Sonntag, 07.10.2018 SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Dorothea Bossert

Punkige Rigorosität Il Grosso Mogul Violin Concertos & Musica Alchimica Lina Tur Bonet PanClassics PC 10391 VÖ 7.9.2018

Eine Ohrenweide Russian Piano Sonatas Balakirev, Glazunov, Kosenko Vincenco Maltempo, Klavier Piano Classics PCL 10159 VÖ: 31.8.2018

Szenisches Hörerlebnis Schubert Wanderer Andrè Schuen Daniel Heide Avi music 8553373 VÖ 15.6.2018

Klangfarbenwunder The Complete String Quartets Vol I Cuarteto Casals Harmonia Mundi HMM 902400.02 VÖ 15.6.2018

Temperament vor Perfektion Joan Manuel Serrat Y El Siglo De Oro Cappella Mediterranea Leonardo Garcia Alarcon Alpha classics 412 VÖ: 5.10.2018

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Signet „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“ … … Jetzt immer am Sonntagmittag: neu erschienene CDs, ausgewählt und vorgestellt von der Redaktion SWR2 Musik. Mein Name ist Dorothea Bossert und das ist meine CD-Auswahl, die Sie in den kommenden 90 Minuten hier erwartet: Los geht es mit Alter Musik, mit der spanischen Geigerin Lina Tur Bonet, ihrem neu gegründeten, gleichfalls spanischen Barockorchester Musica Alchimica und ihrer rasanten Einspielung von Vivaldi-Violinkonzerten. Dann kommt der italienische Vincenco Maltempo mit Trouvaillen aus der Russischen Klaviermusik von Balakiriev, Glasunov und Kosenko. Danach habe ich hier berührend gute Schubert-Lieder über das Wandern von André Schuen, dem jungen Stern am Baritonhimmel, die ich Ihnen vorstellen möchte, er stammt aus den italienischen Dolomiten. Dann kommen wieder Spanier, das Casals-Quartett hat den ersten Teil seiner Gesamteinspielung aller Beethoven-Streichquartette vorgelegt – da werden wir ganz ausführlich hineinhören. Und zum Schluss gibt es noch einmal Spanier, Franzosen und Italiener gemeinsam: das Barockorchester Cappella Mediterranea mit einem Projekt, das Songs des katalanischen Liedermachers Joan Manuel Serrat mit Musik des spanischen Barock verbindet. Eine ziemlich mediterran geprägte Auswahl ist es also geworden, Sie haben es vielleicht gemerkt: Fast alle Interpreten sind Spanier oder Italiener! Das ist alles andere als selbstverständlich, denn beiden Ländern geht es wirtschaftlich nicht gut und dennoch kommt da neue Bewegung in die Musiklandschaft. Und hier kommt jetzt die erste CD:

Antonio Vivaldi: Violinkonzert D-Dur RV 208a "Il Grosso Mogul" 2’40

Lina Tur Bonet ist die Solistin dieser Aufnahme mit Violinkonzerten und Sonaten von Antonio Vivaldi. Als Konzertmeisterin leitet sie zugleich Ihr Ensemble, das Barockorchester Musica Alchimica. Diese Frau kann wirklich Geige spielen – aber, es wohnt auch ein gewisser Furor in dieser Aufnahme, Sie haben es eben gehört, in dem Kopfsatz des berühmten Violinkonzertes „Il grosso Mogul“, eine fast punkige Rigorosität, die neugierig macht. Wer ist diese Frau? Das Cover zeigt eine mädchenhaft zierliche junge Frau, in üppigem Barockkleid, ein Bein über das andere geschlagen, sodass das Kleid den Blick auf die groben Springerstiefel freigibt. Ein anderes Foto zeigt sie am Flipperautomat – flippig und jung also wirkt sie auf diesen Fotos. Ihre Biografie allerdings zeigt: Sie ist eine versierte, mit allen Wassern der alten Musik gewaschene Geigerin. Die Liste ihrer Lehrer und die der Dirigenten und Orchester, mit denen sie zusammengearbeitet hat, liest sich wie ein Who is Who der Alten Musik. Also wird sie schon eine gewisse Reife besitzen, um das Instrument so zu beherrschen und mit ihm Musik zu deuten, wie sie es tut.

Ihre Fans nennen sie „unseren spanischen Drachen“ – und wirklich, Sie haben es gehört, ihr Spiel ist nicht nur von den Engeln geküsst, auch einige Teufel wirken da mit, denn manchmal klingt ihr Spiel auch hart, schrill und knapp an den vorgeschriebenen Tonhöhen vorbei. Doch gerade das macht Ihr Spiel interessant. Ein mit viel Bogen erzeugter gerader Ton, dem auf seiner Fahrt entlang der Saite nur selten ein Vibrato hinzugesellt wird. Überhaupt: Frau Bonet arbeitet sehr stark mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten ihres Bogens und macht damit aus Vivaldi beinahe Rockmusik: laut, grell, ein bisschen schmutzig und sehr perkussiv- motorisch geht es da zu. Mir macht das großen Spaß, weil es Drive hat und weil das Hässliche, das Querständige mit Konsequenz und Sorgfalt herausgearbeitet wird. Musik muss Musik sein, ja, aber sie muss ja nicht unbedingt immer schön sein. Eine

2 temperamentvolle und sehr eigene Deutung des genialen Barockmeisters ist das, der in seiner Fähigkeit, gute Musik am Fließband zu produzieren, ja wirklich auch etwas von einer Pop-Ikone hat.

Hören wir noch in eine der Violinsonaten hinein, die zweite Grazer Sonate in h-Moll:

Antonio Vivaldi: Violinsonate Nr. 2 h-Moll RV 37 ”Grazer Sonate” 5’25

Der Seelenjubel ist geradezu vorprogrammiert, sobald Vivaldi mit seiner Musik Gas gibt. Das tut er genüsslich in seiner sogenannten Grazer Sonate Nummer 2 in h-Moll.

In den schnellen Sätzen wird das Ensemble Musica Alchemica zum Percussionsapparat. Barockcello, Kontrabass und Cembalo lassen den Beat ordentlich krachen und Lina Tur Bonet reisst die Saiten mit einem extrem kurzen Strich und jagt mit den Synkopen des zweiten Allegro-Satzes mit Vollgas durch die harmonischen Felder, als wäre es eine Verfolgungsjagd in einem Actionfilm. Im anschließenden Largo zieht die Geigerin dann das einfachste und zugleich schwierigste Mittel hervor: Sie spielt ohne Vibrato, nur gegen Ende des Satzes durch ein zartes Sul ponticello gestützt, Linien von Melodiefragmenten, denen sie keinerlei agogische Hervorhebung zur Stärkung der harmonischen Verrücktheiten beimischt. Ein Spiel, eiskalt klar und pur, ohne willkürlichen Eingriff in Vivaldis Diktion. Ein sehr frecher, um nicht zu sagen auf Krawall gebürsteter Vivaldi ist das, der voll unter Strom steht. Antonio Vivaldi, Il Grosso Mogul heißt die CD und erscheint dieser Tage bei Note 1.

Treffpunkt Klassik, heute mit neuen CDs. Jetzt geht es weiter mit Klaviermusik: Der dreiunddreißigjährige italienische Pianist Vincenzo Maltempo hat sich in einer neuen Edition einigen russischen Komponisten zugewandt, die zwar für die Musikgeschichte dieses Landes bedeutend sind, aber bisher so gut wie nicht ins pianistische Repertoire eingegangen sind.

Klaviersonaten von Mili Alexejewitsch Balakirev, und Viktor Kosenko, hat er ins Visier genommen, drei Komponisten, die im Zeitraum der späten Romantik bis hinein ins 20. Jahrhundert komponiert haben und hier und da auch bereits schon die ausgereizte Enharmonik mit dem Stachel der atonalen Möglichkeiten betäubt haben.

Am wenigsten vielleicht Balakirev. Seine 2. Klaviersonate op. 102, viersätzig, irgendwie konventionell. Aber sie hat aber dennoch etwas unkonventionelles: mit einer subtilen Leichtigkeit und Kammermusikalität schafft sie die sonst in russischer Klaviermusik obligate Vielfingerigkeit, also Klangdichte aus der Welt. Schon der Beginn des ersten Satzes verweist auf solche Art des bescheidenen zweihändigen Musizierens, das der italienische Pianist mit berührend unvirtuoser Perfektion und Klangschönheit zelebriert, als ströme aus Balakirevs Musik auch der Duft des impressionistischen Parfüms heraus. Zwar ist das beginnende Fugato alles andere als impressionistisch, aber die Art des Anschlagens verweist bereits auf das Danach. Denn da flirrt und rauscht, brilliert und zirpt das Instrument in allen Farben.

Mily Balakirev: Klaviersonate Nr. 2 b-Moll op. 102 6‘47

Vincento Maltempo beherrscht die Wechsel zwischen streng formaler Struktur und Farbenspiel auf wundersam schlichte, niemals pompöse Weise. Famos, wie er Balakirevs

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Entrücktheit pianistisch fasst. Die hochsensibel ausgehorchte, ganz natürliche Agogik, die singende, wie aus dem Mund geformten Melodien der rechten Hand und der perlende Anschlag sind sensationell perfekt und eine Ohrenweide.

Der 1898 in Peterburg geborene Komponist und Pianist Viktor Kosenko ist in Vincenzo Maltempos Edition der unbekannteste Russe. Er studierte bei Nicolai Sokolov, wurde schließlich Professor in Kiew und starb früh, mit 42 Jahren. Seine zweite Klaviersonate op. 14 erinnert insbesondere im dritten und letzten Satz Allegro vivo an die Musik Skriabins. Verdichtete harmonische Steigerungen heben hier momenthaft die Tonalität auf. In den Zwischenspielen gibt die Technik des Pedalisierens bitonale Momente frei. Wobei der Begriff „Zwischenspiel“ die komponierte Sache eigentlich eher verschleiert denn erhellt. Denn im Grunde ist der ganze Satz ein Zwischenspiel: ein improvisierendes Spiel mit harmonischen Radikalitäten und stoischen Blöcken, die wie Säulen dazwischen gestellt sind, um dem aufschäumenden Klangfluss Kontur zu verleihen.

Viktor Stepanowitsch Kosenko: Sonate für Klavier Nr. 2 cis-moll op. 14 6‘00

Treffpunkt Klassik, heute mit Dorothea Bossert und neuen CDs – was Sie gerade gehört haben war der Pianist Vincenzo Maltempo mit Viktor Kosenko, Klaviersonate Nr. 2, und daraus der Finalsatz „Allegro vivo“.

Vincenzo Maltempos Spiel wirkt kinderleicht. Alle technischen Schwierigkeiten werden durch seine Interpretation eliminiert. Trotz immenser Dichtegrade in den arpeggierenden Strukturen verklebt das Klangliche niemals die dramaturgischen Linien und musikalischen Entwicklungen. Alles bleibt durchscheinend und permäabel.

„Russian Piano Sonatas“ heißt diese CD von dem jungen italienischen Pianisten Vincenzo Maltempo mit Klaviersonaten von Mily Balakirev, Alexander Glazunov und Victor Kosenko. „Piano Classics“ heißt das Label, in dem diese CD erschienen ist, eine Linie des besser bekannten Labels Brilliant Classics.

Auch die nächste CD stammt von einem italienischen Künstler – obwohl es gar nicht so klingt: Kennen Sie ihn?

Franz Schubert: Wanderer an den Mond 2‘51

Das ist der junge Bariton André Schuen und wenn Sie ihn noch nicht kennen, dann lohnt es sich, ihm gut zuzuhören. Eine große und extrem wandlungsfähige Stimme, die über alles verfügt, was einen großen Liedsänger auszeichnet: Sie bleibt in der Tiefe schlank und konturiert mit einem Timbre, das von kraftvollem Metall bis zu sonorer basshaltiger Schwärze reicht. Auch in der Höhe kann Andrè Schuen seine Stimme scheinbar beliebig färben: tenorale Leuchtkraft oder eine entspannte, weiche Höhe, dazu kann er bruchlos die Kopfstimme in seinen warmen Körperklang beimischen, so dass er eine enorme Höhe mit großer Leichtigkeit erreicht. Dabei wirkt seine Interpretation völlig uneitel – man hat den Eindruck, dass es diesem jungen Mann nie um seine Stimme geht. Die expressive Vielfalt, die ein Lied wie Schuberts „Totengräbers Heimweh“ verlangt, macht er – fast ohne Aufwand, zu einem geradezu szenischen Hörerlebnis. Momente großer Oper wechseln da mit intimsten inneren

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Monologen. Mit vollem Risiko musiziert er, ohne Rücksicht darauf, ob alles immer schön oder perfekt klingt. Dabei wird es aber gerade dadurch so gut, weil man den Eindruck hat, dass hier ein Mensch mit all seiner Authentizität anderen etwas mitteilen will.

Franz Schubert: Totengräbers Heimweh 7‘45

Dieser Sänger wird in der Oper seinen Weg machen - das kann man auf dieser CD mit Schubert-Liedern ohne Zweifel erkennen. Aber welche Qualitäten er als Liedsänger hat, das kann man vor allem in den schlichten Schubert-Liedern berührend erleben, wo Andrè Schuen mit winzigen Nuancen seiner Stimme, mit einer winzigen Dehnung, einem vibratolos angesetzten Phrase, einem um eine Winzigkeit durch die Lagen gezogenen Legato oder seinem dem Stimmklang beigemischten Atem diese Musik gestaltet. Dieser junge Sänger versteht Schuberts Lieder wie eine Muttersprache. Bariton Andrè Schuen stammt aus dem ladinischen La Val (Südtirol, Italien) und wuchs dort dreisprachig auf – ladinisch, italienisch und deutsch.

Diese Vielseitigkeit spiegelt auch sein Gesangsrepertoire. Obwohl lange Jahre das Cello sein Hauptinstrument war, entschied er sich für ein Gesangsstudium an der Universität Mozarteum Salzburg. Den Ausschlag, Gesang statt Cello zu studieren hatten übrigens Schuberts Lieder gespielt, wie er erzählt, seine Schwester hatte ihm einen Band geschenkt. Und so machte er, fast ohne Vorkenntnisse eine Aufnahmeprüfung als Sänger am Mozarteum, wo man sein Potenziel zum Glück erkannte. Horiana Branisteanu sowie Wolfgang Holzmair waren seine Lehrer. Noch während des Studiums trat er bei den Salzburger Festpielen auf – 2010 machte er sein Diplom. Dann einige Jahre bei kleinen Bühnen und dann nahm seine Karriere fahrt auf. Längst konzertiert er mit den großen Namen, Ricardo Muti, Simon Rattle, Philippe Herreweghe und ist mit viel Mozart, aber auch mit Puccini, Strawinsky oder Luigi Nonos Musik auf internationalen Opernbühnen unterwegs. Ohne Eile, ohne Ehrgeiz, aber mit Neugier und großem Interesse, wie seine Agentin erzählt. Und jetzt also Schubert.

„Der Wanderer“ nennt Andrè Schuen seine CD, die er zusammen mit Daniel Heide als Pianist aufgenommen hat. Eine klug zusammengestellte Aufnahme: das „Wandern“ als Fernweh, als Heimweh, als Gang zum Liebchen aber auch als philosophische Betrachtung über das Leben als Reise ins Jenseits. Vielschichtig ist das und gegenwärtig. Man merkt in dieser Aufnahme, dass Andrè Schuen, der aus einem Tal hoch in den Dolomiten stammt, weiß, was Stille und Einsamkeit bedeuten, welche Kraft, aber auch welche Abgründe darin liegen. Und der Pianist Daniel Heide ist ihm ein fantastischer Begleiter: klug, sensibel und in jeder Hinsicht groß ist sein Klavierspiel, auch er musiziert rückhaltlos authentisch, frei von jeder Eitelkeit und versteht es, die Schlichtheit von Schuberts Musik so zu gestalten, dass sie unmittelbar zum Zuhörer zu sprechen vermag.

Franz Schubert: Der Wanderer D649 3‘53

Andrè Schuen und Daniel Heide mit Schuberts „Wanderer“ – und so heißt auch die CD mit Schubert Liedern. Bei Avi Records erscheint diese CD.

Schuberts Lieder sind wohl für jeden Sänger die Königsdisziplin – mit ihnen fängt er an und mit ihnen wird er niemals fertig. – Das Pendant für Streichquartette sind da wohl Beethovens 5

Quartette. Das Casals-Quartett hat jetzt den ersten Teil seiner Gesamteinspielung aller Beethoven-Quartette herausgegeben. Drei CDs, auf denen sie die frühen Quartette op. 18 mit den mittleren op. 59 und den späten op. 127 und op. 135 konfrontieren. Eine Reifeprüfung. Doch der Reihe nach:

Irgendwann fängt jede Streichquartettformation - ob als Laienensemble oder als professionell ambitionierte Truppe - mit Beethovens F-Dur Quartett op. 18 Nr. 1 an. Natürlich erst einmal in einem die Sechzehntelläufe beherrschenden Tempo, also ziemlich langsam. Aber dieses strukturelle Laufwerk ist ja nicht die einzige Schwierigkeit an Beethovens Quartetterstling. Der Klangraum ist oftmals weit auseinandergerissen, die erste Violine sehr hoch und die anderen drei Instrumente verteilt im Tonraum, das Cello weit unten. Das klingt meist nicht so recht, denn solche Klänge sind sehr schwer in einen warmen, homogenen Klang umzusetzen. Oder aber, man geht einen ganz anderen Weg und riskiert, was Beethoven auch riskiert hat: einen kantigen, unsympathischen Ton. Dazu bedarf es aber eines großen Könnens, um solche Schärfe interpretatorisch logisch werden zu lassen. Das Casals- Quartett kann das. Und wie! Vorzüglich hörbar ist das im ersten Satz von Opus 18/1. Aber nicht weniger hinreißend und, mit dem Wissen um das Spätwerk des Wahlwieners Beethoven, von geradezu erschütternder Tiefe im zweiten Satz; was für ein satztechnisches Wunder, dieser Satz, der mit all seinen Bausteinen schon auf alles Kommende vorausweist, das Beethoven für diese Gattung in petto hat.

Ludwig van Beethoven: Streichquartett Nr. 1 F-Dur op. 18, 2. Satz 8‘30

Was macht das Casals-Quartett aus diesem Adagio affettuoso appassionato, wenn es denn den Titel des Satzes bedingungslos ernst nimmt: zärtlich leidenschaftlich: Welch ein Kontrast! Und genau darauf setzt das Quartett. Grandiose Intonation, satte, warme Akkorde, riskante Tongebung, präzise Deutung aller dynamischen Zeichen, die Beethoven den Noten eingeschrieben hat. Und ein dem 21. Jahrhundert gemäßes Begreifen von Tempo und agogischer Freiheit, in der eigenes Interpretieren zum Dienen an der Sache wird.

Weils so beeindruckend war, noch den dritten Satz aus diesem Erstlingswerk, das Scherzo, ein Allegro molto, natürlich im Dreivierteltakt. Aber was für ein Dreivierteltakt! Ich habe diesen Satz zuvor noch nie so schnell gehört. Das tut dem umrahmenden Allegro molto vor allem dann gut, wenn die Sforzati nicht auf der betonten Note gesetzt sind, sondern synkopische Effekte das Dreiergefüge aus den Schienen werfen. Aber das rasante Tempo ist EREIGNIS für das Trio. Welch tollkühne Idee, diesen Zwischenteil fast noch schneller zu nehmen! Die rasenden Achtelligaturen der ersten Violine, manchmal nahe am Steg, darunter die drei Akkordmacher mit satt-warmem, ja fast unheimlichen Klangband.

Ludwig van Beethoven: Streichquartett Nr. 1 F-Dur op. 18, 3. Satz 3‘04

Natürlich ist es gewagt, zu behaupten, es hänge allein von der konsequenten Interpretation ab, inwieweit auch ein Quartett der ersten sechs Opus 18er von Ludwig van Beethovens zur gleichen Zeit wie meinetwegen op. 127 auch hätte geschrieben sein können. Aber hier klingt es so. Und manchmal ist tatsächlich im Frühwerk Beethovens alles vom Spätwerk schon gesagt. Natürlich irgendwie anders, vielleicht noch nicht so ausgereift und entgrenzt, noch nicht ganz so frei und ganz so erbarmungslos….

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Jetzt einen Sprung vom Jahr 1799 ins Jahr 1826, in den Sommer, in dem Ludwig van Beethoven sein letztes Quartett komponiert hat, das F-Dur Quartett op. 135. Hier hat er noch einmal alle Strategien der klassischen Ideale erprobt, vereinigt und mit einer kaum begreifbaren Metierbeherrschung vollendet. Auch hier ist das Scherzo – in diesem Fall nur mit „Vivace“ übertitelt – durch das Casals-Quartett bestechend gut interpretiert.

Das wohl längste, ausnotierte Scherzo Beethovens sieht in den Viertelnoten und im Vierachtelmotiv grenzenlos schlicht aus. Aber schon gleich zu Beginn wird durch synkopische Überbindungen aller vier Instrumente das Dreiersystem zerstört. Und wenn dann das Violoncello seinen Orgelpunkt gegen die drei anderen über ihm turnenden Instrumente im Dreiertakt stellt, dann bricht alles Konventionelle in sich zusammen. Das muss man spielen können. Beethoven riskiert hier quasi einen „Schubert-Trick“: Er erzählt das Gesagte permanent und immer wieder von Neuem. In diesem Insistieren erfährt das Klangliche eine Schrecklichkeit, ein Sirren durch die dahinjagenden Instrumente. Und das Casals-Quartett kostet diese kompositorische Redundanz so weit aus, dass sich die Wiederholung löscht und man staunend einem Klangfarbenwunder zuhört.

Ludwig van Beethoven: Streichquartett Nr. 16 F-Dur op. 135, 2. Satz 3‘12

Und vielleicht noch zum Schluss dieses Höreindrucks aus der neuen Beethoven-Edition des Casals Quartetts noch den langsamen Satz aus dem gleichen Quartett op. 135: das Lento assai, andante e tranquillo.

Man bleibt nach dem zerhackten Dreier des Scherzos auch hier in einem Dreiergefüge. Obschon ein Sechsachteltakt, der eigentlich einen Zweiertakt suggeriert, ist alles auf dieses Spiel mit aufeinanderfolgenden Dreiernoten fixiert. Wie wunderbar das Casals-Quartett dieses Dreierpulsieren auch schon in den Anfangsligaturen durchschimmern lässt! Das ist nicht nur sinnvoll, sondern auch strukturell dem Ganzen abgelauscht. Das sotto voce wird durch ein breites Vibrato gestützt. Die Momente, in welchen dieses Wärmende entfällt, gehören zu den faszinierenden Möglichkeiten des Casals-Quartett. Klangkultur im wahrsten Sinne des Wortes, denn auch Beethoven wusste sehr genau, dass ein Des-Dur bei den Streichern nur durch Bogentechnik zu Glanz werden kann, schwingen ja die leeren Saiten leider durchweg nicht mit. Hier in dieser Interpretation ist das ganz großartig gestaltet:

Ludwig van Beethoven: Streichquartett Nr. 16 F-Dur op. 135, 3. Satz 6‘28

Das Casals Quartett mit Vera Martinez-Mehner, Abel Tomàs Realp Violinen, Jonathan Brown, Viola und Arnau Tomás Realp, Violoncello und dem ersten Teil ihrer Gesamteinspielung aller Beethoven-Quartette. Eine heiße Empfehlung von meiner Seite! Bei harmonia mundi erscheint diese Edition und umfasst drei CDs.

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Sie hören Treffpunkt Klassik, heute mit Dorothea Bossert und neuen CDs.

Von Beethovens Streichquartetten zu unserer nächsten CD ist es ein großer Sprung – oder vielleicht auch nicht: Denn auch sie stammt aus Spanien, wie zwei der vier Mitglieder des Casals Quartetts – Spanien hat lange Jahre in unserer mitteleuropäischen Musikszene nur eine sehr untergeordnete Rolle spielte. Das ändert sich gerade. Das Casals-Quartett ist ein Beispiel, das kürzlich gegründete Barockorchester von Lina del Tur Bonet, bei dem die überall in Europa als freie Musiker verstreuten spanischen Barockmusiker plötzlich als spanisches Ensemble auftreten, ein anderes.

Auch die Cappella Mediterranea von Manuel Garcia Alarcon ist eine relativ junge Stimme, sie vereint Spanier, Franzosen und Italiener. 2005 wurde sie gegründet, von ihrem Leiter, dem gebürtigen Argentinier Manuel Garcia Alarcon. In Genua hat er Cembalo studiert, hat dort seit Jahren schon eine Professur und leitet das Ressort Alte Musik am Conservatorium. Zugleich ist er Ensembleleiter in Namur und ein Aktivist der Alten Musik. Tatsächlich hat er das nahezu unmögliche geschafft und ein Ensemble gegründet, das sowohl von Frankreich als auch vom Italienischen Staat Mittel erhält, hat private Sponsoren gefunden, die sein mutiges und inzwischen seit vielen Jahren fruchtbares Unterfangen unterstützen: Ein multinationales Ensemble, das sich auf Musik aus dem Mittelmeerraum spezialisiert hat.

Denn was man in der Rückschau in unserer auf Mitteleuropa fokussierten Musikgeschichte immer leicht vergisst: In Mittelalter, in Renaissance und Barock waren Italien, Spanien Frankreich und sogar der arabische Raum ein gemeinsamer Kulturraum - im Madrigal, in polyphonen Motetten, in Opern und Instrumentalmusik spiegelt sich das wider und hat sogar gemeinsame Wurzeln mit der Volksmusik dieser Länder, die bis heute lebendig sind – und das zeigen die Musiker der Musica Mediterranea in ihren kreativen Konzertprogrammen und Konzept CDs: Grenzüberschreitungen zwischen Unterhaltungs- und sogenannter Ernster Musik sind das, mal zwischen Arabischem und Europäischem Raum, mal zwischen Alter Musik und sehr gegenwärtig wirkendem Folk - und das macht einfach Spaß:

Joan Manuel Serrat: Romance de Curro “El Palmo“ 2’00

Vielleicht kennen Sie den Song, die „Romance de curro “el Palmo“ von Joan Manuel Serrat, hier ist sie arrangiert für ein Barockorchester. Dem Liedermacher Joan Manuel Serrat ist nämlich diese jüngste CD des Barockorchesters Cappella Mediteranea gewidmet. Eigentlich war er Spanier, Katalane und floh in der Zeit von Frankos Diktatur nach Mexiko. Er wurde dort zum Star, zu der Stimme, die Spanier und Südamerikaner vereinte, zur „Stimme ihres Herzens.“

Auf der CD der Cappella Mediterranea mischen sich die Songs von Joan Manuel Serrat mit Barockmusik, genauer gesagt mit nachempfundener Neo-Barockmusik – aber auch mit Originalen aus dem 17. Jahrhundert. Die Grenzen sind ziemlich fließend – hört man die CD im Zusammenhang, wird es schon nach kurzem unerheblich, ob die Musik aus dem 17. oder dem 20. Jahrhundert stammt. Einen großen Anteil daran haben die Sänger, die in ihrer Stimmgebung und in ihrem Umgang mit dem Notentext die Alte Musik so singen, als sei es katalonischer Canto - gekonnt und virtuos aber mit einer Musizierhaltung, die Temperament vor Perfektion und Leidenschaft vor Schönheit den Vorzug gibt.

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Francisco Valls: Esta Vez, Cupidillo 2‘03

Ein völlig anderer Charakter wird dabei in der Barockmusik hörbar, zum Beispiel in diesem Madrigal von Francesco Valls, einem heute vergessenen Barockkomponisten, der seinerzeit in Katalonien eine Berühmtheit war. „De Vez en Cuando la Vida“ heißt die CD, eine draufgängerische Mischung aus Barockmusik und Canto, ein Portrait des spanisch- südamerikanischem Liedermachers Joan Manuel Serrat von Leonardo Garcia Alarcon und seinem Barockorchester Cappella Mediterranea. Bei alpha Classics ist diese CD erschienen.

Und das wars auch schon für heute mit Treffpunkt Klassik, neue CDs. Sie hörten heute neue Aufnahmen von Vivaldis Violinkonzerten mit der spanischen Geigerin Lina Tur Bonet und ihrem Barockorchester, Russische Klaviermusik von Balakiriev, Glazunov und Kosenko mit dem italienischen Pianisten Vincenco Maltempo, dann Schubert-Lieder mit dem italienischen Bariton Andrè Schuen, den ersten Teil der Gesamteinspielung aller Beethoven Streichquartette mit dem spanischen Quarteto Casals und zum Schluss die Cappella Mediterranea mit ihrem Portrait des spanischen Liedermachers Joan Manuel Serrat – arrangiert für Stimmen und Barockorchester. Wie immer finden Sie auf SWR2.de unter dem Stichwort Treffpunkt Klassik die Liste der besprochenen CDs mit allen Plattennummern. Mein Name ist Dorothea Bossert und ich übergebe jetzt an die Programmtipps und die Nachrichten.

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