er- zeigen und damit die Debatte bereichern, darf folgreichen Vermittlers, der im Nahen Osten durch Hoffnung geben. Ich freue mich, dass mit dem geschickte und vertrauliche Verhandlungen einen Fellowship solch tiefgehende Arbeiten gefördert Durchbruch erreichen kann. Dass Israel und die werden können. Guter Journalismus ist ein es- Vereinigten Arabischen Emirate diplomatische senzieller Teil unseres demokratischen Lebens. Beziehungen aufnehmen wollen und nun mit Sylke Tempel, die viel zu früh verstorben ist, Bahrain ein weiterer arabischer Staat sich eben- hat stets einen wachen und kritischen Blick auf falls dazu bereit erklärt hat, ist unzweifelhaft zu das Dreiergefüge gehabt, um das es hier geht. Sie begrüßen. Und doch bleibt ein verlässlicher Weg ist viel gereist, hat die Länder und die Menschen Israels zum Frieden mit allen seinen Nachbarn kennengelernt, ihre Geschichte und Gegenwart. nicht vorstellbar, wenn die Palästinenser nicht Ihre Kritik war deswegen so bestechend, weil in diesen Prozess eingebunden sind. sie nicht nur scharfsinnig war, sondern weil ihr Denn die innenpolitische, konfliktbeladene Deutschland, Israel und die USA wirklich am Her- Lage Israels ist ebenfalls von vielfältigen Iden- zen lagen. Sie hat sich – ohne ein Blatt vor den titäten geprägt. Die Kluft, die viele Juden und Mund zu nehmen oder Dinge zu beschönigen – Muslime zwischen sich sehen, ist eng mit der Ge- für die Beziehungen zwischen unseren Ländern schichte des Staates Israel, mit der prekären Lage eingesetzt und gegen Engstirnigkeit. Und was der Palästinenser und den Beziehungen Israels zur sie so ausgezeichnet hat, war nicht zuletzt ihre arabischen Welt verwoben. Überzeugung, dass man mit fast allen produktiv Wir müssen uns mit all diesen Wahrnehmun- streiten kann. Genau das müssen wir nämlich gen und Zugehörigkeiten befassen und sie verste- tun, wenn wir uns für Demokratie, Frieden und hen. Nicht jede Identität ist, wie bereits erwähnt, für ein verträgliches Miteinander unterschied- etwas Positives, Unschuldiges. Die fehlgeleitete lichster Menschen einsetzen. Und an genau diese Suche nach Identität kann Konflikte, Populis- Streitkultur mit Hirn und Herz, die Sylke Tempel mus, Hass auf Fremde befeuern und sehr ge- so unnachahmlich beherrscht hat, scheinen mir fährlich werden. Gleichzeitig kann ein Gefühl die vorliegenden Arbeiten hervorragend anzu- von Zugehörigkeit auch dazu führen, dass sich knüpfen. Deutschland, Israel und die USA: Das Menschen für die Abschaffung von Unrecht und Verhältnis dieser drei Länder ist vielschichtig, und Diskriminierung einsetzen. Beide Phänomene nur, wenn wir uns mit allen Facetten befassen und können wir beobachten, in Europa, in Israel, in diese verstehen, können wir Dissonanzen und na- den USA. Es ist nur folgerichtig, dass das Sylke- tionalistische Selbstsucht überwinden – ganz im Tempel-­Fellowship dieses Jahr dem Thema „Israel Sinne von Amos Oz.

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Fließende Grenzen Über den Wandel von Populismus und Liberalismus in den USA, Deutschland und Israel

Ein Text von Itamar Ben Ami

ines der unerwarteten Ergebnisse der Coro- einer Art historischen Ironie neiderfüllt auf das na-Krise ist ein gewisser Rückgang der Stär- von Merkel regierte Deutschland. Eke des Populismus. Während populistische Das Versagen der Populisten im Umgang mit Staats- und Regierungschefs wie Donald Trump Corona spiegelte sich im Sommer auch in den Um- und Benjamin Netanjahu mit ihrer Reaktion auf fragen. Trump hinkte Joe Biden, seinem Rivalen die Krise gescheitert sind, haben doch viele libe- aus dem Establishment, hinterher. In Israel gab es rale Regierungen ihre Überlegenheit unter Beweis massenhafte Demonstrationen gegen die Regie- stellen können. Der Liberalismus, den Carl Schmitt­ rung Netanjahu, zum ersten Mal seit Jahren war er mangelnder Fähigkeiten im Umgang mit dem ernsthaft in seiner Macht bedroht. Israel und die „Ausnahmezustand“ bezichtigte, hat eines bewie- USA befinden sich an einer schicksalhaften Weg- sen: In Krisenzeiten ermöglichen ordnungsgemä- gabelung: Populismus oder Liberalismus, eine ße Entscheidungsverfahren erfolgreiche Gefah- Fortsetzung der Disruption oder eine Rückkehr renbewältigung – gestützt auf objektive Experten zu jenem Fundament, das die Weltordnung in den statt auf die Begeisterung der Massen. Nun blicken vergangenen Jahrzehnten getragen hat. Jedenfalls, die USA und Israel – „die auserwählten Völker“, so warnte der Historiker Samuel Moyn jüngst, ist wie der Soziologe Todd Gitlin sie bezeichnete – in die Hoffnung unbegründet, derPopulismus ­ ­werde

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einfach verschwinden. Diese Hoffnung geht davon setzung soll Aufschluss geben über die zwischen aus, der Populismus sei eine Abweichung von der Populismus und Liberalismus changierende Situa- Weltordnung, eine fremde und rätselhafte Ano- tion zwischen den drei Staaten; diese veranschau- malie. Zutreffender wäre es, ihn als Teil dieser licht das internationale Wesen des Populismus, Weltordnung selbst zu betrachten. der sich üblicherweise darin gefällt, als lokale und Es ist verlockend, die Corona-Pandemie als authentische Bewegung zu gelten. Tatsächlich ist Bestätigung gängiger Analysen der unterschied- offenkundig, dass der Populismus eine internatio- lichen politischen Logik populistischer und libe- nale Bewegung ist. Ohne den Austausch von Ideen raler Regime zu begreifen. So behaupten die Po- und Menschen durch die Globalisierung – die er pulisten, der Liberalismus ersetze die öffentliche Tag und Nacht beschimpft – hätte der Populismus Meinung durch Technokraten, die im Namen öko- niemals entstehen können. nomischer Effizienz regierten und den Wünschen des Volkes nicht entsprächen. Dagegen träten sie dafür ein, die Demokratie wieder dem Demos zu- zuführen, mit mehr direkter Repräsentation der Massen. Die Liberalen andererseits befürworten indirekte Repräsentation. Sie legen den Akzent auf Dritte-Sektor-Organisationen, die den Schutz von Rechten garantieren, auf die Pflege von Expertise Der Populismus sowie auf ein starkes und apolitisches professi- onelles Beamtentum, das dem Staat stärker ver- präsentiert sich gern pflichtet ist als der gewählten Regierung. Indes sind die Grenzen zwischen Liberalismus und Populismus unklarer als gemeinhin ange- lokal und authen- nommen. Schon in den 1920er Jahren hat eine Rei- he deutscher Philosophen die Ansicht vertreten, das schmeichelhafte Selbstbild des Liberalismus tisch, ist aber – als rational und von der Stärke intellektueller, konsensorientierter Diskussionen überzeugt – sei eine internationale unzutreffend. Die Tendenz des Liberalismus, einen Generalangriff auf seine Feinde zu erklären, sei im Kern der liberalen Logik verankert. Tatsächlich ist Bewegung es eher der Populismus, der sich als optimistisches und naives System erweist, das unfähig ist, Kri- sen zu meistern. Außerdem sind die Unterschiede zwischen Liberalismus und Populismus nicht so tiefgreifend wie sie zunächst erscheinen. Nicht nur stehen beide Ideologien ähnlichen Fragen gegen- über – die Grenzen zwischen ihnen sind fließend. Der erste Teil des Artikels konzentriert sich auf Dieser Text konzentriert sich auf das Dreige- den Moment, als Liberalismus und Populismus spann aus Deutschland, den USA und Israel; er rivalisierende Bewegungen wurden, die aufein- behandelt zwei Episoden zum Verhältnis zwi- ander reagieren. Wie der Historiker Udi Greenberg schen Liberalismus und Populismus, die die Nähe dargestellt hat, ergibt sich diese Konfrontation oder wenigstens die Verbindung zwischen den keineswegs von selbst. Ihre Wurzeln müssen zwei Ideologien illustrieren. Diese Schwerpunkt­ im Deutschland der Weimarer Republik gesucht

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­werden – demselben Land, das heute als Retter tet, leicht zu manipulieren von Demagogen jeder des Liberalismus gilt, exportierten doch nach dem politischen Couleur. Daher waren auch Juden in Zusammenbruch der Weimarer Republik im Exil Weimar überproportional repräsentiert. Wie der lebende Philosophen diese Gegenüberstellung in Historiker Philipp Nielsen aufzeigte, unterstützten die USA und später nach Israel. Der zweite Teil viele Juden, die sich vor dem Antisemitismus der handelt von der gegenwärtigen Beziehung zwi- Massen fürchteten, Spielarten elitärer und indi- schen Liberalismus und Populismus in den USA rekter politischer Repräsentation und teils sogar und Israel. Darin werden Veränderungen in der die alte imperiale Ordnung. Dies war womöglich israelischen Rechten, inspiriert und beeinflusst die früheste jüdische Version eines skeptischen von Entwicklungen in Amerika, und ihre Entschei- Blickes auf den Populismus. dung zugunsten einer populistischen statt einer Die Machtübernahme der Nazis löste eine Mas- liberal-konservativen Ausrichtung analysiert. senemigration von mehr als 300 000 Personen aus Deutschland aus. Einige Sektoren in Deutschland, Das Weimarer Jahrhundert wie die akademische und kulturelle Welt, haben In den letzten Jahren hat die Weimarer Republik sich bis heute nicht vollständig von dieser Emigra- die Vorstellungskraft politischer Theoretiker auf tion erholt. Einer vorherrschenden Annahme – der ganzen Welt beansprucht, die behaupten, die oder Hoffnung – zufolge sind Philosophen, die das Grundlagen unserer politischen Konfiguration sei- Trauma der Emigration erlebt haben, Anhänger en aus Weimar hervorgegangen. In der Weimarer toleranter Ideologien. So wird in der zeitgenös- Republik experimentierte eine gespaltene, vom sischen kritischen Theorie die Idee des Exils der Ersten Weltkrieg traumatisierte Gesellschaft erst- Idee der Souveränität gegenübergestellt; demnach mals mit einer Massendemokratie. Oftmals wird deutet das Exil auf einen kritischen Blick auf die Weimar als „Republik ohne Republikaner“ be- Macht des Staates hin. Die im Exil lebenden Phi- schrieben; als Ort, an dem sich allerlei Radikale losophen Weimars taten aber just das Gegenteil. mit geteilter Verachtung für das liberaldemokrati- Sie schworen, das Trauma des Zusammenbruchs sche System versammelten. Die Goldenen Zwanzi- des Liberalismus werde sich nicht wiederholen, ger Weimars waren in erster Linie für ihren kultu- und suchten nach Wegen, um die Beteiligung der rellen Avantgardismus – in Literatur, Künsten und Massen zu verhindern. Philosophie – bekannt, der zur Geringschätzung Dies ist der Kontext des „Weimarer Jahrhun- der Bourgeoisie und dem als bourgeois abgestem- derts“ in den USA, wie Greenberg es definiert: der pelten parlamentarisch-liberalen System neigte. Versuch, eine liberale Demokratie zu gestalten, Doch zieht Weimar in den letzten Jahren nicht deren Überleben nicht von den Massen gefährdet nur als Wiege reaktionären oder populistischen wird. Die liberale Demokratie wurde im Kampf ge- Denkens Aufmerksamkeit auf sich, sondern auch gen Kräfte, die sie zerstören wollten, geformt. Der als wichtigster Schauplatz liberalen Denkens. Wie Politikwissenschaftler John Gunnell beschreibt der Politikwissenschaftler Jens Hacke aufzeigte, dies als kulturelle Revolution, die von den deut- war keine der Parteien der Koalition, die die Wei- schen Exilanten nach Amerika gebracht wurde. marer Republik gründete, von ihrer Zwangsehe Während die Amerikaner zuvor in einem prag- begeistert – gerade dies sorgte letztlich dafür, matischen Geist davon ausgingen, die Demokratie dass intensiv darüber nachgedacht wurde, wie zeichne sich gerade durch ihre moralische Indif- das Regime auch in Krisensituationen erhalten ferenz aus, versuchten diese Exilanten die Demo- werden könnte. Insbesondere diente der Libera- kratie in metaphysischen Überlegungen zu veran- lismus als Barriere gegen die direkte Beteiligung kern. Dies, so glaubten sie, sei der einzige Weg, sie der Massen. Die Massen wurden in Weimar als vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Die libe- dynamische und undisziplinierte Kraft betrach- rale Demokratie setzte mithin ein manichäisches­

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­System voraus, in dem sie sich selbst mit dem potenziell auch deutsche Populisten nach Israel Guten und ihre populistischen und kommunisti- und in die USA. schen Feinde mit dem Bösen identifizierte. Liberalismus und Populismus könnten daher Demgemäß transformierte Weimar den Libera- fluide Konzepte sein, was die Fluktuation zwi- lismus von einer Anti- zu einer wehrhaften Ideolo- schen ihnen erst ermöglicht. Damit ist auch das gie, die sich vornehmlich gegen den Populismus verzerrte Selbstbild beider Anschauungen aufge- richtete. Greenberg verortet die Erfindung der Idee zeigt. Im Gegensatz zu den Anschuldigungen des der wehrhaften Demokratie, die Auswirkungen Populismus ist der Liberalismus keine Haltung, auf die USA, Deutschland und sogar Israel hatte, die naiven und optimistischen Fortschrittsideen in diesem Kontext. Die exilierten Denker präsen- folgt. Tatsächlich erweist sich der Liberalismus tierten die liberale Demokratie als eine Art Su- als eindeutig pessimistisches Konzept; er verfügt per-Ideologie, um das kommunistische Regime über einen kämpferischen Ansatz, der die Welt in auszustechen, von dem sie sich existenziell be- Freund und Feind einteilt, und muss stets auf der droht fühlten. „Sie vertraten das anspruchsvolle Hut vor der Gefahr des eigenen Zusammenbruchs Argument, dass die Demokratie das einzig legitime sein. Im Gegensatz zum Liberalismus ist vielmehr Regime sei; ein Regime mit dem Recht, seine Fein- der Populismus ein optimistischer Ansatz, der de gewaltsam zu zerschlagen“, schreibt Greenberg. große Naivität offenbart – dieselbe Naivität, vor der er den Liberalismus unermüdlich warnt. Der Weimar und Israel Populismus rühmt den Ausnahmezustand, doch Ein solcher Prozess fand nicht nur in den USA, verhindert sein dauerrevolutionäres Wesen einen sondern auch in Israel statt. Jahrelang galten deut- effektiven Umgang mit Krisen – ein Phänomen, sche Immigranten in Israel als Anhänger mittiger, das der Jurist und Politikwissenschaftler Ernst liberaler Positionen. Jedoch brachten die libera- Fraenkel bereits in den 1930er Jahren diskutierte. len Emigranten, wie der Historiker Nitzan Lebovic Kurz gesagt: Die Schwäche des Populismus als aufzeigte, eine beachtliche ideologische Militanz politisches System hat den wehrhaften Liberalis- mit sich. Der Einfluss der Weimarer Philosophen mus, der die Vereinigten Staaten und Israel leitete, war besonders im Obersten Gericht Israels deut- geformt. Weimar konfrontiert uns daher scheinbar lich erkennbar, in dem deutsche Emigranten stark mit einer schweren Entscheidung: wehrhafter Li- vertreten waren. Das Oberste Gericht wurde zwar beralismus oder naiver Populismus. Ist dies die im Allgemeinen als Vertreter des Liberalismus be- Entscheidung, vor der heute die Demokratie steht? trachtet; doch war seine Interpretation liberaler Es ist schwierig, eine direkte Verbindung zwi- Ideologie von traumatischen Erfahrungen und schen den Weimarer Exilanten und der heutigen kämpferischem Geist geprägt. Das ist der Grund, populistischen Politik aufzuzeigen. Doch scheint warum beispielsweise das Gericht der Herrschaft es, als würden die Geister Weimars die gegenwärti- des Militärregimes über die israelischen Araber ge Politik in Amerika und Israel auf dreierlei Weise bis 1966 zustimmte. Der israelische Liberalismus weiterhin heimsuchen. Erstens werden Populis- wurde somit auch als Regime gestaltet, das einer mus und Liberalismus bis heute als Gegensätze Beteiligung der Massen entgegenwirkt und gegen konstruiert und stehen sich frontal gegenüber. seine Feinde Krieg führt. Zweitens stützen sich Amerikaner und Israelis Die Gegenüberstellung von Liberalismus und eindeutig auf ein politisches Modell Weimars, Populismus stammt also aus Weimar und wurde wenn sie zu einem direkten und populistischen nach Israel und in die USA exportiert. Dabei war politischen Modus zurückkehren wollen. Und drit- die Angst der deutschen Exilanten vor dem Popu- tens handelt es sich beim Populismus mehr denn je lismus nicht bloß theoretischer Natur, denn die um ein internationales Phänomen – eine ironische Emigration aus Deutschland brachte jedenfalls Tatsache für eine Bewegung, die den Kampf gegen

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zweite Welle des Konservatismus in den USA. Die- Konservative könn- se Welle war in erster Linie als Reaktion auf die kulturelle Revolution in den USA zu verstehen; ten im Populismus aktivistischere und weniger elitäre Ansichten wurden vermehrt unterstützt. Die Verbindung zwischen Konservativen und tatsächlich eine Populisten mag überraschend erscheinen. Seinem Wesen nach neigt der Konservatismus eher zu ei- nem kulturellen Elitismus, der nicht zur Ignoranz große Gelegenheit der Trump-Regierung passt. Daher konnten sich Konservative jahrelang eher vorstellen, Allianzen erblicken – etwa, mit verschiedenen Spielarten des klassischen Li- beralismus zu schmieden als mit dem Populismus. Doch bei Lichte betrachtet können Konservative die Grundlagen der tatsächlich eine Gelegenheit im Populismus erbli- cken. Konservative etwa, die in der internationa- len Arena auf Abschottung setzen, werden einen Globalisierung zu Populismus unterstützen, der die Grundlagen der Globalisierung zu unterminieren sucht. Konser- unterminieren vative, die Eingriffe der Regierung verabscheuen, werden häufig die Schwächung staatlicher Institu- tionen durch Populisten begrüßen. Da sie die Idee der Freiheit vor dem Staat betonen, liegt es nahe, dass sie Formen von Gemeinschaft entwickeln, die sich gegen das Establishment richten – das ihnen als vom Volk entfremdet erscheint. Stand zuvor eine qualifizierte Unterstützung Globalismus und Internationalismus verficht. Dies des wehrhaften Liberalismus auf der Agenda der wird besonders durch Entwicklungen in der ame- amerikanischen Konservativen, unterstützen sie rikanischen und israelischen Rechten deutlich. heute den Populismus auf eine Art und Weise, bei Beginnen wir mit den USA. Es gibt amerika- der die Idee der Freiheit betont wird. Diese Tendenz nische Populisten, die sich als Erben der politi- lässt sich anhand anderer gegenwärtiger Erschei- schen Theorie des Konservatismus betrachten. Die nungsformen der Fluidität zwischen Liberalismus konservative Bewegung in den USA entwickelte und Populismus veranschaulichen: Es gibt einen sich entgegen ihren Behauptungen von angeblich Grund, warum die deutsche AfD als neoliberale langer Tradition im Wesentlichen nach dem Zwei- Bewegung begann und warum Marine Le Pen die ten Weltkrieg, auch unter Mitwirkung deutscher Invasion des Irak abgelehnt hat. Eindeutig libera- Emigranten. Sie war zunächst einerseits mit einem le Positionen wie die Verdächtigung des Staates, Wiederaufleben des Christentums und anderer- das Meiden internationaler Interventionen und die seits mit einem ideologischen Draufgängertum Bevorzugung des freien Marktes gegenüber zen­ verbunden, das versuchte, die amerikanischen tralisierten Institutionen – all dies kann schnell zu Ideale angesichts des New Deal und der Gefahr des Populismus verkommen, der einen anderen Rah- Kommunismus zu bewahren. In den 1960er und men für dieselben Positionen bereithält. Mit ge- 1970er Jahren gab es als Teil dessen, was Jürgen nau diesen Entwicklungen hat die ­amerikanische Habermas als „Neue Rechte“ bezeichnete, eine Rechte zuletzt Erfahrungen gemacht.

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Schauen wir auf Israel. Es ist leicht, die popu- der Siedlungsbewegung behaupten nun, während listische Politik Netanjahus der Tatsache zuzu- sie eigentlich schlicht eine militante und trum- schreiben, dass er Korruptionsanklagen gegen- pistische Spielart der Ausgrenzung innerer, die übersteht. Doch ignoriert diese Interpretation den Nation unterlaufender Feinde anbieten, sie seien tiefgreifenden Wandel der israelischen Rechten konservativ. Diese Xenophobie wird von einer in den vergangenen Jahren, der von Ereignissen evangelistischen Lesart der jüdischen Heiligen in den USA inspiriert ist und seinen Höhepunkt Schriften gestützt, welche der jüdischen Vorherr- im Übergang von Konservatismus zu Populismus schaft in den besetzten Gebieten Legitimität ver- erreichte. Netanjahu beobachtet die Ereignisse leiht. Sagiv kontrastiert diesen populistisch-kon- in den USA, wo er jahrelang lebte, in aller Regel servativen Ansatz mit einem authentischeren sehr aufmerksam. Während seiner Amtszeit als Konservatismus, der zu Pessimismus neigt und Premierminister – der längsten in der Geschichte sich eines Bekenntnisses zu dauerhaften politi- Israels – hat er sich selbst immer wieder angloame- schen Standpunkten enthält. rikanischen Trends gemäß neu erfunden. Als jun- Der Wechsel zum Populismus rückt die is- ger Regierungschef unterstützte er in den 1990er raelische Rechte in die Nähe antisemitischer Jahren den ökonomischen Liberalismus im Geiste Symbole und einer Zusammenarbeit mit Anti- Clintons und Blairs. Während Obamas Amtszeit semiten. In den letzten Jahren hat sich Israel wurde er zu einem sicherheitspolitischen Falken mit der antiliberalen Visegrád-Gruppe gemein im Geiste der neokonservativen Bush-Regierung. gemacht. Die israelische Regierung hat sogar Der Bienenstaat, der Netanjahu im vorangegange- mit einer antisemitischen Kampagne in Ungarn nen Jahrzehnt umgab, gehörte größtenteils zum gegen George Soros kooperiert. Die ehemalige amerikanischen neokonservativen Establishment. Justizministerin Ayelet Shaked, die eine tief- In den letzten Jahren positioniert sich Netan- jahu dagegen als eine Art Gegenstück zu Donald Trump. Seine militante Außenpolitik wurde durch Angriffe auf vermeintliche innere Feinde wie das Oberste Gericht und die israelische Linke ersetzt. Israel rechtfertigt die Besetzung nicht mehr im Sinne des ehemaligen Premierministers Jitzchak Schamirs oder der Arbeiterbewegung mit harten sicherheitspolitischen Gründen, sondern ver- wendet ultranationalistische Rhetorik, die die Netanjahu ist ein Macht der Nation betont. Dies ist der wichtigste Kontext für das Nationalstaatsgesetz, wie der isra- lebendes Beispiel elisch-arabische Politikwissenschaftler Raef Zreik veranschaulichte. In einer wichtigen Analyse, die der israelische Essayist Assaf Sagiv kürzlich ver- dafür, wie fließend öffentlichte, wurde die Verbindung zwischen dem Wandel der israelischen und der amerikanischen Rechten erklärt. der Übergang zwi- In den letzten Jahren haben konservative amerikanische Stiftungen wie der Tikvah Fund schen Liberalismus Versuche unternommen, mithilfe orthodoxer Stif- tungen in Israel eine populistische Version rechter Identität zu verbreiten. Viele Führungspersonen und Populismus ist

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greifende, die Unabhängigkeit des Justizsys- lismus und den Verlust jeglicher Verbindung zur tems unterminierende Reform vorangetrieben jüdischen Tradition. Andererseits veranschaulicht hat, zögerte bei einer Wahlkampfveranstaltung dies erneut die Fluidität des Übergangs zwischen im vergangenen Jahr nicht, ein Parfum namens Liberalismus und Populismus: Wenn Netanjahu „Faschismus“ zu mischen – sie behauptete, es sich in seiner früheren Version als eindeutiger rieche nicht so übel. Yair Netanyahu, der Sohn Vertreter des Neoliberalismus darstellen konnte, des Premierministers, vergleicht auf seinem be- verfolgt er nun weiterhin dieselbe Politik, aber mit liebten Twitteraccount Linke mit Verrätern. Er populistischen Mitteln – inspiriert von Amerika. tauchte kürzlich in AfD-Werbefilmen auf, die von Es wäre ein Fehler, dies allein seinem Zynismus der „jüdisch-christlichen Zivilisation“ handeln. zuzuschreiben. Die politische Gewalt in Israel hat sich in letzter Zeit ebenfalls ihrem Wesen nach verändert. Sie Fazit: Wege im Wandel geht nicht mehr von radikalen religiösen Gemein- Die Legitimitätskrise und die Frage nach der Legi- schaften aus, sondern von einem Mob, der in der timität der Demokratie insgesamt sind ein neues Manier von Fußballhooligans Teilnehmer von Phänomen der letzten 100 Jahre. Die Auseinander- Anti-Netanjahu-Demonstrationen­ verprügelt. setzung zwischen Liberalismus und Populismus Trotz des Einflusses der amerikanischen auf zeigt tiefgreifende Widersprüche der Massenpoli- die israelische Rechte hat der israelische Po- tik auf; eine eindeutige Lösung dieser Auseinan- pulismus zwei einzigartige Merkmale. Erstens dersetzung kann es daher nicht geben. Moderne ermöglicht das Umlenken in eine populistische Politik gründet sich auf der Legitimierung durch Richtung der Rechten eindeutig, eine aggres- das Volk, ist jedoch auf eine nationale Gemein- sive Politik gegenüber den Palästinensern zu schaft beschränkt. Sie spricht im Namen der Men- legitimieren. Nachdem sogar alteingesessene schenrechte, gewährt aus politischen Gründen je- Verteidiger Israels als jüdischen und demokra- doch nur Bürgerrechte. Sie setzt voraus, das ganze tischen Staat warnten, dass Israel mit Annexi- Staatsvolk zu repräsentieren, grenzt tatsächlich onen eine moralische Überlegenheit einbüßen aber verschiedene Gruppen aus den politischen würde, versuchen die Populisten Annexionen Entscheidungszentren aus. Sie spricht im Namen zu verteidigen, indem sie diese zu einem Teil der Menschheit, doch sorgt sich um Macht. eines übergreifenden Krieges der Zivilisationen Anzunehmen, Liberalismus und Populismus erklären. Zweitens erfüllt die Ablehnung der Glo- böten konträre Antworten auf diese grundle- balisierung ein existenzielles Bedürfnis Israels genden Fragen, wäre jedoch ein Fehler. Es ist – denn wenn der Staat global wird, kann er nicht unzutreffend zu behaupten, der Liberalismus mehr jüdisch sein. Wie der Politikwissenschaftler verstünde Politik als auf Vernunft gegründet, Yaacov Yadgar schrieb, hängen „die souveränen Interessen aushandelnd, Gerechtigkeit garan- Juden“ vom Jüdischsein ihres Nationalstaats ab, tierend und als Versuch, den Universalismus zu um jüdisch zu bleiben. verwirklichen, während für den Populismus die Zu einem gewissen Grad hängt Israels Schick- Politik willensbasiert, Identitäten verhandelnd, sal tatsächlich am Projekt des Nationalstaats, das Begierden versprechend und auf Partikularität Populisten zu seinen begeistertsten Verteidigern abzielend wäre. Der dreifache Fall von Deutsch- zählt. Möglicherweise muss Israel, wenn es ein land, den USA und ­Israel macht deutlich, dass jüdischer Staat bleiben will, der letzte Natio- sowohl Liberalismus als auch Populismus ver- nalstaat der Welt und damit auch populistisch schiedene Versionen dieser Ansätze anbieten. sein. Indes erfordert die Methode, mittels derer Die Frage nach dem Politischen, so scheint es, Israel dies erreichen möchte, die Übernahme der wartet noch immer auf eine Antwort. schlimmsten Elemente des amerikanischen Popu- Aus dem Englischen von Matthias Hempert

IP Special • 2 / 2020 | 13 Sylke-Tempel-Fellowship 2020

Mehrheit und Minder- heiten Plurale Gesellschaften wie Israel,­ die USA und Deutschland sind zwar sehr unterschied- lich, gründen jedoch alle auf der Vielfalt, die ­Minderheiten mitbringen

Ein Text von Hanno Hauenstein

ie Frage nach dem Verhältnis der Mehrheits- oder der Zuwachs rechtspopulistischer Kräfte in gesellschaft zu Minderheiten rückt immer Deutschland und Israel. Dweiter ins Zentrum politischer Prozesse: Im Jahr 2020 markierte die Corona-Pandemie spätestens seit der sogenannten Flüchtlingskrise eine zweite Zäsur. Sie verschärfte bestehende Un- und den diversen Debatten um Integration (oder gleichheiten und rief die Frage nach dem Verhält- Desintegration), die sich daran anschlossen. An- nis von Mehrheit und Minderheiten erneut auf den fang 2016 formulierte der griechische Migrations- Plan. In der Beantwortung schließen sich grund- minister Ioannis Mouzalas diese Frage so: „Wir legende Fragen an: nach Staatsbürgerschaft, können zwei Wege wählen. Entweder gehen wir ­Partizipation und politischer Sprache. in die Zukunft als ein Europa der Toleranz und der Menschenrechte – oder wir zerfallen in ein Ungleichbehandlung in der Corona-Krise von Xenophobie und Angst bestimmtes Europa.“ Anfang August 2020 interviewte ich die israelische Die politischen Entwicklungen der Folgejahre Soziologin Eva Illouz zu den Protesten, die weni- zeigten, dass sich diese Frage in weiten Teilen in ge Wochen zuvor in Israel ausgebrochen waren. die zweite Richtung entwickelt hat. Gemeint sind Illouz hatte sich seit Ausbruch der Pandemie als etwa die US-Präsidentschaftswahl Donald Trumps scharfe Kritikerin der israelischen Corona-­Politik

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hervorgetan. Sie begründete die Protestwelle definition ­Israels. Als jüdischer Staat steht Israel vorwiegend mit einem Vertrauensverlust der Is- bekanntlich auf ethno-religiösem Fundament. raelis in die Führung der Netanjahu-Regierung. Jüdische Ethnizität ist Kennzeichen der Mehrheit. In unserem Gespräch machte sie zudem auf eine Das sogenannte Nationalstaatsgesetz aus dem Konfliktlinie aufmerksam, die überraschender- Jahr 2018 verankerte dies legislativ. Der jüdischen weise nicht in der Diskriminierung, sondern in Bevöl­kerung steht demnach der alleinige Rechts- der Bevorteilung einer Minderheit bestand. In anspruch auf Israel zu. Arabisch – die, wie Tsafrir Israel herrsche – dies sei durch die Pandemie im- Cohen, Leiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel mer deutlicher geworden – eine „ungeheuerliche Aviv, es mir gegenüber nannte, „Lingua Franca Ungleichbehandlung“ zwischen Säkularen und der Region“ – entfiel als zweite Amtssprache. Religiösen: „Als säkulare Schulen noch geschlos- ­Kritiker wie der Staatsrechtler Mordechai Krem- sen und selbst Yogastunden im Freien noch ver- nitzer und selbst Israels Staatspräsident Reuven boten waren“, erzählte sie, „wurde es orthodoxen Rivlin warnten, das Gesetz gefährde die israeli- Gemeinden erlaubt, Yeshivas wieder zu öffnen.“ sche ­Demokratie. Der Grund dieser Diskrepanz, die Illouz auch in Der arabisch-israelische Schriftsteller Sayed anderen Gesellschaftsbereichen ausmacht, sei in Kashua kritisierte, Israel versuche durch das der Asymmetrie des Verhältnisses des israelischen ­Gesetz „per definitionem jedes Mitglied einer Staates zu den säkularen Bürgern zu suchen. An- ­Minderheit abzulehnen, das Teil dieses Staates ders als Religiöse müssen Säkulare den – Zeit und sein will, selbst wenn es, wie ich, Literatur in sei- Einkommen schluckenden – Wehrdienst absolvie- ner Sprache schreibt“. Das Gesetz, schrieb Kashua­ ren. Ein Bruch mit dieser Asymmetrie, so Illouz, in der New York Times, verhindere letztlich die sei in der derzeitigen, „für Israel beispiellosen“ Möglichkeit des Multikulturalismus in Israel. Situation, wo ein wegen Korruption angeklagter Premierminister die Gerichte angreift, sehr un- Multikulturalismus als Vorbild? wahrscheinlich. Hier fragt sich, ob Multikulturalismus in Israel überhaupt je eine angestrebte – oder tragfähi- Antagonismen der Staatsbürgerschaft ge – Vision war. Ist der singuläre Zweck dieses Wie der Politikwissenschaftler Vyacheslav Kon­ Staates nicht vielmehr, Refugium zu sein für die stantinov in der Zeitschrift Osteuropa (9–11/2019) vom Antisemitismus Verfolgten? Welche Rechte in seinem Aufsatz „Wahlort Israel – Die politische können nichtjüdische Minderheiten vor diesem Stimme der Einwanderer“ zeigte, erkennen ins­ komplexen, historisch-politischen Hintergrund besondere israelische Einwanderer aus früheren einfordern? Sowjetstaaten in ultraorthodoxen Haredim oft- Die Politikprofessoren Yoav Peled und José mals „Schmarotzer“, die angeblich nichts zur Ge- Brunner machten sich dazu bereits im Jahr 2000 sellschaft beitragen – eine Sichtweise, die frag- Gedanken. In dem Aufsatz „Culture is not Enough: los anfällig ist für antisemitische Denkmuster. A Democratic Critique of Liberal Multicultura- Zudem, das sei nur am Rande gesagt, stellt der lism“ erkannten sie vier für Israel bestimmende Aufschub des Militärdiensts nicht für alle Ultra­ Minderheitengruppen: palästinensisch-arabi- orthodoxen ein Privileg dar: Oft führt er zu noch sche Israelis (heute ein Fünftel der israelischen stärkeren Abhängigkeiten junger Männer von den Bevölkerung), Mizrahim (Juden aus arabischen jeweiligen religiösen Autoritäten. Ländern), ultraorthodoxe Haredim und natio- Dennoch geben Illouz’ Überlegungen Einblick nal-religiöse Siedler. Ergänzend müsste man heute in die komplexen Antagonismen, in die Minder- wohl auch Einwanderer aus afrikanischen Län- heiten in Israel verstrickt sind. Sie verweisen dern hinzuzählen. Laut Zahlen des UNHCR vom zudem auf den Aspekt der jüdischen Selbst­ August 2020 stellten in Israel in den vergangenen

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15 Jahren­ knapp 80 000 Geflüchtete Asylanträge, Begründung von Staatsbürgerschaft in Israel nicht insbesondere aus Eritrea und Sudan – knapp unter für besonders außergewöhnlich: „Diese Diskussi- 1 Prozent wurde der Flüchtlingsstatus gewährt. on ist gar nicht so anders gelagert wie die Frage, Die Idee eines „liberalen Multikulturalismus“, was in Berlin über dem Reichstag stehen soll: so Peled und Brunner, der auf negativer Freiheit ‚Dem deutschen Volke‘ oder ‚Der deutschen Be- beruht, in Form abstrakter Rechte, sei zu kurz völkerung‘?“ Tsafrir Cohen von der Rosa-Luxem- gedacht. Erstrebenswert sei vielmehr ein „de- burg-Stiftung betonte ebenfalls, eine ethnische mokratischer Multikulturalismus“, der auf so- Begründung von Staatsbürgerschaft sei noch bis zialen Praktiken fußt. Das Ergebnis sollte nicht zur rot-grünen Koalition auch im deutschen Main- Assimilation sein oder Integration, sondern die stream stark verankert gewesen. Ein Umdenken Entwicklung einer pluralistischen Kultur. Inso- – eine Orientierung an einem pluralistischen Bür- fern Israel sich in seinem Demokratieverständnis gerschaftsmodell nach französischem Vorbild – an westlichen Ländern orientiere, müssten diese habe auch in Deutschland erst Anfang der 2000er Parameter auch hier gelten. Jahre stattgefunden.

Eretz Israel versus Medinat Israel Die Frage, wie sich Staatsangehörigkeit nun in Israel pluralistischer gestalten könnte, so Ofer Waldman, sei auch deshalb ein Balanceakt, weil der Bürgerschaftsbegriffs so eng mit territorialer Souveränität verflochten sei. Auf meine Frage, ob Ein Gesetz aus dem in Israel eine inklusivere Zukunft denkbar wäre, hat er eine ungewöhnliche Antwort: „Hier würde ich meinen Finger auf die Unterscheidung von Erez Jahr 2018 gesteht Israel versus Medinat Israel legen.“ Die hebräischen Begriffe „Erez“ und „Medi- nat“ scheinen bedeutungsgleich (beide bedeuten nur der jüdischen „Land“). Doch ihnen wohnen unterschiedliche Valenzen inne: Wo „Erez“ eine kanaanitisch-­ Bevölkerung den ideelle Vorstellung Israels meint („vom Nil bis zum Euphrat“), bedeutet „Medinat“ das faktische Staatsgebiet. Aus dieser Unterscheidung leitet sich Rechtsanspruch auf für Waldman die Frage ab: „Kann Israel ein demo- kratischer Staat sein mit gleichen Bürgerrechten für alle, mit anerkannten Grenzen und konsens- Israel zu basierter Migrationspolitik? Oder bewegen wir uns auf eine jüdische Ethnokratie zu?“ Der derzeitige Regierungskurs, sagt er, habe für Minderheiten verheerende Folgen: Die Rhe- torik, die in den vergangenen Jahrzehnten Pa- lästinensern entgegenschlug, treffe inzwischen auch die anderen Minderheiten. Ofer Waldman Ofer Waldman, Journalist und ehemaliger Vor- glaubt dennoch fest an die demokratischen Struk- sitzender des New Israel Fund (NIF) Deutschland, turen im Land. Ein Beispiel, wo Israels demokra- erklärte mir, er halte den Aspekt der ethnischen tische Tradition besonders hell aufleuchte, sei die

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­israelische ­Zivilgesellschaft: „Da funkelt so eine Vision einer egalitären, wahrlich zivilen Zukunft Hautfarbe ist in Israels.“ den USA noch im- Die „Trump-Verschiebung“ in den USA „Wir sagen vielleicht, dass Menschenrechte uns allen zustehen, weil wir Menschen sind“, schreibt mer ein Faktor, die*der US-Journalist*in Masha Gessen im Essay- band „Leben mit Exil“, „doch in Wahrheit können nur Menschen ihre Rechte einfordern, die auch um jemanden eines Bürger sind. Wenn Menschenrechte Attribut des Menschseins sind, dann müssen wir uns der Tat- Menschenrechts sache stellen, dass Millionen Heimatlosen ihr Menschsein aberkannt worden ist.“ Der Kontext, aus dem heraus Gessen diesen zu berauben ­Gedanken entwickelt, ist klar: Es ist die Ära Trump, es sind die Bilder getrennter Familien an der Südgrenze der USA. Es ist das, was Masha Ges- sen als „Trump-Verschiebung“ bezeichnet: eine Verlagerung des Sprechens über Migration – wo ein „illegaler Grenzübertritt“ synonym für die Asylsuche wird und eine „Karawane“ eine norma- le Bezeichnung für Geflüchtete. Auch wenn Ges- sen den US-Sprachraum behandelt, haben diese Beobachtungen darüber hinaus Gültigkeit: Wörter Dass er die Protestierenden, von denen viele wie „Flüchtlingswellen“ oder „Asylbetrüger“ sind Ku-Klux-Klan-Abzeichen trugen, auf eine Stufe mit frappierende Beispiele, wie die Rhetorik der Ent- Antirassisten stellte, empörte sogar Republikaner. menschlichung auch in Deutschland das Sprechen Doch diese Aussagen schienen sich bald neben über Migration geprägt hat. anderen rhetorischen Provokationen einzureihen, Doch im amerikanischen Kontext zeigt sich in an die man sich gewöhnt hatte. den vergangenen Jahren besonders plastisch, wie Die Dialektik von Sprache und Gewalt, die in Sprache politisches Handeln prägt. Ein Beispiel derartigen Aussagen genauso aufleuchtet wie in waren Trumps Kommentare zu den Demonstra- den Debatten um Kolonialdenkmäler oder TV-Pro- tionen in Charlottesville im August 2017. Rechts- grammänderungen 2020, ist beachtenswert. In radikale hatten gegen die Beseitigung einer Rei- den meisten Fällen entsprangen letztere Debat- terstatue des Konföderierten-Generals Robert F. ten einem geschärften Verständnis für historische Lee aus dem Jahr 1861 demonstriert. Sie trafen auf oder aktuelle Diskriminierung von Minderheiten. Gegendemonstranten, es kam zu Ausschreitun- gen. Inmitten der Proteste raste ein rechter De- Die Dialektik von Sprache und Gewalt monstrant mit seinem Auto in eine Gruppe Gegen- „Es wird jetzt so viel davon geredet, die Gesin- demonstranten und tötete die 32-jährige Heather nung des Faschismus auszurotten“, schrieb der Heyer. Präsident Trump erklärte: „Wir verurteilen Philologe Victor Klemperer 1947 in seiner Ab- in aller Deutlichkeit diesen unerhörten Ausbruch handlung zur Sprache des Dritten Reiches „LTI“, von Hass, Engstirnigkeit und Gewalt auf vielen „es wird auch viel dafür getan. Kriegsverbrecher Seiten. Auf vielen Seiten.“ werden gerichtet, Hitlerplätze und Göringstraßen

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umbenannt, Hitler-Eichen gefällt.“ Die Sprache als eine Art „Amerikanischer Frühling“: Geor- des Dritten Reiches aber, so lautete die Kern­these ge Floyds Name war zur Metapher für den über seiner „LTI“, überlebte letztlich nicht in Form Jahrzehnte, wenn nicht noch viel länger ange- von Straßennamen oder Symbolen, sondern in stauten Rassismus geworden. Wie Cobb bemerk- unbewusst und wie mechanisch übernommenen, te, stellte der „Offenbarungsschock“ der weißen scheinbar unmerklichen Ausdrücken. Diese Aus- ­Öffentlichkeit rund um das Video von Floyds Tod drücke, so Klemperer, waren das eigentlich stär- an sich eine Art Ungleichheit dar: Er war Barome- kere Propagandamittel der Nazis. Sprache lässt ter dafür, dass weiße US-Amerikaner von der Last sich aber bekanntlich nicht leicht „stürzen“. Sie des Wissens um die Alltäglichkeit von Rassismus war den Deutschen in der Nazizeit in Fleisch und bis dato unberührt waren. Blut übergegangen. Worin lag der plötzliche Erfolg der Bewegung Was, könnte man fragen, wäre also die Klem- im Jahr 2020? Glaubt man Deva Woodly, einer perer’sche Alternative? Eine grundlegende Neube- ­Politikprofessorin der New School, muss man wertung der Begrifflichkeiten, mit denen wir über hier vor allem die Art in den Blick nehmen, wie Rassismus oder die Diskriminierung von Minder- sie soziale Medien nutzte. Insbesondere Memes, heiten sprechen? Eine Strukturreform des Welt- sagte sie der New York Times, halfen den Protes- zugangs? Zwar befinden wir uns – weder in den ten, ihre Botschaft neuartig zu kodifizieren und USA noch anderswo – derzeit nicht am Ende oder dadurch – auch offline – Debatten zum Thema inmitten einer Diktatur. Dennoch erscheint der Alltagsrassismus und institutionalisierte Gewalt Prozess, den man als „Spracharbeit“ bezeichnen anzustoßen. könnte, überfällig. Die Forderung danach – von Die Proteste hatten sich letztlich aber nicht rechts wie von links oft vorschnell als „politische ausschließlich an der Ermordung George ­Floyds Korrektheit“ abgetan – ist nicht neu. Sie wird nur entzündet. Sie lassen sich schwer außerhalb seit diesem Jahr mit neuer Vehemenz vorgetragen. des Kontexts der Pandemie verstehen, an der Schwarze in den USA überproportional häufiger Black Lives Matter sterben als Weiße. Die Proteste zeigten, dass sich Infolge der Ermordung des Afroamerikaners Menschenrechte – um Gessens Gedanken hier George Floyd durch einen weißen Polizisten im aufzugreifen – außerhalb ihrer theoretischen Mai 2020 kam es in den USA zu den massivsten Verbriefung nicht nur an der Grenze zwischen ­Protesten seit der Bürgerrechts­bewegung in den Staatsbürgerschaft und Heimatlosigkeit entschei- 1950er und 1960er Jahren. Damals stellte ein Be- den: Wenngleich Bürgerrechte wie das Wahlrecht richt der sogenannten Kerner-Kommission fest, und die Rechtsgleichheit in den Vereinigten Staa- die USA bewegten sich „auf zwei Gesellschaften ten längst auch für Schwarze gelten, bleiben sie zu – eine schwarze und eine weiße, getrennt doch abstrakte Formen von Freiheit. In der kon- und ­ungleich“. Obwohl sich in den Folgejahr- kreten Auseinandersetzung – insbesondere mit zehnten viel verändert hatte, war die Einschät- exekutiver Gewalt – ist Hautfarbe in den USA noch zung auch nicht ganz falsch: „Race“, wenngleich immer ein bestimmender Faktor, um jemanden dies keine sozial kohärente – und sicher keine eines Menschenrechts, wie etwa dem Recht auf biologisch ­valide – Kategorie darstellt, schlägt körperliche Unversehrtheit, zu berauben. sich in den USA als benachteiligender Faktor in der Krankheits- und Kindersterblichkeitsrate Ein neues „Wir-Gefühl“ in Deutschland genauso nieder wie in Statistiken zu Armut und „Jedes Wir ist falsch“, schrieb die Publizistin ­Arbeitslosigkeit. ­Carolin Emcke im April 2020, wenige Wochen Der US-Journalist Jelani Cobb bezeichnete die nach Angela Merkels Corona-Ansprache, in ih- Black-Lives-Matter-Proteste im Juni dieses Jahres rem wöchentlichen Corona-Journal: „Jedes Wir

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klingt im besten Fall naiv, im schlimmsten Fall mir die Sprecherin der Grünen für Bildungspolitik, ignorant. Als ob es die sozialen, ökonomischen, Margit Stumpp, im Gespräch. „Wer in engen Woh- politischen ­Ungleichheiten nicht gäbe. Wer soll nungen, ohne Garten, ohne Internetanschluss und das sein, dieses Wir, wenn die Lasten, die Privi- ohne einen ruhigen Platz für die Hausaufgaben legien, der Status so ungleich verteilt sind?“ Der lebt, wer keine Eltern hat, die beim Lesen, bei Gedanke ist natürlich im Lichte eines neuen „Wir“ Physik und Englisch helfen können, den treffen zu verstehen, das sich in der Corona-Krise grell ab- geschlossene Bildungseinrichtungen härter.“ zeichnete: eine Art krisenhafter Vergemeinschaf- Einer Studie des Instituts der deutschen Wirt- tung. Dieses „Wir“ war kein „Wir“ als sinnstiftende schaft zufolge besitzen zwar fast 90 Prozent der Idee, sondern vordergründig aus einem plötzli- Familien in Deutschland digitale Endgeräte; aber chen Mangel geboren – ein Mangel an Kontakt, Geringverdiener und Familien mit Migrationshin- Konsum, Alltäglichkeit. tergrund stehen im Vergleich sehr viel schlechter Anfangs stand ein Gefühl im Raum, aus jenem da. Der Bildungszugang durch Homeschooling „Wir“ könnten sich eine globale Humanität, ein und Lernen über Zoom wurde somit für Minder- solidarischer Universalismus ableiten. Immerhin heiten erheblich erschwert. betraf Corona, wie sich herausstellte, tatsächlich die Welt als Ganzes. Doch an den Außenrändern Halle und Hanau als Wegmarken jener vermeintlich globalen Empathie zeichnete Wenige Wochen, bevor die epidemiologische sich in Deutschland in den Folgemonaten eine ge- Wucht der Corona-Pandemie in Deutschland ihr gensätzliche und leider viel lautere Stimme ab: die volles Ausmaß erreichte, hatte ein rechter ­Terrorist Proteste der selbsternannten „Querdenker“, der in der hessischen Kleinstadt Hanau zehn Men- Corona-Skeptiker, der AfD-Anhänger und der Ver- schen erschossen. Nur vier Monate zuvor hatte schwörungstheoretiker – bis hin zu ökobewegten lediglich eine dicke Holztür einen schwer be- Impfgegnern und offenen Antisemiten. waffneten Nazi davor bewahrt, an Yom Kippur Die Inflation dieses neuen „Wir“-Gefühls, ein Attentat in einer Synagoge in Halle zu verüben. das zeigt der Autor Max Czollek anschaulich in Diese beiden Ereignisse müssen als Wegmar- seinem jüngsten Essayband „Gegenwartsbewäl- ken eines wachsenden Rassismus und Antisemi- tigung“, ging staatlicherseits mit einem „Schutz tismus in Deutschland verstanden werden. Der der Bevölkerung“ einher, dessen Kehrseite in der Autor und Journalist Mohamed Amjahid betonte nationalen Abschottung nach außen sowie im Ent- mir gegenüber im Gespräch, wie wichtig es sei, zug von Solidarität nach innen bestand. Teile der diese Wegmarken ernst zu nehmen. „Es gibt deutschen Bevölkerung, argumentiert Czollek, die derzeit eine Partei im Bundestag, die ganz offen nicht gleichwertig an ihr teilhaben – insbesonde- rassistische Politik betreibt, und auch andere re Ärmere und migrantische Minderheiten – traf Parteien, die mit derartiger Rhetorik liebäugeln. die Pandemie stärker. Er begründet dies unter Jeden Tag werden in Deutschland PoC [people of anderem mit Rekurs auf den Soziologen Rainer color] angegriffen. Nur wird darüber leider auch Geißler, demzufolge migrantische Minderheiten in in progressiven ­Kreisen in Deutschland weniger Deutschland „in den unteren Schichten häufiger gern gesprochen als etwa über Black Lives Matter und in den höheren Schichten seltener platziert in Amerika. Das eigene Problem wird gern weg- sind als Einheimische“. geschoben.“ Die Tatsache, dass die Pandemie Ärmere und Überhaupt, sagt Amjahid, seien die Unterschie- weniger Privilegierte in Deutschland härter traf, de zwischen dem deutschen Minderheitendiskurs zeigte sich, vielleicht am deutlichsten, an Schul- und dem der USA aufschlussreich. Der entschei- schließungen. „Die Corona-Situation trifft Kinder dende Unterschied sei, dass sich Aktivismus in und Jugendliche sehr unterschiedlich“, bestätigte den USA tatsächlich aus Sicht der Minderheiten

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entwickelt habe. Das Prinzip der sogenannten privilegieren – und andere nicht. „Hier in Deutsch- ­Federalist Papers – eines der Fundamente der land gucken mich viele Leute immer noch komisch amerikanischen Demokratie, wonach jede Gruppe an, wenn ich in Diskussionen um Rassismus das für individuelle Belange werben kann – spiegele Wort „weiß“ als Gruppenbezeichnung verwende. sich dort im Diskurs um ethnische Communities. Da heißt es dann oft: ‚Wir sehen ja keine Haut- In Deutschland dagegen sei es regelrecht ver- farbe‘.“ Zudem zeige sich im deutschen Kontext, pönt, für die Rechte einer Minderheit einzuste- dass Debatten­ um koloniale Kontinuitäten und hen. „Politische Diskussionen“, sagt Amjahid, Rassismus regelmäßig Backlashs provozieren: „müssen sich in Deutschland immer am Konsens „Man muss das intersektional sehen. Ich verlange der Mehrheit orientieren. Es besteht da eine Art nicht von der Kassiererin, sich nach acht Stunden Gleichmacherei. Dahinter steht ein krudes Kon- Arbeit noch mit Antirassismus auseinanderzuset- zept von Integration als geteiltem Ideal, an das zen. Doch ich beobachte schon eine Tendenz in sich alle zu halten haben. Das macht es natürlich der deutschen Gesellschaft, insbesondere auf der sehr schwierig für rassifizierte Minderheiten, bei- Seite der Entscheidungsträger in Medien, Politik spielsweise zu sagen: ‚Wir haben ein Problem mit und Zivilgesellschaft, den Status quo irgendwie Polizeigewalt.‘“ retten zu wollen.“ In den USA, ergänzt Amjahid, seien Diskus- sionen um die Emanzipation von Minderheiten Die Hoffnung in der Zivilgesellschaft auch deshalb so viel weiter, weil es akzeptierter In der Vorbereitung dieses Artikels habe ich mit sei, dass es Strukturen gibt, die manche Gruppen zahlreichen Menschen gesprochen – Journalisten, Autoren, Politikern. Darunter waren, vereinzelt, auch hoffnungsvolle Stimmen. Etwa die der Ver- treterin der israelischen Zivilgesellschaft Mai- sam ­Jaljuli, Vorsitzende der Frauenorganisation Na’amat und Aktivistin in Organisationen wie Standing Together und Sikkuy. „Historisch gese- hen, wenn wir unsere Leistungen als Minderheit betrachten, haben wir extrem viel erreicht“, sagt Jaljuli, „und das trotz der offenkundigen Diskri- minierung. Der Fortschritt geht nicht auf die Re- gierung zurück, sondern weil wir gemeinsam, als Die Corona-Krise arabisch-jüdische Bewegung, versucht haben, die Politik zu beeinflussen. Heute haben wir 20 Pro- traf jene Teile der zent arabische Studierende an israelischen Uni- versitäten, 60 Prozent davon Frauen. Das ist eine gewaltige Verbesserung.“ deutschen Bevölke- Minderheiten bringen Vielfalt Wenngleich die Kontexte Deutschland, USA und rung stärker, die Israel natürlich sehr unterschiedlich sind, scheint sich doch eine Gemeinsamkeit deutlich abzuzeich- nicht gleichwertig nen: Als in ihrem Kern plurale Gesellschaften basieren sie gewissermaßen auf der Vielfalt, die Minderheiten mitbringen. Dies nicht anzuerken- an ihr teilhaben nen, wäre ein fatales Signal.

IP Special • 2 / 2020 | 21 Sylke-Tempel-Fellowship 2020

Kommt es zum Bruch? Die Beziehungen zwischen Israel und der jüdischen Diaspora sind auf einem Tiefpunkt angelangt

Ein Text von Benjamin Brown

s war ein außenpolitischer Erfolg von Bruch der Beziehungen zwischen Israel und der US-Präsident Donald Trump: Im Septem- jüdischen Diaspora verhindern, der sich in den Eber nahmen erst die Vereinigten Arabischen vergangenen Jahren angebahnt hatte. Denn Ärger Emirate, dann auch Bahrain diplomatische Be- und Wut über die Politik der israelischen Regie- ziehungen zu Israel auf – ein Durchbruch für die rung kamen zuletzt vor allem aus New York, Paris israelische Außenpolitik und eine Bestätigung für und Berlin, wurden in London, São Paulo und Bu- Trump als unkonventionellen Dealbroker, der auf dapest auf die Straße getragen: von Verbündeten, „WhatsApp-Diplomatie“ setzt. Weitere Staaten die sich von Israel entfremden. dürften folgen: Ein Sprecher der sudanesischen Der Präsident des Zentralrats der Juden in Regierung erklärte, Khartum könne sich eine Nor- Deutschland, Josef Schuster, glaubt jedoch nicht malisierung der Beziehungen zu Israel vorstellen; an eine Entfremdung: „Ein Konflikt oder eine Libanons Präsident Michel Aoun sprach vorsichtig Abkühlung der Beziehungen zwischen hier le- von der Möglichkeit eines Friedensvertrags. benden Juden und Israel ist nicht zu beobach- Die neue Politik könnte nicht nur Frieden in ten.“ Und die israelische Ministerin für Diaspora-­ der Region schaffen: Die Einigung zwischen Je- Angelegenheiten, Omer Yankelevich von der rusalem und Abu Dhabi könnte auch den finalen Blau-Weiß-Partei, möchte sich erst gar nicht zu

22 | IP Special • 2 / 2020 Kommt es zum Bruch?

IP Special • 2 / 2020 | 23 Sylke-Tempel-Fellowship 2020

der Frage äußern. Dabei lässt der Blick auf jüngste Doch die Zeiten, in denen das Überleben des jü- Entwicklungen kaum einen anderen Schluss zu dischen Staates auch auf der Unterstützung durch als den, dass sich die Beziehungen dramatisch die Diaspora beruhte, sind vorbei. Israel hat sich verschlechtert haben. Der israelische Journalist als mächtiger, wohlhabender und starker Player Anshel Pfeffer warf Premierminister Benjamin Ne- in der Region etabliert, der selbstbewusst einen tanjahu sogar vor, „alles zu tun, um die Beziehung Platz in der internationalen Arena einnimmt. zu sabotieren“. Es ist damit auf materielle und politische Unter- Die Beziehungen zwischen Israel und der jüdi- stützung der Diaspora kaum mehr angewiesen. schen Diaspora spielen seit der Staatsgründung Dabei sei Israel ein Staat, der „nicht nur seinen – und durch die zionistische Bewegung bereits Bürgern [dienen soll], sondern als Nationalstaat zuvor – eine wichtige Rolle im Selbstverständnis aller Juden“ gegründet wurde, so Yankelevich. des jüdischen Staates. Die Schicksale der Diaspora Somit habe Israel die Verpflichtung, auf die Be- und Israels sind bis heute untrennbar miteinander dürfnisse und Anliegen des gesamten jüdischen verbunden. Unmittelbar nach der Staatsgründung Volkes einzugehen. hatten die Gründerväter noch versucht, sich von der Diaspora zu distanzieren: Der Aufbau Israels Realpolitik geht vor sollte Hand in Hand mit der Schaffung des „neu- Doch die derzeitige Politik von Premier Netanjahu en Juden“ in einer „erneuerten jüdischen Gesell- wird im Ausland als gegenteiliges Signal empfun- schaft“ gehen. Die Diaspora passte nicht in dieses den: Der israelischen Regierung scheinen realpo- Konzept und stand, so die damalige Einstellung litische Beziehungen derzeit wichtiger zu sein als – durch das Schicksal der europäischen Juden in der Bund zur Diaspora, wie Vertreter der Diaspora der Schoah – eher für die Schwäche, Wehrlosig- bemängeln. Zwar wird in der Forschung diskutiert, keit und Verfolgung von Juden. Die Erschaffung ob die Diaspora für Israel wieder wichtiger werden des „wehrhaften neuen Israeli“ habe zu jener Zeit könnte, sollte das Land in massive wirtschaftli- zu „einem Verlust des Gefühls einer Bindung zum che oder außenpolitische Schwierigkeiten geraten. größeren jüdischen Volk geführt“, so die ultra-­ Doch aktuell haben sich der Regierungschef und orthodoxe Ministerin. Folglich versuchten die ers- sein Kabinett klar entschieden: Realpolitik geht ten Regierungen, den Einfluss der Diaspora auf den vor. Und in dieser Realpolitik ist die Diaspora 2020 jüdischen Staat so gering wie möglich zu halten. nicht mehr relevant genug. Insbesondere die Unterstützung des jungen Deutlich wird diese Spannung durch die Bünd- Staates durch die jüdische Diaspora in den USA nispolitik und Staatsbesuche Netanjahus: Mit Po- – und das weitreichende Potenzial, das darin ge- litikern wie dem brasilianischen Präsidenten Jair sehen wurde – führte jedoch dazu, dass sich die Bolsonaro und dem ungarischen Premier Viktor Stimmung in Israel wendete. Man erkannte, dass Orbán pflegt Netanjahu ein freundschaftliches die Diaspora wertvolle Hilfe leisten und wichtigste Verhältnis – sehr zum Missfallen der jüdischen Ge- Stütze Israels im Ausland werden könnte. Jahr- meinden dieser Staaten.­ Aus Brasilien war wieder- zehntelang war das Verhältnis klar: Israel pro- holt Kritik zu hören, Bolsonaros israelfreundliche fitierte von der Diaspora, die ihm materiell und Politik sei nur darauf ausgerichtet, evangelikale politisch zur Seite stand, und die Diaspora konnte Wähler anzusprechen. Jüdisches Leben – und sich darauf verlassen, in Zeiten erneuter Verfol- dessen Schutz – in dem südamerikanischen Land gung in Israel Sicherheit zu finden. Für Schuster spiele in seiner Politik hingegen keine Rolle. ist es dieses Vertrauen in Israel, das auch in der Ge- Noch deutlicher wird dieser Bruch in der Be- genwart Israels Bedeutung für jüdische Deutsche ziehung zu Orban. Der ungarische Premier und ausmacht. So werde dieser Staat nach wie vor „als die Fidesz-Partei bedienen sich in ihrem Kampf Rückversicherung betrachtet, als sicherer Hafen“. gegen George Soros regelmäßig antisemitischer

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Doch es ist nicht nur die eigentümliche Au- Netanjahus eigen­ ßenpolitik der Netanjahu-Regierung, die in wei- ten Teilen der Diaspora auf Unverständnis stößt: tümliche Außen­ Auch der Umgang mit den Palästinensern sorgt für Konflikte. So befürwortet der Großteil der ­Diaspora eine Zwei-Staaten-Lösung, in der die Palästinenser politik und der Um­ ihren eigenen Staat bekommen. Das Fehlen eines realistischen Friedenplans und die Weiterführung des Siedlungsbaus erschweren es der Diaspora gang mit den Pa­ weiter, uneingeschränkte Solidarität mit Israel zu zeigen. In ist man sich bewusst, dass lästinensern stoßen die Annexion von Teilen des Westjordanlands zu einem finalen Bruch führen könnte. Doch das wird eher gleichgültig betrachtet. Bezeichnend ist auch, in der Diaspora auf dass die Abkühlung der Beziehungen zwischen Is- rael und der Diaspora in der hebräischsprachigen Presse Israels kaum Aufmerksamkeit findet. Und Unverständnis Wahlen lassen sich mit einer Politik, die im Aus- land auf Beifall stieße, in Israel nicht gewinnen. Die Annexion von Teilen des Westjordanlands liegt durch das Friedensabkommen zwischen Isra- el und den VAE erstmal auf Eis: Käme es in dieser Frage zu einer Politikwende, wäre das aber kein Erfolg der Diaspora. Die Politik gegenüber den Palästinensern und Netanjahus Freundschaften mit Staatsmännern, die mit autoritärer Herrschaft Stereotype, um das Bild eines übermächtigen liebäugeln, reichen schon, um weltweit die Krise Strippenziehers mit Kontrolle über die Finanzwelt zwischen Israel und der Diaspora zu verschärfen. zu zeichnen. Andras Heisler, Vorsitzender des Na- tionalrats der jüdischen Gemeinden in Ungarn, Mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten wurde in ähnlicher Manier auf der Titelseite eines Um den Konflikt zu verstehen, bedarf es einer regierungsnahen Magazins gezeigt: umgeben von Betrachtung der unterschiedlichen Wertekodexe, Geldscheinen. In Budapest verbat man sich die die unter israelischen Juden sowie in der Diaspo- Kritik, diese Abbildung bediene antisemitische ra vertreten und gelebt werden. Die Diaspora ist Ressentiments. selbstverständlich keine homogene Gruppe; doch Auch die unterschiedliche Bewertung der Präsi- es lassen sich politische Werte finden, die von ei- dentschaft Donald Trumps von Juden in Israel bzw. nem Großteil dieser Gemeinschaft­ geteilt werden. in der Diaspora zeigt den Bruch auf: Die Mehrheit Die jüngsten -Wahlen haben erneut der amerikanischen Juden unterstützt Trump nicht unterstrichen, dass Israel von einer konserva- und kann sich mit seiner Politik – auch mit Blick tiven, auf traditionellen und religiösen Werten auf den Nahen Osten – nicht identifizieren. In Isra- bauenden Wählerschaft dominiert wird. Weite el wird Trump hingegen versöhnlicher betrachtet; Teile der Diaspora verfolgen hingegen eine inte- dort ist man für seine Israel-Politik dankbar, die grationistische Politik gegenüber westlichen Ge- als Stärkung der Rolle Israels in der Region und sellschaften. Während die Mehrheit der Diaspora der internationalen Politik gesehen wird. und insbesondere die lautstarken, einflussreichen

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Gruppen vorwiegend europäisch-amerikanisch Problem zurückzuführen, wäre allerdings zu kurz geprägt sind, wird die israelische Gesellschaft ­gegriffen. In Jerusalem geht es auch darum, wel- zunehmend orientalisch-jüdisch. che Rolle Juden aus der Diaspora im jüdischen Diese Kluft führt zu unterschiedlichen gesell- Staat einnehmen können. schaftlichen Verständnissen. Westliche Gesell- Die Frage, wer die Vormachtstellung an der Ko- schaften, in denen die überwiegende Mehrheit tel hat und wie von wem dort gebetet werden kann, der Juden der Diaspora lebt – allein in den USA ist seit Jahren ein Politikum in Israel. Konflikte ka- leben laut Berman Jewish DataBank der Stanford men erstmals 1989 auf, als Frauenrechtsorganisa- Universität rund zwei Drittel –, sind weitgehend tionen in Israel begannen, bei öffentlichkeitswirk- individuell orientiert, während die israelische Ge- samen Protesten an der Western Wall zu fordern, sellschaft in der Forschung als Gefüge einer sozi- dass Frauen – anstatt wie bis heute lediglich in alen, jüdischen Kollektivität beschrieben wird. Über eine gemeinsame Zukunft des jüdischen Volkes – ob es in Israel lebt oder im Ausland– zu reden, ist kompliziert: Yankelevich betont die „his- torische, bedeutende, tiefe Verbindung“ zwischen Israel und der Diaspora, die dazu führe, dass man eine „gemeinsame Zukunft“ aufbaue. Während in Israel allerdings die Betonung des nationalen Wer darf wann, wie Gefüges im Vordergrund steht, definiert sich jüdi- sche Kultur in der Diaspora häufig über religiöse Zugehörigkeit: Die nationale Bindung zu Israel und wo beten? Eine spielt – selbstverständlich – kaum eine Rolle. Der Aufstieg Israels zur Regionalmacht hat zu diesen Auseinanderung, Identitätsbrüchen beigetragen. Israel weitet sei- nen Einfluss aus; die Diaspora kämpft zeitgleich darum, eine gemeinsame Identität zu wahren. zu der es an der Religiöse Legitimitätsdebatten Doch der Bruch zwischen der aktuellen israeli- Klagemauer immer schen Regierung und der jüdischen Diaspora ist nicht zwingend politischer oder identitärer Natur. wieder kommt Das zeigen die Western-Wall-Proteste eindrucks- voll. An der Klagemauer, auch als Kotel oder Wes- tern Wall bekannt, treten die Spannungen dieses außergewöhnlichen Konflikts auf. Regelmäßig kommt es dort zu Demonstrationen, physischen Übergriffen und Festnahmen. Der Konflikt in Je- rusalem ist eine innerjüdische Angelegenheit und tobt zwischen denen, die eine orthodoxe Ausle- einem kleinen separaten Bereich – an der gesam- gung des Judentums befürworten, und jenen, die ten Mauer beten dürften. Zudem wurde für Frauen eine liberale, reformorientierte Form ihrer Reli- die Aufhebung des ultraorthodoxen Verbots für gion sehen wollen. Von zentraler Bedeutung ist lautes Beten, das Lesen der Tora an der Kotel und dabei die Frage, wer wann, wie und wo beten darf. das Tragen des traditionellen Gebetsschals (Tallit) Den Konflikt auf ein israelisches innerstaat­liches gefordert.

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In den vergangenen Jahren kam die Diaspora Die Frage nach einem Bruch zwischen Israel ins Spiel: In weiten Teilen nichtorthodox, übernah- und der Diaspora ist insbesondere im US-Wahljahr men deren Vertreterinnen und Vertreter die Forde- 2020 spannend: Zwar ist unter der Trump-Regie- rungen der „Women of the Wall“ und setzten sich rung klar geworden, dass es bei der Israel-Politik für die Öffnung der heiligsten Stätte im Judentum nicht darum geht, jüdische Wähler zu aktivieren – ein. Zwischenzeitlich schien es so, als habe man hier stehen Evangelikale im Fokus. Dennoch kann eine Lösung gefunden: Im Januar 2016 einigten eine potenzielle Verschiebung von wahlentschei- sich Vertreter des orthodoxen Großrabbinats in denden Fragen für die jüdische Bevölkerung, die Israel mit der Regierung auf die Einrichtung eines knapp 2 Prozent der US-Wählerschaft ausmacht, Gebetsbereichs an der Kotel, in dem Frauen und nicht außer Acht gelassen werden. Männer gemeinsam beten durften. Doch knapp 18 Monate später kippte das Kabinett den Vorschlag Mit Interesse und Sorge nach Protesten der ultraorthodoxen Parteien. Die Beziehungen zwischen Israel und der jüdi- Der Streit um die Klagemauer führt regelmäßig schen Diaspora mögen an einem historischen zu Protesten von Diaspora-Gruppen und feminis- Tiefpunkt angelangt sein. Israel bewegt sich po- tischen Gruppen Israels. Von nichtorthodoxen Ju- litisch in eine Richtung, mit der sich weite Teile den wird die mangelnde Kompromissbereitschaft der Diaspora nicht identifizieren können. Doch der Regierung als Zeichen mangelnden Respekts dass sie Israel ganz den Rücken kehren werden, gegenüber nichtorthodoxen Juden betrachtet. erscheint zumindest hinsichtlich der Funktion Is- Aber es wäre zu einfach, dies auf Netanjahus Su- raels als sicherer Hafen in Zeiten von Ungewissheit che nach Wählerstimmen zu reduzieren. Mit der- und möglicher Verfolgung unwahrscheinlich.­ artiger Politik können (ultra-)orthodoxe Stimmen Für Josef Schuster ist die Zukunft klar: Israel gewonnen und Parteien zu Koalitionen bewegt werde für die jüdische Gemeinschaft in Deutsch- werden. Doch das Problem geht tiefer: Legitimi- land seine „seit jeher wichtige Rolle“ auch weiter tätsdebatten und der Kampf um Deutungshoheiten spielen. „Die Beziehungen zwischen in Deutsch- sind Teil dieses Konflikts. Es geht auch darum, land lebenden Juden und Israel“ seien sehr eng, welche politischen Strömungen Eingang in die „schon allein, weil viele in Israel Verwandte haben Gesellschaft finden und als legitim gelten. und regelmäßig nach Israel reisen“. Omer Yanke- Die Legitimitätsdebatte wurde durch die Re- levich spricht davon, dass es „Schmerz und Hass“ aktionen auf den antisemitischen Anschlag auf auf beiden Seiten gegeben habe. die Tree of Life-Synagoge in Pittsburgh im Okto- Die Kluft zwischen der westlich geprägten Di- ber 2018 ins mediale Zentrum gerückt, bei dem aspora und einer immer stärker orientalisch-jüdi- elf amerikanische Juden ermordet wurden. Die schen Gesellschaft in Israel schafft eine kulturelle Weigerung des aschkenasischen Oberrabbiners Abweichung mit langfristigen Folgen. Dennoch Israels, David Lau, das Tree of Life-Gemeindezen- zeigen Studien, dass die überwiegende Mehrheit trum als Synagoge zu bezeichnen und stattdessen der Juden in der Diaspora trotz des angespannten von einem Ort mit „tiefgreifender jüdischer Prä- Verhältnisses die Bindung zu Israel nach wie vor gung“ zu sprechen, sorgte für Streit. Lau hatte den für wichtig hält. So stimmten laut einer Umfrage Begriff Synagoge vermieden, da der Tatort kein des Jewish People Policy Institute jeweils zwei orthodoxes Gotteshaus war. Drittel der amerikanischen und französischen Ju- Die Kontroverse um die Anschläge in Pittsburgh den der Aussage zu, dass „Interesse an und Sorge markierte ein weiteres Kapitel im jüngsten Konflikt für Israel ein wichtiger Bestandteil ihrer Identität zwischen (hauptsächlich amerikanischen) Dias- als Juden“ ausmache. Juden in der Diaspora inte- pora-Juden und der israelischen Regierung und ressieren sich also weiterhin für Israel. Nur gefällt Vertretern ihrer religiösen Institutionen. ihnen längst nicht alles mehr, was sie sehen.

IP Special • 2 / 2020 | 27 Sylke-Tempel-Fellowship 2020

Jenseits von Idealisierung und Entfremdung Jüdisch-muslimische Beziehungen in Deutschland, Israel und den USA

Ein Text von Beyza Arslan

enige Beziehungen scheinen auf den in verschwörungstheoretischer Manier über die ersten Blick so konfliktgeladen wie die „islamische Kooperation mit den Nazis“ berichtet. Wjüdisch-muslimischen. Besonders der Aller Schwierigkeiten zum Trotz gab es in den fortdauernde Nahost-Konflikt trägt dazu bei, dass vergangenen Jahren vielfältige Versuche, die jü- das Verhältnis zwischen beiden Gemeinschaften disch-muslimischen Beziehungen auf eine feste angespannt ist. Beide Seiten sind geprägt von tie- und nachhaltige Grundlage zu stellen, teils mit Er- fen Ressentiments gegen den jeweils „Anderen“. folg: Neben spektakulären Gesten wie dem Ausch­ Antisemitische Haltungen finden sich nicht nur witz-Besuch einer Delegation der Islamischen in der Charta der Hamas, sondern auch in islamis- Weltliga mit dem American Jewish Committee tischen Bewegungen, die „die Juden und Israel“ gibt es auch in Deutschland zahlreiche Formate, weltweit in ihren Predigten als „Strippenzieher“ um die jüdisch-muslimischen Beziehungen mit brandmarken und zum ewigen Feind erklären. neuen Narrativen zu besetzen. Auf der anderen Seite finden wir jüdische Stim- Darunter sind Podcasts wie das von der Volks- men, die vor einer vermeintlichen „Islamisierung“ wagenStiftung geförderte Projekt „Mekka und warnen – etwa in der Splittergruppe „Juden in der Jerusalem“ an der Hochschule für Jüdische Stu- AfD“ oder in der Jüdischen Rundschau, die u.a. dien Heidelberg und Veranstaltungen wie das

28 | IP Special • 2 / 2020 Jenseits von Idealisierung und Entfremdung

IP Special • 2 / 2020 | 29 Sylke-Tempel-Fellowship 2020

„Jüdisch-muslimisch-feministische Festival“ in Soylu, die in Heidelberg derzeit mit Teilseiend München. Hinzu kommen Begegnungsformate e.V. eine Muslimische Akademie aufbaut, orga- („Schalom Aleikum“ des Zentralrats der Juden) nisiert seit mehreren Jahren mit der Hochschule oder wissenschaftliche Tagungen wie die Kon- für Jüdische Studien Heidelberg, dem Kulturhaus ferenz „Juden und Muslime in Deutschland“ in Karlstorbahnhof und dem Amt für Chancengleich- München Anfang 2020. heit die Jüdisch-Muslimischen Kulturtage. Ent- Auch auf universitärer Ebene wird der Versuch standen ist das Projekt aus den Jüdischen Kultur- unternommen, ein ganzheitliches Bild über den tagen und den ersten Muslimischen Kulturtagen, Nahen Osten und die sprachlichen, kulturellen die 2017 zusammengeführt wurden. Durch das sowie politischen Beziehungen zu vermitteln, Zusammenspiel von kultureller und politischer etwa im neuen gemeinsamen Nahost-Masterstu- diengang der Uni Heidelberg und der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg.

Von Amerika und Israel lernen Was sind die besonderen Herausforderungen In Deutschland der jüdisch-muslimischen Beziehungen – und was können die muslimischen und jüdischen Gemeinschaften in Deutschland von anderen sind heute jüdisch­- Vorbildern lernen? Im Folgenden wollen wir eine virtuelle Reise in drei unterschiedliche Kontexte muslimische Veran- unternehmen, in denen jüdisch-muslimische Be- ziehungen vor jeweils eigenen Herausforderun- gen stehen: Deutschland, Israel und die USA. Und staltungen möglich, auch wenn das Diktum der Religionswissenschaft- lerin Mehnaz Afridi „Wir können uns nicht davor drücken, über Israel und Palästina zu sprechen über die man vor – das wäre einfach unehrlich“ weiter gilt: Es wird dabei oft um ganz andere Fragen gehen als um den zehn Jahren nicht arabisch-israelischen Konflikt. Einen erfreulichen Anstieg von jüdisch-musli- mischen Kooperationen in Deutschland beobach- diskutiert hätte tet Yasemin Soylu, Studienleiterin für „Muslimi- sche Zivilgesellschaft“ bei Teilseiend e.V.: „Den Mut, aufeinander zuzugehen, nehme ich sehr stark wahr, zumindest bei zivilgesellschaftlichen Orga- nisationen, die sich muslimisch oder jüdisch ver- orten.“ Nach und nach entstehen immer mehr For- Bildung soll mehr Sichtbarkeit für jüdische und mate, die jüdischen und muslimischen Menschen muslimische Individuen geschaffen werden: „Es mehr Sichtbarkeit verleihen. Natürlich bedeutet geht uns nicht darum, den jüdischen Autor X oder das nicht zwingend, dass sämtliche Formate bei den muslimischen Schauspieler Y zu finden. Es beiden Glaubensgemeinschaften vollständige Ak- geht darum, Kunst- und Kulturschaffenden eine zeptanz finden; doch zumindest in Deutschland Bühne, eine Plattform zu geben, auf der sie sich sind heute Veranstaltungen möglich, über die man mit ihren vielfältigen Identitäten wiederfinden“, vor zehn Jahren nicht einmal diskutiert hätte. so Yasemin Soylu.

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Bei den Jüdisch-Muslimischen Kulturtagen eigenen. Dann hat sich natürlich auch das Bild gelingt das durch Filme, Musik, Stadtführungen verschoben: Wer sind jetzt wir und wer sind die?“ oder durch Fachvorträge und Podiumsdiskussio- So beschreibt Ilja Sichrovsky den Kern der Muslim nen. Soylu betont, dass dadurch Räume geschaf- Jewish Conference (MJC). Sichrovsky ist Gründer fen werden, in denen Aushandlungsprozesse und Generalsekretär der MJC, einer jährlichen stattfinden und in denen man sich auch darüber sechstägigen Konferenz, die 2015 und 2016 in Ber- austauschen kann, worin man uneins ist – etwa lin stattfand und dort über 160 junge muslimische im Rahmen der Fachtagung „Jüdische und musli- und jüdische Menschen aus mehr als 65 Ländern mische Positionen zur Gegenwart“ oder bei Stadt- zusammenbrachte. führungen unter dem Motto „Muslimisches/jüdi- Die Non-Profit-Organisation möchte nun ihren sches Leben in Heidelberg“, die vergangenes Jahr Sitz von Wien nach Berlin verlegen, um dort u.a. im Rahmen der Kulturtage stattfanden. eine „Jüdisch-Muslimische Allianz“ zu gründen. Damit solche Veranstaltungen keine einmali- Ziel ist es, sich zu institutionalisieren und somit gen Ereignisse bleiben, möchte man Menschen unabhängig und für alle Altersgruppen agieren zu aus der Mehrheitsgesellschaft mitnehmen und auf können. Angefangen hat Sichrovsky, als er 2009 Stereotype gegenüber der jüdischen und muslimi- für die Universität Wien auf einer internationalen schen Gemeinschaft aufmerksam machen. Führt Konferenz seine ersten längeren und tiefgehenden man sich vor Augen, dass es in Deutschland rund Gespräche mit Muslimen führte. Dort bemerkte er, 99 000 Jüdinnen und Juden gibt (0,1 Prozent der dass er als junger europäischer Jude bisher keinen Gesamtbevölkerung) und 4,4 bis 4,7 Millionen Kontakt zu muslimischen Menschen hatte. Musliminnen und Muslime (5,4 bis 5,7 Prozent Nun organisiert er seit 2010 die internatio- der Gesamtbevölkerung), dann erscheint das be- nale Muslim Jewish Conference: „2010 war jü- sonders wichtig. disch-muslimischer Dialog genauso aktuell wie Dass es antisemitische Ressentiments auch in- Ufos. Das war nichts, was in irgendeiner Weise nerhalb der muslimischen Gemeinschaften gibt, auf der Tagesordnung stand, weder in jüdischen lässt sich nicht leugnen; es ist allerdings nur ein noch in muslimischen Organisationen oder in der Ausschnitt aus den jüdisch-muslimischen Bezie- Mehrheitsgesellschaft.“ Es habe keine geeigne- hungen, und es ist kein vornehmlich muslimisches te Plattform gegeben, um offen miteinander zu Problem. So sind laut einer aktuellen Statistik des sprechen. Der Redebedarf sei aber bereits groß Bundesinnenministeriums 93,4 Prozent der an- gewesen: „Diese Neugier, endlich die Chance zu tisemitischen Straftaten rechtsextrem motiviert haben, alles, was du einen Juden oder Muslimen und im Vergleich zu 2018 um 13 Prozent gestiegen. fragen wolltest, aber nie konntest.“ Dasselbe lässt sich auch für islamfeindliche Ver- Um über den Nahost-Konflikt oder andere pola- brechen beobachten, die zu 90,1 Prozent rechtsex- risierende Themen zu sprechen, müsse man zuerst trem motiviert und um 4,4 Prozent gestiegen sind. eine gemeinsame Sprache finden und Vertrauen aufbauen. Auf der Konferenz wurde der Nah- Wer sind „wir“ und wer sind „die“? ost-Konflikt nicht ignoriert, sondern u.a. durch „Am Anfang haben wir sehr brutal Stereotype Gastredner*innen aus der Region thematisiert, wie und Vorurteile gebrochen. (…) Intern hat sich das Sichrovsky berichtet: „… meistens Vertreter von Bild des anderen dann auf einmal verschoben. Familien, die Menschen in dem Konflikt verloren Säkulare Juden haben gemerkt, dass sie eher mit haben. Da sind Brüder, Söhne, Väter und Töchter säkularen Muslimen auf einer Linie sind als mit gestorben und die sitzen dann vor dieser Gruppe den religiösen aus der eigenen Gemeinschaft. Es junger Studierender und sagen ihnen mit ihrer gab viele Themen, wo auf einmal der Konsens mit Erfahrung, dass die Quintessenz dessen, was sie der anderen Gruppe viel stärker war als mit der durchgemacht haben, genau das ist: dass sie jetzt

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nebeneinander sitzen und miteinander reden. Und wirklich schwach ist – mein Leiden ist größer als was soll unsere Ausrede dafür sein, wenn wir es dein Leiden. So können wir keinen Dialog und nicht tun?“ Frieden haben.“ Umgekehrt erlebe sie allerdings Jedes Jahr kamen Jugendliche von der Kon- auch oft Vorwürfe seitens jüdischer Gemeinschaf- ferenz zurück und trugen ihre Erfahrungen in ten, die sich unter dem Eindruck von ethnischen ihre Gemeinden, Organisationen oder Städte. Im Konflikten oder islamistischen Terroranschlägen Rahmen der Konferenz fanden Besuche in Sre- von muslimischen Menschen distanzieren. brenica (Bosnien) und im Konzentrationslager Zwischen den USA und Europa sieht sie erheb- Mauthausen (Österreich) statt. Für Sichrovsky liche Unterschiede, was die jüdisch-muslimischen war es ein herausragender Moment, als Muslime Beziehungen angehe. Das liege nicht so sehr an aus 40 Ländern in einem Konzentrationslager das der unterschiedlichen Größe der Minderheiten, ob- muslimische Gebet für die Verstorbenen sprachen. gleich die jüdische Minderheit in den USA anders Dies habe ihm die Möglichkeit gegeben, an einem als in Europa mit 6,9 Millionen Menschen deutlich solchen Ort Zugang zu einer ganz neuen Emotio- größer ist als die muslimische (3,45 Millionen). Es nalität zu finden. hat eher mit der amerikanischen Identität zu tun, die beide Gemeinschaften trotz unterschiedlicher „Goldenes Zeitalter“ der Koexistenz religiöser Verankerung teilen. Jüdische Amerika- Das gemeinsame Erinnern an die Vergangenheit ner*innen gehen für muslimische Menschen nicht beider Gemeinschaften ist auch für die Religi- nur auf die Straße, sie engagieren sich auch für onswissenschaftlerin Afridi ein zentraler Punkt, Minderheitenrechte in vielen Konflikten, etwa in um zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit zu ge- Myanmar, dem Südsudan oder in Xinjiang. langen. Und: „Als es unter der Trump-Regierung Natürlich gebe es dennoch Antisemitismus den Einreisestopp für viele muslimische Länder unter muslimischen und Islamophobie unter jü- gab“, fügt sie an, „haben mehr Juden als Muslime dischen Menschen, so Afridi. Der Antisemitismus ­demonstriert.“ sei dabei in den USA ein größeres Problem als Is- In den USA sind jüdisch-muslimische Koope- lamophobie; er sei jedoch nicht nur Muslim*innen rationen kein Neuland mehr. Als muslimische Di- zuzuschreiben, sondern komme vermehrt aus den rektorin des interreligiösen Bildungszentrums für Reihen weißer Nationalisten. In der Statistik des Erziehung über den Holocaust und andere Völker- US-Justizministeriums von 2018 waren 59,6 Pro- morde (angesiedelt am Manhattan College) beob- zent der Opfer aufgrund ihrer ethnischen und achtet Afridi allerdings, dass sich beide Gruppen 18,7 Prozent aufgrund ihrer religiösen Zugehörig- oft in der Sehnsucht nach vermeintlich „idealen“ keit von sogenannter Hasskriminalität betroffen. Epochen der Koexistenz verlieren. So diene etwa Hier waren 53 Prozent der Täter*innen weiß, wo- das sogenannte „Goldene Zeitalter“ des islami- hingegen nur 24 Prozent schwarz und 12,9 Prozent schen Al-Andalus von 711 bis 1492 als Beispiel für als „unbekannt“ eingestuft wurden. Taten gegen eine „perfekte“ und tolerante Zeit, in der alle drei jüdische und muslimische Menschen sind auch Religionen „in Harmonie“ lebten. unter „Race“ einzuordnen, da etwa das Judentum In ihrem Buch „Shoah through the Mus- nicht nur eine Religion, sondern auch eine Ethnie lim Eyes“ thematisiert Afridi das Problem der ist und Muslim*innen zum Beispiel auch oft durch ­Schoah-Relativierung innerhalb vieler muslimi- ihre Hautfarbe Opfer von Hass­kriminalität werden. scher Gemeinschaften. Es herrsche Unwissenheit Ari Gordon, Direktor für jüdisch-muslimische unter Muslim*innen, was die Schoah betreffe. Oft Beziehungen beim American Jewish Committee unternehme man einen Vergleich, um die Proble- (AJC), betont deshalb, dass sowohl die muslimi- me und das Leid heutiger Muslim*innen zu ver- schen als auch die jüdischen Gemeinschaften aus- deutlichen: „Es gibt immer diesen Vergleich, der gesprochen divers sind und in ihrem jeweiligen

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starke Zwang zur Positionierung hinsichtlich des „Die meisten Ju- Nahost-­Konflikts setze jüdische und muslimische Menschen erheblich unter Druck. Dennoch gelte den“, meint Ari für große Teile der amerikanischen Jüdinnen und Juden: „Die meisten Juden haben Sympathie für die Palästinenser und wollen einen Staat für sie, Gordon, „haben so wie sie einen Staat für die Juden wollen.“ Beim diesjährigen AJC Global Forum, das 75 Jahre nach dem Krieg in Berlin stattfinden soll- Sympathie für die te, waren neben anderen zwei besondere Sprecher eingeladen: Mohammed Al-Issa, Generalsekretär Palästinenser und der Muslimischen Weltliga, und Anwar Gargash, Staatsminister für auswärtige Angelegenheiten in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Zudem wollen einen Staat veranstaltete AJC in Kooperation mit der Muslim World League im Januar einen Besuch in Ausch- witz-Birkenau, an der eine Delegation mit etwa für sie, so wie sie 60 muslimischen Saudis teilnahm. Ari Gordon beschreibt, wie religiöse Führungs- einen Staat für die kräfte aus Saudi-Arabien bei diesem Anlass mit jü- dischen Menschen der Schoah gedachten und am nächsten Tag bei einer Schabbat-Feier jüdisches Juden wollen“ Leben würdigten: „Als Enkel von Holocaust-Über- lebenden glaube ich nicht, dass sich meine Groß- eltern, wenn sie noch am Leben gewesen wären, hätten vorstellen können, dass die Welt so aus­ sehen würde.“ Verständigung kann also gelingen, wenn man kulturellen Kontext verstanden werden müssen. Persönlichkeiten zusammenbringt, die Zeichen So könne man etwa türkisch-amerikanische und setzen. Allerdings unterscheidet sich der ameri- afroamerikanische Muslim*innen nicht gleichset- kanische Kontext gesellschaftlich und politisch zen, wenn man eine vertrauensvolle Beziehung deutlich vom deutschen und vom israelischen. aufbauen wolle. Nichtsdestotrotz ließen sich aber Beim letzteren scheint der Konflikt unausweich- gemeinsame Narrative entwickeln. lich. Viele Beobachter*innen gingen davon aus, dass jüdische und muslimische Menschen in Wie Verständigung gelingen kann Israel in großer Feindschaft zueinander lebten Durch die Corona-Pandemie, die Black-Lives-Mat- und gute Beziehungen quasi unmöglich seien, ter-Proteste und das US-Wahljahr sind die Bezie- sagt Arik Rudnitzky, Projektmanager beim Kon- hungen derzeit auf eine intensive Probe gestellt. rad-Adenauer-Programm für Jüdisch-Arabische Viele Politiker*innen haben versucht, beide Ge- Zusammenarbeit an der Universität . Rud- meinschaften zu polarisieren und auf ihre jewei- nitzky sieht die zentrale Herausforderung bei der lige Seite zu ziehen. Doch Institutionen wie das Forschung zu jüdisch-muslimischen Beziehungen AJC verstehen sich als strikt unpolitisch. Religiö- in der Bewältigung eines nationalen Konflikts. se und nationale Identität sollten Ari Gordon zu- Immerhin: Trotz der Tatsache, dass beide folge nicht im Konflikt miteinander stehen. Der Glaubensgemeinschaften sich als die ­eigentlich

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„­indigene“ Bevölkerung des Territoriums selbe Regierung, denselben öffentlichen Verkehr, ­verstünden,­­ wachse derzeit bei einigen Gruppen dasselbe Bildungssystem, denselben Arbeits- die Bereitschaft, die andere Position zu verstehen. markt. Wie schaffen wir es, dass es trotz unserer Auf persönlicher Basis und im Alltagsleben spiele Meinungsverschiedenheiten funktioniert?“ der Konflikt oft keine große Rolle, und es gebe viele Auch die Tatsache, dass sowohl jüdische als Beispiele dafür, dass jüdisch-muslimische Koope- auch muslimische Menschen an gewissen Konzep- rationen gelingen können. Gerade aufgrund der ten festhalten, die für sie wahr und nicht verhan- schwierigen Lage wegen Covid-19 plädieren beide delbar sind, lässt sich für Darawshe in ein Dialog- Gemeinschaften für mehr interreligiöse Solidari- konzept einbinden: Man müsse nicht immer einer tät. Einschränkend fügt Rudnitzky hinzu: „Leider Meinung sein und könne dennoch im Gespräch sind Islamophobie und Antisemitismus in unserer bleiben („agree to disagree“). Welt der Ereignisse nach 9/11 eine Realität. Damit Neben der Förderung guter Beziehungen zwi- müssen wir uns auseinandersetzen.“ schen jüdischen und muslimischen Gemeinschaf- Antimuslimische und antisemitische Ressenti- ten ist aus Darawshes Sicht die Gleichberechtigung ments werden insbesondere dann greifbar, wenn auf sozialer, wirtschaftlicher und politischer Ebene im April/Mai die jüdische Mehrheitsgesellschaft essenziell, um die jüdisch-muslimischen Bezie- ihren Unabhängigkeitstag feiert, der für die Paläs- hungen in Israel auf eine solide Grundlage zu stel- tinenser als „Nakba“-Tag (deutsch: Katastrophe) len. Früher habe man nur auf die politische Bildung gilt. Auch in der Universität Tel Aviv kommt es gesetzt, doch heute gehe es auch um einen Wandel während dieser Zeit zur Polarisierung. Das ändere der Politik. Die zivilgesellschaftliche Mobilisierung aber nichts daran, dass beide Gruppen sich im Uni- versitätsalltag mit denselben Problemen beschäf- tigen müssten, meint Rudnitzky. Der Uni-Campus sei eine gute Möglichkeit, mehr Begegnungen zu schaffen und die andere Gemeinschaft im Alltags- leben näher kennenzulernen.

Gleichberechtigt statt nur nebeneinander Eine friedliche Koexistenz zwischen jüdischen Soziale, wirtschaft- und arabisch-palästinensischen Israelis ist auch für Mohammad Darawshe ein wichtiges Ziel. Der Direktor des Zentrums für Gleichberechtigung und liche und politische gemeinsame Gesellschaft „Givat Haviva“ weist allerdings da­rauf hin, dass es den arabisch-pa- Gleichberechtigung lästinensischen Bürger*innen um mehr gehe: um gesellschaftliche Gleichberechtigung. Am Givat Haviva versucht Darawshe, bestehende Hierar- ist essenziell für chien in der israelischen Gesellschaft abzubauen. Die Mehrheit der arabisch-palästinensischen Israelis sind Da­rawshe zufolge nicht mehr nur da- die jüdisch-musli- ran interessiert, „gemeinsam Hummus und Fala- fel zu essen“: „Wir können einander zustimmen mischen Beziehun- oder widersprechen, uns mögen oder nicht mögen, trotzdem haben wir gemeinsame Interessen. Wir teilen dieselbe Wirtschaft, dieselbe Umwelt, die- gen in Israel

34 | IP Special • 2 / 2020 Jenseits von Idealisierung und Entfremdung

(bottom up) sei zwar wichtig, greife jedoch nicht ineinandergreifen. In Israel versucht Givat Haviva schnell genug, wenn nicht von politischer Seite (top nicht nur Bildungsarbeit zu leisten, sondern auch down) gewisse Änderungen erfolgten. das Prinzip der Gleichberechtigung auf politischer Am Zentrum Givat Haviva wurden in den ver- Ebene zu etablieren. gangenen Jahren neben vielen anderen zwei Pro- In Deutschland sind in den vergangenen Jahren jekte entwickelt: der „Wegweiser für eine gemein- bemerkenswerte Ansätze entstanden, allerdings same Gesellschaft“, der Ziele für eine inklusive befindet sich vieles noch im Aushandlungspro- und gleichberechtigte israelische Gesellschaft zess. Grund dafür sind unter anderem die sozio- festlegt, sowie ein Schulprojekt, in dem jüdische politischen Unterschiede zwischen Deutschland Lehrer*innen in arabischsprachigen Schulen und den USA, der unterschiedliche Umgang mit und arabische Lehrer*innen in hebräischspra- der Konstruktion nationaler hybrider Identitäten chigen Schulen des Landes unterrichten. „Man und das alarmierende Ansteigen von Hasskrimi- normalisiert die Anwesenheit des anderen“, sagt nalität und rechtsextremen Attentaten. Darawshe, „ohne dass man ein Thema daraus ma- Die Tatsache, dass jüdisches Leben in Deutsch- chen muss. So bekämpft man Extremismus, man land oft nur mit Stolpersteinen oder Gedenktafeln entwickelt einen anderen Lebensstil.“ in Verbindung gebracht wird, oder die Diskussio- nen darüber, ob der Islam zu Deutschland gehört Starke Bündnisse oder nicht, erschweren es vielen jüdischen und Um die Metaebene der verschiedenen nationalen muslimischen Menschen, neue Narrative zu ge- Kontexte und Interaktionsformen besser nach- stalten, die über Fragen der bloßen Zugehörigkeit vollziehen zu können, wurden in diesem Beitrag oder Ausgrenzung hinausgehen. die jüdisch-muslimischen Beziehungen anhand Doch was bedeutet das für die Zukunft der jü- dreier Länder (USA, Deutschland und Israel) skiz- disch-muslimischen Beziehungen? In Deutsch- ziert. Deutlich wurde dabei, dass viele Projekte land müssten demnach muslimische und jüdische und Akteur*innen der jüdisch-muslimischen Be- Akademien kooperieren und von mehrheitsgesell- ziehungen über das Stadium eines unreflektierten schaftlichen Einrichtungen Zuspruch erhalten. In- „Kuschelkurses“ weit hinaus sind. Heute möchte terreligiöse Kooperationen müssen institutionali- man stabile Beziehungen aufbauen, die es ermög- siert sowie bildungspolitisch nachhaltig gefördert lichen, von Angesicht zu Angesicht über aktuelle und gepflegt werden. Nach dem Vorbild des AJC und künftige Herausforderungen zu sprechen. Ein in den USA und von Givat Haviva in Israel müs- Dialog, der auf dem Konzept „Imam trifft Rabbi“ sen hier sowohl Führungskräfte als auch einzelne beruht, ist nicht für jeden ansprechend. Multiplikator*innen aus beiden Gemeinschaften In Israel lag der Fokus auf den Beziehungen kooperieren und aktiv agieren. im Schatten des Nahost-Konflikts, in den USA „Halle“, „Hanau“ und der kürzliche Angriff auf auf den Mehrheits-Minderheitsbeziehungen so- einen jüdischen Studenten vor einer Hamburger wie den hybriden Identitäten (Jewish-American/ Synagoge zeigen, welche Auswirkungen rechts- Muslim-American) und in Deutschland auf der extreme Ressentiments auf unser gesellschafts- Entstehung neuer Solidaritätsformen und Alli- politisches Leben haben, sowohl für jüdische als anzen zwischen jüdischen und muslimischen auch für muslimische Menschen in Deutschland. Gemeinschaften. Um es mit Ari Gordons Worten zu sagen: „Was Die Arbeit des American Jewish Committee in uns zusammenbringt, ist weitaus erschrecken- den USA zeigt, dass die Institutionalisierung und der als das, was uns trennt.“ Diese Feststellung Vernetzung von großen Organisationen unaus- bietet viele Schnittpunkte, mit denen ein Anfang weichlich sind, insbesondere wenn hier zivilge- gemacht wurde; jetzt heißt es, diese Beziehungen sellschaftliche und diplomatische Beziehungen auszuweiten und zu stärken.

IP Special • 2 / 2020 | 35 Sylke-Tempel-Fellowship 2020

Willkommen bei den Jeckes Wie die Geschichte der Hotelier-­ Familie Shtarkmann deutsch-jüdische Vergangenheit und israelische Gegen- wart miteinander verbindet

Ein Text von Steffi Hentschke

600 Kilometer entfernt von Berlin pflegt eine 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs junge Israelin einen Teil ihrer deutschen und 55 Jahre nach der Aufnahme diplomatischer 3Familiengeschichte. Orna Shtarkmann, 36 Beziehungen lässt sich das Verhältnis zwischen Jahre alt, führt zusammen mit ihrer Mutter und Deutschland und Israel als kompliziert beschrei- einer ihrer zwei Schwestern das Hotel Shtarkmann ben. Im bilateralen Austausch bekräftigen beide Erna, eines der ältesten Hotels in der Küstenstadt Seiten stets die besondere Freundschaft mitein- Naharija. Draußen im Garten des Hotels werfen ander. Abseits der diplomatischen Kreise aber ist Palmen lange Schatten. Drinnen im Foyer halten zu beobachten, wie sich beide Seiten voneinander gerahmte Schwarzweißfotos an den Wänden die entfernen. Erinnerung an eine längst vergangene Zeit wach. „Unsere Gäste sollen sich bei uns, wie sagt man, Deutsche Distanz heimisch fühlen“, sagt Orna auf Englisch. Orna „Verbindende Vergangenheit, trennende Gegen- ist eine zierliche Frau, die Jeans und Absatzschu- wart?“ lautet der Titel der Bertelsmann-Studie he trägt und sich für ihr gebrochenes Deutsch aus dem Jahr 2015, in dem das deutsch-israelische entschuldigt. „Heimisch“ sei eines von wenigen Verhältnis vergleichend untersucht wird. Die Er- Wörtern, die sie sich merken könne. gebnisse geben einen Hinweis darauf, dass die

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IP Special • 2 / 2020 | 37 Sylke-Tempel-Fellowship 2020

deutsche Gesellschaft eine gewisse Distanz zur Lebensende nie Hebräisch gelernt. „Jeckes“ nennt verbindenden Geschichte entwickelt hat. So glaub- man die deutschen Juden in Israel; ein Sprichwort ten 42 Prozent der Deutschen seinerzeit, dass die sagt über sie: „Jeckes leben in einer Vergangen- heutigen Beziehungen durch die Vergangenheit heit, die niemals eine Zukunft hatte.“ nur leicht oder gar nicht mehr belastet seien, wäh- Ein Tag Mitte Februar dieses Jahres im Hotel rend unter den befragten jüdischen Israelis nur Erna, Orna Shtarkmann lässt sich in einen der 21 Prozent diese Meinung teilten. samtbezogenen Sessel im Foyer fallen. Der Heiz- Besonders sichtbar wird die Diskrepanz bei der lüfter rauscht, wärmt die Luft im kühlen Raum. -Un Bewertung der israelischen Regierung, die schon gewohnt regenreiche Tage liegen hinter Naharija, damals von Benjamin Netanjahu angeführt wur- de. 62 Prozent der Deutschen hatten demnach ein schlechtes bis sehr schlechtes Bild von der israe- lischen Regierung. Auf der anderen Seite glaubte die Mehrheit der Israelis, dass die USA Israels wichtigster Bünd- nispartner seien, während Europa als Gegner wahrgenommen wird – allerdings mit Ausnahme Ein Bonmot über Deutschlands. Auch wenn die Bertelsmann-Stu- die mittlerweile älter als fünf Jahre ist, so gibt es wenig Anlass anzunehmen, dass sich an diesem die deutschen Ju- Bild etwas grundlegend geändert hat. den lautet: „Jeckes Erna Shtarkmann, die Jeckete Welche Rolle spielt die politische Realität in Isra- el für das deutsch-israelische Verhältnis? Welche leben in einer Ver- Herausforderungen bergen die politischen Ent- wicklungen in den USA für die vielbeschworene besondere Freundschaft beider Länder, vor allem gangenheit, die nie für den Blick der Bevölkerungen aufeinander? Und was heißt es, wenn sich die deutsche Öffentlich- eine Zukunft hatte“ keit von der israelischen Wirklichkeit abwendet und Distanz zu einem Land entwickelt, dessen Geschichte untrennbar mit der eigenen verknüpft ist und in dem bis heute Menschen leben, die diese Erinnerung wahren und wertschätzen? Darum soll es im Folgenden gehen. Im Fokus soll dabei Orna Shtarkmann stehen, der Stadt, die 1934 von deutsch-jüdischen Kaufleu- eine der Nachfahren von mehr als 90 000 deut- ten gegründet wurde. Die extremen Niederschläge schen Juden, die von 1933 bis 1939 nach Palästina haben den Fluss, der Naharija in zwei Teile trennt eingewandert sind und die trotz der Ablehnung, und nur wenige Kilometer vom Hotel entfernt liegt, die sie in der alten Heimat erfuhren, die deutsche über die Ufer treten lassen. Sprache und deutsche Traditionen stets als Teil ih- Ganze Teile der 52 000-Einwohner-Stadt wur- rer Identität behalten haben. Erna etwa, die Groß- den unterspült; das Wasser hat eine Spur der Ver- mutter, nach der Orna benannt wurde und deren wüstung hinterlassen und trifft eine Gemeinde, Hotel die Enkelin bis heute führt, hat bis an ihr die ohnehin kaum noch Reserven hat: Wie im

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­gesamten Norden Israels schwächelt die Wirt- sich als religiös-zionistisch, will das Gebiet des schaft in Naharija, müssen die meisten Einwoh- jüdischen Staates bis zum Jordanfluss erweitern, ner nach Haifa oder Tel Aviv pendeln, um ein für und auch wenn es in den kommenden Monaten die Lebenskosten ausreichendes Einkommen zu zerbrechen und nicht Teil der neuen Regierung haben. sein wird: Shtarkmann­ wird zu den Werten Ye- „Die Regierung in Jerusalem interessiert sich minas stehen. nicht für die Leute im Norden“, sagt Orna, die in diesen Tagen viel zu tun hat: Als frisch gewähltes Von der Hotellobby in die Lokalpolitik Mitglied im Stadtrat versucht sie, Hilfsgelder aus Was sagt es über einen Menschen, wenn er sich da- einem nationalen Fonds für die Unterstützung für entscheidet, das Erbe der Familie fortzuführen der Flutopfer zu organisieren; und dann stehen und seinen Lebensentwurf dem engen Rahmen in zwei Wochen auch noch Parlamentswahlen der Traditionen anzupassen? Beim Beginn meiner an, die dritten innerhalb von anderthalb Jahren. Recherche, vor dem Ausbruch der Corona-Pan- Orna unterstützt das Parteibündnis Yemina, das demie, plant Orna Shtarkmann, sich langsam zu diesem Zeitpunkt noch Teil der Koalition mit aus dem Unternehmen zurückzuziehen und sich der Likud-Partei ist, der Partei von Regierungschef stärker der Lokalpolitik zu widmen. Sie will den Benjamin Netanjahu. Tourismus in Naharija fördern, nachdem der einst beliebte Urlaubsort kaum noch Gäste anlockt. Not im Norden, Boom in der Mitte In den vergangenen Jahren haben Orna, ihre Israel ist, so trivial der Satz klingt, ein Land der Mutter und ihre Schwester viel Zeit und Geld in Widersprüche, und wer sich näher mit ihm be- die Renovierung des Hotels investiert. In den Zim- schäftigt, fühlt sich schnell wie beim Tischtennis. mern stehen alte Bücher von Bertolt Brecht und Wie bei dem Spiel die Bälle fliegen in der Betrach- Johann Wolfgang von Goethe; auf kleinen Begrü- tung der Realitäten die Wahrnehmungen und Ar- ßungskärtchen wird die Geschichte des Hauses gumente von der einen zur anderen Seite, gehen erzählt, dem Erbe von Großmutter Erna. hin und her, bis es einen Gewinner gibt, zumindest „Im Zuge der Renovierung haben wir den Na- in dieser Runde. Der Norden Israels leidet unter men des Hotels geändert“, erzählt Orna bei einer der Wirtschaftspolitik der Regierung. Während Führung durch das schlichte Gebäude mit den im Herzen des Landes, in Tel Aviv, Herzlia, Netan- dunklen Teppichen und dem gedämpften Licht. ja, Jerusalem und sogar in der Wüstenstadt Beer „Früher hieß es nur Hotel Erna, aber mit dem Sheva, Hightech-Zentren entstehen und IT-Firmen Namen konnte kein Israeli etwas anfangen, der über einen Mangel an Mitarbeitern klagen, fehlt Vorname existiert im Hebräischen nicht. Hotel es in den Regionen Galiläas, die traditionell von Shtarkmann Erna war eine Art Kompromiss, der der Landwirtschaft der Kibbuze geprägt sind, an für mich natürlich trotzdem eine Bürde ist, wenn Impulsen und Initiativen. ich mich politisch mehr in der Öffentlichkeit posi- Politisch aber genießen die Likud-Partei und tionieren möchte. Alles, was ich mache, wird auf besonders Benjamin Netanjahu breite Zustim- das Hotel zurückfallen.“ mung in der israelischen Bevölkerung. Auch in Erna und Orna klingen ähnlich, haben aber Naharija stimmte bei den vergangenen Wahlen die ganz unterschiedliche Bedeutung. Der Name Orna Mehrheit für den Mann, der mit seinen antilibera- geht auf Or zurück, das hebräische Wort für Licht. len und antiarabischen Positionen durchaus als Erna ist die Kurzform für Ernestine, die weibliche rechter Populist bezeichnet werden kann. Yemina, Form von Ernst, und es hat genau diese Bedeutung das Parteienbündnis, das Orna Shtarkmann un- – Ernst im Sinne von Entschlossenheit. terstützt, bedeutet auf Deutsch „nach rechts“, und Am 2. März finden in Israel die Parlaments- es steht tatsächlich rechts vom Likud. Es versteht wahlen statt. Wie bei den beiden Wahlen zuvor

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­kommen keine klaren Mehrheiten zusammen. darin enthaltenden Ideen innerhalb der internatio- Nach zähen Verhandlungen einigen sich die bei- nalen Gemeinschaft und bei der EU auf Ablehnung. den stärksten Parteien Likud und Blau-Weiß, die Kern des Konzepts ist eine Ausdehnung der is- tendenziell dem Mitte-links-Lager zuzuordnen- raelischen Grenzen ins Westjordanland, bei der de Partei von Netanjahus Herausforderer Benny die Palästinenser 30 Prozent ihres Gebiets verlie- Gantz, auf eine Koalition. Die Regierungsbil- ren würden und nur in den rudimentären Resten dung erfolgt unter dem Druck der Corona-Krise, einen Staat bilden sollten. In den ersten Wochen die schnelle politische Entscheidungen und eine der Pandemie gerät der bei vielen Beobachtern stabile politische Führung verlangt. als strategischer Bluff verrufene Plan in Verges- In den ersten Wochen der Pandemie, als die Ver- senheit. Erst Ende Mai, als Netanjahu offiziell als handlungen noch nicht abgeschlossen sind, setzt Ministerpräsident bestätigt wird, schafft es das Netanjahu eine Notfallregierung ein, verordnet Thema wieder auf die Tagesordnung: Am 1. Juli, dem Land einen wochenlangen, strengen Lock- erklärt der Regierungschef, wolle man mit der An- down. Der Flughafen Ben Gurion wird für Reisen- nexion beginnen. Kurze Zeit später und als erster de aus dem Ausland geschlossen, die Menschen EU-Politiker seit Ausbruch des Coronavirus reist dürfen nur noch im Radius von 100 Metern das Außenminister Heiko Maas nach Israel, versucht Haus verlassen und der Ministerpräsident droht zwischen der israelischen und der internationalen den Bürgern, das Virus sei wie die Pest, jeder Zwei- Position zu vermitteln und muss dabei etwas tun, te könnte ihm zum Opfer fallen. was man als deutscher Politiker ungern in Israel In jenen Wochen muss Orna Shtarkmann ihre macht: öffentlich Kritik an der Politik üben. Mitarbeiter in unbezahlten Urlaub schicken und selbst an der Rezeption sitzen, um die eingehen- Arbeit an der gemeinsamen Geschichte den Stornierungen entgegenzunehmen. Wirt- Viele der Jeckes, die während der „fünften Aliyah“, schaftsdelegationen aus Deutschland und Öster- der großen Auswanderungswelle zwischen der reich sagen ab, etwa die Hälfte der Buchungen Machtergreifung der Nationalsozialisten und kommt von Gästen aus dem europäischen Aus- dem Beginn der Pogrome, aus Deutschland und land. Für das Jahr 2020 war der Kalender üppig Österreich nach Palästina flohen, waren keine gefüllt, es hätte ein gutes Geschäftsjahr, ein guter überzeugten Zionisten. Anders als etwa die Kib- Moment für eine berufliche Veränderung für Orna buzniks, die damals bereits die ersten Siedlungen werden können. Nun hat sich dieser Wunsch zer- für den zukünftigen Staat Israel aufbauten, hader- schlagen, und als auch drei Monate später noch ten viele mit der neuen Heimat, dem trocken-hei- keine Ausländer einreisen dürfen, muss sich Orna ßen Klima, in dem einstige Ärzte und Anwälte fragen, ob das Hotel diese Krise überstehen wird. nun Bauern sein sollten und dabei nur scheitern konnten. Umstrittener Deal Die deutsche Kultur ehrte und achtete die erste Die Pandemie bringt nicht nur individuelle Pläne Generation der Jeckes; und während sie bei der durcheinander, sie lässt auch politische Vorhaben Bewirtschaftung der kargen Böden keinen Erfolg stillstehen. Im Vorfeld der israelischen Parlaments- hatten, beackerten die Einwanderer die intellek- wahlen und mit Blick auf die Präsidentschafts- tuelle Landschaft im jungen Staat Israel, in dem in wahlen in den USA im Herbst hatten die engen den ersten Jahren nach der Schoah alles Deutsche Freunde Benjamin Netanjahu und Donald Trump verachtet und am Anfang sogar verboten war. Ende Januar den sogenannten Trump Peace Plan Mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen vorgestellt. Netanjahu war dafür extra nach Was- zwischen Israel und der Bundesrepublik 1965 bot hington gereist. Während er und Trump den Plan sich für die Jeckes die Möglichkeit, die Geschichte als „Deal des Jahrhunderts“ feierten, stießen die aufzuarbeiten und auf Grundlage der gemeinsa-

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men Vergangenheit eine gemeinsame Zukunft zu Pförtner nach den neuen Öffnungszeiten fragt, gestalten. Schnell entstanden Austauschprogram- schüttelt der den Kopf: „Das Museum gibt es nicht me, sollten die Nachfahren der Täter das Land der mehr.“ Es ist der 30. Juni 2020. Am nächsten Tag Überlebenden kennenlernen. will Netanjahu die konkreten Pläne zur Annexion 1989/90 übernahm der Unternehmer und Jecke verkünden, am nächsten Tag wird Ofeks Vertrag Stef Wertheimer das 1968 in Naharija gegründete mit dem Museum beendet sein. Jeckes-Museum und zog damit nach Tefen um, auf „Eigentlich habe ich heute meinen letzten das Gelände des Industrieparks Wertheimers Be- Arbeitstag“, sagt die 70-Jährige auf Deutsch mit triebe. Über die Jahre wurde das einzige Museum Salzburger Akzent, während sie Akten in ihrem für die Geschichte der deutschen Juden in Israel Büro ordnet. In den Regalen stapeln sich Bücher zum Treffpunkt deutsch-jüdischer Intellektueller; deutsch-jüdischer Denker, daneben alte Ausgaben die Leiterin Ruthi Ofek führte deutsche Diploma- der Magazine Stern und Geo und Abhandlungen ten und Studentengruppen durch das Haus. über die Geschichte der deutschen Juden in Israel. Die Kinder des mittlerweile 94-jährigen Stef Wert- heimer hätten entschieden, das Museum nicht weiterzuführen, erzählt Ofek und möchte dabei nicht ins Detail gehen. Die Wertheimers gehören zu den reichsten Fa- milien Israels, laut Forbes beläuft sich ihr Vermö- gen auf etwa sechs Milliarden US-Dollar. Ums Geld Über die Jahre gehe es bei der Schließung nicht, sagen Menschen, die mehr darüber wissen, eher um die Frage, wel- wurde das Jeckes- che Relevanz das Erbe der Jeckes heute in Israel noch hätte. „Wir hatten hier viele gute Jahre und ich bin sicher, dass wir einen neuen Ort für das Museum zu einem Museum finden werden“, sagt Ofek. Auf die Frage, welche Rolle die politischen Entwicklungen in Is- rael für das deutsch-israelische Verhältnis hätten, wichtigen Treff- bleibt sie weniger zurückhaltend. „Sie meinen die- se Annexion? Ein ganz großer Quatsch ist das.“ punkt deutsch-jüdi- Ein Stück deutsche Gemütlichkeit Seit einigen Wochen dürfen Unterkünfte in Isra- scher Intellektueller el wieder Übernachtungen annehmen. Im Hotel ­Shtarkmann Erna läuft der Betrieb allmählich wie- der an. Orna sitzt an der Rezeption und wirkt ein wenig erschöpft – im Moment muss sie ohne An- gestellte auskommen und vom Frühstücksbuffet bis zur Zimmerreinigung alles alleine erledigen. Zeit für ein Gespräch nimmt sie sich trotzdem, ein Freund ihres verstorbenen Vaters ist zum Kaffee „Diese Annexion? Ein ganz großer Quatsch“ vorbeigekommen. Ein Mann, über den Orna sagt, Bedingt durch die Corona-Pandemie wurden dass das ein echter Jecke sei. alle öffentlichen Einrichtungen in Israel im März „Für mich wird das hier immer das Hotel Erna, geschlossen, und als man Monate später beim ein Stück deutsche Gemütlichkeit bleiben“, sagt

IP Special • 2 / 2020 | 41 Sylke-Tempel-Fellowship 2020

der Mann, der als Kind der ersten Einwanderer in den 1950ern in Naharija geboren wurde. Wäh- Nachdem man rend Orna auf einem der Sofas, unter den groß- gerahmten Fotos ihrer Großmutter, sitzt und der den Einwanderern Unterhaltung auf Deutsch zu folgen versucht, erzählt der Gast von Ornas Vater; davon, wie er sich in ihre Mutter, eine Israelin mit jemenitischen aus Deutschland Wurzeln, verliebte und mit ihr bis zu seinem Tod das Haus mit deutscher Korrektheit führte. „Die drei Töchter sind alle so hübsch und haben das am Anfang mit Beste von beiden Seiten. Nur dass Orna jetzt in die Politik möchte, ich weiß ja nicht. Eine so junge Skepsis begegnete, Frau sollte doch erst einmal eine Familie gründen, nicht wahr?“ Orna Shtarkmann versteht sich als rechts und ist das Wort Jecke eckt damit im eigenen Freundeskreis und dem der Eltern an. Für ihr Umfeld erschließt sich nicht, weshalb sich die nichtreligiöse, moderne Frau für heute positiv be- eine religiös-zionistische Partei einsetzt. Als sich der Gast verabschiedet hat und es Abend wird in setzt Naharija, schlägt Orna einen Spaziergang an der Promenade vor und beginnt unterwegs zu erzäh- len, warum sie sich so entschieden hat. „Ich bin konservativ, mich interessiert die Wirtschaft mehr als etwa der Konflikt mit den Palästinensern, und wenn etwas in mir Jecke ist, dann sind es meine Ansprüche an Korrektheit. Vermutlich würde ich auch Likud unterstützen, stünde Netanjahu nicht nur, weil ich eine junge Frau bin.“ Dass Bennett wegen Korruption vor Gericht. Aber ich kann kei- so engagiert für die Annexion kämpfe, sei für nen Mann wählen, den ich nicht für einen guten Orna in Ordnung. „Es ist nicht meine Top-Prio- Menschen halte“, sagt sie – das Wort Mensch sagt rität, schon gar nicht in Zeiten von Corona. Aber sie auf Deutsch. grundsätzlich bin ich dafür.“ Über Jeckes sagt man in Israel, dass sie be- Höflich wie ein Jecke sonders pflichtbewusst und zuverlässig seien. Seit Mai läuft ein Prozess gegen den Ministerprä- Nachdem man den Einwanderern aus Deutsch- sidenten, damit hat er sich für Orna unwählbar land am Anfang mit Skepsis begegnete und die gemacht. Dass Naftali Bennett, der Vorsitzen- stets akkurat gekleideten Neu-Israelis teils belä- de von Yemina und nun Oppositionspolitiker, chelte, ist das Wort Jecke heute positiv besetzt, gilt ein besserer Amtsinhaber wäre, davon ist sie als Synonym für besondere Höflichkeit. Politisch überzeugt. Von ihm fühlt sie sich politisch un- haben sich die Werte der deutschen Juden nie terstützt, eine Erfahrung, die sie bisher selten durchsetzen können, die Mischung aus Konser- gemacht hat. „Bei den Wahlen für den Stadtrat vatismus und Zurückhaltung war in Israel nicht habe ich zu spüren bekommen, dass nicht nur mehrheitsfähig. die Religiösen, sondern eigentlich Politiker al- Linde Apel, die Leiterin der Werkstatt der ler Parteien mit mir ein Problem hatten. Einfach Erinnerung in der Forschungsstelle für Zeit-­

42 | IP Special • 2 / 2020 Willkommen bei den Jeckes

geschichte in Hamburg, hat für ihre Arbeit „Die zu verbessern. Die Zeit bis zu den Abstimmun- richtigen Jeckes­ sind andere“ mehrere Jeckes der gen im November läuft, und anders als noch vor ersten Generation interviewt. Eine der Antwor- der Pandemie sehen die Werte schlecht für den ten, die sie erhielt, lautete: „Es hätte unseren Republikaner aus. Israelis nicht geschadet, wenn sie ein bisschen Auch in Israel sind die Reaktionen gespal- was Jeckisches an sich gehabt hätten, aber die ten: Die Linke hält die Erklärung für ein Ablen- Jeckes waren hier nicht sehr populär. Wir haben kungsmanöver, bestehen informell doch schon auch keine in der Regierung. Nur hier und da seit Jahren gute Beziehungen mit den VAE. Kritik hat sich einer verlaufen. Nein, die konnten es kommt auch von Naftali Bennett, da im Zuge der auch nicht so.“ Verhandlungen Netanjahu erklärt hat, die Anne- Mitte Juli verlässt eine der Parteien Yemina, xionspläne auf Eis zu legen. „Es ist tragisch, dass Naftali Bennett und die anderen Parteivorsitzen- Netanjahu den Moment nicht ergriffen und auch den machen mit ihrer Oppositionspolitik weiter, nicht den Mut aufgebracht hat, die Souveränität die eine rechte Alternative zu Likud bieten soll. des Landes Israel auch nur einen Zentimeter aus- In jenen Wochen beginnen überall im Land Pro- zudehnen.“ teste gegen Benjamin Netanjahu und die schwie- rige wirtschaftliche Lage. Durch die Folgen der Orna Shtarkmann kandidiert Corona-Krise haben mehr als 850 000 Israelis ihre Zurück in Naharija im Hotel Shtarkmann Erna, ein Arbeit verloren, ist die Zahl der Insolvenzen im letztes Mal. Es sind Sommerferien in Israel. Und Vergleich zum Vorjahr um 75 Prozent in die Höhe weil der Flughafen noch immer geschlossen ist, geschossen. machen die Israelis dieses Jahr Urlaub im eigenen Die Wut auf Bibi, wie Netanjahu genannt Land. Orna ist bereits seit vier Uhr auf, zum ersten wird, gilt als der kleinste gemeinsame Nenner Mal seit Jahren sind im August alle Zimmer aus- der Protestierenden, die sich zu Tausenden jede gebucht. Die vergangenen Wochen hätten ihren Woche vor der Residenz des Ministerpräsidenten Blick auf ihre Arbeit verändert, erzählt sie. Das treffen und „Bibi, geh’ nach Hause“ rufen. Unter positive Feedback der Gäste, das viele Lob für die den Demonstranten finden sich auch verprellte sauberen Zimmer und den frischen Apfelstrudel Likud-Wähler, die ihre Botschaft auf ihren Pla- hätten sie neu motiviert. katen tragen: „Ich bin nicht links, nur weil ich „Ich bin stolz auf das, was wir hier erreicht gegen Korruption bin.“ In den israelischen Medien haben, dass wir das Erbe meiner Großmutter beginnt bald eine Debatte über die Frage, welche fortsetzen können“, sagt sie und erzählt, dass sie Folgen die größten Proteste seit acht Jahren für das auch für ihre politische Arbeit eine Entscheidung Land haben könnten. In der linken Tageszeitung getroffen hätte. „Ich habe deshalb heute Vormittag wird spekuliert, die Antwort könnte rechts mit Naftali Bennett telefoniert, ich hoffe, dass er vom Likud liegen, bei Yemina. mich unterstützen wird“, sagt Orna und lächelt wie jemand, der eine Überraschung zu verkünden Überraschende Übereinkunft hat: In zwei Jahren stehen in Naharija, der Stadt Mitte August und relativ überraschend ver- der Jeckes, wieder Bürgermeisterwahlen an. Orna kündet US-Präsident Donald Trump, unter der Shtarkmann will dafür als erste Bürgermeisterin Vermittlung der Vereinigten Staaten sei ein kandidieren. Friedensabkommen zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) zustan- de gekommen. Beobachter deuten die Verkün- dung als letzten Versuch des amerikanischen Präsidenten, seine Aussichten für die Wahlen

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Die jüdische Identität: Warum Amerika? Is|ra|e|li: „Ein Staatsangehöriger oder Einwohner Israels oder eine Person ­israelischer Abstammung“

Ein Text von Noa Rekanaty

ch bin in Israel aufgewachsen, einem der kon- Amerikanische Juden sind mit den gleichen Feier- fliktreichsten Gebiete der Welt. Trotz und mit tagen und Liedern aufgewachsen wie ich. Aber sie Idiesen Konflikten war das Leben mit meinen mussten keine Wehrpflicht ableisten; diese stellt beiden liebevollen Eltern und zwei jüngeren Zwil- aber einen wichtigen Aspekt von dem dar, was ich lingsschwestern wunderbar. Als ich älter wurde, bin und was mich ausmacht. Auch das jüdische lernte ich, mit dem Terror, der Trauer und den Narrativ und die generationenübergreifende jüdi- Ereignissen umzugehen, die mich zu dem mach- sche Identität, besonders seit dem Holocaust, ist ten, was ich heute bin, die meinen Charakter und in jeder jüdischen Gemeinde und Familie auf der meine Identität geprägt haben. Welt anders. Natürlich haben diejenigen, die ent- Nachdem ich meinen Wehrdienst in der israeli- kamen und überlebten, die jüngeren Generationen schen Armee geleistet hatte und die Welt bereiste, in ganz besonderer Weise beeinflusst. begriff ich etwas: Ich sah, wie viele Menschen es Im Licht des Holocaust, den auch meine eigene gibt, die genauso sind wie ich – jüdisch –, und Familie durchgemacht hatte, begann ich nicht nur, doch verschieden, weil sie anders aufwuchsen meine Identität und mein „Judentum“ zu hinter- und ihre Identität durch das Leben und das Ver- fragen. Sondern auch, warum­ meine­ Familie die mächtnis ihrer Familien anders beeinflusst wurde. Wahl getroffen hatte, nach Israel einzuwandern,

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IP Special • 2 / 2020 | 45 Sylke-Tempel-Fellowship 2020

und wie dies meine Identität und mein „Israeli- Joes zwei Onkel wurden in das Konzentrations- tum“ prägen. Ich fragte mich, wie es wäre, in den lager Dachau gebracht, und das Haus, in dem er USA geboren zu sein und mein jüdisches Leben lebte, wurde zerstört. Das war der Moment, in dem mit anderen Identitätskomponenten zu leben. Und Joes Mutter beschloss, aus Deutschland wegzuge- ich begann, mich mit Politik zu befassen – vor hen. Allerdings gaben viele Länder zu diesem Zeit- allem mit den Möglichkeiten einer Politik nach der punkt Juden schon keine Einreiseerlaubnis mehr. monströsen Krise des Holocaust. In diesem Artikel Im August desselben Jahres (1938) gelang es Joe, möchte ich der jüdischen Identität einer Familie mit dem Kindertransport nach London zu kom- über drei Generationen nachspüren – warum sie men, um bei entfernten Verwandten zu leben. Es sich nach dem Holocaust entschied, Europa zu war schwierig, einen Platz in dem Zug zu bekom- verlassen und sich an eine neue Umgebung – Ame- men, und die Familie musste all ihre Kontakte be- rika – anzupassen. Wie entwickelten die als Juden mühen. Der Kindertransport sollte jüdische Kinder aufwachsenden jüngeren Generationen ihre Iden- aus ihren Heimatländern holen und in ein Land tität an diesem neuen Ort? Ich hoffe, dass ich mit bringen, wo sie vor den Nazis sicher waren. Jetzt der Geschichte einer anderen Familie auch meine war England Joes neues Zuhause, ein Land, das Fragen an mich selbst beantworten kann. er noch immer als Heimat betrachtet, neben sei- nem Haus in Connecticut, wo er heute lebt. Damals Ame|ri|ka: wusste Joe noch nicht, welches Schicksal sechs „Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ Millionen Juden erwartete. Warum wanderten Juden, die den Holocaust In England besuchte Joe die Schule; er lernte überlebt hatten, nach Amerika aus? Joe (Ernst) Englisch und passte sich an eine neue Kultur an. Adamson ist ein wunderbarer Mann, dessen Le- Als sich die Lage verschlimmerte und Deutschland ben durch eine Reihe glücklicher Zufälle gerettet mit der Invasion Englands drohte, flüchtete die wurde. Als ich das erste Mal mit ihm über sein Familie aus London aufs Land. Joe war erst 16, Leben sprach, war ich von seiner Geschichte und als er zu arbeiten anfing. Seine Mutter und seine seinem Mut überwältigt. Joe musste sich immer Schwestern waren nach England nachgekom- wieder neu anpassen, eine Sprache lernen, eine men und gemeinsam zogen sie nach London. Sie Kultur und neue Wege. Joe wurde 1924 in Königs- mussten hart arbeiten, aber sie waren dankbar, berg (heute Kaliningrad) geboren, in Ostpreußen, am Leben zu sein. als Sohn einer stolzen Familie mit einem ausge- Joe war Anfang 20, als er einige amerikanische prägten deutschen Erbe. Joes Familie gehörte in Soldaten kennenlernte und die Chance bekam, der deutschen Gesellschaft dazu. Sein Großvater sich als Dolmetscher und Ermittler von NS-Ver- war Ratsherr, sein Vater besaß eine Metallfabrik. brechen einer Sonderabteilung der US Air Force Als die Nazis an die Macht kamen, zogen Joe, seine anzuschließen. Mit seiner neuen Abteilung ging Mutter und seine beiden Schwestern nach Frank- er nach Österreich und sah zum ersten Mal mit furt an der Oder, um bei den Großeltern zu leben. eigenen Augen, was die Nazis getan hatten. Er Zu dieser Zeit begannen sich die Lebensumstände begriff, wie unauslöschlich tief der Einschnitt der Familie zu verändern. Joe wurde jetzt „Juden- für die Juden und für andere Minderheiten war, junge“ genannt und von den größeren Kindern deren Mitglieder in der Zeit des Holocaust ermor- in der Schule verprügelt. Nicht allzu lange nach det worden waren. 1949 wanderte Joe in die USA Joes Bar-Mizwa 1938 kam es am 9. November zur aus. In New York begann er ein neues Leben. Nach Reichspogromnacht gegen die Juden. In Häuser, vielen Jahren in Deutschland und England musste Synagogen und Geschäfte, die Juden gehörten, er sich ein weiteres Mal anpassen, aber nun zum wurde eingebrochen, viele wurden abgebrannt, letzten Mal. Als ich Joe fragte, warum er sich für geplündert, zerstört. Amerika entschieden hatte, war seine Antwort

46 | IP Special • 2 / 2020 Die jüdische Identität: Warum Amerika?

einfach: wegen der vielen Möglichkeiten, die es deutschen Juden wurden vom amerikanischen dort gab. Joe war in die USA aufgebrochen, um Judentum nicht akzeptiert“. Deutsche Juden bil- sein Leben zu verändern, weil England denen, die deten die größte jüdische Einwanderungswelle in sie benötigten, nicht genug Chancen bot. die USA nach dem Holocaust und unterschieden sich mit ihrem Hintergrund und ihrer Kultur von der jüdisch-amerikanischen Gemeinde. Die ame- rikanischen Juden betrachteten sich als „höhere Schicht“ und wiesen die neue Welle jüdischer Ein- wanderung aus Deutschland und dessen Nachbar- ländern zurück. Die deutschen Juden waren, wie Joe berichtete, auf sich allein gestellt. Auch in Amerika erfuhr Joe Antisemitismus Welchen Einfluss ebenso wie Hass auf nichtjüdische Minderheiten, da Amerikaner mit afrikanischen Wurzeln unter hat das Leben denselben Problemen litten wie die Juden. Diese Faktoren brachten die folgenden Generationen dazu, sich zu „amerikanisieren“. Das erklärt einen in einem­ gänzlich Unterschied zur Identität der nächsten Genera­tion, der Kinder der jüdischen Einwanderer, die die ers- neuen Land auf te amerikanische Generation bildeten. Iden|ti|tät „Die Tatsache, der oder das zu sein, die eigene Identi- was die Person oder Sache ist“ Als ich mit Joes Söhnen Allen und Peter sprach, tät, auf Traditionen erzählten sie mir von ihrem Leben als Amerikaner. Ihre Kindheit war völlig anders als die ihres Vaters – sie lebten mit Eltern, die eingewandert waren, in und Geschichte einem zweisprachigen Zuhause, in dem ein star- ker deutscher Akzent die Melodie vorgab. Aber ­eines Menschen? ihr Leben war ganz und gar amerikanisch und nicht von der Geschichte ihres Vaters beeinflusst. Es gab Hamburger und Pommes zum Abendessen und nur selten europäisches Essen. Zu keiner Zeit gab es ein Gefühl der Wut auf Deutschland, da der Holocaust und Erzählungen aus dieser Zeit kein zentraler Teil des Familienlebens waren. Doch die europäische Identität beider Eltern (beide waren Für viele jüdische Flüchtlinge wurde Ameri- Deutsche) blieb erhalten. ka zur Chance, in einem neuen Land von vorne Peter und Allen betrachten den deutschen Teil anzufangen. Zwischen 1945 und 1952 ließen die ihrer Identität nicht als wesentlichen Einfluss. Sie USA etwa 400 000 Juden einreisen, die eine neue sehen sich selbst als Amerikaner der ersten Gene- Heimat fanden und von denen erwartet wurde, ration an, Kinder von Einwanderern. Ihre Identität dass sie sich in die bestehende Gemeinde ein- ist zunächst, Amerikaner zu sein, dann erst kommt fügten. Überraschenderweise sagte Joe, „die das Jude-Sein. Beide wuchsen in einer Kleinstadt

IP Special • 2 / 2020 | 47 Sylke-Tempel-Fellowship 2020

auf, jeder kannte jeden. Es war ein großes Glück, Zu|hau|se in dieser Zeit am Leben zu sein, eine Zeit, die sie „Der Ort, wo man lebt“ mehr zu Amerikanern als zu Europäern machte. Nachdem ich mit den drei Generationen gespro- chen hatte, in dieser einen Familie unter vielen, ist Mo|dern mir vieles klargeworden. Für die erste Generation, „Sich auf die Gegenwart oder die jüngste für Joe, war Amerika das Land der vielen Möglich- Zeit und nicht auf die ferne Vergangenheit keiten, ein Ort, wo er sich niederlassen und ein beziehend“ neues Kapitel aufschlagen konnte, Kinder haben „Freiwillige Juden“ (Diana Pinto) sind die euro- und in Frieden leben. Für die zweite Generation, päischen Juden, die seit dem Zweiten Weltkrieg für Peter und Allen, ist die Tatsache, dass sie Ame- in Europa leben. Der Ausdruck umfasst auch die rikaner sind, die wichtigste Quelle von Identität. Juden, die später aus freiem Willen in die EU ein- In einer US-Umgebung aufwachsend, als Kinder gewandert sind und dort leben, wo sie sich mit eingewanderter Eltern, ist das Zuhause, das sie den Folgen des Krieges auseinandersetzen müs- als Kinder hatten, ihr neues Zuhause. sen, die die jüdische Gemeinde auf ewig zeichnen Eric, die dritte Generation, hat eine US-Identi- werden. tät mit großem europäischem Einfluss, anders als Als ich mit Eric sprach – Joes Enkel und Peters sein Vater und Onkel, vielleicht auch wegen seiner Sohn –, der heute in Berlin lebt, wollte ich seine schwedischen Mutter. Die erste Generation hatte Haltung als Amerikaner der zweiten Generation ein „Identitätsfenster“ für die folgende Generation verstehen. Eric ist Halb-Schwede, da seine Mutter geöffnet, die sich als amerikanisch versteht, und in die USA auswanderte und zum Judentum über- für die darauffolgende, die es zurück nach Europa trat, um das jüdische Vermächtnis zu erhalten. zieht. Wo die drei Generationen ihr Zuhause sehen, Eric fühlt sich als Amerikaner mit europäischen passt perfekt zur Entwicklung ihrer Identität als Wurzeln, weil er fließend Schwedisch spricht. einem generationenübergreifenden Phänomen. Seine amerikanische Identität prägte ihn mehr Joe sieht England, wo er sein neues Leben leben als sein Judentum, für ihn war es von sekundärer konnte, und Connecticut, wo er heute ein glückli- Bedeutung, Jude zu sein. ches Leben führt, als sein Zuhause. Allen und Peter Nach der Universität zog Eric nach Deutsch- sehen Amerika als ihr Zuhause, mit einer großen land, nicht unbedingt, weil sein Großvater dort Betonung auf der Familie als Heimat; Eric sieht geboren wurde, sondern weil er die europäi- Deutschland und Europa als sein Zuhause. sche Kultur und Politik kennenlernen wollte. In Was wäre Amerika für mich gewesen? Vielleicht Deutschland fühlte er aber dann zum ersten Mal hätten meine Eltern dort eine zweite Chance ge- die unterschiedlichen Haltungen zu Juden. Zwar habt, wie viele Israelis, die fortgingen, als die zwei- sind Juden auch in den USA in der Minderheit, te Intifada im Jahr 2000 begann. Ich wäre auf eine aber dort ist es ganz selbstverständlich, Jude zu US-Schule gegangen, aber zuhause hätte ich die sein, während es sich in Deutschland tatsäch- Aromen und Erinnerungen aus der Ferne genos- lich auch so anfühlt, als wäre man in der Minder- sen. Ich hätte Hanukka mit meiner Familie und heit. Eric berichtet, dass er mehr Verbindungen Weihnachten mit meinen Freunden gefeiert. Aber zu Einheimischen hat als zu Amerikanern und eines ist mir jetzt klar: Europäische Einwanderer Juden. Es fühlt sich für ihn nicht so an, als wäre erkannten in Amerika ihre Chance, nach der Krise er von Fremden umgeben, da er selbst Europäer ihr Leben neu zu beginnen. Ein Ort, wo ihre Kin- ist, was es ihm erleichtert, zu seiner Umgebung der und Enkelkinder die Freiheit haben würden, eine Beziehung aufzubauen. Für ihn ist das heu- eine eigene Identität zu wählen und zu entwickeln, tige Amerika keine attraktive Option mehr, und ohne Angst davor zu haben, „anders“ zu sein. er kann sich gut vorstellen, in Europa zu bleiben. Aus dem Amerikanischen von Bettina Vestring

48 | IP Special • 2 / 2020 Impressum

Herausgeber Marketing und Anzeigen Liebe Leserinnen, liebe Leser, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik: DGAP Consulting GmbH in allen Fragen und Angelegenheiten rund Dr. Thomas Enders Rauchstraße 17/18 | 10787 Berlin um Ihr Abonnement ­­erreichen Sie uns unter: Prof. Dr. Joachim Krause Stefan Dauwe IP Abonnentenservice Dr. Daniela Schwarzer [email protected] PrimaNeo GmbH & Co. KG Tel.: +49 (0)30 26 30 20 65 Postfach 104040 Chefredakteur 20027 Hamburg Martin Bialecki (V.i.S.d.P.) Druckerei Tel.: +49 (0)40 23 67 03 38 PRINTEC OFFSET > medienhaus Redaktion Fax: +49 (0)40 23 67 03 01 Ochshäuser Str. 45 | 34123 Kassel Dr. Henning Hoff, Uta Kuhlmann, [email protected] Dr. Joachim Staron Pressevertrieb Projektmanagerin: Charlotte Merkl IPS Pressevertrieb Hamburg GmbH Redaktionelle Mitarbeit: Alexander Menai Sind Sie Mitglied der DGAP e.V.? Nordendstraße 2 | 64546 Mörfelden-Walldorf Die Mitgliederbetreuung der DGAP, die für die Layout Verwaltung Ihres Mitgliederabos zuständig ist, Erscheinungsweise Thorsten Kirchhoff erreichen Sie unter: mehrmals jährlich DGAP e.V. Redaktionsanschrift Mitgliederbetreuung / Evelyn Rehm Rauchstraße 17 / 18 | 10787 Berlin Einzelpreis Zeitschrift IP 14,90 € Rauchstraße 17/18 Tel.: +49 (0)30 25 42 31 146 Einzelpreis IP Special 9,90 € 10787 Berlin Fax: +49 (0)30 25 42 31 116 Jahresabonnement Inland 118,00 € Tel.: +49 (0)30 25 42 31 140 [email protected] Jahresabonnement Ausland 128,00 € Fax: +49 (0)30 25 42 31 116 Vorstand der DGAP Luftpost 155,00 € [email protected] Dr. Thomas Enders, Präsident Studentenabonnement 73,00 € Georg Graf Waldersee, Schatzmeister Studentenabonnement Ausland 83,00 € Jutta Freifrau von ­Falkenhausen, Syndika (Nachweis erforderlich) Bildnachweis Dr. Thomas Bagger Probeabonnement (2 Ausg.) 19,50 € Alle Illustrationen: Jaime Brehme Geraldine Schroeder Alle Abonnentenpreise inkl. Versandkosten Seite 5: Atlantik-Brücke e.V. Johann Voss, Junge DGAP und MwSt. Weitere Preise auf Anfrage. Redaktionsschluss dieser Ausgabe: Marcus Wassenberg Kündigungen bis vier Wochen vor Ablauf 12. Oktober 2020. Dr. Daniela Schwarzer, Direktorin des Bezugszeitraums. Für Mitglieder der Dr. Thorsten Klaßen, ­COO ­Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik www.internationalepolitik.de Martin Bialecki, Chefredakteur IP gelten besondere Bezugspreise. ISSN 1430-175X

Die Produktion dieser Ausgabe wurde aus Mitteln der LOTTO-Stiftung Berlin mitfinanziert.

IP Special • 2 / 2020 | 49 Sylke-Tempel-Fellowship 2020

Die Fellows 2020

Beyza Arslan absolvierte in Itamar Ben-Ami ist Doktorand Heidelberg ihr Bachelor- und am Institut für Politikwissen- Masterstudium in Kulturmitt- schaft der Hebräischen Universi- lung, Interkultureller Kommu- tät Jerusalem und Absolvent der nikation und Vergleichender ultraorthodoxen Jeschiwa-Welt. Sprachwissenschaft. Sie arbei- Seine Dissertation konzentriert tet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der sich auf kritische und theokratische Konzeptu- Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg am alisierungen des modernen souveränen Staates Podcast-Projekt „Mekka und Jerusalem (gefördert mit einem Fokus auf deutsch-jüdische Gelehrte von der VolkswagenStiftung). Der Podcast entsteht in der Weimarer Republik. Forschungsinteressen: zudem in Zusammenarbeit mit dem HR und the- Geistesgeschichte, politische Theologie, Kritische matisiert die jüdisch-muslimischen Beziehungen. Politische Theorie und Begriffsgeschichte.

Benjamin Brown ist britisch- Hanno Hauenstein ist ein in deutscher Journalist und Student Berlin lebender Autor und Jour- der Politikwissenschaft, Volks- nalist. Er ist Gründer und Heraus- wirtschaftslehre und Geschichte. geber der deutsch-hebräischen Er arbeitete u.a. für die dpa, den Kunstzeitschriftaviv Magazine. Tagesspiegel, die ARD, die Israe- lische Nachrichtenagentur. Nach Abschluss seines Studiums an der Ludwig-Maximilians-Universi- tät München wird er an der University of Oxford einen MSc in „Modern Middle Eastern Studies“ absolvieren.

Steffi Hentschke ist freiberuf- Noa Rekanaty ist B.A.-Studen- liche Reporterin und berichtet tin an der Lauder School of Go- hauptsächlich über israelische vernment des IDC Herzliya. Sie Politik und Kultur für die Frank- ist überzeugte Aktivistin und furter Allgemeine Sonntagszei- setzt sich mittels verschiedener tung, Die Zeit / Zeit Online und sozialer Organisationen und Ar- GEO Reise. Sie hat einen Master of Arts in Politik- tikel für Israel ein. Sie plant, nach Erlangen des wissenschaft von der Universität Hamburg und Master- und Doktorgrads als Dozentin und Anwäl- einen Abschluss in Journalismus der Henri-Nan- tin an verschiedenen Institutionen zu arbeiten. nen-Schule. Derzeit lebt sie in Tel Aviv.

50 | IP Special • 2 / 2020 Kooperationspartner

Die Kooperationspartner

Die Stiftung Deutsch-Israelisches Zukunfts- Belgien stärkt ELNET den Dialog zwischen euro- forum richtet seit 2019 das Sylke-Tempel-Fel- päischen und israelischen Entscheidern in Politik, lowship-Programm mit Kooperationspartnern Wirtschaft und Gesellschaft. Dazu unterstützt die aus. Ihr Ziel ist es, Fach- und Führungskräfte aus Organisation bestehende Netzwerke und baut die- Deutschland und Israel zusammen zu bringen, die se durch strategische Dialogveranstaltungen und Verantwortung übernehmen und sich für die de- Delegationsreisen aus. mokratische Ausgestaltung unserer Gesellschaf- ten einsetzen. Das Forum unterstützt Multiplika- Die Internationale Politik (IP) ist Deutschlands tor*innen aus Deutschland und Israel und fördert führende außenpolitische Zeitschrift. Expert*in- bilaterale Projekte, die einen Beitrag zur nachhal- nen aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und tigen Gestaltung der Gegenwart und Zukunft der Medien schreiben u.a. in der Form von Analysen, deutsch-israelischen Beziehungen leisten. Essays, Interviews und Kommentaren über das breite Spektrum internationaler Beziehungen. Die Das American Jewish Committee (AJC) wurde IP wurde 1945 unter dem Namen Europa-­Archiv 1906 in New York von amerikanischen Juden vor- ­gegründet, sie erscheint in gedruckter Form wiegend deutscher Herkunft mit der Zielsetzung alle zwei Monate sowie online auf Deutsch und gegründet, jüdische Sicherheit zu gewähren und Englisch (Internationale Politik Quarterly). Her- Demokratie, Menschenrechte und Völkerverstän- ausgeber der IP ist die Deutsche Gesellschaft für digung weltweit zu fördern. Mehr als hundert Jah- Auswärtige Politik e.V. re lang hat das AJC Demokratie, Pluralismus und Menschenrechte gefördert. Den Visionen seiner Women in International Security (WIIS) e.V. Gründer folgend, setzt sich das AJC für ein gegen- ist ein gemeinnütziger Verein und ein Zusam- seitiges Verständnis von Nationen, Religionen und menschluss von Frauen, die sich in der Außen-, ethnischen Gruppen ein. Sicherheits- und Verteidigungspolitik engagieren. Ziel des Vereins ist eine größere Berücksichtigung ELNET Deutschland e.V. ist eine gemeinnützige weiblicher Interessen in der internationalen und und unabhängige Organisation mit dem Ziel, die nationalen Außen- und Sicherheitspolitik sowie deutsch-israelischen Beziehungen auf Grundla- eine stärkere Förderung und Vernetzung von Frau- ge gemeinsamer demokratischer Interessen und en, die in diesen Bereichen arbeiten. Hauptsitz Werte überparteilich zu fördern. Zusammen mit von WIIS ist Washington, D.C., international ist den Partnerbüros in Israel, Frankreich, Polen und der Verein mit 22 „National Chapters“ vertreten.

Das Sylke-Tempel-Fellowship-Programm 2020 steht unter der Schirmherrschaft von Sigmar Gabriel, Vorsitzender der Atlantik-Brücke e.V.

IP Special • 2 / 2020 | 51 Sylke-Tempel-Fellowship 2020

Dr. Sylke Tempel (1963–2017) war von 2008 an bis zu ihrem Tode Chefredakteurin der IP. Neben dem Fellowship, dessen Arbeiten des Jahrgangs 2020 diese Ausgabe versammelt, erinnert auch ein jährlich ausgelobter Essaypreis in ihrem Namen an Leben und Werk dieser herausragenden Journa- listin, Autorin, Publizistin und Mentorin. Sie fehlt.

52 | IP Special • 2 / 2020