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Zeitreisen 18. Juli 2012

Als der Benzinkanister über den Tresen gereicht wurde Die Erfindung der Tankstelle Von Bernd Polster

(Sprecher 1: Erzähler / Sprecher 2: Zitator

Musik 1 Paris, Texas (Ry Coder)

Sprecher 1 Sommer 1980, irgendwo in der Mojave-Wüste. Die Luft flirrt. Eine gute Fahrstunde von Los Angeles entfernt nimmt ein Projekt Gestalt an, von dem nur wenige Eingeweihte wissen. Die Straße, die hierher in die Ödnis führt, wurde nur zu diesem Zweck angelegt. Und sie ist hier zu Ende. Konstruktionspläne liegen auf verdorrtem Wüstengras. Sonnenbrillenträger beugen sich darüber. Hinter ihnen ragt ein halbfertiges Gerüst in den blauen kalifornischen Himmel. Wir befinden uns auf „Ground Zero“ der Benzingeschichte: In der Wüste entsteht, im Maßstab 1:1, der erste Tankstellenprototyp der Welt.

Musik 1 Paris, Texas (Ry Coder)

Sprecher 1 Im Sommer 1980 ist der Rohbau fertig, besser zwei Rohbauten: Vorn ein flaches Dach in etwa so groß wie ein Tennisplatz, das auf sechs haushohen, schmalen Pfeilern aufliegt. Dahinter ein Flachbau in Kistenform. Noch fehlt der Anstrich. So ist zu erkennen, worum es sich handelt: eine Attrappe. Die Tankstelle, die hier auf Wüstensand

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steht, hat weder Tank noch Zapfpistole. Auch kein Benzin. Denn die Station besteht nur aus Pfosten und Brettern. Es ist ein Provisorium auf Zeit, wie die Filmkulissen in Hollywood.

O-Ton 1 " It's a Mad, Mad, Mad World (Film-Szene)

Sprecher 1 Hier gibt es ordentlich Prügel. In dem Film "It's a Mad, Mad, Mad World“ , einer Hollywoodkomödie von 1962, jagt ein Haufen durchgedrehter Autofahrer einem Batzen Dollars hinterher. An einer einsamen Tankstelle am Highway kommt es zum handfesten Schlagabtausch, zwei tapfere Tankwarte gegen einen der gierigen Geldjäger. Dem hält die kleine Station nicht stand. Zuerst geht die Tanksäule klirrend zu Bruch. Dann wird die Einrichtung demoliert. Bis schließlich die ganze Tankstelle samt Toiletten wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt.

O-Ton 1 "It's a Mad, Mad, Mad World“ (Film-Szene)

Sprecher 1 "It's a Mad, Mad, Mad World“. Die Zerstörungsszene zeigt, worum es sich bei der ruinierten Station handelte. Eine wacklige Bude, die man schnell überall errichten, aber auch ruckzuck auf die eine oder andere Weise wieder abreißen kann. Hier offenbart die Tankstelle, wo ihre Ursprünge liegen: im Holzschuppen made in USA. Man könnte auch sagen: in Uncle Sam's Hütte.

Musik 2 Washington Post March (Sousa)

Sprecher 2 „Da zeigt sich die kolossale ökonomische Überlegenheit durch die modernen großkapitalistischen Einrichtungen, durch die Tanks in den Häfen, die Tankschiffe und Tankwagen, durch die ganze vollendete

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Organisation durch das ganze Reich hindurch.““

Sprecher 1 1897 schwärmte ein Reichstagsabgeordneter der SPD von der amerikanischen Standard Oil Company, später „Esso“, inzwischen „Exxon“ und heute wie damals der größte Ölkonzern der Welt. Der brachte Ende des 19. Jahrhunderts den internationalen Petroleummarkt unter seine Kontrolle. Die tragbaren Blechkanister von „Standard“, in die man später auch das Benzin füllte, wurden zum ersten globalen Produkt. Ob in China oder Mecklenburg, überall in den Vorstädten gab es nun Lagerschuppen, in denen sich die Ölkanister stapelten.

Musik 2 Washington Post March (Sousa)

Sprecher 1 Um 1900 verdrängte elektrisches Licht die Petroleumlampe. Benzin, bis dahin Nebenprodukt, wurde zum Hauptgeschäft der Ölindustrie…

Atmo Motorengeräusch eines Autos aus alten Zeiten (aus dem Geräuscharchiv, unter Text aufblenden)

Sprecher …zuerst in Amerika, wo das Automobil bald zum Massenvehikel wurde. Tankstellen gab es natürlich noch nicht. Die mussten erst noch erfunden werden. Der Standard-Oil-Konzern, der den Petrolium-Markt beherrschte, dachte jedoch nicht daran, seine Lagerschuppen aufzugeben. Eine Chance für kleinere Konkurrenten. Bereits 1905 meldete die eben gegründete Branchenzeitung eine Neuheit: die Einführung eines „Direktvertriebs“.

Sprecher 2 „Die Firma hat auf einem Grundstück Schlacke gestreut und eine Zufahrt zur Straße geschaffen. Hinter dem Büro sind vier zwei Meter

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hohe Tanks aufgebaut. In jedem Tank ist Benzin anderer Qualität. Das ist ein neuer Weg, den Autobenzin-Handel direkt zu vollziehen.“

Musikeinblendung Ragtime

Sprecher 1 Benzin ab Tanklager. Auf diese Weise war der Vertrieb erstmals physisch mit dem Auto kurzgeschlossen. Es wurde also gezapft, mit Schlauch und zur Sicherheit auch mit Trichter. Eines der nächsten Experimente in dieser Frühgeschichte der Tankstelle war die Durchfahrtslösung: die Benzinhütte als „Drive-Through“. Also ein Schuppen mit zwei Toren: Man fuhr vorne hinein, kaufte drinnen seine Kanister und kam hinten wieder heraus. Aussteigen unnötig. Das bequeme „Drive-through“, von denen es bereits Ketten gab, erinnert nicht zufällig an Autowaschanlagen. Die Tankstelle als Konsummaschine nahm jenseits des Atlantiks Gestalt an.

Musik 3 Ragtime (zeitgenössisch)

Sprecher 1 Die „American Bar“, der Tresen, an dem man sich einen Gin oder Whisky reichen lässt, ist auch eine Erfindung aus der Frühzeit der USA. Was lag näher, als sie auf die Boys in ihren Autos zu übertragen? Tatsächlich konnte man sich den Treibstoff bald an einer Benzin-Bar besorgen. Dabei handelte es sich wieder um einen Holzschuppen. Aber der war nun an einer Längsseite offen und hatte dort einen Tresen. Wie die Bar im Saloon. Dieser Tresen reichte über die gesamte Breite des Schuppens. sodass zwei Ford-T-Modelle gleichzeitig bedient werden konnten. Unter dem Vordach rollten die Autofahrer regengeschützt an die Benzin-Bar heran. Der Barmann trug ein blütenweißes Hemd, hatte einen Strohhut auf dem Kopf und schob ziemlich lässig die Kanister rüber. Der Benzin-Barmann war

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der Urvater des Tankwarts.

Musik 3 Ragtime (zeitgenössisch)

Sprecher 1 So behelfsmäßig die Verkaufsstätten der Bretter- und Dachpappenära auch auf alten Fotografien wirken: Es steckte Fortschritt darin. Die Benzin-Bar mit Vordach, eingeführt um 1910, war ein Archetyp. Ein Neandertaler der Tankstellen-Evolution. „Central Oil and Gasoline Station“ war am Dachfirst zu lesen. Eine „Gas Station“ in Rohform. Doch irgendetwas fehlte noch. Ausgerechnet an der Benzin-Bar, wo man ja noch Kanister gegen Dollar tauschte, wurde gar nicht gezapft.

Sprecher 2 „Mehrmals wurden halbvolle Kanister geliefert und schließlich kriegte ich einen, der ganz leer war.“

Sprecher 1 Ein amerikanischer Autofahrer beschwerte sich stellvertretend für den Rest der ziemlich misstrauischen Kundschaft. Und das Fachblatt des Benzinhandels informierte fachmännisch:

Sprecher 2 „Zehn Prozent ist, vorsichtig geschätzt, der Verlust des Motoristen, der einfach auf den Umgang mit Benzinkanistern zurückzuführen ist.“

Sprecher 1 Je mehr gefahren wurde, desto unpraktischer die Kanister. Bald gab es in Amerika spezielle Benzinpumpen. Der Tank kam nun, wegen der Sicherheit, aber auch aus Platzgründen, unter die Erde. Erst jetzt, wo das Treibstoffreservoir unsichtbar im Boden schlummerte und die Pumpe allzeit bereit stand, konnte von „tanken“ überhaupt die Rede sein. „Tanken“ steht für Verfügbarkeit: sofort, immer und überall. In Amerika war die Benzinpumpe deshalb von Anfang an ein

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Symbol der Freiheit. Oder anders gesagt: Wo eine Tanksäule stand, da war Amerika.

Musik 4 weiblicher Jazzgesang (zeitgenössisch)

Sprecher 1 Vor hundert Jahren nahm die Tankstelle, wie wir sie heute kennen und kaum mehr beachten, in Amerika langsam Gestalt an. 1912 eröffnete in New Orleans eine Hinterhofstation mit einer nie dagewesenen Ausstattung. An sage und schreibe 13 Benzinpumpen konnten hier ebenso viele Kunden gleichzeitig bedient werden. 13 Zapfstellen, das war sensationell, aber noch nicht alles. Es gab auch eine Damentoilette und eine junge Frau, die den Wartenden kühles Wasser reichte. Der „Service“ war erfunden und gab der Konsummaschine einen menschlichen Touch.

Musik 4 weiblicher Jazzgesang (zeitgenössisch)

Sprecher 1 Als 1913 in Pittsburgh, Pennsylvania, an einer großen Ausfallstraße zuerst gebuddelt und dann ein sechseckiger Bau errichtet wurde, wusste anfangs niemand recht, was das werden sollte. Dann wurde der Schriftzug „Good Gulf Gasoline“ angebracht. Das Hexagon mit dem merkwürdigen Pilzdach war eine „Gas Station“, eine Tankstelle. Und das Wichtigste: Sie versteckte sich nicht mehr auf einem Hinterhof, sondern hatte eine direkte Zufahrt von einer öffentlichen Straße. Als Station an der Bordsteinkante wurde die Tankstelle gesellschaftsfähig. Uncle Sam's Hütte war nun Teil des Stadtbildes. Und das Schmuddelkind musste sich anpassen.

Musik 4 weiblicher Jazzgesang (zeitgenössisch)

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Sprecher 1 Dass die Tage von Uncle Sam's Hütte gezählt waren, dafür sorgte das „City Beautiful Movement“. Amerikas gutbürgerliche Stadtbildschützer vom „City Beautiful Movement“, damals eine starke Lobby, knöpften sich die neuen „Gas Stations“ vor. Denn einen Benzinschuppen wollten sie nicht in der feinen Nachbarschaft haben. Also bauten die Firmen Tankstellen, die zu den Häusern ihrer Kundschaft passten. So kam es, dass eine Benzinmarke an der Ostküste Stationen aus Sandstein errichtete, die mit ihren Säulen und Kuppeln dem Capitol in Washington ähnlich sahen. An der Westküste entwickelte man dagegen ein Faible für mexikanische Haciendas. Aber der meistverbreitete Tankstellentyp in Amerika war damals das „English Cottage“. Natürlich kein richtiges Cottage, eher die Kopie der Kopie und dabei so klein wie ein Gärtnerhäuschen. Aber aus Ziegelsteinen gemauert war es schon, hatte ein steiles Spitzdach und einen Schornstein, der nie rauchte. Uncle Sam's Benzinhütte trug nun Sonntagsstaat.

Musik 1 Paris, Texas (Ry Coder)

Sprecher 1 1980 im Hinterland von L.A.. Der kleine Bautrupp in der Mojave- Wüste hat die Tankstelle, an der nicht getankt wird, inzwischen fertig gestellt. Der Prototyp ist nun bunt lackiert. Da rattern über dem Bauplatz plötzlich Motoren. Ein Schwarm von Hubschraubern ist im Anflug. Aus den Maschinen steigen Herren mit Aktenkoffer und weißem Kragen. Das Führungspersonal der Exxon Company. Der Weltkonzern bittet zur Freilichtkonferenz im kalifornischen Nirgendwo. Die Bosse der Exxon-Filialen aller Länder sind hier nun unter einem Zeltdach vereinigt. Mittendrin in der illustren Runde sitzt ein legerer älterer Herr mit Halbglatze und Hornbrille. Das ist Saul Bass, der Schöpfer der Geisterstation. Bass, ein berühmter Grafiker

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und Filmdesigner, erläutert den Benzinbossen seine Station. Die steht rund hundert Meter weit entfernt - also in etwa in Blickweite eines Autofahrers - und wartet noch auf ihren großen Auftritt.

Musik 1 Paris, Texas (Ry Coder)

Sprecher 1 Saul Bass ist weder Architekt, noch hat er jemals vorher eine Tankstelle entworfen. Er ist bekannt für seine genial einfachen Markenzeichen, die er für Großkonzerne entworfen hat, aber auch für seine intelligenten Vorspanne und Filmplakate. Er ist ein gefragter Mann in Hollywood, ein Spezialist für prägnante Auftritte. Das Auffälligste an seiner Tankstellenattrappe ist denn auch das klare Farb- und Schriftsystem: alles rechteckig und in den kontrastreichen Firmenfarben Rot-Weiß-Blau. Die Tankstelle, die Bass entwickelt hat, nannte er eine „Kommunikationsmaschine“. Ein ausgeklügeltes System von Flächen und Schildern, das Autofahrer intuitiv leiten soll. Technik spielt dabei keine Rolle. Deshalb hat er sie einfach weggelassen. Außer der Lichtanlage. Als die Dämmerung über die Hügel der Mojawe-Wüste schleicht, gehen an der Teststation die Lampen an. Bass hat unter dem riesigen Dach ein raffiniertes Bühnenlicht inszeniert, wie beim Filmset in Hollywood. Da reißt es die kühlen Exxon-Manager von ihren Klappstühlen. Bass bekommt den Auftrag. Und die rechte Hand soll ihm vom Händeschütteln noch tagelang weh getan haben.

O-Ton 2 "Die Drei von der Tankstelle“ (Film-Szene)

Sprecher 1 Tête-à-Tête an der Tanke . In dem Filmmusical "Die Drei von der Tankstelle“, aus dem Jahr 1930 dreht sich fast alles um Liebe und Benzin. In den Hauptrollen Lilian Harvey und Willy Fritsch, damals

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das Traumpaar des deutschen Kinos. In dieser Komödie um drei fidele Bankrotteure finden die Herzen an der Zapfsäule zueinander. Wenn es Abend wird und der Tankwart eigentlich schon Feierabend hat. Da ersetzt der milchige Schein eines amerikanischen „Globe“, einer runden Milchglaslampe auf der Spitze der Zapfsäule, den richtigen Mond. Wobei es sich bei dieser Feierabendszene wohl um das erste romantische Tankstellenmotiv überhaupt handelte.

Musik 5 Kleine Dreigroschenmusik (Kurt Weill)

Sprecher 1 Auch die Tankstellenromantik musste erst erfunden werden. Aber auch ihr Gegenteil, die Tankrationalität. Denn die moderne Tankstelle: die gab es ja noch gar nicht. Aber moderne Architekten. In Deutschland wuchs eine Generation von Baumeistern heran, die jeden „unechten“ Zierrat als Kitsch aus dem Kaiserreich strikt ablehnten und stattdessen einen radikal sachlichen Stil entwickelten, den wir gewöhnlich mit dem „Bauhaus“ assoziieren. Tatsächlich haben damals zahlreiche Avantgarde-Architekten Tankstellen entworfen, darunter bekannte Namen wie Peter Behrens, Hans Poelzig und Ludwig Mies van der Rohe. Ende der Zwanzigerjahre bestellte dann die deutsche Tochterfirma der Standard Oil Company ein komplettes Tankstellennetz und ein sachliches Firmenimage gleich mit. Engagiert wurden ausschließlich Modernisten. In verschiedenen Städten entstanden daraufhin moderne „Muster- stationen“. Rot lackiert, klare Schrift, neues Logo, überall Neonlicht, eine Weltpremiere.

Musik 5 Kleine Dreigroschenmusik (Kurt Weill)

Sprecher 1 Eine der neuen „Musterstationen“ entstand 1931 in Kassel auf der

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Wilhelmshöhe. Ihr Clou: Der Verkaufskiosk war aus Glas. Die erste Tankstelle, die sich selbst „unsichtbar“ machte, so wie der Bauhäusler Marcel Breuer es damals auch mit seinen Stahlrohr- möbeln ebenfalls anstrebte. Als die Kuratoren des gerade gegründeten Museum of Modern Art in New York im Jahr 1932 ihren erstaunten Landsleuten in einer der ersten Ausstellungen die „moderne Bewegung“ aus Europa näher brachten, war dort auch die Kasseler Glastankstelle aus dem Vorjahr zu bewundern. Eine amerikanische Erfindung kehrte in neuer Form, als moderner Typus, nach Amerika zurück.

Musik 5 Kleine Dreigroschenmusik (Kurt Weill)

Sprecher 1 Die moderne Tankstelle, wie sie heute in aller Welt an den Straßenrändern steht, stammt aus Deutschland. Das erste Exemplar war eine jener „Musterstationen“ aus den Zwanzigerjahren und erschien den Zeitgenossen keineswegs so banal wie uns heute. Als sie 1931 an der Hamburger Rothenbaumchaussee eröffnet wurde, erregte das einiges Aufsehen. Die Station lag direkt neben dem Stadion des Hamburger Sportvereins. Massen kamen daran vorbei. Die schneeweiß gestrichene Tankstelle hatte etwas Unwirkliches schon aufgrund ihrer schieren Ausmaße. Sie war mit rund 40 Metern fast halb so lang wie ein Fußballfeld und sprengte damit alle bisherigen Dimensionen. Der Schöpfer dieses Tank-Monuments war der Hamburger Architekt Karl Schneider, ein ehemaliger Mitarbeiter des Bauhaus-Gründers Walter Gropius und, wenig verwunderlich, leidenschaftlicher Modernist. Schneider war einer der erfolgreichsten Architekten seiner Zeit. Neben etlichen Villen für reiche Hanseaten stammen auch riesige Arbeiterwohnblocks von ihm, inklusive „Musterwohnungen“, für die er die praktische Einrichtung gleich mit

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entwarf. Dafür hatte Schneider ein Programm moderner „Typenmöbel“ entwickelt. Schlicht, zweckmäßig und kombinierbar sollten sie sein. Eine Lokalzeitung schrieb damals:

Sprecher 2 „Die Konstruktion der Typenmöbel ist von einer Einfachheit, die das Ergebnis langer Überlegungen ist. Besonders gelungen ist die Verbindung von Stahl und Holz. Sorgfältige Verarbeitung, Zweckmäßigkeit und ästhetische Reinheit ergeben einen Dreiklang moderner Wohnkultur.“

Sprecher 1 Dass die deutsche Filiale der „Standard Oil Company“, als sie Architekten für ihre „Mustertankstellen“ suchte, auch auf den Schöpfer der „Musterwohnungen“ kam, machte Sinn. Schneider war ein Mann für radikale Lösungen, der sich nicht an starre Konventionen hielt, so auch 1931 bei seiner Großtankstelle an der Rothenbaumchaussee. Die einfache, aber entscheidende Idee war hier die Trennung von Verkaufskiosk und Dach. Er hat beides aber nicht nur erstmals getrennt und damit frei kombinierbar gemacht, sondern auch ihr Größenverhältnis umgekehrt. Der Verkaufskiosk, natürlich ein flacher Kasten, rückte an den Rand. Das riesige Dach, eine leichte Konstruktion auf zehn schlanken Stahlsäulen, war nun der Hauptbau. Eine frei im Raum stehende, offene Halle. Solch ein Hallendach ohne tragende Wände hatte Ludwig Mies van der Rohe 1929, also zwei Jahre zuvor, auf der Weltausstellung in Barcelona für den deutschen Pavillon entworfen, ein weltberühmtes Gebäude. Schneiders duale Hamburger Tankstelle, die tatsächlich ein Prototyp blieb und inzwischen längst abgerissen wurde, kennt niemand mehr, ebenso wenig wie ihren Architekten. Doch die Geschichte hat Karl Schneider am Ende Recht gegeben. Alle modernen Tankstellen sind heute nach dem dualen Prinzip seiner Hamburger Tankstelle

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aufgebaut. Weil die in Vergessenheit geraten war, musste sie noch einmal erfunden werden, ein halbes Jahrhundert später.

Musik 1 Paris, Texas (Ry Coder)

Sprecher 1 Zur ück in Kalifornien. In dem Prototyp, den der Grafiker und Filmmann Saul Bass 1981 in der Mojave-Wüste vor den Exxon- Managern präsentierte, kehrte das duale Prinzip von Karl Schneiders Hamburger Tankstelle so exakt wieder, dass sich die Frage nach dem Grund solch frappierender Ähnlichkeit sofort aufdrängt. Bass und Schneider sind sich niemals begegnet. Doch es gibt eine Verbindungslinie zwischen ihnen. Der junge Saul Bass studierte Anfang der Vierzigerjahre in New York bei dem Immigranten György Kepes. Und Kepes, ein gebürtiger Ungar, Grafiker und Filmavangardist, lebte Ende der Zwanzigerjahre in Deutschland. Da hatte er auch Kontakt zum Bauhaus und zu dessen Gründer Walter Gropius. In Berlin arbeitete Kepes im Büro seines Landsmannes, dem Bauhausmeister und Gropius-Assistenten Lazlo Moholy-Nagy, mit dem er später zusammen in die USA emigrierte. Der Modernist Kepes ist also das Bindeglied. Durch ihn wurde die Rationalität und die Vision der Bauhaus-Moderne, aber auch der Sinn für Film und visuelle Kommunikation auf seinen Schüler Saul Bass übertragen.

Musik 1 Paris, Texas (Ry Coder)

Sprecher 1 Saul Bass hat das Original, Karl Schneiders Hamburger Tankstelle, sicher nicht gekannt. Aber er hat deren Doppelstruktur in neuen Materialien und modularer Bauweise systematisch umgesetzt. Die Dualität von großem Hallendach und getrenntem Verkaufskiosk war geeignet für Massenverkehr und hohe Umsätze. In Gestalt der

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Bass'schen Exxon-Station wurde die Tankstelle zum Prototyp aller modernen Tankstellen. In dem einfachen, kastenförmigen Verkaufsraum hatte sie aber auch etwas von Uncle Sam's Hütte, jener schmucklosen Benzinbude, aus der sie zu Beginn des Jahrhunderts einmal hervorgegangen war.

O-Ton 3 " 2“ (Film-Szene)

Sprecher 1 Eine Verfolgungsjagd auf endloser Piste, die erst am Horizont endet. Wilde Typen, verirrte Geschosse und Haufen von Blech bleiben auf der Strecke. Der Schauplatz von "“ , einem australischen Spielfilm von 1981, ist wieder einmal die Wüste, zu der die Erde in dieser Science-Fiction-Story verkommen ist. Eine Horde motorisierter Freaks kreist drohend um eine Wagenburg herum, die von ein paar mutigen Siedlern verteidigt wird.

O-Ton 3 "Mad Max 2“ (Film-Szene)

Sprecher 1 In Mad Max 2“ geht es nicht um Geld und auch nicht um schöne Frauen, sondern um ein Benzindepot. Es ist die letzte Tankoase. Das Szenario des Treibstoff-Armageddons ließ den martialischen Low- Budget-Streifen in den Zeiten der Ölkrise zum Kultfilm werden.

Musik 6 Boogie Woogie (zeitgenössisch)

Sprecher 1 Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die Zahl der Tankstellen und die der Benzinfirmen stetig zugenommen. In den USA gab es hunderte verschiedener Marken, die alle ihre eigenen Tankstellen kreierten. Fliegende Dächer reckten sich den Tankkunden so keck entgegen, dass man Angst bekam, sich darunter zu stellen.

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Musik 6 Boogie Woogie (zeitgenössisch)

Sprecher 1 Auch in Europa wurde der farbenfrohe Reigen der Benzinmarken immer unübersichtlicher. Noch im letzten Wohnviertel eröffneten Tankstellen, meist mit Girlanden, Musik und Freibenzin. Das Zapfparadies schien ausgebrochen, bis die Ölkrisen der Siebzigerjahre der Spritparty ein jähes Ende setzten. Doch dann war klar, wie es mit den Stationen am Straßenrand weitergehen sollte. 1980 erklärte dies ein Tankstellenmanager in kleinem Kreise:

Sprecher 2 „Der Hauptansatzpunkt liegt in der Umgestaltung vorhandener Tankstellen zu modernen, hoch absetzenden Anlagen bei gleichzeitiger Desinvestition unrentabler Anlagen.“

Sprecher 1 Was folgte, war ein gigantisches Rationalisierungsprogramm, das sogenannte „Tankstellensterben“. Aber wie die Alternative, die „hochabsetzende Anlage“, künftig aussehen sollte, das wusste in den Führungsetagen noch niemand so genau.

Musik 1 Paris, Texas (Ry Coder)

Sprecher 1 Bereits Mitte der Siebzigerjahre hatte Exxon, der weltgrößte Öl- Konzern, entschieden, sein Tankstellennetz gründlich aufzuräumen. Den Auftrag für eine Vorstudie, für den sich über 100 Agenturen beworben hatten, bekam das Studio Bass & Yager aus Los Angeles. Das hatte System. Saul Bass, sein Kreativdirektor, war Künstler und Rationalisierer in einem. 1978 begann der bis dahin größte Kehraus an den Straßenrändern dieser Erde. Erst schwärmten Teams aus, die ein Jahr lang mit Kamera und Notizblock die Tankstellenland-

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schaften aller Kontinente dokumentierten. Diese akribische Recherche mündete schließlich in einen zweistündigen Vortrag, den Bass auf einer der oberen Etagen der Exxon-Zentrale in New York hielt und den er mit einer allgemeinen Tankstellengeschichte einleitete. Offenbar ziemlich überzeugend.

Musik 1 Paris, Texas (Ry Coder)

Sprecher 1 Die Tankstelle, die Saul Bass den Bossen von Exxon 1980 in der sandigen Mojawe-Wüste vorgeführt hatte, war ein Embryo, das nun tausendfach geclont wurde. Eine „Musterstation“ im wahrsten Sinne des Wortes. In der Folgezeit wurden nach ihrem Muster weltweit nicht weniger als 65.000 Exxon-Stationen neu errichtet. Ein Bauprogramm von unvorstellbaren Ausmaßen, das die kleine Firma von Bass und Co. von Hollywood aus koordinierte. Der Bau der größten Tankstellen-Armada aller Zeiten dauerte über zehn Jahre, bei Kosten von mehreren Millionen pro Station. Niemals zuvor war so viel Kapital in ein Vertriebsnetz geflossen. Nun war es egal, wo man sein Exxon-Benzin kaufte: egal ob in Boston oder in Bottrop, die Stationen sahen jetzt alle im Prinzip gleich aus, zumindest in den Industrienationen. Ein derart homogenes Vertriebsnetz, über den gesamten Erdball gespannt, hatte es bis dahin nicht gegeben. Seitdem sind viele diesem Beispiel gefolgt, alle Benzinfirmen, aber auch mehr und mehr andere Branchen, allen voran die Fastfood- Ketten. Das Clonen unserer Verkaufsstellen, das mit der Tankstelle begann, ist in vollem Gange.

Musik 1 Paris, Texas (Ry Coder)

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