Sendung vom 19.5.2015, 20.15 Uhr

Prof. Dr. Bundesministerin für Bildung und Forschung im Gespräch mit Werner Reuß

Reuß: Verehrte Zuschauer, ganz herzlich willkommen zu einem alpha-Forum, heute, wie Sie im Hintergrund vielleicht schon sehen konnten, aus Berlin. Gast in unserer Sendung ist die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Frau Professor Dr. Johanna Wanka. Ich freue mich sehr, dass Sie hier bei uns sind, herzlich willkommen, Frau Bundesministerin. Wanka: Ich freue mich gleichfalls, hallo, Herr Reuß. Reuß: Ich darf vielleicht gleich mit Ihrem Ministerium beginnen: Dieses Ministerium hat acht Abteilungen, also eine Zentralabteilung und sieben Fachabteilungen. Es arbeiten wohl knapp 1000 Menschen in diesem Ministerium und es hat – auch bedingt durch die deutsche Einheit – zwei Dienststellen: eine in Bonn und eine hier in Berlin. Sind diese zwei Dienstorte für Sie eher beschwerlich oder ist das mit Blick auf den Bildungsföderalismus vielleicht ganz gut so? Wanka: Sie haben es ganz richtig gesagt, das ist damals durch das Bonn-Berlin- Gesetz entschieden worden. Drei Viertel der Mitarbeiter sitzen in Bonn, ein Viertel sitzt in Berlin. Das Ganze ist in diesem Haus nun schon seit Jahren bestens organisiert. Zum Teil wird gependelt und auch ich selbst fliege immer wieder nach Bonn. Aber wir haben mittels Videotechnik auch die gute Möglichkeit, ganz spontan sagen zu können, dass wir mit den und den Leuten ganz direkt sprechen möchten. Da setzt man sich dann hin, kann sich per Videokonferenz sehen und miteinander reden. Das ist also bestens organisiert. Natürlich hat das Vorteile, wenn alles an einem Standort konzentriert ist, aber hier sind eben politische Befindlichkeiten zu berücksichtigen gewesen. Im Hinblick auf den Bildungsföderalismus bräuchte man natürlich nicht zwei Standorte, aber im Hinblick auf die Gesamtsituation ist das schon in Ordnung so. Und es funktioniert ja auch sehr gut. Reuß: Das Themenspektrum in Ihrem Ministerium ist sehr groß. Wenn man sich das auf dessen Homepage mal anschaut, dann sieht man, was da alles vorkommt: Da gibt es die berufliche Bildung, die Erwachsenenbildung, die Gesundheitsforschung, die Hochschulförderung, die Ausbildungsförderung, die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses usw. All das umfasst Ihre Arbeit und sie reicht darüber hinaus bis zur internationalen Zusammenarbeit im Bereich Bildung und Forschung. Eine sehr unfreundliche Frage: Was ist Ihnen dabei mehr Lust und was mehr Last? Wanka: Das ist wirklich eine unfreundliche Frage, denn das kann man ja überhaupt nicht beantworten. Aber es gibt doch Bereiche bei uns im Haus, die mir natürlich schon sehr vertraut waren, als ich in das Haus gekommen bin, und zwar aufgrund meiner langjährigen Tätigkeit als Landesministerin: Das war der gesamte Hochschulbereich. Es ist in meiner heutigen Position durchaus von Vorteil, wenn man diesen Bereich von der Pike auf kennt. Natürlich hatte man vorher auch schon internationale Kontakte, aber in dem Umfang – Regierungskonsultationen, internationale Kooperationen usw. –, wie das hier in diesem Bundesministerium der Fall ist, hat das schon noch eine andere Qualität als auf Landesebene. Ich sage zu den Kollegen immer: Ich habe früher bei der Forschungsförderung immer geguckt, wo man als Bundesland etwas "abgreifen" kann, während ich heute auf der anderen Seite stehe und Strategien verfolgen kann: Was soll unser Schwerpunkt sein, wo wollen wir uns besonders bemühen, wo wollen wir Mittel einsetzen? Daher kommt es, dass ich die unterschiedlichen Bereiche, die Sie soeben genannt haben, alle sehr mag und mich darüber freue. Ich freue mich sehr, weil es in dieser Legislaturperiode ein Schwerpunkt meiner Arbeit sein wird, im Bereich der beruflichen Bildung doch eine Reihe von Kompetenzen nun aufseiten des Bundes zu haben. Reuß: Nach den Ministerien für Arbeit und Soziales, Verteidigung und Verkehr haben Sie den vierthöchsten Etat im Bundeshaushalt, der ja insgesamt ungefähr 300 Milliarden Euro umfasst. Ihr Etat liegt bei ungefähr 15 Milliarden Euro. Ihr Ministerium verfügt also einerseits über einen stattlichen Etat und andererseits sind das aber eben doch "nur" fünf Prozent vom gesamten Bundesetat. Sie haben Ihren Haushalt noch einmal erheblich aufstocken können, denn es gab fast 25 Prozent an Zuwachs. Würden Sie denn für den Bund in Sachen Bildung und Forschung trotz der Kultur- und Bildungshoheit der Länder noch etwas mehr an Zuständigkeiten und an Finanzen wünschen? Wanka: Finanzen wünsche ich mir selbstverständlich immer mehr, das ist ganz klar. Wobei es aber in der Tat so ist, wie Sie das bereits angedeutet haben: Seit 2005 hat sich der Etat meines Hauses verdoppelt. Wir haben jetzt jährlich über 15 Milliarden zur Verfügung, weil wir in dieser Legislaturperiode noch einmal eine Steigerung um 25 Prozent erfahren haben. Trotzdem wären wir aber sicherlich in der Lage, noch mehr Geld auszugeben. Und wenn man unseren Haushalt in Relation zu anderen Ressorts sieht, dann stellt man fest, dass ungefähr 50 Prozent der Bundesausgaben in Sozialausgaben fließen. Beim Verteidigungsministerium ist es so, dass dort natürlich vor allem dieser große Personalbestand finanziert werden muss, was in unserem Haus ja nicht der Fall ist, weil die Hochschulen und andere Einrichtungen bei uns im Etat ja nicht mit ihrem Personal zu Buche schlagen. Stattdessen geht es bei uns in sehr starkem Maße um Förderung. Das heißt, wir haben eine größere freie Verfügbarkeit über die Mittel, als das teilweise in anderen Ressorts der Fall ist. Reuß: Im Jahr 2008 hat die Bundeskanzlerin gesagt: "Wir müssen die Bildungsrepublik Deutschland werden!" Das Bildungssystem müsse "jedem die Chance auf Einstieg und Aufstieg ermöglichen". Weiter führte sie aus: "Wohlstand für alle heißt heute und morgen Bildung für alle." Nun sind wir ja in Sachen Bildung recht weit vorangekommen, insbesondere nach dem sogenannten PISA-Schock. Dennoch haben wir immer noch rund 7,5 Millionen sogenannte funktionale Analphabeten; rund sechs Prozent der Schülerinnen und Schüler verlassen jedes Jahr die Schule ohne irgendeinen Abschluss; Sie selbst haben noch eine andere Zahl genannt: 14 Prozent der 24- bis 35-Jährigen haben entweder keinen Schul- oder keinen Berufsabschluss und wir haben immer noch hohe Abbrecherquoten an den Universitäten. Wie weit sind wir also auf unserem Weg in die Bildungsrepublik? Was sind die großen Herausforderungen der nächsten Jahre? Wanka: Ich war im Jahr 2000 Landesministerin, als die erste große PISA- Untersuchung kam. Sie war wirklich ein Schock! Das Gute daran ist aber, dass seit diesem Zeitpunkt das Thema "Bildung" in der Gesellschaft einen viel höheren Stellenwert hat. Es gab ja mittlerweile in einzelnen Bundesländern sogar schon Wahlen, die wegen Bildungsfragen verloren gegangen sind. Das ist das Erfreuliche daran und ich denke, es war auch wirklich eine Zäsur, dass es bei uns trotz des Bildungsföderalismus möglich gewesen ist, dass sich 2008 auf dem Bildungsgipfel alle Ministerpräsidenten und -präsidentinnen mit der Kanzlerin auf bestimmte Ziele verständigt haben. Diese Ziele kann man in den verschiedenen Ländern auf unterschiedlichen Wegen erreichen, aber klar ist, dass am Ende dasselbe Ziel erreicht sein soll. Solche Zielsetzungen bergen natürlich auch immer gewisse Gefahren: Wenn man sich eine Zahl als Ziel setzt, dann schauen immer nur alle darauf, ob genau diese Zahl erreicht wird oder nicht. Wir können erst 2015 Bilanz ziehen. Die Zahlen, die uns jetzt vorliegen, sind die Zahlen von 2010 bis 2012: Jede einzelne Zahl hat sich verbessert! Das betrifft z. B. die Anzahl der jungen Menschen, die die Schule mit einem Abschluss verlassen, denn diese Zahl ist klar gestiegen. Die angestrebte Halbierung der Zahl der Schülerinnen und Schüler, die die Schule ohne Abschluss verlassen, ist aber noch nicht ganz erreicht worden. Wir haben z. B. auch mehr junge Menschen, die eine berufliche Ausbildung abschließen. Bei jedem einzelnen Indikator haben wir also eine positive Tendenz, aber wir haben noch nicht überall unser endgültiges Ziel erreicht. 2015 müssen wir also ganz nüchtern Bilanz ziehen. Ich bin jedenfalls überzeugt davon, dass für ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland Bildung die entscheidende Ressource ist. Sie fragten ja nach den zukünftigen Aufgaben in diesem Bereich: Für mich ist hier entscheidend, dass wir es auch angesichts der demografischen Entwicklung – nicht nur deswegen, sondern auch deswegen, weil wir eine reiche Industrienation sind – in diesem Land möglich machen, dass jeder optimale Bildungschancen hat, d. h. es muss egal sein, woher jemand kommt und von wo er dabei startet. Das ist für mich Chancengerechtigkeit, und hier ist auch schon einiges erreicht worden, denn wir haben uns auch auf diesem Gebiet in den letzten Jahren verbessert. Dennoch bleibt hier natürlich noch einiges zu tun. Ich finde jedenfalls, dass das die zentrale Herausforderung darstellt, die viele andere Facetten überstrahlt, die man nennen kann, wie z. B. die Frage, wie wir Menschen, die aus anderen Ländern zu uns kommen, in unser Bildungssystem integrieren können. Das gehört selbstverständlich auch mit zu diesen Herausforderungen: Diese Menschen sollen, wenn sie bei uns sind, ebenfalls optimale Bildungschancen erhalten. Reuß: Mehr als die Hälfte eines Jahrgangs besucht heute das Gymnasium. Man soll ja nicht die Ausbildungswege gegeneinander ausspielen, dennoch ist es einfach so, dass heutzutage junge Leute fehlen, die in Ausbildungsberufe gehen: 20000 Lehrstellen können nicht mehr besetzt werden. Sie selbst haben darauf hingewiesen, dass in den nächsten zehn Jahren etwa 200000 Handwerksmeister in den Ruhestand gehen werden, ohne dass für sie ein Ersatz bereitstünde. Wird manchmal das Studium etwas überschätzt und die duale Ausbildung unterschätzt? Was kann denn getan werden, um auch das Image der beruflichen Ausbildung wieder zu stärken? Wanka: Sie haben recht, in der gesellschaftlichen Wertschätzung rangiert die berufliche Ausbildung nicht hoch genug. Ich bin aber – und das haben Sie in Ihrer Frage ja auch nicht gemacht – strikt dagegen, dass man die duale Ausbildung und das Studium gegeneinander ausspielt. Denn wir brauchen beides! Wenn ich mir die demografische Entwicklung für die nächsten 10, 15 Jahre und darüber hinaus anschaue, dann muss ich einfach sagen: Jedem, der heutzutage Lust hat zu studieren und in der Lage ist – denn das ist wichtig –, ein Studium erfolgreich zu absolvieren, würde ich zuraten, das zu tun. Das sind dann die Ärzte und die Rechtsanwälte und die Ingenieure und die Architekten, die wir in den 30er, 40er und 50er Jahren unseres Jahrhunderts brauchen werden. Aber auf der anderen Seite ist es so, dass die Stärke der Bundesrepublik auf der guten Fachkräftesituation beruht: Das sind die Menschen mit einer beruflichen Qualifikation. Wir müssen in unserer Gesellschaft wieder stärker wertschätzen, was ein Tischler kann, was ein Heizungsmonteur kann usw. Über den Stellenwert der beruflichen Bildung in unserer Gesellschaft denken wir nicht nur nach, sondern da unternehmen wir auch etwas, um diese Anerkennung zu erhöhen und um deutlich zu machen, dass wir diese Leute brauchen und dass die Berufe, die sie ausüben, auch wirklich sehr, sehr spannend sind. Auch die Berufsfelder haben sich ja total geändert in den letzten Jahrzehnten und sind mit ihren vielen, vielen Facetten höchst anspruchsvoll geworden. Dazu gehört, dass die berufliche Bildung auch entsprechend beworben wird, dass sich das dann aber auch in der gesellschaftlichen Wertschätzung und finanziellen Anerkennung widerspiegelt. Reuß: Kann hier auch das duale Studium etwas helfen, also eine berufliche Ausbildung plus Studium? Wanka: Beim Bildungsgipfel im Jahr 2008 ist ein Beschluss gefasst worden, den ich ganz toll fand. Ich kann ja jetzt durchaus sagen, dass ich das damals als Landesministerin bereits umgesetzt hatte. Es war nämlich bis zu diesem Zeitpunkt so, dass in Deutschland die allgemeine Hochschulzugangsberechtigung das Abitur gewesen ist. Das heißt, wenn man kein Abitur gemacht hatte und später doch studieren wollte, dann musste man das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nachholen. Auf diesem Bildungsgipfel 2008 wurde dann aber beschlossen, dass es in Deutschland in Zukunft möglich sein soll, auch mit beruflicher Qualifikation studieren zu können. Ich sage bewusst nicht "ohne Abitur", sondern "mit beruflicher Qualifikation". Das ist mittlerweile in allen Bundesländern per Gesetz auch umgesetzt worden. Das heißt, wenn man heutzutage in Deutschland ein gelernter Heizungsmonteur ist, wenn man also eine dreijährige berufliche Ausbildung hinter sich hat und dann auch noch – im Regelfall – drei Jahre in diesem Beruf tätig gewesen ist, dann kann man studieren. Man kann freilich nicht alles studieren: Man kann dann nicht Medizin studieren oder Mathematik fürs Lehramt, aber man kann alles studieren, was mit dieser beruflichen Ausbildung im weitesten Sinne zu tun hat. Man kann also als Heizungsmonteur z. B. Maschinenbau oder Physikalische Technik studieren oder Verfahrenstechnik oder Elektrotechnik, ohne dass man dafür das Abitur nachholen müsste. Darauf müssen sich die Hochschulen allerdings noch einrichten. Wissen Sie, wenn so jemand wie in diesem Beispiel mit dem Studium anfängt, dann kann er sich z. B. bestimmte Praktika sparen, denn er hat ja bereits sehr viel praktische Erfahrung. Andererseits muss er natürlich viele Dinge in Mathematik, Physik usw. nachholen. Klar ist jedenfalls, dass es diese Hürde namens "Abitur" nicht mehr gibt und wir stattdessen viel mehr Durchlässigkeit erreicht haben. Ich habe schon vor Jahren immer gesagt: Wir haben bereits ein gutes Bildungssystem, aber auf dem Gebiet der Durchlässigkeit herrscht bei uns ein Mangel. Es hängt bei uns zu viel davon ab, von wo man startet, ob man einen Hauptschulabschluss hat oder das Abitur usw. Deswegen war diese Durchlässigkeit dann auch ein ganz wichtiger Punkt auf dem Bildungsgipfel. Das heißt, man kann heute zu seinem Kind sagen: "Komm, lern Tischler, wenn dir die Schule nicht so viel Spaß macht. Und wenn du später Lust hast, Möbeldesigner zu werden, dann kannst du das auch ohne Abitur studieren." Das war wirklich ein großer Erfolg des Bildungsgipfels. Das ist nun rechtlich möglich, denn das steht in jedem Bundesland in den Gesetzen drin. Aber in der Praxis müssen sich die Hochschulen dafür noch umstellen, muss man auch dafür werben. Die Zahl der Menschen, die das nutzen, ist nämlich noch viel zu gering. Aber die Perspektive, die wir hier nun haben, ist sehr, sehr gut. Reuß: Das wird auch von allen Bildungsexperten so eingeschätzt. Aber es taucht dabei für die Interessenten auch immer wieder die Frage auf, ob es ein diagnostisches System gibt, aufgrund dessen man sagen kann, wo man überhaupt steht, welche Kenntnisse einem fehlen. Die weiterführende Frage ist, wer diese Menschen dann auf den nötigen Stand bringt, ob es z. B. an einer Hochschule ein Propädeutikum gibt. Das sind alles Fragen, um die sich die einzelnen Hochschulen und die Bildungswissenschaftler kümmern. Wir haben jetzt ja sehr viel über Bildung im Sinne von Ausbildung gesprochen. Wenn man aber auf die Homepage Ihres Ministeriums schaut, dann sieht man, wie breit in Ihrem Haus Bildung eigentlich gefasst wird. Da geht es um die frühkindliche Bildung, um die Alphabetisierung, um Bildungsgerechtigkeit, um die duale Berufsausbildung, um das Lernen im Lebenslauf bis hin zur kulturellen Bildung. Bildung ist ja an sich ein schöner Konsensbegriff, und der Konsens ist umso größer, je abstrakter dieser Begriff gefasst wird. Die Frage ist also, was unter Bildung konkret zu verstehen ist, ob das nur die Ausbildung umfasst – die ja immer bis zu einem bestimmten Punkt reicht, also endlich ist – oder ob Bildung etwas ist, was das ganze Leben umfasst. Deswegen muss ich natürlich auch die Bundesbildungsministerin fragen: Was ist Bildung für Sie? Wanka: Das, was Sie als Zweites genannt haben. Bildung zu reduzieren auf das Sammeln von Kenntnissen und formalen Fertigkeiten, wäre viel zu eng. Bildung ist, wenn ich an Herder denke, auch Lebensbildung: Das ist etwas, was im ganzen Lebensverlauf passiert, denn man eignet sich während des gesamten Lebens Bildung an, wird gebildet usw. Ich würde daher immer für einen sehr, sehr breiten Bildungsbegriff eintreten. Insbesondere die kulturelle Bildung muss unbedingt mit dazu gehören. Wenn ich über kulturelle Bildung spreche, dann sage ich immer: Kultur ist eigentlich für das Lebensglück des Einzelnen unwahrscheinlich wichtig. Reuß: Nun stehen wir ja vor ganz gewaltigen Herausforderungen und Sie selbst werden auch nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen. Ich darf aus einem Interview mit Ihnen zitieren, in dem Sie gesagt haben: "Alleine die digitale Revolution wird uns eine ähnliche Kraftanstrengung abverlangen wie die Wiedervereinigung. Alles wird sich verändern, von den Handelsbeziehungen über die Arbeitswelt bis zur Freizeitgestaltung. Deutschland hat einen guten Stand in der Welt, aber wir befinden uns in einer Umbruchsituation und wir müssen aufpassen, dass wir es nicht vergeigen." Wanka: Habe ich das mit diesem Wort gesagt? Reuß: So werden Sie zumindest wortwörtlich zitiert. Wanka: Dann werde ich das wohl auch so gesagt haben. Reuß: Was müssen wir denn tun, damit wir das nicht vergeigen? Wanka: Die Digitalisierung durchdringt alle Lebensbereiche. Sie ist ja jetzt schon im privaten Leben bei ganz, ganz vielen Menschen angekommen, bei Ihnen, bei mir. Wichtig ist, sich darauf einzustellen, z. B. vonseiten der Wirtschaft. Das bedeutet aber nicht nur, in Technik zu investieren und sich zu überlegen, wie man in zwei, in fünf Jahren produzieren kann, wie man damit auf dem Weltmarkt ganz vorne sein kann. Stattdessen müssen die Betriebe, muss die Gesellschaft überlegen, was die Digitalisierung für die Qualifikation der Berufstätigen bedeutet. Das heißt, und das haben wir auch in den Koalitionsvertrag hineingeschrieben: Es geht jetzt um den Einzug der Digitalisierung in die schulische Bildung, in die berufliche Bildung, und das ist etwas, was mich besonders beschäftigt. Was bedeutet das darüber hinaus aber auch für die Curricula an den Universitäten? Ich glaube, dass wir im Bereich der Digitalisierung in Deutschland auch eine riesengroße Chance haben. Denn die vierte industrielle Revolution, also die Industrie 4.0, bedeutet ja die Durchdringung der Produktionsprozesse mit Digitalisierung. Das ist eine riesengroße Chance für uns, denn wir sind hier in einer besseren Startposition als andere große Industrienationen. Aus dieser Chance müssen wir etwas machen. Und "etwas machen" heißt, dass das nicht ohne Anstrengung geschehen wird: in finanzieller wie auch in ideeller Hinsicht. Reuß: Sie waren immer eine strikte Befürworterin des Bildungsföderalismus ... Wanka: Das bin ich auch noch immer. Reuß: Im Grundgesetz ist das ja auch alles weitgehend geregelt: Die Bundesländer haben die Kulturhoheit. Nun sind aber die Länder doch sehr unterschiedlich groß, sehr unterschiedlich stark hinsichtlich ihrer Wirtschafts- und Finanzkraft, hinsichtlich ihrer Bevölkerungszahl etc. Wenn man arme Länder wie Bremen, das Saarland oder Berlin mit Baden-Württemberg oder Bayern vergleicht, dann sind die Unterschiede schon sehr groß. Können wir uns denn diesen Bildungsföderalismus auch künftig noch leisten? Ist er nicht zu behäbig, zu langsam? Oder müssen wir ihn uns leisten, weil es nun einmal keine Patentrezepte gibt auf diesem Gebiet und hier der Wettbewerb vielleicht ganz gut tut? Wanka: Genau der zweite Punkt ist der entscheidende. Ich bin wirklich ein vehementer Verfechter des Bildungsföderalismus. Das klingt jetzt vielleicht merkwürdig, wenn das eine Bundesbildungsministerin sagt, bei der man doch eher annimmt, dass sie eigentlich am liebsten dafür sorgen möchte, dass möglichst viele Kompetenzen auf den Bund übergehen. Aber nehmen wir beispielsweise die PISA-Studie als ein Indiz und lassen Sie uns mal schauen, wie die Leistungen der Schüler in den unterschiedlichen Ländern aussehen. Die Länder, die ein zentrales Bildungssystem haben, sind hier nämlich überhaupt nicht per se besser, im Gegenteil. Für mich besteht der große Vorteil des föderalen Systems wirklich im Wettbewerb. Nun kann man natürlich sagen, dass man sich in Bremen sehr wohl auch anschauen kann, wie man meinetwegen in Kanada oder in Australien Bildungspolitik betreibt. Das ist ganz, ganz weit weg. Aber man kann auch andere Bildungsvergleiche anstellen: Bei der letzten Untersuchung z. B. der Grundschüler – was leisten Grundschüler in der ersten und bis zur vierten Klasse? – stellte sich nämlich heraus, dass es Sachsen gemäß dieser Untersuchung geschafft hat, dass dort der Bildungserfolg eines Grundschülers weitestgehend unabhängig vom sozialen Status des Elternhauses geworden ist. Ich saß damals bei der Präsentation dieser Ergebnisse neben dem bayerischen Kultusminister, der daraufhin gesagt hat: "Aha, das müssen wir uns mal angucken. Wie machen die das?" Und die nordrhein-westfälische Bildungsministerin hat die Sachsen dann zu einer Tagung eingeladen, um Gespräche darüber zu führen. So etwas ist natürlich sehr viel anregender, wenn man sieht, dass es ein einzelnes Bundesland ist, das unter denselben geografischen Bedingungen in dieser Bundesrepublik existiert, und es schafft, auf diesem Gebiet besser zu sein. Das ist dann auch für die anderen ein großer Anreiz, dem nachzueifern. Das ist also schon mal ein großer Vorteil des Bildungsföderalismus'. Ein zweiter Vorteil ist: Wir sind zwar kein großes Land, trotzdem sind die Bedingungen in den Schulen sehr unterschiedlich. Ich meine damit nicht die Ausstattung der Schulen, sondern ich meine einfach die Zusammensetzung der Schüler in den Klassen. Es gibt eine Reihe von Großstädten, in denen es in den Schulklassen 45, 65 oder noch mehr Prozent Kinder mit einem Migrationshintergrund gibt. Dort muss man den Unterricht sicherlich anders gestalten als irgendwo auf dem Land in einem kleinen Dorf mit einer sehr homogenen Schülerschaft. Das kann man viel besser so unterschiedlich organisieren, wenn man nicht von Berlin aus – Berlin ist hier gemeint als Sitz der Bundesregierung – alles für das ganze Land festlegt, sondern wenn man das in den je einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich machen kann. Aber der große Nachteil des Bildungsföderalismus' ist natürlich: Wenn man von einem Bundesland ins andere wechselt, dann haben die Eltern Probleme, die Schüler Probleme. Deswegen hat sich die damals nach dem ersten PISA-Schock auf Bildungsstandards verständigt. Das heißt, es gibt ausgearbeitete Standards, die von allen akzeptiert werden: Was muss z. B. ein Kind am Ende der vierten Klasse in Mathematik können? Wie es so weit kommt, wie die Schule das organisiert, ist egal, es müssen aber letztlich überall die gleichen Ergebnisse vorhanden sein. Und nun sind wir in der Phase, dass das auch wirklich überprüft werden muss: Es müssen jetzt Vergleichsarbeiten geschrieben und Konsequenzen gezogen werden. Das ist eine ganz spannende Phase, denn das ist der Versuch, einen Nachteil des Föderalismus, nämlich diese Mobilitätshindernisse, zu beseitigen. Ich finde, wir gehen hier wirklich auf einem erfolgreichen Weg. Reuß: Man könnte jetzt provozierend nachfragen, ob denn den Ländern auf diese Weise lediglich noch die Strukturhoheit bleibt und nicht mehr die inhaltliche Hoheit. Es ist ja so, dass es Entwicklungen gibt, die über Deutschland hinausgehen: Ich denke hier z. B. an den Deutschen und den Europäischen Qualifizierungsrahmen, ich denke an den Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen usw. Die Bildungsstandards haben Sie selbst bereits angesprochen. Das heißt, hier gibt es bereits eine Annäherung. Wenn man z. B. mit einer Berufsgruppe wie den Soldaten spricht, die ja sehr mobil sein müssen, dann erfährt man, dass sie vom Föderalismus nicht wirklich begeistert sind, weil sie das alles anders erleben. Sie selbst haben sich ja für bestimmte Punkte auf diesem Gebiet auch schon massiv eingesetzt. Es gab im Rahmen der Föderalismusreform den Wunsch, die Zuständigkeit von Bund und Länder wieder klarer zu fassen und die Anzahl der zustimmungspflichtigen Gesetze wieder etwas zu reduzieren. Und dann gab es ja auch noch verschiedene Kooperationsverbote. Der Paragraf 91b im Grundgesetz spricht ein Kooperationsverbot aus im Hinblick auf die Mitfinanzierung des Bundes im Hochschulbereich. Das konnte wieder aufgehoben werden und Sie haben sich sehr stark dafür eingesetzt. Es gibt nun aber Ministerpräsidenten, die sogar noch weiter gehen wollen wie z. B. Stephan Weil in Niedersachsen. Er sagt: "Lasst uns dieses Kooperationsverbot doch auch im Bereich der Schulen aufheben." Wie sehen Sie das? Wie viel Kooperation ist gut zwischen Bund und Ländern, und wo ist es besser, die Dinge klar abzugrenzen, also zu sagen, was Bundes- und was Ländersache ist? Wanka: Im Hochschulbereich, also im Wissenschaftsbereich kann es nicht sein, dass eine Nation, ein Land wie Deutschland seine Stärke nur durch die Addition dessen bekommt, was in den einzelnen Ländern im Wissenschaftsbereich gemacht wird. Stattdessen muss man im Wissenschaftsbereich einfach Strategien entwickeln, die bundesweit wirksam sind. Nehmen wir als Beispiel noch einmal die Digitalisierung. Da muss man sich zuerst einmal überlegen, welche Kompetenzen und wie viele Fachkräfte wir brauchen, wo wir die Forschung hierfür konzentrieren wollen usw. Das heißt, hier müssen Bund und Länder zusammenarbeiten. Das funktioniert im Bereich der außeruniversitären Forschung sehr gut. Wir haben seit 2006, als damals das Grundgesetz positiv geändert wurde, so viele Kooperationen wie noch nie im Wissenschaftsbereich. Aber diese Kooperationen hatten immer noch zwei Mängel: Sie liefen immer nur zeitlich begrenzt, wobei das aber auch durchaus mal lange Zeiträume von 10, 15 Jahren sein können. Und der Bund durfte in den Hochschulen nicht institutionell etwas befördern. Genau diese zwei Punkte haben wir nun mit der Grundgesetzänderung ausgeräumt. Ich denke, das ist eine sehr, sehr gute Basis für noch klügere Kooperationen zwischen Bund und Ländern. Dazu braucht es natürlich viele Absprachen, an denen alle Länder beteiligt werden müssen usw. Im Schulbereich ist das anders. Wir haben ja in der Bundesrepublik Deutschland Tausende von Schulen und sehr unterschiedliche Schulstrukturen. Die Frage ist: Was soll da nun der Bund regeln, was bisher die Länder geregelt haben? Auf die Bildungsstandards haben sich die Länder ja verständigt. Was ist also das Angebot? Wo soll der Bund Kompetenzen haben im Schulbereich? Dafür gibt es keine Angebote vonseiten der Länder, es gibt auch keine einheitliche Position der Länder dazu und das Ganze geht auch noch quer durch alle Parteien. Der grüne baden-württembergische Ministerpräsident ist strikt dagegen, dass der Bund im Schulbereich irgendwas zu tun hat. Ich habe den Verdacht, dass diejenigen, die genau das wünschen, weniger wünschen, dass der Bund Kompetenzen erhält, sondern sie wollen einfach, dass mehr Geld gezahlt wird. Aber das ist sicher nicht die Lösung dieser Problematik. Reuß: Bleiben Sie also bei Ihrem Satz, den Sie als Präsidentin der Kultusministerkonferenz mal geäußert haben ... Wanka: Sie haben aber wirklich alles angeguckt, was ich je gesagt habe. Das ist schon so lange her, wer weiß, was ich da gesagt habe. Reuß: Sie haben damals als Präsidentin gesagt: "Mehr Kompetenzen für den Bund sind schon gar nicht drin." Ist es so, dass der Standort den Standpunkt bestimmt? Würden Sie das also heute anders sehen? Oder stehen Sie zu diesem Satz auch als Bundesbildungsministerin? Wanka: Ich will im Schulbereich nicht Kompetenzen von den Ländern wegverlagern. Deswegen wird das in keiner Weise von mir forciert. Wenn das aber mit Schuldzuweisungen an den Bund verbunden ist, dann sage ich: "Gut, dann verständigt euch, dann macht ein Angebot, dann können wir darüber reden." Reuß: Sie sind Bundesministerin, aber Sie haben kein Mandat im Bundestag. Sie haben mal gesagt: "Ich mache leidenschaftlich gerne Politik, aber das muss nicht unbedingt mit einem Mandat verknüpft sein." Ist es ein Vorteil, dass Sie jetzt nicht auch noch, wenn ich das mal so negativ ausdrücken darf, einen Wahlkreis betreuen müssen, sondern sich voll auf Ihre Arbeit als Bundesministerin konzentrieren können? Oder ist es vielleicht manchmal doch auch ein Nachteil, in der Fraktion nicht verortet zu sein, keine "Hausmacht" zu haben? Wie sehen Sie das heute nach einigen Jahren als Bundesministerin? Wanka: Landes- und Bundesministerin ist hier ja analog zu betrachten: Ich war als Landesministerin teilweise als Abgeordnete mit in der Fraktion und in gewissen Phasen eben auch nicht. Für eine Ministerin ist es vor allem entscheidend, dass sie eine hohe Akzeptanz in der Fraktion hat, dass sie selbst die Fraktion wertschätzt, dass sie mit der Fraktion arbeitet: Das ist zwingend notwendig, denn ansonsten wäre die Arbeit als Ministerin auf keinen Fall gut zu machen. Die Akzeptanz in der Fraktion hängt aber nicht davon ab, ob man selbst ein Mandat hat, sondern wie man sich engagiert. Ich bin ja zu einem Zeitpunkt in die Bundesregierung gekommen – das war kurz vor der letzten Bundestagswahl –, als alle Wahlkreisaufstellungen bereits gelaufen waren. Es war also ganz natürlich, dass ich nicht mit einem Mandat in diese Bundesregierung gehe. Ich bin eigentlich sehr froh über die Art und Weise der Zusammenarbeit mit der Fraktion und kann mich da auch überhaupt nicht beschweren. Aber man muss sich auch wirklich kümmern. Und ich war auch im Wahlkampf ganz viel unterwegs für diejenigen, die ein Mandat angestrebt haben. Reuß: Ich würde hier gerne eine kleine inhaltliche Zäsur machen und unseren Zuschauern den Menschen Johanna Wanka noch etwas näher vorstellen. Sie sind am 1. April 1951 in Rosenfeld geboren, das damals noch zu Sachsen-Anhalt gehörte. Ein Jahr später gab es dann eine Gebietsreform und seitdem gehört es zu Sachsen. Sie wurden zwei Jahre nach Gründung der DDR und zwei Jahre vor dem Volksaufstand 1953 in der DDR geboren – damit man eine Ahnung davon bekommt, in welche politischen Zeiten Sie hineingeboren wurden. Sie sind auf dem Land aufgewachsen. Wanka: Ja. Reuß: Wie würden Sie Ihre Kindheit und Jugend beschreiben? Wanka: Ich bin auf dem Bauernhof, der uns auch heute noch gehört, groß geworden. Der Hof steht in einem sehr kleinen Dorf. In diesem Dorf Rosenfeld haben früher immer nur so um die 100, 110 Leute gewohnt. Es hatte natürlich Vorteile, wenn man in so einem Dorf aufwächst: Man ist behütet, man kennt alle. Aber das hat natürlich auch Nachteile, vor allem, wenn man jung ist, denn es wird eben immer alles sehr genau beobachtet: Man steht einfach immer sehr im Blickpunkt. Als ich dann Ministerin in war, sagten die alten Männer in den ersten Jahren in unserem Dorf immer noch: "Du bist doch jetzt was geworden!" Sie wussten freilich nicht so genau, was ich da geworden war. Ich war jedenfalls was geworden, auch wenn ich für sie immer noch "die Große vom Müller Helmut" war – unabhängig davon, was ich beruflich erreicht habe. So gesehen war das eine Kindheit auf dem Land mit viel Naturverbundenheit, mit einem großen Garten, mit Schneeglöckchen usw. Das waren alles Dinge, die man jedes Jahr sehr bewusst erlebt hat, und deswegen war das einfach alles sehr, sehr schön. Was nicht ganz so einfach war, war die Tatsache, dass sich das Ganze eben in der DDR abgespielt hat, wo eben auch das Schulsystem sehr stark ideologisch bestimmt war. Ich hatte eine Mutter, die entschieden hat, dass ich nicht Jungpionier werde. Reuß: Das war damals die Jugendorganisation in der DDR. Wanka: Und in der waren alle drin, von der ersten bis zur siebten oder achten Klasse, so genau weiß ich das schon gar nicht mehr. Man kam erst nach den Jungen Pionieren – erste bis dritte Klasse – und den Thälmannpionieren – vierte bis siebte oder achte Klasse – zur FDJ. Wenn man in die erste Klasse kommt, dann kann man das alles mit seinen sechs Jahren natürlich noch nicht einschätzen. Es war jedenfalls so, dass von dem Tag an die anderen immer alle gleich waren, während man selbst immer die Ausnahme war. Auf diese Ausnahme wird genau geguckt, sie wird an manchen Stellen auch ausgeschlossen usw. Das war am Anfang wirklich schwierig. Ich wollte ja so sein wie alle anderen auch, wollte dazugehören – was ja auch völlig normal ist für ein Kind. Erst im Laufe der Schuljahre – ich war dann eben auch nicht Thälmannpionier – war das etwas, das eine Stärke bewirkte: Ich habe über diese Dinge viel intensiver nachgedacht und habe verstanden, dass man nicht immer automatisch dazugehört, wenn man einen eigenen Standpunkt hat. Diesen Standpunkt musste ich natürlich auch immer erklären. Ich bin jedenfalls meiner Mutter im Nachhinein sehr, sehr dankbar dafür. Ich denke, das hat mir dann auch später geholfen, weil ich dann nämlich schon gewusst habe, dass es nicht darauf ankommt, angepasst zu sein und das zu machen, was alle um einen herum auch machen, sondern dass man bestimmte Dinge eben auch anders machen kann und will. Reuß: Sie haben Ihre Mutter bereits angesprochen: Ich habe in den Unterlagen gefunden, dass Ihre Mutter auch eine sehr mutige Frau gewesen ist. Es gab in der DDR ja eine Wahlpflicht. Ihre Mutter ist trotzdem entweder nicht zur Wahl gegangen oder sie hat kritische Anmerkungen auf den Wahlzettel geschrieben. Das hat eben auch unerwünschte Besuche von Parteikadern nach sich gezogen, die Ihre Mutter auch mal ein bisschen einschüchtern wollten. Waren Sie später, als Ihnen das bewusst wurde, eher stolz auf Ihre Mutter oder hatten Sie eher Angst um Ihre Mutter, um Ihre Familie? Denn so ganz ohne war das ja nicht. Wanka: Das war nicht ohne, das hat Nachteile gebracht, aber ich war stolz auf meine Mutti. Es ist wirklich nicht so einfach, wenn am Sonntagnachmittag, weil klar ist, dass sie wieder nicht zur Wahl geht, vier Mann von der Kreisleitung im Auto vorfahren und ihr Druck machen. Ja, doch, das hat mir imponiert. Meine Mutti war ja nicht in irgendeiner Organisation, sondern sie war einfach stolz und selbstbewusst genug, sich nicht verbiegen zu lassen. Dass es da auch Gefahren gab, dass man ins Gefängnis kommen konnte usw., wusste man: Aber man hatte die Hoffnung, dass einem das nicht passiert. Reuß: Aufgrund dieser Haltung hätten Sie ja trotz hervorragender Noten auch beinahe nicht studieren dürfen – weil Sie eben nicht in diesen Jugendorganisationen Mitglied gewesen waren. Ihr Vater hat dann aber, wie ich gelesen habe, die Situation dadurch gerettet, dass er schlicht die Felder der Parteigenossen beackert hat. Im Gegenzug durften Sie dann die Oberschule besuchen. Wanka: Für Zuschauer aus den alten Bundesländern ist das womöglich völlig unverständlich. Mein Vati ist Bauer und ist damals zu diesem Zeitpunkt Mähdrescher gefahren. In der DDR war es üblich, dass jeder irgendwo noch ein eigenes Feld, einen eigenen kleinen Acker hatte, um sich im Selbstversorgungsprinzip über die Runden zu bringen. Und vom ersten Parteisekretär des Kreises musste eben auch mal das Feld gemäht werden. Also brauchte auch er einen Mähdrescherfahrer, der das im Nebenjob am Abend oder am Wochenende für ihn machte. Mein Vater hat daher zum ersten Sekretär des Kreises gesagt: "Ich will keine Geld für diese Arbeit, sondern ich will, dass meine große Tochter auf die Oberschule gehen kann." Deswegen war das dann möglich. So ein Tauschhandel war in der DDR absolut üblich: Es wurde mit allem gehandelt, wirklich mit allem. Reuß: Sie haben parallel zur Oberschule zunächst einmal eine Ausbildung als Agrotechnikerin gemacht, Sie kannten sich also aus mit allem, was mit Landmaschinen zu tun hat, mit dem Boden, mit der Tierhaltung, mit dem Saatgut usw. Erst danach haben Sie studiert, und zwar Mathematik. Sie hätten auch gerne Germanistik studiert, wie ich gelesen habe, und haben einmal gesagt, Bücher und Literatur seien für Sie das Tor zur Welt gewesen. Das heißt, Sie haben sehr gerne gelesen. Haben Sie Mathematik aus Neigung studiert oder auch ein bisschen deswegen, um den ideologisch befrachteten Fächern aus dem Weg zu gehen? Wanka: Ich habe zwei Sachen immer schon sehr gerne gemacht: Ich habe gerne Mathematik gemacht und war auch immer auf Schul- und Kreisebene auf Mathe-Olympiaden mit dabei und habe dort auch oft gewonnen; Mathematik fiel mir immer leicht. Und ich hatte einen tollen Deutschlehrer. Man muss sich ja vorstellen, unter welchen Umständen ich damals in diesem kleinen Dorf groß geworden bin: Damals, zu Beginn der 60er Jahre, gab es wenn überhaupt nur ganz, ganz selten jemanden, der einen Fernseher hatte. Bücher waren daher für mich das Allerwichtigste. Ich habe querbeet wirklich alles gelesen, was ich in die Finger bekommen konnte. Ich habe natürlich auch das gelesen, von dem ich dachte, dass man das lesen muss, d. h. ich habe von Schiller und Goethe die Theaterstücke gelesen und mich da wirklich durchgequält. – Heute würde ich das nicht mehr so machen. – Ja, das Lesen war für mich ganz wichtig, das war einfach mein Tor zur Welt. Deswegen hätte ich auch gerne Germanistik studiert. Ich habe mir dann aber überlegt: Wenn ich Germanistik studiere, was mache ich dann hinterher? Die Vorstellungen, die mir dabei in den Sinn kamen, waren überhaupt nicht prickelnd: In irgendeinem Kreiskulturhaus werkeln zu müssen oder nur das schreiben zu können, was politisch gewünscht ist, das wollte ich nicht. Deswegen habe ich meine andere große Liebe, nämlich die Mathematik, als Studienfach gewählt. Mit so einem Abschluss war man einfach unabhängiger, weil das nicht so ideologisch aufgeladen war. Das war für mich also der entscheidende Grund. Ich lese aber immer noch sehr, sehr gerne. Reuß: Sie sind dann an der Universität geblieben und haben promoviert. Anschließend hatten Sie eine Stelle als wissenschaftliche Oberassistentin und haben Ihrerseits junge Menschen ausgebildet. Einmal haben Sie dabei ihre Laufbahn, Ihren Arbeitsplatz und vielleicht sogar auch Ihre Freiheit riskiert, wenn ich das richtig nachgelesen habe. Es gab nach den Semesterferien nämlich immer diese Politseminare ... Wanka: Das war immer die "Rote Woche". Reuß: In dieser "Roten Woche" wurden die jungen Leute im Hinblick auf den Marxismus-Leninismus dann wieder auf Linie gebracht. Normalerweise machten das die Parteikader, aber einmal waren Sie und Ihr Mann dazu eingeteilt. Sie haben nach langer Diskussion entschieden, das nicht zu machen, sondern mit den Studenten über Sinn und Zweck des Wehrkundeunterrichts zu diskutieren und auch die Stationierung der sowjetischen Mittelstreckenraketen zum Thema zu machen, die damals auch atomar bestückt werden konnten. Wie haben die Studenten darauf reagiert? Wie haben die Parteikader darauf reagiert? War das nicht doch auch gefährlich? Man verklärt so etwas ja mit zunehmendem zeitlichen Abstand gerne und sagt: "Ach, was war schon dabei!" Aber in Wirklichkeit war auch das eben nicht ohne gewesen. Wanka: Ja, das war nicht ohne. Diese Sache mit der "Roten Woche" war ganz überraschend für uns. Normalerweise haben das immer die Parteileute selbst gemacht. Aber mein Mann und ich waren ja nicht in der Partei und unsere Haltung war auch allen klar. Dennoch haben sie uns beide plötzlich eingeteilt dafür. Da wir beide eingeteilt waren, konnten wir auch nicht krank werden, denn dass beide gleichzeitig krank werden, wäre doch sehr unwahrscheinlich. Und da haben wir uns ... Reuß: War das Absicht vonseiten der Partei? Wollte man Sie testen? Oder war das einfach ein normaler Vorgang? Wanka: Nun, das war die Zeit, in der es in der Sowjetunion bereits Glasnost gegeben hat. Das heißt, das war eine Zeit, in der es auch in der DDR ein Stückchen Hoffnung auf Veränderung gegeben hat. Natürlich war es provokativ, uns dafür einzuteilen, und zwar beide gleichzeitig. Die Studierenden, die im dritten, vierten und fünften Studienjahr Mathematik waren, kannten uns ja, d. h. viele von denen wussten, wo wir politisch stehen. Wir konnten also nicht einfach so ein normales Polit-Seminar machen und darin die altbekannten Phrasen dreschen und so tun, als ob wir auf einmal ganz anders, nämlich auf Parteilinie denken würden. Wir haben uns daher den ganzen August damit gequält, darüber nachzudenken, was wir machen können. Wir wollten etwas machen, was man in der DDR noch vertreten konnte, bei dem aber die Studenten dennoch nicht denken, wir seien Verräter oder feige. Wir haben uns wirklich intensiv vorbereitet auf dieses Seminar. Wir haben, wenn Ihnen das etwas sagt, intensiv in der Zeitschrift "Sputnik" gelesen, haben andere Texte gewälzt usw. Wir haben dann über dieses und auch über andere Themen sehr offen diskutiert. Das war dann auch ein gutes Seminar. Hinterher – das weiß ich aus meinen Stasi-Unterlagen – gab es sogar Telegramme nach Berlin, dass sich dort zwei kleine Assistenten so etwas getraut hatten. Danach gab es freilich ein Disziplinarverfahren, das für uns ganz furchtbar verlaufen ist. Wir durften nicht gemeinsam zu diesem Disziplinarverfahren gehen, d. h. das waren zwei getrennte Verfahren. Den Studenten, die uns kannten und schätzten und die gerne für uns ausgesagt hätten, wurde das nicht erlaubt. Es durfte sich stattdessen nur ein Genosse äußern. Diese Zeit damals vergesse ich nicht! An der Hochschule wurden wir ein bisschen wie Aussätzige behandelt. Das heißt, kaum jemand wollte mit uns noch gemeinsam in die Mensa zum Essen gehen. Wir waren einfach politisch ins Abseits geraten. Ich habe in der Zeit damals auch oft im Seminar gestanden und mir gedacht: "Was machen wir, wenn wir jetzt von der Hochschule fliegen?" Ich selbst bin ja eher der universellere Typ, d. h. ich hätte dann vielleicht irgendwo bei der Kirche arbeiten können. Aber für meinen Mann wäre das schwierig geworden: Er ist ein hoch spezialisierter Mathematiker, der genau das wirklich wahnsinnig gerne macht. Die Perspektive, z. B. auf dem Friedhof arbeiten zu müssen, war für ihn eine ganz furchtbare Vorstellung. Diese Gefahr bestand also durchaus und so gesehen war unsere Handlung hochgradig gefährlich gewesen. Wir durften dann aber gnädigerweise an der Hochschule bleiben und haben nur eine schwere Missbilligung ausgesprochen bekommen. Und politisch waren wir ja ohnehin abgestempelt, d. h. eine größere Karriere hätten wir ohnehin nicht machen können: Eine Professur war für uns unerreichbar. In einer Diktatur – und dieser sogenannte Arbeiter- und Bauernstaat war eine Diktatur – ist es wichtig, dass man sich nicht immer von vornherein von der eigenen Angst leiten lässt und immerzu vorauseilenden Gehorsam leistet. Stattdessen ist es wichtig, sich bis zum Rand zu bewegen und zu schauen, ob man nicht noch ein Stück weitergehen kann. Natürlich will man nicht ins Gefängnis kommen oder so. Aber das Allerschlimmste ist wirklich, sich selbst einzuschränken aus Sorge. Stattdessen muss man immer versuchen, mit den Möglichkeiten, die man hat, weiterzugehen. Denn das ist ja auch die eigene Lebenszeit, die auf diese Weise verrinnt, und die ist nun einmal wichtig. Die, die damals zu uns gehalten haben, die nicht Sorge hatten, habe ich bis heute nicht vergessen. Denen habe ich dann versucht, nach 1989 zu helfen, wenn sie u. U. in eine schwierige Situation gerieten. Reuß: 1989 war das große Jahr des Umbruchs. Von heute aus betrachtet, wirkt all das, was 1989 und 1990 passiert ist, irgendwie zwangsläufig, aber ... Wanka: ... da war nichts zwangsläufig. Reuß: Am Anfang war überhaupt noch nicht klar, wie die Geschichte ausgehen wird. Sie selbst haben sich an diesem Aufbruch schon sehr früh beteiligt und waren Mitglied an verschiedenen Runden Tischen, wie das damals geheißen hat. Sie waren auch Mitbegründerin des Neuen Forums in Merseburg, haben interessierte Leute zu sich in die Wohnung eingeladen usw. Das Neue Forum war ja eine Organisation, die der Staat als staatsfeindlich eingestuft hat. Auch das war nicht so ganz ohne. War Ihnen denn im Frühjahr 1989 schon klar, wie die Geschichte ausgehen würde? Was waren denn die Ziele in diesem Frühjahr? Wollte man die DDR reformieren? Waren Sie beflügelt durch das, was in Moskau durch Gorbatschow alles geschehen ist? Wanka: Ja, davon waren wir ganz sicher beflügelt. Zu Beginn des Jahres 1989 hatten wir die große Hoffnung, dass sich etwas zum Besseren verändert. Es standen in diesem Frühjahr ja auch Kommunalwahlen an und mein Mann und ich haben dazu etwas gemacht, was damals überhaupt nicht üblich gewesen ist. Diese Wahlen waren ja keine freien Wahlen, definitiv nicht, aber formal gab es Veranstaltungen, bei denen sich die Kandidaten vorstellten. Wir beide sind auf mehrere solche Veranstaltungen marschiert und haben dort Fragen gestellt, die aus Sicht der Befragten recht unangenehm waren. Wir wurden dann schon auch mal angegangen deswegen und es hieß: "Was wollen Sie schon wieder? Sie waren doch auf der letzten Veranstaltung und haben diese unsinnigen Fragen gestellt." Aber wir haben das trotzdem gemacht. Dann kam der Wahlabend und brachte die Ergebnisse. Heute wissen wir ja, dass das Betrug gewesen ist. Wir hatten gedacht, dass eine Zahl unter 99 Prozent herauskommen müsste: Das wäre ein Zeichen gewesen, dass es doch viele Menschen gibt, die nicht mehr wollen, dass der Staat weiterhin auf diese Weise regieren kann. Aber dann wurde eben dieses schreckliche Ergebnis bekannt gegeben: Es war ein Wahlergebnis wie immer, wie jedes Mal in allen Wahlen davor. Ich weiß noch, dass wir an diesem Abend mit Freunden spazieren gegangen sind. Mein Mann wollte schwarze Papierflieger vom Kirchturm werfen, wollte irgendetwas machen, um seinen Protest auszudrücken. Wir konnten ihn gerade noch davon abhalten, etwas zu machen, denn das wäre sinnlos gewesen, es hätte nichts genützt. Dieser Abend war jedenfalls absolut deprimierend für uns. Und dann kam die Zeit, als die Ersten weggingen, als Studenten von uns über Ungarn oder auf anderen Wegen in den Westen gingen. Als es dann im September die Gründung des Neuen Forums gab, war für uns beide klar: Das ist wunderbar, das ist toll. Wir hatten auch keine Angst, da mitzumachen. Aber eine bestimmte Angst hat es leider immer gegeben. Wir wissen heute, dass es Listen gegeben hat, wen man alles internieren wollte. Diese eine Angst war immer die Angst um die Kinder. Heute weiß man das aus so manchem Fernsehfilm, wir wussten das damals zu diesem Zeitpunkt auf privater Ebene durch ganz schreckliche Erfahrungen in unserem Freundeskreis: Das Strafgesetzbuch der DDR sah vor, dass dann, wenn Eltern verurteilt wurden, ihnen die Kinder weggenommen und in ein Kinderheim gesteckt werden können. Dies auch dann, wenn Großeltern oder Freunde vorhanden wären und die Kinder aufnehmen würden. Davor hatten wir wirklich große Angst. Denn für sich selbst kann man ja mutig sein und denken, dass man das alles schon irgendwie überstehen werde. Aber um die Kinder hatten wir immer Angst. Wir hatten daher immer einen Zettel bei Freunden liegen, auf dem stand: "Wenn uns beiden etwas passieren sollte, dann bringt bitte unsere Kinder sofort zu meinen Eltern in mein kleines Heimatdorf." Ich weiß heute, dass auch das nichts genützt hätte. Es war jedenfalls so, dass wir uns bei jedem Schritt überlegt haben: "Können wir das unseren Kindern zumuten?" Das war mit das Schwierigste für uns. Für uns selbst war die Entscheidung ja klar, aber die Sorge um die Kinder hatten wir immer. Ich weiß noch, als wir uns einmal bei uns in der Wohnung getroffen haben. Heidrun Heidecke, eine der Mitunterzeichnerinnen des Neuen Forums, war ebenfalls mit bei uns. Wir wussten, dass sie von der Stasi verfolgt wurde. Wir saßen also oben in unserer Wohnung, eine Gruppe von 20, 25 Leuten, als es auf einmal unten klingelte. Ich dachte mir: "So, kommen sie!" Ich weiß bis heute ganz genau, wie ich mich fühlte und was ich dachte, als ich da die Treppe nach unten ging, um die Haustür zu öffnen. Aber es stellte sich dann heraus, dass es nur eine Verspätete aus unserem Freundeskreis war. Ich werde nie vergessen, wie ich da die Treppe runterging. Die Kinder waren schon im Bett, und ich dachte: "So, jetzt kommen sie! Was wird jetzt passieren?" Das war überhaupt nicht einfach, das war wirklich überhaupt nicht einfach. Reuß: Ich raffe jetzt Ihren Lebenslauf ein wenig. Sie waren dann kommunalpolitisch tätig und haben sich weiterhin engagiert. Beruflich blieben Sie an der Universität, wurden Professorin und schließlich sogar Rektorin an Ihrer Universität. Und eines Tages hat Sie der Ruf ereilt, in Brandenburg Kultusministerin zu werden. Sie waren vorher bereits in Sachsen-Anhalt im Schattenkabinett des damaligen Spitzenkandidaten der CDU gewesen, der diese damalige Wahl allerdings verlor. Diese anschließende Zeit in Brandenburg als Ministerin war ja auch keine ganz einfache Situation. Sie hatten ein Angebot aus Sachsen-Anhalt von Reinhard Höppner ausgeschlagen, der eine SPD-Minderheitsregierung führte und sie von der PDS tolerieren ließ. Sie haben damals gesagt, dass Sie da nicht mittun wollen: "Das kann ich nicht!" Wanka: Ja, eine Regierung, die nur regieren kann, weil sie von der PDS toleriert wird, fand ich unmöglich. Reuß: Dann wurden Sie also Ministerin in Brandenburg. Nun gab es aber bei , dem damaligen Regierungschef, immer wieder Gerüchte, ob er IM bei der Stasi gewesen ist oder nicht. Welches Verhältnis hatten Sie zu ihm? Konnten Sie mit ihm gut zusammenarbeiten? Wanka: Ja, das muss ich klar sagen. Und er interessiert sich auch bis heute für mich. Ich freue mich, wenn er mir zu Weihnachten schreibt oder wenn er mir etwas Nettes sagt, wenn wir uns begegnen. Für mich war damals, als ich diese Möglichkeit bekam, in Brandenburg Ministerin zu werden, die größte Sorge, die ich Stolpe und Schönbohm in unserem ersten Gespräch auch gleich ganz naiv mitgeteilt habe: "Wie lange wird denn diese Koalition halten?" Denn von außen sah das ja immer recht wackelig aus. Die beiden haben mir aber ganz ernsthaft gesagt, dass das wirklich gut funktionieren wird. Herr Stolpe ist schon ein sehr kluger Landesvater gewesen, das muss man deutlich sagen. Ich habe bei ihm auch gelernt, was in einer Großen Koalition wichtig ist: dass man die Erfolge auch gemeinsam verkauft und dass man vor allem miteinander arbeiten muss. Auch das Verhältnis zu Jörg Schönbohm war gut. Das waren alles wichtige Erfahrungen für mich. Reuß: Ich raffe nun erneut: Sie waren neun Jahre lang Ministerin in Brandenburg und dann auch Fraktionsvorsitzende und Landesvorsitzende der CDU in Brandenburg und Spitzenkandidatin bei der Landtagswahl. Sie waren, wenn ich mich nicht täusche, die erste ostdeutsche Frau, die dann in einem westdeutschen Kabinett Ministerin wurde. Christian Wulff bat Sie nämlich, Kultusministerin in Niedersachsen zu werden. Sie sind ja von Haus aus Naturwissenschaftlerin, hatten aber auch sehr viele politische Funktionen inne: Sie waren, wie gesagt, Kommunalpolitikerin, Landesministerin, Fraktionsvorsitzende, Landesvorsitzende. Es gibt ein schönes Zitat des langjährigen US- Senators Edward Kennedy, des Bruders des ermordeten amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy: "In der Politik ist es wie in der Mathematik: Alles, was nicht ganz richtig ist, ist falsch." Ist das so? Wanka: (lacht) Oh, da hatte er aber nur die zweiwertige Logik vor Augen! Für mich war 1989 klar, als man endlich die Möglichkeit hatte, etwas zu gestalten, dass ich das machen werde. Das war das Allerschönste für mich und dabei war es egal, ob ich das als Rektorin oder als Landesministerin oder später in der Partei gemacht habe. Ich habe es immer als große Chance und als Glück angesehen, dass man etwas gestalten kann. Ich war auch nicht die erste ostdeutsche Frau, sondern die erste Ostdeutsche überhaupt. Ich glaube, es gab nach mir auch keine weitere Person, die, aus dem Osten Deutschlands stammend, in ein westdeutsches Landeskabinett gekommen wäre. Ich kenne ja die Mentalität der Menschen sowohl in den alten Bundesländern in einem großen Flächenland als auch in den neuen Bundesländern sehr gut. In der Politik ist nicht etwas falsch oder richtig, sondern auch in der Politik kann man irren. Aber es kommt immer darauf an, Wege zu finden, die sich nicht daran orientieren, ob man einen Gewinn dabei macht, ob man sich in einer bestimmten Sache gegenüber anderen durchsetzen kann, sondern die sich schlicht an der Frage orientieren: Was ist notwendig? Gut, auch hier kann man sich manchmal irren. Aber es darf einfach nicht darauf ankommen, nur diejenigen Dinge zu machen, die populär sind, mit denen man Stimmen sammeln kann usw. Nein, man muss in der Politik, wenn man von etwas wirklich überzeugt ist, versuchen, das auch gegen Widerstände durchzusetzen. Das ist einerseits schwer, aber wenn man das später mit dem Abstand von ein paar Jahren anschaut, dann ist das andererseits eben auch ein großes Glück. Reuß: Das ist ein sehr, sehr schönes Schlusswort. Ich darf mich ganz herzlich bei Ihnen bedanken, Frau Bundesministerin. Ich würde unser Gespräch gerne mit ein paar Zitaten über Sie beenden, in denen deutlich wird, wie man Sie wahrnimmt und sieht. "Johanna Wanka ist keine abgehobene Intellektuelle", so die Berliner Zeitung. "Mit viel Charme, einer gehörigen Portion Witz und auch Gewitztheit tritt sie auf", so der Berliner Tagesspiegel. Und die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb über Sie: "Ihre Integrationsfähigkeit, die leise zuhörende, aber erhebliche Durchsetzungsfähigkeit haben sie zu einer der beliebtesten Politikerinnen gemacht." Das kann man meiner Meinung nach kommentarlos so stehen lassen. Nochmals ganz, ganz herzlichen Dank, Frau Bundesministerin. Verehrte Zuschauer, das war unser alpha-Forum, heute mit Frau Professor Dr. Johanna Wanka, der Bundesministerin für Bildung und Forschung. Herzlichen Dank für Ihr Interesse, fürs Zuhören und Zuschauen und auf Wiedersehen.

© Bayerischer Rundfunk