SWR2 Musikstunde

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SWR2 Musikstunde SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde „Ein aus vielerlei Schreib-Arten zusammen gestoppeltes Wesen“ Vorformen der Leipziger Bachkantate (4) Von Susanne Herzog Sendung: Freitag, 10.01.2014 9.05 – 10.00 Uhr Redaktion: Bettina Winkler Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de 2 Musikstunde 10. Januar 2014 Vorformen der Leipziger Bachkantate (4) Mit Susanne Herzog „Ein aus vielerlei Schreib=Arten zusammen gestoppeltes Wesen“ sei sie, die protestantische Kirchenkantate um 1700. Das klingt nicht gerade besonders positiv, was Johann Mattheson, Komponist und Musikschriftsteller, da rückblickend über die Kirchenkantate an der Wende zum 18. Jahrhundert sagt. Aber er hat recht: tatsächlich war die Kantate im 17. Jahrhundert aus einer Zusammensetzung verschiedenster Texte und Formen entstanden: die Komponisten verbanden Bibelwort und Dichtung miteinander, reihten konzertierende Sätze an einfache Arien, flochten hier und da einen Choral mit ein: dies alles in der Kombination, die ihnen zusagte: wenn man es negativ ausdrücken möchte „zusammengestoppelt“ eben. Einzig in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts kristallisierte sich aus dieser bunten Formmischung ein Typus heraus, den viele Komponisten gerne verwendeten: die sogenannte Concerto-Aria-Kantate: eine Kantate, die mit einem vokalen Concerto eröffnet und schließt, dazwischen eine Reihe von meist schlichten Strophenarien. Musik 1 Johann Schelle Ausschnitt: Gott sende dein Licht <5> bei 4’12 rausgehen The King’s Consort Robert King, Ltg. LC 7533 CDA 67260 3 Das Vokalconcerto und die erste Aria aus der Concerto-Aria-Kantate „Gott, sende dein Licht“ von Johann Schelle. Einer der Vorgänger Johann Sebastian Bachs als Thomaskantor in Leipzig aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Robert King leitete das King’s Consort. Um 1700 nun sollte ein Mann für die Geschichte der protestantischen Kirchenkantate Bedeutung erlangen, der kein Komponist war: vielmehr war er ein Pastor: Erdmann Neumeister nämlich. Und in seiner Funktion als Pastor hatte er mit der Kirchenkantate insofern zu tun, als dass vielerorts die Kantoren dem jeweiligen Pastor ihren Text für die Kantate, die sie zu komponieren gedachten, vorlegen mussten. Der Pastor hatte dann die Textwahl der Komponisten abzusegnen oder entsprechend zu ändern. Oft war es auch so, dass die Pastoren den arbeitsmäßig häufig sehr belasteten Kantoren gleich selbst einen Text zur Vertonung der Kantate zusammenstellten. Erdmann Neumeister nun ging noch weiter: im Jahr 1700 schrieb er geistliche Dichtungen für alle Sonn- und Festtage und veröffentlichte diesen Textjahrgang vier Jahre später unter dem provokanten Titel „Geistliche Cantaten statt einer Kirchen-Music“. Da wurde man hellhörig: was sollten das für Kantaten sein, die die bisher übliche Kirchen-Music ersetzen sollten? Neumeister erklärt es in seinem Vorwort selbst: „Soll ich’s kürtzlich aussprechen, so sieht eine Cantata nicht anders aus, als ein Stück aus einer Opera, von Stylo Recitativo und Arien zusammen gesetzt.“ Das kam einer Revolution gleich: Kantaten, die nur aus Rezitativen und Arien bestanden, keine Chöre, keine Choräle, kein Bibelwort, alles Dichtung! Eine Opernszene also: lediglich mit geistlichem Inhalt. Gleichzeitig durch den klaren Wechsel von Rezitativen und Arien eine deutliche Vereinheitlichung der bisher fast unüberschaubaren Formen der Kirchenkantate. Seit 1704 wirkte Neumeister als Geistlicher am Hof von Weißenfels in Sachsen. Der dortige Hofkapellmeister Johann Philipp Krieger war als Kantatenkomponist äußerst produktiv: über 2000 geistliche Vokalwerke komponierte er während seiner 46-jährigen Tätigkeit am Weißenfelser 4 Hof. Neumeisters Ideen griff Krieger begeistert auf: den gesamten Textjahrgang „Geistliche Cantaten statt einer Kirchen-Music“ vertonte der Kapellmeister als solistische Kantaten. Leider ist uns heute keine einzig Kantate davon erhalten geblieben. Aber wir wissen, dass Neumeister Krieger schon vor seiner Anstellung am Weißenfelser Hof, Texte zur Vertonung geliefert hat: allerdings damals noch etwas gemäßigter: nämlich neben gedichteten Arien durchaus noch ganz althergebracht mit Bibelwort. Die Arien dafür schon – wie in der Oper – als da-capo angelegt, also mit einer Wiederholung des Anfangsteils. Hier das Accompagnato Rezitativ „Aber mein Volk gehorcht nicht meiner Stimme“ und die Arie „Fahrt hin ihr Kinder dieser Welt“ aus der Kantate „Rufet nicht die Weisheit“ von Johann Philipp Krieger auf einen frühen Neumeister Text. Und zwar in einer älteren Einspielung mit Theo Altmeyer, Tenor, George Pappas, Bass und dem Collegium musicum des WDR unter der Leitung von Hans Thamm. Musik 2 Johann Philipp Krieger Ausschnitt aus: Rufet nicht die Weisheit <2> von 4’21 bis 7’13 Insg. 2’52 Ingeborg Reichelt, Sopran Ursula Zollenkopf, Alt Theo Altmeyer, Tenor George Pappas, Baß Windsbacher Knabenchor Collegium musicum des WDR Hans Thamm, Ltg. WDR 5158 365 (Eigenproduktion WDR) Johann Philipp Krieger gehörte zu den ersten Komponisten, für die Neumeister seine gedichteten Texte schrieb. Bereits 1708 erstellte Neumeister dann einen zweiten Textjahrgang für den Rudolstädter Kapellmeister Philipp Heinrich Erlebach, wenige Jahre später zwei weitere für Georg Philipp Telemann, der damals noch Hofkapellmeister in Eisenach war. Nicht nur die Komponisten waren höchst interessiert an Neumeisters „opernhaften“ Texten für die Kirchenkantate. Auch Textdichter an vielen 5 Höfen Sachsens und Thüringens griffen die Neuerungen Neumeisters auf und schrieben selbst gedichtete Rezitative und Arien: allerdings meist in Kombination mit Bibelversen oder Choralstrophen. Und auch Neumeister nahm diese Textelemente in seinen Jahrgängen für Erlebach und Telemann wieder auf: so entstand die sogenannte gemischt-madrigalische Kantate, die zu der bestimmenden Kantatenform im 18. Jahrhundert wurde. Eine Form, die auch die Grundlage für Bachs Leipziger Kantatenschaffen bildete. Aber wie sah es mit Bachs frühen Kantaten aus, den Kantaten die er vor seinem Amtsantritt in Leipzig komponierte? Auf den Punkt gebracht kann man sagen: im Vergleich zu vielen Kollegen, die bereits kurz nach 1700 Neumeisters oder ähnliche Texte aufgriffen, blieb Bach in seiner Textwahl eher konservativ. Lange Zeit bevorzugte er die älteren Formen, die Bibelwort und Choräle miteinander kombinierten. Blicken wir nach Mühlhausen: hier war der junge Bach seit Juli 1707 Organist an der Kirche St. Blasius. Als Organist hatte Bach – im Gegensatz zum Kantor – kaum kompositorische Aufgaben. Hinzu kam, dass der Pastor von St. Blasius pietistisch eingestellt war und damit sowieso ein eher geringes Interesse an neuen Kompositionen für seine Kirche hatte. Allerdings verband Bach bald eine Freundschaft zum Pastor der nahegelegene Marienkirche, der mit seiner lutherisch-orthodoxen Haltung Bachs musikalischen Eifer begrüßte. So ist auch anzunehmen, dass eine von Bachs ältesten erhaltenen Kantaten „Aus der Tiefen rufe ich Herr zu dir“ eben für jenen Pastor namens Eilmar der besagten Marienkirche geschrieben wurde. Darauf verweist auch eine kurze handschriftliche Notiz Bachs am Ende seiner Komposition. Möglicherweise von Eilmar selbst stammt auch die Textzusammenstellung aus Bibelwort und Choral: der Kantate liegt der 130. Psalm sowie der Choral „Herr Jesu Christ, du höchstes Gut“ zugrunde. Quasi die „Säulen“ des Werkes bilden die motettenartige Chöre am Anfang, in der Mitte und am Ende. Dazwischen jeweils ein Arioso mit dem besagten Choral verbunden. 6 Philippe Herreweghe mit dem Chor und Orchester des Collegium Vocale Gent mit dem Beginn von Bachs Kantate „Aus der Tiefen rufe ich Herr zu dir“, Werkverzeichnis 131: am Anfang eine Sinfonie mit dem einleitenden Chorsatz, gefolgt von dem ersten Arioso begleitet von einer Solooboe, im Hintergrund ist der Choral vom Chor gesungen zu hören. Das Solo singt Peter Kooy. Musik 3 Johann Sebastian Bach Ausschnitt: Aus der Tiefen rufe ich Herr zu dir, BWV 131 <1> Sinf + Chor „Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir“ 4’22 <2> Arioso + Choral „So du willst, Sünde, zurechnen“ 4’10 Peter Kooy, Bass Chor und Orchester Collegium Vocale Gent Philippe Herreweghe, Ltg. LC 7873 / 7592372 Auch wenn die biblische Vorlage – da nicht gedichtet - eigentlich musikalisch keine Arie erlaubte, klingt das eben gehörte Arioso doch eigentlich fast wie eine Arie: auch ohne entsprechende Textvorlage begann sich Bach also bereits in frühen Jahren neuere Kompositionsweisen anzueignen. Die Möglichkeit eine erste da-capo Arie zu komponieren, bot sich Bach Anfang des Jahres 1708: der Rat der Freien Reichsstadt Mühlhausen hatte zum Ratswechsel am 4. Februar bei dem Komponisten eine Kantate bestellt. Die Kantate „Gott ist mein König“, die Bach schrieb, war natürlich ein Werk an der Grenze zur weltlichen Festmusik und damit besonders geeignet, moderne Elemente auch in die
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