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„Im Innern der Gedichte“ Bemerkungen zum poetischen Prozess am Beispiel von

Von Rüdiger Görner, London

Jedes ‚Nach‘ hat etwas Elegisch-Larmoyantes, wenn nicht Abgeschmacktes, verweist auf einen Zustand aus zweiter Hand, auf ein Schattendasein mit Katzenjammer als Grundton. Im Danach stundet sich die Zukunft ebenso wie sich die Idee einer Avantgarde widerruft. Für den notwendig vorgeprägten Umgang mit dem poetischen Sprach- material verpflichtet dieser Zustand zu Sprachkritik. Mit Bezug auf Celan hatte sich darüber Thomas Kling, der einer der sprachinnovativsten Lyriker nach Celan gewesen war, wie folgt geäußert:

Es gibt bei Celan Ansätze auf dem mineralogischen Gebiet, aber das ist eine so kristallin verhärtete Angelegenheit, dass es zu einem Glimmen gar nicht mehr kommen kann. Er jagt die Schichten, die Materialien mit einer Hochgeschwin- digkeit aufeinander, aber nicht mit ‚Nachbildbeschleunigung‘, sodass sie nicht mehr miteinander reagieren können, sondern als totes Gestein nebeneinander stehen bleiben und durch den Dichter zur Schlacke verurteilt werden.1

Klings Ideal bestand dagegen darin, „Wortschichten untereinander zum Glim- men zu bringen“. Dieses Ineinanderfälteln von Geologie und Sprache sah er bei Novalis und vor allem bei Droste-Hülshoff in Vollendung erreicht, bei Celan versucht, aber auf kommunikativer Ebene weitgehend misslungen. Im Stadium des Danach entstehen oft seltsame Hybride, Poetologeme gleichsam, von denen einige Franz Wurm unter dem Titel „Gepresster Celan“ selbst kreiert hat. So dichtet der vielleicht engste Freund Celans heute Verse wie diese: „DIE LICHTRÄNDER haben sie / aus dem Rahmen gedrängt / von vornherein und malen / drastische Schatten.“ Oder als unmittelbare Anspie- lung und Parodie auf den Celan-Wissenschaftsbetrieb: „INSEMINARISIERT / Sie haben ihn aus der Luft getragen/in ihre Lehre. Dort / rätseln sie über seinen Atem.“2 Ähnliches versucht der in der Voivodina geborene Lyriker Bosko Tomasevic, mit Versatzstücken aus Celans Biografie arbeitend, wenn- gleich in deutlicherer Epigonalschieflage, die dann erreicht ist, wenn der Grad

1 In: Thomas Kling im Gespräch mit Hans Jürgen Balmes. Werkstattgespräch: Brandungs- gehör. Nachbildbeschleunigung. In: Neue Rundschau 115 (2004) Heft 4, S. 128.

2 Franz Wurm: Gepresster Celan. In: Literatur und Kritik. Dossier Broch / Celan. September 2001, S. 72.

37 der Verwandlung des Materials geringer ist als der Hinneigungswinkel zum Vorbild: „WÜRDEST DU um Celan / zu besuchen / vom Neckar kommen? / Warst du im Hölderlintum? / Kehrst du heim frostgeschmiedet / nach Czerno- witz / um gauklerisch das / Sprachgitter zu werfen / auf Atemkristall?3 Nachfolgend geht es um einen Fall eines eher unerwarteten Celan- Bezuges, der – auch das ein Phänomen im Danach – zu einer entschiedenen Absetzung von ihm führte. Die Rede ist von Nicolaus Born. Welches Omen geht von Namen aus? Was ist von solchen Omen zu halten? Born zum Beispiel. Auffallend, einsilbig, altdeutsch zudem: ‚Born‘ meint Quelle. ‚Born des Lebens‘ – ein Ausdruck, der sich in jedem poetischen Hauskalender seit der Romantik findet, bis, ja, bis die nazistische Einfärbung des Deutschen daraus ‚Lebensborn‘ machte. Dadurch geriet ‚Born‘ in das Wörterbuch eines Unmenschen, bis ein am letzten Tag des Jahres 1937 in Duisburg geborener Chemigraph namens Nicolas Born diesen Namen durch die Art seines Schreibens wieder rehabilitierte. In seinen Gedichten hatte er es sich zur Angewohnheit gemacht, Namen einfach aufzurufen: „Röhler“ oder „Piwitt“, Namen von Freunden, deren Namen nach gewissen Vogelarten klan- gen. Paradox-ausführlicher wurde er nur in einem Fall: „auf Wiedersehn Günter Grass der wie ein Tier arbeitet / aber sonst eigentlich nicht viel macht“.4 Die Kriegskindheit hinterließ tiefe Spuren in Nicolas Borns schmalem gewichtigem Werk. In seinem Todesjahr 1979 veröffentlichte er den Roman Die Fälschung, die später von Volker Schlöndorff verfilmte Geschichte des Journalisten Georg Laschen, der über den Libanon-Krieg und die Zerstörung Beiruts berichten soll.5 Dabei erweist sich ihm das bloße Berichterstatten als Qual und „Fälschung“ ebenso wie seine Beziehungen zu Menschen. Authen- tisch scheint in seinem Leben nur die Zerstörung zu sein, jene um ihn und in ihm. Die Fälschung gleicht einer bitteren Frucht von Borns Kriegskindheit, dargestellt als ein Stilleben des Grauens, in dem die ungeheuerlichsten Verbre- chen gegen die Menschlichkeit zur Monotonie des Alltags werden. Kostproben eines Erzählens, das sich eingedenk einer womöglich auch gefälschten Sprache vollzieht: „Vielleicht waren alle Fotos von der Wirklich- keit nicht in Ordnung, falsch, alle Sätze über die Wirklichkeit falsch.“ (53) „[…] die Sätze waren leer, er hatte darin nichts fühlen können, sie erfassten nicht, griffen nicht auf, was er gemeint hatte, das ging bis an die Wörter, die ihm entleert, hohl vorkamen, so als hätten sie über Nacht ihren Nutzen verloren, seien ausgeschieden worden aus dem Verständigungskreislauf.“ (128)

3 Bosko Tomasevic: Celan-Etüden. In: Ebd., S. 74. 4 In: Nicolas Born: Gedichte. Hrsg. u. mit einem Nachwort versehen von .

Frankfurt a. M. 1990, S. 51 (aus dem Gedicht „Abschied fürs Leben und Abschied für den Tod“). 5 Nicolas Born: Die Fälschung. Roman. 8. Aufl. Reinbek b. Hamburg 2002. (Nachweise im Text beziehen sich auf diese Ausgabe).

38 „Deutschland, wie das klingt. Hörst du, wie unangenehm Deutschland klingt, wie stählern, wie trostlos und hartnäckig. Es dröhnt noch immer so.“ (130) „Wann immer sie etwas sagte, breitete sich darin das Ungesagte vielfältig aus.“ (157) „Alles zerrt und stülpt sich um in sein Gegenteil. Eine gewaltige Chemie der Absichten oder die Absichten der Chemie.“ (175) Wer so über den Klang seines Herkunftslandes schreibt, mag die Todesfuge gelesen haben. Und wer von der „Chemie der Absichten“ weiß, dürfte mit Nietzsches Formel von der „Chemie der Empfindungen“ vertraut gewesen sein. Berichten müssen, wo der Ausdruck von Empörung am Platze wäre. Schreiben müssen in einem „abführenden Mitteilungsstil“, der alles entsorgt, was ist. „Jeder Satz von brutaler Sachlichkeit, jeder Inhalt, auch der genaueste, eine völlige Anonymität.“ (193) Berichten mit vom Geschehenen bereits infizierten Worten, das ist die Qual des Georg Laschen, der seine Berufskrise mit der „Krise der Berichterstattung“ im Zeitalter der „zynischen Vernunft“ (Peter Sloterdijk) gleichsetzt. (241) Vor dem Hintergrund schreibt er wieder und wieder aus Beirut seiner ihm längst entfremdeten Frau ins norddeutsche Flachland. Er möchte das „Fal- sche“ in deren Leben, die Scheinheiligkeit des Normalzustands, das Trägheits- gesetz von „Gewohnheit und Agonie“ durchbrechen, ihrer Kinder willen, damit nicht auch sie dieses „Falsche“ weiterschleppen müssen, sondern mit wirklichen Entscheidungen konfrontiert werden, die immer auch Entschei- dungen für bestimmte Wörter sind, eine genaue Sprache, die in einem nach- vollziehbaren Verhältnis zum Gefühl stehen soll. Überraschend für ihn selbst schreibt Georg Laschen: „Vielleicht sind die pathetischen Wörter hier die genauesten.“ (261) Weil sie Leiden und Leidenschaft beinhalten. Und der Autor Nicolas Born, der vom Chemigraph zum Psychographen, ja Logographen wurde, und das als Prosaschriftsteller und – mehr noch – als Lyriker, wie lässt sich sein Verhältnis zur Sprache fassen, wie jenes „Nach“ beschreiben, in dessen Schatten er dichtete? Borns poetisches Verfahren hat etwas vom Vermögen des Sumpfrohrsän- gers, der ‚Lieder‘ singt, die nur aus Imitationen anderer Arten bestehen, die sie einmalig zusammensetzen. Diese Vogelart kombiniert ihre Imitationen des Gesangs anderer Vögel auf eine so eigene Weise, dass die imitierten Vogelar- ten darauf gar nicht mehr reagieren.6 Mir will scheinen, dass dies als ein Paradigma für das poetische Verfahren in der Nachmoderne gelten kann. Erkennbares Nachahmen bis zur Unkenntlichkeit des Nachgeahmten: dieses Verfahren scheint gerade für jene Lyriker unabdingbar, die im Schatten stilprägender Vorbilder aufgewachsen sind und sich der Frage stellen, wie man nach ihnen überhaupt weiter schreiben kann. Im Falle Nicolas Borns hieß

6 Cord Riechelmann: Dem Vogel die Töne beibringen. In: Frankfurter Allgemeine Sonntags- zeitung v. 15. April 2007, S. 65.

39 ein solches Vorbild überraschenderweise . Zwar ist bei Born keine konsistente Auseinandersetzung mit Celan nachweisbar, wie sie etwa bei Ernst Meister vorlag, mit dem Born zeitweise in enger Verbindung stand. Wohl aber steht diese Bewunderung Celans am Anfang von Borns schriftstel- lerischer Arbeit, wie aus einem aus Essen im Februar 1960 geschriebenen Brief an Celan hervorgeht:

Essen, den 20.2.1960 Sehr geehrter Herr Celan, bin 22 Jahre alt, Verehrer Ihrer Lyrik und Ihrer Übersetzungen. Der Grund dieses Briefes ist der, daß ich Ostern mit zu der Meute gehöre, die dann wie alljährlich Paris überfällt. Nun komme ich zu der mir selbst unverschämt klingenden Bitte, deren Erfüllung von Ihnen abhängt und mir ein großer Gewinn wäre. Können Sie, wenn Sie Ostern in Paris sind, zu meinen Gunsten eine Stunde für ein nutzloses Gespräch opfern? Für eine Nachricht, auch im Falle der Unmöglichkeit dieses Treffens, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Ich treffe Karfreitag mittags in Paris ein und werde Karsamstag und den ersten Feiertag dort sein. Mit den besten Wünschen für Ihr weiteres Schaffen Ihr sehr ergebener Klaus Born7

An diesem Brief fällt auf, dass Born auch den Übersetzer Celan verehrte, gleichzeitig aber mit jugendlicher Lust am Paradoxon kokettiert: Bittet er Celan doch um die Gunst eines „nutzlosen Gesprächs“. Eine Antwort Celans ist nicht überliefert. Er mag sich gewundert haben über dieses bizarre Ansin- nen eines jungen Deutschen auch noch namens Born. Drei Jahre später schreibt Born an Johannes Bobrowski; vorausgegangen sein dürfte ein Gespräch mit dem Dichter über die Shoa, denn Born bekennt in diesem Brief:

Herr Bobrowski, ich hoffe sehr, dass wir uns bei der nächsten Gelegenheit über das deusche Problem der Judenvernichtung weiter unterhalten können. Verstehen Sie bitte, dass ich das alles hier und in den letzten Jahren geistig nicht so verarbeiten konnte wie andere Menschen. Ich bin 25 Jahre alt. Das soll keine Entschuldigung sein und ich kenne manche Dinge inzwischen besser, als es einem ruhigen Schlaf zuträglich ist, aber die endgültige Einstellung zu dem

7 Unveröffentlicht. Nachlaß Paul Celan im Deutschen Literaturarchiv Marbach unter Sigle D 90.1.1233. Für diesen Hinweis sowie die Erlaubnis, diesen Brief hier zu zitieren danke ich Frau Katarina Born.

40 Schrecklichen habe ich noch nicht gefunden. Die konnten auch Sie mir in so kurzer Zeit nicht plausibel machen.8

In diesem Zusammenhang kommt Born dann auch auf Celan zu sprechen:

Ich habe die Todesfuge wohl verstanden, auch den Satz, der das spezifisch Deutsche charakterisiert, daß der Meister aus Deutschland am Abend das goldene Haar der Margarethe in Liebesbriefen beschluchzt und sogleich darauf seine Rüden hervorpfeift. Ja, sicher, ja, soweit reicht es bei mir, aber darüber wird mir alles transzendent. Dabei ist nicht etwa die Schuldfrage mein Problem. Ende der geschichtlichen Existenz?? Ich weiß nicht. Ist nicht die ganze Weltgeschichte ein einziges Blutbad, in dessen Pausen herrlich existiert wird? Wir Deutschen haben es natürlich perfekt praktiziert, aber ist das der alles entscheidende Unterschied zwischen uns und anderen Völkern? Vielleicht beziehe ich mich zu häufig auf andere Völker, aber muß man denn nicht immer vergleichen, um sich zu erkennen? Ich verstehe nicht. Soll ich mir einen deutschen und dazu ewigen Satan einreden? Entschuldigen Sie bitte meine Konzeptlosigkeit. Seien Sie mir bitte nicht böse ob meiner Haltlosigkeit.9

Aufschlussreich an diesem Brief ist vieles: Zum einen die Befindlichkeit eines geschichts- und sprachsensiblen Menschen Jahrgang 1937 in Nordrhein-West- falen Anfang der sechziger Jahre, als die deutsche Wirtschaftswunder-Repub- lik mit den Frankfurter Auschwitz-Prozessen konfrontiert wird. Die Fragen, die dieser angehende junge Dichter stellt, entspricht den Fragen, die noch bis zum so genannten Historiker-Streit von 1985/86 virulent bleiben sollten: Kann und soll man die Shoa vergleichen? Ist sie Teil eines historischen Prozesses oder zu singulär, um sie mit anderen Verbrechen in Beziehung setzen zu können? Und wie ist es um die ästhetische Verarbeitung bestellt? Bezeichnend ist Borns Bemerkung, dass ihm in der Todesfuge außer ein zwei konkreten Bildern „alles transzendent“ werde. Er kritisiert sie, weil sie ihm das „Ende der geschicht- lichen Existenz“ zu signalisieren scheint – auch das eine über Hegel, der mit dem Jahr 1807 die Geschichte zu Ende gehen ließ, was Camus kritiklos zitierte10, bis zu Francis Fukuyama immer wiederkehrende Problematik: die These vom Zuendegehen dessen, was uns bewußtseinsmäßig konditioniert hat. Borns Brief verweist auch auf Ernst Meister, mit dem er in jener Zeit in engerer Verbindung stand und dessen eigene kritische Auseinandersetzung mit Celan auf Born gewirkt haben dürfte. Meisters These: „Ich habe mich nie auf der Flucht vor dem Satz befunden … Seine Preisgabe ist eine Eitelkeit derer, die

8 Brief von Nicolas Born v. 10. 6. 1963 (Literaturarchiv Marbach). Zitiert mit freundlicher Erlaubnis von Frau Katarina Born. 9 Ebd. 10 In: Albert Camus: L’homme révolté. Paris 1985, S. 265. Vgl. auch Jürgen Heise: Tübinger Stift. In: Ders.: Ein Kobold von Komet. Gedichte und Kurzprosa. Göttingen 2007, S. 159.

41 sich mit der Feststellung von seiner Ohnmacht zieren“, richtete sich unmittelbar gegen Celan, so sehr er ganze Phasen seines lyrischen Schaffens mit Celan sub- texthaft grundierte.11 Wie gesehen, sollte jedoch gerade der Prosaautor Nicolas Born zu dieser sprachdefätistischen Haltung, wie sie Meister beklagte, zurück kommen. Nämlich im Roman Die Fälschung. Meister zielte mit seiner existentiel- len Lyrik auf eine im traditionellen Sinne sprachlich intakte Totalität des Dich- tens, was die Verarbeitung von Motiven einschloß, die auch Celan gebrauchte:

Im Zeitspalt12 Im Zeitspalt ein Gedanke gewesen, bis der Ewigkeitsschrecken ihn umwarf. Was folgt, ist nicht Schlaf, sondern Skelett. Das wissen die Verständigen aber.

Bei Born zeigte sich nun, dass er sich in seiner eigenen poetischen Praxis sowohl von Celan wie auch Meister entfernte, ohne beide wohl je ganz aus dem Sinn verloren zu haben. Borns Lyrik, auf sie hat zuletzt Peter Handke mit einer Auswahlausgabe (1990) neu aufmerksam gemacht, veranschaulicht die Bemü- hung zwischen Engagement und immer nötigem Kahlschlag, versuchter Sub- jektivität und auf schein-objektive Sachverhalte zielende Aussagen eine eigene Stimme zu finden, die sich immer wieder einem leihen wollte: dem Ausdruck von Wirklichkeiten. Born hätte sein Bemühen um Orientierung durch Schrei- ben durchaus mit Hinweis auf Celans Bremer-Rede begründen können, der darin die Formel prägte „wirklichkeitswund und nach Wirklichkeit suchend“. Dass Celan gerade auch deswegen für die „engagierte Lyrik“ bedeutsam war, hat Paul Hoffmann in Anlehnung an Marlies Janz, die Grundlegendes zum Engagementcharakter so genannter absoluter Poesie gesagt hat,13 am Verhält- nis Erich Frieds zu Paul Celan eindruckvoll gezeigt.14

11 Zit. nach: Theo Buck: Das ‚Seine‘ und das ‚Meine‘. Paul Celan und Ernst Meister. In: Neue Zürcher Zeitung v. 18./19. Februar 1995, S. 70. Zum Verhältnis Meisters zu Bobrowski vgl. Jürgen Egyptien: Verwesung und Verkündigung. Ernst Meister und Bobrowskis ‚Epilog auf Hamann‘. In: Neue Zürcher Zeitung v. 18./19. Februar 1995, S. 69. 12 In: Neue Zürcher Zeitung v. 18./19. Februar 1995, S. 69. 13 Marlies Janz: Vom Engagement absoluter Poesie. Zu Lyrik und Ästhetik Paul Celans.

Frankfurt a. M. 1976. 14 Paul Hoffmann: Poesie und Engagement – Paul Celan und . In: Ders.: Das

erneute Gedicht. Mit einem Vorwort von Uwe Kolbe. Frankfurt a. M. 2001, S. 69–98. Vgl.

42 Born umkreist die Frage nach dem, was ein Gedicht sei, ermöglichte und erzeugte: „Ein Mittag im Dorf macht noch kein Gedicht“, „Im Inneren der Gedichte“, „Zuhausegedicht“, so die Titel dreier Poeme, die man im weitesten Sinne ‚poetologisch‘ nennen kann. Die Frage nach dem, welcher Stoff, Um- stand oder Anlaß ein Gedicht mache, welcher Stimmung und sprachlichen Voraussetzungen es bedürfe, um Worte, syntaktische Fügungen zu einem poetischen Text werden zu lassen, diese Fragen erklärte Born ihrerseits zum poetischen Material.

Zuhausegedicht15 Es ist der 12. November 1970 am Morgen 18 Grad Außentemperatur drei Briefe und eine Karte im Kasten zum erstenmal seit Wochen ist die Sonne wieder ganz da der Morgen eine Sendung in Farbe wir können uns etwas wünschen jetzt Piwitt pflegt im Bad seine hohe Stirn ein Gespräch über Sozialismus haben wir rechtzeitig abgebrochen ein paar Flugkörper sind im Raum wir erwarten das Kind noch diese Woche es soll ihm einmal nicht so gut gehen wie uns aber vielleicht bringt es uns dem Glück einen Schritt näher noch gestern Nacht waren wir unglücklich wir hatten zuviel vom Glück gesprochen und den langsamen Fahrzeugen der Zukunft sicher ist deshalb dieser Morgen so schön einmal wollen wir für uns selber da sein und für andere das ist der Einsatz den wir heute wagen Piwitt fragt mich ob er hier vorkommt ja sage ich aber nur als Name er ist zufrieden und bricht auf zu einer Wanderung

Bevor es in das „Innere der Gedichte“ gehen kann, sehe man sich im Inneren einer Bleibe um, womit die Vermutung angedeutet scheint, dass man Gedichte

auch: Paul Hoffmann: Vom Dichterischen. Erfahrungen und Erkenntnisse. In: Hansgerd Delbrück (Hrsg.): Dem Dichter des Lesens. Gedichte für Paul Hoffmann. Von Ilse Aichin- ger bis Zhang Zao. Tübingen 1997, S. 153–240, bes. S. 221–230. 15 In: Nicolas Born: Gedichte 1967–1978. Reinbek b. Hamburg 1981, S. 95.

43 ebenso wie Räume bewohnen könne. Eine bedingte häusliche Idylle an einem milden Spätherbsttag im Todesjahr Celans – ein Datum als lyrische Aussage, das Präsentisches evozieren, fixieren will und sie doch nur simulieren kann: Es ist: was ist? Ein Datum ist. Außenwelt dringt in die Innenwelt: Durch Briefe und Karten und eine sonnenverklärte Natur, die zur „Sendung“ wird, was medial und übertragen gemeint sein dürfte. Ein etwas unspezifisches Engagement liegt in der Luft. Piwitt, Freund des lyrischen Ichs, gemeint sein dürfte der Schriftsteller Hermann Peter Piwitt (Jahrgang 1935), steuert eine narzisstische Gebärde bei („pflegt im Bad seine hohe Stirn“) und eine selbst- vergewissernde Frage. Theorie ist nicht gefragt; das „Gespräch über Sozialis- mus“ findet sein vorzeitiges, den Hausfrieden sicherndes Ende. Es geht statt dessen um einen „Einsatz“, eine Aktion, aber dieses „Engagement“ des Tages ist ein gleichfalls nicht genau benannter, vermutlich auf „das Kind“ bezogener altruistischer Akt. Piwitts Präsenz bei dieser Aktion beschränkt sich jedoch auf seinen Namen, was ihn veranlasst aufzubrechen – das aber „zufrieden“. Das Gedicht behauptet einen zumindest umrisshaft erkennbaren Inhalt; die Form hebt drei Aspekte hervor: das Jetzt, das einer Sache Einen-Schritt- Näherkommen, das Dasein-Wollen für andere, was aber zur Loslösung des einen Aktionisten führt, der – ein romantischer Anklang – zum Wanderer wird. Paradox genug und den Wert des Altruismus einschränkend ist der Wunsch der Protagonisten, dass es dem Kind weniger gut gehen möge als ihnen. Das „Zuhausegedicht“ endet mit dem Verlassen des Zuhause und der Auf- hebung der Intimität. Hans-Jürgen Heise, der zur Generation Borns und Piwitts gehört, eröffnete seinen neuesten Gedichtband Ein Kobold von Komet mit dem Gedicht „Das Gedicht“, das eine explizite, thesenhaft vorgetragene Poetik vor- legt, die zu zitieren hier lohnt, weil sie recht genau auch Born Verfahren trifft:

Das Gedicht ist eine Versuchsanordnung […] Das Gedicht plündert die Wandtre- sore / und räumt das Meißner Porzellan / ab vom Regal […] Das Gedicht würgt an keiner Grammatik / es sagt was es fühlt und verschweigt / was es denkt Das Gedicht ist ein Tornado / der sich viel zu selten/durch die Rumpelkammer der Seele bewegt.16

Ein Wir, ein Ich, aber kein eigentliches oder nur implizites Du kennt dieses Gedicht, keine Du-Emphasen wie bei Celan oder Meister, nur Ich und Wir wie übrigens auch in Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht „Gedicht“, das freilich Born zum Zeitpunkt der Niederschrift seines poetischen Textes noch nicht kennen konnte.17 Von Borns „langsamen Fahrzeugen der Zukunft“ wusste auch Brink-

16 Heise, a. a. O., S. 11. 17 Brinkmanns „Gedicht“ erschien erst posthum im Jahre 1975. Vgl. dazu Anna Chiarloni: Was anfällt. Lyrische Strategien in Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht. In: Jahrbuch für internationale Germanistik. XXXIV (2002) Heft 2, S. 229–239.

44 mann, der jedoch nicht sagen konnte, wohin mit ihr. Daher setzt er sie in Anführungszeichen.18 Schließlich befindet sein lyrisches Ich: „Die Zukunft zieht sich zusammen und / erlischt.“ Das Statische, das Born zu vermeiden suchte, erweist sich bei Brinkmann als Bedingung der zu führenden „Restexis- tenz“19. Das Problem wurde für Born in seinen späten Gedichten noch akuter. Das Gedicht „Entsorgt“ zum Beispiel, bringt diese Sequenz: „Mir fehlt die Zukunft der Zukunft / mir fehlt sie. / Mir fehlen schon meine Kindeskinder / Erinnerungen an die Welten / mir fehlen Folgen, lange Sommer am Wasser / harte Winter, Wolle und Arbeit […] / Die Trauer ist jetzt trostlos / die Wut ohne Silbe, all die maskiert Lebendigkeit […] Kein Gedicht, höchstens das Ende davon […] Kein Schritt mehr frei, kein Atem/kein Wasser unerfasst.“20 Ein Gedicht, das dringlich wirkt, ohne Pausen zu sprechen ist, durch Verluste eilt, wie Born an anderer Stelle sagt,21 ein Gedicht, dass sich die Pausen bis zu seinem Ende aufgespart hat, um sie dann nur umso wirkungsvoller einzusetzen und mit einem Zukunft indizierenden Wort zu schließen: „Gekippte Wiesen- böschung, Engel, ungewisse, / warmer Menschenkörper und Verstehn / Gär- ten hingebreitet, unter Zweigen Bänke … / Schatten…Laub … im Wind ge- sprochen … / ………Samen.“22 Das „Zuhausegedicht“ wie auch der lyrische Text „Ein Mittag im Dorf macht noch kein Gedicht“ sowie „Im Innern der Gedichte“ desgleichen die poetische Sequenz „Ein paar Notizen aus dem Elbholz“, Ende November 1977 aufgezeichnet, wie im Vorspann zu diesem Gedicht ausdrücklich vermerkt, nach der Lektüre von Salomon Geßners Idyllen, sie bezeugen allesamt Borns Umgang mit der wirklichkeitswunden Wirklichkeit. Besonders schonungslos geschieht das „Im Inneren der Gedichte“, dort, wo es um die lyrische Substanz geht. Und dort wird das Du zu einer Hilfskonstruktion, um nicht beständig Ich sagen zu müssen. Es ist ein Du, das sich mit der Wirklichkeit des Todes auseinanderzusetzen beginnt. Du, das sind in diesem Falle nicht die Anderen, sondern „Viele“ mit ihren prekären Identitäten: „du bist der Mörder / kreisend in der eigenen Blutbahn […] du bist der ausgeschlachtete Indianer / […] die Rebellion der Gefangenen / […] du bist dein Tod.“23 Die Pointe dieses Gedichts scheint, dass es den Weg in sein Inneres verweigert oder allenfalls andeutet, was sich da zutragen könnte. Die poeti- schen Prozesse, die sich im Gedicht abspielen, werden zunächst als eine Konkurrenz mit der Wirklichkeit bezeichnet, von der man aber nicht leben

18 Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1 & 2. Gedichte. Mit Fotos des Autors. Reinbek b. Hamburg 1975, S. 25.

19 Zu diesem Aspekt bei Brinkmann vgl. Chiarloni, a. a. O., S. 238.

20 Born, Gedichte, a. a. O., S. 221 f. 21 Ebd., S. 228. 22 Ebd., S. 222.

23 Born, Gedichte, a. a. O., S. 114.

45 könne. Den Duktus dieses Gedichts prägt, dass nahezu jede Zeile mit einem „du“ beginnt, also mit einem Auftakt einsetzt, um thesenartig die Befindlich- keiten, Charakteristika, aber auch Möglichkeiten und Aussichtslosigkeiten des Du festzulegen. „Im Inneren der Gedichte“, so geht es einem allmählich auf, formieren und positionieren sich die Varianten des Du, zu denen gehört, dass es sich bei all diesen Zeile um Zeilen beschworenen Dus um Selbstanreden und Selbstprojektionen handelt: Du bist alles nur Denk-und Vorstellbare. Im Inneren der Gedichte vollzieht sich keine eigentliche Verwandlung mehr, sondern allenfalls eine Vervielfachung der Blickwinkel aufs Eigene. Steht die Unvernunft in Blüte, dann ist das ich-verdächtige Du eben „die Blüte und die Unvernunft“. Das Ich des Gedichts gleicht somit der Summe aller Du-Fiktio- nen. „Du bist dein Tod“, das meint doch auch: Man entwickelt sich zum Totengräber seiner Illusionen und bescheidendsten Utopien. Aus dem Fort- schrittspathos von einst ist folgerichtig eine „Avantgarde der FreiKüchen“ geworden. Man darf dieses Gedicht wohl Borns radikalstes nennen, das alle Vorbe- halte abgelegt hat und dieses Du oder Ich mit den „Vielen“ vergleicht, um es sich erkennen zu lassen, ganz so, wie er dies Johannes Bobrowski in seinem frühen Brief über Celan angekündigt hatte. Das Ich erkennt sich in diesem Prozeß zuletzt als Gegenstand der Rasterfahndung. „Gesucht wird ICH“, so beginnt sein Gedicht „Fahndungsblatt“ aus jener Zeit. „Man kann mich daran erkennen dass ich das CH / wie ein SCH spreche / Gelegentlich täusche ich meine Umgebung indem ich / das rechte oder linke Bein nachziehe […] / Ich schieße sofort.“24 Das verdächtige, allgemeingefährliche Ich verfährt nach Art der Selbstdenunziation. Sein Gedicht tendiert dabei nicht zum Verstummen wie bei Celan, sondern – in jener Phase seines Schreibens – zum Unerhörten. Für Celan war dieses Unerhörte das Überlebt-Haben, wie etwa auch für Ludwig Greve (1924 –1991), von dem die Zeile stammt: „Ich hatte Übung im Singen / mit geschlossenem Mund“.25 Born sorgte vielleicht eher die Frage nach dem Sich-Überleben. Deswegen: „Ich würde singen, verheerend, nieder- schmetternd / – große Orgel bei jedem Wind“, wie es im „Elbholz“ heißt.26 Was er zitiert in diesen poetischen Notizen sind ‚lichte Wolken‘, die ‚Lichtung‘, das ‚abgelegene Gehöft‘, Celan-Anspielungen wie von ferne, die er in neue Wirklichkeiten stellt und für sich selbst wirken läßt. Das Verblüffen- de findet zuletzt natürlichere Bilder: „Sturmschneise, gesplissene Stämme/ niedergeworfenes, weggeschütteltes Geäst/schwere Brüche – in der langen Stille/nach dem Sturm sieht das nicht/wie ein Schlafen aus.“27

24 Ebd., S. 117.

25 Ludwig Greve: Sie lacht – und andere Gedichte. Frankfurt a. M. 1991 (Gedicht ‚Playback‘).

26 Born, Gedichte, a. a. O., S. 230. 27 Ebd., S. 233.

46 Im „Innern der Gedichte“ öffneten sich für Born Ausdrucksmöglichkei- ten, die ihm aufgrund eines bestimmten Leidensdrucks keine lexischen Expe- rimente, Wortbrechungen oder syntaktischen Verkrümmungen abnötigten; dort wurde es ihm möglich, noch einmal neu nach Natur zu fragen und dem Zusammenhang von Überlieferung und eigener Orientierungssuche. So etwa in seinem Gedicht

Im Zug Athen – Patras28 Kahle Felsschädel, helle Augen hell der Mund. Alter Wortboden, wilder Rhododendron auf der Höhe Fruchtbar fruchtbar das Meer, – Licht scharfe elektrische Küsten. Die Geometrie der Pflanzungen, und der einzelne Olivenbaum silberne Helligkeit, großer Sinn kleinen Lebens, wie schwer verstehe ich. Grüne Zitrone auf dem Sitz neben mir hat wie viel mit meinem Leben zu tun. Schatten des Zuges, Schatten des Esels, viele dürre helle Bäume, kleine Schatten in die Welt gesetzt, kleine Liedchen, summt.

Auf antikem Wort-Boden scheint die Natur einen neuen Blick zu ermöglichen und ein gewandeltes Verhältnis zu sich selbst. Wären nicht die Schatten, „Liedchen“ ganz eigener Art; wäre nicht die unreife Zitrone, die in einem unbestimmten Verhältnis zum Ich steht. Wann das jeweilige ‚Danach‘ beginnt, ist offenkundig; schwieriger zu bestimmen ist, wie lange das Danach dauert. Wann tritt man aus dem Schatten, den der „Lichtzwang“ geworfen hat, ins lichte Offene? Im Poetisch-Künstleri- schen betrifft diese Frage weniger einen Emanzipationsprozess denn einen Verwandlungsvorgang. So müssen denn aus bedeutenden Aprèsludes des Danach Vorspiele zu einem Unbekannten werden.

28 Ebd., S. 219.

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