07-18 ZR Tankstelle
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Tankstelle | Zeitreisen | Deutschlandradio Kultur | 2012 Seite 1 von 15 COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Zeitreisen 18. Juli 2012 Als der Benzinkanister über den Tresen gereicht wurde Die Erfindung der Tankstelle Von Bernd Polster (Sprecher 1: Erzähler / Sprecher 2: Zitator Musik 1 Paris, Texas (Ry Coder) Sprecher 1 Sommer 1980, irgendwo in der Mojave-Wüste. Die Luft flirrt. Eine gute Fahrstunde von Los Angeles entfernt nimmt ein Projekt Gestalt an, von dem nur wenige Eingeweihte wissen. Die Straße, die hierher in die Ödnis führt, wurde nur zu diesem Zweck angelegt. Und sie ist hier zu Ende. Konstruktionspläne liegen auf verdorrtem Wüstengras. Sonnenbrillenträger beugen sich darüber. Hinter ihnen ragt ein halbfertiges Gerüst in den blauen kalifornischen Himmel. Wir befinden uns auf „Ground Zero“ der Benzingeschichte: In der Wüste entsteht, im Maßstab 1:1, der erste Tankstellenprototyp der Welt. Musik 1 Paris, Texas (Ry Coder) Sprecher 1 Im Sommer 1980 ist der Rohbau fertig, besser zwei Rohbauten: Vorn ein flaches Dach in etwa so groß wie ein Tennisplatz, das auf sechs haushohen, schmalen Pfeilern aufliegt. Dahinter ein Flachbau in Kistenform. Noch fehlt der Anstrich. So ist zu erkennen, worum es sich handelt: eine Attrappe. Die Tankstelle, die hier auf Wüstensand Bernd Polster | Publizist | Endenicher Straße 300 | 53121 Bonn Tankstelle | Zeitreisen | Deutschlandradio Kultur | 2012 Seite 2 von 15 steht, hat weder Tank noch Zapfpistole. Auch kein Benzin. Denn die Station besteht nur aus Pfosten und Brettern. Es ist ein Provisorium auf Zeit, wie die Filmkulissen in Hollywood. O-Ton 1 " It's a Mad, Mad, Mad World (Film-Szene) Sprecher 1 Hier gibt es ordentlich Prügel. In dem Film "It's a Mad, Mad, Mad World“ , einer Hollywoodkomödie von 1962, jagt ein Haufen durchgedrehter Autofahrer einem Batzen Dollars hinterher. An einer einsamen Tankstelle am Highway kommt es zum handfesten Schlagabtausch, zwei tapfere Tankwarte gegen einen der gierigen Geldjäger. Dem hält die kleine Station nicht stand. Zuerst geht die Tanksäule klirrend zu Bruch. Dann wird die Einrichtung demoliert. Bis schließlich die ganze Tankstelle samt Toiletten wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt. O-Ton 1 "It's a Mad, Mad, Mad World“ (Film-Szene) Sprecher 1 "It's a Mad, Mad, Mad World“. Die Zerstörungsszene zeigt, worum es sich bei der ruinierten Station handelte. Eine wacklige Bude, die man schnell überall errichten, aber auch ruckzuck auf die eine oder andere Weise wieder abreißen kann. Hier offenbart die Tankstelle, wo ihre Ursprünge liegen: im Holzschuppen made in USA. Man könnte auch sagen: in Uncle Sam's Hütte. Musik 2 Washington Post March (Sousa) Sprecher 2 „Da zeigt sich die kolossale ökonomische Überlegenheit durch die modernen großkapitalistischen Einrichtungen, durch die Tanks in den Häfen, die Tankschiffe und Tankwagen, durch die ganze vollendete Bernd Polster | Publizist | Endenicher Straße 300 | 53121 Bonn Tankstelle | Zeitreisen | Deutschlandradio Kultur | 2012 Seite 3 von 15 Organisation durch das ganze Reich hindurch.““ Sprecher 1 1897 schwärmte ein Reichstagsabgeordneter der SPD von der amerikanischen Standard Oil Company, später „Esso“, inzwischen „Exxon“ und heute wie damals der größte Ölkonzern der Welt. Der brachte Ende des 19. Jahrhunderts den internationalen Petroleummarkt unter seine Kontrolle. Die tragbaren Blechkanister von „Standard“, in die man später auch das Benzin füllte, wurden zum ersten globalen Produkt. Ob in China oder Mecklenburg, überall in den Vorstädten gab es nun Lagerschuppen, in denen sich die Ölkanister stapelten. Musik 2 Washington Post March (Sousa) Sprecher 1 Um 1900 verdrängte elektrisches Licht die Petroleumlampe. Benzin, bis dahin Nebenprodukt, wurde zum Hauptgeschäft der Ölindustrie… Atmo Motorengeräusch eines Autos aus alten Zeiten (aus dem Geräuscharchiv, unter Text aufblenden) Sprecher …zuerst in Amerika, wo das Automobil bald zum Massenvehikel wurde. Tankstellen gab es natürlich noch nicht. Die mussten erst noch erfunden werden. Der Standard-Oil-Konzern, der den Petrolium-Markt beherrschte, dachte jedoch nicht daran, seine Lagerschuppen aufzugeben. Eine Chance für kleinere Konkurrenten. Bereits 1905 meldete die eben gegründete Branchenzeitung eine Neuheit: die Einführung eines „Direktvertriebs“. Sprecher 2 „Die Firma hat auf einem Grundstück Schlacke gestreut und eine Zufahrt zur Straße geschaffen. Hinter dem Büro sind vier zwei Meter Bernd Polster | Publizist | Endenicher Straße 300 | 53121 Bonn Tankstelle | Zeitreisen | Deutschlandradio Kultur | 2012 Seite 4 von 15 hohe Tanks aufgebaut. In jedem Tank ist Benzin anderer Qualität. Das ist ein neuer Weg, den Autobenzin-Handel direkt zu vollziehen.“ Musikeinblendung Ragtime Sprecher 1 Benzin ab Tanklager. Auf diese Weise war der Vertrieb erstmals physisch mit dem Auto kurzgeschlossen. Es wurde also gezapft, mit Schlauch und zur Sicherheit auch mit Trichter. Eines der nächsten Experimente in dieser Frühgeschichte der Tankstelle war die Durchfahrtslösung: die Benzinhütte als „Drive-Through“. Also ein Schuppen mit zwei Toren: Man fuhr vorne hinein, kaufte drinnen seine Kanister und kam hinten wieder heraus. Aussteigen unnötig. Das bequeme „Drive-through“, von denen es bereits Ketten gab, erinnert nicht zufällig an Autowaschanlagen. Die Tankstelle als Konsummaschine nahm jenseits des Atlantiks Gestalt an. Musik 3 Ragtime (zeitgenössisch) Sprecher 1 Die „American Bar“, der Tresen, an dem man sich einen Gin oder Whisky reichen lässt, ist auch eine Erfindung aus der Frühzeit der USA. Was lag näher, als sie auf die Boys in ihren Autos zu übertragen? Tatsächlich konnte man sich den Treibstoff bald an einer Benzin-Bar besorgen. Dabei handelte es sich wieder um einen Holzschuppen. Aber der war nun an einer Längsseite offen und hatte dort einen Tresen. Wie die Bar im Saloon. Dieser Tresen reichte über die gesamte Breite des Schuppens. sodass zwei Ford-T-Modelle gleichzeitig bedient werden konnten. Unter dem Vordach rollten die Autofahrer regengeschützt an die Benzin-Bar heran. Der Barmann trug ein blütenweißes Hemd, hatte einen Strohhut auf dem Kopf und schob ziemlich lässig die Kanister rüber. Der Benzin-Barmann war Bernd Polster | Publizist | Endenicher Straße 300 | 53121 Bonn Tankstelle | Zeitreisen | Deutschlandradio Kultur | 2012 Seite 5 von 15 der Urvater des Tankwarts. Musik 3 Ragtime (zeitgenössisch) Sprecher 1 So behelfsmäßig die Verkaufsstätten der Bretter- und Dachpappenära auch auf alten Fotografien wirken: Es steckte Fortschritt darin. Die Benzin-Bar mit Vordach, eingeführt um 1910, war ein Archetyp. Ein Neandertaler der Tankstellen-Evolution. „Central Oil and Gasoline Station“ war am Dachfirst zu lesen. Eine „Gas Station“ in Rohform. Doch irgendetwas fehlte noch. Ausgerechnet an der Benzin-Bar, wo man ja noch Kanister gegen Dollar tauschte, wurde gar nicht gezapft. Sprecher 2 „Mehrmals wurden halbvolle Kanister geliefert und schließlich kriegte ich einen, der ganz leer war.“ Sprecher 1 Ein amerikanischer Autofahrer beschwerte sich stellvertretend für den Rest der ziemlich misstrauischen Kundschaft. Und das Fachblatt des Benzinhandels informierte fachmännisch: Sprecher 2 „Zehn Prozent ist, vorsichtig geschätzt, der Verlust des Motoristen, der einfach auf den Umgang mit Benzinkanistern zurückzuführen ist.“ Sprecher 1 Je mehr gefahren wurde, desto unpraktischer die Kanister. Bald gab es in Amerika spezielle Benzinpumpen. Der Tank kam nun, wegen der Sicherheit, aber auch aus Platzgründen, unter die Erde. Erst jetzt, wo das Treibstoffreservoir unsichtbar im Boden schlummerte und die Pumpe allzeit bereit stand, konnte von „tanken“ überhaupt die Rede sein. „Tanken“ steht für Verfügbarkeit: sofort, immer und überall. In Amerika war die Benzinpumpe deshalb von Anfang an ein Bernd Polster | Publizist | Endenicher Straße 300 | 53121 Bonn Tankstelle | Zeitreisen | Deutschlandradio Kultur | 2012 Seite 6 von 15 Symbol der Freiheit. Oder anders gesagt: Wo eine Tanksäule stand, da war Amerika. Musik 4 weiblicher Jazzgesang (zeitgenössisch) Sprecher 1 Vor hundert Jahren nahm die Tankstelle, wie wir sie heute kennen und kaum mehr beachten, in Amerika langsam Gestalt an. 1912 eröffnete in New Orleans eine Hinterhofstation mit einer nie dagewesenen Ausstattung. An sage und schreibe 13 Benzinpumpen konnten hier ebenso viele Kunden gleichzeitig bedient werden. 13 Zapfstellen, das war sensationell, aber noch nicht alles. Es gab auch eine Damentoilette und eine junge Frau, die den Wartenden kühles Wasser reichte. Der „Service“ war erfunden und gab der Konsummaschine einen menschlichen Touch. Musik 4 weiblicher Jazzgesang (zeitgenössisch) Sprecher 1 Als 1913 in Pittsburgh, Pennsylvania, an einer großen Ausfallstraße zuerst gebuddelt und dann ein sechseckiger Bau errichtet wurde, wusste anfangs niemand recht, was das werden sollte. Dann wurde der Schriftzug „Good Gulf Gasoline“ angebracht. Das Hexagon mit dem merkwürdigen Pilzdach war eine „Gas Station“, eine Tankstelle. Und das Wichtigste: Sie versteckte sich nicht mehr auf einem Hinterhof, sondern hatte eine direkte Zufahrt von einer öffentlichen Straße. Als Station an der Bordsteinkante wurde die Tankstelle gesellschaftsfähig. Uncle Sam's Hütte war nun Teil des Stadtbildes. Und das Schmuddelkind musste sich anpassen. Musik