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Musikstunde mit Katharina Eickhoff Donnerstag, 8. Juli 2010 „Mein ganzes Leben ist ein großes Heimweh“ – Reisen zu Teil IV - Annus horribilis in Maiernigg

Indikativ

Es gibt so manches, was man dem Wörthersee verzeihen muss: Die fehlende Bergkulisse, das viele Schilf an den Ufern, die Diäthotels, das schreckliche Publikum, wo Großfamilien aus Dubai und den Emiraten auf neureiche Musikantenstadl-Fans treffen und Männer mit offenen Hemden ihre deutlich jüngeren Frauen in dicken Autos zum Cocktail in der Abendstunde vorfahren, und hinwegsehen muss man auch über die politischen Vorlieben der hier Ansässigen, die ihrem dahingegangenen Landeshauptmann Haider in einem ehemaligen Nazi- Bunker ein Museum eingerichtet haben und von ihm sagen, er sei ihr „gütiger Vater“ gewesen. Versteht sich, dass sich in dieser Gegend auch gern Neonazigruppen aus aller Welt zu Arbeitstreffen versammeln, um endlich gegen die jüdische Weltverschwörung aktiv zu werden. Hier also ist Gustav Mahler viele Sommer lang glücklich gewesen – aber zu seiner Zeit war es wohl auch noch ein anderer Wörthersee. Ich stehe vorm verschlossenen und verwitterten Tor der „Villa Siegel“ in Maiernigg am Südufer und schaue hinunter auf das verlassen wirkende Haus am See. Früher hieß es „Villa Mahler“ – Mahler hat es für sich bauen lassen, pünktlich zur Jahrhundertwende, als rund um den Wörthersee viele solcher Sommerfrische-Häuser entstanden sind. Zur Haustüre führt eine kleine Brücke vom Hang her, und - man kann nicht anders als gleich an jene schreckliche Nacht im Jahr 1907 zu denken, in der hier der Sarg von Putzi, seiner kleinen Tochter, herausgetragen worden ist – danach hat Mahler das Haus verkauft. Aber soweit sind wir ja noch nicht. Zuerst mal ist die Villa in Maiernigg die Rettung für Mahler. Endlich hat er nach mehreren Jahren wieder einen Ort, an den er seine musikalischen Ideen tragen kann, die während der Opernspielzeit in ihm gereift sind, einen Ort, wo er sie dann in seinen Sommerferien in aller Ruhe ausarbeiten kann. Und oberhalb der Villa, ein paar hundert Meter steil den Berg hinauf, gibt es auch wieder ein Komponierhäusl. In einem spartanischen Zimmer mitten im tiefsten Wald ist der Großteil von Mahlers Musik entstanden: Der Schluss der Vierten, die Fünfte, Sechste und Siebte Sinfonie, die monumentale Achte, dazu letzte Wunderhorn-Gesänge, die Kindertotenlieder und die anderen Rückert-Vertonungen. Die direkte Verbindung mit der wilden Natur und die Entfernung von allem Menschenlärm – das ist es ja, was Mahler immer gesucht, und was er in Maiernigg gefunden hat: „Diesmal“, schwärmt er gleich im ersten Sommer, „ist es auch der Wald mit seinen Wundern und seinem Grauen, der mich bestimmt und in meine Tonwelt hineinwebt. Ich sehe immer mehr: man komponiert nicht, man wird komponiert!“

CD T. 8 4’00 Mahler, VII. Sinfonie, Nachtmusik I New York Philharmonic, Leonard Bernstein Sony SMK 60564

Ein später Nachhall der Wunderhorn-Lieder: Die erste Nachtmusik aus der Siebten Sinfonie, entstanden in Maiernigg in den Jahren 1904 und 1905. LB leitete das NYP – jenes Orchester, das genaugenommen von Mahler in seiner New Yorker Zeit gegründet worden ist – morgen mehr dazu. Wien, Frühsommer 2010. Der Großstadtverkehr brandet über den Schwarzenbergplatz, Ampeln blinken, die so schön altmodischen Wiener Straßenbahnwagen biegen bimmelnd um die Ecke, spucken Menschen aus, zuckeln weiter. Ich gehe den Weg ab, den Mahler vom Opernhaus am Ring bis zu seiner Wohnung in der Auenbruggergasse mehrmals täglich gelaufen ist. Was heißt gelaufen: Mahler rennt ja alle Wege, so dass kaum jemand mitkommt – die Hand in der Westentasche, tief in Gedanken, kommt er dann mittags angesaust von seiner, wie er sie nennt, „infernalisch- direktorialen“ Tätigkeit. Alma ist gehalten, das Mittagessen schon auf dem Tisch stehen zu haben, danach muss sie mit ihm spazieren gehen, bzw. rennen, dann rast er wieder in die Oper. Das Haus, in dem die Mahlers wohnten, gibt es noch – Otto Wagner hat es gebaut, der große Jugendstil-Architekt Wiens, der zum Beispiel auch die schöne Metrostation am Karlsplatz entworfen hat. Es war also ein damals ziemlich neues und schönes Haus, in dem das Ehepaar Mahler mit seinen bald zwei Töchtern gelebt hat, im obersten Stock auf 180 Quadratmetern – viel Platz für eine Mietwohnung in der Innenstadt: Von hier aus ist Mahler während der Spielzeiten täglich losgestampft, über den Schwarzenbergplatz und links den Ring hinauf, um in der Hofoper zusammen mit seinem Bühnenbildner und Freund Alfred Roller die Opernästhetik seiner Zeit zu revolutionieren. Mit bahnbrechenden Mozart- und Wagner-Zyklen, und mit jungen, frischen Sängern, denen er als Dirigent, Dramaturg und Regisseur in Personalunion jede antiquiert-leere Operngeste und überhaupt möglichst alle Unarten ausgetrieben hat. Sowas wie eine Opernregie hat es vor ihm eigentlich nicht gegeben – Gustav Mahler hat sie eingeführt. „Seine Art zu arbeiten“, sagt Leo Slezak, unter Mahler einer d e r kommenden Tenöre, „holte aus jedem Sänger alles heraus, was er zu geben hatte. So fidel und lustig es sonst zuging, mit Mahler am Pult ging jeder schweigend herum, voll Sorge, dass nicht alles voll und ganz gelingen könnte.“ – Es gibt kaum einen in Mahlers damaligem Sängerensemble, der nicht irgendwann aus Empörung über seine Gnadenlosigkeit die Kündigung eingereicht hätte – die meisten haben sie wieder zurückgezogen. Felix Salten, der Bambi-Autor, und übrigens ein grandioser Feuilletonist, Salten hat Mahlers Jahre in Wien begleitet und beschreibt die Nöte eines von ihm gedemütigten Hofopernsängers: „Wutausbrüche verrast er auf dem Papier, Vorsätze schreibt er nieder, diesem dreisten kleinen jüdischen Direktor, der ihn, den Kammersänger, wie einen Anfänger drillt, nächstens an die Gurgel zu springen. Am Abend nach der Vorstellung aber: Halleluja! Dann folgen im Tagebuch gestammelte Dankgebete an Gott und an – Mahler. Nie habe er so gesungen, nie einen solchen Triumph erlebt, nie es für möglich gehalten, aus dieser Partie solche Wirkung schöpfen zu können. Und – knien müsste man vor Mahler.“

CD 3327-501 Disc 8, T.6 2’00 R. Wagner, Götterdämmerung Erik Schmedes, Lucie Weidt Gebhardt Bayreuth auf Schallplatte JGCD 0062-8

Siegfried und Brünnhilde im sehr historischen Liebestaumel – das sind zwei Sänger aus Mahlers Wiener Ensemble, Lucie Weidt, neben Anna von Mildenburg die zweite große Dramatische am Haus, und Erik Schmedes, der ewige Tenorkonkurrent von Leo Slezak. „Ich bin so „mittendrin“, wie es nur ein Theaterdirektor sein kann. Entsetzliches, aushöhlendes Leben! Alle Sinne und Regungen nach außen gewendet, ich entferne mich immer mehr von mir selbst. Wie wird das enden?“ – So sehr Mahler immer über seine Opernarbeit jammert, und auch, wenn sie ihn den Großteil des Jahres vom Komponieren abhält: Er liebt und braucht diese Seite seines Lebens. Aber der Druck ist unvorstellbar. Mahler weiß genau, dass er sich keine Fehler leisten darf, dass er unter scharfer Beobachtung steht: Die Wiener Presse und Öffentlichkeit registriert penibel jeden Schnaufer, den er tut und berichtet triumphierend, wen er sich jetzt wieder zum Feind gemacht hat. Fast jede Woche gibt es Futter für die Klatschspalten, und der antisemitische Unterton wird dabei, weil das gerade Mode ist, immer lauter. Derweil geht, von Mahler unbemerkt, daheim in der Auenbruggergasse seine Ehe den Bach hinunter. Alma, die vor ihrer Hochzeit als gefeierte Wiener Schönheit von Auftritt zu Auftritt und Verehrer zu Verehrer geflattert ist, fühlt sich um ihr Leben betrogen. Sie findet keinen wirklichen Zugang zu ihm. „Gustav steht so einsam, so entfernt, er hat alles zu tief innen, als dass es im Leben ans Licht könnte“, schreibt sie, und weil er so völlig in seiner Arbeit und seiner Musik aufgeht, hat sie mehr und mehr das Gefühl, „mit einem Abstractum“ verheiratet zu sein, und nicht mit einem Mann. Statt sich auf Gesellschaften, Bällen und in Salons verehren zu lassen, oder wenigstens daheim aufs Podest gestellt zu werden, soll Alma jetzt „liebender Gefährte und verstehender Kamerad“ sein, sagt ihr Mann. Das Komponieren soll sie sein lassen, weil, zwei Komponisten in einem Haushalt, das geht natürlich nicht, und ansonsten soll sie an sich arbeiten, um ihre immer wieder aufbrechende Oberflächlichkeit zu bekämpfen. „Geld – Tand! Kleider – Tand! Schönheit – Tand! Reisen – Tand! Nur der Geist allein!“ – das sei die Einstellung, die da jetzt von ihr verlangt werde, jammert sie. Man kann Alma gar nicht vorwerfen, dass sie es nicht versucht hätte, mit Mahler Schritt zu halten. Sie hat seine Lieblingsbücher gelesen, die Dostojewskis, Goethes, Jean Pauls, und sie hat seine Musik gespielt – es hat ihr nur alles nichts gesagt. Alma strengt sich dermaßen an, ihn zu lieben und es recht zu machen, dass für ihre zwei Töchter viel zu wenig Gefühl übrig bleibt, weil alles mit Gedanken an Mahler besetzt ist. Aber die Seelen finden sich nicht, seine Musik bleibt ihr fremd, sie fühlt sich zunehmend eingesperrt und ist ständig krank. Und Mahler? Der merkt nichts. In seinem mahler’schen Künstler-Autismus fühlt er sich ganz und gar glücklich verheiratet, und aus dem Problem mit Almas Liebe zum Tand macht er ein Lied – auf einen Text von Friedrich Rückert, den auch Mahler geschrieben haben könnte, entsteht dieses ganz intime Stückchen. Ein, wie Mahler sagt, „Privatissimum“ für Alma, das vermutlich, ohne dass Mahler das im Sinn hatte, ganz gut zusammenfasst, warum es mit den beiden nicht funktioniert hat...

CD T. 9 2’20 Mahler, Liebst du um Schönheit Janet Baker, New Philharmonia Orchestra, Sir John Barbirolli EMI CDC 7 47793 2 LC 0542

... Wie glücklich Mahler sich mit seiner jungen Frau fühlt, zeigen auch die rührenden Briefe, die er im Sommer 1904 an Alma schreibt – sie ist nach der Geburt der zweiten Tochter Anna, genannt Gucki, noch in Wien geblieben, während er schon das Haus in Maiernigg bezogen hat: „Mein Lieb! Mein Almschili! Liebste!“, heißt es da in den Briefanfängen, und unten: „Für jetzt nur tausend Busserln mein Lieb. Mir ist schon rasend bange nach Euch“, oder: „Ich küsse Dich tausendmal, Liebste, und halte Dich, damit ich Dich bald wieder habe!“, oder: „Dich vielmals abbusselnd Dein Gustav“. In diesem Maiernigger Sommer des ungetrübten Familienglücks komponiert Gustav Mahler einige der erschreckendsten, düstersten und trostlosesten Musiken seines gesamten Werks. Man kann es Alma gar nicht mal verübeln, dass sie befremdet war, als ihr Mann zeitgleich mit der glücklichen Geburt der zweiten Tochter anfing, Friedrich Rückerts entsetzlich traurige „Kindertotenlieder“ zu vertonen, die Rückert nach dem Tod seiner beiden heißgeliebten Kinder in höchster Verzweiflung geschrieben hat. Und die sinfonische Welt, in der Mahler in jenem Sommer angekommen ist, war ihr, die mit seinen Sinfonien noch nie viel anfangen konnte, gleich vollends unheimlich. Und unheimlich ist es ja tatsächlich, was Mahler da in seiner Sechsten Sinfonie veranstaltet. Das ganze, riesige Werk – allein der Schlussatz dauert knapp eine halbe Stunde – exerziert unbeirrt und mit einer beängstigenden Konsequenz auf den Tod zu. Der Marsch, der früher bei Mahler immer auch spielerische Erinnerung an die Kindheit war, ist jetzt eine Vernichtungsmaschine, die durchs ganze Werk hindurch mit einer eisernen Unerbittlichkeit ihre Zähne zeigt. Urwaldwild wühlen die Blechbläser in diesem letzten Satz, der sich mühsamst zu ein paar Lichtblicken hochrappelt, nur um einen dann umso tiefer abstürzen zu lassen. – Um die Vehemenz dessen, was er da ausdrücken wollte, deutlich zu machen, hat Mahler in diesen Satz die berühmten Hammerschläge hineinkomponiert, die Alma dann später etwas wohlfeil als Vorausahnung der Schicksalsschläge interpretierte, die ihren Gatten gefällt hätten. Der Schluss ähnelt im Gestus der Sechsten Sinfonie Tschaikowskys – ein langsames Verlöschen, dem dann aber am Ende mit einem fürchterlichen Donnerschlag auch noch die letzte Gnade entzogen wird. Jens Malte Fischer schreibt in seiner wunderbaren Mahler-Biografie, dass dieses Finale wohl das sei, was Thomas Mann in seinem „Doktor Faustus“ den Komponisten Adrian Leverkühn versuchen lässt: Die Zurücknahme von Beethovens großem Menschheitsjubel, der 9. Sinfonie.

CD T. 4 4‘58 Mahler, Sinfonie Nr.6, Finale New York Philharmonic, Leonard Bernstein Sony SMK 60208, LC 6868

Man beschreibt die Sinfonien, die in den Maiernigger Sommern entstanden sind, gern als Mahlers „mittlere Schaffensperiode“ – und wirklich entfernt sich die Wunderhorn-Welt der ersten drei oder vier Sinfonien jetzt sehr schnell, die menschliche Stimme, die in den früheren Werken so wichtig war, verschwindet, und mit ihr auch die bis dahin immer behauptete Gewissheit, dass am Ende doch alles gut werden kann. Diese mittleren Sinfonien, sagt Adorno, „kennen die Welt besser“. Und das, was sie da sehen, könnte man noch hinzufügen, erschreckt sie zutiefst. Mahlers Schüler und Freund Bruno Walter meinte über die Sechste: „Das eigentümliche an jener 6. Symphonie ist, dass ihre schreckliche und hoffnungslose Düsternis mit Unerbittlichkeit und ohne einen menschlichen Laut dargestellt ist. Es sind quasi kosmische Laute; die finsteren Mächte selbst ertönen und keine Seele singt von dem Leid, das es durch sie erführe.“ Und das alles entsteht, wie gesagt, in den glücklichen Sommern von 1903 und 1904 in Maiernigg: Morgens noch vor sieben stapft Mahler den steilen, wilden Waldweg zum Komponierhäusl hinauf und kämpft dort mehrere Stunden mit Tod und Verzweiflung, mittags kommt er zurück zur Villa Mahler, spielt mit Putzi im Sandkasten, rudert lachend über den See und stürzt sich kopfüber ins grüne Wasser, wo er sich, wie Alfred Roller erzählt, wohlig aalt wie eine Robbe in ihrem Element. Wie sagte er selber so schön: „Man komponiert nicht, man wird komponiert.“ Der original-Weg, den Mahler vom Haus hinauf zum Häusl durch den Wald gegangen ist, ist heute überwuchert und nicht mehr zu finden. Es gibt jetzt einen immer noch ziemlich steilen Pfad für Besucher, der im Gegensatz zu den anderen Komponierhäusl-Orten auch ganz gut ausgeschildert ist. Es geht immer tiefer in den Wald hinein, aber irgendwann erscheint, wie plötzlich hingezaubert, eine Art Lichtung vor einem steilen Felsabhang. Und da steht es, das Häusl: Die Stadt Klagenfurt hat es schön renovieren lassen, mit roten Fensterläden, und einen Menschen angestellt, der hier alle Tage von Mai bis Oktober den Hort hütet. Der „Hort“ besteht aus den üblichen Fotografien und Autographen und einem Bücherregal mit Mahler-Literatur, die hier niemals jemand liest, weil die, die sich dafür interessieren, sie sowieso schon kennen, und weil es hier ja auch gar keinen Stuhl gibt. Interessanter als die Mahler-Fotos, die man ja fast alle irgendwie kennt, ist ein Bildband auf dem Tisch: Es geht um Anna, Mahlers und Almas Tochter, die eine bedeutende Bildhauerin und atemberaubend schöne Frau war, und ansonsten sehr unglücklich geworden ist – fünfmal war sie verheiratet, aber gelernt, sich selbst zu lieben, hat sie dabei wohl nicht. Ihre Mutter hat es ihr nicht beibringen können, und ihr Vater ist zu früh gestorben. Unser Gralshüter erzählt von ihr, als ob er sie gekannt hätte. Er ist kein Gelehrter, vielleicht noch nicht mal ein Studierter – aber er ist beseelt von Mahler, und damit bekommt auch dieses Maiernigger Komponierhäusl seine Seele. Die Fenstergriffe, sagt er ehrfürchtig, hat Mahler noch angefasst. Ob wir denn, fragt er, vielleicht ein bisschen Mahler hören wollen. Als wir wollen, füttert er die Stereoanlage in der Ecke, Musik füllt den Raum, und sowie er sich unbeobachtet fühlt, fängt unser Häuslhüter an, unauffällig, aber gefühlvoll mitzudirigieren.

CD T. 14 ab 3’55 schnell wegbl. Mahler, Sinfonie Nr.7, Nachtmusik II , Andante amoroso New York Philharmonic, Leonard Bernstein Sony SMK 60564, LC 6868

Gitarre und Mandoline zupfen mit in diesem „Andante Amoroso“, der zweiten Nachtmusik aus Mahlers Siebter Sinfonie – wobei man vom serenen Charakter dieser Musik nicht aufs ganze Werk schließen sollte – in der Mitte der Siebten steht nämlich auch schon wieder so ein gespenstisch-getriebenes Scherzo, das einem Angst und Bange werden lässt. Und wenn man in Frau Almas Kategorien denken will, dann war auch das schon wieder prophetisch, denn es ist ja bis heute beklemmend, nachzuverfolgen, wie fürchterlich das Unglück Mahler dann im Jahr 1907, seinem „annus horribilis“, heimgesucht hat. „Und es wird wieder gegen Mahler gehetzt, gehetzt, gehetzt!“ – das notiert der Wiener Schriftsteller Hermann Bahr 1906. Bahr ist inzwischen der Ehemann von Mahlers ehemaliger Liebe, der Sängerin Anna von Mildenburg, und er gehört zu Mahlers Unterstützern in Wien, wird übrigens auch einer der letzten an seinem Sterbebett sein. „Warum hassen sie ihn so?“, fragt Bahr, und antwortet sich selber: „Eigensinnig“ und „eigenwillig“, schon die Worte tadeln. Sie vertragen nicht, dass einer einen eigenen Sinn, einen eigenen Willen hat. Sie vertragen nicht, dass einer versucht, frei zu sein. Und wünschen es sich doch alle selbst. Wagen es nur nicht. Und schämen sich bei sich, dass sie so feig sind. Und rächen dann ihr böses Gewissen an den Tapferen.“ Das, was Bahr da beschreibt, wird im Jahr 1907 zur „Affäre Mahler“ in Wien. Mahlers Feinde, von denen er im eigenen Haus und vor allem in der Presse wahrlich genug hat, haben eine Schwachstelle entdeckt: Weil er zunehmend in Europa unterwegs ist, um seine eigenen Werke zu dirigieren, ist er als Hofoperndirektor angreifbar geworden, weil er jetzt angeblich seinen Aufgaben nicht mehr nachkommt. Das „Deutsche Volksblatt“ und die „Neue Freie Presse“ fahren Kampagnen gegen ihn, die ihre antisemitischen Untertöne kaum mehr verstecken – gegen die Macht und Selbstherrlichkeit der Juden zu wettern, ist ja auch gerade sehr en vogue, am besten macht das der Wiener Bürgermeister, der Herr Doktor Karl Lueger, dem man in Wien egalweg bis heute zärtlich zugetan ist und nach dem auch immer noch ein Teil der Ringstraße benannt ist. Mahler also wird aus allen Rohren beschossen, und schon im Januar schreibt er an Alma: „Es geht jetzt nicht sehr lieblich über mich in der Welt los. Wie ein gehetztes Wild, hinter dem die Hunde her sind. Ich gehöre aber Gott sei Dank nicht zu denen, die am Wege sterben...“. – Nein, Mahler will um jeden Preis der Dirigent auch seiner eigenen Situation bleiben – und deshalb reicht er, als er merkt, dass auch sein Rückhalt bei Hof wackelt, selber seine Demission vom Posten des Direktors der Wiener Hofoper ein. Das ist einschneidend, aber an sich noch kein Schicksalsschlag, denn er hat schon längst ein lukratives Angebot von der Metropolitan in New York in der Tasche. Der Schlag kommt ganz unerwartet zu Beginn des Sommers in seinem geliebten Haus in Maiernigg. Maria, seine ältere Tochter, die alle Putzi nennen, hat sich mit Scharlach angesteckt und entwickelt dazu noch eine schwere Diphtherie – diese Art komplizierter Halsentzündungen sind heute dank der richtigen Medikamente und Impfungen kaum mehr gefährlich, früher sind Kinder in fast fünfzig Prozent der Fälle daran gestorben. Und Mahlers Tochter Putzi stirbt, erstickt innerhalb weniger Tage, und Mahler und Alma können nichts anderes tun als dabei zusehen. Natürlich haben auch damals schon Väter ihre Kinder geliebt – aber Mahler war ein besonders zärtlicher Vater, man kann das auf den Bildern mit seinen Töchtern sehen, wo er den Mädchen immer völlig zugewandt und ganz offensichtlich ein komplett anderer Mensch ist als auf den Fotografien vom strengen Hofoperndirektor. Dass Mahler mit diesem Unglück nicht umgehen konnte, dass es ihn richtiggehend vernichtet hat, zeigt auch die Tatsache, dass er Putzis Tod in den Briefen an seine Frau in den jetzt kommenden Monaten überhaupt nicht erwähnt. Aber das Haus am Wörthersee, seine geliebte Villa Mahler in Maiernigg, wird noch im gleichen Sommer verkauft. Mahler ist nie mehr hierher zurückgekommen.

CD 19-007713 Disc 2, T. 5 3’26 Mahler, Kindertotenlieder, Oft denk’ ich, sie sind nur ausgegangen Thomas Hampson, Wiener Philharmoniker, Leonard Bernstein DG 427 697-2, LC 0173

...das vierte unter Mahlers „Kindertotenliedern“ – ein paar Jahre später, in seiner Neunten Sinfonie, die eine Art von Lebensresümee ist, wird Mahler dieses Lied noch mal zitieren, als wär’s eine Nachricht an Putzi: Schau her, ich hab’s nicht vergessen. In den dramatischen Tagen von Marias Tod kommt auf leisen Sohlen auch gleich noch der zweite Schicksalsschlag auf Mahler zu. Sein Freund und Bühnenbildner Alfred Roller hat schon in den vorangegangenen Jahren besorgt beobachtet, wie Mahler sich manchmal mitten im Probengetümmel verstohlen ans Herz gegriffen hat – auch Alma scheint sich zuletzt Sorgen gemacht zu haben, und so lässt er also den Arzt in Maiernigg, der kurz vorher den Tod der Tochter festgestellt hat, sein Herz untersuchen. Auf dieses Herz, teilt ihm der Arzt jovial mit, könne er aber nicht stolz sein. Mahler lässt weitere Untersuchungen machen, und es stellt sich heraus, dass er einen Herzklappenfehler hat, der durch Schonung in Schach zu halten sein wird, der in jedem Fall aber nicht ungefährlich ist. Außer ein paar beruhigenden Sätzen an Alma liest man auch darüber erst mal nichts in Mahlers Briefen. Aber er hat von da an in Todesangst gelebt, bei jeder Pulsbeschleunigung sich zurücknehmen müssen – und was das für ihn bedeutete, der immer im Eiltempo alle Berge hinaufgerannt und mit dem Kopf durch jede Wand gebrochen war, den die einen mit „flüssigem Stickstoff“, die anderen mit einem Kugelblitz verglichen haben – das kann man sich kaum in seinem ganzen Ausmaß vorstellen. Erst ein Jahr später schreibt Mahler dann diesen einen, ganz und gar erschütternden Brief an Bruno Walter, den einzigen, dem gegenüber er sich überhaupt je so geöffnet hat, und fasst seine existentielle Erschütterung zum vielleicht ersten Mal in Worte. Und vermutlich meint er sowohl die Herzdiagnose als auch den Tod seiner Tochter, wenn er schreibt: „Seit jenem panischen Schrecken, dem ich damals verfiel, habe ich nichts anderes gesucht, als wegzusehen und wegzuhören...Dass ich sterben muss, habe ich schon vorher auch gewusst.- Aber, ohne dass ich Ihnen hier etwas zu erklären oder zu schildern versuche, wofür es vielleicht überhaupt gar keine Worte gibt, will ich Ihnen nur sagen, dass ich einfach mit einem Schlage alles an Klarheit und Beruhigung verloren habe, was ich mir je errungen; und dass ich vis-à-vis de rien stand und nun am Ende eines Lebens als Anfänger wieder gehen und stehen lernen muss.“ Laut Alma ist Mahler schon im Schreckenssommer 1907, nach Marias Tod, über das kleine Buch von Hans Bethge gestolpert, Nachdichtungen chinesischer Gedichte, teils heiter, teils abgrundtief traurig, aber alle auf eine seltsam ferne, mondbeschienene Art tröstlich. Es ist in jedem Fall das, was Mahler in dieser Zeit braucht, um diesem „Nichts“, dem er sich gegenübersieht, etwas entgegenzusetzen. „Ich glaube,“ schreibt Mahler an Bruno Walter über das „Lied von der Erde“, „dass es wohl das Persönlichste ist, was ich bis jetzt gemacht habe.“

CD 12-002005 T. 2 10’03 Mahler, das Lied von der Erde, Der Einsame im Herbst Christa Ludwig, Philharmonia & New Philharmonia Orchestras, Otto Klemperer EMI 7 47231 2, LC 0542