Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur

Gesamtwerk in 7 Bänden inkl. Registerband

Bearbeitet von Dan Diner

1. Auflage 2011. Buch. 4200 S. Hardcover ISBN 978 3 476 02500 5 Format (B x L): 15,5 x 23,5 cm

Weitere Fachgebiete > Geschichte > Kultur- und Ideengeschichte

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Leseprobe Inhalt

2–3 Die EJGK 4–5 Autorenverzeichnis 6–17 Einführung 18–21 Artikelverzeichnis 22–47 Ausgewählte Artikel 48 Bestellmöglichkeit 49 Impressum EJGK Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur 2 Neuer Blick auf die jüdische Geschichte und Kultur ...

Von Europa über Amerika bis zum Vorderen Orient, Nordafrika und anderen außer - europäischen jüdischen Siedlungsräumen erschließt die Enzyklopädie in sechs Bänden und einem Registerband die neuere Geschichte der Juden von 1750 bis 1950.

Rund 800 Stichwörter präsentieren den Stand der internationalen Forschung und entwerfen ein viel schichtiges Porträt jüdischer Lebenswelten – illustriert durch viele Karten und Abbildungen. Übergreifende Informationen zu zentralen Themen vermitteln ca. 40 Schlüssel artikel zu Begriffen wie Autonomie, Exil, Emanzipation, Literatur, Liturgie, Musik oder Wissenschaft des Judentums. Zuverlässige Orientierung bei der Arbeit mit dem Nachschlagewerk bieten ausführliche Personen-, Orts- und Sachregister im siebten Band. Die Enzyklopädie stellt Wissen in einen Gesamtkontext und bietet Wissenschaftlern und Interessierten neue Einblicke in die jüdische Geschichte und Kultur. Ein herausragender Beitrag zum Verständnis des Judentums und der Moderne.

Herausgeber Die Enzyklopädie wird im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig herausgegeben von Dan Diner, Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig und Professor für Europäische Zeit - geschichte an der Hebrew University in Jerusalem.

Beirat Marion Aptroot (Düsseldorf) • Jacob Barnai (Haifa) • Bartal (Jerusalem) • Omer Bartov (Providence) • Esther Benbassa (Paris) • Dominique Bourel (Paris) • Michael Brenner (München) • Matti Bunzl (Urbana-Champaign) • Lois C. Dubin (Northampton, MA) • Todd M. Endelman (Ann Arbor) • David Engel (New York) • Shmuel Feiner (Ramat Gan) • Norbert Frei (Jena) • Saul Friedländer (Los Angeles) • Sander L. Gilman (Atlanta) • Frank Golczewski (Hamburg) • Andreas Gotzmann (Erfurt) • Michael Graetz (Heidelberg) • Raphael Gross (London/Frankfurt am Main) • Heiko Haumann (Basel) • Johannes Heil (Heidelberg) • Susannah Heschel (Hanover) • Yosef Kaplan (Jerusalem) • Cilly Kugelmann (Berlin) • Mark Levene (Southampton) • Leonid Luks (Eichstätt) • Ezra Mendelsohn (Jerusalem) • Paul Mendes-Flohr (Chicago/Jerusalem) • Dan Miron (New York) • Gabriel Motzkin (Jerusalem) • David N. Myers (Los Angeles) • Jacques Picard (Basel) • Gertrud Pickhan (Berlin) • Anthony Polonsky (Waltham, MA) • Renée Poznanski (Beer Sheva) • Peter Pulzer (Oxford) • Aron Rodrigue (Stanford) • Manfred Rudersdorf (Leipzig) • Rachel Salamander (München) • Winfried Schulze (München) • Marcos Silber (Haifa) • Gerald Stourzh (Wien) • Feliks Tych (Warschau) • Yfaat Weiss (Jerusalem) • Christian Wiese (Frankfurt am Main) • Carsten L. Wilke (Budapest) • Moshe Zimmermann (Jerusalem) • Steven J. Zipperstein (Stanford)

Redaktion Markus Kirchhoff (Leitung) • Philipp Graf • Ulrike Kramme • Simon Mahling • Christian Otto • Regina Randhofer • Frauke von Rohden • Philipp von Wussow • Alexandra Schröder, Alexandra Tyrolf (Assistenz) 3 Neuer Blick auf die jüdische Geschichte und Kultur ...

Von über 500 internationalen Fach- wissenschaftlern

Dan Diner (Hrsg.) Editionsplan: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur Band 1: A-Cl (Juni 2011) Gesamtwerk in 7 Bänden inkl. Registerband Band 2: Co-Ha (Dezember 2011) Im Auftrag der Sächsischen Akademie der Band 3: He-Li (März 2012) Wissenschaften Band 4: Lo-Po (Oktober 2012) herausgegeben von Dan Diner Band 5: Pr-Ta (März 2013) Ca. 4200 S., 360 s/w Abb., 42 Karten. Geb., Leinen mit Prägung. Band 6: Te-Z (Oktober 2013) € 1.399,65/€ (A) 1.439,20 Band 7: Register (März 2014) ISBN 978-3-476-02500-5

Das Werk kann nur komplett bezogen wer- den. Die Einzelbände werden automatisch mit Erscheinen bis auf Widerruf zum Fortsetzungspreis von € 199,95 geliefert. Autorenverzeichnis 4

Rund 500 renommierte internationale Autoren der EJGK, darunter:

Marion Aptroot, Düsseldorf Malachi HaCohen, Durham Kerstin Armborst-Weihs, Mainz Frank Hadler, Leipzig Yaakov Ariel, Chapel Hill Galit Hasan-Rokem, Jerusalem Dolores L. Augustine, Jamaica NY Johannes Heil, Heidelberg Cornelia Aust, Philadelphia Rachel Heuberger, Frankfurt a. M. John Hiden, Glasgow Jacob Barnai, New York Christhard Hoffmann, Bergen Israel Bartal, Jerusalem Hans Otto Horch, Aachen Omer Bartov, Cambridge MA Steven Beller, Washington Carol Iancu, Montpellier Gérard Bensussan, Straßburg Andreas Isenschmid, Berlin Pierre Birnbaum, Paris Alfred Bodenheimer, Basel Willi Jasper, Potsdam Andreas Brämer, Hamburg Robert Jütte, Stuttgart Michael Brenner, München Edward Breuer, Jerusalem Andreas B. Kilcher, Zürich Micha Brumlik, Frankfurt a. M. Birgit Klein, Heidelberg Claudia Kraft, Erfurt Leonard Dinnerstein, Tucson AZ Daniel Krochmalnik, Heidelberg Glenn Dynner, Riverdale NY Antje Kuchenbecker, Silver Spring Patrick Kury, Bern John M. Efron, Berkeley Wolfgang Emmerich, Bremen Simone Lässig, Braunschweig Todd M. Endelman, Ann Arbor MI Lisa Moses Leff, Washington David Engel, New York Mark Levene, Southampton Julian Levinson, Ann Arbor MI Anat Feinberg, Heidelberg Jürgen Lillteicher, Lübeck Shmuel Feiner, Jerusalem Hanno Loewy, Hohenems Constantin Floros, Hamburg Charlotte Fonrobert, Berlin Pawel Maciejko, Jerusalem Norbert Frei, Jena Michael R. Marrus, Toronto Dalia Marx, Potsdam Yoav Gelber, Haifa Doron Mendels, Jerusalem Frank Golczewski, Hamburg Dan Miron, New York Sylvie Anne Goldberg, Paris Harvey Mitchell, Vancouver Constantin Goschler, Bochum Amos Morris-Reich, Haifa Andreas Gotzmann, Erfurt David Myers, Los Angeles Jan T. Gross, Princeton NJ Raphael Gross, Frankfurt a. M. Stephen N. Norwood, Oklahoma

5 Autorenverzeichnis

Derek Penslar, Toronto Erik Petry, Basel Jacques Picard, Basel Gertrud Pickhan, Berlin Renée Poznanski, Beer Sheva

Anson Rabinbach, Princeton Stefan C. Reif, Cambridge Andreas Reinke, Berlin Dirk Rupnow, Wien

Gerhard Scheit, Wien Ulrich M. Schumann, Karlsruhe Yaacov Shavit, Dimitry Shumsky, Jerusalem Marcos Silber, Haifa Reuven Snir, Cambridge MA Michael Studemund-Halévy, Hamburg

Ittai J. Tamari, München Enzo Traverso, Amiens Anthony Travis, Jerusalem

Sigrid Weigel, Berlin Yfaat Weiss, Jerusalem Stephen J. Whitfield, Lexington Christian Wiese, Frankfurt a. M. Carsten Wilke, Budapest Bernd Witte, Düsseldorf

Shelly Zer-Zion, Tel Aviv Moshe Zimmermann, Jerusalem Zvi Zohar, Jerusalem EinführungVII Einführung6 Einführung

Enzyklopädien fixieren die Zeitlichkeit des ihnen schen Lebenswelten Ausdruck einer eminent dia- zur Bewahrung aufgetragenen Wissens. Gemein- sporischen Konstellation, die ihre Substanz tradi- hin entstehen sie an Schwellen sich verändernder tionell in einer sakral geprägten Textkultur hat. Erkenntnis. An solchen Übergängen kumulieren Nicht nur in geographischer, auch in kultur- sie systematisch und notwendig selektiv für erhal- geschichtlicher Hinsicht wird diese diasporische tenswert befundene Wissensbestände. Die Enzy- Konstellation von Phänomenen räumlicher Auf- klopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK) reflek- hebung und territorialer Überschreitung beglei- tiert eine Konstellation des Wissens an einem tet. Diese Lebenswelten unterscheiden sich signi- komplexen Übergang. Seit dem großen Einschnitt fikant von den sie umgebenden, vornehmlich der gleichsam alle jüdischen Zeiten in ihren Orbit machtgestützten Mehrheitskulturen. Während ziehenden Katastrophe des Holocaust ist mehr als letztere sich in Analogie zum geometrischen ein Menschenalter vergangen. In Anerkennung Axiom der Fläche generieren, findet die diaspori- der mit diesem Ereignis verbundenen Krise des sche jüdische Lebenswelt das ihr entsprechende historischen Verstehens wird in der EJGK dennoch Ordnungsprinzip in der Axiomatik des unge- versucht, eine der Wucht des Ereignisses angemes- schützten Punktes. sene historisierende Perspektive einzunehmen. Die jüdische Geschichte, genauer: die Geschichten Perspektive und Erkenntnis und Kulturen der Juden finden sich angesichts jener einschneidenden Zerstörung und zugleich Der in der EJGK präsentierte enzyklopädische Ka- in Abstand zu ihr auf neuer Grundlage zusam- non jüdischer Geschichte und Kultur ist Ausdruck men. Eine solche Konstellation nährt die Erwar- einer komplexen Konfiguration dreier ineinander tung an eine neue Kanonbildung. verschränkter Perspektiven: der Innensicht der jü- Kanonbildung erscheint heute nicht zeitgemäß dischen Selbstverständigung; der Außensicht mit- und die Geltung tradierter Wissensbestände steht tels wissenschaftlicher Disziplinen auf das jüdi- unter Vorbehalt. So wird das Anliegen der Kanon- sche Thema; und schließlich einer über Juden bildung von einer allgegenwärtigen Tendenz zu und Judentum im engeren Sinn hinausweisenden kultureller Vielfalt und den mit ihr einhergehen- Perspektive einer universellen Bedeutung jüdi- den Deutungsmodi herausgefordert. Eine solche scher Existenzerfahrung. Tendenz untergräbt die Autorität eines wesentlich Bei der Binnensicht und der Außensicht auf seit der frühen Neuzeit gewachsenen, wenn auch als den Gegenstand handelt es sich im Wesentlichen westlich begrenzt erachteten Wissens. Damit ero- um jeweils verschieden justierte Modi der Verstän- diert auch der die Ansammlung von Wissen und digung über ein und dasselbe. Im Idealfall geht es die Gestaltung von Erkenntnis regulierende, dem um eine Unterscheidung zwischen existentieller neuzeitlichen Aufklärungsdenken entsprungene Beteiligung einerseits und teilnahmsloser Beob- Leit- und Ordnungsbegriff von der Geschichte. achtung andererseits. So ist der innerjüdische Dis- Die EJGK versteht sich als ein kanonisches Vor- kurs vornehmlich Reflex lebendiger jüdischer haben postkanonischen Charakters. Sie hält an der Existenz, Ausdruck beständigen Aushandelns Bedeutung von über die Zeiten erfolgten Verdich- von als obligat erachteten Emblemen der Zugehö- tungen von Wissenstraditionen und ihrer Ver- rigkeit, und dies in unterschiedlicher Nähe zu der ankerung in der Moderne ebenso fest, wie sie an die Offenbarung gebundenen Tradition. Der eine dekonstruierende Verfremdung dieses Wis- Diskurs der Außensicht thematisiert zwar diesel- sens dort gelten lässt, wo diese einen veritablen ben Inhalte, diszipliniert diese aber wissenschaft- Erkenntnisgewinn verheißt. Dass ein solcher, zwi- lich. Bei aller Differenz zwischen Beteiligung ei- schen Tradition und nachtraditioneller Verfrem- nerseits und Beobachtung andererseits, von »in- dung vermittelnder Zugang für die enzyklopä- nen« und von »außen«, neigen beide Sichtweisen dische Disposition jüdischer Wissensbestände ge- dazu, ineinander überzugehen. wählt wird, ist nicht dem Einfluss des Zeitgeists Ein solcher Übergang ist die Folge von Säkula- geschuldet. Vielmehr entspricht er der besonderen risierung. Traditionell wird jüdische Zugehörig- Natur des repräsentierten Sujets. So sind die jüdi- keit ebenso wie die lebensweltliche Regulierung

VII Einführung 7Einführung EinführungVIII

Einführung des Alltags allein auf der Grundlage des Religions- durchaus den sich durchsetzenden nachmodernen gesetzes und des ihm geltenden, sakral impräg- Lagen der Gegenwart. Zugehörigkeit erstreckt Enzyklopädien fixieren die Zeitlichkeit des ihnen schen Lebenswelten Ausdruck einer eminent dia- nierten Textkorpus ausgehandelt. Mit dem Ver- sich damit auf verschiedene Lebenswelten, Kultu- zur Bewahrung aufgetragenen Wissens. Gemein- sporischen Konstellation, die ihre Substanz tradi- lust transzendentaler Gewissheit kommt dem an ren und Sprachgemeinschaften. Dabei verweisen hin entstehen sie an Schwellen sich verändernder tionell in einer sakral geprägten Textkultur hat. deren Stelle sich ausbreitenden, gleichwohl wenig die Embleme der Zugehörigkeit auf unterschied- Erkenntnis. An solchen Übergängen kumulieren Nicht nur in geographischer, auch in kultur- Sicherheit verheißenden Geschichtsdenken eine liche Zeitschichten der Erinnerung – eine Konstel- sie systematisch und notwendig selektiv für erhal- geschichtlicher Hinsicht wird diese diasporische analoge Bedeutung zu. Der in der Moderne ein- lation, wie sie von Juden in der Moderne vorweg- tenswert befundene Wissensbestände. Die Enzy- Konstellation von Phänomenen räumlicher Auf- setzende Rekurs auf Geschichte unterhöhlt daher genommen wurde. klopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK) reflek- hebung und territorialer Überschreitung beglei- die Unterscheidung zwischen »innen« und »au- Ausgehend von der jüdischen Existenzerfah- tiert eine Konstellation des Wissens an einem tet. Diese Lebenswelten unterscheiden sich signi- ßen« mit der Folge, dass jeweils verschiedene rung in der Moderne wird in der EJGK dem Pro- komplexen Übergang. Seit dem großen Einschnitt fikant von den sie umgebenden, vornehmlich Sprechweisen miteinander verschmelzen – die be- zess der Verwandlung, Verschiebung, Verflüssi- der gleichsam alle jüdischen Zeiten in ihren Orbit machtgestützten Mehrheitskulturen. Während teiligte innerjüdische Rede über Zugehörigkeit gung und Auflösung von traditionellen Merkma- ziehenden Katastrophe des Holocaust ist mehr als letztere sich in Analogie zum geometrischen und die des akademisch disziplinierten Beobach- len der Zugehörigkeit besondere Aufmerksamkeit ein Menschenalter vergangen. In Anerkennung Axiom der Fläche generieren, findet die diaspori- tens derselben. Letzteres wird durch das Sprechen gewidmet. Dabei wird dieser Prozess als eine se- der mit diesem Ereignis verbundenen Krise des sche jüdische Lebenswelt das ihr entsprechende über Zugehörigkeit ebenso genährt, wie die wis- kundäre, also jüdische Zugehörigkeit bewahrende historischen Verstehens wird in der EJGK dennoch Ordnungsprinzip in der Axiomatik des unge- senschaftlichen Befunde über das Jüdische ihrer- Konversion aus dem sakralen Kernbestand des versucht, eine der Wucht des Ereignisses angemes- schützten Punktes. seits in die jüdische Selbstverständigung einge- Judentums in profan präformierte Lebenswelten sene historisierende Perspektive einzunehmen. hen. aufgefasst. Der auf die Modi der Verwandlung Die jüdische Geschichte, genauer: die Geschichten Die dritte Perspektive, die das enzyklopädische gerichtete Blick konzentriert sich daher weniger Perspektive und Erkenntnis und Kulturen der Juden finden sich angesichts Werk einnimmt, überschreitet die Perimeter jüdi- auf Phänomene eines von den Zeitläuften unbe- jener einschneidenden Zerstörung und zugleich Der in der EJGK präsentierte enzyklopädische Ka- scher Geschichte und Kultur im engeren Sinne. Sie schädigt gebliebenen religiösen Selbstverständnis- in Abstand zu ihr auf neuer Grundlage zusam- non jüdischer Geschichte und Kultur ist Ausdruck nimmt dabei jene Anteile jüdischer Existenzerfah- ses als auf dessen Nachhall in post-traditioneller men. Eine solche Konstellation nährt die Erwar- einer komplexen Konfiguration dreier ineinander rung in den Blick, denen eine zutiefst universelle, Zeit. Zugehörigkeit schlägt sich mithin als Anteil, tung an eine neue Kanonbildung. verschränkter Perspektiven: der Innensicht der jü- gleichsam anthropologische Geltung zukommt. Fragment und Partikel nieder. Dies entspricht der Kanonbildung erscheint heute nicht zeitgemäß dischen Selbstverständigung; der Außensicht mit- Mittels einer solchen Existenzerfahrung wird ein Form nach dem für Enzyklopädien ohnehin gül- und die Geltung tradierter Wissensbestände steht tels wissenschaftlicher Disziplinen auf das jüdi- besonderer Blick auf die Verwerfungen der Mo- tigen kaleidoskopischen Prinzip der ein voraus- unter Vorbehalt. So wird das Anliegen der Kanon- sche Thema; und schließlich einer über Juden derne möglich. So lässt sich die ihrer diaspori- gesetztes Ganzes auflösenden alphabetischen Ord- bildung von einer allgegenwärtigen Tendenz zu und Judentum im engeren Sinn hinausweisenden schen Natur wegen fragile, durch das Axiom vom nung, wobei das leitmotivische Element der Auf- kultureller Vielfalt und den mit ihr einhergehen- Perspektive einer universellen Bedeutung jüdi- Punkt symbolisierte jüdische Konstellation als ein lösung sich auch in der Gestaltung der Lemmata den Deutungsmodi herausgefordert. Eine solche scher Existenzerfahrung. überaus empfindlich reagierender Seismograph in selbst wiederfindet. Diese folgen weniger den Vor- Tendenz untergräbt die Autorität eines wesentlich Bei der Binnensicht und der Außensicht auf einer Epoche zunehmender lebensweltlicher Be- gaben eines eher traditionellen jüdischen Wissens- seit der frühen Neuzeit gewachsenen, wenn auch als den Gegenstand handelt es sich im Wesentlichen schleunigung und der sie begleitenden krisenhaf- kanons, sondern suchen einer Form der Repräsen- westlich begrenzt erachteten Wissens. Damit ero- um jeweils verschieden justierte Modi der Verstän- ten Erscheinungen verstehen. tation zu entsprechen, die ebenjene Phänomene diert auch der die Ansammlung von Wissen und digung über ein und dasselbe. Im Idealfall geht es Das Wissen über die Existenzerfahrung der der Überschreitung, Verschiebung und Verflüssi- die Gestaltung von Erkenntnis regulierende, dem um eine Unterscheidung zwischen existentieller verschiedenen Judenheiten bietet sich als Arsenal gung widerspiegelt. Zwar bietet die EJGK durch- neuzeitlichen Aufklärungsdenken entsprungene Beteiligung einerseits und teilnahmsloser Beob- universeller Erkenntnis vor allem deshalb an, weil aus auch solchen Einträgen ausreichend Raum, Leit- und Ordnungsbegriff von der Geschichte. achtung andererseits. So ist der innerjüdische Dis- es bereits in der Moderne jene komplexe, aus viel- deren Bezeichnung sich mit ihrem Inhalt unmit- Die EJGK versteht sich als ein kanonisches Vor- kurs vornehmlich Reflex lebendiger jüdischer fältigen Anteilen komponierte Zugehörigkeit des telbar deckt. Andere Lemmata, vor allem solche, haben postkanonischen Charakters. Sie hält an der Existenz, Ausdruck beständigen Aushandelns nachmodernen Menschen vorwegnahm. Der dia- die in erster Linie Person und Werk thematisieren, Bedeutung von über die Zeiten erfolgten Verdich- von als obligat erachteten Emblemen der Zugehö- sporischen jüdischen Existenz war bereits in der mögen ihren eigentlichen Inhalt nicht auf den tungen von Wissenstraditionen und ihrer Ver- rigkeit, und dies in unterschiedlicher Nähe zu der Hochmoderne – wesentlich in der Zeit des aus- ersten Blick offenbaren – dies vor allem dann, ankerung in der Moderne ebenso fest, wie sie an die Offenbarung gebundenen Tradition. Der gehenden langen 19. Jahrhunderts bis weit in das wenn sie Erscheinungen der Verwandlung zu be- eine dekonstruierende Verfremdung dieses Wis- Diskurs der Außensicht thematisiert zwar diesel- sich als katastrophisch erweisende kurze 20. Jahr- zeichnen suchen. Gleichwohl wird damit weder sens dort gelten lässt, wo diese einen veritablen ben Inhalte, diszipliniert diese aber wissenschaft- hundert – eine Spannung inhärent: die in den ein undurchdringliches Arkanum inszeniert, Erkenntnisgewinn verheißt. Dass ein solcher, zwi- lich. Bei aller Differenz zwischen Beteiligung ei- jüdischen Individuen angelegte Spannung, sich noch der hinreichend informierte Benutzer vor- schen Tradition und nachtraditioneller Verfrem- nerseits und Beobachtung andererseits, von »in- als Einzelne zu Pionieren der Moderne zu verwan- ausgesetzt. Letzterem mag die Anlage der Lemmata dung vermittelnder Zugang für die enzyklopä- nen« und von »außen«, neigen beide Sichtweisen deln und zugleich als Angehörige des jüdischen einen besonderen Erkenntnisgewinn insofern bie- dische Disposition jüdischer Wissensbestände ge- dazu, ineinander überzugehen. Kollektivs sichtbar residuelle Merkmale der Vor- ten, als die in der Bezeichnung des Lemmas einge- wählt wird, ist nicht dem Einfluss des Zeitgeists Ein solcher Übergang ist die Folge von Säkula- moderne aufzuweisen. Ein solches Zusammen- schlossene Emblematik eine Verschiebung der Per- geschuldet. Vielmehr entspricht er der besonderen risierung. Traditionell wird jüdische Zugehörig- treffen ungleichzeitiger lebensweltlicher Modi, spektive auf einen bislang vertrauten Gegenstand Natur des repräsentierten Sujets. So sind die jüdi- keit ebenso wie die lebensweltliche Regulierung vielfach in ein und derselben Person, entspricht erlaubt. EinführungIX Einführung8

gerichteter korporativer Kollektivität in eine auf Periodisierung jüdischer Zeiten den Prinzipien horizontal verfasster, auf formaler Die EJGK präsentiert jüdische Lebenswelten be- Gleichheit beruhende, die Person vereinzelnde treffendes Wissen an einer Zeitenschwelle des (Staats-) Bürgerlichkeit und die sie regulierende Übergangs vom 20. in das 21. Jahrhundert. Dieser politische Ordnung. Die im Kontext der Französi- komplexen Epoche des Wandels entsprechen die schen Revolution angestoßene Transformation erkenntnisleitenden wie darstellerischen Mittel und die von ihr ausgelösten Erschütterungen be- des enzyklopädischen Werks. Sie suchen in aus- gleiteten die Juden gleichsam epochal und warfen gleichender Weise Motive der Moderne mit jenen dabei alle bekannten jüdischen Fragen der Mo- der Nachmoderne zu verknüpfen. Angewendet derne auf. Vom Westen Kontinentaleuropas aus- werden sie in der Präsentation des Wissens vor- gehend wirken sie sich auf die Kernbereiche jüdi- nehmlich, wenn auch nicht ausschließlich, für scher Lebenswelten in Mittel- und Ostmittel- den Zeitraum zwischen 1750 und 1950. Die diesen europa aus, bis nach Russland hinein. Auch im Zeitraum markierenden Jahreszahlen sind nicht Bereich des islamischen Orients waren sie, wenn von ereignisgeschichtlicher Bedeutung. Vielmehr auch abgeschwächt, zu verspüren. handelt es sich um symbolische Eckdaten einer Die sich aus diesem Einschnitt ergebenden Fol- die jüdische Existenzerfahrung in der Neuzeit gen bestimmen wesentlich die thematische Anlage umschließenden Epoche zwischen der beginnen- der ins Zentrum der enzyklopädischen Darstel- den Emanzipation und den Ausläufern der Kata- lung gerückten Zeitachse zweihundertjähriger strophe. In sinnstiftende Beziehung zueinander Dauer – jene die jüdische Geschichte periodisie- gesetzt, verhandeln jene periodisierenden Zeit- rende Epoche zwischen Emanzipation und Kata- chiffren die Existenzgeschichte der Juden in der strophe. Ob und wie die Juden als Einzelne und Moderne von ihrem Anfang wie von ihrem Ende als Bürger, aber auch als Kollektiv in jener »jüdi- her. schen Epoche« der Moderne wirklich gleich wur- Die Chiffre 1750 steht für die zu jener Zeit den und wie die jeweilige nichtjüdische Umwelt eintretenden tiefgreifenden historischen Verände- auf jene vorgesehene und wie auch immer ver- rungen. Sie markiert den Übergang von der Vor- wirklichte Gleichheit der Juden reagierte, gehört moderne in die Moderne. Es handelt sich hierbei zu den zentralen Fragen der nationalstaatlichen im Wesentlichen um die von den spätabsolutisti- Moderne. schen Regimes Kontinentaleuropas angestoßenen Im Zentrum des historischen Einzugsbereichs Maßnahmen der »Verbesserung« der Juden, ihrer der Zeitmarkierung 1950 amalgamiert sich die Er- Verwandlung in »nützliche« Untertanen – um fahrung des Holocaust mit dem Ereignis der jüdi- den Beginn einer von oben dekretierten Akkul- schen Staatswerdung. In diesem Zeitenfeld bildet turation an die ihrerseits in einem Zustand tief- sich ein mehrfaches Scheitern von Emanzipations- greifender Verwandlung befindlichen Mehrheits- erwartungen ab – von den Maßnahmen der Rück- kulturen. Während es sich bei diesen spätabsolu- nahme individueller Gleichheit, dem Entzug des tistischen Vorhaben eher um Maßgaben partieller staatsbürgerlich verfassten Schutzes der Person als Modernisierung handelte, die allenfalls graduelle Dementi universell begründeter menschenrecht- Wandlungserfolge zeitigten, sollten die Juden licher Versprechen bis hin zu der Katastrophe kol- durch die von der Französischen Revolution her- lektiver Vernichtung. Die Chiffre 1950 verschränkt beigeführten einschneidenden Veränderungen ereignisgeschichtliche Vorgänge, die vornehmlich mittels der deklarierten universellen Menschen- von den Jahreszahlen 1933, 1939/1941, 1945, 1948 und Bürgerrechte ultimativ wie absolut zu glei- und 1952 bezeichnet werden – die Zeit der sich chen Teilnehmern und Teilhabern am Gemeinwe- etablierenden NS-Herrschaft, den Beginn und das sen werden. Verbunden war diese Verheißung mit Ende des Zweiten Weltkriegs, verbunden mit ei- der Forderung nach Aufhebung der jahrhunderte- ner zunehmend in das Zentrum des Bewusstseins langen Tradition der institutionellen jüdischen rückenden Wahrnehmung der alles verschlingen- Autonomie und ihrer weit gefächerten, alle Le- den Katastrophe, die Gründung des Staates Israel bensbereiche durchdringenden religionsgesetz- und das mit Deutschland geschlossene Luxembur- lich gestützten Regularien. Dies war eine tiefe ger Abkommen zur materiellen Wiedergutma- Zäsur – weg vom Regime vormoderner, vertikal chung.

IX Einführung 9Einführung EinführungX gerichteter korporativer Kollektivität in eine auf Der von diesem Zeitenfeld aus rückwärts ge- zur Mitte des 20. Jahrhunderts erfolgen vor allem Periodisierung jüdischer Zeiten den Prinzipien horizontal verfasster, auf formaler richtete Blick geht einher mit zwei sich gegen- dort, wo in der Lemmatisierung auch und gerade Die EJGK präsentiert jüdische Lebenswelten be- Gleichheit beruhende, die Person vereinzelnde seitig verstärkenden Tendenzen der Geschichts- für das Judentum als Kanon des Sakralen eminent treffendes Wissen an einer Zeitenschwelle des (Staats-) Bürgerlichkeit und die sie regulierende deutung und den von solchen Deutungen beglei- Außerhistorisches zu berücksichtigen ist. Dieser Übergangs vom 20. in das 21. Jahrhundert. Dieser politische Ordnung. Die im Kontext der Französi- teten Wandlungen des jüdischen Selbstverständ- Kanon bestimmt bei allem Wandel auch weiterhin komplexen Epoche des Wandels entsprechen die schen Revolution angestoßene Transformation nisses: Die Existenzerfahrung der Juden färbt die die jüdischen Lebenswelten in ihrem Kern. So hat erkenntnisleitenden wie darstellerischen Mittel und die von ihr ausgelösten Erschütterungen be- historische Rückschau auf die von der Mitte des die EJGK als eine der jüdischen Existenzerfahrung des enzyklopädischen Werks. Sie suchen in aus- gleiteten die Juden gleichsam epochal und warfen 18. Jahrhunderts ausgehenden, im Verlauf des verpflichtete Enzyklopädie dem Judentum in sei- gleichender Weise Motive der Moderne mit jenen dabei alle bekannten jüdischen Fragen der Mo- 19. und des 20. Jahrhunderts jeweils unterschied- ner sakralen Überzeitlichkeit auf der Grundlage der Nachmoderne zu verknüpfen. Angewendet derne auf. Vom Westen Kontinentaleuropas aus- lich beschädigten und letztendlich enttäuschten der von der Offenbarung bestimmten Glaubens- werden sie in der Präsentation des Wissens vor- gehend wirken sie sich auf die Kernbereiche jüdi- Emanzipationserwartungen notwendig teleolo- welt und der Geltung des jüdischen Religions- nehmlich, wenn auch nicht ausschließlich, für scher Lebenswelten in Mittel- und Ostmittel- gisch ein. Ebenso erfolgt kraft der Katastrophe gesetzes über alle historischen Zeiten hinweg an- den Zeitraum zwischen 1750 und 1950. Die diesen europa aus, bis nach Russland hinein. Auch im eine (Rück-)Verwandlung von Juden, die sich im gemessen Raum zu bieten. Zeitraum markierenden Jahreszahlen sind nicht Bereich des islamischen Orients waren sie, wenn Zeichen der Moderne individualisiert hatten und von ereignisgeschichtlicher Bedeutung. Vielmehr auch abgeschwächt, zu verspüren. staatsbürgerlich unterschiedlich weit in die jewei- Themenkreise jüdischer Moderne handelt es sich um symbolische Eckdaten einer Die sich aus diesem Einschnitt ergebenden Fol- ligen nationalen Kulturen integriert waren, in ein die jüdische Existenzerfahrung in der Neuzeit gen bestimmen wesentlich die thematische Anlage nationsähnliches jüdisches Kollektiv. Das Wissenskorpus jüdischer Existenzerfahrung umschließenden Epoche zwischen der beginnen- der ins Zentrum der enzyklopädischen Darstel- Zum Verständnis des Gegenstandes jüdischer in der Moderne ist in der EJGK in vier bzw. fünf den Emanzipation und den Ausläufern der Kata- lung gerückten Zeitachse zweihundertjähriger Geschichte und Kultur finden auch solche Ein- verschiedene thematische Bereiche von jeweils un- strophe. In sinnstiftende Beziehung zueinander Dauer – jene die jüdische Geschichte periodisie- träge Aufnahme in die EJGK, die von ihrem neu- terschiedlicher jüdischer Konsistenz gegliedert: gesetzt, verhandeln jene periodisierenden Zeit- rende Epoche zwischen Emanzipation und Kata- zeitlichen Kernbestand abweichen. Dabei handelt – in den Bereich des Judentums als Gesetzesreli- chiffren die Existenzgeschichte der Juden in der strophe. Ob und wie die Juden als Einzelne und es sich zum einen um Einträge zu Räumen und gion und der es verwandelnden Modi von Sä- Moderne von ihrem Anfang wie von ihrem Ende als Bürger, aber auch als Kollektiv in jener »jüdi- Zeiten, die im binnenjüdischen Diskurs hohen kularisierung und Profanierung; her. schen Epoche« der Moderne wirklich gleich wur- Sinn- und Deutungswert aufweisen. So steht – in den Bereich räumlich und ethnisch diverser Die Chiffre 1750 steht für die zu jener Zeit den und wie die jeweilige nichtjüdische Umwelt etwa das Lemma »Diaspora« – ein griechisches Judenheiten; eintretenden tiefgreifenden historischen Verände- auf jene vorgesehene und wie auch immer ver- Wort für eine jüdische Kondition – in erster Linie – in den Bereich einzelner staatsbürgerlich eman- rungen. Sie markiert den Übergang von der Vor- wirklichte Gleichheit der Juden reagierte, gehört für die Konstellation der Spätantike – einer Epo- zipierter, sich dem Kollektiv entfremdender jü- moderne in die Moderne. Es handelt sich hierbei zu den zentralen Fragen der nationalstaatlichen che, die für die damals sich vollziehende Ablösung discher Personen bzw. Personen jüdischer Her- im Wesentlichen um die von den spätabsolutisti- Moderne. des Christentums vom Judentum von ebenso ho- kunft, einzelner Juden, im Prozess der Indivi- schen Regimes Kontinentaleuropas angestoßenen Im Zentrum des historischen Einzugsbereichs her Relevanz ist wie für die rabbinischen Ver- dualisierung; Maßnahmen der »Verbesserung« der Juden, ihrer der Zeitmarkierung 1950 amalgamiert sich die Er- wandlungen des Judentums selbst; zudem stellt – in den Bereich der von außen an die Juden Verwandlung in »nützliche« Untertanen – um fahrung des Holocaust mit dem Ereignis der jüdi- sie einen wichtigen Bezugspunkt für das moderne herangetragenen Projektionen vornehmlich den Beginn einer von oben dekretierten Akkul- schen Staatswerdung. In diesem Zeitenfeld bildet jüdische Selbstverständnis dar. Das Lemma »Asch- antisemitisierenden bis weltanschaulich anti- turation an die ihrerseits in einem Zustand tief- sich ein mehrfaches Scheitern von Emanzipations- kenas« steht für die räumliche Bewegungsrich- semitischen Charakters, mithin der Judenfeind- greifender Verwandlung befindlichen Mehrheits- erwartungen ab – von den Maßnahmen der Rück- tung eines jüdischen Mittelalters vom westlichen schaft; kulturen. Während es sich bei diesen spätabsolu- nahme individueller Gleichheit, dem Entzug des Europa über Mitteleuropa bis tief nach Ostmittel- – in einen weiteren, von dem Vorausgehenden tistischen Vorhaben eher um Maßgaben partieller staatsbürgerlich verfassten Schutzes der Person als europa hinein, »Sepharad« für die spätmittelalter- sich absetzenden Bereich der Ereignis- und Wir- Modernisierung handelte, die allenfalls graduelle Dementi universell begründeter menschenrecht- lich-frühneuzeitliche Existenzerfahrung der Ju- kungsgeschichte des Holocaust. Wandlungserfolge zeitigten, sollten die Juden licher Versprechen bis hin zu der Katastrophe kol- den und Conversos, die von der Iberischen Halb- durch die von der Französischen Revolution her- lektiver Vernichtung. Die Chiffre 1950 verschränkt insel kommend in Richtung östliches Mittelmeer Zueinander verhalten sich die unterschiedlichen beigeführten einschneidenden Veränderungen ereignisgeschichtliche Vorgänge, die vornehmlich und schließlich in das nordwestliche Europa zo- thematischen Bereiche wie von einem sakralen mittels der deklarierten universellen Menschen- von den Jahreszahlen 1933, 1939/1941, 1945, 1948 gen. Kern ausgehende konzentrische Kreise abnehmen- und Bürgerrechte ultimativ wie absolut zu glei- und 1952 bezeichnet werden – die Zeit der sich Die so bezeichneten Zeiten und Räume fügen der Heiligkeit. chen Teilnehmern und Teilhabern am Gemeinwe- etablierenden NS-Herrschaft, den Beginn und das sich in die übliche Periodisierung des allgemeinen Im Zentrum alles Jüdischen steht das Juden- sen werden. Verbunden war diese Verheißung mit Ende des Zweiten Weltkriegs, verbunden mit ei- Geschichtsverlaufs ein; zugleich ist ihnen ein spe- tum als Gesetzesreligion. Dem Gesetz ist göttliche der Forderung nach Aufhebung der jahrhunderte- ner zunehmend in das Zentrum des Bewusstseins zifisch jüdisches raumzeitliches Bewusstsein vor Zeitlosigkeit eingeschrieben. Die das Judentum langen Tradition der institutionellen jüdischen rückenden Wahrnehmung der alles verschlingen- dem Hintergrund ihrer diasporischen lebenswelt- tragenden, sakral durchdrungenen Begriffswelten Autonomie und ihrer weit gefächerten, alle Le- den Katastrophe, die Gründung des Staates Israel lichen Konstellation eigen. gelten zu allen Zeiten und über alle Räume jüdi- bensbereiche durchdringenden religionsgesetz- und das mit Deutschland geschlossene Luxembur- Wesentliche Durchbrechungen der das enzy- scher Existenzerfahrung hinweg. Dabei sind sie lich gestützten Regularien. Dies war eine tiefe ger Abkommen zur materiellen Wiedergutma- klopädische Werk umfassenden Periodisierungs- religionsgesetzlich begründeten Anpassungen un- Zäsur – weg vom Regime vormoderner, vertikal chung. grenzen von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis terworfen. EinführungXI Einführung10

Vom Kern des sakralen Kanons setzt sich ein ropa, dort, wo vornehmlich im Russischen Reich erster Kreis von Phänomenen der Säkularisierung Juden in weit größerer Zahl und zudem räumlich ab – der eigentliche, das enzyklopädische Werk kompakt, wenn auch nicht zusammenhängend le- der EJGK charakterisierende thematische Zusam- ben, erfolgt der Verfall korporativer Institutionen, menhang. Dabei wird zwischen zwei sich säkula- ohne dass die Folgen dieses Prozesses durch die risierenden Bereichen unterschieden: dem textu- Gewährung bürgerlicher Gleichheit und eine sie ellen und dem institutionellen. Säkularisierungen begleitende Freizügigkeit kompensiert würden. der Textkultur setzen wesentlich zu Beginn des Der Niedergang des korporativen Gehäuses der 19. Jahrhunderts ein mit der akademischen Ver- jüdischen Existenz zog eine erkennbare Wand- wandlung der sakralen Schriften, vornehmlich in lung jüdischen Selbstverständnisses nach sich. So deutscher Sprache. Diese Verwandlung, eine Art waren neben der Tendenz zu einer sich konstitu- Konversion religiös fundierter Weisheit in auf- ierenden Orthodoxie auch Phänomene einer zu- geklärtes Wissen, verdichtet sich zur Tradition nehmenden Ethnifizierung des jüdischen Selbst- der Wissenschaft des Judentums. Sie wird von ei- verständnisses zu beobachten. Die Blockade der ner ihr vorausgehenden geistigen, vom säkularen Modernisierung bei gleichzeitiger Stärkung des Denken der nichtjüdischen Umwelt beeinflussten ethnischen Selbstbewusstseins löste Entwicklun- innerjüdischen Aufklärungskultur, der Haskala, gen aus, in deren Folge Juden entweder zionisti- vorbereitet. Der Haskala kommt die Bedeutung ei- schen Bestrebungen zuneigten oder in Konkur- ner vornehmlich intellektuellen, auf profane Bil- renz dazu ihre Anerkennung als Nationalität und dung orientierten Bewegung einer jüdischen eine ihr entsprechende national-kulturelle Auto- Selbstverwandlung in die sich ankündigende Mo- nomie anstrebten. In der postimperialen Epoche, derne zu. Sie geht einher mit dem Einbruch der nach dem Ersten Weltkrieg und im Rahmen der Geschichte, genauer: des historischen Denkens in sich vornehmlich ethnisch homogenisierenden die Welt der Offenbarung bzw. in die Herrschaft Nationalstaaten, forderten sie auch kollektive des Religionsgesetzes. Diese Tendenz unterspült Rechte als ethnisch-religiöse Minderheit ein oder die Fundamente des traditionellen Judentums. Die schlossen sich – in Abgrenzung von jenen jüdisch- Juden treten aus dem sakralen Text heraus und in nationalen Tendenzen – individuell sozialrevolu- die profane Welt ein. Die damit verbundenen Er- tionären Bewegungen zur Umwälzung der Gesell- schütterungen durchziehen gleichsam leitmoti- schaft als Ganzes an. visch das jüdische Geistesleben in der Zeit danach. Die regionale, ethnische und nationale Ausdif- Dieser Transformation als einem kollektiven Akt ferenzierung der Judenheiten in der Emanzipa- säkularisierenden Urgeschehens wird in der enzy- tionsepoche kennt verschiedene Voraussetzungen. klopädischen Darstellung durch eine umfangreiche Dazu gehören nicht zuletzt auch die im Spätabso- Zahl von Lemmata Rechnung getragen. lutismus eingeleiteten obrigkeitlichen Maßnah- Parallel zur geistigen Bewegung der Transfor- men kameralistischer »Verbesserung«; dies vor al- mation von Gesetz in Geschichte erfolgt räumlich lem dann, wenn sie mit der Etablierung staatlich ungleichzeitig eine von der jeweiligen Obrigkeit initiierter Bildungseinrichtungen zum Zweck des verfügte, sukzessiv realisierte Auflösung der kor- Spracherwerbs und anderen erzieherischen Vor- porativ verfassten jüdischen Gemeindeautonomie. haben im Dienst von Akkulturation und Inte- Eine solche Säkularisierung vormals eigenständi- gration verbunden waren. Dem davon angestoße- ger, dem Religionsgesetz verpflichteter Institutio- nen Prozess jüdischer Verwandlung wird in der nen führt zu einer Schwächung der traditionellen, EJGK eine herausragende Bedeutung für den Ge- religiös legitimierten jüdischen Autoritäten. Da- samtgegenstand zugewiesen. Expliziert wird er bei ist eine doppelte Bewegung zu beobachten: anhand der räumlichen und kulturellen Verschie- Im westlichen Europa, also dort, wo den Juden denheit der jeweiligen Judenheiten. staatsbürgerliche Gleichheit gewährt oder eine Die Vielfalt der den Juden eigenen Sprachkul- solche in Aussicht gestellt wird, emanzipieren turen ist notorisch: Sie umfasst die sakral impräg- und akkulturieren sich die Judenheiten an und nierte, in Kultus und Textexegese übliche Kom- in die jeweils sie umgebenden Nationalkulturen. bination des Hebräischen und Aramäischen, regio- Dabei konfessionalisieren sich die religiösen An- nale jüdische Vernakularsprachen wie das Jid- teile ihres Selbstverständnisses. Im östlichen Eu- dische oder Ladino als Mittel der alltäglichen

XI Einführung 11Einführung EinführungXII

Vom Kern des sakralen Kanons setzt sich ein ropa, dort, wo vornehmlich im Russischen Reich Verständigung, die als jüdische Bildungssprachen im Bereich geistiger Leistung, vornehmlich in den erster Kreis von Phänomenen der Säkularisierung Juden in weit größerer Zahl und zudem räumlich adaptierten imperialen oder kosmopolitischen Wissenschaften und Künsten, in die Nähe jüdi- ab – der eigentliche, das enzyklopädische Werk kompakt, wenn auch nicht zusammenhängend le- Verwaltungs-, Wissenschafts- und Literaturspra- scher Existenzerfahrung gerückt, ohne einen sol- der EJGK charakterisierende thematische Zusam- ben, erfolgt der Verfall korporativer Institutionen, chen wie das Deutsche und – daran gemessen chen Zusammenhang indes kausal engzuführen. menhang. Dabei wird zwischen zwei sich säkula- ohne dass die Folgen dieses Prozesses durch die eher schwächer – auch das Russische, im Vorderen Ein weiterer Kreis der enzyklopädischen Wis- risierenden Bereichen unterschieden: dem textu- Gewährung bürgerlicher Gleichheit und eine sie Orient in vielfältiger Hinsicht das Arabische und sensordnung unterscheidet sich von den voran- ellen und dem institutionellen. Säkularisierungen begleitende Freizügigkeit kompensiert würden. als Akkulturationssprache auch das Französische. gegangenen erheblich. Recht eigentlich gehört der Textkultur setzen wesentlich zu Beginn des Der Niedergang des korporativen Gehäuses der Dabei kommt dem Deutschen im 19. Jahrhundert der große Komplex von Lemmata, der ihn reprä- 19. Jahrhunderts ein mit der akademischen Ver- jüdischen Existenz zog eine erkennbare Wand- als Sprache der Wissenschaft des Judentums, der sentiert, nicht in eine kanonische Zusammenfüh- wandlung der sakralen Schriften, vornehmlich in lung jüdischen Selbstverständnisses nach sich. So Ausbildung von Rabbinern und der jüdischen Re- rung jüdischer Wissensbestände. Dennoch ist der deutscher Sprache. Diese Verwandlung, eine Art waren neben der Tendenz zu einer sich konstitu- formbewegung in Mitteleuropa, aber auch dar- Gegenstand dieses thematischen Kreises von er- Konversion religiös fundierter Weisheit in auf- ierenden Orthodoxie auch Phänomene einer zu- über hinaus eine gleichsam liturgische Bedeutung heblicher, gar existentieller Bedeutung. Hier ist geklärtes Wissen, verdichtet sich zur Tradition nehmenden Ethnifizierung des jüdischen Selbst- zu. Die sich zwischen den verschiedenen Juden- vom Phänomen der Judenfeindschaft die Rede, der Wissenschaft des Judentums. Sie wird von ei- verständnisses zu beobachten. Die Blockade der heiten entwickelnden Unterschiede sind insbeson- die in unterschiedlichen Ausprägungen den Zeit- ner ihr vorausgehenden geistigen, vom säkularen Modernisierung bei gleichzeitiger Stärkung des dere an den Akkulturationserfolgen in den sich raum von der Antike bis zum modernen Antise- Denken der nichtjüdischen Umwelt beeinflussten ethnischen Selbstbewusstseins löste Entwicklun- national transformierenden, multinational gefüg- mitismus durchzieht. Dass dieser konzentrische innerjüdischen Aufklärungskultur, der Haskala, gen aus, in deren Folge Juden entweder zionisti- ten imperialen Reichsgebilden abzulesen. In die- Kreis auf jenen folgt, der sich mit der Heraus- vorbereitet. Der Haskala kommt die Bedeutung ei- schen Bestrebungen zuneigten oder in Konkur- sem Prozess des Wandels und der Verwandlung lösung von Juden bzw. von Personen jüdischer ner vornehmlich intellektuellen, auf profane Bil- renz dazu ihre Anerkennung als Nationalität und kommt der verwirklichten, der in Aussicht gestell- Herkunft aus dem Kontext kollektiver Zugehörig- dung orientierten Bewegung einer jüdischen eine ihr entsprechende national-kulturelle Auto- ten oder aufgeschobenen Gleichheit und Gleichbe- keit befasst, ist eine Konsequenz der Überlegung, Selbstverwandlung in die sich ankündigende Mo- nomie anstrebten. In der postimperialen Epoche, handlung für das jeweilige jüdische Selbstver- dass Antisemitismus als moderne weltanschauli- derne zu. Sie geht einher mit dem Einbruch der nach dem Ersten Weltkrieg und im Rahmen der ständnis konstitutive Bedeutung zu. che Verdichtung eines antijüdischen Ressenti- Geschichte, genauer: des historischen Denkens in sich vornehmlich ethnisch homogenisierenden Der dritte, vom sakralen Kern des Judentums ments wesentlich dazu neigt, vorgeblich unsicht- die Welt der Offenbarung bzw. in die Herrschaft Nationalstaaten, forderten sie auch kollektive sich weiter entfernende konzentrische Kreis bildet bare Juden als Agenten eines internationalen jü- des Religionsgesetzes. Diese Tendenz unterspült Rechte als ethnisch-religiöse Minderheit ein oder in der EJGK ein Cluster von Lemmata aus, das sich dischen Machtstrebens zu imaginieren. In ihrer die Fundamente des traditionellen Judentums. Die schlossen sich – in Abgrenzung von jenen jüdisch- vornehmlich Phänomenen der Akkulturation in modernen Formierung als Antisemitismus nimmt Juden treten aus dem sakralen Text heraus und in nationalen Tendenzen – individuell sozialrevolu- Verbindung mit Personen und Persönlichkeiten die traditionelle judenfeindliche Einstellung die die profane Welt ein. Die damit verbundenen Er- tionären Bewegungen zur Umwälzung der Gesell- widmet, die einem eher individuell ausgeprägten, Bedeutung einer Welterklärung an, in deren Zen- schütterungen durchziehen gleichsam leitmoti- schaft als Ganzes an. sich vom jüdischen Kollektiv entfernenden Selbst- trum sich Vorstellungen von Verschwörung ein- visch das jüdische Geistesleben in der Zeit danach. Die regionale, ethnische und nationale Ausdif- verständnis zuneigen. Solche Personen sind in al- nisten. So bedient sich der Antisemitismus der Dieser Transformation als einem kollektiven Akt ferenzierung der Judenheiten in der Emanzipa- ler Regel aus Kontexten vertiefter Säkularisierung Juden und des Judentums als Folie einer Bebilde- säkularisierenden Urgeschehens wird in der enzy- tionsepoche kennt verschiedene Voraussetzungen. in Verbindung mit weitgehend erfolgreich verlau- rung des für die Moderne charakteristischen, in- klopädischen Darstellung durch eine umfangreiche Dazu gehören nicht zuletzt auch die im Spätabso- fenden Vorhaben staatsbürgerlicher Emanzipa- des unverstanden gebliebenen Phänomens gesell- Zahl von Lemmata Rechnung getragen. lutismus eingeleiteten obrigkeitlichen Maßnah- tion hervorgegangen. Ihre sich abschwächende jü- schaftlich erzeugter Komplexität. Das fehlgelei- Parallel zur geistigen Bewegung der Transfor- men kameralistischer »Verbesserung«; dies vor al- dische Zugehörigkeit lässt sich über das religions- tete Verständnis der Moderne ist mit dem Auf- mation von Gesetz in Geschichte erfolgt räumlich lem dann, wenn sie mit der Etablierung staatlich gesetzliche Regelwerk des Judentums und seine kommen antisemitischer Bilderwelten auf das ungleichzeitig eine von der jeweiligen Obrigkeit initiierter Bildungseinrichtungen zum Zweck des Markierungen kaum angemessen fassen. Um der Engste verbunden – eine weit über den jüdischen verfügte, sukzessiv realisierte Auflösung der kor- Spracherwerbs und anderen erzieherischen Vor- Komplexität und Vieldeutigkeit jüdischer Zuge- Gegenstand hinausweisende Konstellation. porativ verfassten jüdischen Gemeindeautonomie. haben im Dienst von Akkulturation und Inte- hörigkeit in der Moderne zu genügen, wird in Der im Bild konzentrischer Kreise abnehmen- Eine solche Säkularisierung vormals eigenständi- gration verbunden waren. Dem davon angestoße- der EJGK nicht zuletzt aus diesem Grund auf ex- der Heiligkeit gefassten Systematik jüdischen ger, dem Religionsgesetz verpflichteter Institutio- nen Prozess jüdischer Verwandlung wird in der plizite Personeneinträge verzichtet. Lemmata, die Wissens entzieht sich der Themenbereich des Ho- nen führt zu einer Schwächung der traditionellen, EJGK eine herausragende Bedeutung für den Ge- auf vermittelte Weise Personen thematisieren, be- locaust ebenso, wie er auf diese einwirkt. Als ka- religiös legitimierten jüdischen Autoritäten. Da- samtgegenstand zugewiesen. Expliziert wird er dienen sich im Titel emblematischer Motive und tastrophisches Ereignis der jüngeren Geschichte bei ist eine doppelte Bewegung zu beobachten: anhand der räumlichen und kulturellen Verschie- Formeln, die für Werk und Wirkung der Person erfasst seine Tiefenwirkung auch die Modi der Im westlichen Europa, also dort, wo den Juden denheit der jeweiligen Judenheiten. signifikant sind. Ein solcher Zugang kommt der Repräsentation der ihm vorausgegangenen Ereig- staatsbürgerliche Gleichheit gewährt oder eine Die Vielfalt der den Juden eigenen Sprachkul- konzeptionellen Absicht der Enzyklopädie ent- niswelten. Genau besehen steht die Darstellung solche in Aussicht gestellt wird, emanzipieren turen ist notorisch: Sie umfasst die sakral impräg- gegen, die durch Säkularisierung und Profanie- der jüdischen Geschichte zwischen der Mitte des und akkulturieren sich die Judenheiten an und nierte, in Kultus und Textexegese übliche Kom- rung eingetretenen Verwandlungen jüdischen 18. Jahrhunderts und der Mitte des 20. Jahrhun- in die jeweils sie umgebenden Nationalkulturen. bination des Hebräischen und Aramäischen, regio- Selbstverständnisses in der Moderne angemessen derts im Bann des alles erschütternden Zivilisa- Dabei konfessionalisieren sich die religiösen An- nale jüdische Vernakularsprachen wie das Jid- herauszustellen. Dabei wird die im Periodisie- tionsbruchs. Die EJGK sucht der Zäsur des Holo- teile ihres Selbstverständnisses. Im östlichen Eu- dische oder Ladino als Mittel der alltäglichen rungszeitraum erkennbare Profilierung von Juden caust sowie seinem Nachhall in einer größeren EinführungXIII Einführung12

Zahl von Einträgen gerecht zu werden. Manche erachteten Axiom des Punkts im Unterschied zur Einträge nähern sich den Vorgängen der Vernich- Axiomatik der Fläche der nichtjüdischen Umge- tung faktographisch, andere nehmen sich der Nach- bungs- und Mehrheitskulturen entspricht. Hinzu geschichte des Geschehenen an, viele widmen sich tritt der nicht weniger erkenntnisfördernde Um- Fragen seiner literarischen Repräsentation. Die stand, dass die Kategorie des Erinnerungsorts sich Lemmata, die den Holocaust thematisieren, ver- in vielen Fällen nicht nur mit einer tatsächlichen suchen dem Darstellungsmodus der industriellen geographischen Bezeichnung deckt, sondern auch Vernichtung als einer ständigen Wiederholung des – im übertragenen Sinne von Titeln oder Begriffen immer Gleichen dergestalt auszuweichen, dass sie als Orten der Erinnerung – zur topographischen die ikonisch gewordenen Orte der Vernichtung mit Symbolisierung von für Juden und das Judentum den sich in der Folge ins Gedächtnis einschreiben- ikonischen Texten Anwendung findet. Als Be- den Wirkungsgeschichten verknüpfen. zeichnung eines solchen Lemmas bietet sich ein Die universelle Bedeutung des Geschehens fin- dem Kanon jüdischer Textkultur entnommener det sich zudem dadurch gewürdigt, dass auch sol- figürlicher Titel oder eine Denkfigur emblemati- che Autoren mit ihren Werken lemmatisiert wer- schen Charakters an. den, die weder jüdisch sind noch jüdischer Her- Der Vorzug solcher Werk und Urheber reprä- kunft waren, aber als humanistisch gesonnene sentierenden ikonischen Denkfiguren liegt darin, Künstler des Wortes oder als aufgeklärte Virtuosen dass nicht nur die durch sie zunächst verdeckte des Denkens es vermögen, das Ereignis während Person in einen erweiterten Kontext integriert des Geschehens oder aus gegebenem Anlass da- wird, sondern mit der emblematischen Wirkung nach in seiner krassen Besonderheit poetisch zu der jeweiligen Denkfigur auch das mit ihr assozi- thematisieren oder intellektuell zu verarbeiten. ierte Sinn- und Bedeutungsfeld aufgerufen wird. Dies begründet ihre Aufnahme in den jüdischen Assoziation und Resonanz sind Zugangsweisen, Kanon. die den der jüdischen Existenzerfahrung in der Moderne eigenen Mehrdeutigkeiten und Ambi- guitäten entsprechen – verbunden mit ebenjenen Mittel der Darstellung Phänomenen der Entgrenzung, der Überschrei- Die EJGK zeichnet sich durch einen konzeptionell tung und der Verflüssigung. Ein solch verfrem- doppelten Zugriff auf ihre Themen aus. Zum ei- dender, möglicherweise irritierender Zugriff nen bietet sie eine Vielzahl faktographischer Ein- wird von der Entscheidung flankiert, bei der Be- träge zu Fragen des Judentums, zu verschiedenen nennung der Lemmata grundsätzlich auf die aus Judenheiten und einzelnen Juden wie zu den von der politischen und sozialen Sprachkultur des außen an Juden herangetragenen verzerrenden 19. Jahrhunderts stammenden, mit dem Suffix Projektionen antisemitischen Charakters, zum an- des »-ismus« herbeigeführten Begriffswelten zu deren bedient sie sich des Modus ikonischer Denk- verzichten. Diese erweisen sich als zu wenig flexi- figuren. Diese greifen im Unterschied zum klassi- bel, um jene dynamischen Konstellationen des schen Zuschnitt faktographischer Artikel thema- Übergangs und der ihnen eigenen Zwischenlagen tisch und systematisch weiter aus und suchen da- angemessen zu erfassen. Eher neigen sie dazu, auf bei eher den für das jüdische Sujet in der Moderne einem einmal angenommenen Erkenntniszustand charakteristischen dynamischen Elementen der zu verharren, vor allem aber Kollektivabgrenzun- Entgrenzung, Überschreitung und Verflüssigung gen zu vergröbern, zu überzeichnen und damit von Emblemen der Zugehörigkeit Rechnung zu auch zu verschärfen. Als Begriffe, die binäre Un- tragen. Für solche Lemmata zieht die EJGK we- terscheidbarkeit insinuieren, tragen sie zum Ver- sentlich, wenn auch nicht ausschließlich, das für ständnis jüdischer Geschichte und Kultur wenig den Gegenstand der jüdischen Geschichte und bei. Dies trifft auch auf den für den Gegenstand Kultur überaus signifikante Konzept des Erinne- der Enzyklopädie fundamentalen, den semanti- rungsorts bzw. des lieu de mémoire heran. Für die schen Welten des 19. Jahrhunderts erwachsenen Darstellung jüdischer Geschichte und Kultur ent- Begriff Antisemitismus zu. In der EJGK wird das faltet das Konzept der Erinnerungsorte insofern gemeinhin von ihm bezeichnete Phänomen der ein erhebliches Erkenntnispotential, als es dem modernen Judenfeindschaft angemessener unter für die Lebenswelten der Juden als signifikant dem Lemma »Verschwörung« abgehandelt.

XIII Einführung 13Einführung EinführungXIV

Zahl von Einträgen gerecht zu werden. Manche erachteten Axiom des Punkts im Unterschied zur Einträge zu Denkfiguren sind also offener ge- nerungsorte erster Ordnung werden solche lieux Einträge nähern sich den Vorgängen der Vernich- Axiomatik der Fläche der nichtjüdischen Umge- halten und den Phänomenen des Wandels zugetan verstanden, die dem jüdischen Gedächtnis wie tung faktographisch, andere nehmen sich der Nach- bungs- und Mehrheitskulturen entspricht. Hinzu – ohne dabei einer substanziellen Aussage zu ent- selbstverständlich geläufig sind – etwa »Worms« geschichte des Geschehenen an, viele widmen sich tritt der nicht weniger erkenntnisfördernde Um- behren. Eine solche Herangehensweise gilt auch für Raschi und seinen Talmud-Kommentar als die Fragen seiner literarischen Repräsentation. Die stand, dass die Kategorie des Erinnerungsorts sich für in den Status von Lemmata erhobene tradierte raumzeitliche Erinnerungsikone für die aschkena- Lemmata, die den Holocaust thematisieren, ver- in vielen Fällen nicht nur mit einer tatsächlichen und als solche durchweg ausgewiesene jüdische sisch-mittelalterliche jüdische Wissenskultur, suchen dem Darstellungsmodus der industriellen geographischen Bezeichnung deckt, sondern auch Gedächtnisikonen, aber auch für solche Lemmata, oder »Wilna« für den dort wirkenden Gaon und Vernichtung als einer ständigen Wiederholung des – im übertragenen Sinne von Titeln oder Begriffen die auf den ersten Blick bloß Faktisches zu prä- seinen Einfluss auf die Gelehrsamkeit des 18. Jahr- immer Gleichen dergestalt auszuweichen, dass sie als Orten der Erinnerung – zur topographischen sentieren scheinen, die in ihrer Substanz aber dar- hunderts oder auch »Smyrna« für Sabbatai Zewi, die ikonisch gewordenen Orte der Vernichtung mit Symbolisierung von für Juden und das Judentum über hinausreichen. Statt in die Breite reichen ihre den zum Islam konvertierten »falschen Messias« den sich in der Folge ins Gedächtnis einschreiben- ikonischen Texten Anwendung findet. Als Be- argumentierenden Beschreibungen in die Tiefe. und seine Bewegung. Als lieux zweiter Ordnung den Wirkungsgeschichten verknüpfen. zeichnung eines solchen Lemmas bietet sich ein Zuschnitt, Reichweite und Beschränkung der Dar- erscheinen Ortsnamen, die zwar als jüdische Ge- Die universelle Bedeutung des Geschehens fin- dem Kanon jüdischer Textkultur entnommener legung werden weitgehend von der im Lemma- dächtnisikonen nicht minder vertraut sind, aber det sich zudem dadurch gewürdigt, dass auch sol- figürlicher Titel oder eine Denkfigur emblemati- Begriff angelegten Emblematik vorgegeben. für verschiedene Zeiten und/oder verschiedene Be- che Autoren mit ihren Werken lemmatisiert wer- schen Charakters an. Die Gattung der emblematischen Einträge deutungs- oder Ereigniszuweisungen stehen – den, die weder jüdisch sind noch jüdischer Her- Der Vorzug solcher Werk und Urheber reprä- folgt insbesondere dem Modus von Erinnerungs- »Prag« etwa, ein Lemma, das traditionell und im kunft waren, aber als humanistisch gesonnene sentierenden ikonischen Denkfiguren liegt darin, orten. Lieux de mémoire und, in leichter Verschie- Sinne eines lieu erster Ordnung von Rabbi Löw Künstler des Wortes oder als aufgeklärte Virtuosen dass nicht nur die durch sie zunächst verdeckte bung des Modus, lieux d'œuvre vermögen ineinan- und dem von ihm erzeugten Golem zu erzählen des Denkens es vermögen, das Ereignis während Person in einen erweiterten Kontext integriert der überzugehen. Beiden, dem Ortsgedächtnis wie weiß, zugleich aber in zeitlicher Verschiebung in des Geschehens oder aus gegebenem Anlass da- wird, sondern mit der emblematischen Wirkung dem Textgedächtnis, wird eine emblematische Be- die Moderne hinein (und dadurch als lieu zweiter nach in seiner krassen Besonderheit poetisch zu der jeweiligen Denkfigur auch das mit ihr assozi- deutung zugeschrieben. Weil jüdische Kultur in Ordnung) auch Person und Werk Franz Kafkas thematisieren oder intellektuell zu verarbeiten. ierte Sinn- und Bedeutungsfeld aufgerufen wird. ihren Ursprüngen wesentlich eine religionsgesetz- aufruft. Dies begründet ihre Aufnahme in den jüdischen Assoziation und Resonanz sind Zugangsweisen, lich gestiftete Textkultur ist, aus der Juden durch Lieux dritter Ordnung sind im Unterschied zu Kanon. die den der jüdischen Existenzerfahrung in der Profanierung von Schrift und Säkularisierung von Erinnerungsorten erster wie auch zweiter Ord- Moderne eigenen Mehrdeutigkeiten und Ambi- Lebenswelt heraus- und in eine geschichtlich be- nung nicht oder noch nicht von einer signifikan- guitäten entsprechen – verbunden mit ebenjenen schleunigte Zeiterfahrung eintreten, gehen Orts- ten Patina des Gedächtnisses überzogen, ihre Ein- Mittel der Darstellung Phänomenen der Entgrenzung, der Überschrei- bezeichnung und Textbezeichnung häufig in- setzung als solche liegt aber nahe. Es handelt sich Die EJGK zeichnet sich durch einen konzeptionell tung und der Verflüssigung. Ein solch verfrem- einander über. Zudem entspricht das Konzept mithin um im Werden begriffene Ereignisikonen, doppelten Zugriff auf ihre Themen aus. Zum ei- dender, möglicherweise irritierender Zugriff des Erinnerungsorts dem diasporisch formierten die vornehmlich aus dem Geschehen des 19. und nen bietet sie eine Vielzahl faktographischer Ein- wird von der Entscheidung flankiert, bei der Be- jüdischen raumzeitlichen Verständnis von Welt 20. Jahrhunderts erwachsen – so etwa die mit der träge zu Fragen des Judentums, zu verschiedenen nennung der Lemmata grundsätzlich auf die aus insofern, als es die räumlichen und damit herr- Ortschiffre »Damaskus« verbundene, 1840 die da- Judenheiten und einzelnen Juden wie zu den von der politischen und sozialen Sprachkultur des schaftlich regulierten Fixierungen territorialen malige jüdische Welt in Atem haltende Ritual- außen an Juden herangetragenen verzerrenden 19. Jahrhunderts stammenden, mit dem Suffix Charakters unterläuft. Stattdessen folgt es jener mordaffäre oder »Saloniki« mit der von jüdischer Projektionen antisemitischen Charakters, zum an- des »-ismus« herbeigeführten Begriffswelten zu axiomatischen Vorstellung vom Punkt als der geo- Seite angestoßenen Überlegung, die Stadt in der deren bedient sie sich des Modus ikonischer Denk- verzichten. Diese erweisen sich als zu wenig flexi- metrischen Metapher fragiler jüdischer Existenz- Folge der Balkankriege 1912/1913 zu internationa- figuren. Diese greifen im Unterschied zum klassi- bel, um jene dynamischen Konstellationen des erfahrung bar eines sonst in der territorialen Flä- lisieren, oder auch »Babi Jar« als Ort der Massen- schen Zuschnitt faktographischer Artikel thema- Übergangs und der ihnen eigenen Zwischenlagen che verankerten Schutzes. Aus den verschiedenen erschießung der Kiewer Juden durch deutsche tisch und systematisch weiter aus und suchen da- angemessen zu erfassen. Eher neigen sie dazu, auf räumlich disparaten, aber virtuell oder eher textu- Einsatzgruppen – dies aber vermittelt durch das bei eher den für das jüdische Sujet in der Moderne einem einmal angenommenen Erkenntniszustand ell miteinander verbundenen Punkten lässt die Gedicht von Jewgeni Jewtuschenko und dessen charakteristischen dynamischen Elementen der zu verharren, vor allem aber Kollektivabgrenzun- EJGK mittels der Anlage ihrer Lemmata gleichsam Rezeption als Prisma des sowjetischen Diskurses Entgrenzung, Überschreitung und Verflüssigung gen zu vergröbern, zu überzeichnen und damit eine Landschaft der Erinnerung entstehen. Eine über den Holocaust, oder genauer: dessen ideo- von Emblemen der Zugehörigkeit Rechnung zu auch zu verschärfen. Als Begriffe, die binäre Un- solche durch komplexe raumzeitliche Verknüp- logisch veranlasster Vermeidung. Oder auch »Sta- tragen. Für solche Lemmata zieht die EJGK we- terscheidbarkeit insinuieren, tragen sie zum Ver- fungen gestaltete Topographie des Gedächtnisses lingrad«, das als Erinnerungsort selbstredend für sentlich, wenn auch nicht ausschließlich, das für ständnis jüdischer Geschichte und Kultur wenig unterläuft die dem geläufigen Geschichtsnarrativ die Entscheidungsschlacht des Zweiten Weltkriegs den Gegenstand der jüdischen Geschichte und bei. Dies trifft auch auf den für den Gegenstand angemessene Chronologie. So vermag der emble- steht, aber anhand des Werks von Wassili Gross- Kultur überaus signifikante Konzept des Erinne- der Enzyklopädie fundamentalen, den semanti- matische Ort einem Palimpsest gleich simultan man ikonisiert wird, oder »München«, das für die rungsorts bzw. des lieu de mémoire heran. Für die schen Welten des 19. Jahrhunderts erwachsenen eine Vielfalt verschiedener jüdischer Zeitschichten Geschichte der jüdischen Displaced Persons auf Darstellung jüdischer Geschichte und Kultur ent- Begriff Antisemitismus zu. In der EJGK wird das aufzurufen. deutschem Boden nach 1945 steht. faltet das Konzept der Erinnerungsorte insofern gemeinhin von ihm bezeichnete Phänomen der Bei den Erinnerungsorten topographischen Das in der Enzyklopädie angewandte Konzept ein erhebliches Erkenntnispotential, als es dem modernen Judenfeindschaft angemessener unter Charakters werden in der EJGK Orte erster, zwei- der lieux de mémoire konstruiert mithin eine Art für die Lebenswelten der Juden als signifikant dem Lemma »Verschwörung« abgehandelt. ter und dritter Ordnung unterschieden. Als Erin- jüdischer Topographie der Erinnerung, und dies EinführungXV Einführung14 durchaus auch jenseits derart einschneidender Er- profanen Anteilen nahe. Davon ausgehend, wur- eignisse, wie sie vor allem für die Präsentation den weitere sinnstiftende Linien der Unterschei- jüdischer Erfahrungsgeschichte von Zweitem dung in das Korpus jüdischen Wissens gelegt, die Weltkrieg und Holocaust in außergewöhnlicher zur systematischen Ausdifferenzierung einer Dichte naheliegen. So findet das Konzept des Er- komplexen, durch vielfältige Vernetzungen cha- innerungsorts auch bei signifikant lebenswelt- rakterisierten Topographie beitragen. So wurde lichen Themen Verwendung. In sozialgeschicht- den drei Wissensbereichen Text, Institution und licher Absicht werden etwa mit dem Eintrag Lebenswelt jeweils eine Anzahl von Themenfeldern »New York« die vornehmlich um die Zeit der zugeordnet. Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert auffälligen Der Wissensbereich Text ist zentral für eine Lebens- und Arbeitsformen einwandernder Juden diasporische Kultur, die durch eine innerhalb jü- in der dortigen Textilindustrie, den sogenannten discher Zugehörigkeit verbleibende Konversion sweatshops, präsentiert. Der Eintrag zum lieu »Bag- gekennzeichnet ist. »Text« bedeutet sowohl Sub- dad« stellt neben einer kursorischen Beschreibung stanz wie Medium jüdischer Existenz. Dem- der Geschichte der Juden des Irak den großen zufolge ist der Bereich Textkultur in der EJGK Beitrag von Juden zur arabischen Musikkultur außerordentlich weit angelegt. heraus. Im Zentrum dieses Wissensbereichs stehen re- Dem Gesamtkonzept der EJGK und der zentra- ligiöse wie weltliche Schriften. Wohl in kaum ei- len Bedeutung von Text für die jüdische Lebenswelt nem anderen Wissensbereich der EJGK werden die entsprechend, vermögen Ortsgedächtnis und Text- Unterscheidung von sakral und profan und die gedächtnis ebenso ineinander überzugehen, wie sie Abstufungen zwischen diesen Merkmalen derart für sich stehen können. Letzterem entsprechen Ein- sinnfällig. Die Lemmata des Sakralen umfassen träge zu ikonischen Autoren, die naheliegender Einträge zu den verschiedenen Korpora des Juden- Weise mit Titeln oder Fragmenten von Titeln em- tums – ausgehend vom zentralen Eintrag zur he- blematischer Werke versehen sind – »More Nevu- bräischen Bibel (ÑTanach) über Artikel zum ÑMi- khim« für Maimonides, »Bi'ur« für Moses Men- drasch, zu der zusammen mit dem ÑTalmud abge- delssohn, »Divre Shalom we-Emet« für Naphtali handelten Mischna bis hin zum Schlüsselcharak- Wessely, »Angelus Novus« für Walter Benjamin, ter aufweisenden Artikel ÑHalacha, der zudem »Kabbala« für Gershom Scholem, »Gesetz« für Leo einen Übergang zu dem Komplex von Recht und Strauss, oder, etwas ferner liegend, »Urteilskraft« Institution öffnet. In dieses Themengebiet fallen für Hannah Arendt. Gleiches gilt für Lemmata aus auch Einträge zu Texten, die an der Schwelle zum den Themenfeldern Literatur, Musik, Kunst und Profanen stehen, so im Artikel, der der Geschichte Architektur. So wird Gustav Mahler im Lemma der ÑBibelübersetzung gewidmet ist. Im Kontext »Auferstehung« präsentiert, Moritz Daniel Oppen- von Text und Hermeneutik steht auch die Bedeu- heim gilt der Artikel »Biedermeier«, die Ikone he- tung des hebräischen Alphabets wie der alphabeti- bräischer Literatur H. N. Bialik ist unter dem Ein- schen Zahl (ÑAlef-Bet). Der materiellen Welt des trag »El ha-z.ippor« zu finden. ÑBuchdrucks und der durch sie beschleunigten Übergänge von der sakralen zur profanen Text- kultur bis hin zum Verlags- und Zeitungswesen Wissensbereiche und Themenfelder wird angemessen Raum gegeben. Zwischen dem Text und der vom Religionsgesetz durchdrunge- Die Lemmatastruktur der EJGK ist Ergebnis syste- nen Institution vermitteln Lemmata, die Einrich- matischen Abgleichens innerhalb des jüdischen tungen sakraler Wissensvermittlung (ÑTalmud Wissenskorpus. In diesem Prozess wurde von tora) zum Gegenstand haben. Daran schließen drei großen Bereichen jüdischen Wissens aus- die Themenfelder zur jüdischen Gelehrsamkeit gegangen, die sich mit den Bezeichnungen Text, an, deren Lemmata ikonische Werke, wesentliche Institution und Lebenswelt fassen lassen. Der histori- Periodika sowie Institutionen der ÑWissenschaft schen Dynamik der Epoche des Übergangs von der des Judentums und der ihr vorausgehenden intel- Vormoderne in die Moderne folgend, legte die lektuellen Kultur der ÑHaskala behandeln. Lemmatisierung in einem ersten Schritt eine zu- Der Prozess der Verweltlichung bildet sich nächst binär codierte Linie zwischen sakralen und nicht zuletzt in Lemmata ab, die religiöse Strö-

XV Einführung 15Einführung EinführungXVI durchaus auch jenseits derart einschneidender Er- profanen Anteilen nahe. Davon ausgehend, wur- mungen – als durchaus paradoxe Reaktionen auf Eine ähnliche Absicht ist mit den Themenfel- eignisse, wie sie vor allem für die Präsentation den weitere sinnstiftende Linien der Unterschei- die anbrandende Moderne – präsentieren. Dies dern Philosophie und Theorie verknüpft. Um ihre jüdischer Erfahrungsgeschichte von Zweitem dung in das Korpus jüdischen Wissens gelegt, die gilt für Lemmata, die den Unterscheidungen zwi- zentralen Einträge (ÑPhilosophie, ÑTheorie) ver- Weltkrieg und Holocaust in außergewöhnlicher zur systematischen Ausdifferenzierung einer schen Reformjudentum (ÑReform), konservativen sammeln sie zahlreiche weitere Lemmata (etwa Dichte naheliegen. So findet das Konzept des Er- komplexen, durch vielfältige Vernetzungen cha- (ÑConservative Judaism), orthodoxen (ÑOrthodo- ÑDekonstruktion, ÑDenkstil, ÑPhänomenologie, innerungsorts auch bei signifikant lebenswelt- rakterisierten Topographie beitragen. So wurde xie) sowie den mystischen Strömungen im Juden- ÑPsychoanalyse), in denen sich auch jüdische Er- lichen Themen Verwendung. In sozialgeschicht- den drei Wissensbereichen Text, Institution und tum folgen und sich mit Phänomenen einer über fahrung und jüdisches Wissen in universale Er- licher Absicht werden etwa mit dem Eintrag Lebenswelt jeweils eine Anzahl von Themenfeldern den ÑChassidismus hinausgehenden Devianz wie kenntnis überträgt. »New York« die vornehmlich um die Zeit der zugeordnet. dem ÑFrankismus, den ÑKaräern oder der ÑDönme Darüber hinaus sind auch den im weiteren Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert auffälligen Der Wissensbereich Text ist zentral für eine befassen. Mit Reaktionen auf die als Zumutung Sinn textuellen, künstlerischen und medialen Lebens- und Arbeitsformen einwandernder Juden diasporische Kultur, die durch eine innerhalb jü- empfundenen Forderungen der Moderne befassen Ausdrucksformen wie den bildenden Künsten, in der dortigen Textilindustrie, den sogenannten discher Zugehörigkeit verbleibende Konversion sich auch Einträge, die Vorgängen wie etwa dem dem Theater, der Musik sowie Film und Radio sweatshops, präsentiert. Der Eintrag zum lieu »Bag- gekennzeichnet ist. »Text« bedeutet sowohl Sub- ÑBeerdigungsstreit oder dem ÑHamburger Tem- eigene Themenfelder gewidmet. Lemmata wie dad« stellt neben einer kursorischen Beschreibung stanz wie Medium jüdischer Existenz. Dem- pelstreit gelten. Prozesse der Säkularisierung und ÑArchitektur und ÑFotografie, ÑBroadway und der Geschichte der Juden des Irak den großen zufolge ist der Bereich Textkultur in der EJGK Modernisierung werden auch deutlich in den ÑHabima, ÑBadkhn und ÑKantor oder ÑHollywood Beitrag von Juden zur arabischen Musikkultur außerordentlich weit angelegt. Lemmata, die die Welt der jüdischen Bildungskul- geben dem spezifischen jüdischen Beitrag in der heraus. Im Zentrum dieses Wissensbereichs stehen re- tur (ÑBildung, ÑBürgertum) sowie die Etablierung materiellen und darstellenden Kultur ebenso Dem Gesamtkonzept der EJGK und der zentra- ligiöse wie weltliche Schriften. Wohl in kaum ei- von Einrichtungen einer zeitgemäßen Gelehrsam- Raum wie den Formen der Verwandlung vom Jü- len Bedeutung von Text für die jüdische Lebenswelt nem anderen Wissensbereich der EJGK werden die keit darstellen – auch und gerade in der Neuen dischen ins Allgemeine. entsprechend, vermögen Ortsgedächtnis und Text- Unterscheidung von sakral und profan und die Welt (ÑHebrew Union College, ÑYeshiva Univer- Der zweite große Wissensbereich der EJGK ist gedächtnis ebenso ineinander überzugehen, wie sie Abstufungen zwischen diesen Merkmalen derart sity, ÑBrandeis University) und in Palästina/Israel den Institutionen des Judentums und der Judenhei- für sich stehen können. Letzterem entsprechen Ein- sinnfällig. Die Lemmata des Sakralen umfassen (ÑHebräische Universität, ÑWeizmann Institute). ten in ihren jeweiligen Umwelten von Recht und träge zu ikonischen Autoren, die naheliegender Einträge zu den verschiedenen Korpora des Juden- In den Zusammenhang des Sakralen gehört Politik gewidmet. Auch hier steht der Übergang Weise mit Titeln oder Fragmenten von Titeln em- tums – ausgehend vom zentralen Eintrag zur he- auch das Verhältnis von Judentum und Islam, von sakral imprägnierten in profane Phänomene blematischer Werke versehen sind – »More Nevu- bräischen Bibel (ÑTanach) über Artikel zum ÑMi- das in Einträgen beschrieben wird, die den Insti- im Vordergrund der lemmatisierenden Anord- khim« für Maimonides, »Bi'ur« für Moses Men- drasch, zu der zusammen mit dem ÑTalmud abge- tutionen und lebensweltlichen Konstellationen nung. Ausgangspunkt ist das Themenfeld der jü- delssohn, »Divre Shalom we-Emet« für Naphtali handelten Mischna bis hin zum Schlüsselcharak- der Existenzerfahrung von Juden unter den Mus- dischen ÑAutonomie und ihrer charakteristischen Wessely, »Angelus Novus« für Walter Benjamin, ter aufweisenden Artikel ÑHalacha, der zudem limen gelten (ÑAhl al-kita¯ b, ÑDhimmah) und da- Ausdrucksformen und Institutionen. Zentral sind »Kabbala« für Gershom Scholem, »Gesetz« für Leo einen Übergang zu dem Komplex von Recht und mit einhergehende Formen letztlich textueller ge- hier die Reglements der Vormoderne mit ihren Strauss, oder, etwas ferner liegend, »Urteilskraft« Institution öffnet. In dieses Themengebiet fallen genseitiger Beeinflussung beider Kulturen be- weitgehend religionsgesetzlich bestimmten Kör- für Hannah Arendt. Gleiches gilt für Lemmata aus auch Einträge zu Texten, die an der Schwelle zum schreiben (ÑKala¯ m, ÑFalsafah). Für das 19. Jahr- perschaften von Rechtsetzung und Rechtspflege den Themenfeldern Literatur, Musik, Kunst und Profanen stehen, so im Artikel, der der Geschichte hundert tritt die Würdigung der Beschäftigung sowie die nach außen, an die jeweilige Obrigkeit Architektur. So wird Gustav Mahler im Lemma der ÑBibelübersetzung gewidmet ist. Im Kontext mit dem Islam durch herausragende Persönlich- gewandten Einrichtungen der Fürsprache (ÑBann, »Auferstehung« präsentiert, Moritz Daniel Oppen- von Text und Hermeneutik steht auch die Bedeu- keiten des Reformjudentums wie Abraham Geiger ÑBet din, ÑKahal, ÑShtadlanut). heim gilt der Artikel »Biedermeier«, die Ikone he- tung des hebräischen Alphabets wie der alphabeti- (ÑKoran) oder den Nestor islamwissenschaftlicher Der Ablösung der Autonomie in der Ära der bräischer Literatur H. N. Bialik ist unter dem Ein- schen Zahl (ÑAlef-Bet). Der materiellen Welt des Gelehrsamkeit Ignaz Goldziher (ÑMuhammeda- ÑEmanzipation widmet sich zunächst ein The- trag »El ha-z.ippor« zu finden. ÑBuchdrucks und der durch sie beschleunigten nische Studien) hinzu. menfeld, das vorwiegend dem rechtlichen Status Übergänge von der sakralen zur profanen Text- Zum Themenbereich Text und Textkultur ge- von Juden gilt. Lemmata wie ÑToleranzpatent kultur bis hin zum Verlags- und Zeitungswesen hören ganze Cluster von Lemmata, die sich litera- oder ÑSanhédrin sind den initialen Ereignissen Wissensbereiche und Themenfelder wird angemessen Raum gegeben. Zwischen dem rischen Werken und Autoren von ikonischem gewidmet; Einträge wie ÑPaulskirche, ÑDuma, Text und der vom Religionsgesetz durchdrunge- Rang in der jüdischen Tradition zuwenden. Sie ÑSejm behandeln signifikante Orte der Emanzipa- Die Lemmatastruktur der EJGK ist Ergebnis syste- nen Institution vermitteln Lemmata, die Einrich- diversifizieren sich nach Gattung, Motiven, Räu- tion, es werden aber auch skandalisierende Ereig- matischen Abgleichens innerhalb des jüdischen tungen sakraler Wissensvermittlung (ÑTalmud men, Sprachen und literarischen Strömungen. nisse der Ära thematisiert wie der ÑBerliner Anti- Wissenskorpus. In diesem Prozess wurde von tora) zum Gegenstand haben. Daran schließen Diesen Einträgen, darunter die zahlreichen nach semitismusstreit und die ÑDreyfus-Affäre; das drei großen Bereichen jüdischen Wissens aus- die Themenfelder zur jüdischen Gelehrsamkeit Titeln oder Titelkomponenten bezeichneten Lem- Lemma ÑMinderheitenrechte gilt der rechtlichen gegangen, die sich mit den Bezeichnungen Text, an, deren Lemmata ikonische Werke, wesentliche mata, kommt gemäß der Konzeption der Enzyklo- Lage der Judenheiten in den neuen Nationalstaa- Institution und Lebenswelt fassen lassen. Der histori- Periodika sowie Institutionen der ÑWissenschaft pädie in besonderem Maß die Aufgabe zu, die als ten nach dem Ersten Weltkrieg. schen Dynamik der Epoche des Übergangs von der des Judentums und der ihr vorausgehenden intel- Verschiebung und Verflüssigung von Emblemen Mit der Perspektive der äußerlichen Recht- Vormoderne in die Moderne folgend, legte die lektuellen Kultur der ÑHaskala behandeln. der Zugehörigkeit bezeichneten Phänomene von setzung korrespondiert ein weiteres, der moder- Lemmatisierung in einem ersten Schritt eine zu- Der Prozess der Verweltlichung bildet sich Säkularisierung und Profanierung zu thematisie- nen politischen Erfahrung wie auch der jüdischen nächst binär codierte Linie zwischen sakralen und nicht zuletzt in Lemmata ab, die religiöse Strö- ren. Politik gewidmete Themenfeld. Dabei geht es EinführungXVII Einführung16 zum einen um stärker den jeweiligen regionalen Der dritte große Wissensbereich der EJGK um- Kontext in den Blick nehmende Lemmata (etwa fasst Phänomene der Lebenswelt. Jüdische Alltags- ÑAnsiedlungsrayon) sowie signifikante Orte der kulturen weisen auch im Prozess zunehmender Migration (ÑBremerhaven, ÑEllis Island), zum an- Verweltlichung eine starke Bindung an das Sa- deren um jüdische politische Organisationen und krale auf; in gewisser Hinsicht sind sie Gefäße Parteien wie den ÑCentral-Verein oder den ÑBund. der Traditionsbewahrung. Dem gelten die weit Hieran schließt das Themenfeld Diplomatie an, angelegten Themenfelder zu Alltag, Ritus und Sa- das dem Engagement für jüdische Belange in der kralität. Die Spannung zwischen Religionsgesetz Sphäre internationaler Politik gilt. Die modernen und sich profanierender Lebenswelt wird in die- Formen der Fürsprache etablierten sich als Phäno- sem Zusammenhang von Einträgen ausgelotet, mene lebensweltlicher Säkularisierung und Mo- die sich mit Fragen der ÑFrömmigkeit, des Speise- dernisierung zuerst in Gestalt der Tätigkeit sich gesetzes (ÑKashrut), des Ritus des ÑSchächtens, der selbst ermächtigender Notabeln, um sich alsbald ÑLiturgie und des ÑKalenders bis hin zu rites de den Formen des Engagements international wir- passages wie der ÑBeschneidung, der ÑBar/Bat-Miz- kender jüdischer Organisationen anzuverwandeln wa, der ÑEheschließung sowie den Regularien von und eine Art jüdischer diplomatischer Tradition Bestattung und der mit ihrer Durchführung be- auszubilden. Einen solchen Übergang bildet das trauten heiligen Gesellschaften befassen. Lemma zum ÑBoard of Deputies ab, während der In systematischer Nachbarschaft zu diesen The- Eintrag ÑAlliance israélite universelle jener Insti- menfeldern werden unter dem Begriff der ÑMeh. i- tution gilt, die jüdisches diplomatisches Engage- za, der synagogalen Schranke, Fragen des Ge- ment im 19. Jahrhundert geradezu emblematisch schlechts bzw. der Geschlechterdifferenz behan- verkörpert. Den Rahmen bildete die Große Poli- delt. Der traditionell patriarchalisch aufgeladene tik, deren Verfahrensweisen im Zeitalter der Ba- religionsgesetzliche jüdische Kanon fordert ein lance es jüdischen Vertretern erlaubte, auf Kon- zeitgenössisches enzyklopädisches Projekt inso- gressen und Konferenzen ihre Belange vorzutra- fern heraus, als es die im Zeichen des Themenfelds gen (ÑWiener Kongress, ÑBerliner Kongress). Im Gender/Geschlecht stehenden Artikel thematisch 20. Jahrhundert, nach dem Ersten Weltkrieg und von traditionellen, auf die Weiblichkeit fixierten angesichts einer zunehmenden nationalstaatli- Festlegungen zu lösen sucht und sie durch die chen Parzellierung der internationalen Politik, Einbeziehung von Themen männlicher Körper- wurden die Grenzen einer derartigen nichtstaatli- lichkeit erweitert. Diesem Themenfeld sind Arti- chen Interessenvertretung offenkundig. Innerhalb kel zugeordnet, die sich mit geschlechtsspezi- dieses Kontexts der jüdischen Politik und Diplo- fischen Zuschreibungen, etwa durch die rituellen matie wird auch die zionistische Bewegung ver- Maßgaben der ÑKleiderordnung, und mit Fragen ortet. Ihre Gründerfigur Theodor Herzl wird mit der Frauenbildung (ÑBais Yaakov, ÑHochschule seiner literarischen Vision ÑAltneuland lemmati- für Frauen) und der Frauenorganisationen (ÑJü- siert, wesentliche Debatten der zionistischen Kon- discher Frauenbund) befassen. gresse werden unter ihrem Gründungs- und Erin- Jenseits der rituellen Bedeutung von Körperlich- nerungsort ÑBasel abgehandelt. keit werden Phänomene des ÑSports behandelt. Die Lemmata des Wissensbereichs Institution, Dabei werden unterschiedliche, in den jüdischen Recht und Politik nehmen sich analog zu der dia- Lebenswelten auffällige Sportarten berücksichtigt, sporischen Konstellation jüdischer Lebenswelten vornehmlich solche, denen in migrantischer Um- denkbar vieler kulturgeographischer Bereiche an gebung der Charakter sozialer Aufstiegsrituale zu- – und dies unabhängig von der jeweiligen Anzahl kommt – etwa ÑBoxen und ÑBaseball in den Ver- der dort lebenden Juden. So wird etwa den Juden einigten Staaten oder ÑFußball in Europa. Auch des islamischen Orients in der Kernzeit 1750–1950 das um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert – in Einträgen zu ihrem rechtlichen Status wie zu gepflegte kollektive, zur Nationalisierung der ihrer Lebenswelt (z.B. ÑMillet) – eine hohe Bedeu- Juden beitragende Turnen und die Etablierung tung zuerkannt, auch wenn sie im Vergleich zu jüdischer Sportvereine (ÑBar Kochba Berlin) so- den damaligen aschkenasischen Judenheiten in wie der später platzgreifende Kult um heraus- demographischer Hinsicht eher von geringerer ragende Sportler und Sportlerinnen werden auf- Bedeutung sind. gegriffen.

XVII Einführung 17Einführung EinführungXVIII zum einen um stärker den jeweiligen regionalen Der dritte große Wissensbereich der EJGK um- Ein weiteres Themenfeld bilden Berufe und Autoren aus den verschiedensten Wissenschafts- Kontext in den Blick nehmende Lemmata (etwa fasst Phänomene der Lebenswelt. Jüdische Alltags- Professionen. Auch dieses folgt einem an einer und Sprachkulturen an dem Werk beteiligt – vor ÑAnsiedlungsrayon) sowie signifikante Orte der kulturen weisen auch im Prozess zunehmender binären Unterscheidung orientiertem Auswahl- allem aus Deutschland, Israel und den Vereinigten Migration (ÑBremerhaven, ÑEllis Island), zum an- Verweltlichung eine starke Bindung an das Sa- prinzip – hier der zwischen vormodernen und Staaten. deren um jüdische politische Organisationen und krale auf; in gewisser Hinsicht sind sie Gefäße modernen Formen des Produzierens, Wirtschaf- Die EJGK ist ein originäres Werk. Frühere Enzy- Parteien wie den ÑCentral-Verein oder den ÑBund. der Traditionsbewahrung. Dem gelten die weit tens und Vermittelns. So stehen Lemmata offen klopädien jüdischen Wissens werden in ihr nicht Hieran schließt das Themenfeld Diplomatie an, angelegten Themenfelder zu Alltag, Ritus und Sa- oder mittels lieux verdeckt für ÑHandwerk und fortgeschrieben. Indes zehrt sie bei aller post- das dem Engagement für jüdische Belange in der kralität. Die Spannung zwischen Religionsgesetz Handel, für ÑHoffaktoren und ÑBankiers, für kanonischen Innovation von der großen Tradition Sphäre internationaler Politik gilt. Die modernen und sich profanierender Lebenswelt wird in die- ÑHausierer und ÑUhrmacher, für Pächter (ÑPacht) jüdischer Enzyklopädiekultur in der Moderne, die Formen der Fürsprache etablierten sich als Phäno- sem Zusammenhang von Einträgen ausgelotet, und Gutsverwalter, für die Diamanten- und Tex- in der Weimarer Zeit in der deutschsprachig kon- mene lebensweltlicher Säkularisierung und Mo- die sich mit Fragen der ÑFrömmigkeit, des Speise- tilindustrie (ÑAntwerpen, Ñ¡Lódz´ ), für das ÑEisen- zipierten, wegen der Weltwirtschaftskrise und der dernisierung zuerst in Gestalt der Tätigkeit sich gesetzes (ÑKashrut), des Ritus des ÑSchächtens, der bahnwesen und die ÑWarenhäuser – aber auch für NS-Herrschaft nur teilweise realisierten Encyclopae- selbst ermächtigender Notabeln, um sich alsbald ÑLiturgie und des ÑKalenders bis hin zu rites de andere auffällige Berufe, Funktionen und Rollen. dia Judaica kulminierte. Sie konnte in den 1970er den Formen des Engagements international wir- passages wie der ÑBeschneidung, der ÑBar/Bat-Miz- Jahren in Jerusalem in englischer Sprache voll- kender jüdischer Organisationen anzuverwandeln wa, der ÑEheschließung sowie den Regularien von * endet werden und sie gilt unbestritten, seit jüngs- und eine Art jüdischer diplomatischer Tradition Bestattung und der mit ihrer Durchführung be- tem in neuer Auflage, als die große jüdische Enzy- auszubilden. Einen solchen Übergang bildet das trauten heiligen Gesellschaften befassen. Die im Auftrag der Sächsischen Akademie der klopädie. Lemma zum ÑBoard of Deputies ab, während der In systematischer Nachbarschaft zu diesen The- Wissenschaften im Rahmen des Leipziger Simon- Die EJGK bescheidet sich mit einer verhältnis- Eintrag ÑAlliance israélite universelle jener Insti- menfeldern werden unter dem Begriff der ÑMeh. i- Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und mäßig geringen Zahl von ca. 800 Artikeln unter- tution gilt, die jüdisches diplomatisches Engage- za, der synagogalen Schranke, Fragen des Ge- Kultur erarbeitete Enzyklopädie jüdischer Geschichte schiedlichen Zuschnitts und Umfangs, der auch ment im 19. Jahrhundert geradezu emblematisch schlechts bzw. der Geschlechterdifferenz behan- und Kultur lehnt sich konzeptionell an dessen un- deren jeweiligen Rang wiederspiegelt (Schlüssel- verkörpert. Den Rahmen bildete die Große Poli- delt. Der traditionell patriarchalisch aufgeladene ter der Direktorenschaft des Herausgebers ent- artikel, Dachartikel, Einzelartikel), in sechs Bän- tik, deren Verfahrensweisen im Zeitalter der Ba- religionsgesetzliche jüdische Kanon fordert ein wickelte Forschungsagenda an, jüdische Ge- den sowie einem Registerband. Die Lemmataliste lance es jüdischen Vertretern erlaubte, auf Kon- zeitgenössisches enzyklopädisches Projekt inso- schichte als einen integralen Bestandteil der all- und die inhaltlichen Zielvorgaben für die Artikel gressen und Konferenzen ihre Belange vorzutra- fern heraus, als es die im Zeichen des Themenfelds gemeinen Geschichte zu verstehen. Auf diese wurden von der wissenschaftlichen Redaktion gen (ÑWiener Kongress, ÑBerliner Kongress). Im Gender/Geschlecht stehenden Artikel thematisch Weise kann sichtbar gemacht werden, welches Po- des Akademieprojekts »Europäische Traditionen – 20. Jahrhundert, nach dem Ersten Weltkrieg und von traditionellen, auf die Weiblichkeit fixierten tential historisch angeleiteter Erkenntnis dem jü- Enzyklopädie jüdischer Kulturen« der Sächsischen angesichts einer zunehmenden nationalstaatli- Festlegungen zu lösen sucht und sie durch die dischen Sujet als solchem innewohnt. Tatsächlich Akademie zu Leipzig am Simon-Dubnow-Institut chen Parzellierung der internationalen Politik, Einbeziehung von Themen männlicher Körper- erweist es sich auch für andere historische Gegen- unter der Leitung des Herausgebers erarbeitet. Der wurden die Grenzen einer derartigen nichtstaatli- lichkeit erweitert. Diesem Themenfeld sind Arti- stände als eine epistemische Sonde, mittels derer Redaktion oblag auch das Redigieren und Lektorie- chen Interessenvertretung offenkundig. Innerhalb kel zugeordnet, die sich mit geschlechtsspezi- die Zeit über sich selbst Auskunft geben kann. Zu ren der Artikel in engem Zusammenwirken mit dieses Kontexts der jüdischen Politik und Diplo- fischen Zuschreibungen, etwa durch die rituellen guter Letzt versteht sich das Unternehmen der dem Herausgeber und den ca. 450 Autorinnen und matie wird auch die zionistische Bewegung ver- Maßgaben der ÑKleiderordnung, und mit Fragen EJGK auch als ein Projekt, den gegenwärtig er- Autoren, des Weiteren auch die Auswahl der Abbil- ortet. Ihre Gründerfigur Theodor Herzl wird mit der Frauenbildung (ÑBais Yaakov, ÑHochschule reichten Stand der Jüdischen Studien nicht nur dungen und die inhaltliche Vorbereitung der Kar- seiner literarischen Vision ÑAltneuland lemmati- für Frauen) und der Frauenorganisationen (ÑJü- abzubilden, sondern ihnen auch eine Entwick- ten. Die redaktionellen Arbeiten erfolgten zudem in siert, wesentliche Debatten der zionistischen Kon- discher Frauenbund) befassen. lungsrichtung vorzuschlagen. enger Abstimmung mit dem Verlag. gresse werden unter ihrem Gründungs- und Erin- Jenseits der rituellen Bedeutung von Körperlich- Die EJGK ist ein deutschsprachiges Vorhaben. Der Herausgeber ist der Redaktion in ihrer Pro- nerungsort ÑBasel abgehandelt. keit werden Phänomene des ÑSports behandelt. Gleichwohl ist sie ein internationales Projekt. Eine fessionalität, Sachkunde wie ihrem Engagement Die Lemmata des Wissensbereichs Institution, Dabei werden unterschiedliche, in den jüdischen solche Orientierung erwächst nicht nur aus der für das gemeinsame Projekt zu großem Dank ver- Recht und Politik nehmen sich analog zu der dia- Lebenswelten auffällige Sportarten berücksichtigt, weiten akademischen Vernetzung seines Gegen- pflichtet. sporischen Konstellation jüdischer Lebenswelten vornehmlich solche, denen in migrantischer Um- stands, sondern ist auch und vor allem der Natur denkbar vieler kulturgeographischer Bereiche an gebung der Charakter sozialer Aufstiegsrituale zu- der Sache geschuldet. So sind Autorinnen und Dan Diner Im Frühjahr 2011 – und dies unabhängig von der jeweiligen Anzahl kommt – etwa ÑBoxen und ÑBaseball in den Ver- der dort lebenden Juden. So wird etwa den Juden einigten Staaten oder ÑFußball in Europa. Auch des islamischen Orients in der Kernzeit 1750–1950 das um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert – in Einträgen zu ihrem rechtlichen Status wie zu gepflegte kollektive, zur Nationalisierung der ihrer Lebenswelt (z.B. ÑMillet) – eine hohe Bedeu- Juden beitragende Turnen und die Etablierung tung zuerkannt, auch wenn sie im Vergleich zu jüdischer Sportvereine (ÑBar Kochba Berlin) so- den damaligen aschkenasischen Judenheiten in wie der später platzgreifende Kult um heraus- demographischer Hinsicht eher von geringerer ragende Sportler und Sportlerinnen werden auf- Bedeutung sind. gegriffen. Artikelverzeichnis 18

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19 Artikelverzeichnis

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21 Artikelverzeichnis

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Autonomie die Grundlage autonomer Körperschaften, wie sie in der aschkenasischen Diaspora während des Mittel- Unter jüdischer Autonomie wird die Selbstverwal- alters und bis in die frühe Neuzeit üblich waren. In tung jüdischer Gemeinschaften innerhalb ihrer nicht- Palästina unter römischer Herrschaft war das Patriar- jüdischen Umwelt in Antike, Mittelalter und früher chat bis zu dessen Aufhebung im 5. Jahrhundert als Neuzeit verstanden. Autonomie impliziert die Aner- Vertretung der jüdischen Bevölkerung durch die kennung des besonderen religiösen, rechtlichen, or- Obrigkeit anerkannt. Auch im vorislamischen Ägyp- ganisatorischen, sozialen und kulturellen Status der ten bestand ein von der Obrigkeit anerkannter über- Juden durch die jeweilige Obrigkeit. In Mittelalter gemeindlicher Zusammenschluss mit einem Ethnar- und früher Neuzeit wurde sie jüdischen Gemeinden chen an der Spitze. seitens der Landes- und Schutzherrschaft gewährt, Zum anderen sind für das Altertum autonome um im Gegenzug die Zahlung der verlangten Abga- Institutionen charakteristisch, wie sie sich in Babylo- ben sicherzustellen. Der »heiligen« jüdischen Ge- nien entwickelten und unter der parthischen, sassani- meinde (kehilla kedusha) galt Autonomie als erstre- dischen und muslimischen Oberhoheit heraus- benswert, da sie eine innere Organisation ermöglich- bildeten. Diese erkannten jeweils den Resh Galuta te, die das Leben gemäß den religiösen Vorschriften (Exilarch), der den Rang eines Staatsbeamten genoss, (ÑHalacha) gewährleistete (ÑKahal). Die vormodernen als höchsten Repräsentanten aller Juden in ihrem autonomen, selbstverwalteten jüdischen Gemeinden, Herrschaftsbereich an. In den islamischen Ländern die als Territorialkorporationen nach außen ihre In- setzte sich diese Tradition fort. Familien aus der wirt- teressen vertraten, begannen sich seit der Mitte des schaftlichen wie rabbinischen Elite hatten Führungs- 18. Jahrhunderts unter dem Einfluss und Druck des positionen inne und trugen die Titel Resh Galuta, Gaon spätabsolutistischen Zentralstaats sowie der Franzö- und Nagid. sischen Revolution und ihrer Folgen aufzulösen. Der Verlust vormoderner Formen jüdischer Autonomie 1.2 Interne Regelungsfreiheiten entspricht in vielerlei Hinsicht der jüdischen Erfah- rung der Herausforderungen der Moderne. Von der Antike bis in die frühe Neuzeit umfasste jüdische Autonomie, abgesehen von jenen Bereichen, 1. Vormoderne die sich die jeweilige Obrigkeit vorbehielt, Gesetz- 1.1 Ursprünge im Altertum gebung, Gerichtswesen und in begrenztem Maß aus- 1.2 Interne Regelungsfreiheiten führende Gewalt. Die jüdischen Gemeinschaften un- 1.3 Übergemeindliche Zusammenschlüsse 2. Moderne ter muslimischer wie christlicher Herrschaft erfreu- 3. Historiographie ten sich weitgehender Rechtsautonomie: Fußend auf den rabbinischen Gerichten (ÑBet din), fällten sie ihre 1. Vormoderne Entscheidungen nach dem jüdischen Religionsrecht (ÑHalacha). Die Gemeinschaften gaben sich ihre eige- 1.1 Ursprünge im Altertum nen Gesetze (takkanot) auf der Ebene einzelner Ge- Jüdische Selbstverwaltung findet sich seit dem Alter- meinden (kehillot), Bezirke oder überkommunaler Zu- tum in unterschiedlicher Ausprägung in den Ländern sammenschlüsse und sorgten für die Durchsetzung der ÑDiaspora. Auch im Land Israel (Palästina) lebten ihrer Beschlüsse mittels religiös legitimierter Strafan- Juden seit dem Verlust eines eigenen jüdischen Staats drohung wie den Ausschluss aus der Gemeinschaft unter den Bedingungen weitgehender Autonomie, so (h.erem, ÑBann) oder die Ächtung (niddui). Die auto- unter den Persern, in den Diadochen-Reichen, im nomen Gemeinden sorgten für den Unterhalt jüdi- römischen wie byzantinischen Reich und unter mus- scher Gebetsstätten und Friedhöfe; sie trieben Steu- limischer Herrschaft. ern ein sowohl im Auftrag der Obrigkeit (Kopfsteuer) Die Selbstverwaltung jüdischer Gemeinden wies als auch für eigene Belange zum Unterhalt von in der Antike im Wesentlichen zwei Formen auf: Dienstleistungen sowie für die Interventionen beim Zum einen handelte es sich um autonome Institutio- Regenten (Fürsprache, Ñshtadlanut) und sonstigen nen, wie sie in hellenistischen Städten verbreitet wa- Maßnahmen, die zum Erhalt ihrer Gemeinschaft er- ren. Hier hatten die jüdischen Bewohner einen Status forderlich waren. inne, aufgrund dessen sie den Bürgern der Polis Eine solche diasporische Souveränität der Juden rechtlich gleichgestellt waren (isopoliteia). Die Selbst- hatte verbindlichen Charakter. Wie die Angehörigen verwaltung dieser Gemeinden setzte sich unter der anderer Körperschaften der Vormoderne gehörten Herrschaft des Römischen Reichs fort und bildete auch die Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft einer H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3d vom 6.5.2011 Seite 215 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch

23215 AutonomieAutonomie

geradezu als gemeinsamer Körper verstandenen Ver- Gemeinden zu zentralisieren. Zu diesem Zweck grün- bindung an. Wer aus der Gemeinschaft ausschied deten jüdische Gemeindevertreter in der zweiten (entweder durch Konversion oder durch Tod), galt Hälfte des 16. Jahrhunderts juristische Körperschaf- als ein amputierter Körperteil. Diese Verbindung, ten, die als übergemeindliche Instanzen anerkannt der etwas Mystisches eigen war, wurde als heilig er- wurden (erstmals 1581 auf den jährlich stattfindenden achtet. Die jüdische »heilige Gemeinde« (kehilla kedu- Messen zu Lublin). Die erste bekannte Verordnung sha) war mithin eine Gemeinschaft von Glaubens- des Vierländerrats geht auf das Jahr 1580 zurück. genossen, deren Verbindung weit über das Irdische Die jüdischen Länderräte ließen eine hierarchische und Materielle hinausreichte. Struktur erkennen, in denen sich auch das Kräftever- hältnis der Gemeinden untereinander abbildete. Aus- druck dessen war das Ringen um den jeweiligen An- 1.3 Übergemeindliche Zusammenschlüsse teil an der aufzubringenden Steuer. Die den beiden Die jüdische Autonomie der aschkenasischen Ge- Vereinigungen zugrunde liegende kleinste Verwal- meinden in Europa (ÑAschkenas) zu Beginn der Neu- tungseinheit war die Gemeinde (kehilla) unter Füh- zeit war, anders als die in den islamischen Ländern rung der Gemeindevertretung oder -repräsentanz (ka- des Mittelalters, weniger zentralisiert und brachte hal). Besonders einflussreiche und wohlhabende Ge- keine Dynastien von Gemeindeoberhäuptern und -re- meinden (»Hauptgemeinden«, kehillot rashiyot) waren präsentanten wie dem Exilarch, Ga'on oder Nagid im Kreistag (glil) vertreten. Dieser pflegte an Markt- hervor. Allerdings hatten die Juden in Europa wie tagen zusammenzutreten; die Kreisgrenzen stimm- im Orient eine Kopfsteuer zu entrichten. Sie schlos- ten in der Regel mit denen der Verwaltungseinheiten sen sich in größeren Verbänden zusammen, aus de- des Königreichs Polen-Litauen überein. Im Jahr 1717 nen sich übergreifende Vereinigungen entwickelten: bestand der Vierländerrat aus 18 Kreis- bzw. Haupt- (1) der Landesverband (kehal medina), dem die Juden gemeinden. In Litauen stammten die Vertreter aus- des jeweiligen Territoriums angehörten (charakteris- schließlich aus den Hauptgemeinden, anfangs Brest, tisch insbesondere für die jüdische Autonomie im Grodno und Pinsk, später auch Wilna und Sluzk. »deutschen« Alten Reich); (2) ein Zusammenschluss Beide Vereinigungen wiesen einen ausgesprochen selbständiger Gemeinden, etwa als »Rat des Landes oligarchischen Charakter auf. Neueren Berechnun- Litauen« (wa'ad medinat Lita) oder der Rat Mährens; (3) gen [5] zufolge waren an den Wahlen zum Vierlän- ein Zusammenschluss von großen Einzelgemeinden derrat in der Spätphase seines Bestehens nur ein und Regionalräten, etwa im Vierländerrat (wa'ad arba Prozent der Wahlberechtigten aus den Ortsgemein- araz.ot) in Polen. Vereinigungen unterschiedlicher den beteiligt. Größe, in denen sich jeweils Vertreter von Orts- Der Aufbau der beiden Länderräte war ähnlich gemeinden um die Regelung gemeinsamer Angele- angelegt wie der örtliche kahal (die Gemeindevertre- genheiten und um die Kontakte zur Obrigkeit küm- tung) in Polen-Litauen: Die oberste Leitung hatte der merten, entstanden in der frühen Neuzeit zwischen Ratsvorsteher (parnas ha-wa'ad; poln. marszal¡ek) inne; dem französischen Elsass im Westen bis nach Litauen für die Finanzen war der Einnehmer oder Treuhän- im Osten. Diese Räte (we'adim) genannt, entsprachen der (ne'eman; wiernik) zuständig, die Vertretung jüdi- in mancher Hinsicht vergleichbaren christlichen In- scher Interessen gegenüber der Obrigkeit und Ein- stitutionen. flussnahme auf die Besteuerung oblag dem Rats-Für- Die größte Entfaltung jüdischer Autonomie wäh- sprecher (shtadlan ha-wa'ad; syndyk generalnosci); die rend der frühen Neuzeit markieren zwei überregio- Steuerschätzer (shamma'im; symplarzy) entschieden nale Zusammenschlüsse, die seit der zweiten Hälfte über die Verteilung der Steuern auf die verschiedenen des 16. Jahrhunderts bis 1764 in der Union des König- Gemeinden; der Ratsschreiber (sofer ha-wa'ad) besorgte reichs Polen und des Großfürstentums Litauen be- die Aufzeichnung der Verordnungen, der Beschlüsse standen: Der Vierländerrat, der Großpolen, das west- und richterlichen Entscheidungen der jüdischen Ge- liche und das östliche Kleinpolen sowie Wolhynien richte. Durch Niederschrift in den Protokollbüchern umfasste, und der Länderrat von Litauen waren die (pinkasim) der Länderräte wurden deren Beschlüsse größten und bedeutendsten unter den gemeinde- und Maßnahmen rechtskräftig. übergreifenden Vereinigungen. Sie wiesen große Beide Länderräte wurden von der polnischen Ob- Übereinstimmung mit den Landtagen des Adels und rigkeit nicht als offizielle Organe jüdischer Selbstver- dem polnischen Landtag (Sejm) des Königreichs auf waltung anerkannt. Die einzige ihnen staatlicherseits und gingen auf Versuche des polnischen Königtums zuerkannte Funktion war die Eintreibung der Kopf- zurück, die Eintreibung der Steuern der jüdischen steuer, die Mitte des 17. Jahrhunderts in eine Pau- H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3d vom 6.5.2011 Seite 216 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch

Autonomie 21624

Privileg Vytautas' des Großen an die Juden von Brest (1388), lateinische Kopie aus der Metryka Koronna (Mitte 15. Jahr- hundert, Ausschnitt)

schalsteuer umgewandelt wurde. In Absprache mit die Gerichte der Länderräte die oberste richterliche der polnischen bzw. litauischen Staatskasse wiesen Instanz; allerdings war die Annahme ihrer Entschei- sie den Gemeinden die zu entrichtende Summe zu. dungen durch die Vertreter der Hauptgemeinden und Bisweilen wurde die Steuer durch die Länderräte in der Kreisräte freiwillig. Der Länderrat autorisierte den Staatsschatz überführt; gelegentlich zahlten die den Druck für in Aschkenas erscheinende jüdische Gemeinden direkt an die Staatskasse oder an militä- Bücher und schützte die Autorenrechte, schritt gegen rische Einheiten, die durch die Kopfsteuer zu finan- ketzerische Bewegungen ein (etwa um die Mitte des zieren waren. 18. Jahrhunderts gegen die Anhänger des ÑFrankis- Inoffiziell schützten die beiden Länderräte die re- mus) und unterstützte ins Heilige Land ziehende ost- ligiösen, kulturellen und wirtschaftlichen Belange europäische Juden. Die Autorität der Rabbinats- der Judenheit Polen-Litauens gegenüber der Obrig- gerichte der Länderräte strahlte weit über Polen-Li- keit, erließen aber ihrerseits auch Verordnungen in tauen aus und wurde von jüdischen Gemeinden im Bezug auf Moral, Brauchtum, Geschäfts- und Finanz- Ausland (z.B. Amsterdam, Hamburg, Jerusalem und gebaren sowie das Wohlfahrtswesen. Zudem waren Frankfurt) bei der Schlichtung interner Streitigkeiten H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3d vom 6.5.2011 Seite 217 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch

25217 AutonomieAutonomie

in Anspruch genommen (ÑEmden-Eybeschütz-Kon- lens an Preußen gefallenen waren. In den 1780er Jah- troverse). Darüber hinaus war es Anliegen der Län- ren wurde durch Kaiser Joseph II. der Sonderstatus derräte, jüdische Interessen zu wahren – angefangen der jüdischen Gemeinden im Habsburgerreich (ein- von wirtschaftlichen Belangen bis hin zur Zurück- schließlich der 1772 von Polen annektierten Gebiete) weisung von Ritualmordbeschuldigungen, wie sie aufgehoben (ÑToleranzpatent). Im Zuge der ÑFranzö- im 18. Jahrhundert zunahmen. In einem dieser Fälle, sischen Revolution büßten die jüdischen Gemeinden dem Ritualmordvorwurf von 1756, wurde ein Vertre- des Elsass ihre interne Verwaltungsautorität ein. In ter des Vierländerrats nach Rom entsandt. Seine Reise den 1820er Jahren wurde der korporative Status der war so kostspielig, dass die Juden Polens dafür mit jüdischen Gemeinden im Königreich Polen (»Kon- einer Sondersteuer belegt wurden. gresspolen«) abgeschafft, und im Jahre 1844 verfügte Die faktisch äußerst beschränkte Vollmacht der Zar Nikolas I. die Auflösung der Gemeindevertretung Länderräte und ihre letztendlich geringen Möglich- (kahal) im Russischen Reich. Im Verlauf von nahezu keiten, auf das Verhalten jüdischer Gemeinden oder hundert Jahren hatte der zentralisierte Staat den kor- Einzelpersonen wirklich einzuwirken, stehen der Ide- porativen Charakter der jüdischen Gesellschaft auf alvorstellung gegenüber, die sich im Selbstverständ- dem europäischen Kontinent aufgelöst. nis der polnisch-litauischen Judenheit darüber her- Aus Sicht der aschkenasischen Gemeinden in Eu- ausgebildet hatte. So galten die Länderräte geradezu ropa, später auch aus Sicht der jüdischen Gemeinden als jüdische Autorität und als maßgebliche Instanz im Mittelmeerraum, bestand kein wesentlicher Un- der moralischen und religiösen Belange der Juden in terschied zwischen einer monarchistischen und einer Polen-Litauen. republikanischen Herrschaft; die Politik von Fried- rich dem Großen in Preußen, Joseph II. in Österreich und Zar Alexander I. in Russland galt den Repräsen- 2. Moderne tanten der jüdischen Autonomie als ebenso schädlich Das Aufkommen des territiorialen Zentralstaats in wie die Französische Revolution. In Frankreich war Europa beendete die korporative Ordnung, in deren die offizielle Haltung gegenüber den Juden insofern Rahmen die jüdische Autonomie bestanden hatte. besonders radikal, als dort zwischen 1789 und 1815 Vereinheitlichung, Zentralisierung und rationale Ideen der europäischen Aufklärung die Politik der Planung waren die Leitlinien der Reformen, die zentralisierten Staatsgewalt weit stärker als andern- von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sowie orts bestimmten. Die vollständige Abschaffung der durch das gesamte 19. Jahrhundert hindurch zwi- jüdischen natio, d. h. der Körperschaft, die sich inner- schen Atlantik und Ostgrenze des Russischen Reichs halb der autonomen Gemeinde verwirklichte, wurde in unterschiedlicher Weise und Intensität vorgenom- zur Vorbedingung für die Aufnahme der Juden in die men wurden. Dies traf die jüdische Autonomie nicht französische nation (ÑFranzösische Revolution). So nur in ihrem administrativen Kern, sondern hatte wurde die jüdische Selbstverwaltung schrittweise auch für die jüdischen Lebenswelten weitreichende von der zentralen staatlichen Verwaltung entweder Konsequenzen. aufgehoben oder von neuen jüdischen Institutionen So teilte das Jiddische, das muttersprachliche Ele- mit beschränkter Vollmacht, die im Auftrag der staat- ment in der bilingualen Kultur der aschkenasischen lichen Verwaltung handelten, abgelöst – etwa den Judenheit (ÑJiddisch), in sich modernisierenden euro- Konsistorien (ÑConsistoire central israélite). Diese päischen Staaten das Schicksal von Dialekten etlicher Entwicklung griff auch auf das östliche Europa sowie Sprachen. Die neu eingerichteten staatlichen Schulen, nach Nordafrika und in den Vorderen Orient über. So eine wesentliche Institution des zentralisierten Staa- führten Reformen, die das Osmanische Reich im Lauf tes zur Vereinheitlichung von Bildung und Kom- des 19. Jahrhunderts unternahm, zu ähnlichen Ver- munikation, bekämpften das Jiddische ebenso wie änderungen bei den sephardischen Judengemeinden andere Sprachen zugunsten der offiziellen Landes- in Anatolien und auf dem Balkan, wie sie im Westen sprache. bereits realisiert waren. Nur die jemenitischen Juden Mittel- und ostmitteleuropäische Zentralstaaten (ÑDarda'im) lebten noch im frühen 20. Jahrhundert lösten jüdische autonome Einrichtungen auf und ord- nach den Bestimmungen des Kalifats von Omar neten sie der staatlichen Verwaltung unter. Um die (7. Jh.) und genossen rechtliche Autonomie unter Mitte des 18. Jahrhunderts wurde die weitgehende dem dort herrschenden muslimischen Imam. Autonomie der jüdischen Gemeinden in Preußen auf- Im 19. Jahrhundert vollzog sich der Auflösungs- gehoben. Das preußische Gesetz wurde auch für die prozess der jüdischen Autonomie im östlichen Eu- Landesteile verbindlich, die durch die Teilungen Po- ropa im Vergleich zum westlichen Teil der aschkena- H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3d vom 6.5.2011 Seite 218 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch

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sischen Diaspora deutlich langsamer, nicht zuletzt lichkeit des Zaddik, der Kraft seines Charismas Ein- aufgrund der wesentlich größeren jüdischen Bevölke- fluss auf die Wahl und Vergabe von Ämtern nahm. Sie rung. Hinzu kommt, dass in Russland wie auch in galten nicht als Teil der imperialen Bürokratie, die Österreich-Ungarn die korporative Verwaltungsform womöglich den Gemeindeverband schwächen oder gewahrt blieb. Die Stände (russ. sosloviya) behielten gar ersetzen wollte. Doch sahen die russischen und ihre korporativen Rechte; die Juden, die rechtlich österreichischen Behörden in diesen Einrichtungen zum Stand der städtischen Bevölkerung gerechnet für gewöhnlich konservative Kräfte, die eher zur Auf- wurden, blieben somit weiterhin als korporativ defi- rechterhaltung der alten Ordnung beitrugen. In der nierte Gruppe anerkannt. Der polnische Adel konnte Art und Weise, wie das jeweilige Oberhaupt einer seine Stellung noch Jahrzehnte über den Verlust der litauischen Jeschiwa Aufgaben des annullierten Ge- polnischen Unabhängigkeit hinaus bewahren. So meindeverbands übernahm, hatte er vieles mit sei- blieb das wirtschaftliche Beziehungsgefüge zwischen nem Gegenpol, dem chassidischen Zaddik, gemein- dem polnischen Adel und den polnischen Juden bis in sam. Beide suchten auf dem Weg der Fürsprache auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts erhalten; dies die staatlichen Autoritäten zugunsten der jüdischen begünstigte auch den Erhalt korporativer Elemente Bevölkerung einzuwirken. Als sich in Galizien und im jeweiligen lokalen Kontext. Ein weiterer Faktor, im Russischen Reich eine jüdische Orthodoxie her- der die organisatorische Auflösung der jüdischen ausbildete, schlossen sich Chassidismus, die über- Korporation im Russischen Reich verzögerte, war regionale Jeschiwa und die »heiligen Gemeinschaf- der Umstand, dass die Regierung des Zaren nach der ten« der neuen Strömung an. So wurden sie zum offiziellen Aufhebung der Gemeindevertretung (ka- Bindeglied zwischen dem sich rückbildenden Ge- hal) im Jahr 1844 noch gewisser Organisationsformen meindeverband und den modernen Formen jüdischer für Verwaltung, Kontrolle und Steuereinziehung in- politischer Artikulation des 20. Jahrhunderts. nerhalb der jüdischen Gesellschaft bedurfte. Diese Ungeachtet der zunehmenden Auflösung jüdi- Vereinigungen übernahmen manche Aufgaben der scher Autonomie wurde ihr angebliches Fortbestehen früheren autonomen Gemeindevertretungen. zu einem Topos antisemitischer Literatur. Der Anti- Zudem entstanden innerhalb der jüdischen Le- semitismus verbreitete die Vorstellung eines konspi- benswelten neue Institutionen, die die traditionellen rativen Netzwerks jüdischer Vereinigungen (ÑVer- Aufgaben der Gemeindevertretungen im religiös- schwörung). Der konvertierte russische Jude Jakob ethischen Bereich übernahmen oder adaptierten. So Brafman veröffentlichte 1869 unter dem Titel Buch gewährleisteten etwa die innerhalb der Gemeinden des Kahal (russ. Kniga Kagala) entstellte Auszüge aus fortbestehenden »heiligen Gemeinschaften« (ÑH. evra dem Protokollbuch der jüdischen Gemeinde von Kaddisha) den Weiterbestand der »heiligen Gemein- Minsk. Dieses Werk wurde in den 1870er Jahren für de« in einem mystischen Sinn. Die Mitgliedschaft die Beamtenschaft in den westlichen Teilen des Rus- war nunmehr freiwillig. Weite Verbreitung fand die sischen Reichs zu einer Art Leitfaden der Wahrneh- von Litauen ausgehende populäre Bewegung, in de- mung der Juden. Die Protokolle der Weisen von Zion, ein ren Zentrum die Jeschiwa (ÑTalmud tora) stand. Mo- berüchtigtes antisemitisches Machwerk ebenfalls rus- dell für die Verbreitung der litauischen Jeschiwa war sischer Herkunft, gehen noch einen Schritt weiter jene Einrichtung, die Rabbi Chaim ben Isaak, ein und unterstellen einem angeblich geheimen jüdi- Schüler von Elia ben Salomo, dem Gaon von ÑWilna, schen kahal, Drahtzieher einer jüdischen Weltver- 1803 in Wolozin etablierte. Auf ihre Weise knüpften schwörung zu sein. In antisemitischer Deutung exis- die Höfe der chassidischen Zaddikim, die während tierten die aufgelösten vormodernen autonomen des 19. Jahrhunderts allenthalben im östlichen Eu- jüdischen Institutionen in subversiver Weise in der ropa entstanden (ÑChassidismus), ein Netzwerk von Moderne weiter. übergemeindlichen Beziehungen, die geographische oder politische Grenzen überschritten. Sowohl die 3. Historiographie litauischen Jeschiwot, als auch die sich ausbreitenden chassidischen Höfe waren neue gesellschaftliche Er- Die jüdische Autonomie wird in der modernen jüdi- scheinungen in der jüdischen Lebenswelt des geteil- schen Geschichtsschreibung kontrovers diskutiert. ten Polen. Beide entstanden und entfalteten sich zu Insbesondere die historische Forschung im Gefolge der Zeit, als die institutionelle Autonomie im Nieder- der jüdischen Aufklärung (ÑHaskala) verband mit jü- gang begriffen war. Beide verfügten über religiöse discher Autonomie eine konservative Gemeinschaft, Autorität – aufgrund halachischer Gelehrsamkeit die sich gegenüber der Außenwelt verschloss und sich und rabbinischem Ansehen und aufgrund der Persön- jeglichem Fortschritt verweigerte. Dagegen sahen na- H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3d vom 6.5.2011 H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3d vom 6.5.2011 Seite 218 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm Seite 219 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch

Autonomie 218 27219 AutonomieAutonomie sischen Diaspora deutlich langsamer, nicht zuletzt lichkeit des Zaddik, der Kraft seines Charismas Ein- tional eingestellte jüdische Historiker die Einrichtun- ihrem Erscheinen selbst zu einer Art historischer aufgrund der wesentlich größeren jüdischen Bevölke- fluss auf die Wahl und Vergabe von Ämtern nahm. Sie gen der jüdischen Autonomie als Ausdruck einer über Quelle wurde. Aus der Rekonstruktion der Unterla- rung. Hinzu kommt, dass in Russland wie auch in galten nicht als Teil der imperialen Bürokratie, die Jahrhunderte bestehenden kollektiven Kraft und Vi- gen lässt sich das nahezu vollständige Bild eines fö- Österreich-Ungarn die korporative Verwaltungsform womöglich den Gemeindeverband schwächen oder talität. derativen Zusammenschlusses oligarchischen Cha- gewahrt blieb. Die Stände (russ. sosloviya) behielten gar ersetzen wollte. Doch sahen die russischen und Der Historiker Salo Baron (1895–1989) wies da- rakters gewinnen, der in einem weiten geographi- ihre korporativen Rechte; die Juden, die rechtlich österreichischen Behörden in diesen Einrichtungen rauf hin, dass hinsichtlich der Autonomie zionisti- schen Rahmen, dem Königreich Polen, über den Zeit- zum Stand der städtischen Bevölkerung gerechnet für gewöhnlich konservative Kräfte, die eher zur Auf- sche ebenso wie liberale Historiker darin überein- raum von nahezu zweihundert Jahren (1580–1764) wurden, blieben somit weiterhin als korporativ defi- rechterhaltung der alten Ordnung beitrugen. In der stimmten, den kahal als Ausdruck überkommener jü- bestand. Die Abrundung und Veröffentlichung des nierte Gruppe anerkannt. Der polnische Adel konnte Art und Weise, wie das jeweilige Oberhaupt einer discher Politik abzutun. Zur Kennzeichnung der Hal- verlorenen Protokollbuchs waren nur ein Teil inner- seine Stellung noch Jahrzehnte über den Verlust der litauischen Jeschiwa Aufgaben des annullierten Ge- tung der Gemeindeangehörigen verwendeten sie halb eines breiter angelegten Projekts zur Erfor- polnischen Unabhängigkeit hinaus bewahren. So meindeverbands übernahm, hatte er vieles mit sei- Begriffe wie Gnade, Willfährigkeit und Abhängig- schung der Geschichte der jüdischen Autonomie. Hal- blieb das wirtschaftliche Beziehungsgefüge zwischen nem Gegenpol, dem chassidischen Zaddik, gemein- keit. Doch hatte sich auch und gerade unter den na- perin begleitete das große Unternehmen der Rekon- dem polnischen Adel und den polnischen Juden bis in sam. Beide suchten auf dem Weg der Fürsprache auf tional orientierten jüdischen Historikern im östlichen struktion mit einer Reihe von Einzelforschungen und die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts erhalten; dies die staatlichen Autoritäten zugunsten der jüdischen Europa eine vor allem im Werk von Simon Dubnow verfasste zudem ein Begriffslexikon der jüdischen begünstigte auch den Erhalt korporativer Elemente Bevölkerung einzuwirken. Als sich in Galizien und (1860–1941) zum Ausdruck kommende Strömung ent- Selbstverwaltung im aschkenasischen Kulturbereich im jeweiligen lokalen Kontext. Ein weiterer Faktor, im Russischen Reich eine jüdische Orthodoxie her- wickelt, in der vormodernen jüdischen Autonomie [3. 536–555]. In jüngeren Forschungsarbeiten zur jü- der die organisatorische Auflösung der jüdischen ausbildete, schlossen sich Chassidismus, die über- einen Ausdruck nichtstaatlicher nationaler Existenz dischen Autonomie im östlichen Europa (Arbeiten Korporation im Russischen Reich verzögerte, war regionale Jeschiwa und die »heiligen Gemeinschaf- zu erkennen. Israel Halperin (1910–1971), der Erfor- u.a. von Jacob Goldberg, Gershon D. Hundert, Mur- der Umstand, dass die Regierung des Zaren nach der ten« der neuen Strömung an. So wurden sie zum scher der jüdischen Selbstverwaltung in Aschkenas, ray J. Rosman und Adam Teller) überwiegt die Ten- offiziellen Aufhebung der Gemeindevertretung (ka- Bindeglied zwischen dem sich rückbildenden Ge- führte diese Linie bis in die zionistische Geschichts- denz, die »nationalen« Aspekte der jüdischen Selbst- hal) im Jahr 1844 noch gewisser Organisationsformen meindeverband und den modernen Formen jüdischer schreibung hinein weiter. Wie Ben-Z. iyon Dinur/ verwaltung eher zurücktreten zu lassen. Die neuere für Verwaltung, Kontrolle und Steuereinziehung in- politischer Artikulation des 20. Jahrhunderts. Dünaburg (1884–1973) vor und Shmuel Ettinger Forschung hebt die Einmischung der nichtjüdischen nerhalb der jüdischen Gesellschaft bedurfte. Diese Ungeachtet der zunehmenden Auflösung jüdi- (1919–1988) nach ihm, sprach Halperin der jüdischen Behörden in den Alltag der jüdischen Gemeinde stär- Vereinigungen übernahmen manche Aufgaben der scher Autonomie wurde ihr angebliches Fortbestehen Autonomie regelrecht nationale Qualitäten zu. Dub- ker hervor, betont die Besonderheit der polnischen früheren autonomen Gemeindevertretungen. zu einem Topos antisemitischer Literatur. Der Anti- now, der die russisch-jüdische historische Schule an- Autonomie (wobei der Stellenwert der gesamt-asch- Zudem entstanden innerhalb der jüdischen Le- semitismus verbreitete die Vorstellung eines konspi- führte, widmete einen erheblichen Teil seines wissen- kenasischen Komponente reduziert wird) und be- benswelten neue Institutionen, die die traditionellen rativen Netzwerks jüdischer Vereinigungen (ÑVer- schaftlichen Schaffens der Veröffentlichung des Pro- trachtet die jüdischen korporativen Instanzen ver- Aufgaben der Gemeindevertretungen im religiös- schwörung). Der konvertierte russische Jude Jakob tokollbuchs des Länderrats in Litauen. Er schilderte stärkt als generellen Bestandteil des politisch-sozialen ethischen Bereich übernahmen oder adaptierten. So Brafman veröffentlichte 1869 unter dem Titel Buch die polnisch-litauischen Länderräte als ein Glied in Gefüges Polen-Litauens. gewährleisteten etwa die innerhalb der Gemeinden des Kahal (russ. Kniga Kagala) entstellte Auszüge aus der Kette der jüdischen Selbstverwaltung, die sich [1] S. Dubnow (Hg.), Pinkas ha-medina o pinkas wa'ad ha- fortbestehenden »heiligen Gemeinschaften« (ÑH. evra dem Protokollbuch der jüdischen Gemeinde von von den Tagen des biblischen Königtums in Juda kehillot ha-rashiyot bi-medinat Lita o kovez takkanot u-fesa- Kaddisha) den Weiterbestand der »heiligen Gemein- Minsk. Dieses Werk wurde in den 1870er Jahren für und Israel bis hin zur Aufhebung der jüdischen Auto- . kim mi-shnat 383 ad shnat 521, nidpas mi-ketav yad ha- de« in einem mystischen Sinn. Die Mitgliedschaft die Beamtenschaft in den westlichen Teilen des Rus- nomie in der Neuzeit ziehe. Dubnow spürte in den nimz.a be-Horodna [Protokollbuch des Landes oder Proto- war nunmehr freiwillig. Weite Verbreitung fand die sischen Reichs zu einer Art Leitfaden der Wahrneh- Protokollen des Länderrats das »Wehen des Geistes kollbuch des Rats der Hauptgemeinden in Litauen oder von Litauen ausgehende populäre Bewegung, in de- mung der Juden. Die Protokolle der Weisen von Zion, ein nationalen Lebens«. Er verglich die Entscheidungen Sammlung von Statuten und Rechtsetzungen von 1623 bis ren Zentrum die Jeschiwa (ÑTalmud tora) stand. Mo- berüchtigtes antisemitisches Machwerk ebenfalls rus- dieses Gremiums mit denen einer parlamentarischen 1761, gedruckt nach einer Handschrift in Grodno], Berlin 1925. [2] J. Goldberg (Hg.), Jewish Privileges in the Polish dell für die Verbreitung der litauischen Jeschiwa war sischer Herkunft, gehen noch einen Schritt weiter Institution [1. xi–xxiv]. Allerdings nahm Dubnow als Commonwealth. Charters of Rights Granted to Jewish Com- jene Einrichtung, die Rabbi Chaim ben Isaak, ein und unterstellen einem angeblich geheimen jüdi- säkularer jüdischer Nationalist weder den ausgespro- munities in Poland-Lithuania in the Sixteenth to Eighteenth Schüler von Elia ben Salomo, dem Gaon von ÑWilna, schen kahal, Drahtzieher einer jüdischen Weltver- chen korporativen Charakter der chassidischen Ge- Centuries. Critical Edition of Original Latin, Polish and Ger- 1803 in Wolozin etablierte. Auf ihre Weise knüpften schwörung zu sein. In antisemitischer Deutung exis- meinschaft noch den der litauischen Jeschiwa wahr. man Documents, with English Introductions and Notes, 3 Bde., Jerusalem 1985–2001. [3] I. Halperin, Pinkas wa'ad die Höfe der chassidischen Zaddikim, die während tierten die aufgelösten vormodernen autonomen Aufgrund seines Modernismus übersah er auch, dass arba araz.ot, 5341–5524 [Protokollbuch des Vierländerrats, des 19. Jahrhunderts allenthalben im östlichen Eu- jüdischen Institutionen in subversiver Weise in der der polnische Adel ein wichtiger Faktor für den Er- 1581–1764], Jerusalem 1945. [4] I. Halperin, Takkanot medi- ropa entstanden (ÑChassidismus), ein Netzwerk von Moderne weiter. halt des korporativen Charakters der jüdischen Ge- nat Mehrin, 410–508 [Statuten des Landes Mähren, 1650– übergemeindlichen Beziehungen, die geographische sellschaft im Russischen Reich wie in der Habsbur- 1748], Jerusalem 1952. [5] I. Halperin, Yehudim we-yahadut oder politische Grenzen überschritten. Sowohl die germonarchie gewesen war. be-mizrah. Eropa. Meh. karim be-toldotehem [Studien zur Ge- 3. Historiographie schichte der Juden und des Judentums im östlichen Europa], litauischen Jeschiwot, als auch die sich ausbreitenden In einem groß angelegten Forschungsprojekt be- Jerusalem 1968. [6] I. Halperin, Pinkas wa'ad arba araz.ot, chassidischen Höfe waren neue gesellschaftliche Er- Die jüdische Autonomie wird in der modernen jüdi- gann Israel Halperin in den 1930er Jahren, Quellen- 5341–5524 [Protokollbuch des Vierländerrats, 1581–1764], Je- scheinungen in der jüdischen Lebenswelt des geteil- schen Geschichtsschreibung kontrovers diskutiert. fragmente und rabbinische Dokumente aus Arbeiten rusalem 1990 [rev. Ausgabe v. I. Bartal]. ten Polen. Beide entstanden und entfalteten sich zu Insbesondere die historische Forschung im Gefolge von Historikern, Abhandlungen von Aufklärern und [7] S. W. Baron, The Jewish Community. Its History and der Zeit, als die institutionelle Autonomie im Nieder- der jüdischen Aufklärung (ÑHaskala) verband mit jü- Aufzeichnungen von Chronisten zusammenzutragen. Structure to the American Revolution, 3 Bde., Philadelphia 1942. [8] I. Bartal, From Corporation to Nation. Jewish Auto- gang begriffen war. Beide verfügten über religiöse discher Autonomie eine konservative Gemeinschaft, Seine Rekonstruktion der Organisation und der Ver- nomy in Eastern Europe, 1772–1881, in: Simon Dubnow Autorität – aufgrund halachischer Gelehrsamkeit die sich gegenüber der Außenwelt verschloss und sich fahrensweisen des Vierländerrats war so sorgfältig, Institute Yearbook 5 (2006), 17–31. [9] I. Bartal, Geschichte und rabbinischem Ansehen und aufgrund der Persön- jeglichem Fortschritt verweigerte. Dagegen sahen na- dass seine Monographie zum Thema [3] bald nach der Juden im östlichen Europa 1772–1881, Göttingen 2010. H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3d vom 6.5.2011 Seite 232 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch

Bagdad 232

gaben: Er hielt die droshe-geshank (Geschenkpredigt), rebbe angehören (oder sogar der rebbe selbst sein). die offenbar eine Parodie auf die Rede des Bräutigams Während der badkhn in der nichtchassidischen Welt war, und kündigte dabei die Geschenke an, wobei die zuweilen mit negativen Assoziationen verknüpft Schenkenden in satirischer Verzerrung dargestellt wur- wird, scheint er in chassidischen Kreisen keine Vor- den; außerdem forderte er die männlichen Verwandten behalte hervorzurufen. Zeitgenössische badkhonim und Gäste am Ende des Abends zum mitsve-tants (ob- singen nach wie vor im Stil des muser-zogn, aber das ligatorischer Tanz) mit der Braut auf. Neben der Hoch- bazetsns findet nicht mehr statt und die Aufmerksam- zeit war das andere wichtige Ereignis das seinem Cha- keit ist eher auf den Bräutigam als auf die Braut rakter nach fröhliche Purimfest, auf dem der badkhn gerichtet – vermutlich eine Folge der strikteren Ge- während des Festmahls auftrat und kurze Theaterstü- schlechtertrennung in der chassidischen Gesellschaft. cke aufführte, die meist einen Bezug auf historische [1] A. Krasney, The Badkhn. From Wedding Stage to Writing Ereignisse hatten (ÑPurimspiel). Desk, in: Polin. Studies in Polish Jewry 16 (2003), 7–28. Die Musik der badkhonim war eklektisch. Das Sin- [2] E. Lifschutz, Merrymakers and Jesters Among Jews (Ma- gen der gramen ähnelte dem formelhaften Gesang von terials for a Lexicon), in: YIVO Annual of Jewish Social Gebeten, insbesondere von kinot (Klagegesänge für Science 7 (1952), 43–83. [3] S. Liptzin, Eliakum Zunser. Poet of His People, New York 1950. [4] Y. Mazor, The Badkhn in den Trauertag ÑTish'a be-Av; ÑKlage). Aber die Musik Contemporary Hasidic Society. Social, Historical, and Musi- nahm auch Anleihen bei jiddischen, hebräischen oder cal Observations, in: Polin. Studies in Polish Jewry 16 (2003), anderssprachigen religiösen oder säkularen Volkslie- 279–296. [5] A. Wood, (De)constructing Yiddishland. Solo- dern, bei Klezmermelodien und bei nichtjüdischen mon and SoCalled's HipHopKhasene, in: Ethnomusicology Forum 16 (2007) 2, 243–270. Schäferweisen. Auch die verschiedenen Formen der chassidischen niggunim (ÑNiggun) konnten in den gra- Joel E. Rubin, Charlottesville men verarbeitet werden. Der badkhn war eine zentrale Figur in der Entwick- lung der jiddischen Lied- und Unterhaltungskultur, Bagdad die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts etablierte: Viele broder-zinger (populäre Sänger und Liederma- Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war Bagdad das cher), die in den städtischen Kaffeehäusern, Garten- Zentrum einer blühenden jüdischen Gemeinschaft. lokalen und Schenken des östlichen Europa auftraten, Aufgeschlossen gegenüber kulturellen Impulsen aus kamen aus den Reihen der badkhonim. Ehemalige Europa, durchliefen die Bagdader Juden seit Ende des badkhonim fanden sich auch unter den frühen Sängern 19. Jahrhunderts einen Prozess der Säkularisierung, er- und Stückeschreibern des professionellen jiddischen warben ein hohes Bildungsniveau und engagierten sich Theaters, das mit den ersten Inszenierungen Abra- auf eine in der arabischen Welt einzigartige Weise in ham Goldfadens 1876 in Ias¸i (Rumänien; ÑPomul ver- Kultur und Politik des Landes. Ein Ausdruck dieser de) seinen Anfang nahm. Es wird oft angenommen, Besonderheit ist die Musikpraxis: Jüdische Musiker dass ihr Erbe in säkularen amerikanisch-jüdischen gestalteten das Musikleben, waren Träger der klassi- H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3d vom 6.5.2011 Entertainern wie den tummlers, die in jüdischen Feri- schen arabischen Tradition und zugleich die treiben- Seite 220 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm Enzyklopädie jüdischerengebieten Geschichte wie und dem Kultur,ÑBorscht Umbruch Belt in den Catskill den Kräfte musikalischer Innovation und Modernisie- Mountains Gäste unterhielten, und besonders bei rung. Das Anwachsen von arabischem Nationalismus den Stand-up-Comedians fortlebt. und Judenfeindlichkeit führte, verbunden mit den Fol- Unter dem Einfluss der ÑHaskala sahen sich einige gen des arabisch-israelischen Kriegs, Anfang der 1950er badkhonim des späten 19. Jahrhunderts den Zielen der Jahre zum Exodus der jüdischen Bevölkerung aus dem Aufklärung verpflichtet und begannen, neben ihren Irak in den neu gegründeten Staat Israel. AvodathBagdad Hakodesh 22028 Auftritten auf Hochzeiten Verse und Lieder aufkläre- rischen Inhalts zu publizieren; der bekannteste unter [10] H. H. Ben-Sasson, Wa'ade ha-araz.ot shebe-mizrah. Eropa turgische1. Bagdad Musik, der Juden die in traditionell der Moderne aus mündlich über- [Länderräteihnen war im Eliakum östlichen Zunser Europa], (1836–1913). in: Y. Haker (Hg.), Rezef u- 1.1 Erwartungen der Integration . lieferten Gesängen bestand, zunehmend moderni- tmura.In Iyunimder heutigen toldot Yisra'el chassidischen bi-yeme ha-benayim Gesellschaft uva-et in 1.2 Erwachendes Nationalbewusstsein H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3d vom 6.5.2011 siert und im Sinne der abendländischen Kunstmusik ha-hNordamerika. adasha [Kontinuität ist die Funktion und Wandel. des badkhn Überlegungenstärker fest- zur 1.3 Nationalismus und Nationalsozialismus Seite 232 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm jüdischen Geschichte im Mittelalter und in der Neuzeit], interpretiert2. Juden im irakischen (ÑOrgel). AnknüpfendMusikleben an diese Entwick- Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch gelegt. Seine Aufgabe ist in erster Linie die Aufforde- Tel Aviv 1984, 239–257. [11] S. Dubnow, History ofH:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3d the lung,2.1 Musik schuf im Ernest Islam Bloch, geschult an der Musikspra- vom 6.5.2011 rung der Gäste zum mitsve-tants. Der badkhn tritt oft 2.2 Klassische Musiktradition Jews in Russia and Poland, 3 Bde., Philadelphia 1916–1920.Seite 233che – Seitenformat:der Romantik 185,00 und x des265,00 Impressionismus, mm den ers- [12]ohne S. Ettinger,klezmorim Theauf und Council kann of stattdessen the Four von Lands, einem in: 2.3 »Moderner Stil« Enzyklopädieten2.4Die durchkomponierten jüdischer Brüder Geschichte al-Kuwaity und und jüdischen Kultur, Salima Umbruch Murad Gottesdienst, der A.Keyboard Polonsky begleitetu.a. (Hg.), Thewerden. Jews in Innerhalb Old Poland, der 1000–1795, chassi- 2.5 Der Kongress für arabische Musik in Kairo 1932 London 1993, 93–109. [13] S. Ettinger, Hasidism and the Ka- sich sowohl als liturgisches wie als konzertantes Werk dischen Gemeinschaft haben badkhonim häufig einen 2.6 Daqqaqa-Ensembles hal in Eastern Europe, in: A. Rapoport-Albert (Hg.), Hasi- versteht. hohen religiösen Status und können der Familie des 3. Exodus Bagdad dism Reappraised, London 1996, 63–75. [14] G. D. Hundert,232 Bloch hatte sich lange mit dieser Absicht getragen, On the Jewish Community in Poland during the Seventeenth aber erst 1927, durch die Begegnung mit Reuben Century. Some Comparative Perspectives, in: Revue des étu- gaben: Er hielt die droshe-geshank (Geschenkpredigt), rebbe angehören (oder sogar der rebbe selbst sein). R.233 Rinder (1887–1966), dem Kantor des Reformtem- Bagdad des juives 142 (1983) 3/4, 349–372. [15] G. D. Hundert, Jews in die offenbar eine Parodie auf die Rede des Bräutigams Poland-LithuaniaWährend der badkhn in the Eighteenthin der nichtchassidischen Century, Berkeley 2004.Welt pels Emanu-El in San Francisco, nahm das Vorhaben war, und kündigte dabei die Geschenke an, wobei die [16]zuweilen Y. Kalik, mit Ha-oz. negativenar ha-avud. Reshimot Assoziationen mas ha-gulgolet verknüpft ha- Gestalt1. Bagdad an. der Auf Juden Veranlassung in der Moderne Rinders wurde Bloch in der Heimat, gelang ihnen häufig der Aufstieg in Schenkenden in satirischer Verzerrung dargestellt wur- yehudiwird, scheint ba-me'a ha-18er in shebe-arkhiyon chassidischen ha-z Kreisen.ava ha-polani keine Vor- [Der 1929 vom New Yorker Philanthropen Gerald Warburg Regierungskreise. So hatte der frühere Alliance-Schü- 1.1 Erwartungen der Integration den; außerdem forderte er die männlichen Verwandten verlorenebehalte hervorzurufen. Schatz. Jüdische ZeitgenössischeKopfsteuerlisten desbadkhonim 18. Jahr- beauftragt, einen Gottesdienst für den Schabbat auf ler Sasson Hisqel (Sasson Heskel, 1860–1932) in Wien, hunderts im Archiv der polnischen Armee], in: Zion 69 und Gäste am Ende des Abends zum mitsve-tants (ob- singen nach wie vor im Stil des muser-zogn, aber das derIn der Grundlage ersten desHälfteUnion des Prayer 20. Jahrhunderts Book for Jewish öffneten Worship Paris und London studiert und wurde unter den Os- (2004) 3, 329–356. [17] J. Kalik, Scepter of Judah. The Jewish ligatorischer Tanz) mit der Braut auf. Neben der Hoch- Autonomybazetsns findet in the nicht Eighteenth mehr Century statt und Crown die Aufmerksam- Poland, Leiden (1894/1895)sich die Juden zu Bagdads vertonen, für das die arabische 1922 von Umgebungs- der Central manen 1908 als jüdischer Abgeordneter ins türkische zeit war das andere wichtige Ereignis das seinem Cha- 2009.keitist [18] eherI. Levitats, auf Theden Jewish Bräutigam Community alsauf in Russia, die Braut 1772– Conferencekultur. Sie of zogen American aus den Rabbis jüdischen in revidierter Vierteln Form aus, Parlament gewählt; als einer der Gründerväter des rakter nach fröhliche Purimfest, auf dem der badkhn 1844,gerichtet New York – vermutlich 1943. [19] I. eine Levitats, Folge The der Jewish strikteren Community Ge- neunahmen herausgegeben an der arabischen worden Literaturszenewar und den universalis- teil (ÑAra- modernen Irak wurde er Finanzminister und behielt während des Festmahls auftrat und kurze Theaterstü- inschlechtertrennung Russia, 1844–1917, Jerusalem in der chassidischen 1981. [20] L. Lewin, Gesellschaft. Die Lan- tischenbisch) und Geist erlangten des amerikanischen im städtischen Reformjudentums und regionalen diese Stellung während der ersten fünf irakischen dessynode der großpolnischen Judenschaft, Frankfurt a.M. cke aufführte, die meist einen Bezug auf historische (MusiklebenReform) widerspiegelt. eine herausragende Bedeutung. Kabinette unter dem britischen Mandat (1920–1932) 1926.[1] A. Krasney, [21] S. Litt, The Geschichte Badkhn. From der Juden Wedding Mitteleuropas, Stage to Writing 1500– Ñ Ereignisse hatten (ÑPurimspiel). 1800,Desk, Darmstadt in: Polin. 2009.Studies [22] in M. Polish J. Rosman, Jewry The 16 (2003), Lords' 7–28. Jews. BlochAngestoßen arbeitete wurde vier diese Jahre Entwicklung lang an der durch Komposi- einen bei. Auch Kinder wohlhabender muslimischer Fami- Die Musik der badkhonim war eklektisch. Das Sin- Magnate-Jewish[2] E. Lifschutz, Merrymakers Relations in and the Jesters Polish-Lithuanian Among Jews Com- (Ma- tion.Modernisierungs- Die liturgischen und Texte,Säkularisierungsschub, die er im Union der Prayer im lien besuchten die Schulen der Alliance, darunter gen der gramen ähnelte dem formelhaften Gesang von monwealthterials for a during Lexicon), the 18th in: YIVOCentury, Annual Cambridge of Jewish (MA) Social 1990. Book19. Jahrhundertvorfand, sind einsetzte. für einen Seit überwiegend dem babylonischen in eng- Tawfiq al-Suwaydi (1892–1968), Premierminister des [23] A. Teller, Rabbis without a Function? The Polish Rabbi- Gebeten, insbesondere von kinot (Klagegesänge für Science 7 (1952), 43–83. [3] S. Liptzin, Eliakum Zunser. Poet lischerExil (598–538 Sprache v.d.Z.) gehaltenen hatte es Gottesdienst über zweitausend bestimmt, Jahre unabhängigen Irak in der Zeit der Massenemigration nateof His and People, the Council New York of Four 1950. Lands [4] Y. in Mazor, the 16th–18th The Badkhn Centu- in den Trauertag ÑTish'a be-Av; ÑKlage). Aber die Musik ries,Contemporary in: J. Wertheimer Hasidic Society. (Hg.), Jewish Social, Religious Historical, Leadership. and Musi- ergänztin Mesopotamien durch eine trotz Auswahl wechselnder der bekanntesten Herrschaftsver- und irakischer Juden nach Israel zu Beginn der 1950er nahm auch Anleihen bei jiddischen, hebräischen oder Imagecal Observations, and Reality, in: Bd. Polin. 1, New Studies York in 2004, Polish 371–400. Jewry 16 (2003), wichtigstenhältnisse eine auf ununterbrochene Hebräisch vorgetragenen jüdische Gebete. Siedlungs- Bei Jahre. anderssprachigen religiösen oder säkularen Volkslie- 279–296. [5] A. Wood, (De)constructing Yiddishland. Solo- derkontinuität Zusammenstellung gegeben. Zur der einzelnen Zeit des Teile Osmanischen des Got- Um die Wende zum 20. Jahrhundert kamen jüdi- Israel Bartal, Jerusalem dern, bei Klezmermelodien und bei nichtjüdischen mon and SoCalled's HipHopKhasene, in: Ethnomusicology tesdienstesReichs (1534–1918) konzentrierte war Bagdad Bloch ein sich Zentrum auf die der hebräi- von sche Emigranten aus Europa nach Bagdad und gaben Forum 16 (2007) 2, 243–270. Schäferweisen. Auch die verschiedenen Formen der schenKonstantinopel Texte und ausgehenden verzichtete auf Politik. die meisten Im Tanzimat Gebete dem Prozess der Aufklärung und Modernisierung chassidischen niggunim (ÑNiggun) konnten in den gra- Joel E. Rubin, Charlottesville und1839–1876, Lesungen einer in englischer Periode politischer Sprache; sein Reformen Ziel war der es, weitere Impulse. In der Folge nahmen die Juden in men verarbeitet werden. Avodath Hakodesh einosmanischen Konzertwerk Sultane, als ästhetische war versucht Einheit worden, zu schaffen. das Reich Mesopotamien westliche Lebensformen und französi- Der badkhn war eine zentrale Figur in der Entwick- mithilfe der Einführung europäischer Institutionen sche Namen an, kleideten sich europäisch und stu- lung der jiddischen Lied- und Unterhaltungskultur, AvodathBagdad Hakodesh (hebr.; Gottesdienst) ist der Titel zu modernisieren. Dabei kam es zu einer Verände- dierten die Literatur der westlichen Welt (oft in ara- 2. Ernest Bloch die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts etablierte: einer Komposition für Soli, Chor und Orchester des rung des Status nichtmuslimischer Bevölkerungs- bischer Übersetzung), während sie gleichzeitig die Viele broder-zinger (populäre Sänger und Liederma- schweizerisch-amerikanischenBis zur Mitte des 20. Jahrhunderts Komponisten war Bagdad Ernest das Ernestgruppen Bloch im Land, wurde wobei 1880 auch als Sohn die Chancen einer bürgerlichen der Juden, Integration in die arabische Mehrheitsgesellschaft an- cher), die in den städtischen Kaffeehäusern, Garten- BlochZentrum (1880–1959). einer blühenden Dem Werk jüdischen liegt der Gemeinschaft. reformierte jüdischenvor allem inFamilie Bezug in auf Genf Ausbildung, geboren. verbessertSein Großvater wur- strebten. So entwickelte sich in Bagdad in der ersten lokalen und Schenken des östlichen Europa auftraten, SchabbatgottesdienstAufgeschlossen gegenüber des Union kulturellen Prayer Book Impulsen for Jewish aus Isaakden (Ñ JosephDhimmah; BlochÑH. warakhamÑKantor Bashi; derÑMillet; jüdischenÑNasi). Ge- Hälfte des 20. Jahrhunderts eine enge Verbundenheit kamen aus den Reihen der badkhonim. Ehemalige WorshipEuropa,zugrunde. durchliefen Seine die Bagdader Paradoxie Juden – und seit ein Ende wesent- des meindeVon entscheidendemim schweizerischen Einfluss Lengnau, war seinim späten Vater zwischen der jüdischen und der arabischen Bevölke- badkhonim fanden sich auch unter den frühen Sängern licher19. Jahrhunderts Grund für einen seine Prozess historische der Säkularisierung, Bedeutung – be- er- Meier19. Jahrhundert Isaak Bloch die zunächstÑAlliance Chorist israélite in der universelle. Lengnauer rung. Die meisten Juden fühlten sich der arabischen und Stückeschreibern des professionellen jiddischen ruhtwarben auf ein seinem hohes Bildungsniveau Doppelcharakter und von engagierten »westlicher« sich Synagoge,1860 in Frankreich bevor er 1856 von nach einer Genf Gruppe zog religiös-welt-und ein Sou- Umgebungskultur zugehörig – als »arabische Juden« Theaters, das mit den ersten Inszenierungen Abra- Kunstmusikauf eine in der und arabischen »jüdischer« Welt Synagogenmusik. einzigartige Weise in venirgeschäftanschaulich liberal eröffnete. gesinnter Juden gegründet, för- oder »Juden arabischen Glaubens« [6. 381]. ham Goldfadens 1876 in Ias¸i (Rumänien; ÑPomul ver- Kultur und Politik des Landes. Ein Ausdruck dieser derteSeine sie musikalischen die rechtliche Lehrjahre und kulturelle in Genf, »Verbes- Brüssel, de) seinen Anfang nahm. Es wird oft angenommen, 1.Besonderheit Einführung ist die Musikpraxis: Jüdische Musiker Frankfurtserung« (regénération am Main,) München der Juden und und Paris führte konfrontier- über ihr 2. Ernest Bloch 1.2 Erwachendes Nationalbewusstsein dass ihr Erbe in säkularen amerikanisch-jüdischen 3.gestalteten Die Suche das nach Musikleben, dem »jüdischen waren Geist« Träger der klassi- tenSchulwerk Bloch mit die den jüdischen divergierenden Gemeinden Tendenzen des Mittleren der na- Entertainern wie den tummlers, die in jüdischen Feri- 4.schen Avodath arabischen Hakodesh Tradition und zugleich die treiben- tionalenOstens und Schulen Nordafrikas in Frankreich an europäische und Deutschland, Bildung und Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammen- engebieten wie dem ÑBorscht Belt in den Catskill den Kräfte musikalischer Innovation und Modernisie- aberWissenschaft auch mit heran. einem 1864 verwirrenden eröffnete sieSpektrum in Bagdad poten- die bruch des Osmanischen Reichs geriet Mesopotamien Mountains Gäste unterhielten, und besonders bei rung. Das Anwachsen von arabischem Nationalismus tiellererste Knabenschule musikalischer mit Einflüsse einer vorwiegend von der Renaissance säkularen unter die Kontrolle Großbritanniens, das die drei 1. Einführung den Stand-up-Comedians fortlebt. und Judenfeindlichkeit führte, verbunden mit den Fol- bisErziehung. zur russischen Die Unterrichtssprache Nationalmusik. Seine war Französisch, Ausbildung Provinzen Bagdad, Basra und Mossul zum Irak zu- Unter dem Einfluss der ÑHaskala sahen sich einige Avodathgen des arabisch-israelischenHakodesh ist die erste Kriegs, künstlerische Anfang Vertonung der 1950er ließder Lehrplan ihn gewissermaßen umfasste Hebräisch, »zwischen Arabisch, französischer Türkisch und sammenschloss und 1921 Faisal I. (1883–1933) aus der badkhonim des späten 19. Jahrhunderts den Zielen der einesJahre zumvollständigen Exodus der jüdischen jüdischen Gottesdienstes Bevölkerung aus (ÑLitur- dem deutscherund Englisch, Ästhetik Geschichte, schwanken« Geographie, [7. 99]. Rechnen, »In Deutsch- Phy- Dynastie der Haschemiten als König einsetzte. Zu Aufklärung verpflichtet und begannen, neben ihren gie).Irak in Seit den Anfang neu gegründeten des 19. Jahrhunderts Staat Israel. wurde die li- landsik und bin Chemie. ich ›Franzose‹, 1890 eröffnete weil ich die für Alliance Debussy eine kämpf- Be- dieser Zeit stellten die Juden in Bagdad den größten Auftritten auf Hochzeiten Verse und Lieder aufkläre- rufsschule für Mädchen und 1895 eine Grundschule Bevölkerungsanteil, noch vor Sunniten, Schiiten, rischen Inhalts zu publizieren; der bekannteste unter 1. Bagdad der Juden in der Moderne für Mädchen, 1913 folgte die Gründung weiterer Christen, Kurden und Persern. Auch wirtschaftlich ihnen war Eliakum Zunser (1836–1913). 1.1 Erwartungen der Integration Schulen in den Städten Basra, Mossul, Hilla, Amara, galten sie als stärkste Gruppe: Alteingesessene Fami- In der heutigen chassidischen Gesellschaft in 1.2 Erwachendes Nationalbewusstsein Khanaqin und Kirkuk. lien wie die Kadoories, Sassoons oder Ezras verfügten Nordamerika ist die Funktion des badkhn stärker fest- 1.3 Nationalismus und Nationalsozialismus Die Einführung moderner Curricula und einer über weitverzweigte Finanz- und Handelsbeziehun- 2. Juden im irakischen Musikleben gelegt. Seine Aufgabe ist in erster Linie die Aufforde- 2.1 Musik im Islam weltlichen Lebensweise beschleunigten die Moderni- gen, die sich neben Europa und der arabischen Welt rung der Gäste zum mitsve-tants. Der badkhn tritt oft 2.2 Klassische Musiktradition sierung der jüdischen Bevölkerung gegenüber den auch nach Indien (ÑBombay), China und Südostasien ohne klezmorim auf und kann stattdessen von einem 2.3 »Moderner Stil« Christen und Muslimen. Hinzu kam, dass viele Ab- erstreckten. König Faisal betonte die Gleichheit aller 2.4 Die Brüder al-Kuwaity und Salima Murad Keyboard begleitet werden. Innerhalb der chassi- solventen der Alliance-Schulen später europäische Iraker ungeachtet ihrer Religionszugehörigkeit und 2.5 Der Kongress für arabische Musik in Kairo 1932 dischen Gemeinschaft haben badkhonim häufig einen 2.6 Daqqaqa-Ensembles Hochschulen besuchten und unter dem Einfluss der beabsichtigte, durch Integration der verschiedenen hohen religiösen Status und können der Familie des 3. Exodus von der europäischen Moderne vermittelten Werte religiösen Richtungen ein gemeinsames Nationalbe- auch das kulturelle und soziale Leben ihrer west- wusstsein zu schaffen. Um die zahlreichen Bevölke- lichen Umgebungskultur schätzen lernten. Zurück rungsgruppen im Irak zusammenzuführen, plante er H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3d vom 6.5.2011 Seite 233 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch

233 Bagdad

1. Bagdad der Juden in der Moderne in der Heimat, gelang ihnen häufig der Aufstieg in Regierungskreise. So hatte der frühere Alliance-Schü- 1.1 Erwartungen der Integration ler Sasson Hisqel (Sasson Heskel, 1860–1932) in Wien, In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts öffneten Paris und London studiert und wurde unter den Os- sich die Juden Bagdads für die arabische Umgebungs- manen 1908 als jüdischer Abgeordneter ins türkische kultur. Sie zogen aus den jüdischen Vierteln aus, Parlament gewählt; als einer der Gründerväter des nahmen an der arabischen Literaturszene teil (ÑAra- modernen Irak wurde er Finanzminister und behielt bisch) und erlangten im städtischen und regionalen diese Stellung während der ersten fünf irakischen Musikleben eine herausragende Bedeutung. Kabinette unter dem britischen Mandat (1920–1932) Angestoßen wurde diese Entwicklung durch einen bei. Auch Kinder wohlhabender muslimischer Fami- Modernisierungs- und Säkularisierungsschub, der im lien besuchten die Schulen der Alliance, darunter 19. Jahrhundert einsetzte. Seit dem babylonischen Tawfiq al-Suwaydi (1892–1968), Premierminister des Exil (598–538 v.d.Z.) hatte es über zweitausend Jahre unabhängigen Irak in der Zeit der Massenemigration in Mesopotamien trotz wechselnder Herrschaftsver- irakischer Juden nach Israel zu Beginn der 1950er hältnisse eine ununterbrochene jüdische Siedlungs- Jahre. kontinuität gegeben. Zur Zeit des Osmanischen Um die Wende zum 20. Jahrhundert kamen jüdi- Reichs (1534–1918) war Bagdad ein Zentrum der von sche Emigranten aus Europa nach Bagdad und gaben Konstantinopel ausgehenden Politik. Im Tanzimat dem Prozess der Aufklärung und Modernisierung 1839–1876, einer Periode politischer Reformen der weitere Impulse. In der Folge nahmen die Juden in osmanischen Sultane, war versucht worden, das Reich Mesopotamien westliche Lebensformen und französi- mithilfe der Einführung europäischer Institutionen sche Namen an, kleideten sich europäisch und stu- zu modernisieren. Dabei kam es zu einer Verände- dierten die Literatur der westlichen Welt (oft in ara- rung des Status nichtmuslimischer Bevölkerungs- bischer Übersetzung), während sie gleichzeitig die gruppen im Land, wobei auch die Chancen der Juden, Integration in die arabische Mehrheitsgesellschaft an- vor allem in Bezug auf Ausbildung, verbessert wur- strebten. So entwickelte sich in Bagdad in der ersten den (ÑDhimmah; ÑH. akham Bashi; ÑMillet; ÑNasi). Hälfte des 20. Jahrhunderts eine enge Verbundenheit Von entscheidendem Einfluss war im späten zwischen der jüdischen und der arabischen Bevölke- 19. Jahrhundert die ÑAlliance israélite universelle. rung. Die meisten Juden fühlten sich der arabischen 1860 in Frankreich von einer Gruppe religiös-welt- Umgebungskultur zugehörig – als »arabische Juden« anschaulich liberal gesinnter Juden gegründet, för- oder »Juden arabischen Glaubens« [6. 381]. derte sie die rechtliche und kulturelle »Verbes- serung« (regénération) der Juden und führte über ihr 1.2 Erwachendes Nationalbewusstsein Schulwerk die jüdischen Gemeinden des Mittleren Ostens und Nordafrikas an europäische Bildung und Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammen- Wissenschaft heran. 1864 eröffnete sie in Bagdad die bruch des Osmanischen Reichs geriet Mesopotamien erste Knabenschule mit einer vorwiegend säkularen unter die Kontrolle Großbritanniens, das die drei Erziehung. Die Unterrichtssprache war Französisch, Provinzen Bagdad, Basra und Mossul zum Irak zu- der Lehrplan umfasste Hebräisch, Arabisch, Türkisch sammenschloss und 1921 Faisal I. (1883–1933) aus der 29und Englisch, Geschichte, Geographie, Rechnen, Phy- Dynastie der Haschemiten als König einsetzte.Badgad Zu sik und Chemie. 1890 eröffnete die Alliance eine Be- dieser Zeit stellten die Juden in Bagdad den größten rufsschule für Mädchen und 1895 eine Grundschule Bevölkerungsanteil, noch vor Sunniten, Schiiten, für Mädchen, 1913 folgte die Gründung weiterer Christen, Kurden und Persern. Auch wirtschaftlich Schulen in den Städten Basra, Mossul, Hilla, Amara, galten sie als stärkste Gruppe: Alteingesessene Fami- Khanaqin und Kirkuk. lien wie die Kadoories, Sassoons oder Ezras verfügten

H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3d vom 6.5.2011Die Einführung moderner CurriculaH:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3d und einer über weitverzweigte Finanz- und Handelsbeziehun- vom 6.5.2011 Seite 233 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm weltlichen Lebensweise beschleunigten dieSeite Moderni- 234 – Seitenformat:gen, die 185,00 sich x neben 265,00 Europa mm und der arabischen Welt Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch sierung der jüdischen Bevölkerung gegenüberEnzyklopädie den jüdischerauch Geschichte nach Indien und Kultur, (ÑBombay), Umbruch China und Südostasien Christen und Muslimen. Hinzu kam, dass viele Ab- erstreckten. König Faisal betonte die Gleichheit aller solventen der Alliance-Schulen später europäische Iraker ungeachtet ihrer Religionszugehörigkeit und Hochschulen besuchten und unter dem Einfluss der beabsichtigte, durch Integration der verschiedenen von der europäischen Moderne vermittelten Werte religiösen Richtungen ein gemeinsames Nationalbe- 233 auch das kulturelle und soziale Leben ihrerBagdad west- Bagdadwusstsein zu schaffen. Um die zahlreichen Bevölke- 234 lichen Umgebungskultur schätzen lernten. Zurück rungsgruppen im Irak zusammenzuführen, plante er 1. Bagdad der Juden in der Moderne in der Heimat, gelang ihnen häufig der Aufstieg in ein vereinheitlichtes Bildungssystem mit Lehrmetho- einrichtungen das spezifische Lehrangebot für jüdi- Regierungskreise. So hatte der frühere Alliance-Schü- den, die neben einem irakischen Nationalgefühl ein sche Kinder einschränken. Der Hebräischunterricht 1.1 Erwartungen der Integration ler Sasson Hisqel (Sasson Heskel, 1860–1932) in Wien, panarabisches Bewusstsein herbeiführen sollten. in jüdischen Schulen wurde auf Bibellektüre redu- In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts öffneten Paris und London studiert und wurde unter den Os- Die Maßnahmen der Regierung zur Schaffung ei- ziert. sich die Juden Bagdads für die arabische Umgebungs- manen 1908 als jüdischer Abgeordneter ins türkische ner irakischen Nation für alle religiösen und eth- Führende jüdische Vertreter, darunter der Ober- kultur. Sie zogen aus den jüdischen Vierteln aus, Parlament gewählt; als einer der Gründerväter des nischen Gruppen förderten den Patriotismus der Ju- rabbiner Sasson Kadoorie, distanzierten sich von zio- nahmen an der arabischen Literaturszene teil (ÑAra- modernen Irak wurde er Finanzminister und behielt den. Jüdische Bildungseinrichtungen lehrten ara- nistischen Aktivitäten. Gleichwohl ließen der Ein- bisch) und erlangten im städtischen und regionalen diese Stellung während der ersten fünf irakischen bische Sprache und Literatur, jüdische Abgeordnete fluss des Nationalsozialismus und der anschwellende Musikleben eine herausragende Bedeutung. Kabinette unter dem britischen Mandat (1920–1932) gehörten dem irakischen Parlament an. Die neue bri- panarabische Nationalismus im Irak eine antijüdische Angestoßen wurde diese Entwicklung durch einen bei. Auch Kinder wohlhabender muslimischer Fami- tische Verwaltung hatte die Bedeutung und das Po- Stimmung aufkommen. Sie entlud sich 1941 im Bag- Modernisierungs- und Säkularisierungsschub, der im lien besuchten die Schulen der Alliance, darunter tential der jüdischen Gemeinschaft rasch erkannt und dader Judenpogrom, dem Ñfarhu¯ d, der sich unmittel- 19. Jahrhundert einsetzte. Seit dem babylonischen Tawfiq al-Suwaydi (1892–1968), Premierminister des beschäftigte tausende von gebildeten Juden im Staats- bar nach dem von den Briten militärisch herbei- Exil (598–538 v.d.Z.) hatte es über zweitausend Jahre unabhängigen Irak in der Zeit der Massenemigration dienst. 1924 erschien das erste irakisch-jüdische Kul- geführten Sturz der nationalistischen Regierung des in Mesopotamien trotz wechselnder Herrschaftsver- irakischer Juden nach Israel zu Beginn der 1950er turmagazin in arabischer Sprache, al-Mis.ba¯ h. (Der Rashid Ali al-Kaylani ereignete. Al-Kaylani, der dem hältnisse eine ununterbrochene jüdische Siedlungs- Jahre. Leuchter) mit der hebräischen Übersetzung Ha-Me- Hitlerregime freundlich gesonnen war, hatte im April kontinuität gegeben. Zur Zeit des Osmanischen Um die Wende zum 20. Jahrhundert kamen jüdi- nora als Untertitel. Jüdische Autoren, die fließend 1941 die probritische Regierung des Kronprinzen Abd Reichs (1534–1918) war Bagdad ein Zentrum der von sche Emigranten aus Europa nach Bagdad und gaben Arabisch sprachen, wurden zu Pionieren des ara- al-Illah gestürzt und die Macht an sich gerissen. Als Konstantinopel ausgehenden Politik. Im Tanzimat dem Prozess der Aufklärung und Modernisierung bischen Journalismus und der irakischen Literatur die Briten das Regime al-Kaylanis ihrerseits stürzten, 1839–1876, einer Periode politischer Reformen der weitere Impulse. In der Folge nahmen die Juden in (ÑArabisch). Seit Ende des 19. Jahrhunderts trat zwar kam es zu Ausschreitungen, in deren Folge die jüdi- osmanischen Sultane, war versucht worden, das Reich Mesopotamien westliche Lebensformen und französi- auch die zionistische Bewegung in Erscheinung, doch sche Gemeinschaft mit Plünderung, Mord und Ver- mithilfe der Einführung europäischer Institutionen sche Namen an, kleideten sich europäisch und stu- wurden zionistische Aktivitäten von den führenden gewaltigung überzogen wurde, auch wenn musli- zu modernisieren. Dabei kam es zu einer Verände- dierten die Literatur der westlichen Welt (oft in ara- Persönlichkeiten der jüdischen Gemeinde nicht un- mische Nachbarn in vielen Fällen Schutz boten. Die rung des Status nichtmuslimischer Bevölkerungs- bischer Übersetzung), während sie gleichzeitig die terstützt. jüdische Emigration nach Indien und (auf illegalem gruppen im Land, wobei auch die Chancen der Juden, Integration in die arabische Mehrheitsgesellschaft an- Weg) nach Palästina nahm zu. Viele jüdische Jugend- vor allem in Bezug auf Ausbildung, verbessert wur- strebten. So entwickelte sich in Bagdad in der ersten liche in Bagdad schlossen sich der Kommunistischen 1.3 Nationalismus und Nationalsozialismus den (ÑDhimmah; ÑH. akham Bashi; ÑMillet; ÑNasi). Hälfte des 20. Jahrhunderts eine enge Verbundenheit Partei oder einem jüdischen Untergrund an, der sich Von entscheidendem Einfluss war im späten zwischen der jüdischen und der arabischen Bevölke- 1932 wurde der Irak von Großbritannien formell in zur Selbstverteidigung formierte. Auch zionistische 19. Jahrhundert die ÑAlliance israélite universelle. rung. Die meisten Juden fühlten sich der arabischen die Unabhängigkeit entlassen. Die Briten übten je- Ideen gewannen an Boden; jüdische Emissäre aus 1860 in Frankreich von einer Gruppe religiös-welt- Umgebungskultur zugehörig – als »arabische Juden« doch weiterhin die Kontrolle über das Land aus und dem ÑJischuw organisierten die Flucht nach Palästina anschaulich liberal gesinnter Juden gegründet, för- oder »Juden arabischen Glaubens« [6. 381]. bestimmten seinen politischen Kurs. Der Wunsch und erteilten Ausbildung im Gebrauch von Handfeu- derte sie die rechtliche und kulturelle »Verbes- nach Loslösung von britischer Vormundschaft gab erwaffen. serung« (regénération) der Juden und führte über ihr einem panarabischen Nationalismus neue Impulse. Nach dem Sturz al-Kaylanis und der Wiederher- 1.2 Erwachendes Nationalbewusstsein Schulwerk die jüdischen Gemeinden des Mittleren Gleichzeitig verschlechterten sich die Lebensum- stellung der Regentschaft Abd al-Illahs im Juni 1941 Ostens und Nordafrikas an europäische Bildung und Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammen- stände für die jüdische Bevölkerung, die bislang von erlebte die jüdische Gemeinde Bagdads noch einmal Wissenschaft heran. 1864 eröffnete sie in Bagdad die bruch des Osmanischen Reichs geriet Mesopotamien der britischen Kolonialpolitik profitiert hatte. Ihr gu- eine Phase der Konsolidierung. Das Zusammenleben erste Knabenschule mit einer vorwiegend säkularen unter die Kontrolle Großbritanniens, das die drei tes Verhältnis zu den Briten und ihre Tendenz, sich mit den muslimischen Irakern normalisierte sich und Erziehung. Die Unterrichtssprache war Französisch, Provinzen Bagdad, Basra und Mossul zum Irak zu- den progressiven Sozialisten mit einem eher terri- ließ sie optimistisch in die Zukunft blicken. Als im der Lehrplan umfasste Hebräisch, Arabisch, Türkisch sammenschloss und 1921 Faisal I. (1883–1933) aus der torial gebundenen Nationalismus anzuschließen, Jahr 1948 der Staat Israel gegründet wurde und der und Englisch, Geschichte, Geographie, Rechnen, Phy- Dynastie der Haschemiten als König einsetzte. Zu machte die Juden zur Zielscheibe der panarabischen arabisch-israelische Krieg begann, stellte die irakische sik und Chemie. 1890 eröffnete die Alliance eine Be- dieser Zeit stellten die Juden in Bagdad den größten Nationalisten. Zu den diskriminierenden Maßnah- Regierung Zionismus und Kommunismus unter Stra- rufsschule für Mädchen und 1895 eine Grundschule Bevölkerungsanteil, noch vor Sunniten, Schiiten, men der irakischen Regierung gehörten Zulassungs- fe; Juden wurden aus dem Staatsdienst entlassen. Im für Mädchen, 1913 folgte die Gründung weiterer Christen, Kurden und Persern. Auch wirtschaftlich beschränkungen für Juden zu Universitäten und po- September 1948 wurde Shafiq Adas, ein unpolitischer Schulen in den Städten Basra, Mossul, Hilla, Amara, galten sie als stärkste Gruppe: Alteingesessene Fami- litischen Ämtern. jüdischer Geschäftsmann, der verbotenen Lieferung Khanaqin und Kirkuk. lien wie die Kadoories, Sassoons oder Ezras verfügten Nach Hitlers Machtübernahme verbreitete der von Schrott aus Beständen der britischen Armee Die Einführung moderner Curricula und einer über weitverzweigte Finanz- und Handelsbeziehun- deutsche Gesandte Fritz Grobba in Bagdad NS-Lite- nach Israel beschuldigt und nach einem Schauprozess weltlichen Lebensweise beschleunigten die Moderni- gen, die sich neben Europa und der arabischen Welt ratur. Mein Kampf wurde in der Tageszeitung al-"A¯ lam unter dem Beifall von rund 12000 Schaulustigen aus sierung der jüdischen Bevölkerung gegenüber den auch nach Indien (ÑBombay), China und Südostasien al-"Arabı¯ (Die arabische Welt) abgedruckt und der Di- allen Teilen des Irak vor seinem Haus in Basra ge- Christen und Muslimen. Hinzu kam, dass viele Ab- erstreckten. König Faisal betonte die Gleichheit aller rektor des Bagdader Krankenhauses, Sa'ib Shawkat, hängt. solventen der Alliance-Schulen später europäische Iraker ungeachtet ihrer Religionszugehörigkeit und gründete eine pronationalsozialistische Partei al-Mut- Die illegale jüdische Emigration über die iranische Hochschulen besuchten und unter dem Einfluss der beabsichtigte, durch Integration der verschiedenen hanna¯ mit Ortsgruppen in Mossul und Basra. 1934 Grenze stieg daraufhin drastisch an. Ein im März von der europäischen Moderne vermittelten Werte religiösen Richtungen ein gemeinsames Nationalbe- wurden alle Juden und Nichtmuslime aus dem Wirt- 1950 verabschiedetes Gesetz erlaubte irakischen Ju- auch das kulturelle und soziale Leben ihrer west- wusstsein zu schaffen. Um die zahlreichen Bevölke- schafts- und Verkehrsministerium entfernt. Im Jahr den schließlich die Ausreise; sie durften dabei nur lichen Umgebungskultur schätzen lernten. Zurück rungsgruppen im Irak zusammenzuführen, plante er darauf mussten die höheren Schulen und Bildungs- 50 Dinar und 30 Pfund Gepäck mitnehmen und H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3d vom 6.5.2011 Seite 234 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch

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ein vereinheitlichtes Bildungssystem mit Lehrmetho- einrichtungen das spezifische Lehrangebot für jüdi- den, die neben einem irakischen Nationalgefühl ein sche Kinder einschränken. Der Hebräischunterricht panarabisches Bewusstsein herbeiführen sollten. in jüdischen Schulen wurde auf Bibellektüre redu- Die Maßnahmen der Regierung zur Schaffung ei- ziert. ner irakischen Nation für alle religiösen und eth- Führende jüdische Vertreter, darunter der Ober- nischen Gruppen förderten den Patriotismus der Ju- rabbiner Sasson Kadoorie, distanzierten sich von zio- den. Jüdische Bildungseinrichtungen lehrten ara- nistischen Aktivitäten. Gleichwohl ließen der Ein- bische Sprache und Literatur, jüdische Abgeordnete fluss des Nationalsozialismus und der anschwellende gehörten dem irakischen Parlament an. Die neue bri- panarabische Nationalismus im Irak eine antijüdische tische Verwaltung hatte die Bedeutung und das Po- Stimmung aufkommen. Sie entlud sich 1941 im Bag- tential der jüdischen Gemeinschaft rasch erkannt und dader Judenpogrom, dem Ñfarhu¯¯ d, der sich unmittel- beschäftigte tausende von gebildeten Juden im Staats- bar nach dem von den Briten militärisch herbei- dienst. 1924 erschien das erste irakisch-jüdische Kul- geführten Sturz der nationalistischen Regierung des turmagazin in arabischer Sprache, al-Mis..ba¯¯ h.. (Der Rashid Ali al-Kaylani ereignete. Al-Kaylani, der dem Leuchter) mit der hebräischen Übersetzung Ha-Me- Hitlerregime freundlich gesonnen war, hatte im April nora als Untertitel. Jüdische Autoren, die fließend 1941 die probritische Regierung des Kronprinzen Abd Arabisch sprachen, wurden zu Pionieren des ara- al-Illah gestürzt und die Macht an sich gerissen. Als bischen Journalismus und der irakischen Literatur die Briten das Regime al-Kaylanis ihrerseits stürzten, (ÑArabisch). Seit Ende des 19. Jahrhunderts trat zwar kam es zu Ausschreitungen, in deren Folge die jüdi- auch die zionistische Bewegung in Erscheinung, doch sche Gemeinschaft mit Plünderung, Mord und Ver- wurden zionistische Aktivitäten von den führenden gewaltigung überzogen wurde, auch wenn musli- Persönlichkeiten der jüdischen Gemeinde nicht un- mische Nachbarn in vielen Fällen Schutz boten. Die terstützt. jüdische Emigration nach Indien und (auf illegalem Weg) nach Palästina nahm zu. Viele jüdische Jugend- liche in Bagdad schlossen sich der Kommunistischen 1.3 Nationalismus und Nationalsozialismus Partei oder einem jüdischen Untergrund an, der sich 1932 wurde der Irak von Großbritannien formell in zur Selbstverteidigung formierte. Auch zionistische die Unabhängigkeit entlassen. Die Briten übten je- Ideen gewannen an Boden; jüdische Emissäre aus doch weiterhin die Kontrolle über das Land aus und dem ÑJischuw organisierten die Flucht nach Palästina bestimmten seinen politischen Kurs. Der Wunsch und erteilten Ausbildung im Gebrauch von Handfeu- nach Loslösung von britischer Vormundschaft gab erwaffen. einem panarabischen Nationalismus neue Impulse. Nach dem Sturz al-Kaylanis und der Wiederher- Gleichzeitig verschlechterten sich die Lebensum- stellung der Regentschaft Abd al-Illahs im Juni 1941 stände für die jüdische Bevölkerung, die bislang von erlebte die jüdische Gemeinde Bagdads noch einmal der britischen Kolonialpolitik profitiert hatte. Ihr gu- eine Phase der Konsolidierung. Das Zusammenleben tes Verhältnis zu den Briten und ihre Tendenz, sich mit den muslimischen Irakern normalisierte sich und den progressiven Sozialisten mit einem eher terri- ließ sie optimistisch in die Zukunft blicken. Als im torial gebundenen Nationalismus anzuschließen, Jahr 1948 der Staat Israel gegründet wurde und der Bagdadmachte die Juden zur Zielscheibe der panarabischen arabisch-israelische Krieg begann, stellte die irakische30 Nationalisten. Zu den diskriminierenden Maßnah- Regierung Zionismus und Kommunismus unter Stra- men der irakischen Regierung gehörten Zulassungs- fe; Juden wurden aus dem Staatsdienst entlassen. Im beschränkungen für Juden zu Universitäten und po- September 1948 wurde Shafiq Adas, ein unpolitischer litischen Ämtern. jüdischer Geschäftsmann, der verbotenen Lieferung Nach Hitlers Machtübernahme verbreitete der von Schrott aus Beständen der britischen Armee H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3d vom 6.5.2011 deutsche Gesandte Fritz Grobba in Bagdad NS-Lite-H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3dnach Israel beschuldigt und nach einem Schauprozess vom 6.5.2011 Seite 234 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm ratur. Mein Kampf wurde in der Tageszeitung al-"A¯¯ lamSeite 235unter – Seitenformat: dem Beifall 185,00 von x rund 265,00 12000 mm Schaulustigen aus Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch al-"Arabı¯¯ (Die arabische Welt) abgedruckt und der Di-Enzyklopädieallen jüdischer Teilen des Geschichte Irak vor und seinemKultur, Umbruch Haus in Basra ge- rektor des Bagdader Krankenhauses, Sa'ib Shawkat, hängt. gründete eine pronationalsozialistische Partei al-Mut- Die illegale jüdische Emigration über die iranische hanna¯¯ mit Ortsgruppen in Mossul und Basra. 1934 Grenze stieg daraufhin drastisch an. Ein im März wurden alle Juden und Nichtmuslime aus dem Wirt- 1950 verabschiedetes Gesetz erlaubte irakischen Ju- Bagdad schafts- und Verkehrsministerium entfernt. Im Jahr234 den235 schließlich die Ausreise; sie durften dabei nur Bagdad darauf mussten die höheren Schulen und Bildungs- 50 Dinar und 30 Pfund Gepäck mitnehmen und ein vereinheitlichtes Bildungssystem mit Lehrmetho- einrichtungen das spezifische Lehrangebot für jüdi- mussten ihre irakische Staatsbürgerschaft ablegen. des Musikers gering schätzten und angesehene jüdi- den, die neben einem irakischen Nationalgefühl ein sche Kinder einschränken. Der Hebräischunterricht Um der Gefahr eines wirtschaftlichen Zusammen- sche Familien es ihren Kindern verwehrten, diesen Be- panarabisches Bewusstsein herbeiführen sollten. in jüdischen Schulen wurde auf Bibellektüre redu- bruchs aufgrund der jüdischen Emigration zu ent- ruf zu ergreifen. Viele der jüdischen Musiker ent- Die Maßnahmen der Regierung zur Schaffung ei- ziert. gehen, ließ das irakische Parlament die jüdischen stammten daher der Unterschicht, waren blind oder ner irakischen Nation für alle religiösen und eth- Führende jüdische Vertreter, darunter der Ober- Guthaben einfrieren. Beim anschließenden Massen- körperbehindert. Die Ende der 1920er Jahre gegrün- nischen Gruppen förderten den Patriotismus der Ju- rabbiner Sasson Kadoorie, distanzierten sich von zio- exodus emigrierten über 90 Prozent der rund 115000 dete jüdische Silas-Kadoorie-Blindenschule, in der Kin- den. Jüdische Bildungseinrichtungen lehrten ara- nistischen Aktivitäten. Gleichwohl ließen der Ein- irakischen Juden nach Israel (ÑAlija). der ein Handwerk erlernten, das sie vor dem Schicksal bische Sprache und Literatur, jüdische Abgeordnete fluss des Nationalsozialismus und der anschwellende des Bettelns bewahren sollte, bot auch Instrumental- gehörten dem irakischen Parlament an. Die neue bri- panarabische Nationalismus im Irak eine antijüdische unterricht an. Die Schule wurde zu einer wichtigen tische Verwaltung hatte die Bedeutung und das Po- Stimmung aufkommen. Sie entlud sich 1941 im Bag- 2. Juden im irakischen Musikleben Ausbildungsstätte in traditioneller Musik, während tential der jüdischen Gemeinschaft rasch erkannt und dader Judenpogrom, dem Ñfarhu¯ d, der sich unmittel- das 1936 gegründete Bagdader Konservatorium fast 2.1 Musik im Islam beschäftigte tausende von gebildeten Juden im Staats- bar nach dem von den Briten militärisch herbei- ausschließlich abendländische Musik lehrte. dienst. 1924 erschien das erste irakisch-jüdische Kul- geführten Sturz der nationalistischen Regierung des Die Entwicklung, die die jüdische Gemeinde Bagdads turmagazin in arabischer Sprache, al-Misba¯ h (Der Rashid Ali al-Kaylani ereignete. Al-Kaylani, der dem um die Wende zum 20. Jahrhundert durchlief, ist ein . . 2.2 Klassische Musiktradition Leuchter) mit der hebräischen Übersetzung Ha-Me- Hitlerregime freundlich gesonnen war, hatte im April Schlüssel zum Verständnis der sozialen Organisation nora als Untertitel. Jüdische Autoren, die fließend 1941 die probritische Regierung des Kronprinzen Abd der Musik ihrer muslimischen Umgebungskultur, die Ende des 19. Jahrhunderts entstanden in den urba- Arabisch sprachen, wurden zu Pionieren des ara- al-Illah gestürzt und die Macht an sich gerissen. Als wesentlich von der Haltung des Islam zur Musik nen Zentren Mesopotamiens zahlreiche Instrumen- bischen Journalismus und der irakischen Literatur die Briten das Regime al-Kaylanis ihrerseits stürzten, geprägt war. Da der Koran nur wenige Aussagen zur talensembles (cha¯ lghı¯ ), die sich ausschließlich aus jüdi- (ÑArabisch). Seit Ende des 19. Jahrhunderts trat zwar kam es zu Ausschreitungen, in deren Folge die jüdi- Musik trifft und sich auch die Hadithen (die Über- schen Musikern zusammensetzten. Das Bagdader En- auch die zionistische Bewegung in Erscheinung, doch sche Gemeinschaft mit Plünderung, Mord und Ver- lieferungen über den Propheten Muhammad) glei- semble cha¯ lghı¯ Baghda¯ d bestand aus zwei melodischen wurden zionistische Aktivitäten von den führenden gewaltigung überzogen wurde, auch wenn musli- chermaßen für wie gegen sie aussprechen, stand die Instrumenten (dem Santur, einem trapezförmigen Persönlichkeiten der jüdischen Gemeinde nicht un- mische Nachbarn in vielen Fällen Schutz boten. Die islamische Gesellschaft den Musizierenden ambiva- Hackbrett mit Schlegeln, und der Kamana-Josa, einer terstützt. jüdische Emigration nach Indien und (auf illegalem lent gegenüber. Musik, insbesondere ihre emotionale viersaitigen Spießgeige) und zwei Schlaginstrumenten Weg) nach Palästina nahm zu. Viele jüdische Jugend- Wirkung und ihr Unterhaltungswert, war in der isla- (dem Daff, einer Rahmentrommel mit Schellen, und liche in Bagdad schlossen sich der Kommunistischen mischen Welt immer wieder Gegenstand von Debat- dem Dumbuk, einer einköpfigen Bechertrommel). 1.3 Nationalismus und Nationalsozialismus Partei oder einem jüdischen Untergrund an, der sich ten. Vor allem wurden Saiteninstrumente abgelehnt Das anspruchsvollste Genre im Repertoire der 1932 wurde der Irak von Großbritannien formell in zur Selbstverteidigung formierte. Auch zionistische und Instrumentalisten dementsprechend gering ge- cha¯ lghı¯ war der irakische Maqam (al-maqa¯ m al-"Ira¯ qı¯ ) die Unabhängigkeit entlassen. Die Briten übten je- Ideen gewannen an Boden; jüdische Emissäre aus schätzt, während der Gesang als zulässig galt – aus der klassischen arabischen Musiktradition. Etwa doch weiterhin die Kontrolle über das Land aus und dem ÑJischuw organisierten die Flucht nach Palästina schließlich wurden auch der Gebetsruf des Muezzin 60 mehrteilige Kompositionen sind überliefert, beste- bestimmten seinen politischen Kurs. Der Wunsch und erteilten Ausbildung im Gebrauch von Handfeu- und der Koran von der menschlichen Stimme vor- hend aus Liedern und Instrumentalstücken mit fest- nach Loslösung von britischer Vormundschaft gab erwaffen. getragen. gelegten und improvisierten Abschnitten, deren Auf- einem panarabischen Nationalismus neue Impulse. Nach dem Sturz al-Kaylanis und der Wiederher- Bei aller Ambivalenz kam der Musik im Gefüge führung ein komplexes, mündlich überliefertes Re- Gleichzeitig verschlechterten sich die Lebensum- stellung der Regentschaft Abd al-Illahs im Juni 1941 islamischer Gesellschaften immer eine hohe Bedeu- gelsystem zugrunde liegt. Die meisten dieser Werke stände für die jüdische Bevölkerung, die bislang von erlebte die jüdische Gemeinde Bagdads noch einmal tung zu. Diesem Paradox wurde häufig dadurch be- sind vor dem 20. Jahrhundert entstanden – die älteste der britischen Kolonialpolitik profitiert hatte. Ihr gu- eine Phase der Konsolidierung. Das Zusammenleben gegnet, dass bestimmte Funktionen in der Musik- Schicht des Repertoires ist über 400 Jahre alt, die tes Verhältnis zu den Briten und ihre Tendenz, sich mit den muslimischen Irakern normalisierte sich und ausübung ethnischen Minderheiten überlassen blie- jüngeren Werke gehen überwiegend auf jüdische den progressiven Sozialisten mit einem eher terri- ließ sie optimistisch in die Zukunft blicken. Als im ben. Im Zweistromland waren es seit Ende des Komponisten zurück. Die Melodien spiegeln die Viel- torial gebundenen Nationalismus anzuschließen, Jahr 1948 der Staat Israel gegründet wurde und der 19. Jahrhunderts weitgehend die Juden, die mit dem falt in der Bevölkerung des Zweistromlands und be- machte die Juden zur Zielscheibe der panarabischen arabisch-israelische Krieg begann, stellte die irakische zunehmenden Niedergang ihres spezifischen jüdi- ziehen auch Material aus anderen Teilen der ara- Nationalisten. Zu den diskriminierenden Maßnah- Regierung Zionismus und Kommunismus unter Stra- schen Lebensstils und wachsender Integration in die bischen Welt ein. Die Liedtexte handeln von Liebe, men der irakischen Regierung gehörten Zulassungs- fe; Juden wurden aus dem Staatsdienst entlassen. Im muslimische Mehrheitsgesellschaft die Pflege und Trauer, Sehnsucht, Glück oder Verbundenheit mit beschränkungen für Juden zu Universitäten und po- September 1948 wurde Shafiq Adas, ein unpolitischer Weitergabe der Musiktradition ihrer Umgebung der Natur; sie sind in klassischem ÑArabisch wie im litischen Ämtern. jüdischer Geschäftsmann, der verbotenen Lieferung übernahmen. Als Bagdad um die Wende zum lokalen arabischen Dialekt, aber auch in anderen Nach Hitlers Machtübernahme verbreitete der von Schrott aus Beständen der britischen Armee 20. Jahrhundert zu einem der größten musikalischen Sprachen wie Persisch, Türkisch, Kurdisch oder He- deutsche Gesandte Fritz Grobba in Bagdad NS-Lite- nach Israel beschuldigt und nach einem Schauprozess Zentren in der arabischen Welt aufstieg, waren die bräisch verfasst. Vorgetragen werden sie zu instru- ratur. Mein Kampf wurde in der Tageszeitung al-"A¯ lam unter dem Beifall von rund 12000 Schaulustigen aus Mehrzahl seiner professionellen Instrumentalisten mentaler Begleitung von einem Solisten, dem qa¯ ri' al-"Arabı¯ (Die arabische Welt) abgedruckt und der Di- allen Teilen des Irak vor seinem Haus in Basra ge- Juden. Sie spielten, tradierten und bereicherten das maqa¯ m (Maqam-Rezitator); der letzte Abschnitt des rektor des Bagdader Krankenhauses, Sa'ib Shawkat, hängt. breite Spektrum an Musik, nach dem die Bagdader al-maqa¯ m al-"Ira¯ qı¯ ist in der Regel der volksliedartige gründete eine pronationalsozialistische Partei al-Mut- Die illegale jüdische Emigration über die iranische Bevölkerung verlangte: das klassische arabische Re- pastah, der von den Musikern gesungen wird und bei hanna¯ mit Ortsgruppen in Mossul und Basra. 1934 Grenze stieg daraufhin drastisch an. Ein im März pertoire, das traditionelle jüdische Repertoire und dem sich das Publikum mit Händeklatschen, Mitsin- wurden alle Juden und Nichtmuslime aus dem Wirt- 1950 verabschiedetes Gesetz erlaubte irakischen Ju- die populäre Musik. gen oder Tanzen beteiligen darf. Der Part des qa¯ ri' schafts- und Verkehrsministerium entfernt. Im Jahr den schließlich die Ausreise; sie durften dabei nur Die Assimilation der Bagdader Juden ging so weit, galt in der muslimischen Gesellschaft als der vor- darauf mussten die höheren Schulen und Bildungs- 50 Dinar und 30 Pfund Gepäck mitnehmen und dass sie gleich ihren muslimischen Nachbarn den Stand nehmste Musikerberuf, was daran liegen mag, dass H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3d vom 6.5.2011 Seite 235 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch

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mussten ihre irakische Staatsbürgerschaft ablegen. des Musikers gering schätzten und angesehene jüdi- Um der Gefahr eines wirtschaftlichen Zusammen- sche Familien es ihren Kindern verwehrten, diesen Be- bruchs aufgrund der jüdischen Emigration zu ent- ruf zu ergreifen. Viele der jüdischen Musiker ent- gehen, ließ das irakische Parlament die jüdischen stammten daher der Unterschicht, waren blind oder Guthaben einfrieren. Beim anschließenden Massen- körperbehindert. Die Ende der 1920er Jahre gegrün- exodus emigrierten über 90 Prozent der rund 115000 dete jüdische Silas-Kadoorie-Blindenschule, in der Kin- irakischen Juden nach Israel (ÑAlija). der ein Handwerk erlernten, das sie vor dem Schicksal des Bettelns bewahren sollte, bot auch Instrumental- unterricht an. Die Schule wurde zu einer wichtigen 2. Juden im irakischen Musikleben Ausbildungsstätte in traditioneller Musik, während das 1936 gegründete Bagdader Konservatorium fast 2.1 Musik im Islam ausschließlich abendländische Musik lehrte. Die Entwicklung, die die jüdische Gemeinde Bagdads um die Wende zum 20. Jahrhundert durchlief, ist ein 2.2 Klassische Musiktradition Schlüssel zum Verständnis der sozialen Organisation der Musik ihrer muslimischen Umgebungskultur, die Ende des 19. Jahrhunderts entstanden in den urba- wesentlich von der Haltung des Islam zur Musik nen Zentren Mesopotamiens zahlreiche Instrumen- geprägt war. Da der Koran nur wenige Aussagen zur talensembles (cha¯¯ lghı¯¯), die sich ausschließlich aus jüdi- Musik trifft und sich auch die Hadithen (die Über- schen Musikern zusammensetzten. Das Bagdader En- lieferungen über den Propheten Muhammad) glei- semble cha¯¯ lghı¯¯ Baghda¯¯ d bestand aus zwei melodischen chermaßen für wie gegen sie aussprechen, stand die Instrumenten (dem Santur, einem trapezförmigen islamische Gesellschaft den Musizierenden ambiva- Hackbrett mit Schlegeln, und der Kamana-Josa, einer lent gegenüber. Musik, insbesondere ihre emotionale viersaitigen Spießgeige) und zwei Schlaginstrumenten Wirkung und ihr Unterhaltungswert, war in der isla- (dem Daff, einer Rahmentrommel mit Schellen, und mischen Welt immer wieder Gegenstand von Debat- dem Dumbuk, einer einköpfigen Bechertrommel). ten. Vor allem wurden Saiteninstrumente abgelehnt Das anspruchsvollste Genre im Repertoire der und Instrumentalisten dementsprechend gering ge- cha¯¯ lghı¯¯ war der irakische Maqam (al-maqa¯¯ m al-"Ira¯¯ qı¯¯) schätzt, während der Gesang als zulässig galt – aus der klassischen arabischen Musiktradition. Etwa schließlich wurden auch der Gebetsruf des Muezzin 60 mehrteilige Kompositionen sind überliefert, beste- und der Koran von der menschlichen Stimme vor- hend aus Liedern und Instrumentalstücken mit fest- getragen. gelegten und improvisierten Abschnitten, deren Auf- Bei aller Ambivalenz kam der Musik im Gefüge führung ein komplexes, mündlich überliefertes Re- islamischer Gesellschaften immer eine hohe Bedeu- gelsystem zugrunde liegt. Die meisten dieser Werke tung zu. Diesem Paradox wurde häufig dadurch be- sind vor dem 20. Jahrhundert entstanden – die älteste gegnet, dass bestimmte Funktionen in der Musik- Schicht des Repertoires ist über 400 Jahre alt, die ausübung ethnischen Minderheiten überlassen blie- jüngeren Werke gehen überwiegend auf jüdische ben. Im Zweistromland waren es seit Ende des Komponisten zurück. Die Melodien spiegeln die Viel- 19. Jahrhunderts weitgehend die Juden, die mit dem falt in der Bevölkerung des Zweistromlands und be- 31zunehmenden Niedergang ihres spezifischen jüdi- ziehen auch Material aus anderen Teilen derBadgad ara- schen Lebensstils und wachsender Integration in die bischen Welt ein. Die Liedtexte handeln von Liebe, muslimische Mehrheitsgesellschaft die Pflege und Trauer, Sehnsucht, Glück oder Verbundenheit mit Weitergabe der Musiktradition ihrer Umgebung der Natur; sie sind in klassischem ÑArabisch wie im übernahmen. Als Bagdad um die Wende zum lokalen arabischen Dialekt, aber auch in anderen 20. Jahrhundert zu einem der größten musikalischen Sprachen wie Persisch, Türkisch, Kurdisch oder He- H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3d vom 6.5.2011Zentren in der arabischen Welt aufstieg,H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3d waren die bräisch verfasst. Vorgetragen werden sie zu vominstru- 6.5.2011 Seite 235 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm Mehrzahl seiner professionellen InstrumentalistenSeite 236 – Seitenformat:mentaler 185,00 Begleitung x 265,00 mm von einem Solisten, dem qa¯¯ ri' Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch Juden. Sie spielten, tradierten und bereichertenEnzyklopädie das jüdischermaqa¯¯ Geschichtem (Maqam-Rezitator); und Kultur, Umbruch der letzte Abschnitt des breite Spektrum an Musik, nach dem die Bagdader al-maqa¯¯ m al-"Ira¯¯ qı¯¯ ist in der Regel der volksliedartige Bevölkerung verlangte: das klassische arabische Re- pastah, der von den Musikern gesungen wird und bei pertoire, das traditionelle jüdische Repertoire und dem sich das Publikum mit Händeklatschen, Mitsin- die populäre Musik. gen oder Tanzen beteiligen darf. Der Part des qa¯¯ ri' 235 Die Assimilation der Bagdader Juden ging soBagdad weit, galtBagdad in der muslimischen Gesellschaft als der vor- 236 dass sie gleich ihren muslimischen Nachbarn den Stand nehmste Musikerberuf, was daran liegen mag, dass mussten ihre irakische Staatsbürgerschaft ablegen. des Musikers gering schätzten und angesehene jüdi- die islamische Religionsausübung mit einer Männer- Einzug in die Nachtclubs, die in den zwanziger Jah- Um der Gefahr eines wirtschaftlichen Zusammen- sche Familien es ihren Kindern verwehrten, diesen Be- stimme assoziiert wird. Die meisten Maqam-Sänger ren als Ableger der Kaffeehäuser entstanden und bruchs aufgrund der jüdischen Emigration zu ent- ruf zu ergreifen. Viele der jüdischen Musiker ent- waren daher Muslime; Ahmad Zaidan (1820–1912), der gleich ihnen die Tradition konzertanter Auftritte gehen, ließ das irakische Parlament die jüdischen stammten daher der Unterschicht, waren blind oder um die Jahrhundertwende bekannteste Maqam-Sän- pflegten; erst ab den dreißiger Jahren wurden in Guthaben einfrieren. Beim anschließenden Massen- körperbehindert. Die Ende der 1920er Jahre gegrün- ger, war gleichzeitig Muezzin und Koranrezitator. den Kaffeehäusern auch Schallplatten abgespielt. Die exodus emigrierten über 90 Prozent der rund 115000 dete jüdische Silas-Kadoorie-Blindenschule, in der Kin- Al-maqa¯ m al-"Ira¯ qı¯ wurde ursprünglich ausschließ- Berühmtheiten unter den jüdischen Instrumental- irakischen Juden nach Israel (ÑAlija). der ein Handwerk erlernten, das sie vor dem Schicksal lich in Privathäusern zu festlichen Gelegenheiten musikern, die in Bagdad den neuen Musikstil präg- des Bettelns bewahren sollte, bot auch Instrumental- oder in konzertantem Rahmen gespielt und war für ten, waren Yusuf Za'rur al-Kabir (der »Senior«) und unterricht an. Die Schule wurde zu einer wichtigen die städtische Bevölkerung die wichtigste Form der sein jüngerer Cousin Yusuf Za'rur (beide Kanun), die 2. Juden im irakischen Musikleben Ausbildungsstätte in traditioneller Musik, während Unterhaltung. In der Zwischenkriegszeit eroberte er Brüder Salih und Da'ud al-Kuwaity (Violine und Ud), das 1936 gegründete Bagdader Konservatorium fast auch die Kaffeehäuser, von denen manche regelmäßig Ezra (Azzuri) Haron (Ud), Yusuf al-Imari (die Lang- 2.1 Musik im Islam ausschließlich abendländische Musik lehrte. Maqam-Sänger – mit oder ohne cha¯ lghı¯ – auftreten flöte Ney) und Da'ud Akram (Violine), ein Absolvent Die Entwicklung, die die jüdische Gemeinde Bagdads ließen. Die Kaffeehäuser, die teilweise bis zu tausend der Silas-Kadoorie-Blindenschule und Leiter des mu- um die Wende zum 20. Jahrhundert durchlief, ist ein Menschen Platz boten, wurden ausschließlich von sikalischen Ensembles Ikhwa¯ n al-Fann (Brüder der 2.2 Klassische Musiktradition Schlüssel zum Verständnis der sozialen Organisation Männern aller Konfessionen besucht; so wurde das Kunst). der Musik ihrer muslimischen Umgebungskultur, die Ende des 19. Jahrhunderts entstanden in den urba- Genre einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Im isla- »Moderne« Ensembles wurden auch in Privathäu- wesentlich von der Haltung des Islam zur Musik nen Zentren Mesopotamiens zahlreiche Instrumen- mischen Fastenmonat Ramadan spielten jüdische In- sern engagiert, oft zur Begleitung eines volkstümli- geprägt war. Da der Koran nur wenige Aussagen zur talensembles (cha¯ lghı¯ ), die sich ausschließlich aus jüdi- strumentalensembles in den Kaffeehäusern den iraki- chen Sängers. Yusuf Za'rur al-Kabir eröffnete in Bag- Musik trifft und sich auch die Hadithen (die Über- schen Musikern zusammensetzten. Das Bagdader En- schen Maqam zusammen mit muslimischen Sängern dad zwei Nachtclubs, das Alef Laylah (Tausend Näch- lieferungen über den Propheten Muhammad) glei- semble cha¯ lghı¯ Baghda¯ d bestand aus zwei melodischen nach Sonnenuntergang, wenn das Fasten während te) und den bekanntesten, al-Hilal (Der Neumond), chermaßen für wie gegen sie aussprechen, stand die Instrumenten (dem Santur, einem trapezförmigen der Tagesstunden vorüber war. Nach 1938 wurden im westlichen Ortsteil Maydan, wo sich auch Kaffee- islamische Gesellschaft den Musizierenden ambiva- Hackbrett mit Schlegeln, und der Kamana-Josa, einer die allabendlichen öffentlichen Maqam-Aufführun- häuser, Ministerien und Bordelle befanden. Da weder lent gegenüber. Musik, insbesondere ihre emotionale viersaitigen Spießgeige) und zwei Schlaginstrumenten gen während des Ramadan auf eine pro Woche be- die jüdische noch die muslimische Gemeinschaft be- Wirkung und ihr Unterhaltungswert, war in der isla- (dem Daff, einer Rahmentrommel mit Schellen, und schränkt; zusätzliche Maqam-Darbietungen gab es im reit war, eine Frau aus ihren Familienkreisen öffent- mischen Welt immer wieder Gegenstand von Debat- dem Dumbuk, einer einköpfigen Bechertrommel). Radio und später im Fernsehen [8. 11–12]. lich auftreten zu lassen, sei es als Tänzerin, Sängerin ten. Vor allem wurden Saiteninstrumente abgelehnt Das anspruchsvollste Genre im Repertoire der oder Instrumentalistin, wurden die Tänzerinnen aus und Instrumentalisten dementsprechend gering ge- cha¯ lghı¯ war der irakische Maqam (al-maqa¯ m al-"Ira¯ qı¯ ) den Bordellen rekrutiert, wobei jede, die etwas Ge- 2.3 »Moderner Stil« schätzt, während der Gesang als zulässig galt – aus der klassischen arabischen Musiktradition. Etwa sangstalent aufwies, zur Sängerin aufstieg. schließlich wurden auch der Gebetsruf des Muezzin 60 mehrteilige Kompositionen sind überliefert, beste- Der Patriotismus der Juden und ihr Wunsch nach und der Koran von der menschlichen Stimme vor- hend aus Liedern und Instrumentalstücken mit fest- Teilhabe an der irakischen Gesellschaft und der ara- 2.4 Die Brüder al-Kuwaity und Salima Murad getragen. gelegten und improvisierten Abschnitten, deren Auf- bischen Kultur, gepaart mit einer westlich geprägten Bei aller Ambivalenz kam der Musik im Gefüge führung ein komplexes, mündlich überliefertes Re- Erziehung, war auch in ihren schöpferischen Leistun- Am nachhaltigsten wurde die moderne irakische Mu- islamischer Gesellschaften immer eine hohe Bedeu- gelsystem zugrunde liegt. Die meisten dieser Werke gen wirksam. Sie wurden zu den treibenden Kräften, sik von den Brüdern Salih und Da'ud al-Kuwaity tung zu. Diesem Paradox wurde häufig dadurch be- sind vor dem 20. Jahrhundert entstanden – die älteste die die Modernisierung des Musiklebens und die Bil- geprägt, deren Kompositionen im Irak bis heute gegnet, dass bestimmte Funktionen in der Musik- Schicht des Repertoires ist über 400 Jahre alt, die dung eines neuen musikalischen Geschmacks be- zum Standardrepertoire zählen. Die al-Kuwaitys, ei- ausübung ethnischen Minderheiten überlassen blie- jüngeren Werke gehen überwiegend auf jüdische schleunigten. nes der am meisten gefeierten Duos der arabischen ben. Im Zweistromland waren es seit Ende des Komponisten zurück. Die Melodien spiegeln die Viel- Mitte der 1920er Jahre gründeten jüdische Musi- Welt, waren in Kuwait in einer jüdisch-irakischen 19. Jahrhunderts weitgehend die Juden, die mit dem falt in der Bevölkerung des Zweistromlands und be- ker neue Instrumentalgruppen, die typischerweise Familie geboren und galten dort als musikalische zunehmenden Niedergang ihres spezifischen jüdi- ziehen auch Material aus anderen Teilen der ara- aus Violine, Kanun (eine Art Zither), Ud (Kurzhals- Wunderkinder, Salih als Violinist und Komponist, schen Lebensstils und wachsender Integration in die bischen Welt ein. Die Liedtexte handeln von Liebe, laute) und zwei Schlaginstrumenten (Daff und Dum- Da'ud als Ud-Spieler und Sänger. In den späten muslimische Mehrheitsgesellschaft die Pflege und Trauer, Sehnsucht, Glück oder Verbundenheit mit buk) bestanden. Die neuen Ensembles, die neben die 1920ern zog die Familie zurück in die alte Heimat Weitergabe der Musiktradition ihrer Umgebung der Natur; sie sind in klassischem ÑArabisch wie im cha¯ lghı¯ traten, pflegten nicht den traditionellen, Irak. In Bagdad setzten die Brüder ihre musikalische übernahmen. Als Bagdad um die Wende zum lokalen arabischen Dialekt, aber auch in anderen mündlich überlieferten Stil des irakischen Maqam, Karriere fort; Salih begann zusätzlich arabische und 20. Jahrhundert zu einem der größten musikalischen Sprachen wie Persisch, Türkisch, Kurdisch oder He- sondern spielten Kompositionen im »modernen Stil«, westliche Musik zu studieren. Mit einem neuen Stil, Zentren in der arabischen Welt aufstieg, waren die bräisch verfasst. Vorgetragen werden sie zu instru- der Elemente der klassischen Tradition mit neuen der traditionelle arabische Musik mit europäischen Mehrzahl seiner professionellen Instrumentalisten mentaler Begleitung von einem Solisten, dem qa¯ ri' Elementen aus der populären und klassischen Musik Elementen verschmolz, gewannen sie bald eine große Juden. Sie spielten, tradierten und bereicherten das maqa¯ m (Maqam-Rezitator); der letzte Abschnitt des des Westens verknüpfte. Der »moderne Stil« (auch Anhängerschaft und avancierten zu den Lieblings- breite Spektrum an Musik, nach dem die Bagdader al-maqa¯ m al-"Ira¯ qı¯ ist in der Regel der volksliedartige Mas.rı¯ , »ägyptisch«, genannt) entstand zunächst in musikern König Faisals, für den sie spielten und Bevölkerung verlangte: das klassische arabische Re- pastah, der von den Musikern gesungen wird und bei den großen Zentren, vor allem in Ägypten und im eine Reihe von Werken zu feierlichen Anlässen kom- pertoire, das traditionelle jüdische Repertoire und dem sich das Publikum mit Händeklatschen, Mitsin- Irak, verbreitete sich von dort und wurde zur domi- ponierten. Bedeutende Künstler aus dem arabischen die populäre Musik. gen oder Tanzen beteiligen darf. Der Part des qa¯ ri' nierenden Musikrichtung des Mittleren Ostens. Er Ausland kamen nach Bagdad, um mit ihnen zusam- Die Assimilation der Bagdader Juden ging so weit, galt in der muslimischen Gesellschaft als der vor- eroberte die Kaffeehäuser Bagdads, in denen er neben menzuarbeiten. Die Brüder schrieben Lieder für die dass sie gleich ihren muslimischen Nachbarn den Stand nehmste Musikerberuf, was daran liegen mag, dass dem irakischen Maqam gespielt wurde, und hielt führenden Sängerinnen ihrer Zeit: für die irakische H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3d vom 6.5.2011 Seite 236 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch

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die islamische Religionsausübung mit einer Männer- Einzug in die Nachtclubs, die in den zwanziger Jah- stimme assoziiert wird. Die meisten Maqam-Sänger ren als Ableger der Kaffeehäuser entstanden und waren daher Muslime; Ahmad Zaidan (1820–1912), der gleich ihnen die Tradition konzertanter Auftritte um die Jahrhundertwende bekannteste Maqam-Sän- pflegten; erst ab den dreißiger Jahren wurden in ger, war gleichzeitig Muezzin und Koranrezitator. den Kaffeehäusern auch Schallplatten abgespielt. Die Al-maqa¯¯ m al-"Ira¯¯ qı¯¯ wurde ursprünglich ausschließ- Berühmtheiten unter den jüdischen Instrumental- lich in Privathäusern zu festlichen Gelegenheiten musikern, die in Bagdad den neuen Musikstil präg- oder in konzertantem Rahmen gespielt und war für ten, waren Yusuf Za'rur al-Kabir (der »Senior«) und die städtische Bevölkerung die wichtigste Form der sein jüngerer Cousin Yusuf Za'rur (beide Kanun), die Unterhaltung. In der Zwischenkriegszeit eroberte er Brüder Salih und Da'ud al-Kuwaity (Violine und Ud), auch die Kaffeehäuser, von denen manche regelmäßig Ezra (Azzuri) Haron (Ud), Yusuf al-Imari (die Lang- Maqam-Sänger – mit oder ohne cha¯¯ lghı¯¯ – auftreten flöte Ney) und Da'ud Akram (Violine), ein Absolvent ließen. Die Kaffeehäuser, die teilweise bis zu tausend der Silas-Kadoorie-Blindenschule und Leiter des mu- Menschen Platz boten, wurden ausschließlich von sikalischen Ensembles Ikhwa¯¯ n al-Fann (Brüder der Männern aller Konfessionen besucht; so wurde das Kunst). Genre einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Im isla- »Moderne« Ensembles wurden auch in Privathäu- mischen Fastenmonat Ramadan spielten jüdische In- sern engagiert, oft zur Begleitung eines volkstümli- strumentalensembles in den Kaffeehäusern den iraki- chen Sängers. Yusuf Za'rur al-Kabir eröffnete in Bag- schen Maqam zusammen mit muslimischen Sängern dad zwei Nachtclubs, das Alef Laylah (Tausend Näch- nach Sonnenuntergang, wenn das Fasten während te) und den bekanntesten, al-Hilal (Der Neumond), der Tagesstunden vorüber war. Nach 1938 wurden im westlichen Ortsteil Maydan, wo sich auch Kaffee- die allabendlichen öffentlichen Maqam-Aufführun- häuser, Ministerien und Bordelle befanden. Da weder gen während des Ramadan auf eine pro Woche be- die jüdische noch die muslimische Gemeinschaft be- schränkt; zusätzliche Maqam-Darbietungen gab es im reit war, eine Frau aus ihren Familienkreisen öffent- Radio und später im Fernsehen [8. 11–12]. lich auftreten zu lassen, sei es als Tänzerin, Sängerin oder Instrumentalistin, wurden die Tänzerinnen aus den Bordellen rekrutiert, wobei jede, die etwas Ge- 2.3 »Moderner Stil« sangstalent aufwies, zur Sängerin aufstieg. Der Patriotismus der Juden und ihr Wunsch nach Teilhabe an der irakischen Gesellschaft und der ara- 2.4 Die Brüder al-Kuwaity und Salima Murad bischen Kultur, gepaart mit einer westlich geprägten Erziehung, war auch in ihren schöpferischen Leistun- Am nachhaltigsten wurde die moderne irakische Mu- gen wirksam. Sie wurden zu den treibenden Kräften, sik von den Brüdern Salih und Da'ud al-Kuwaity die die Modernisierung des Musiklebens und die Bil- geprägt, deren Kompositionen im Irak bis heute dung eines neuen musikalischen Geschmacks be- zum Standardrepertoire zählen. Die al-Kuwaitys, ei- schleunigten. nes der am meisten gefeierten Duos der arabischen Mitte der 1920er Jahre gründeten jüdische Musi- Welt, waren in Kuwait in einer jüdisch-irakischen ker neue Instrumentalgruppen, die typischerweise Familie geboren und galten dort als musikalische Bagdadaus Violine, Kanun (eine Art Zither), Ud (Kurzhals- Wunderkinder, Salih als Violinist und Komponist,32 laute) und zwei Schlaginstrumenten (Daff und Dum- Da'ud als Ud-Spieler und Sänger. In den späten buk) bestanden. Die neuen Ensembles, die neben die 1920ern zog die Familie zurück in die alte Heimat cha¯¯ lghı¯¯ traten, pflegten nicht den traditionellen, Irak. In Bagdad setzten die Brüder ihre musikalische mündlich überlieferten Stil des irakischen Maqam, Karriere fort; Salih begann zusätzlich arabische und sondern spielten Kompositionen im »modernen Stil«, westliche Musik zu studieren. Mit einem neuen Stil, H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3d vom 6.5.2011 der Elemente der klassischen Tradition mit neuenH:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3dder traditionelle arabische Musik mit europäischen vom 6.5.2011 Seite 236 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm Elementen aus der populären und klassischen MusikSeite 237Elementen – Seitenformat: verschmolz, 185,00 x 265,00 gewannen mm sie bald eine große Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch des Westens verknüpfte. Der »moderne Stil« (auchEnzyklopädieAnhängerschaft jüdischer Geschichte und avancierten und Kultur, Umbruch zu den Lieblings- Mas.rı¯¯, »ägyptisch«, genannt) entstand zunächst in musikern König Faisals, für den sie spielten und den großen Zentren, vor allem in Ägypten und im eine Reihe von Werken zu feierlichen Anlässen kom- Irak, verbreitete sich von dort und wurde zur domi- ponierten. Bedeutende Künstler aus dem arabischen nierenden Musikrichtung des Mittleren Ostens. Er Ausland kamen nach Bagdad, um mit ihnen zusam- Bagdad eroberte die Kaffeehäuser Bagdads, in denen er neben236 237menzuarbeiten. Die Brüder schrieben Lieder für die Bagdad dem irakischen Maqam gespielt wurde, und hielt führenden Sängerinnen ihrer Zeit: für die irakische die islamische Religionsausübung mit einer Männer- Einzug in die Nachtclubs, die in den zwanziger Jah- Jüdin Salima Murad, die Libanesin Zakiyya George mus die Lebensbedingungen der jüdischen Bevölke- stimme assoziiert wird. Die meisten Maqam-Sänger ren als Ableger der Kaffeehäuser entstanden und und die legendäre ägyptische Diva Umm Kulthum, rung verschlechterten, erfreuten sich in den 1930er waren daher Muslime; Ahmad Zaidan (1820–1912), der gleich ihnen die Tradition konzertanter Auftritte die populärste Sängerin der arabischen Welt im Jahren jüdische Musiker ungebrochener Beliebtheit. um die Jahrhundertwende bekannteste Maqam-Sän- pflegten; erst ab den dreißiger Jahren wurden in 20. Jahrhundert. Sie schrieben auch die Musik zum Zur irakischen Starsängerin wurde in dieser Zeit Sa- ger, war gleichzeitig Muezzin und Koranrezitator. den Kaffeehäusern auch Schallplatten abgespielt. Die ersten irakischen Film "A¯ liyah wa-"Is.a¯ m (Alia und Is- lima Murad (ursprünglich Salima Pasha, 1907–1973), Al-maqa¯ m al-"Ira¯ qı¯ wurde ursprünglich ausschließ- Berühmtheiten unter den jüdischen Instrumental- sam, 1948), eine Liebesgeschichte à la Romeo und die bei ihrer Heirat mit dem Sänger Nadham (Nazam) lich in Privathäusern zu festlichen Gelegenheiten musikern, die in Bagdad den neuen Musikstil präg- Julia im Bagdader Milieu, in dem auch Salima Murad al-Ghazali (1920–1963) zum Islam übertrat. Als »die oder in konzertantem Rahmen gespielt und war für ten, waren Yusuf Za'rur al-Kabir (der »Senior«) und spielte und sang. Umm Kulthum des Irak« und »die singende Nachti- die städtische Bevölkerung die wichtigste Form der sein jüngerer Cousin Yusuf Za'rur (beide Kanun), die Als Radio Irak 1936 auf Sendung ging, wurde Salih gall« wurde sie im Irak verehrt und in der gesamten Unterhaltung. In der Zwischenkriegszeit eroberte er Brüder Salih und Da'ud al-Kuwaity (Violine und Ud), al-Kuwaity mit dem Aufbau eines modernen Rund- arabischen Welt geschätzt. Sie war jeden Abend im auch die Kaffeehäuser, von denen manche regelmäßig Ezra (Azzuri) Haron (Ud), Yusuf al-Imari (die Lang- funk-Ensembles beauftragt, das Instrumentalmusik Bagdader Nachtclub Jawahari zu hören und erhielt Maqam-Sänger – mit oder ohne cha¯ lghı¯ – auftreten flöte Ney) und Da'ud Akram (Violine), ein Absolvent spielte und Sänger begleitete. Die Gruppe, die er ins später in Radio Bagdad eine eigene wöchentliche ließen. Die Kaffeehäuser, die teilweise bis zu tausend der Silas-Kadoorie-Blindenschule und Leiter des mu- Leben rief, bestand aus sechs Musikern, fünf Juden Rundfunksendung. Salih und Da'ud al-Kuwaity kom- Menschen Platz boten, wurden ausschließlich von sikalischen Ensembles Ikhwa¯ n al-Fann (Brüder der und einem Muslim. Das Ensemble spielte täglich in ponierten für sie über vierhundert Lieder. Nach dem Männern aller Konfessionen besucht; so wurde das Kunst). den Live-Musiksendungen von Radio Irak außer an Massenexodus der Juden wurden diese jahrelang als Genre einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Im isla- »Moderne« Ensembles wurden auch in Privathäu- den beiden wichtigsten Fasttagen im jüdischen Ka- anonyme »Folklore« gehandelt oder als Musik musli- mischen Fastenmonat Ramadan spielten jüdischeH:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3d In- sern engagiert, oft zur Begleitung eines volkstümli- vom 6.5.2011lender, dem Trauertag Tish'a be-Av und dem Versöh- mischer Komponisten ausgegeben. strumentalensembles in den Kaffeehäusern den iraki-Seite 237chen – Seitenformat: Sängers. Yusuf 185,00 Za'rur x 265,00 al-Kabir mm eröffnete in Bag- nungstag Jom Kippur. Auch wenn die jüdische Ge- schen Maqam zusammen mit muslimischen SängernEnzyklopädiedad zwei jüdischer Nachtclubs, Geschichte das und Alef Kultur, Laylah Umbruch (Tausend Näch- meinschaft einen starken Säkularisierungsschub er- 2.5 Der Kongress für arabische Musik nach Sonnenuntergang, wenn das Fasten während te) und den bekanntesten, al-Hilal (Der Neumond), fahren hatte, wurden bestimmte Bräuche immer in Kairo 1932 der Tagesstunden vorüber war. Nach 1938 wurden im westlichen Ortsteil Maydan, wo sich auch Kaffee- noch von vielen respektiert – jüdische Ensembles die allabendlichen öffentlichen Maqam-Aufführun- häuser, Ministerien und Bordelle befanden. Da weder hielten sich an das Gebot, an diesen Tagen nicht zu Das Jahr 1932 markiert nicht nur die Unabhängigkeit gen während des Ramadan auf eine pro Woche be- die jüdische noch die muslimische Gemeinschaft be- musizieren. des Irak von Großbritannien, sondern auch den Auf- schränkt; zusätzliche Maqam-Darbietungen gab es im 237reit war, eine Frau aus ihren Familienkreisen öffent- Wenngleich sich mit der Unabhängigkeit desBagdad Irak bruch zu neuen Wegen in der arabischen Musikkul- Radio und später im Fernsehen [8. 11–12]. lich auftreten zu lassen, sei es als Tänzerin, Sängerin 1932 und dem Anstieg des panarabischen Nationalis- tur. Unter der Schirmherrschaft von König Fuad I. Jüdinoder Instrumentalistin, Salima Murad, die wurden Libanesin die Tänzerinnen Zakiyya George aus mus die Lebensbedingungen der jüdischen Bevölke- undden Bordellendie legendäre rekrutiert, ägyptische wobei Diva jede, Umm die Kulthum,etwas Ge- rung verschlechterten, erfreuten sich in den 1930er 2.3 »Moderner Stil« diesangstalent populärste aufwies, Sängerin zur Sängerin der arabischen aufstieg. Welt im Jahren jüdische Musiker ungebrochener Beliebtheit. Der Patriotismus der Juden und ihr Wunsch nach 20. Jahrhundert. Sie schrieben auch die Musik zum Zur irakischen Starsängerin wurde in dieser Zeit Sa- Teilhabe an der irakischen Gesellschaft und der ara- ersten irakischen Film "A¯ liyah wa-"Isa¯ m (Alia und Is- lima Murad (ursprünglich Salima Pasha, 1907–1973), 2.4 Die Brüder al-Kuwaity und Salima. Murad bischen Kultur, gepaart mit einer westlich geprägten sam, 1948), eine Liebesgeschichte à la Romeo und die bei ihrer Heirat mit dem Sänger Nadham (Nazam) Erziehung, war auch in ihren schöpferischen Leistun- JuliaAm nachhaltigsten im Bagdader Milieu, wurde in die dem moderne auch Salima irakische Murad Mu- al-Ghazali (1920–1963) zum Islam übertrat. Als »die gen wirksam. Sie wurden zu den treibenden Kräften, spieltesik von und den sang. Brüdern Salih und Da'ud al-Kuwaity Umm Kulthum des Irak« und »die singende Nachti- die die Modernisierung des Musiklebens und die Bil- geprägt,Als Radio deren Irak Kompositionen 1936 auf Sendung im ging, Irak wurde bis heute Salih gall« wurde sie im Irak verehrt und in der gesamten dung eines neuen musikalischen Geschmacks be- al-Kuwaityzum Standardrepertoire mit dem Aufbau zählen. eines Die modernen al-Kuwaitys, Rund- ei- arabischen Welt geschätzt. Sie war jeden Abend im schleunigten. funk-Ensemblesnes der am meisten beauftragt, gefeierten das Duos Instrumentalmusik der arabischen Bagdader Nachtclub Jawahari zu hören und erhielt Mitte der 1920er Jahre gründeten jüdische Musi- spielteWelt, waren und Sänger in Kuwait begleitete. in einer Die Gruppe, jüdisch-irakischen die er ins später in Radio Bagdad eine eigene wöchentliche ker neue Instrumentalgruppen, die typischerweise LebenFamilie rief, geboren bestand und aus galten sechs Musikern,dort als musikalische fünf Juden Rundfunksendung. Salih und Da'ud al-Kuwaity kom- aus Violine, Kanun (eine Art Zither), Ud (Kurzhals- undWunderkinder, einem Muslim. Salih Das als Ensemble Violinist spielte und Komponist, täglich in ponierten für sie über vierhundert Lieder. Nach dem laute) und zwei Schlaginstrumenten (Daff und Dum- denDa'ud Live-Musiksendungen als Ud-Spieler und von Sänger. Radio In Irak den außer späten an Massenexodus der Juden wurden diese jahrelang als buk) bestanden. Die neuen Ensembles, die neben die den1920ern beiden zog wichtigsten die Familie Fasttagen zurück in im die jüdischen alte Heimat Ka- anonyme »Folklore« gehandelt oder als Musik musli- cha¯ lghı¯ traten, pflegten nicht den traditionellen, lender,Irak. In dem Bagdad Trauertag setztenTish'a die Brüder be-Av und ihre demmusikalische Versöh- mischer Komponisten ausgegeben. mündlich überlieferten Stil des irakischen Maqam, nungstagKarriere fort; Jom Salih Kippur. begann Auch zusätzlich wenn die arabische jüdische undGe- sondern spielten Kompositionen im »modernen Stil«, meinschaftwestliche Musik einen zu starken studieren. Säkularisierungsschub Mit einem neuen Stil, er- 2.5 Der Kongress für arabische Musik der Elemente der klassischen Tradition mit neuen fahrender traditionelle hatte, wurden arabische bestimmte Musik mit Bräuche europäischen immer in Kairo 1932 Elementen aus der populären und klassischen Musik nochElementen von vielen verschmolz, respektiert gewannen – jüdische sie bald Ensembles eine große des Westens verknüpfte. Der »moderne Stil« (auch hieltenAnhängerschaft sich an das und Gebot, avancierten an diesen zu Tagen den Lieblings- nicht zu Das Jahr 1932 markiert nicht nur die Unabhängigkeit Mas.rı¯ , »ägyptisch«, genannt) entstand zunächst in musizieren.musikern König Faisals, für den sie spielten und des Irak von Großbritannien, sondern auch den Auf- den großen Zentren, vor allem in Ägypten und im eineWenngleich Reihe von sichWerken mit zuder feierlichen Unabhängigkeit Anlässen des kom- Irak bruch zu neuen Wegen in der arabischen Musikkul- Irak, verbreitete sich von dort und wurde zur domi- 1932ponierten. und dem Bedeutende Anstieg des Künstler panarabischen aus dem Nationalis- arabischen tur. Unter der Schirmherrschaft von König Fuad I. nierenden Musikrichtung des Mittleren Ostens. Er Ausland kamen nach Bagdad, um mit ihnen zusam- eroberte die Kaffeehäuser Bagdads, in denen er neben menzuarbeiten. Die Brüder schrieben Lieder für die dem irakischen Maqam gespielt wurde, und hielt führenden Sängerinnen ihrer Zeit: für die irakische Mitglieder des Irakischen Rundfunk-Ensembles, 1938

Mitglieder des Irakischen Rundfunk-Ensembles, 1938 H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3d vom 6.5.2011 H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3d vom 6.5.2011 Seite 237 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm Seite 238 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch

237 Bagdad Bagdad 238

Jüdin Salima Murad, die Libanesin Zakiyya George mus die Lebensbedingungen der jüdischen Bevölke- wurde 1932 vom ägyptischen Kultusministerium der nur zu häuslichen Festlichkeiten mit weiblichem Pu- und die legendäre ägyptische Diva Umm Kulthum, rung verschlechterten, erfreuten sich in den 1930er internationale »Kongress für arabische Musik« in blikum musizierten. Die daqqa¯ qa¯ t werden vor allem die populärste Sängerin der arabischen Welt im Jahren jüdische Musiker ungebrochener Beliebtheit. Kairo veranstaltet. Die Teilnehmenden waren Musi- mit der Hennazeremonie (leilt al-h. innı¯ ) am Abend vor 20. Jahrhundert. Sie schrieben auch die Musik zum Zur irakischen Starsängerin wurde in dieser Zeit Sa- ker, Komponisten und Musikwissenschaftler aus ara- der Hochzeit verbunden, traten aber auch bei anderen ersten irakischen Film "A¯ liyah wa-"Is.a¯ m (Alia und Is- lima Murad (ursprünglich Salima Pasha, 1907–1973), bischen Ländern und der Türkei sowie – in geringer Ereignissen wie der Geburt eines Kindes oder der sam, 1948), eine Liebesgeschichte à la Romeo und die bei ihrer Heirat mit dem Sänger Nadham (Nazam) Zahl – Vertreter aus Europa. Zu den europäischen s.bah.ı¯ (der durchfeierten siebten Hochzeitsnacht) auf Julia im Bagdader Milieu, in dem auch Salima MuradH:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3dal-Ghazali (1920–1963) zum Islam übertrat. Als »die vom 6.5.2011Gästen gehörten die Spezialisten für arabische Musik und spielten gelegentlich auch in muslimischen Häu- spielte und sang. Seite 237Umm – Seitenformat: Kulthum 185,00 des Irak« x 265,00 und mm »die singende Nachti- Rodolphe d'Erlanger (der die Veranstaltung mitorga- sern bei Frauenpartys vor einer Hochzeit oder zur Als Radio Irak 1936 auf Sendung ging, wurde SalihEnzyklopädiegall« jüdischer wurde sie Geschichte im Irak und verehrt Kultur, und Umbruch in der gesamten nisierte) und Henry George Farmer, die Musikwissen- Geburt eines Sohnes. al-Kuwaity mit dem Aufbau eines modernen Rund- arabischen Welt geschätzt. Sie war jeden Abend im schaftler Erich Moritz von Hornbostel (ÑVerglei- Zu den bekanntesten daqqa¯ qa¯ t der 1920er und funk-Ensembles beauftragt, das Instrumentalmusik Bagdader Nachtclub Jawahari zu hören und erhielt chende Musikwissenschaft) und Robert Lachmann so- 1930er Jahre gehörten Mas'uda al-Bambayliyyi spielte und Sänger begleitete. Die Gruppe, die er ins später in Radio Bagdad eine eigene wöchentliche wie die Komponisten Béla Bartók und Paul Hinde- (Mas'uda aus Bombay) und Farha bit Shamma. In Leben rief, bestand aus sechs Musikern, fünf Juden Rundfunksendung. Salih und Da'ud al-Kuwaity kom- mith. Das den Irak vertretende Musikensemble den 1930er Jahren entstanden kommerzielle Aufnah- und einem Muslim. Das Ensemble spielte täglich in ponierten33237 für sie über vierhundert Lieder. Nach dem bestand aus dem Maqam-Sänger MuhammadBadgadBagdad al- men einiger Daqqaqa-Lieder, darunter Ya¯ da¯ r wya¯ da¯ r den Live-Musiksendungen von Radio Irak außer an Massenexodus der Juden wurden diese jahrelang als Qubbanchi, einem Muslim, und einem cha¯ lghı¯ mit (Oh Haus!), gesungen von Mas'uda und ihrem Chor, den beiden wichtigsten Fasttagen im jüdischen Ka- anonymeJüdin Salima »Folklore« Murad, gehandelt die Libanesin oder als Zakiyya Musik George musli- sechsmus die jüdischen Lebensbedingungen Instrumentalisten. der jüdischen Man spielte Bevölke- das und "Afa¯ kı¯ (Bravo!), das beliebteste Hennalied. Von lender, dem Trauertag Tish'a be-Av und demH:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3d Versöh- mischerund die Komponisten legendäre ägyptische ausgegeben. Diva Umm vom Kulthum, 6.5.2011 angesehnsterung verschlechterten, landestypische erfreuten Genre, sich den in denal-maqa 1930er¯ m "Afa¯ kı¯ gibt es eine vielgerühmte Aufnahme, die jedoch nungstag Jom Kippur. Auch wenn die jüdischeSeite 238 Ge-– Seitenformat:die populärste 185,00 x 265,00 Sängerin mm der arabischen Welt im al-"IraJahren¯ qı¯ , jüdische der damals Musiker wahrscheinlich ungebrochener zum Beliebtheit. ersten Mal nicht von einer Daqqaqa-Gruppe eingespielt wurde, meinschaft einen starken SäkularisierungsschubEnzyklopädie er- jüdischer20. Jahrhundert. Geschichte und Sie Kultur, schrieben Umbruch auch die Musik zum außerhalbZur irakischen des Starsängerin Irak zu hören wurde war. in Das dieser Ensemble Zeit Sa- sondern von Rashid al-Qundarchi (gest. 1945), dem 2.5 Der Kongress für arabische Musik fahren hatte, wurden bestimmte Bräuche immer ersten irakischen Film "A¯ liyah wa-"Isa¯ m (Alia und Is- wurdelima Murad von König (ursprünglich Fuad mit Salima dem Pasha, ersten 1907–1973), Preis aus- seinerzeit herausragendsten muslimischen Maqam- in Kairo 1932 . noch von vielen respektiert – jüdische Ensembles sam, 1948), eine Liebesgeschichte à la Romeo und gezeichnet.die bei ihrer Heirat mit dem Sänger Nadham (Nazam) Sänger, der von einem cha¯ lghı¯ begleitet wurde. Der hielten sich an das Gebot, an diesen Tagen nicht zu DasJulia Jahr im Bagdader 1932 markiert Milieu, nicht in nurdem die auch Unabhängigkeit Salima Murad al-GhazaliEines der (1920–1963) Ziele des zumKongresses Islam übertrat.war die Präsenta- Als »die Text des Lieds ist zwar Judäo-Arabisch (ÑArabisch), musizieren. desspielte Irak und von sang. Großbritannien, sondern auch den Auf- tionUmm und Kulthum Dokumentation des Irak« und der verschiedenen»die singendeNachti- Musik- doch geschah es nicht selten, dass Juden berühmte Wenngleich sich mit der Unabhängigkeit des Irak bruchBagdadAls zu Radio neuen Irak Wegen 1936 auf in Sendung der arabischen ging, wurde Musikkul- Salih richtungengall« wurde aus sie mehreren im Irak verehrt arabischen und in Ländern, der gesamten die238 in muslimische Sänger engagierten, um mit ihnen tra- 1932 und dem Anstieg des panarabischen Nationalis- tur.al-Kuwaity Unter der mit Schirmherrschaft dem Aufbau eines von modernen König Fuad Rund- I. Kairoarabischen zum Welt ersten geschätzt. Mal miteinander Sie war jeden verglichen Abend wur- im ditionelle jüdische Lieder in judäo-arabischer Sprache wurdefunk-Ensembles 1932 vom ägyptischenbeauftragt, das Kultusministerium Instrumentalmusik der nurden.Bagdader zu 360 häuslichen der Nachtclub aufgeführten FestlichkeitenJawahari Stückezu mit wurden hören weiblichem und aufgenom- erhielt Pu- aufzunehmen; offenbar zogen sie sie wegen ihrer internationalespielte und Sänger »Kongress begleitete. für Die arabische Gruppe, Musik« die er ins in blikummen,später um in musizierten. sie Radio für die Bagdad Nachwelt Die daqqa eine zu¯ qa eigene¯ erhalten;t werden wöchentliche der vor größte allem Stimmen und ihrer hohen Reputation in der iraki- KairoLeben veranstaltet. rief, bestand Die aus Teilnehmenden sechs Musikern, waren fünf Musi-Juden mitTeilRundfunksendung. der der Hennazeremonie Aufnahmen Salih lagert und(leilt heute Da'ud al-h. ininnı deral-Kuwaity¯ ) am Bibliothèque Abend kom- vor schen Gesellschaft den jüdischen Sängern vor. Rashid ker,und Komponisten einem Muslim. und Das Musikwissenschaftler Ensemble spielte täglich aus ara- in dernationaleponierten Hochzeit de für Franceverbunden, sie über in vierhundertParis. traten Folgenreich aber Lieder. auch beifür Nach anderendie demMu- al-Qundarchi, der keine religiösen Vorbehalte hatte bischenden Live-Musiksendungen Ländern und der Türkei von Radio sowie Irak – in außer geringer an EreignissensikkulturMassenexodus der wie arabischen der der Juden Geburt Welt wurden eines war diese der Kindes Versuch, jahrelang oder sich der als und das Judäo-Arabische beherrschte, wurde daher Zahlden beiden – Vertreter wichtigsten aus Europa. Fasttagen Zu den im jüdischen europäischen Ka- süberanonyme.bah.ı¯ zwei(der »Folklore« durchfeiertengegensätzliche gehandelt siebten Positionen oder Hochzeitsnacht) zuals verständigen:Musik musli- auf auch gern als Sänger zu privaten jüdischen Festen Gästenlender, gehörten dem Trauertag die SpezialistenTish'a be-Av fürund arabische dem Versöh- Musik unddiemischer Forderung spielten Komponisten gelegentlich nach Bewahrung ausgegeben. auch inalter muslimischen arabischer Musik- Häu- eingeladen [8. 13]. Rodolphenungstag d'ErlangerJom Kippur. (der Auch die Veranstaltung wenn die jüdische mitorga- Ge- serntraditionen bei Frauenpartys gegenüber dem voreiner Wunsch Hochzeit der Neuorientie- oder zur In den 1940er Jahren galten die daqqa¯ qa¯ t infolge nisierte)meinschaft und einen Henry starken George Säkularisierungsschub Farmer, die Musikwissen- er- Geburtrung an eines der Musik Sohnes. des Westens, die von Künstlern wie des zunehmenden Modernisierungstrends als pri- 2.5 Der Kongress für arabische Musik schaftlerfahren hatte, Erich wurden Moritz bestimmte von Hornbostel Bräuche (ÑVerglei- immer UmmZu Kulthum, den bekanntesten Salima Muraddaqqa¯ oderqa¯ t der den 1920er al-Kuwaity- und mitiv und altmodisch. Die musikalischen Darbietun- in Kairo 1932 chendenoch von Musikwissenschaft) vielen respektiert und – Robert jüdische Lachmann Ensembles so- 1930erBrüdern Jahrebereitsvollzogen gehörten worden Mas'uda war. al-Bambayliyyi In der Diskus- gen für Hennafeste übernahmen nun niveauvollere wiehielten die sich Komponisten an das Gebot, Béla an Bartók diesen und Tagen Paul nicht Hinde- zu (Mas'udasionDas Jahr überwogen 1932 aus markiert Bombay) die Kräfte, nicht und die nur Farha eine die bitUnabhängigkeit Modernisierung Shamma. In Ensembles wie die cha¯ lghı¯ oder »moderne« Instru- mith.musizieren. Das den Irak vertretende Musikensemble denforderten.des Irak 1930er von So Jahren Großbritannien, ebnete entstanden der Kongress sondernkommerzielle der auch »modernen« den Aufnah- Auf- mentalensembles mit einem Sänger, wenn sie nicht bestandWenngleich aus dem sich Maqam-Sängermit der Unabhängigkeit Muhammad des Irak al- menMusikbruch einiger zu in derneuen Daqqaqa-Lieder, arabischen Wegen in Welt der darunter den arabischen Weg,Ya während¯ da Musikkul-¯ r wya¯ dieda¯ r sogar von den neuesten 78er-Platten mit lateiname- Qubbanchi,1932 und dem einem Anstieg Muslim, des panarabischen und einem cha Nationalis-¯ lghı¯ mit (OhPflegetur. Haus!), Unter der »alten« der gesungen Schirmherrschaft Musik von zusehends Mas'uda vonzurückging. und König ihrem Fuad Chor, I. rikanischen Rhythmen ersetzt wurden. sechs jüdischen Instrumentalisten. Man spielte das und "Afa¯ kı¯ (Bravo!), das beliebteste Hennalied. Von angesehnste landestypische Genre, den al-maqa¯ m "Afa¯ kı¯ gibt es eine vielgerühmte Aufnahme, die jedoch 2.6 Daqqaqa-Ensembles 3. Exodus al-"Ira¯ qı¯ , der damals wahrscheinlich zum ersten Mal nicht von einer Daqqaqa-Gruppe eingespielt wurde, außerhalb des Irak zu hören war. Das Ensemble sondernEines der von traditionellen Rashid al-Qundarchi jüdisch-irakischen (gest. 1945), Ensem- dem Mit der Massenemigration der irakischen Juden nach wurde von König Fuad mit dem ersten Preis aus- seinerzeitbles, die im herausragendsten Zuge der Modernisierung muslimischen verdrängt Maqam- wur- Israel zu Beginn der 1950er Jahre verlor das Land gezeichnet. Sänger,de, war derdie daqqa von¯ einemqah (Pl.chadaqqa¯ lghı¯¯ qabegleitet¯ t), eine Gruppe wurde. Dervon nahezu all jene Musiker, die als Säulen der irakischen Eines der Ziele des Kongresses war die Präsenta- Textvier oder des fünfLieds Frauen, ist zwar die Judäo-Arabisch sangen und dazu (ÑArabisch), verschie- Musiktraditionen galten. Nur wenige wie Salima Mu- tion und Dokumentation der verschiedenen Musik- dochdene Trommeln geschah es spielten. nicht selten, Der Beruf dass der Juden Daqqaqa-Mu- berühmte rad blieben und gingen weiter ihrem Beruf nach. Um richtungen aus mehreren arabischen Ländern, die in muslimischesikerin wurde Sänger innerhalb engagierten, der Familie um weitergegeben. mit ihnen tra- das Musikleben aufrechtzuerhalten, behalf man sich Kairo zum ersten Mal miteinander verglichen wur- ditionelleObwohl es jüdische sich um Lieder Frauenensembles in judäo-arabischer handelte, Sprache galten im Irak vorübergehend damit, Musiker aus anderen den. 360 der aufgeführten Stücke wurden aufgenom- aufzunehmen;sie als ehrbar und offenbar wurden zogen vom sie Rabbinat sie wegen gebilligt, ihrer arabischen Ländern zu gewinnen. Zwei Musiker des men, um sie für die Nachwelt zu erhalten; der größte Stimmenzumal es ältere und ihrer (nicht hohen mehr Reputation gebärfähige) in Frauen der iraki- wa- cha¯ lghı¯ Baghda¯ d, Salih Shummel (Kamana-Josa) und Mitglieder des Irakischen Rundfunk-Ensembles, 1938 Teil der Aufnahmen lagert heute in der Bibliothèque schenren, die Gesellschaft züchtig gekleidet den jüdischen auftraten Sängern und in vor. der Rashid Regel Yusuf Patao (Santur), wurden mit ihren Familien nationale de France in Paris. Folgenreich für die Mu- al-Qundarchi, der keine religiösen Vorbehalte hatte sikkultur der arabischen Welt war der Versuch, sich und das Judäo-Arabische beherrschte, wurde daher über zwei gegensätzliche Positionen zu verständigen: auch gern als Sänger zu privaten jüdischen Festen die Forderung nach Bewahrung alter arabischer Musik- eingeladen [8. 13]. traditionen gegenüber dem Wunsch der Neuorientie- In den 1940er Jahren galten die daqqa¯ qa¯ t infolge rung an der Musik des Westens, die von Künstlern wie des zunehmenden Modernisierungstrends als pri- Umm Kulthum, Salima Murad oder den al-Kuwaity- mitiv und altmodisch. Die musikalischen Darbietun- Brüdern bereits vollzogen worden war. In der Diskus- gen für Hennafeste übernahmen nun niveauvollere sion überwogen die Kräfte, die eine Modernisierung Ensembles wie die cha¯ lghı¯ oder »moderne« Instru- forderten. So ebnete der Kongress der »modernen« mentalensembles mit einem Sänger, wenn sie nicht Musik in der arabischen Welt den Weg, während die sogar von den neuesten 78er-Platten mit lateiname- Pflege der »alten« Musik zusehends zurückging. rikanischen Rhythmen ersetzt wurden.

2.6 Daqqaqa-Ensembles 3. Exodus Mitglieder des Irakischen Rundfunk-Ensembles, 1938 Eines der traditionellen jüdisch-irakischen Ensem- Mit der Massenemigration der irakischen Juden nach bles, die im Zuge der Modernisierung verdrängt wur- Israel zu Beginn der 1950er Jahre verlor das Land de, war die daqqa¯ qah (Pl. daqqa¯ qa¯ t), eine Gruppe von nahezu all jene Musiker, die als Säulen der irakischen vier oder fünf Frauen, die sangen und dazu verschie- Musiktraditionen galten. Nur wenige wie Salima Mu- dene Trommeln spielten. Der Beruf der Daqqaqa-Mu- rad blieben und gingen weiter ihrem Beruf nach. Um sikerin wurde innerhalb der Familie weitergegeben. das Musikleben aufrechtzuerhalten, behalf man sich Obwohl es sich um Frauenensembles handelte, galten im Irak vorübergehend damit, Musiker aus anderen sie als ehrbar und wurden vom Rabbinat gebilligt, arabischen Ländern zu gewinnen. Zwei Musiker des zumal es ältere (nicht mehr gebärfähige) Frauen wa- cha¯ lghı¯ Baghda¯ d, Salih Shummel (Kamana-Josa) und ren, die züchtig gekleidet auftraten und in der Regel Yusuf Patao (Santur), wurden mit ihren Familien H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3d vom 6.5.2011 Seite 238 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch

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wurde 1932 vom ägyptischen Kultusministerium der nur zu häuslichen Festlichkeiten mit weiblichem Pu- internationaleinternationale »Kongress »Kongress für für arabische arabische Musik« Musik« in in blikum musizierten. Die daqqa¯¯ qa¯¯ t werden vor allem Kairo veranstaltet. Die Teilnehmenden waren Musi- mit der Hennazeremonie (leiltleilt al-h al-h..innıinnı¯¯)) am am Abend Abend vor vor ker, Komponisten und Musikwissenschaftler aus ara- der Hochzeit verbunden, traten aber auch bei anderen bischen Ländern und der Türkei sowie – in geringer Ereignissen wie der Geburt eines Kindes oder der Zahl – Vertreter aus Europa. Zu den europäischen s..bah..ıı¯¯ (der(der durchfeierten durchfeierten siebten siebten Hochzeitsnacht) Hochzeitsnacht) auf auf Gästen gehörten die Spezialisten für arabische Musik und spielten gelegentlich auch in muslimischen Häu- Rodolphe d'Erlanger (der die Veranstaltung mitorga- sern bei Frauenpartys vor einer Hochzeit oder zur nisierte) und Henry George Farmer, die Musikwissen- Geburt eines Sohnes. schaftler Erich Moritz von Hornbostel (ÑVerglei- Zu den bekanntesten daqqa¯¯ qa¯¯ t der 1920er und chende Musikwissenschaft) und Robert Lachmann so- 1930er Jahre gehörten Mas'uda al-Bambayliyyi wie die Komponisten Béla Bartók und Paul Hinde- (Mas'uda(Mas'uda aus aus Bombay) Bombay) und und Farha Farha bit bit Shamma. Shamma. In In mith. Das den Irak vertretende Musikensemble den 1930er Jahren entstanden kommerzielle Aufnah- bestand aus dem Maqam-Sänger Muhammad al- men einiger Daqqaqa-Lieder, darunter Ya¯¯ da¯¯ r wya¯¯ da¯¯ r Qubbanchi, einem Muslim, und einem cha¯¯ lghılghı¯¯ mit (Oh(Oh Haus!), Haus!), gesungen gesungen von von Mas'uda Mas'uda und und ihrem ihrem Chor, Chor, sechs jüdischen Instrumentalisten. Man spielte das und "Afa"Afa¯¯ kı¯¯ (Bravo!),(Bravo!), das das beliebteste beliebteste Hennalied. Hennalied. Von Von angesehnste landestypische Genre, den al-maqa¯¯ m "Afa"Afa¯¯ kı¯¯ gibt es eine vielgerühmte Aufnahme, die jedoch al-"Ira¯¯ qı¯¯,, der der damals damals wahrscheinlich wahrscheinlich zum zum ersten ersten Mal Mal nicht von einer Daqqaqa-Gruppe eingespielt wurde, außerhalb des Irak zu hören war. Das Ensemble sondern von Rashid al-Qundarchi (gest. 1945), dem wurde von König Fuad mit dem ersten Preis aus- seinerzeit herausragendsten muslimischen Maqam- gezeichnet. Sänger, der von einem cha¯¯ lghılghı¯¯ begleitet wurde. Der Eines der Ziele des Kongresses war die Präsenta- Text des Lieds ist zwar Judäo-Arabisch (ÑArabisch), tion und Dokumentation der verschiedenen Musik- doch geschah es nicht selten, dass Juden berühmte richtungen aus mehreren arabischen Ländern, die in muslimische Sänger engagierten, um mit ihnen tra- Kairo zum ersten Mal miteinander verglichen wur- ditionelle jüdische Lieder in judäo-arabischer Sprache den. 360 der aufgeführten Stücke wurden aufgenom- aufzunehmen; offenbar zogen sie sie wegen ihrer men, um sie für die Nachwelt zu erhalten; der größte Stimmen und ihrer hohen Reputation in der iraki- Teil der Aufnahmen lagert heute in der Bibliothèque schen Gesellschaft den jüdischen Sängern vor. Rashid nationale de France in Paris. Folgenreich für die Mu- al-Qundarchi, der keine religiösen Vorbehalte hatte sikkultur der arabischen Welt war der Versuch, sich und das Judäo-Arabische beherrschte, wurde daher über zwei gegensätzliche Positionen zu verständigen: auch gern als Sänger zu privaten jüdischen Festen die Forderung nach Bewahrung alter arabischer Musik- eingeladen [8. 13]. traditionen gegenüber dem Wunsch der Neuorientie- In den 1940er Jahren galten die daqqa¯¯ qa¯¯ t infolgeinfolge rung an der Musik des Westens, die von Künstlern wie des zunehmenden Modernisierungstrends als pri- Umm Kulthum, Salima Murad oder den al-Kuwaity- mitiv und altmodisch. Die musikalischen Darbietun- Brüdern bereits vollzogen worden war. In der Diskus- gen für Hennafeste übernahmen nun niveauvollere sion überwogen die Kräfte, die eine Modernisierung Ensembles wie die cha¯¯ lghılghı¯¯ oder »moderne« Instru- forderten. So ebnete der Kongress der »modernen« mentalensembles mit einem Sänger, wenn sie nicht Musik in der arabischen Welt den Weg, während die sogar von den neuesten 78er-Platten mit lateiname- BagdadPflege der »alten« Musik zusehends zurückging. rikanischen Rhythmen ersetzt wurden. 34

2.6 Daqqaqa-Ensembles 3. Exodus

Eines der traditionellen jüdisch-irakischen Ensem- Mit der Massenemigration der irakischen Juden nach H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3d vom 6.5.2011 bles, die im Zuge der Modernisierung verdrängt wur-H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3dIsrael zu Beginn der 1950er Jahre verlor das Land vom 6.5.2011 Seite 238 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm de, war die daqqa¯¯ qah (Pl.(Pl. daqqa¯¯ qa¯¯ t),), eine eine Gruppe Gruppe von vonSeite 239nahezu – Seitenformat: all jene Musiker,185,00 x 265,00 die als mm Säulen der irakischen Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch vier oder fünf Frauen, die sangen und dazu verschie-EnzyklopädieMusiktraditionen jüdischer Geschichte galten. und Nur Kultur, wenige Umbruch wie Salima Mu- dene Trommeln spielten. Der Beruf der Daqqaqa-Mu- rad blieben und gingen weiter ihrem Beruf nach. Um sikerin wurde innerhalb der Familie weitergegeben. das Musikleben aufrechtzuerhalten, behalf man sich Obwohl es sich um Frauenensembles handelte, galten imim Irak Irak vorübergehend vorübergehend damit, damit, Musiker Musiker aus aus anderen anderen sie als ehrbar und wurden vom Rabbinat gebilligt, arabischen Ländern zu gewinnen. Zwei Musiker des Bagdad zumal es ältere (nicht mehr gebärfähige) Frauen238 wa- cha239¯¯ lghılghı¯¯ Baghda¯¯ d,, Salih Salih Shummel Shummel (Kamana-Josa) (Kamana-Josa) und und Bais Yaakov ren, die züchtig gekleidet auftraten und in der Regel Yusuf Patao (Santur), wurden mit ihren Familien wurde 1932 vom ägyptischen Kultusministerium der nur zu häuslichen Festlichkeiten mit weiblichem Pu- noch so lange in Bagdad festgehalten, bis sie ihre Die erste Schule von Bais Yaakov wurde im November internationale »Kongress für arabische Musik« in blikum musizierten. Die daqqa¯ qa¯ t werden vor allem Kunst zwei Muslime gelehrt hatten, Ibrahim Sha'ubi 1917 auf Initiative der Pädagogin Sarah Schenirer Kairo veranstaltet. Die Teilnehmenden waren Musi- mit der Hennazeremonie (leilt al-h. innı¯ ) am Abend vor und Hashim al-Rajab. Diese halfen, im Irak eine neue (1883–1935) in Krakau gegründet. In ihrer Privatwoh- ker, Komponisten und Musikwissenschaftler aus ara- der Hochzeit verbunden, traten aber auch bei anderen Tradition des al-maqa¯ m al-"Ira¯ qı¯ zu begründen. nung erteilte Schenirer zunächst 25 Mädchen aus bischen Ländern und der Türkei sowie – in geringer Ereignissen wie der Geburt eines Kindes oder der Die irakischen Musiker in Israel versuchten ver- chassidischen Familien im Anschluss an deren öffent- Zahl – Vertreter aus Europa. Zu den europäischen s.bah.ı¯ (der durchfeierten siebten Hochzeitsnacht) auf geblich, an ihren einstigen Ruhm anzuknüpfen. In lichen Schulbesuch Religionsunterricht. Die für die Gästen gehörten die Spezialisten für arabische Musik und spielten gelegentlich auch in muslimischen Häu- der neuen Gesellschaft, die das »klassische« Reper- Schule gewählte hebräische Namensgebung in jid- Rodolphe d'Erlanger (der die Veranstaltung mitorga- sern bei Frauenpartys vor einer Hochzeit oder zur toire Europas bevorzugte, wurde ihre Kunst kaum discher Aussprache leitet sich von dem in Jes 2,5 nisierte) und Henry George Farmer, die Musikwissen- Geburt eines Sohnes. geschätzt. Ezra Haron, ein Mitglied der Truppe, die und Ex 19,3 erwähnten bet Ya'akov (Haus Jakobs) ab. schaftler Erich Moritz von Hornbostel (ÑVerglei- Zu den bekanntesten daqqa¯ qa¯ t der 1920er und auf dem Kairoer Kongress den Irak vertreten hatte, In spätantiken und mittelalterlichen Bibelauslegun- chende Musikwissenschaft) und Robert Lachmann so- 1930er Jahre gehörten Mas'uda al-Bambayliyyi begründete das arabische Orchester von Kol Yisra'el, gen (ÑMidrasch) wurde diese Wendung als bat Ya'akov wie die Komponisten Béla Bartók und Paul Hinde- (Mas'uda aus Bombay) und Farha bit Shamma. In dem israelischen Rundfunk, in dem auch viele andere (Tochter Jakobs) gedeutet und mit der Verpflichtung mith. Das den Irak vertretende Musikensemble den 1930er Jahren entstanden kommerzielle Aufnah- irakische Musiker unterkamen, die meisten von ih- verbunden, auch Töchter in den religiösen Pflichten bestand aus dem Maqam-Sänger Muhammad al- men einiger Daqqaqa-Lieder, darunter Ya¯ da¯ r wya¯ da¯ r nen ehemalige Absolventen der Silas-Kadoorie-Blin- und den Grundlagen der Tora zu unterweisen. Viele Qubbanchi, einem Muslim, und einem cha¯ lghı¯ mit (Oh Haus!), gesungen von Mas'uda und ihrem Chor, denschule. Die al-Kuwaitys, die einst vor hohen spätere rabbinische Kommentatoren folgerten aus sechs jüdischen Instrumentalisten. Man spielte das und "Afa¯ kı¯ (Bravo!), das beliebteste Hennalied. Von Würdenträgern und in königlichen Palästen gespielt dieser klassischen Auslegung, dass Mädchen grund- angesehnste landestypische Genre, den al-maqa¯ m "Afa¯ kı¯ gibt es eine vielgerühmte Aufnahme, die jedoch hatten, musizierten nun auf Hochzeiten und ÑBar sätzlich zum Tora-Studium zuzulassen seien – eine al-"Ira¯ qı¯ , der damals wahrscheinlich zum ersten Mal nicht von einer Daqqaqa-Gruppe eingespielt wurde, Mizwas; später gaben sie wöchentlich Konzerte in Ansicht, die seitens der ÑOrthodoxie bis ins 20. Jahr- außerhalb des Irak zu hören war. Das Ensemble sondern von Rashid al-Qundarchi (gest. 1945), dem einer Sendung im arabischen Programm von Kol Yis- hundert weitgehend abgelehnt wurde. Mit ihrer Na- wurde von König Fuad mit dem ersten Preis aus- seinerzeit herausragendsten muslimischen Maqam- ra'el. Sie alle spielten nun für ein kleines Publikum menswahl unterstrich Schenirer somit den Anspruch, gezeichnet. Sänger, der von einem cha¯ lghı¯ begleitet wurde. Der ein Repertoire, das in der neuen Heimat als exotisch dass Mädchen und Frauen Zugang zum Tora-Stu- Eines der Ziele des Kongresses war die Präsenta- Text des Lieds ist zwar Judäo-Arabisch (ÑArabisch), galt. Im Irak hatten sie ein Millionenpublikum ge- dium haben sollten. Zugleich brachte sie zum Aus- tion und Dokumentation der verschiedenen Musik- doch geschah es nicht selten, dass Juden berühmte habt. druck, dass sie gründliche religiöse Unterweisung für richtungen aus mehreren arabischen Ländern, die in muslimische Sänger engagierten, um mit ihnen tra- Frauen als Voraussetzung für das Fortbestehen der [1] A. Z. Idelsohn, Hebräisch-orientalischer Melodienschatz, Kairo zum ersten Mal miteinander verglichen wur- ditionelle jüdische Lieder in judäo-arabischer Sprache Bd. 2: Gesänge der babylonischen Juden, Leipzig 1922. jüdischen Tradition im 20. Jahrhundert ansah. den. 360 der aufgeführten Stücke wurden aufgenom- aufzunehmen; offenbar zogen sie sie wegen ihrer [2] Y. Kojaman, The Maqam Music Tradition of Iraq, London Schenirer wurde 1883 in Krakau in einer Familie men, um sie für die Nachwelt zu erhalten; der größte Stimmen und ihrer hohen Reputation in der iraki- 2001 [inkl. 2 CDs]. [3] T. Morad u.a. (Hg.), Iraq's Last Jews. der Belzer-Dynastie geboren, eine der einflussreichs- Teil der Aufnahmen lagert heute in der Bibliothèque schen Gesellschaft den jüdischen Sängern vor. Rashid Stories of Daily Life, Upheaval, and Escape from Modern ten chassidischen Dynastien Galiziens (ÑChassidis- Babylon, New York 2008. [4] D. S. Sassoon, A History of the nationale de France in Paris. Folgenreich für die Mu- al-Qundarchi, der keine religiösen Vorbehalte hatte Jews in Baghdad, Letchworth 1949. [5] A. Shiloah, The Musi- mus). Bis zu ihrem 14. Lebensjahr besuchte sie eine sikkultur der arabischen Welt war der Versuch, sich und das Judäo-Arabische beherrschte, wurde daher cal Tradition of Iraqi Jews. Selection of Piyyutim and Songs, öffentliche Schule; gleichzeitig wurde sie zu Hause in über zwei gegensätzliche Positionen zu verständigen: auch gern als Sänger zu privaten jüdischen Festen Or Yehuda 1983. [6] R. Snir, »Religion Is for God, the Father- der Bibel unterrichtet und las verschiedene religiöse die Forderung nach Bewahrung alter arabischer Musik- eingeladen [8. 13]. land Is for Everyone«. Arab-Jewish Writers in Modern Iraq Moralwerke. Nach eigenen Angaben fühlte sie sich and the Clash of Narratives after Their Immigration to Israel, traditionen gegenüber dem Wunsch der Neuorientie- In den 1940er Jahren galten die daqqa¯ qa¯ t infolge schon in dieser Zeit zum Studium jüdischer Texte in: Journal of the American Oriental Society 126 (2006) 3, rung an der Musik des Westens, die von Künstlern wie des zunehmenden Modernisierungstrends als pri- 379–399. [7] N. A. Stillman, The Jews of Arab Lands. A His- hingezogen. Die finanzielle Notlage ihrer Familie Umm Kulthum, Salima Murad oder den al-Kuwaity- mitiv und altmodisch. Die musikalischen Darbietun- tory and Source Book, Philadelphia 1979. [8] E. Warkov, Re- zwang sie jedoch dazu, ihre Schulausbildung zu un- Brüdern bereits vollzogen worden war. In der Diskus- gen für Hennafeste übernahmen nun niveauvollere vitalization of Iraqi-Jewish Instrumental Traditions in Israel. terbrechen und den Beruf der Näherin zu erlernen. sion überwogen die Kräfte, die eine Modernisierung Ensembles wie die cha¯ lghı¯ oder »moderne« Instru- The Persistent Centrality of an Outsider Tradition, in: Asian Zur Gründung einer religiösen Mädchenschule Music 17 (1986) 2, 9–31. forderten. So ebnete der Kongress der »modernen« mentalensembles mit einem Sänger, wenn sie nicht wurde Schenirer in Wien inspiriert, wohin sie 1914, Musik in der arabischen Welt den Weg, während die sogar von den neuesten 78er-Platten mit lateiname- Sara Manasseh, London noch vor dem Ersten Weltkrieg, gelangt war. Dort Pflege der »alten« Musik zusehends zurückging. rikanischen Rhythmen ersetzt wurden. besuchte sie die Predigten und Vorträge des neo-or- thodoxen Rabbiners David Moritz Flesch (1879–1944) Bais Yaakov und entwickelte unter seinem Einfluss ihr Konzept 2.6 Daqqaqa-Ensembles 3. Exodus der religiösen Mädchenbildung. Anlass war ihre Be- Eines der traditionellen jüdisch-irakischen Ensem- Mit der Massenemigration der irakischen Juden nach Bais Yaakov (auch Beys Ya'akov, Beys Yankev oder Bet obachtung, dass viele junge Jüdinnen Krakaus sich bles, die im Zuge der Modernisierung verdrängt wur- Israel zu Beginn der 1950er Jahre verlor das Land Ya'akov) ist die Bezeichnung für ein Netzwerk ortho- von der religiösen Tradition entfernt hatten und de, war die daqqa¯ qah (Pl. daqqa¯ qa¯ t), eine Gruppe von nahezu all jene Musiker, die als Säulen der irakischen doxer Mädchenschulen, das in der Zwischenkriegszeit etwa das Gebot der ÑSchabbat-Ruhe nicht mehr ein- vier oder fünf Frauen, die sangen und dazu verschie- Musiktraditionen galten. Nur wenige wie Salima Mu- in Ostmitteleuropa wirkte. Die Bais-Yaakov-Schulen, hielten. Dieser Tendenz suchte sie durch die Vermitt- dene Trommeln spielten. Der Beruf der Daqqaqa-Mu- rad blieben und gingen weiter ihrem Beruf nach. Um die unter der Schirmherrschaft von Agudat Yisra'el, einer lung religiösen Wissens entgegenzuwirken. Gerade sikerin wurde innerhalb der Familie weitergegeben. das Musikleben aufrechtzuerhalten, behalf man sich politischen Sammlungsbewegung orthodoxer Juden, bei Mädchen erschien ihr dies sinnvoll, da diese dem Obwohl es sich um Frauenensembles handelte, galten im Irak vorübergehend damit, Musiker aus anderen standen, institutionalisierten die religiöse Mädchenbil- Einfluss der säkularen Gesellschaft noch nicht so sie als ehrbar und wurden vom Rabbinat gebilligt, arabischen Ländern zu gewinnen. Zwei Musiker des dung. Sie sind als Reaktion der Orthodoxie auf die sich stark ausgesetzt gewesen seien. zumal es ältere (nicht mehr gebärfähige) Frauen wa- cha¯ lghı¯ Baghda¯ d, Salih Shummel (Kamana-Josa) und modernisierende Gesellschaft in Ostmitteleuropa, ins- Von Schenirer angeregt, verbreitete sich die Bewe- ren, die züchtig gekleidet auftraten und in der Regel Yusuf Patao (Santur), wurden mit ihren Familien besondere in Polen, zu verstehen. gung der Bais-Yaakov-Schulen rasch. 1937 gab es in H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3d vom 6.5.2011 H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3d vom 6.5.2011 H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3dSeite 241 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm vom 6.5.2011 Seite 242 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm SeiteEnzyklopädie 241 – Seitenformat: jüdischer Geschichte 185,00 x 265,00und Kultur, mm Umbruch Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch

241 Balegule Balegule 242 241 Balegule kannte Rabbi Israel Me'ir ha-Kohen (genannt H. afez. [1] S. Schenirer, Em be-Yisra'el. Kitve Sarah Schenirer [Mutter dominierten sie auch das Fuhrwesen. Im Ansied- dabei auch ein Gegenbild zum schwachen, wehr- kannteH. ayim,Rabbi 1838–1933), Israel der Me'ir Leiter ha-Kohen der bedeutenden (genannt H. afez Je-. [1]Israels. S. Schenirer, Schriften Em von be-Yisra'el. S. Schenirer], Kitve Sarah 3 Bde., Schenirer Tel Aviv [Mutter 1955. lungsrayon gab es 1897 über 25000 jüdische Kut- losen Talmudstudenten dar. Der polnische National- [2] S. Schenirer, Gezamlte Shriftn, Lódz´ 1933. Hschiwa. ayim, in 1838–1933), Radin und der eine Leiter der einflussreichsten der bedeutenden reli- Je- Israels. Schriften von S. Schenirer],¡ 3 Bde., Tel Aviv 1955. scher; sie stellten damit ungefähr 20 Prozent der selb- dichter Adam Mickiewicz erinnert sich in seinen [2][3] G.S. Schenirer, Bacon, The Gezamlte Politics of Shriftn, Tradition. Lódz´ Agudat1933. Yisrael in Po- schiwagiösen Autoritäten in Radin und der eine osteuropäischen der einflussreichsten Juden, Sche- reli- ¡ ständigen Fuhrleute [8. 13]. Memoiren an Volkserzählungen, die ihm ein jüdi- [3]land, G. 1916–1939,Bacon, The Jerusalem Politics of 1996. Tradition. [4] P. AgudatBenisch, Yisrael Carry Mein Po- In giösennirers Schulen Autoritäten als derorthodoxe osteuropäischen Mädchenschulen Juden, Sche- offi- land,Your Heart. 1916–1939, TheLife Jerusalem and Legacy 1996. of [4] Sarah P. Benisch, Schenirer, Carry Founder Me In Die Beschäftigung als Fuhrmann wurde oft inner- scher Kutscher auf der Fahrt erzählte. Der Ethnologe nirersziell an. Schulen als orthodoxe Mädchenschulen offi- Yourand Visionary Heart. The of Lifethe Bais and YaakovLegacyof Movement, Sarah Schenirer, Jerusalem Founder 2003. halb der Familie weitergegeben. Einen Wandel erfuhr und Schriftsteller Stanisl¡aw Vincenz beschreibt den ziellDie an. systematische religiöse Ausbildung von jüdi- and[5] N. Visionary Loewenthal, of the »Daughter/Wife Bais Yaakov Movement, of Hasid« Jerusalem or »Hasidic 2003. der Sektor gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Balegule im östlichen Galizien als sprachgewandt Woman«?, in: 40 (2000), 21–28. schenDie Mädchen systematische und jungen religiöse Frauen Ausbildung in denvon Bais-Yaa- jüdi- [5] N. Loewenthal, »Daughter/Wife of Hasid« or »Hasidic Ausbau des Schienennetzes im Russischen Reich, das und die Fahrten mit ihm als zwar langsame, aber Woman«?,[6] R. Manekin, in: Mashehu Jewish h. adash Studies le-gamre. 40 (2000),Hitpath. uto 21–28. shel schenkov-Schulen Mädchen förderte und jungen ihre Teilnahme Frauen in am den religiösen Bais-Yaa- ra'ayon ha-hinnukh ha-dati le-banot ba-et ha-hadasha [Etwas eine zunehmende Konkurrenz zu den Fuhrgeschäf- günstigste Art des Reisens. Dem steht die Charakte- [6] R. Manekin,. Mashehu h. adash le-gamre. Hitpath. . uto shel kov-SchulenLeben und eine förderte eigenständige ihre Teilnahme Wahrnehmung am religiösen ihrer völlig Neues. Die Entwicklung der religiösen Erziehung für ten darstellte. Die Kutscher wichen auf abgelegene risierung des Fuhrmanns als grob, ungebildet und ra'ayon ha-h. innukh ha-dati le-banot ba-et ha-h. adasha [Etwas LebenReligiosität. und eine Das eigenständige angeeignete Wahrnehmung Wissen ermöglichte ihrer völligMädchen Neues. in derDie EntwicklungNeuzeit], in: der Masekhet religiösen 2(2004), Erziehung 63–85. für Strecken sowie den Transport von und zur ÑEisen- ignorant gegenüber, wie sie sich im 19. Jahrhundert Religiosität.den Absolventinnen Das angeeignete eine aktive Wissen und bewusste ermöglichte Mit- Mädchen[7] D. R. Weissmann, in der Neuzeit], Bais Ya'akov in: Masekhet as an Innovation 2 (2004), in63–85. Jewish bahn aus; innerhalb der Städte blieb ihre Bedeutung unter Juden und Nichtjuden mit der steigenden Zahl Women's Education. A Contribution to the Study of Educa- dengestaltung Absolventinnen ihres sozialen eine aktive Umfelds, und indem bewusste sie Mit- bei- [7] D. R. Weissmann, Bais Ya'akov as an Innovation in Jewish jedoch ungebrochen. Die Motorisierung des Straßen- jüdischer Kutscher durchzusetzen begann. Der Kut- Women'stion and SocialEducation. Change, A Contribution in: Studies tointhe Jewish Study Education of Educa- 7 gestaltungspielsweise ihresals Lehrerinnen sozialen Umfelds, an den Schulen indem der sie Pro- bei- verkehrs in der Zwischenkriegszeit führte letztlich scherberuf wurde nun vor allem als ungelernte Be- tion(1995), and 278–299. Social Change, in: Studies in Jewish Education 7 spielsweisevinzstädtetätig als Lehrerinnen wurden oder an den selbst Schulen neue der Schulen Pro- zum Niedergang des traditionellen jüdischen Fuhr- schäftigung angesehen. Bisweilen wurden den jüdi- (1995), 278–299. Agnieszka Oleszak, London vinzstädtegründeten. tätig Als Lehrerinnen wurden oder an selbst einer neue Bais-Yaakov- Schulen wesens. Auf kürzeren Strecken ersetzten nun auch schen Fuhrleuten ein Hang zur Trunkenheit und Agnieszka Oleszak, London gründeten.Schule hatten Als die Lehrerinnen jungen orthodoxen an einer Frauen Bais-Yaakov- einen 35 Fahrräder den Kutscher. Doch blieben Juden,Balegule vor al- Verbindungen zum organisierten Verbrechen nach- Schuleangesehenen hatten Beruf, die jungen der angesichts orthodoxen der Frauen für die einen pol- Balegule lem als Unternehmer, im sich modernisierenden ost- gesagt [5. 303f.]. angesehenennischen Juden Beruf, schwierigen der angesichts ökonomischen der für Lage die (Ñ pol-Na- Balegule europäischen Transportwesen präsent. Mit dem ÑHo- Der Balegule begegnet häufig in der jüdischen nischenlewki-Straße) Juden zugleich schwierigen die finanzielleökonomischen Situation Lage ( ihrerÑNa- Jiddische Bezeichnung (auch balagole, Pl. balegules) für locaust kam dieser Transformationsprozess zu einem ÑFolklore, in Sprichwörtern und Volksliedern. In der lewki-Straße)Familien verbesserte. zugleich die finanzielle Situation ihrer Jiddische»Fuhrmann«, Bezeichnung abgeleitet (auch von hebr.balagoleba'al, Pl. agalabalegules(Wagen-) für vorzeitigen Ende. Erzählung Der rov un der balegule (Der Rabbiner und FamilienDie Einrichtung verbesserte. der Bais-Yaakov-Schulen übte so- »Fuhrmann«,besitzer, Kutscher). abgeleitet Unter von Juden hebr. imba'al östlichen agala (Wagen- Europa Aufgrund seiner Prominenz im Transportwesen der Kutscher) tauschen ein ungebildeter Kutscher mitDie einen Einrichtung gewissen dermodernisierenden Bais-Yaakov-Schulen Effekt übte auf das so- besitzer,war der Kutscher).Beruf des UnterFuhrmanns, Juden imals östlichen Teil der Europasignifi- wurde der Balegule als Angehöriger einer eigenen und sein Fahrgast, ein Rabbiner, die Kleider. Von mitLeben einen der gewissen orthodoxen modernisierenden jüdischen Frauen Effekt aus. auf Einge- das warkanten der Präsenz Beruf des im Ñ Fuhrmanns,Transportwesen, als Teil weit der verbreitet. signifi- sozialen Gruppe wahrgenommen. Dazu trug auch einem später hinzugestiegenen Fahrgast nach der Er- Lebenbunden der in orthodoxen die orthodoxen jüdischen Überzeugungen Frauen aus. des Einge- ost- kantenHeute ist Präsenz der balegule im ÑTransportwesen,als literarische Figur weit verbreitet. jüdischen bei, dass jüdische Kutscher einen eigenen Soziolekt klärung einer Talmud-Passage gefragt, antwortet der bundeneuropäischen in die Judentums orthodoxen und Überzeugungen geleitet von ihrer des tiefen ost- HeuteLebens ist im derÑSchtetlbalegule bekannt.als literarische Figur jüdischen im Jiddischen verwendeten (balegule-loshn), der Wörter falsche Rabbiner, dass diese ja so einfach sei, dass sie europäischenReligiosität, beabsichtigte Judentums und Schenirer geleitet keineswegs, von ihrer tiefen die Lebens im ÑSchtetl bekannt. der Umgangssprache mit neuen, berufsspezifischen sogar der Balegule erläutern könne [10. 53]. Auch bei Religiosität,sozialen und beabsichtigte religiösen Geschlechterrollen Schenirer keineswegs, (ÑMeh. iz die.a) Bereits in der polnisch-litauischen Adelsrepublik Bedeutungen versah. Dazu zählten Wörter für Pferde modernen Autoren tritt der literarische Typus des sozialenzu verändern, und religiösen sondern Geschlechterrollen orthodoxen Mädchen (ÑMeh. undiz.a) Bereits(1569–1791) in übtender polnisch-litauischen Juden den Beruf des Adelsrepublik Fuhrmanns (odler, wörtl.: Adler; khaye, wörtl.: Tier oder neveyle, Kutschers in Erscheinung, so in Scholem Alejchems zujungen verändern, Frauen sondern religiöses orthodoxen Wissen und Mädchen moralische und (1569–1791)oder Kutschers, übten der Juden Reisende, den Beruf Kaufleute des Fuhrmanns und deren wörtl.: Kadaver, was ein faules Tier beschrieb); Stuten Erzählungen Der farkishefter shnayder (dt. Der behexte jungenWerte wie Frauen Frömmigkeit religiöses und Wissen Züchtigkeit und moralischezu vermit- oderWaren Kutschers, sowie Post der transportierte, Reisende, Kaufleute aus. Im Königreichund deren wurden Mutter (mame) oder Schwester (shvester) ge- Schneider, 1900) und Der gliklekhster in Kodne (dt.: Der Werteteln. Das wie damit Frömmigkeit verbundene und FrauenbildZüchtigkeit verkörperte zu vermit- WarenPolen waren sowie Postin der transportierte, zweiten Hälfte aus. des Im 18. Königreich Jahrhun- nannt. Der Balegule brachte auch Neuschöpfungen glücklichste Mann in Kodno, 1909), aber auch in ei- teln.Schenirer Das selbst, damit die verbundene nach ihrem Frauenbild Tod in der orthodoxenverkörperte Polenderts zwei waren bis in vier der Prozent zweiten der Hälfte jüdischen des Bevölkerung 18. Jahrhun- hervor. Der Fuhrmann selbst wurde durch eine Reihe nem Artikel Israel Joshua Singers, den er 1928 im SchenirerHistoriographie selbst, die als nach eine ihrem charismatische Tod in der orthodoxen Figur dar- dertsim Transportwesen, zwei bis vier Prozent das auch der jüdischen Träger, WasserträgerBevölkerung von Wörtern (ferdman, furer, furman) bezeichnet, wäh- amerikanischen ÑForverts veröffentlichte [4]. Mit der Historiographiegestellt wurde und als als eine Symbol charismatische weiblicher Frömmigkeit Figur dar- imund Transportwesen, Bierkutscher einschloss, das auch Träger, beschäftigt Wasserträger [7. 114f.]. rend Fuchsland (fuksland) eine Wortprägung für einen Migration osteuropäischer Juden in die Vereinigten gestelltgalt. In dieserwurde Weise und als wurde Symbol auch weiblicher von den FrömmigkeitSchülerinnen undDurch Bierkutscher ihre Präsenz einschloss, im regionalen beschäftigt Handel und [7. 114f.]. Fern- weit entfernten Ort war. Ebenso dürften Redewen- Staaten lebte die Figur des Balegule (nicht jedoch der galt.die Achtung In dieser Weise der Tradition wurde auch erwartet, von den Schülerinnen während sie Durchhandel ihre verfügten Präsenz Juden im regionalen oft über gute Handel Kenntnisse und Fern- der dungen wie »Wenn man schmiert, dann fährt man« Berufszweig) in der Literatur, im Theater und in Lie- diegleichzeitig Achtung vor der den Tradition Gefahren, erwartet, die die während Abweichung sie handelTransportwege. verfügten Jüdische Juden oft Fuhrleute über gute galten Kenntnisse als derart der (Az me shmirt fort men) dieser Umgangssprache ent- dern auch im amerikanisch-jüdischen Kontext fort, so gleichzeitigvon jüdischen vor Geboten den Gefahren, mit sich die brächten, die Abweichung gewarnt Transportwege.schnell und zuverlässig, Jüdische dass Fuhrleute die preußischen galten als Behör- derart stammen [9. 242]. Außerdem unterhielten Fuhrleute z.B. bei Abraham Cahan, der in seiner 1892 entstan- vonwurden. jüdischen Die Orthodoxie Geboten mitbetrachtete sich brächten, Bais Yaakov gewarnt des- schnellden nach und der zuverlässig, zweiten dassTeilung die preußischen Polens 1793 Behör- Über- oft gesonderte heilige Gesellschaften (h. evrot, ÑH. evra denen Erzählung Mottke Arbel un zayn shidekh (Mottke wurden.halb auch Die nicht Orthodoxie als eine Bedrohung, betrachtete sondern Bais Yaakov verstand des- denlegungen nach anstellten,der zweiten Juden Teilung in Süd-Polens und 1793 Neuost- Über- Kaddisha) und ÑSynagogen. Arbel und seine Heirat, engl. A Providential Match, halbdie Idee auch Schenirers nicht als eine eher Bedrohung, als eine notwendige,sondern verstand den legungenpreußen zur anstellten, Übernahme Juden des staatlichen in Süd- und Fuhrwesens Neuost- In der jüdischen ÑLiteratur, aber auch in Werken 1895) einen jüdischen Kutscher als ungebildete, grobe dieErfordernissen Idee Schenirers der Zeit eher geschuldete als eine notwendige, Erweiterung den der preußenheranzuziehen zur Übernahme und sie im des preußischen staatlichen Heer Fuhrwesens als Ka- nichtjüdischer osteuropäischer Autoren ist der Ba- Person von niedriger sozialer Herkunft beschreibt. ErfordernissenTradition. Weniger der Zeit orthodox geschuldete ausgerichtete Erweiterung Aufkläre- der heranzuziehenvalleristen und und Fahrer sie im einzusetzen preußischen [6. 65; Heer 49f.]. als Ka- Im legule eine häufig präsente Figur. Simon Dubnow [1] S. Aleichem, Der gliklekhster in Kodne, in: Ale Verk fun Tradition.rinnen der Weniger Zeit kritisierten orthodox die ausgerichtete Schulen hingegenH:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3d Aufkläre- als valleristen19. Jahrhundert und wuchs Fahrer der einzusetzen Berufszweig [6. 65; im vom 49f.]. Zuge 6.5.2011 der Im erwähnt in seinen Memoiren häufig Fahrten mit Sholem-Aleichem, Bd. 26: Ayzenbahn-Geshikhtes, New York rinnenRückschritt der Zeit hinsichtlich kritisierten der die Bestrebungen Schulen hingegenSeite um 242 – die als Seitenformat:19.Urbanisierung Jahrhundert 185,00 x 265,00 schnell wuchs mman, der da Berufszweig er ungelernten im Zuge Kräften der einem Balegule. Auch viele andere zeitgenössische 1937, 23–38. [2] S. Aleichem, Der behexte Schneider, Berlin EnzyklopädieEnzyklopädie jüdischer jüdischer Geschichte Geschichte und und Kultur, Kultur, Umbruch Umbruch RückschrittGleichberechtigung hinsichtlich jüdischer der Frauen. Bestrebungen um die UrbanisierungArbeit bot. Viele schnell Fuhrleute an, da in dener ungelernten großen Städten Kräften des Beschreibungen und Erinnerungen thematisieren 1969. [3] A. Cahan, A Providential Match, in: A. Cahan, The GleichberechtigungNach dem Zweiten jüdischer Weltkrieg Frauen. wurde die Tradition ArbeitÑAnsiedlungsrayons bot. Viele Fuhrleute (z.B. Grodno, in den großen Wilna, Städten Mogiljow), des die starke Präsenz von Juden im Fuhrwesen, wobei Imported Bridegroom, and other Stories of the New York derNach Bais-Yaakov-Schulen dem Zweiten Weltkrieg vor allem wurde in dieIsrael, Tradition Nord- ÑdesAnsiedlungsrayons Königreichs Polen (z.B. (z.B. Grodno, Warschau) Wilna, und Mogiljow), in Gali- sowohl positive wie negative Stereotypen herangezo- Ghetto, Boston/New York 1898. [4] G. Kuper [I. J. Singer], deramerika Bais-Yaakov-Schulen und Großbritannien vor fortgeführt. allem in Israel, In den Nord- Zen- deszien Königreichs waren Juden; Polen in (z.B.ÑBudapest Warschau) stellten und in sie Gali- im gen werden. Die romantisierende Beschreibung des Der balegule un di boyd punkt wi mit hunderte johren zurik [Der Balegule und der Wagen genau wie vor 100 Jahren], in: amerikatren orthodoxen und Großbritannien jüdischen Lebens fortgeführt. erfreuen In den sich Zen- die zien19. Jahrhundert waren Juden; einen in GroßteilÑBudapest der Kutscher. stellten In sie vielen im großen, kräftigen, mit hohen Stiefeln, Pelzhut und Forverts, 24. Juni 1928. trenreligiösen orthodoxen Mädchenschulen jüdischen Lebens nach Schenirers erfreuen sich Vorbild die 19.Balegulekleineren Jahrhundert Städten einen und Großteil Schtetlech der (Ñ Kutscher.Schtetl),in In denenvielen Peitsche ausgestatteten jüdischen Fuhrmanns,242 der [5] Y. Eliach, There Once Was A World. A Nine-Hundred- religiösenbis heute ungebrochener Mädchenschulen Beliebtheit. nach Schenirers Vorbild kleinerenJuden die Städten Mehrheit und der Schtetlech Bevölkerung (ÑSchtetl), ausmachten, in denen keine physische Auseinandersetzung scheut, stellt Year Chronicle of the Shtetl of Eishyshok, Boston 1998. bis heute ungebrochener Beliebtheit. Judendominierten die Mehrheit sie auch der das Bevölkerung Fuhrwesen. ausmachten, Im Ansied- dabei auch ein Gegenbild zum schwachen, wehr- lungsrayonlungsrayon gab gab es es 1897 1897 über über 25000 25000 jüdische jüdische Kut- Kut- losenlosen Talmudstudenten Talmudstudenten dar. dar. Der Der polnische polnische National- National- scher;scher; sie sie stellten stellten damit damit ungefähr ungefähr 20 20 Prozent Prozent der der selb- selb- dichter Adam Mickiewicz erinnert sich in seinen ständigenständigen Fuhrleute Fuhrleute [8. [8. 13]. 13]. Memoiren an Volkserzählungen, die ihm ein jüdi- Die Beschäftigung als Fuhrmann wurde oft inner- scherscher Kutscher Kutscher auf auf der der Fahrt Fahrt erzählte. erzählte. Der Der Ethnologe Ethnologe halb der Familie weitergegeben. Einen Wandel erfuhr und Schriftsteller Stanisl¡¡aw Vincenz beschreibt den der Sektor gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Balegule im östlichen Galizien als sprachgewandt Ausbau des Schienennetzes im Russischen Reich, das und die Fahrten mit ihm als zwar langsame, aber eineeine zunehmende zunehmende Konkurrenz Konkurrenz zu zu den den Fuhrgeschäf- Fuhrgeschäf- günstigste Art des Reisens. Dem steht die Charakte- tenten darstellte. darstellte. Die Die Kutscher Kutscher wichen wichen auf auf abgelegene abgelegene risierungrisierung des des Fuhrmanns Fuhrmanns als als grob, grob, ungebildet ungebildet und und Strecken sowie den Transport von und zur ÑÑEisen- ignorantignorant gegenüber, gegenüber, wie wie sie sie sich sich im im 19. 19. Jahrhundert Jahrhundert bahn aus; innerhalb der Städte blieb ihre Bedeutung unter Juden und Nichtjuden mit der steigenden Zahl jedochjedoch ungebrochen. ungebrochen. Die Die Motorisierung Motorisierung des des Straßen- Straßen- jüdischerjüdischer Kutscher Kutscher durchzusetzen durchzusetzen begann. begann. Der Der Kut- Kut- verkehrs in der Zwischenkriegszeit führte letztlich scherberufscherberuf wurde wurde nun nun vor vor allem allem als als ungelernte ungelernte Be- Be- zum Niedergang des traditionellen jüdischen Fuhr- schäftigungschäftigung angesehen. angesehen. Bisweilen Bisweilen wurden wurden den den jüdi- jüdi- wesens. Auf kürzeren Strecken ersetzten nun auch schenschen Fuhrleuten Fuhrleuten ein ein Hang Hang zur zur Trunkenheit Trunkenheit und und Fahrräder den Kutscher. Doch blieben Juden, vor al- Verbindungen zum organisierten Verbrechen nach- lemlem als als Unternehmer, Unternehmer, im im sich sich modernisierenden modernisierenden ost- ost- gesagt [5. 303f.]. europäischeneuropäischen Transportwesen Transportwesen präsent. präsent. Mit Mit dem dem ÑÑHo- Der Balegule begegnet häufig in der jüdischen locaustlocaust kam kam dieser dieser Transformationsprozess Transformationsprozess zu zu einem einem ÑÑFolklore, in Sprichwörtern und Volksliedern. In der vorzeitigen Ende. Erzählung Der rov un der balegule (Der(Der Rabbiner Rabbiner und und Aufgrund seiner Prominenz im Transportwesen der Kutscher) tauschen ein ungebildeter Kutscher wurde der Balegule als Angehöriger einer eigenen und sein Fahrgast, ein Rabbiner, die Kleider. Von sozialensozialen Gruppe Gruppe wahrgenommen. wahrgenommen. Dazu Dazu trug trug auch auch einemeinem später später hinzugestiegenen hinzugestiegenen Fahrgast Fahrgast nach nach der der Er- Er- bei, dass jüdische Kutscher einen eigenen Soziolekt klärung einer Talmud-Passage gefragt, antwortet der imim Jiddischen Jiddischen verwendeten verwendeten ( (balegule-loshnbalegule-loshn),), der der Wörter Wörter falschefalsche Rabbiner, Rabbiner, dass dass diese diese ja ja so so einfach einfach sei, sei, dass dass sie sie der Umgangssprache mit neuen, berufsspezifischen sogarsogar der der Balegule Balegule erläutern erläutern könne könne [10. [10. 53]. 53]. Auch Auch bei bei Bedeutungen versah. Dazu zählten Wörter für Pferde modernen Autoren tritt der literarische Typus des ((odlerodler,, wörtl.: wörtl.: Adler; Adler; khaye,, wörtl.: wörtl.: Tier Tier oder oder neveyle,, Kutschers in Erscheinung, so in Scholem Alejchems wörtl.: Kadaver, was ein faules Tier beschrieb); Stuten Erzählungen Der farkishefter shnayder (dt.(dt. Der behexte wurden Mutter (mame)) oder oder Schwester Schwester ( (shvestershvester)) ge- ge- SchneiderSchneider,, 1900) 1900) und und Der gliklekhster in Kodne (dt.:(dt.: Der Der nannt. Der Balegule brachte auch Neuschöpfungen glücklichste Mann in Kodno, 1909), aber auch in ei- hervor. Der Fuhrmann selbst wurde durch eine Reihe nem Artikel Israel Joshua Singers, den er 1928 im von Wörtern (ferdman,ferdman, furer, furer, furman furman)) bezeichnet, bezeichnet, wäh- wäh- amerikanischen ÑÑForverts veröffentlichte [4]. Mit der rendrend Fuchsland Fuchsland ( (fukslandfuksland)) eine eine Wortprägung Wortprägung für für einen einen Migration osteuropäischer Juden in die Vereinigten weit entfernten Ort war. Ebenso dürften Redewen- Staaten lebte die Figur des Balegule (nicht jedoch der dungen wie »Wenn man schmiert, dann fährt man« Berufszweig) in der Literatur, im Theater und in Lie- ((Az me shmirt fort men)) dieser dieser Umgangssprache Umgangssprache ent- ent- dern auch im amerikanisch-jüdischen Kontext fort, so stammenstammen [9. [9. 242]. 242]. Außerdem Außerdem unterhielten unterhielten Fuhrleute Fuhrleute z.B. bei Abraham Cahan, der in seiner 1892 entstan- oft gesonderte heilige Gesellschaften (h..evrotevrot,, ÑÑH.. evraevra denen Erzählung Mottke Arbel un zayn shidekh (Mottke(Mottke Kaddisha) und ÑÑSynagogen. Arbel und seine Heirat, engl. A Providential Match,, InIn der der jüdischen jüdischen ÑÑLiteratur, aber auch in Werken 1895)1895) einen einen jüdischen jüdischen Kutscher Kutscher als als ungebildete, ungebildete, grobe grobe nichtjüdischer osteuropäischer Autoren ist der Ba- Person von niedriger sozialer Herkunft beschreibt. legulelegule eine eine häufig häufig präsente präsente Figur. Figur. Simon Simon Dubnow Dubnow erwähnterwähnt in in seinen seinen Memoiren Memoiren häufig häufig Fahrten Fahrten mit mit [1][1] S. S. Aleichem, Aleichem, Der Der gliklekhster gliklekhster in in Kodne, Kodne, in: in: Ale Ale Verk Verk fun fun Sholem-Aleichem,Sholem-Aleichem, Bd. Bd. 26: 26: Ayzenbahn-Geshikhtes, Ayzenbahn-Geshikhtes, New New York York einemeinem Balegule. Balegule. Auch Auch viele viele andere andere zeitgenössische zeitgenössische 1937,1937, 23–38. 23–38. [2] [2] S. S. Aleichem, Aleichem, Der Der behexte behexte Schneider, Schneider, Berlin Berlin Beschreibungen und Erinnerungen thematisieren 1969.1969. [3] [3] A. A. Cahan, Cahan, A A Providential Providential Match, Match, in: in: A. A. Cahan, Cahan, The The die starke Präsenz von Juden im Fuhrwesen, wobei ImportedImported Bridegroom, Bridegroom, and and other other Stories Stories of of the the New New York York sowohlsowohl positive positive wie wie negative negative Stereotypen Stereotypen herangezo- herangezo- Ghetto, Boston/New York 1898. [4] G. Kuper [I. J. Singer], gen werden. Die romantisierende Beschreibung des Der balegule un di boyd punkt wi mit hunderte johren zurik [Der[Der Balegule Balegule und und der der Wagen Wagen genau genau wie wie vor vor 100 100 Jahren], Jahren], in: in: großen, kräftigen, mit hohen Stiefeln, Pelzhut und Forverts, 24. Juni 1928. Peitsche ausgestatteten jüdischen Fuhrmanns, der [5][5] Y. Y. Eliach, Eliach, There There Once Once Was Was A A World. World. A A Nine-Hundred- Nine-Hundred- keine physische Auseinandersetzung scheut, stellt Year Chronicle of the Shtetl of Eishyshok, Boston 1998. H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3d vom 6.5.2011 Seite 242 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch

Balegule 242 dominierten sie auch das Fuhrwesen. Im Ansied- dabei auch ein Gegenbild zum schwachen, wehr- lungsrayon gab es 1897 über 25000 jüdische Kut- losen Talmudstudenten dar. Der polnische National- scher; sie stellten damit ungefähr 20 Prozent der selb- dichter Adam Mickiewicz erinnert sich in seinen ständigen Fuhrleute [8. 13]. Memoiren an Volkserzählungen, die ihm ein jüdi- Die Beschäftigung als Fuhrmann wurde oft inner- scher Kutscher auf der Fahrt erzählte. Der Ethnologe halb der Familie weitergegeben. Einen Wandel erfuhr und Schriftsteller Stanisl¡aw Vincenz beschreibt den der Sektor gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Balegule im östlichen Galizien als sprachgewandt Ausbau des Schienennetzes im Russischen Reich, das und die Fahrten mit ihm als zwar langsame, aber eine zunehmende Konkurrenz zu den Fuhrgeschäf- günstigste Art des Reisens. Dem steht die Charakte- ten darstellte. Die Kutscher wichen aufH:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3d abgelegene risierung des Fuhrmanns als grob, ungebildet vom 6.5.2011 und Strecken sowie den Transport von undSeite zur Ñ 332Eisen- – Seitenformat:ignorant 185,00 gegenüber, x 265,00 mm wie sie sich im 19. Jahrhundert bahn aus; innerhalb der Städte blieb ihreEnzyklopädie Bedeutung jüdischerunter Geschichte Juden und und Nichtjuden Kultur, Umbruch mit der steigenden Zahl jedoch ungebrochen. Die Motorisierung des Straßen- jüdischer Kutscher durchzusetzen begann. Der Kut- verkehrs in der Zwischenkriegszeit führte letztlich scherberuf wurde nun vor allem als ungelernte Be- zum Niedergang des traditionellen jüdischen Fuhr- schäftigung angesehen. Bisweilen wurden den jüdi- wesens. Auf kürzeren Strecken ersetzten nun auch schen Fuhrleuten ein Hang zur Trunkenheit und Fahrräder den Kutscher. Doch blieben Juden, vor al- BiedermeierVerbindungen zum organisierten Verbrechen nach- 33236 lem als Unternehmer, im sich modernisierenden ost- gesagt [5. 303f.]. europäischen Transportwesen präsent. Mit dem ÑHo- seeligenDer HerrnBalegule Moses begegnet Mendelssohn, häufig Berlin in 1926 der [Nachdruck jüdischen Biedermeier locaust kam dieser Transformationsprozess zu einem Ñd.Folklore, Ausg. Berlin in Sprichwörtern 1786]. [3] Jüdische und Lesehalle Volksliedern. und Bibliothek In der Berlin (Hg.), Rückblick auf das erste Jahrzehnt der Lesehalle vorzeitigen Ende. Erzählung Der rov un der balegule (Der Rabbiner und 1895–1905, Berlin 1905. [4] Jüdische Lesehalle und Bibliothek Die Epoche des Biedermeier (1815–1848/1849) fiel mit Aufgrund seiner Prominenz im Transportwesen derBerlin Kutscher) (Hg.), Bericht tauschen für das Jahr ein 1910, ungebildeter Berlin 1910. [5]Kutscher I. Elbo- dem Entstehen eines jüdischen Bürgertums im wurde der Balegule als Angehöriger einer eigenen undgen, Die sein Hochschule, Fahrgast, ihre ein Entstehung Rabbiner, und die Entwicklung, Kleider. Von in: deutschsprachigen Raum zusammen, dessen neues sozialen Gruppe wahrgenommen. Dazu trug auch einemLehranstalt später für hinzugestiegenen die Wissenschaft des Fahrgast Judentums nach (Hg.), der Fest- Er- Selbstverständnis sich auch in der bildenden Kunst schrift zur Einweihung des eigenen Heims, Berlin am 22. bei, dass jüdische Kutscher einen eigenen Soziolekt klärung einer Talmud-Passage gefragt, antwortet der artikulierte. Zu den bekanntesten jüdischen Malern Oktober 1907, Berlin 1902, 1–98. [6] G. Herlitz, Jüdische Ge- im Jiddischen verwendeten (balegule-loshn), der Wörter falschemeindebibliotheken, Rabbiner, dass in: Der diese Orden ja so Bne einfach Briss, Mitteilungensei, dass sie dieser Zeit zählt Moritz Daniel Oppenheim (1800– der Umgangssprache mit neuen, berufsspezifischen sogarder Großloge der Balegule für Deutschland erläutern VIII könne U. O. [10. B. B., 53]. Berlin Auch 1928, bei 1882). In seinem Werk spiegeln sich die Heraus- Bedeutungen versah. Dazu zählten Wörter für Pferde modernen170–173. [7] G. Autoren Herlitz, tritt Jüdische der Privatbibliotheken, literarische Typus in:des Der forderungen, denen sich die jüdische Gemeinschaft (odler, wörtl.: Adler; khaye, wörtl.: Tier oder neveyle, KutschersOrden Bne Briss, in Erscheinung, Mitteilungen der so Großlogein Scholem für Deutschland Alejchems seit Beginn des 19. Jahrhunderts ausgesetzt sah, wo- VIII U. O. B. B., Berlin 1929, 181–184. [8] H. Loewe, Jüdi- wörtl.: Kadaver, was ein faules Tier beschrieb); Stuten Erzählungen Der farkishefter shnayder (dt. Der behexte bei ihm das Biedermeier mit seiner bevorzugten Dar- sches Bibliothekswesen im Lande Israel, Jerusalem 1922. wurden Mutter (mame) oder Schwester (shvester) ge- Schneider[9] Soncino-Blätter., 1900) und BeiträgeDer gliklekhster zur Kunde in des Kodne jüdischen(dt.: Der Bu- stellung der häuslichen Idylle im bürgerlichen Milieu nannt. Der Balegule brachte auch Neuschöpfungen glücklichsteches, hg. v. der Mann Soncino-Gesellschaft in Kodno, 1909), der aberFreunde auch des in jüdi- ei- Gelegenheit zum künstlerischen Ausdruck bot. hervor. Der Fuhrmann selbst wurde durch eine Reihe nemschen Artikel Buches, Israel Bd. 1:Joshua Berlin 1925 Singers, /26, Bd. den 2:er Berlin 1928 1927, im von Wörtern (ferdman, furer, furman) bezeichnet, wäh- amerikanischenBd. 3: Berlin 1929/30.ÑForverts veröffentlichte [4]. Mit der Der für die Kunst und Literatur des Biedermeier ty- [10] Art. »Bibliotheken«, in: Encyclopaedia Judaica, Bd. 4, rend Fuchsland (fuksland) eine Wortprägung für einen Migration osteuropäischer Juden in die Vereinigten pische Rückzug ins Private und Häusliche entsprach Berlin 1929, 770–775. [11] V. Dahm, Das jüdische Buch im weit entfernten Ort war. Ebenso dürften Redewen- StaatenDritten Reich, lebteMünchen die Figur21993. des Balegule [12] P. Friedman, (nicht jedoch The Fate der of dem politischen Klima, das seit dem ÑWiener Kon- dungen wie »Wenn man schmiert, dann fährt man« Berufszweig)the Jewish Book in during der Literatur, the Nazi im Era, Theater in: Essays und on in Jewish Lie- gress 1815 im Zeichen der Restauration der vornapo- (Az me shmirt fort men) dieser Umgangssprache ent- dernBooklore. auch Articles im amerikanisch-jüdischen from the Jewish Book Annual, Kontext selected fort, soby leonischen Ordnung stand. In dieser Zeit entwickelte stammen [9. 242]. Außerdem unterhielten Fuhrleute z.B.P. Goodman, bei Abraham New York Cahan, 1972, der 112–122. in seiner [13] F. 1892 J. Hoogewoud, entstan- sich ein aufstrebendes, ökonomisch erfolgreiches The Nazi Looting of Books and its American ›Antithesis‹. oft gesonderte heilige Gesellschaften (hevrot, ÑHevra denen Erzählung Mottke Arbel un zayn shidekh (Mottke . . Selected Pictures from the Offenbach Archival Depot's Photo- ÑBürgertum, in dem Juden überproportional zu ih- Kaddisha) und ÑSynagogen. Arbelgrahic History und seine and its Heirat, Supplement, engl. in:A StudiaProvidential Rosenthaliana Match, rem Anteil an der Gesamtbevölkerung vertreten wa- In der jüdischen ÑLiteratur, aber auch in Werken 1895)26 (1992), einen 158–192. jüdischen [14] M. Kutscher Kirchhoff, als Häuser ungebildete, des Buches. grobe Bil- ren. Das neue jüdische Selbstbewusstsein fand seine nichtjüdischer osteuropäischer Autoren ist der Ba- Personder jüdischer von niedriger Bibliotheken, sozialer Leipzig Herkunft 2002. [15] beschreibt. M. Kirchhoff, Visualisierung in der bildenden Kunst der Epoche: Das Gedächtnis der »lost books«. Zu Raub und Restitution legule eine häufig präsente Figur. Simon Dubnow Die typischen Alltagsdarstellungen des Biedermeier [1]jüdischer S. Aleichem, Bücher Der und gliklekhster Bibliotheken, in Kodne, in: Koordinierungsstelle in: Ale Verk fun erwähnt in seinen Memoiren häufig Fahrten mitH:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3d vom 6.5.2011– zumeist Porträts und Genrebilder, in denen Szenen Sholem-Aleichem,für Kulturgutverluste Bd. 26: (Hg.), Ayzenbahn-Geshikhtes, Entehrt. Ausgeplündert. New York Ari- einem Balegule. Auch viele andere zeitgenössischeSeite 243 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm aus dem täglichen Leben mit moralischen Botschaften 1937,siert. 23–38.Entrechtung [2] S. Aleichem, und Enteignung Der behexte der Juden, Schneider, Magdeburg Berlin Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch Beschreibungen und Erinnerungen thematisieren 1969.2005, [3] 41–66. A. Cahan, [16] K.-D. A Providential Lehmann, EsMatch, war in:der A. Versuch, Cahan,eine The zu Sittenbildern überhöht werden – brachten auch die starke Präsenz von Juden im Fuhrwesen, wobei Importedganze Kultur Bridegroom, zu beschlagnahmen. and other Stories Beuteschriften: of the New Zur York Dis- die jüdische Innensicht vor dem Hintergrund der kussion um Bücher aus jüdischem Eigentum in deutschen sowohl positive wie negative Stereotypen herangezo- Ghetto, Boston/New York 1898. [4] G. Kuper [I. J. Singer], neu erworbenen bürgerlichen Zugehörigkeit zum Bibliotheken, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. April gen werden. Die romantisierende Beschreibung des Der balegule un di boyd punkt wi mit hunderte johren zurik Ausdruck. [Der2003. Balegule [17] D. Miron, und der A Wagen Traveler genau Disguised. wie vor 100 The Jahren], Rise in: of großen, kräftigen, mit hohen Stiefeln, Pelzhut und Forverts,ModernYiddish 24. Juni 1928.Fiction in the Nineteenth Century, New Seit dem 17. Jahrhundert begannen in den Gesell- Peitsche ausgestatteten jüdischen Fuhrmanns, der [5]243York Y. Eliach,1996. [18] There G. Pickhan, Once Was »Gegen A World. den Strom«. A Nine-Hundred- Der Allge- schaften Europas, die Juden größereBalfour-Deklaration Freiheiten ein- keine physische Auseinandersetzung scheut, stellt Yearmeine Chronicle Jüdische ofArbeiterbund the Shtetl »Bund« of Eishyshok, in Polen Boston 1918–1939, 1998. räumten, auch jüdische Künstler sich zu entfalten. In Stuttgart/München 2001. [19] N. H. Roemer, Jewish Scholar- [6] J. Jacobson, Die Stellung der Juden in den 1793 und 1795 tenAmsterdam Bemühungen wirkte einsetzen, in der ersten um das Hälfte Erreichen des 17. dieses Jahr- ship and Culture in Nineteenth-Century Germany. Between von Preußen erworbenen polnischen Provinzen zur Zeit der Zielshunderts zu fördern« Salom Italia, [1. 143]. der für seine Gravuren be- Besitznahme,History and Faith, in: Monatsschrift Madison 2005. für Geschichte [20] D. Schidorsky, und Wissen- Das schaftSchicksal des Judentums jüdischer Bibliotheken 64/65 (1920/21), im 64: Dritten 209–226, Reich, 283–304; in: kanntDie war; Deklaration in England vermied machte Festlegungen, sich zu Beginn die über des 65:P. Vodosek/M. 42–70, 151–163, Komorowski 221–245. [7] (Hg.), R. Mahler, Bibliotheken Yidn in während amolikn diese18. Jahrhunderts Zusage hinausgingen. die Miniaturenmalerin Zwar war Großbritan- Catherine Poylndes Nationalsozialismus, in likht fun tsifern. Di Teil demografishe 2, Wiesbaden un 1992, sotsial-ekono- 189–222. nienda Costa zu dieser einen Zeit Namen. im Begriff, Angesehene Palästina Maler zu im erobern, deut- [21] D. Schidorsky, The Emergence of Jewish Public Libraries mishe struktur fun yidn in Kroyn-Poyln in xviii yorhundert vermochteschen Sprachgebiet aber nicht waren legitimerweise seit der Mitte Ansprüche des 18. Jahr- auf [Diein Nineteenth-Century Juden im früheren Palestine, Polen im in: Licht Libri der 32 (1982), Zahlen. 1–40. Die dieseshunderts Gebiet Leo Pinhas, zu erheben. Hofmaler In Erwartung des Markgrafen möglicher von demographische[22] D. Schidorsky, und The Origins sozial-ökonomische of Jewish Workers' Struktur Libraries der Judenin Palestine, in Kronpolen 1880–1920, im in: 18. Libraries Jahrhundert], & Culture Warschau 23 (1988), 1958. 39– VerstimmungenAnsbach, Leos Sohn unter Salomo, den Alliierten der den traf preußischendie britische [8]60. R. [23] Mahler, D. Shavit, Yehude The Polin Emergence ben shte of Jewish milkhamot Public olam. Libraries His- RegierungKönig und in dessen ihrer ErklärungFamilie porträtierte, keine Aussage oder über Alexan- eine in Tsarist Russia, in: Journal of Library History 20 (1985), torya kalkalit-sotsialit le-or statistika [Die polnischen Juden zukünftigeder Fiorino, derHerrschaft als Hofmaler über in Palästina. Dresden tätig Vielmehr war. 239–252. [24] D. Shavit, Hunger for the Printed Word. Books zwischen den Weltkriegen. Wirtschafts- und Sozialge- schränkteDie Mehrzahl sie ihre der Zusage bekannten noch im deutsch-jüdischen gleichen Satz in schichteand Libraries im in theLicht Jewish der Ghettos Statistik], of Nazi-occupied Tel Aviv Europe, 1968. zweifacherKünstler beugte Hinsicht sich ein: noch Mit bis der zur Etablierung Mitte des 19.der Jahr- »jü- [9]Jefferson/London M. Samuel, In 1997. Praise [25] I. of Sonder Yiddish, u.a. (Hg.), New »Wie York würde 1971. [10]ich ohne H. Schwarzbaum, Bücher leben Studies und arbeiten in Jewish können?« and World Privatbiblio- Folklore, dischenhunderts nationalen dem gesellschaftlichen Heimstätte« solle Druck keinerlei und konver- Beein- Berlintheken 1968. jüdischer Intellektueller im 20. Jahrhundert, Berlin trächtigungtierte zum Christentum, der bürgerlichen so etwa wie die religiösen Brüder Philipp Rechte 2008. [26] S. Werses, Portrait of the Maskil as a Young Man, derund ortsansässigen Jonas Veit, Eduard nichtjüdischen Julius Friedrich Einwohner Bendemann, einher- in: S. Feiner/D. Sorkin (Hg.), NewCornelia Perspektives Aust, on Jerusalem the Has- kalah, London/Portland 2001, 128–143. gehen.Eduard Des Magnus Weiteren und dürfe Julius aus Muhr. der Unterstützung Der Maler und der AnsiedlungGraphiker Moritz in Palästina Daniel keinerlei Oppenheim Beeinträchtigung verweigerte Balfour-Deklaration Markus Kirchhoff, Leipzig dersich Rechte diesem und Schritt. des Er politischen war der erste Status ungetaufte der Juden Jude, an- dernorts resultieren. Die im November 1917 veröffentlichte Balfour-Dekla- Mit solchen vagen Formulierungen korrespondie- ration ist Ausdruck der Mächtekonstellation des Ers- ren die formalen Eigenwilligkeiten der Deklaration. ten Weltkriegs. In der nach dem britischen Außen- Für eine prozionistische Erklärung fehlte der briti- minister benannten Erklärung sprach die britische schen Politik ein Ansprechpartner, der als Repräsen- Regierung ihre Unterstützung des zionistischen Ziels tant eines Staates oder einer Regierung hätte gelten aus, in Palästina eine »jüdische nationale Heimstätte« können. Die zionistische Bewegung wies keinen in- zu etablieren. Der zionistischen Bewegung galt die ternational anerkannten Status auf und hatte sich Erklärung als die lange ersehnte internationale Aner- zudem zu Beginn des Weltkriegs für neutral erklärt. kennung ihrer Bestrebungen. Dabei profitierte sie So wandte sich die britische Erklärung in einer An- davon, dass die Kontrahenten des Ersten Weltkriegs, gelegenheit von höchster politischer und internatio- vor allem Großbritannien und Deutschland, in der naler Bedeutung an einen Angehörigen des eigenen Annahme agierten, dem jüdischen Einfluss käme Staats. Zwar war Lord Rothschild die dem Namen weltweite Bedeutung zu. Insbesondere die britische nach wohl einflussreichste englisch-jüdische Persön- Politik maß dem Zionismus Gewicht für kurzfristige lichkeit, doch konnte er keineswegs als Sprecher aller kriegstaktische wie langfristige imperiale Ziele bei. britischer Juden, geschweige denn der Juden weltweit gelten. Auch wenn Balfour den ihm freundschaftlich 1. Text und vçlkerrechtliche Relevanz vertrauten Rothschild abschließend bat, die Erklä- 2. Jüdische Fragen im Ersten Weltkrieg 3. Imperiale Erwägungen rung zur Kenntnis der »Zionist Federation« zu brin- 4. Jüdische und britische Zionisten gen, ist damit nicht gänzlich klar, wer gemeint war. Dem Namen nach handelte es sich nicht um die Zio- nistische Organisation (ÑBasel), sondern um den Ver- 1. Text und vçlkerrechtliche Relevanz band der britischen Zionisten (English Zionist Fede- Die Balfour-Deklaration wurde in Form eines Briefs ration) – demnach auch in dieser Hinsicht um eine des britischen Außenministeriums erlassen. Das innerbritische Angelegenheit. kurze Schreiben vom 2. November 1917 ist von Au- Gleichwohl war die internationale Wirkung der ßenminister Arthur James Balfour unterzeichnet und Deklaration immens: Indem die britische Regierung an Lord Lionel Walter Rothschild adressiert. Eröffnet auch ihren Abdruck in der Presse, zuerst am 9. No- wird der Brief mit der Mitteilung, dass die folgende vember 1917, veranlasste, sprach sich erstmalig eine Erklärung der »Sympathie mit jüdischen zionisti- Großmacht offiziell wie öffentlich für die Unterstüt- schen Bestrebungen« dem britischen Kabinett vor- zung eines jüdischen Gemeinwesens in Palästina aus. gelegen habe und von diesem bestätigt worden sei: Zionisten aller Länder reagierten euphorisch. Die De- »Die Regierung seiner Majestät betrachtet die Eta- klaration wurde als die lange ersehnte internationale, blierung einer nationalen Heimstätte für das jüdische völkerrechtlich wirksame Anerkennung einer zionis- Volk in Palästina mit Wohlwollen und wird ihre bes- tischen Körperschaft gewertet, die bereits Theodor H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3d vom 6.5.2011 Seite 333 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch

33337 BiedermeierBiedermeier

der es in der nichtjüdischen Welt des Biedermeier als Seine frühe Darstellung David vor Saul, die Harfe spie- Maler zu Ansehen brachte. lend (1825/1826) erregte internationales Interesse. Die Oppenheim wurde 1800 als Sohn einer ortho- frühe Zeichnung Die Rückkehr des verlorenen Sohnes doxen Familie in Hanau geboren. Eine künstlerische (1824), für die er von der Accademia di San Luca in Ausbildung erhielt er zuerst in seiner Geburtsstadt, Rom ausgezeichnet wurde, zeugt von seiner Offen- danach an der Akademie der Bildenden Künste in heit gegenüber unterschiedlichen Quellen – sie München, von der er 17-jährig als »Wunderkind« stammten nicht nur aus der hebräischen Bibel (ÑTa- aufgenommen wurde. Für einen ungetauften Juden nach), sondern auch aus dem Neuen Testament. Diese war die Zulassung zu einem solchen Studium in jener Offenheit steht für die Hoffnung, die Betonung der Zeit noch immer sehr ungewöhnlich. Es folgten Lehr- Differenzen zwischen der jüdischen und der christli- jahre in Paris und Rom. In Rom, wo er sich länger als chen Kultur könne einer aufgeklärten Haltung wei- vier Jahre aufhielt, gehörte er zum Kreis der roman- chen. Das Bild Hauslehrer mit seinen Schülern (um 1828; tischen Schule der Nazarener. Während die vorwie- vgl. Abb. S. 344) erfasst einen Aspekt des aufstrebenden gend katholischen Mitglieder dieser Künstlergruppe Bürgertums: Zwei korrekt und gut gekleidete Brüder bevorzugt das »christliche« Rom studierten, verfer- stehen neben ihrem eleganten Hauslehrer, der ein Bün- tigte Oppenheim Zeichnungen und Studien aus dem del Papiere in einer Hand hält, möglicherweise seine zeitgenössischen Alltagsleben im jüdischen Ghetto. Unterlagen für den Unterricht. Die Abgebildeten sind 1825 ließ er sich in Frankfurt am Main nieder, wo er nicht eindeutig als Christen oder Juden zu identifizie- 1882 hoch geachtet starb. Ausdruck seines Ansehens ren; so kann die Szene als Entwurf einer an ÑBildung war unter anderem, dass er 1832 auf Betreiben Goe- orientierten Gesellschaft gelesen werden, die keinen thes von Erzherzog Karl Friedrich von Sachsen-Wei- Unterschied zwischen Juden und Christen macht. mar-Eisenach zum Honorarprofessor ernannt wurde. Oppenheim übersah jedoch nicht den Druck, unter Oppenheim brachte es bereits als junger Mann mit dem Juden standen, wenn sie in der christlichen Gesell- seinen Porträts prominenter zeitgenössischer Juden schaft anerkannt werden wollten. Davon zeugt das und Christen zu großem Erfolg. Dieses Sujet genoss 1856 gemalte und auch als Kupferstich angefertigte Anfang des 19. Jahrhunderts hohe Wertschätzung Bild Lavater und Lessing bei Moses Mendelssohn. Der gän- und entsprach dem zunehmenden Wunsch des Bür- gige Titel und ein erster Blick auf das Bild legen nahe, gertums nach Darstellung ihres Aufstiegs. In den dass Lessing mit Mendelssohn in angeregte, vielleicht 1830er Jahren wurde Oppenheim offizieller Porträtist das Schachspiel betreffende Konversation vertieft am der ÑRothschilds und führte fortan den Namen »Ma- Tisch sitzt. Die Anordnung der drei Personen bildet ler der Rothschilds und Rothschild der Maler« [3. 75]. jedoch ein Spannungsverhältnis ab: Während Mendels- Mit der wachsenden Zahl jüdischer Angehöriger des sohn etwas gebeugt auf der linken Seite sitzt, ist es Bürgertums, in dessen Umfeld das Biedermeier zur Lessing, der steht, und der protestantische Theologe Blüte gelangte, nahmen auch Oppenheims Aufträge Lavater, der gegenüber Mendelssohn Platz genommen zu. Die Porträts jüdischer Persönlichkeiten erstreck- hat. Lavater berührt mit seiner Rechten Mendelssohns ten sich von mehr als 30 Gemälden und Zeichnungen linken Arm und versucht dessen Aufmerksamkeit auf der Rothschilds über das strahlende, aber dennoch eine Textstelle in einem offenen Buch zwischen ihnen ernste Bildnis des berühmten Gelehrten und Grün- – zweifelsohne eine Bibel – zu lenken. Es scheint sich ders der ÑWissenschaft des Judentums Leopold Zunz um Lavaters berühmten Versuch zu handeln, Mendels- (um 1830) bis zu mehreren Porträts von Heinrich sohn zum »wahren Glauben« zu bekehren – eine Epi- Heine (1830, 1831; ÑEntreebillet), Ludwig Börne (1827, sode, die als Lavater-Streit von 1769 bekannt wurde 1831, 1840; ÑFeuilleton), Gabriel Riesser (1838/1839, (ÑBi'ur). 1840; ÑPaulskirche) und anderen. Zu den von Oppen- Ein weiteres Bild Oppenheims, Die Heimkehr des heim Porträtierten zählten auch die Kaiser Otto IV. Freiwilligen aus den Befreiungskriegen zu den nach alter (1840) und Joseph II. (1839/1840), von denen er jeweils Sitte lebenden Seinen (1833/1834), weist auf die Heraus- ein Gemälde für den Kaisersaal im Frankfurter Römer forderungen des modernen Lebens hin, mit denen anfertigte. das deutschsprachige Judentum konfrontiert war. Während Oppenheims Porträts ihm zu Ruhm und Der visuelle Kontext, innerhalb dessen sich die Auf- einem ständigen Einkommen verhalfen, war es seine merksamkeit fast aller Personen ehrerbietig auf den Genremalerei, die bis heute über den Geist der Zeit aus den Befreiungskriegen heimgekehrten unifor- und die Stellung der Juden Aufschluss gibt. Seine mierten Soldaten richtet, ist eine behagliche bürger- Zeichnungen und Gemälde reichen von biblischen liche Stube; ihre Wände sind mit Gegenständen ge- über historische bis zu zeitgenössischen Motiven. schmückt, die auch jedes andere christliche oder jü- H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3d vom 6.5.2011 H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3d vom 6.5.2011 Seite 334 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm Seite 335 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch

Biedermeier 33438 335 Bikkure ha-Ittim

derprallens alter und neuer Welten. Der Schauplatz der jüdischen Tradition. Als Oppenheim 1882 starb, ist erneut eine bürgerliche Stube. Ein Junge trägt hatte der Zyklus Eingang in viele Häuser des deutsch- seinem Großvater etwas vor, vielleicht seine Bar- jüdischen Bürgertums gefunden. Er erlebte mehrere Mizwa-Rede (ÑBar/Bat Mizwa), während ein junger Auflagen und avancierte bis zum Ersten Weltkrieg zu Mann der traditionellen Tätigkeit eines Schabbat- einem der am meisten gekauften Bücher unter den nachmittags, der Auslegung einer Seite aus der Ge- deutschsprachigen Juden. Offensichtlich dienten Op- mara, nachgeht und darüber mit zwei jungen, eben- penheims Bilder dem nostalgischen Wunsch späterer falls in ein Buch vertieften Frauen ins Gespräch Generationen, sich an der zurückgelassenen traditio- kommt. Sowohl in der Bildkomposition als auch in nellen Lebenswelt zu erfreuen. Heute sind sie zu ei- der Liniengestaltung hat der Künstler das Gemälde nem Zeugnis geworden für die Spannung zwischen in zwei Hälften aufgeteilt: Ein Bogen mit dunkleren jüdischer Tradition und der Moderne, der sich die Farben umschließt die dargestellten jungen Leute, deutschsprachigen Juden in der ersten Hälfte des während der Großvater sich aus diesem Halbkreis 19. Jahrhunderts ausgesetzt sahen. zurücklehnt und – im Kontrast dazu – helle Klei- [1] E. Cohen (Hg.), Moritz Oppenheim, The First Jewish dung trägt. Das Zurücklehnen des Großvaters wird Painter, Jerusalem 1983. [2] R. Dröse u.a. (Hg.), Der zusätzlich durch das Licht betont, das durch das Zyklus »Bilder aus dem altjüdischen Familienleben« und Fenster fällt und den alten Mann in eine diffuse sein Maler Moritz Daniel Oppenheim, Hanau 1996. Aura taucht. Aus dieser Perspektive scheint es eher, [3] M. D. Oppenheim, Erinnerungen eines deutsch-jüdischen Malers, Heidelberg 1999. dass der kompositorisch vom Rest der Familie ge- [4] G. Heuberger /A. Merk (Hg.), Moritz Daniel Oppenheim, trennte Großvater seinen Nachmittagsträumen über Die Entdeckung des jüdischen Selbstbewusstseins in der die Vergangenheit nachhängt und nur wenig Zu- Kunst, Köln 1999. [5] I. Schorsch, Art as Social History. gang zur modernen Welt hat, wie sie von den Jungen Moritz Oppenheim and the German Jewish Vision of Eman- cipation, in: I. Twersky (Hg.), Danzig, Between East and repräsentiert wird. West. Aspects of Modern Jewish History, Cambridge (MA) Dass es sich um die moderne Welt handelt, ver- 1985, 141–172. deutlicht nicht nur der Schauplatz, der nicht das Ori Z. Soltes, Washington D.C. Lehrhaus oder das private Studierzimmer des jungen Manns ist, sondern das auch Frauen zugängliche Wohnzimmer. Noch erstaunlicher: Die Gesprächs- Bikkure ha-Ittim partner des Studenten sind nicht etwa gelehrte oder zumindest männliche Kollegen, sondern Frauen, die Bikkure ha-Ittim (Die Erstlingsfrüchte) war ein hebrä- Sabbath-Nachmittag, Gemälde von Moritz Daniel Oppenheim (um 1850) sich in bürgerlicher Manier bilden. Während die Tra- isches Jahrbuch der ÑHaskala aus Wien, das von 1820 dition die Anwesenheit von Frauen während des Stu- bis 1831 in zwölf Bänden erschien. Sein Erscheinen diums am ÑSchabbat ablehnte, bestand eine der In- markiert die Verlagerung des Zentrums der hebrä- dische Haus hätten zieren können. Auch das zentrale (Gebetbuch), einen Machsor (Festtagsgebetbuch) oder novationen der im 19. Jahrhundert von Deutschland ischen Haskala-Literatur von Deutschland in das Bleiglasfenster und der Leuchter verweisen auf eine eine Feiertagslektüre. All diese religiösen Gegen- ausgehenden ÑReform darin, Männer und Frauen am Habsburgerreich. Bikkure ha-Ittim war das wichtigste assimilierte Umgebung. stände bilden einen Kontrast zu der militärischen Schabbat zusammenzuführen, wie es überhaupt An- hebräischsprachige Publikationsorgan seiner Zeit Dennoch erinnern einige Details daran, dass es Auszeichnung an der Brust des Soldaten, die dem liegen der Reformbewegung war, die Geschlechter- und entwickelte nachhaltigen Einfluss auf andere in sich hier um eine »nach alter Sitte« lebende Familie Eisernen Kreuz nachempfunden ist und die der Vater schranken im Judentum abzubauen (ÑMeh. iza). Op- hebräischer Sprache erscheinende Periodika der Ha- handelt. Im Bücherregal auf der rechten, dem sitzen- argwöhnisch betrachtet. Das Gemälde bildet den penheim hat einen Moment im Leben des jüdischen skala. den Soldaten gegenüberliegenden Seite stehen Bände, Konflikt ab, in den jüdische Familien gerieten, wenn Bürgertums seiner Zeit eingefangen, der die heimli- die ein Jude sogleich als ÑTalmud erkennt: großfor- ihre Kinder Mitglieder der bisher gemiedenen christ- che Spannung zwischen der noch nicht vergessenen, Die Initiative zum Druck einer Zeitschrift für das matig, bräunlich und alt. Auf dem Bücherregal liegt lichen Mehrheitsgesellschaft wurden; gleichzeitig auf das Ghetto zentrierten mittelalterlichen Welt und aufgeklärte jüdische Lesepublikum ging von dem ka- etwas, das einem Palmwedel ähnelt und nahelegt, würdigt es den Beitrag deutscher Juden als aktive der verheißungsvollen Moderne wiedergibt, nach der tholischen Wiener Druckerei- und Schriftgießerei- dass der Soldat zu Sukkot, dem herbstlichen Laub- Teilnehmer an den Befreiungskriegen. Fragen der so viele Juden strebten. besitzer Anton Schmid (1765–1855) aus. Schmid hatte hüttenfest (ÑJahreslauf), nach Hause gekommen ist. Tradition und ÑAssimilation, von Loyalität (zum Na- Der Erfolg dieses Gemäldes regte Oppenheim zu eines der beiden großen Wiener Verlagshäuser über- Die einzige Figur, deren Aufmerksamkeit sich nicht tionalstaat) und Verrat (an der Tradition) sind auf einer Reihe von Bildern zu Aspekten des jüdischen nommen, die nach der Reglementierung des Buch- direkt auf den Soldaten richtet, ist ein Junge neben dem Bild ineinander verwoben. Die von Oppenheim Lebens seiner Zeit an, die ab 1866 als Reproduktionen druckgewerbes (ÑBuchdruck) durch Erlass Kaiser Jo- dem Bücherregal, dessen Kopf mit einer leuchtend gewählte Bildsprache folgt der biedermeierlichen unter dem Titel Bilder aus dem altjüdischen Familienleben sephs II. im November 1790 übrig geblieben waren. roten Kippa bedeckt ist (er interessiert sich mehr für Präferenz für häusliche und private Szenen, über- verlegt wurden [2]. Der Zyklus aus 20 Bildern, die alle 1800 wurde zudem zum Schutz vor ausländischer den abseits an einen Stuhl gehängten Säbel des Sol- schreitet mit ihrem Inhalt aber zugleich das Gebot aus der Zeit nach dem klassischen Biedermeier stam- Konkurrenz die Einfuhr hebräischer Bücher nach Ös- daten). Im Mittelpunkt des Bilds steht ein Kelch, der Enthaltung von politischer Stellungnahme. men, aber sich weiterhin an dessen Bildsprache ori- terreich verboten. Für den Druck hebräischer Bücher wahrscheinlich für den Kiddusch-Wein, und beim Oppenheims Sabbath-Nachmittag (um 1850; s. Abb.) entieren, behandelt in vier Themenkreisen (Lebens- bestand jedoch keine Beschränkung und so lag es Buch auf dem Tisch handelt es sich um einen Siddur bietet eine weitere genaue Betrachtung des Aufeinan- lauf, Schabbat, Feiertage, Lebenssituationen) Szenen nahe, dass Schmid ein unternehmerisches Interesse H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_Autonomie_BnaiBrith.3d vom 6.5.2011 Seite 335 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch

39335 BikkureBremerhaven ha-Ittim

derprallens alter und neuer Welten. Der Schauplatz der jüdischen Tradition. Als Oppenheim 1882 starb,

istist erneut erneut eine eine bürgerliche bürgerliche Stube. Stube. Ein Ein Junge Junge trägt trägtH:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_BoardofDeputies_ClubBabel.3dhatte der Zyklus Eingang in viele Häuser des deutsch- vom 6.5.2011 seinem Großvater etwas vor, vielleicht seine Bar-Seite 411jüdischenjüdischen – Seitenformat: Bürgertums Bürgertums 185,00 x 265,00 gefunden. gefunden. mm Er Er erlebte erlebte mehrere mehrere Mizwa-Rede (ÑBar/Bat Mizwa), während ein jungerEnzyklopädieAuflagen jüdischer und Geschichte avancierte und bis Kultur, zum UmbruchErsten Weltkrieg zu Mann der traditionellen Tätigkeit eines Schabbat- einem der am meisten gekauften Bücher unter den nachmittags, der Auslegung einer Seite aus der Ge- deutschsprachigen Juden. Offensichtlich dienten Op- mara,, nachgeht nachgeht und und darüber darüber mit mit zwei zwei jungen, jungen, eben- eben- penheims Bilder dem nostalgischen Wunsch späterer fallsfalls in in ein ein Buch Buch vertieften vertieften Frauen Frauen ins ins Gespräch Gespräch Generationen, sich an der zurückgelassenen traditio- kommt. Sowohl in der Bildkomposition als auch in nellen411 Lebenswelt zu erfreuen. Heute sind sie zu ei- Bremerhaven der Liniengestaltung hat der Künstler das Gemälde nem Zeugnis geworden für die Spannung zwischen inin zwei zwei Hälften Hälften aufgeteilt: aufgeteilt: Ein Ein Bogen Bogen mit mit dunkleren dunkleren jüdischerjüdischer[5] P. Levi, Die Tradition Tradition Untergegangenen und und der der undModerne, Moderne, die Geretteten, der der sich sich Mün- die die das Versprechen attraktiver Lebensumstände in der Farben umschließt die dargestellten jungen Leute, deutschsprachigenchen 1993. [6] W. G. Sebald, Juden Austerlitz, in der Frankfurt ersten Hälfte a.M. 2006. des Neuen Welt. Seit den 1880er Jahren machten Durch- [7] S. Steiner (Hg.), Jean Améry [Hans Maier]. Mit einem bio- während der Großvater sich aus diesem Halbkreis 19. Jahrhunderts ausgesetzt sahen. graphischen Bildessay und einer aktualisierten Bibliogra- wanderer aus dem östlichen Europa das Gros der zurücklehnt und – im Kontrast dazu – helle Klei- Auswanderer aus. Allein im Zeitraum von 1880 bis [1][1]phie, E. E. Cohen Cohen Basel/Frankfurt (Hg.), (Hg.), Moritz Moritz a.M. 1996. Oppenheim, Oppenheim, The The First First Jewish Jewish dung trägt. Das Zurücklehnen des Großvaters wird Painter,[8] I. Heidelberger-Leonard Jerusalem 1983. (Hg.), [2] R. Über Dröse Jean u.a. Améry, (Hg.), Heidel- Der zum Beginn des Ersten Weltkriegs verließen mehr zusätzlich durch das Licht betont, das durch das Zyklusberg 1990. »Bilder [9] I. Heidelberger-Leonard, aus dem altjüdischen Jean Familienleben« Améry im Dialog und als vier Millionen Auswanderer den europäischen mit der zeitgenössischen Literatur, Stuttgart 2002. Fenster fällt und den alten Mann in eine diffuse seinsein Maler Maler Moritz Moritz Daniel Daniel Oppenheim, Oppenheim, Hanau Hanau 1996. 1996. Kontinent Richtung ÑAmerika über Bremerhaven. [3][3][10] M. M. I. D. Heidelberger-Leonard,D. Oppenheim, Oppenheim, Erinnerungen Erinnerungen Jean Améry. eines eines deutsch-jüdischenRevolte deutsch-jüdischen in der Re- Aura taucht. Aus dieser Perspektive scheint es eher, 1893 waren 50 Prozent der Auswanderer nicht aus Malers,signation. Heidelberg Biographie, 1999. Stuttgart 2004. [11] G. Scheit, Nach- dass der kompositorisch vom Rest der Familie ge- dass der kompositorisch vom Rest der Familie ge- [4][4]wort G. G. zu Heuberger Heuberger Jenseitsvon /A. /A. Merk MerkSchuld (Hg.), (Hg.), undSühne,Moritz Moritzin: Daniel Daniel J. Améry, Oppenheim, Oppenheim, Werke, Deutschland; nach 1900 waren es sogar 90 Prozent, trennte Großvater seinen Nachmittagsträumen über DieBd. 2, Entdeckung Stuttgart 2002, des 629–692. jüdischen [12] Selbstbewusstseins G. Scheit, La torture in et der la die aus dem Russischen Reich und aus Österreich-Un- die Vergangenheit nachhängt und nur wenig Zu- Kunst,dialectique. Köln Jean 1999. Améry, [5] I. TheodorSchorsch, W. Art Adorno as Social et l'impératif History. garn kamen. catégorique après Auschwitz, in: J. Doll (Hg.), Jean Améry gang zur modernen Welt hat, wie sie von den Jungen Moritz Oppenheim and the German Jewish Vision of Eman- Eine große Anzahl der Durchwanderer waren Ju- cipation,(1912–1978). in: De I. Twersky l'expérience (Hg.), des Danzig, camps à Between l'écriture East engagée, and repräsentiert wird. den. Insgesamt emigrierte zwischen 1880 und 1920 West.Paris 2006, Aspects 85–102. of Modern [13] G. Scheit,Jewish Unruhe History, zwischen Cambridge den (MA) Pro- Dass es sich um die moderne Welt handelt, ver- Dass es sich um die moderne Welt handelt, ver- 1985,1985,jektionen. 141–172. 141–172. Zu den Romanen von Alfred Andersch – mit An- etwa ein Drittel der jüdischen Bevölkerung des öst- deutlicht nicht nur der Schauplatz, der nicht das merkungen zu Jean Améry und Ernst Jünger, in: Text + lichen Europa. Im Jahr 1891 beispielsweise stellten Ori Z. Soltes, Washington D.C. Lehrhaus oder das private Studierzimmer des jungen Kritik, Nr. 180, September 2008, 18–32. jüdische Auswanderer mehr als 91 Prozent aller Manns ist, sondern das auch Frauen zugängliche Gerhard Scheit, Wien Emigranten aus dem Russischen Reich [8. 24, 36f.]. Wohnzimmer. Noch erstaunlicher: Die Gesprächs- Bikkure ha-Ittim Ihre Lebensumstände im ÑAnsiedlungsrayon waren partner des Studenten sind nicht etwa gelehrte oder gekennzeichnet durch rapiden Bevölkerungszuwachs zumindest männliche Kollegen, sondern Frauen, die BikkureBremerhaven ha-Ittim (Die(Die Erstlingsfrüchte) Erstlingsfrüchte) war war ein ein hebrä- hebrä- bei gleichzeitig stagnierender ökonomischer Ent- sich in bürgerlicher Manier bilden. Während die Tra- ischesisches Jahrbuch Jahrbuch der der ÑHaskala aus Wien, das von 1820 wicklung. Antisemitismus, ÑPogrome und die nach dition die Anwesenheit von Frauen während des Stu- bisMehr 1831 als in 2,7 zwölf Millionen Bänden jüdische erschien. Emigranten Sein Erscheinen verlie- der Ermordung von Zar Alexander II. 1881 erlassenen diums am ÑSchabbat ablehnte, bestand eine der In- markiertßen den europäischen die Verlagerung Kontinent des Zentrums zwischen der 1880 hebrä- und ÑMaigesetze, die die rechtliche Situation der Juden in novationen der im 19. Jahrhundert von Deutschland ischenischen1914 über Haskala-Literatur Haskala-Literatur Bremerhaven odervon von Deutschland Deutschland Hamburg. Jüdische in in das das Russland weiter verschlechterten, verstärkten ihre Be- ausgehenden ÑReform darin, Männer und Frauen am Habsburgerreich.Durchwanderer vorBikkure allem ha-Ittim aus demwar Russischen das wichtigste Reich reitschaft zur Auswanderung. Zusätzlich bestärkten Schabbat zusammenzuführen, wie es überhaupt An- hebräischsprachigeschifften sich hier nach Publikationsorgan Nord- und Südamerika seiner Zeit ein. sie die Werbeaktionen der großen Schifffahrtsgesell- liegenliegen der der Reformbewegung Reformbewegung war, war, die die Geschlechter- Geschlechter- undInsbesondere entwickelte der nachhaltigen Hafen von Einfluss Bremen auf wurde andere zum in schaften in ihrem Wunsch, den Verhältnissen im Za- schranken im Judentum abzubauen (ÑMeh..iza).iza). Op- Op- hebräischerDurchgangspunkt Sprache eines erscheinende komplexen, Periodika von deutschen der Ha- renreich zu entkommen. Auch aus den östlichen Pro- penheim hat einen Moment im Leben des jüdischen skala.Behörden und Schifffahrtsgesellschaften organisier- vinzen des Habsburgerreichs und aus Rumänien Bürgertums seiner Zeit eingefangen, der die heimli- ten Auswanderungsverfahrens. Bremerhaven verkör- machten sich Emigranten auf den Weg, manche von che Spannung zwischen der noch nicht vergessenen, DiepertInitiative eine Erfahrung zum Druckdes Übergangs, einer Zeitschrift die Millionen für das jü- ihnen – auf Jiddisch ÑFusgeyer genannt – sogar zu auf das Ghetto zentrierten mittelalterlichen Welt und aufgeklärtedischer Durchwanderer jüdische Lesepublikum auf ihrem gingWeg von in die dem Neue ka- Fuß. Diese Entwicklung führte dazu, dass sich Bre- der verheißungsvollen Moderne wiedergibt, nach der tholischenWelt machten. Wiener Druckerei- und Schriftgießerei- merhaven gemeinsam mit Hamburg zum wichtigsten so viele Juden strebten. besitzer Anton Schmid (1765–1855) aus. Schmid hatte deutschen Durchgangshafen für Millionen osteuro- Der Erfolg dieses Gemäldes regte Oppenheim zu eines1. Deutsche der beiden Auswandererhäfen großen Wiener Verlagshäuser über- päischer Juden entwickelte. Andere bedeutende euro- 2. »Grüne Grenze« einer Reihe von Bildern zu Aspekten des jüdischen nommen, die nach der Reglementierung des Buch- 3. Das System der deutschen Kontrollstationen päische Auswandererhäfen waren Rotterdam, ÑAnt- Lebens seiner Zeit an, die ab 1866 als Reproduktionen druckgewerbes4. Auswandererbahnhof (ÑBuchdruck) Ruhleben durch Erlass Kaiser Jo- werpen und ÑLondon. unter dem Titel Bilder aus dem altjüdischen Familienleben sephs5. In Bremen II. im und November Hamburg 1790 übrig geblieben waren. verlegt wurden [2]. Der Zyklus aus 20 Bildern, die alle 1800 wurde zudem zum Schutz vor ausländischer 2. »Grüne Grenze« aus der Zeit nach dem klassischen Biedermeier stam- Konkurrenz die Einfuhr hebräischer Bücher nach Ös- 1. Deutsche Auswandererhäfen men, aber sich weiterhin an dessen Bildsprache ori- terreich verboten. Für den Druck hebräischer Bücher Die Emigration aus dem Zarenreich war mit erhebli- entieren, behandelt in vier Themenkreisen (Lebens- bestandDie Bedeutung jedoch Bremerhavens keine Beschränkung als wichtiger und so europäi- lag es chen bürokratischen Hindernissen verbunden. Für lauf,lauf, Schabbat, Schabbat, Feiertage, Feiertage, Lebenssituationen) Lebenssituationen) Szenen Szenen nahe,scher Hafendass Schmid hatte sich ein unternehmerisches erhöht, nachdem die Interesse Weser die Auswanderung war eine Ausreisegenehmigung Anfang des 19. Jahrhunderts für größere Schiffe un- erforderlich, deren Beschaffung häufig bis zu drei befahrbar geworden war. Seitdem fungierte Bremer- Monate in Anspruch nahm und für die bis zu 30 haven als Hafen der 60 Kilometer südlich gelegenen Rubel zu entrichten waren. Dass die Genehmigung Stadt Bremen. Zwischen den 1830er und 1880er Jah- auch erteilt wurde, war nicht gewährleistet. Die ren traten von hier aus tausende, meist deutsche Aus- Gründe, derentwegen die Ausreise aus Russland ver- wanderer die Reise nach Nord- und Südamerika an. weigert werden konnte, waren vielfältig: die Geburt Anlässe ihrer Auswanderung waren die auf die Revo- eines Kindes mochte nicht ordnungsgemäß regis- lution von 1848/1849 folgende Periode der politischen triert sein oder der Tod eines männlichen Familien- Reaktion, die Verschärfung des wirtschaftlichen angehörigen in wehrpflichtigem Alter nicht eindeu- Wettbewerbs im Zuge der Industrialisierung sowie tig belegt. Eine Alternative bestand in der Beantra- H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_BoardofDeputies_ClubBabel.3d vom 6.5.2011 Seite 411 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch

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[5][5] P. P. Levi, Levi, Die Die Untergegangenen Untergegangenen und und die die Geretteten, Geretteten, Mün- Mün- das Versprechen attraktiver Lebensumstände in der chen 1993. [6] W. G. Sebald, Austerlitz, Frankfurt a.M. 2006. Neuen Welt. Seit den 1880er Jahren machten Durch- [7][7] S. S. Steiner Steiner (Hg.), (Hg.), Jean Jean Améry Améry [Hans [Hans Maier]. Maier]. Mit Mit einem einem bio- bio- graphischen Bildessay und einer aktualisierten Bibliogra- wanderer aus dem östlichen Europa das Gros der phie, Basel/Frankfurt a.M. 1996. Auswanderer aus. Allein im Zeitraum von 1880 bis [8][8] I. I. Heidelberger-Leonard Heidelberger-Leonard (Hg.), (Hg.), Über Über Jean Jean Améry, Améry, Heidel- Heidel- zum Beginn des Ersten Weltkriegs verließen mehr berg 1990. [9] I. Heidelberger-Leonard, Jean Améry im Dialog als vier Millionen Auswanderer den europäischen mit der zeitgenössischen Literatur, Stuttgart 2002. Kontinent Richtung ÑAmerika über Bremerhaven. [10][10] I. I. Heidelberger-Leonard, Heidelberger-Leonard, Jean Jean Améry. Améry. Revolte Revolte in in der der Re- Re- signation. Biographie, Stuttgart 2004. [11] G. Scheit, Nach- 1893 waren 50 Prozent der Auswanderer nicht aus wort zu Jenseits von Schuld und Sühne, in: J. Améry, Werke, Deutschland; nach 1900 waren es sogar 90 Prozent, Bd. 2, Stuttgart 2002, 629–692. [12] G. Scheit, La torture et la die aus dem Russischen Reich und aus Österreich-Un- dialectique. Jean Améry, Theodor W. Adorno et l'impératif garn kamen. catégorique après Auschwitz, in: J. Doll (Hg.), Jean Améry Eine große Anzahl der Durchwanderer waren Ju- (1912–1978).(1912–1978). De De l'expérience l'expérience des des camps camps à à l'écriture l'écriture engagée, engagée, Paris 2006, 85–102. [13] G. Scheit, Unruhe zwischen den Pro- den. Insgesamt emigrierte zwischen 1880 und 1920 jektionen.jektionen. Zu Zu den den Romanen Romanen von von Alfred Alfred Andersch Andersch – – mit mit An- An- etwa ein Drittel der jüdischen Bevölkerung des öst- merkungen zu Jean Améry und Ernst Jünger, in: Text + lichen Europa. Im Jahr 1891 beispielsweise stellten Kritik, Nr. 180, September 2008, 18–32. jüdische Auswanderer mehr als 91 Prozent aller Gerhard Scheit, Wien Emigranten aus dem Russischen Reich [8. 24, 36f.]. Ihre Lebensumstände im ÑAnsiedlungsrayon waren gekennzeichnet durch rapiden Bevölkerungszuwachs Bremerhaven bei gleichzeitig stagnierender ökonomischer Ent- wicklung. Antisemitismus, ÑPogrome und die nach Mehr als 2,7 Millionen jüdische Emigranten verlie- der Ermordung von Zar Alexander II. 1881 erlassenen ßen den europäischen Kontinent zwischen 1880 und ÑMaigesetze, die die rechtliche Situation der Juden in 1914 über Bremerhaven oder Hamburg. Jüdische Russland weiter verschlechterten, verstärkten ihre Be- Durchwanderer vor allem aus dem Russischen Reich reitschaft zur Auswanderung. Zusätzlich bestärkten schifften sich hier nach Nord- und Südamerika ein. sie die Werbeaktionen der großen Schifffahrtsgesell- Insbesondere der Hafen von Bremen wurde zum schaften in ihrem Wunsch, den Verhältnissen im Za- Durchgangspunkt eines komplexen, von deutschen renreich zu entkommen. Auch aus den östlichen Pro- Behörden und Schifffahrtsgesellschaften organisier- vinzen des Habsburgerreichs und aus Rumänien ten Auswanderungsverfahrens. Bremerhaven verkör- machten sich Emigranten auf den Weg, manche von pert eine Erfahrung des Übergangs, die Millionen jü- ihnen – auf Jiddisch ÑFusgeyer genannt – sogar zu discher Durchwanderer auf ihrem Weg in die Neue Fuß. Diese Entwicklung führte dazu, dass sich Bre- Welt machten. merhaven gemeinsam mit Hamburg zum wichtigsten deutschen Durchgangshafen für Millionen osteuro- 1. Deutsche Auswandererhäfen päischer Juden entwickelte. Andere bedeutende euro- 2. »Grüne Grenze« 3. Das System der deutschen Kontrollstationen päische Auswandererhäfen waren Rotterdam, ÑAnt- 4. Auswandererbahnhof Ruhleben werpen und ÑLondon. 5. In Bremen und Hamburg

2. »Grüne Grenze« 1. Deutsche Auswandererhäfen Die Emigration aus dem Zarenreich war mit erhebli- DieBremerhaven Bedeutung Bremerhavens als wichtiger europäi- chen bürokratischen Hindernissen verbunden. Für40 scher Hafen hatte sich erhöht, nachdem die Weser die Auswanderung war eine Ausreisegenehmigung Anfang des 19. Jahrhunderts für größere Schiffe un- erforderlich, deren Beschaffung häufig bis zu drei H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_BoardofDeputies_ClubBabel.3dbefahrbar vom 6.5.2011 geworden war. Seitdem fungierteH:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_BoardofDeputies_ClubBabel.3d Bremer- Monate in Anspruch nahm und für die bis zu vom 30 6.5.2011 Seite 411 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm haven als Hafen der 60 Kilometer südlichSeite gelegenen 412 – Seitenformat:Rubel 185,00zu entrichten x 265,00 mm waren. Dass die Genehmigung Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch Stadt Bremen. Zwischen den 1830er undEnzyklopädie 1880er Jah- jüdischerauch Geschichte erteilt wurde, und Kultur, war Umbruch nicht gewährleistet. Die ren traten von hier aus tausende, meist deutsche Aus- Gründe, derentwegen die Ausreise aus Russland ver- wanderer die Reise nach Nord- und Südamerika an. weigert werden konnte, waren vielfältig: die Geburt Anlässe ihrer Auswanderung waren die auf die Revo- eines Kindes mochte nicht ordnungsgemäß regis- lution von 1848/1849 folgende Periode der politischen triert sein oder der Tod eines männlichen Familien- 411 Reaktion, die Verschärfung des wirtschaftlichenBremerhaven angehörigenBremerhaven in wehrpflichtigem Alter nicht eindeu- 412 Wettbewerbs im Zuge der Industrialisierung sowie tig belegt. Eine Alternative bestand in der Beantra- [5] P. Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, Mün- das Versprechen attraktiver Lebensumstände in der gung der Ausreise bei Verzicht auf Rückkehr. Auch um ging, die Durchwanderung von Ausländern zu chen 1993. [6] W. G. Sebald, Austerlitz, Frankfurt a.M. 2006. Neuen Welt. Seit den 1880er Jahren machten Durch- diese Variante war problematisch, da ein Ausreisen- beschränken. Durchreisende aus Österreich-Ungarn [7] S. Steiner (Hg.), Jean Améry [Hans Maier]. Mit einem bio- graphischen Bildessay und einer aktualisierten Bibliogra- wanderer aus dem östlichen Europa das Gros der der dann nicht nach Russland zurückreisen konnte, wurden in deutlich geringerem Maß als Risiko einge- phie, Basel/Frankfurt a.M. 1996. Auswanderer aus. Allein im Zeitraum von 1880 bis wenn er (oder ein Familienmitglied) an einer Grenz- stuft. [8] I. Heidelberger-Leonard (Hg.), Über Jean Améry, Heidel- zum Beginn des Ersten Weltkriegs verließen mehr station, im Hafen oder bei der Einreise abgewiesen Vor 1892 war Preußen in erster Linie bestrebt ge- berg 1990. [9] I. Heidelberger-Leonard, Jean Améry im Dialog als vier Millionen Auswanderer den europäischen oder aus dem Zielland ausgewiesen wurde. In Anbe- wesen, wirtschaftlich minderbemittelte Zuwanderer mit der zeitgenössischen Literatur, Stuttgart 2002. Kontinent Richtung ÑAmerika über Bremerhaven. tracht der mitunter ablehnenden Haltung von deut- an der Einreise zu hindern. Zu diesem Zweck hatten [10] I. Heidelberger-Leonard, Jean Améry. Revolte in der Re- signation. Biographie, Stuttgart 2004. [11] G. Scheit, Nach- 1893 waren 50 Prozent der Auswanderer nicht aus schen und amerikanischen Behörden gegenüber ost- die preußischen Behörden Grenzstationen errichtet, wort zu Jenseits von Schuld und Sühne, in: J. Améry, Werke, Deutschland; nach 1900 waren es sogar 90 Prozent, europäischen Migranten war es ein erhebliches Risi- an denen die Einreisenden befragt und gegebenen- Bd. 2, Stuttgart 2002, 629–692. [12] G. Scheit, La torture et la die aus dem Russischen Reich und aus Österreich-Un- ko, sich mit solchen Papieren auf den Weg zu ma- falls zurückgewiesen wurden. Bis 1882 bestanden sol- dialectique. Jean Améry, Theodor W. Adorno et l'impératif garn kamen. chen. Aufgrund solcher Schwierigkeiten verließen che Grenzstationen u.a. in Myslowitz, Illowo, Prost- catégorique après Auschwitz, in: J. Doll (Hg.), Jean Améry Eine große Anzahl der Durchwanderer waren Ju- tausende russischer Flüchtlinge das Zarenreich illegal ken und Tilsit. Hier mussten die Emigranten nach- (1912–1978). De l'expérience des camps à l'écriture engagée, Paris 2006, 85–102. [13] G. Scheit, Unruhe zwischen den Pro- den. Insgesamt emigrierte zwischen 1880 und 1920 und betraten das Deutsche Reich über die grüne weisen, dass sie über die erforderlichen Reisemittel jektionen. Zu den Romanen von Alfred Andersch – mit An- etwa ein Drittel der jüdischen Bevölkerung des öst- Grenze. verfügten. Ein preußisches Gesetz von 1887 legte fest, merkungen zu Jean Améry und Ernst Jünger, in: Text + lichen Europa. Im Jahr 1891 beispielsweise stellten Illegale Einwanderer umgingen auf diesem Weg dass jeder einreisende Erwachsene mindestens 400 Kritik, Nr. 180, September 2008, 18–32. jüdische Auswanderer mehr als 91 Prozent aller die Kontrolle preußischer Behörden, die in den spä- Mark mit sich führen musste (jedes Kind 100 Mark), Gerhard Scheit, Wien Emigranten aus dem Russischen Reich [8. 24, 36f.]. ten 1880er Jahren damit begannen, Einreisende auf was weitaus mehr war, als die meisten Durchwan- Ihre Lebensumstände im ÑAnsiedlungsrayon waren ihre Gesundheit und finanzielle Absicherung hin zu derer vorweisen konnten. Diese Bestimmung wurde gekennzeichnet durch rapiden Bevölkerungszuwachs untersuchen. Ein Netz von Agenten und Unteragenten außer Kraft gesetzt, wenn die Einreisewilligen Bord- Bremerhaven bei gleichzeitig stagnierender ökonomischer Ent- entstand, die aus der Auswanderung ein Geschäft karten einer der großen deutschen Schifffahrtsgesell- wicklung. Antisemitismus, ÑPogrome und die nach machten, indem sie Flüchtlinge über die grüne Grenze schaften für die Ausreise über Bremerhaven oder Mehr als 2,7 Millionen jüdische Emigranten verlie- der Ermordung von Zar Alexander II. 1881 erlassenen lotsten. Dazu mussten sich die Auswanderungswil- Hamburg vorweisen konnten. Solche Bordkarten wa- ßen den europäischen Kontinent zwischen 1880 und ÑMaigesetze, die die rechtliche Situation der Juden in ligen in einer grenznahen Unterkunft einfinden. ren bei Agenten im ganzen östlichen Europa oder 1914 über Bremerhaven oder Hamburg. Jüdische Russland weiter verschlechterten, verstärkten ihre Be- Wenn dort ausreichend Personen zusammengekom- direkt an den Grenzstationen zu erwerben. Auf diese Durchwanderer vor allem aus dem Russischen Reich reitschaft zur Auswanderung. Zusätzlich bestärkten men waren, bestach der Agent einen Grenzbeamten, Weise erhielten die beiden großen Schifffahrtsgesell- schifften sich hier nach Nord- und Südamerika ein. sie die Werbeaktionen der großen Schifffahrtsgesell- damit dieser seinen Posten vorübergehend verließ und schaften, die Hamburg-Amerikanische Packetfahrt- Insbesondere der Hafen von Bremen wurde zum schaften in ihrem Wunsch, den Verhältnissen im Za- die illegalen Migranten die Grenze passieren konnten. Actien-Gesellschaft (HAPAG, später Hamburg-Ame- Durchgangspunkt eines komplexen, von deutschen renreich zu entkommen. Auch aus den östlichen Pro- Selbst wenn sich Beamte bestechen ließen, konnte das rika Linie) und der Norddeutsche Lloyd mit Sitz in Behörden und Schifffahrtsgesellschaften organisier- vinzen des Habsburgerreichs und aus Rumänien Procedere des Grenzübertritts bis zu 15 Stunden dau- Bremen, bereits in den 1880er Jahren immer mehr ten Auswanderungsverfahrens. Bremerhaven verkör- machten sich Emigranten auf den Weg, manche von ern. Auch mit ortskundiger Führung bestand jederzeit Einfluss und Kontrolle über die Durchwanderer. pert eine Erfahrung des Übergangs, die Millionen jü- ihnen – auf Jiddisch ÑFusgeyer genannt – sogar zu die Gefahr der Entdeckung durch die Behörden. Zu- Die Sorge deutscher wie amerikanischer Behörden discher Durchwanderer auf ihrem Weg in die Neue Fuß. Diese Entwicklung führte dazu, dass sich Bre- dem waren die Auswanderer den Agenten ausgeliefert, vor der Ausbreitung von Krankheiten bewirkte nach Welt machten. merhaven gemeinsam mit Hamburg zum wichtigsten die ausnutzten, dass sich der Übertritt in der Illegalität 1892 eine Änderung der bestehenden Regularien. deutschen Durchgangshafen für Millionen osteuro- vollzog. So blieb den Emigranten oft nichts anderes Nachdem in Russland die Cholera ausgebrochen war 1. Deutsche Auswandererhäfen päischer Juden entwickelte. Andere bedeutende euro- übrig, als die preisliche Willkür der Schleuser hin- und die Epidemie im Herbst 1892 auch im Umkreis 2. »Grüne Grenze« 3. Das System der deutschen Kontrollstationen päische Auswandererhäfen waren Rotterdam, ÑAnt- zunehmen [2. 234–237]. des Hamburger Hafens über 8000 Menschenleben 4. Auswandererbahnhof Ruhleben werpen und ÑLondon. gefordert hatte, wurden die Vorschriften verschärft. 5. In Bremen und Hamburg Eine Gruppe von russischen Durchwanderern wurde 3. Das System der deutschen Kontrollstationen beschuldigt, die tödliche Krankheit eingeschleppt zu 2. »Grüne Grenze« Deutsche Behörden, insbesondere die preußischen, haben, woraufhin Preußen seine Grenze zu Russland 1. Deutsche Auswandererhäfen Die Emigration aus dem Zarenreich war mit erhebli- beobachteten die seit den 1880er Jahren anschwel- für nahezu zwei Jahre schloss. Dagegen erhoben so- Die Bedeutung Bremerhavens als wichtiger europäi- chen bürokratischen Hindernissen verbunden. Für lende Auswanderung über deutsches Gebiet mit zu- wohl die HAPAG als auch der Lloyd Einspruch. Beide scher Hafen hatte sich erhöht, nachdem die Weser die Auswanderung war eine Ausreisegenehmigung nehmender Sorge. Sie argwöhnten, dass Durchwan- Reedereien machten geltend, dass im Jahr 1891 na- Anfang des 19. Jahrhunderts für größere Schiffe un- erforderlich, deren Beschaffung häufig bis zu drei derer entweder nicht bereit oder nicht imstande sein hezu 100000 Emigranten aus Russland über Bremer- befahrbar geworden war. Seitdem fungierte Bremer- Monate in Anspruch nahm und für die bis zu 30 könnten, die lange und kostspielige Reise nach Über- haven und Hamburg ausgereist waren; nachdem haven als Hafen der 60 Kilometer südlich gelegenen Rubel zu entrichten waren. Dass die Genehmigung see anzutreten, und sie sich deshalb in Deutschland Preußen die Grenze geschlossen hatte, sei ihnen ein Stadt Bremen. Zwischen den 1830er und 1880er Jah- auch erteilt wurde, war nicht gewährleistet. Die ansiedeln würden. Sie befürchteten ferner, dass die Verlust von acht bis neun Millionen Mark entstanden. ren traten von hier aus tausende, meist deutsche Aus- Gründe, derentwegen die Ausreise aus Russland ver- osteuropäischen Migranten, vor allem Juden aus dem Ferner wiesen sie darauf hin, dass die Schließung der wanderer die Reise nach Nord- und Südamerika an. weigert werden konnte, waren vielfältig: die Geburt Russischen Reich, mittellos wären, mit Krankheiten Grenze die illegale Einreise nach Deutschland nicht Anlässe ihrer Auswanderung waren die auf die Revo- eines Kindes mochte nicht ordnungsgemäß regis- behaftet seien und somit potentiell zu einer Belas- unterbunden habe, sondern dass sich weiterhin täg- lution von 1848/1849 folgende Periode der politischen triert sein oder der Tod eines männlichen Familien- tung der Öffentlichkeit zu werden drohten. Da Preu- lich hunderte von russischen Durchwanderern im Reaktion, die Verschärfung des wirtschaftlichen angehörigen in wehrpflichtigem Alter nicht eindeu- ßen als einziger deutscher Staat eine Grenze mit Hafen eingefunden und das Gesundheitsrisiko noch Wettbewerbs im Zuge der Industrialisierung sowie tig belegt. Eine Alternative bestand in der Beantra- Russland teilte, ergriff er die Initiative, wenn es dar- erhöht hätten. Die Schifffahrtsgesellschaften schlu- H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_BoardofDeputies_ClubBabel.3d vom 6.5.2011 Seite 412 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch

Bremerhaven 412

gung der Ausreise bei Verzicht auf Rückkehr. Auch um ging, die Durchwanderung von Ausländern zu diese Variante war problematisch, da ein Ausreisen- beschränken. Durchreisende aus Österreich-Ungarn der dann nicht nach Russland zurückreisen konnte, wurden in deutlich geringerem Maß als Risiko einge- wenn er (oder ein Familienmitglied) an einer Grenz- stuft. station, im Hafen oder bei der Einreise abgewiesen Vor 1892 war Preußen in erster Linie bestrebt ge- oder aus dem Zielland ausgewiesen wurde. In Anbe- wesen, wirtschaftlich minderbemittelte Zuwanderer tracht der mitunter ablehnenden Haltung von deut- an der Einreise zu hindern. Zu diesem Zweck hatten schen und amerikanischen Behörden gegenüber ost- die preußischen Behörden Grenzstationen errichtet, europäischen Migranten war es ein erhebliches Risi- an denen die Einreisenden befragt und gegebenen- ko, sich mit solchen Papieren auf den Weg zu ma- falls zurückgewiesen wurden. Bis 1882 bestanden sol- chen. Aufgrund solcher Schwierigkeiten verließen che Grenzstationen u.a. in Myslowitz, Illowo, Prost- tausende russischer Flüchtlinge das Zarenreich illegal ken und Tilsit. Hier mussten die Emigranten nach- und betraten das Deutsche Reich über die grüne weisen, dass sie über die erforderlichen Reisemittel Grenze. verfügten. Ein preußisches Gesetz von 1887 legte fest, Illegale Einwanderer umgingen auf diesem Weg dass jeder einreisende Erwachsene mindestens 400 die Kontrolle preußischer Behörden, die in den spä- Mark mit sich führen musste (jedes Kind 100 Mark), ten 1880er Jahren damit begannen, Einreisende auf was weitaus mehr war, als die meisten Durchwan- ihre Gesundheit und finanzielle Absicherung hin zu derer vorweisen konnten. Diese Bestimmung wurde untersuchen. Ein Netz von Agenten und Unteragenten außer Kraft gesetzt, wenn die Einreisewilligen Bord- entstand, die aus der Auswanderung ein Geschäft karten einer der großen deutschen Schifffahrtsgesell- machten, indem sie Flüchtlinge über die grüne Grenze schaften für die Ausreise über Bremerhaven oder lotsten. Dazu mussten sich die Auswanderungswil- Hamburg vorweisen konnten. Solche Bordkarten wa- ligen in einer grenznahen Unterkunft einfinden. ren bei Agenten im ganzen östlichen Europa oder Wenn dort ausreichend Personen zusammengekom- direkt an den Grenzstationen zu erwerben. Auf diese men waren, bestach der Agent einen Grenzbeamten, Weise erhielten die beiden großen Schifffahrtsgesell- damit dieser seinen Posten vorübergehend verließ und schaften, die Hamburg-Amerikanische Packetfahrt- H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_BoardofDeputies_ClubBabel.3ddie illegalen Migranten die Grenze passieren konnten. vom 6.5.2011Actien-Gesellschaft (HAPAG, später Hamburg-Ame- Seite 412 – Seitenformat:Selbst wenn 185,00 sich x 265,00 Beamte mm bestechen ließen, konnte das rika Linie) und der Norddeutsche Lloyd mit Sitz in Enzyklopädie jüdischerProcedere Geschichte des Grenzübertrittsund Kultur, Umbruch bis zu 15 Stunden dau- Bremen, bereits in den 1880er Jahren immer mehr ern. Auch mit ortskundiger Führung bestand jederzeit Einfluss und Kontrolle über die Durchwanderer. die Gefahr der Entdeckung durch die Behörden. Zu- Die Sorge deutscher wie amerikanischer Behörden dem waren die Auswanderer den Agenten ausgeliefert, vor der Ausbreitung von Krankheiten bewirkte nach die ausnutzten, dass sich der Übertritt in der Illegalität 1892 eine Änderung der bestehenden Regularien. vollzog.Bremerhaven So blieb den Emigranten oft nichts anderes Nachdem in Russland die Cholera ausgebrochen war412 H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_BoardofDeputies_ClubBabel.3dübrig, als die preisliche Willkür der Schleuser hin- und vom 6.5.2011 die Epidemie im Herbst 1892 auch im Umkreis Seite 413zunehmengung – Seitenformat: der Ausreise [2. 234–237]. 185,00 bei x 265,00 Verzicht mm auf Rückkehr. Auch desum Hamburgerging, die Durchwanderung Hafens über 8000 von Menschenleben Ausländern zu Enzyklopädiediese jüdischer Variante Geschichte war problematisch, und Kultur, Umbruch da ein Ausreisen- gefordertbeschränken. hatte, Durchreisende wurden die Vorschriften aus Österreich-Ungarn verschärft. der dann nicht nach Russland zurückreisen konnte, Einewurden Gruppe in deutlich von russischen geringerem Durchwanderern Maß als Risiko wurde einge- 3. Das System der deutschen Kontrollstationen wenn er (oder ein Familienmitglied) an einer Grenz- beschuldigt,stuft. die tödliche Krankheit eingeschleppt zu Deutschestation, im Behörden, Hafen oder insbesondere bei der Einreise die preußischen, abgewiesen haben,Vor woraufhin 1892 war Preußen Preußen in seine erster Grenze Linie zu bestrebt Russland ge- beobachtetenoder aus dem die Zielland seit den ausgewiesen 1880er Jahren wurde. anschwel- In Anbe- fürwesen, nahezu wirtschaftlich zwei Jahre minderbemittelte schloss. Dagegen Zuwanderererhoben so- lende41413tracht Auswanderung der mitunter ablehnenden über deutsches Haltung Gebiet von mit deut- zu- wohlan der die Einreise HAPAG zu als hindern. auch der Zu Lloyd diesem Einspruch.Bremerhaven ZweckBremerhaven hatten Beide nehmenderschen und amerikanischen Sorge. Sie argwöhnten, Behörden dass gegenüber Durchwan- ost- Reedereiendie preußischen machten Behörden geltend, Grenzstationen dass im Jahr errichtet, 1891 na- derergeneuropäischen vor, entweder an den Migranten nicht deutschen bereit war oder Grenzen es ein nicht erhebliches ein imstande effektiveres Risi- sein hezuAuswandererverkehran denen 100000 die Emigranten Einreisenden erzielten aus befragt Russland Gewinne und über jedoch gegebenen- Bremer- mehr H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_BoardofDeputies_ClubBabel.3d vom 6.5.2011könnten,Kontrollsystemko, sich mit die lange solchen einzuführen, und Papieren kostspielige um auf nach den Reise festenWeg nach zu Über-Krite- ma- havenalsfalls aufgewogen. zurückgewiesen und Hamburg Auch wurden. für ausgereist die Schifffahrtsgesellschaf-Bis 1882 waren; bestanden nachdem sol- Seite 412 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm seerienchen. anzutreten, zu Aufgrund entscheiden, und solcher sie wer sich Schwierigkeiten einreisen deshalb indürfe Deutschland verließen und wer Preußentenche warGrenzstationen es die von Grenze Vorteil, u.a. geschlossen wenn in Myslowitz, die hatte, Kontrolle Illowo,sei ihnen der Prost- Aus- ein Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch ansiedelnnicht.tausende russischer würden. Sie Flüchtlinge befürchteten das Zarenreich ferner, dass illegal die Verlustwandererken und von Tilsit. stattfand, acht bisHier neun bevor mussten Millionen diese die an EmigrantenBord Mark gingen. entstanden. nach- osteuropäischenundEnde betraten 1894 wurdedas Migranten, Deutsche daraufhin vor Reich allem die über Einreise Juden die aus wieder grüne dem Fernerweisen,Zusätzlich wiesen dass sie siewurden über darauf dieneue hin, erforderlichen Kontrollstationen dass die Schließung Reisemittel einge- der Russischenaufgenommen.Grenze. Reich, Die mittellos Kosten wären, für den mit Unterhalt Krankheiten der Grenzerichtetverfügten. oderdie Ein illegale modernisiert, preußisches Einreise Gesetzdarunter nach Deutschlandvon Bajohren, 1887 legte Eydt-nicht fest, behaftetDurchwandererIllegale seien Einwanderer und auf somit deutschem umgingen potentiell Boden auf zu diesemwurdeneiner Belas- Weg auf unterbundenkuhnen,dass jeder Prostken, einreisende habe, Illowo sondern Erwachsene und dass Ottlotschin, sich mindestens weiterhin die meis- täg- 400 tungdie Schifffahrtsgesellschaften Kontrolle der Öffentlichkeit preußischer zu Behörden,werden übertragen. drohten. die inDarin Da den Preu- inbe- spä- lichtenMark von hunderte mit ihnen sichführen von an der russischen musste preußisch-russischen (jedes Durchwanderern Kind 100 Grenze Mark), im Bremerhaven ßengriffenten 1880er als waren einziger Jahren an der deutscher damit Kontrollstation begannen, Staat eine Einreisendezu entrichtende Grenze412 mit auf Hafen(s.was Karte). weitaus eingefunden 1911 mehr bestanden war,und dasals an derdie Gesundheitsrisiko Grenzemeisten zu Durchwan- Russland noch RusslandGebühren,ihre Gesundheit teilte, der Transferergriff und finanzielle er zum die Initiative, Hafen Absicherung und wenn die es hinUnter- dar- zu erhöhtundderer zu vorweisen Österreichhätten. Die konnten. zehn Schifffahrtsgesellschaften Hauptstationen. Diese Bestimmung Dort wurden wurdeschlu- gung der Ausreise bei Verzicht auf Rückkehr. Auch umbringunguntersuchen. ging, bis die zur Ein Durchwanderung AbfahrtNetz von des Agenten Schiffs. von und Die Ausländern Unteragenten HAPAG und zu dieaußer Emigranten Kraft gesetzt, auf wenn ihren die Gesundheitszustand Einreisewilligen Bord- hin diese Variante war problematisch, da ein Ausreisen- beschränken.derentstand, Lloyd diewaren Durchreisende aus auch der für Auswanderung die aus Rückführung Österreich-Ungarn ein Geschäft von Mi- untersucht,karten einer Menschen der großen und deutschen Gepäck Schifffahrtsgesell- wurden desinfi- der dann nicht nach Russland zurückreisen konnte, wurdengrantenmachten, in zuständig, indem deutlich sie geringeremFlüchtlinge denen die überMaß Einreise dieals grüneRisiko verweigert Grenze einge- ziert.schaften Die für Unterbringung die Ausreise der über Durchwanderer Bremerhaven in oder den wenn er (oder ein Familienmitglied) an einer Grenz- stuft.wordenlotsten.war. Dazu 1891 mussten hatten sich die Vereinigten die Auswanderungswil- Staaten ihre KontrollpunktenHamburg vorweisen war konnten. unterschiedlich Solche Bordkarten geregelt. wa- In station, im Hafen oder bei der Einreise abgewiesen EinwanderungsbestimmungenligenVor in 1892 einer war Preußengrenznahen in erster Unterkunft verschärft. Linie bestrebt einfinden. Wer von ge- Ottlotschinren bei Agenten gab es im beispielsweise ganzen östlichen keine Europa Schlafsäle, oder oder aus dem Zielland ausgewiesen wurde. In Anbe- wesen,denWenn US-amerikanischen dort wirtschaftlich ausreichend minderbemittelte Personen Einreisebehörden zusammengekom- Zuwanderer abgewie- diedirekt Auswanderer an den Grenzstationen mussten sich zu mit erwerben. dem blanken Auf dieseFuß- tracht der mitunter ablehnenden Haltung von deut- ansenmen der wurde, waren, Einreise musste bestach zu hindern. auf der Kosten Agent Zu der diesemeinen Schifffahrtsgesell- Grenzbeamten, Zweck hatten bodenWeise erhielten begnügen. die Alle beiden Grenzstationen großen Schifffahrtsgesell- waren um- schen und amerikanischen Behörden gegenüber ost- dieschaftendamit preußischen dieser zum seinen Ausgangsort Behörden Posten vorübergehend Grenzstationen zurücktransportiert verließ errichtet, wer- und zäuntschaften, und die hatten Hamburg-Amerikanische verschlossene Tore, wodurch Packetfahrt- die europäischen Migranten war es ein erhebliches Risi- anden.die denen illegalen Die Ausgaben die Migranten Einreisenden dafür die wurden Grenze befragt durch passieren und die gegebenen- konnten. aus dem InsassenActien-Gesellschaft häufig den (HAPAG, Eindruckspäter gewannen, Hamburg-Ame- sie seien in ko, sich mit solchen Papieren auf den Weg zu ma- fallsSelbst zurückgewiesen wenn sich Beamte wurden. bestechen Bis 1882 ließen, bestanden konnte sol- das rika Linie) und der Norddeutsche Lloyd mit Sitz in chen. Aufgrund solcher Schwierigkeiten verließen cheProcedere Grenzstationen des Grenzübertritts u.a. in Myslowitz, bis zu 15 Illowo, Stunden Prost- dau- Bremen, bereits in den 1880er Jahren immer mehr tausende russischer Flüchtlinge das Zarenreich illegal kenern. undAuch Tilsit. mit ortskundiger Hier mussten Führung die Emigranten bestand jederzeit nach- Einfluss und Kontrolle über die Durchwanderer. und betraten das Deutsche Reich über die grüne weisen,die Gefahr dass der sie Entdeckung über die erforderlichen durch die Behörden. Reisemittel Zu- Die Sorge deutscher wie amerikanischer Behörden Grenze. verfügten.dem waren Ein die preußisches Auswanderer Gesetz den Agenten von 1887 ausgeliefert, legte fest, vor der Ausbreitung von Krankheiten bewirkte nach Illegale Einwanderer umgingen auf diesem Weg dassdie ausnutzten, jeder einreisende dass sich Erwachsene der Übertritt mindestens in der Illegalität 400 1892 eine Änderung der bestehenden Regularien. die Kontrolle preußischer Behörden, die in den spä- Markvollzog. mit So sich blieb führen den mussteEmigranten (jedes oft Kind nichts 100 anderes Mark), Nachdem in Russland die Cholera ausgebrochen war ten 1880er Jahren damit begannen, Einreisende auf wasübrig, weitaus als die mehr preisliche war, als Willkür die meisten der Schleuser Durchwan- hin- und die Epidemie im Herbst 1892 auch im Umkreis ihre Gesundheit und finanzielle Absicherung hin zu dererzunehmen vorweisen [2. 234–237]. konnten. Diese Bestimmung wurde des Hamburger Hafens über 8000 Menschenleben untersuchen. Ein Netz von Agenten und Unteragenten außer Kraft gesetzt, wenn die Einreisewilligen Bord- gefordert hatte, wurden die Vorschriften verschärft. entstand, die aus der Auswanderung ein Geschäft karten einer der großen deutschen Schifffahrtsgesell- Eine Gruppe von russischen Durchwanderern wurde 3. Das System der deutschen Kontrollstationen machten, indem sie Flüchtlinge über die grüne Grenze schaften für die Ausreise über Bremerhaven oder beschuldigt, die tödliche Krankheit eingeschleppt zu lotsten. Dazu mussten sich die Auswanderungswil- HamburgDeutsche vorweisen Behörden, konnten. insbesondere Solche die Bordkarten preußischen, wa- haben, woraufhin Preußen seine Grenze zu Russland ligen in einer grenznahen Unterkunft einfinden. renbeobachteten bei Agenten die im seit ganzen den 1880er östlichen Jahren Europa anschwel- oder für nahezu zwei Jahre schloss. Dagegen erhoben so- Wenn dort ausreichend Personen zusammengekom- direktlende Auswanderungan den Grenzstationen über deutsches zu erwerben. Gebiet Auf mit diese zu- wohl die HAPAG als auch der Lloyd Einspruch. Beide men waren, bestach der Agent einen Grenzbeamten, Weisenehmender erhielten Sorge. die Siebeiden argwöhnten, großen Schifffahrtsgesell- dass Durchwan- Reedereien machten geltend, dass im Jahr 1891 na- damit dieser seinen Posten vorübergehend verließ und schaften,derer entweder die Hamburg-Amerikanische nicht bereit oder nicht imstande Packetfahrt- sein hezu 100000 Emigranten aus Russland über Bremer- die illegalen Migranten die Grenze passieren konnten. Actien-Gesellschaftkönnten, die lange und (HAPAG, kostspielige später Reise Hamburg-Ame- nach Über- haven und Hamburg ausgereist waren; nachdem Selbst wenn sich Beamte bestechen ließen, konnte das rikasee anzutreten, Linie) und derund Norddeutsche sie sich deshalb Lloyd in Deutschland mit Sitz in Preußen die Grenze geschlossen hatte, sei ihnen ein Procedere des Grenzübertritts bis zu 15 Stunden dau- Bremen,ansiedeln bereits würden. in Sieden befürchteten 1880er Jahren ferner, immer dass mehr die Verlust von acht bis neun Millionen Mark entstanden. ern. Auch mit ortskundiger Führung bestand jederzeit Einflussosteuropäischen und Kontrolle Migranten, über dievor Durchwanderer.allem Juden aus dem Ferner wiesen sie darauf hin, dass die Schließung der die Gefahr der Entdeckung durch die Behörden. Zu- RussischenDie Sorge Reich, deutscher mittellos wie amerikanischer wären, mit Krankheiten Behörden Grenze die illegale Einreise nach Deutschland nicht dem waren die Auswanderer den Agenten ausgeliefert, vorbehaftet der Ausbreitung seien und somit von Krankheiten potentiell zu bewirkte einer Belas- nach unterbunden habe, sondern dass sich weiterhin täg- die ausnutzten, dass sich der Übertritt in der Illegalität 1892tung dereine Öffentlichkeit Änderung der zu werden bestehenden drohten. Regularien. Da Preu- lich hunderte von russischen Durchwanderern im vollzog. So blieb den Emigranten oft nichts anderes Nachdemßen als einziger in Russland deutscher die Cholera Staat ausgebrochen eine Grenze war mit Hafen eingefunden und das Gesundheitsrisiko noch übrig, als die preisliche Willkür der Schleuser hin- undRussland die Epidemie teilte, ergriff im Herbst er die Initiative,1892 auch wenn im Umkreis es dar- erhöht hätten. Die Schifffahrtsgesellschaften schlu- zunehmen [2. 234–237]. des Hamburger Hafens über 8000 Menschenleben gefordert hatte, wurden die Vorschriften verschärft. Eine Gruppe von russischen Durchwanderern wurde 3. Das System der deutschen Kontrollstationen beschuldigt, die tödliche Krankheit eingeschleppt zu Deutsche Behörden, insbesondere die preußischen, haben, woraufhin Preußen seine Grenze zu Russland beobachteten die seit den 1880er Jahren anschwel- für nahezu zwei Jahre schloss. Dagegen erhoben so- lende Auswanderung über deutsches Gebiet mit zu- wohlSystem die der HAPAG Kontroll- als und auch Registrierstationen der Lloyd Einspruch. für Auswanderer Beide aus dem Russischen Reich und Österreich-Ungarn sowie ihre nehmender Sorge. Sie argwöhnten, dass Durchwan- ReedereienReiserouten nach machten Hamburg geltend, und Bremerhaven, dass im Jahr um 1905 1891 na- derer entweder nicht bereit oder nicht imstande sein hezu 100000 Emigranten aus Russland über Bremer- könnten, die lange und kostspielige Reise nach Über- haven und Hamburg ausgereist waren; nachdem see anzutreten, und sie sich deshalb in Deutschland Preußen die Grenze geschlossen hatte, sei ihnen ein ansiedeln würden. Sie befürchteten ferner, dass die Verlust von acht bis neun Millionen Mark entstanden. osteuropäischen Migranten, vor allem Juden aus dem Ferner wiesen sie darauf hin, dass die Schließung der Russischen Reich, mittellos wären, mit Krankheiten Grenze die illegale Einreise nach Deutschland nicht behaftet seien und somit potentiell zu einer Belas- unterbunden habe, sondern dass sich weiterhin täg- tung der Öffentlichkeit zu werden drohten. Da Preu- lich hunderte von russischen Durchwanderern im ßen als einziger deutscher Staat eine Grenze mit Hafen eingefunden und das Gesundheitsrisiko noch Russland teilte, ergriff er die Initiative, wenn es dar- erhöht hätten. Die Schifffahrtsgesellschaften schlu- H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_BoardofDeputies_ClubBabel.3d vom 6.5.2011 Seite 412 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch

Bremerhaven 412 gung der Ausreise bei Verzicht auf Rückkehr. Auch um ging, die Durchwanderung von Ausländern zu diese Variante war problematisch, da ein Ausreisen- beschränken. Durchreisende aus Österreich-Ungarn der dann nicht nach Russland zurückreisen konnte, wurden in deutlich geringerem Maß als Risiko einge- wenn er (oder ein Familienmitglied) an einer Grenz- stuft. station, im Hafen oder bei der Einreise abgewiesen Vor 1892 war Preußen in erster Linie bestrebt ge- oder aus dem Zielland ausgewiesen wurde. In Anbe- wesen, wirtschaftlich minderbemittelte Zuwanderer tracht der mitunter ablehnenden Haltung von deut- an der Einreise zu hindern. Zu diesem Zweck hatten schen und amerikanischen Behörden gegenüber ost- die preußischen Behörden Grenzstationen errichtet, europäischen Migranten war es ein erhebliches Risi- an denen die Einreisenden befragt und gegebenen- ko, sich mit solchen Papieren auf den Weg zu ma- falls zurückgewiesen wurden. Bis 1882 bestanden sol- chen. Aufgrund solcher Schwierigkeiten verließenH:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_BoardofDeputies_ClubBabel.3dche Grenzstationen u.a. in Myslowitz, Illowo, Prost- vom 6.5.2011 tausende russischer Flüchtlinge das Zarenreich illegalSeite 413ken – Seitenformat: und Tilsit. 185,00 Hier x mussten 265,00 mm die Emigranten nach- und betraten das Deutsche Reich über die grüneEnzyklopädieweisen, jüdischer dass Geschichtesie überdie und Kultur,erforderlichen Umbruch Reisemittel Grenze. verfügten. Ein preußisches Gesetz von 1887 legte fest, Illegale Einwanderer umgingen auf diesem Weg dass jeder einreisende Erwachsene mindestens 400 die Kontrolle preußischer Behörden, die in den spä- Mark mit sich führen musste (jedes Kind 100 Mark), ten 1880er Jahren damit begannen, Einreisende auf was weitaus mehr war, als die meisten Durchwan- ihre Gesundheit und finanzielle Absicherung hin zu derer413 vorweisen konnten. Diese Bestimmung wurde Bremerhaven untersuchen. Ein Netz von Agenten und Unteragenten außer Kraft gesetzt, wenn die Einreisewilligen Bord- entstand, die aus der Auswanderung ein Geschäft kartengen vor, einer an dender großen deutschen deutschen Grenzen Schifffahrtsgesell- ein effektiveres Auswandererverkehr erzielten Gewinne jedoch mehr machten, indem sie Flüchtlinge über die grüne Grenze schaftenKontrollsystem für die einzuführen, Ausreise über um Bremerhaven nach festen Krite- oder als aufgewogen. Auch für die Schifffahrtsgesellschaf- lotsten. Dazu mussten sich die Auswanderungswil- Hamburgrien zu entscheiden, vorweisen konnten. wer einreisen Solche Bordkartendürfe und werwa- ten war es von Vorteil, wenn die Kontrolle der Aus- ligen in einer grenznahen Unterkunft einfinden. rennicht. bei Agenten im ganzen östlichen Europa oder wanderer stattfand, bevor diese an Bord gingen. Wenn dort ausreichend Personen zusammengekom- direktEnde an 1894 den Grenzstationen wurde daraufhin zu dieerwerben. Einreise Auf wieder diese Zusätzlich wurden neue Kontrollstationen einge- men waren, bestach der Agent einen Grenzbeamten, Weiseaufgenommen.Bremerhaven erhielten die Die beiden Kosten großen für den Schifffahrtsgesell- Unterhalt der richtet oder modernisiert, darunter Bajohren, Eydt-42 damit dieser seinen Posten vorübergehend verließ und schaften,Durchwanderer die Hamburg-Amerikanische auf deutschem Boden wurdenPacketfahrt- auf kuhnen, Prostken, Illowo und Ottlotschin, die meis- die illegalen Migranten die Grenze passieren konnten. Actien-Gesellschaftdie Schifffahrtsgesellschaften (HAPAG, übertragen. später Hamburg-Ame- Darin inbe- ten von ihnen an der preußisch-russischen Grenze Selbst wenn sich Beamte bestechen ließen, konnte das rikagriffen Linie) waren und an der der Norddeutsche Kontrollstation Lloyd zu entrichtende mit Sitz in (s. Karte). 1911 bestanden an der Grenze zu Russland Procedere des Grenzübertritts bis zu 15 Stunden dau- Bremen,Gebühren, bereits der Transfer in den 1880erzum Hafen Jahren und immer die Unter- mehr und zu Österreich zehn Hauptstationen. Dort wurden ern. Auch mit ortskundiger Führung bestand jederzeit Einflussbringung und bis zurKontrolle Abfahrt über des die Schiffs. Durchwanderer. Die HAPAGH:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_BoardofDeputies_ClubBabel.3d und die Emigranten auf ihren Gesundheitszustand vom hin 6.5.2011 die Gefahr der Entdeckung durch die Behörden. Zu- derDie Lloyd Sorge waren deutscher auch für wie die amerikanischer RückführungSeite Behörden von 414 –Mi- Seitenformat:untersucht, 185,00Menschen x 265,00 mm und Gepäck wurden desinfi- dem waren die Auswanderer den Agenten ausgeliefert, vorgranten der Ausbreitung zuständig, denenvon Krankheiten die Einreise bewirkteEnzyklopädie verweigert nach jüdischerziert. Geschichte Die Unterbringung und Kultur, Umbruch der Durchwanderer in den die ausnutzten, dass sich der Übertritt in der Illegalität 1892worden eine war. Änderung 1891 hatten der die bestehenden Vereinigten Staaten Regularien. ihre Kontrollpunkten war unterschiedlich geregelt. In vollzog. So blieb den Emigranten oft nichts anderes NachdemEinwanderungsbestimmungen in Russland die Cholera verschärft. ausgebrochen Wer warvon Ottlotschin gab es beispielsweise keine Schlafsäle, übrig, als die preisliche Willkür der Schleuser hin- undden dieUS-amerikanischen Epidemie im Herbst Einreisebehörden 1892 auch im abgewie-Umkreis die Auswanderer mussten sich mit dem blanken Fuß- zunehmen [2. 234–237]. dessen wurde, Hamburger musste Hafens auf Kosten über der8000 Schifffahrtsgesell- Menschenleben boden begnügen. Alle Grenzstationen waren um- gefordertschaften zum hatte, Ausgangsort wurden die zurücktransportiert Vorschriften verschärft. wer- zäuntBremerhaven und hatten verschlossene Tore, wodurch die 414 Eineden. DieGruppe Ausgaben von russischen dafür wurden Durchwanderern durch die aus wurde dem Insassen häufig den Eindruck gewannen, sie seien in 3. Das System der deutschen Kontrollstationen beschuldigt, die tödliche Krankheit eingeschleppt zu einem Gefängnis untergebracht. Ehemalige Migran- verweigert. Zeitweise waren es mehr als fünf Prozent Deutsche Behörden, insbesondere die preußischen, haben, woraufhin Preußen seine Grenze zu Russland ten berichteten im Rückblick, dass sie durch die Un- der Bewerber, denen auf diese Weise das Erreichen beobachteten die seit den 1880er Jahren anschwel- für nahezu zwei Jahre schloss. Dagegen erhoben so- freundlichkeit der Grenzbeamten sowie durch eine einer der Auswandererhäfen versagt blieb. lende Auswanderung über deutsches Gebiet mit zu- wohl die HAPAG als auch der Lloyd Einspruch. Beide erniedrigende Prozedur, die sie in den Stationen zu Von Ruhleben wurden die Durchwanderer in Son- nehmender Sorge. Sie argwöhnten, dass Durchwan- Reedereien machten geltend, dass im Jahr 1891 na- durchlaufen hatten, zusätzlich verängstigt worden derzügen nach Bremen oder Hamburg transportiert. derer entweder nicht bereit oder nicht imstande sein hezu 100000 Emigranten aus Russland über Bremer- seien [9. 107]. Schon die Strecke von der deutschen Grenze nach Ruh- könnten, die lange und kostspielige Reise nach Über-H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_BoardofDeputies_ClubBabel.3dhaven und Hamburg ausgereist waren; nachdem vom 6.5.2011 leben hatten sie in geschlossenen Eisenbahnwaggons see anzutreten, und sie sich deshalb in DeutschlandSeite 413Preußen – Seitenformat: die Grenze 185,00 geschlossen x 265,00 mm hatte, sei ihnen ein zugebracht, wahrscheinlich um möglichen Kontakt 4. Auswandererbahnhof Ruhleben ansiedeln würden. Sie befürchteten ferner, dassEnzyklopädie die Verlust jüdischer von acht Geschichte bis neun und Millionen Kultur, Umbruch Mark entstanden. zur Bevölkerung einzuschränken. Die Durchwanderer osteuropäischen Migranten, vor allem Juden aus dem Ferner wiesen sie darauf hin, dass die Schließung der Ein zentraler Punkt in diesem Kontrollsystem war der durften auf dem Weg zu ihrem Bestimmungsort nicht Russischen Reich, mittellos wären, mit Krankheiten Grenze die illegale Einreise nach Deutschland nicht Auswandererbahnhof Ruhleben bei Berlin. Ruhleben aussteigen, auch wenn die Fahrt bis zu 25 Stunden behaftet seien und somit potentiell zu einer Belas- unterbunden habe, sondern dass sich weiterhin täg- diente der erneuten Untersuchung von Reisenden aus dauerte. Länge und Häufigkeit dieser Sonderzüge rich- tung der Öffentlichkeit zu werden drohten. Da Preu- lich hunderte von russischen Durchwanderern im dem Russischen Reich, für die diese Maßnahme zwin- teten sich nach Bedarf; manchmal wurden die Auswan- ßen als einziger deutscher Staat eine Grenze mit 413Hafen eingefunden und das Gesundheitsrisiko noch gend angeordnet wurde. DurchreisendeBremerhaven aus Öster- dererwaggons an reguläre Züge angehängt, bisweilen Russland teilte, ergriff er die Initiative, wenn es dar- erhöht hätten. Die Schifffahrtsgesellschaften schlu- reich-Ungarn wurden über zwei Registrierstationen bildeten sie einen Zug für sich. gen vor, an den deutschen Grenzen ein effektiveres Auswandererverkehran der habsburgisch-preußischen erzielten Gewinne Grenze, jedoch Myslowitz mehr Wer mit diesen Zügen gereist war, beschrieb die Kontrollsystem einzuführen, um nach festen Krite- alsund aufgewogen. Ratibor, erfasst. Auch Ihnen für die wurde Schifffahrtsgesellschaf- in der Regel die Fahrt als ausgesprochen unangenehm. Die Waggons rien zu entscheiden, wer einreisen dürfe und wer tenfreie war Weiterreise es von Vorteil, zu den deutschenwenn die Kontrolle Auswandererhäfen der Aus- waren vollgestopft mit Menschen und Gepäck, so nicht. wanderer(meist über stattfand, Breslau, bevor Leipzig diese oder an Bord Lehrte) gingen. gestattet. dass häufig gestanden werden musste. Es handelte Ende 1894 wurde daraufhin die Einreise wieder DasZusätzlich Königreich wurden Sachsen neue richtete Kontrollstationen 1903 in Leipzig einge- eine sich um unbequeme Wagen vierter Klasse, in denen aufgenommen. Die Kosten für den Unterhalt der richtetRegistrierstation oder modernisiert, ein. darunter Bajohren, Eydt- es im Sommer heiß und stickig war. In den Wagen Durchwanderer auf deutschem Boden wurden auf kuhnen,In Ruhleben Prostken, existierten Illowo und drei Ottlotschin, Baracken, in die denen meis- an war ein Sprachengemisch aus ÑPolnisch, ÑRussisch die Schifffahrtsgesellschaften übertragen. Darin inbe- tendie200 von Personen ihnen an unterkamen. der preußisch-russischen Außerdem befanden Grenze und ÑJiddisch zu vernehmen. Die Reisenden mussten griffen waren an der Kontrollstation zu entrichtende (s.sich Karte). in der 1911 umfangreichen bestanden an Anlage der Grenze ein Desinfektions- zu Russland sich selbst verpflegen; wer nicht ausreichend Proviant Gebühren, der Transfer zum Hafen und die Unter- undbereich, zu Österreich Duschräume, zehn eineHauptstationen. Quarantäne-Station, Dort wurden ein mit sich führte, war auf gutherzige Mitreisende oder H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_BoardofDeputies_ClubBabel.3dbringung vom 6.5.2011 bis zur Abfahrt des Schiffs. Die HAPAG und dieSpeisesaal Emigranten und Schlafräume. auf ihren Gesundheitszustand Selbst Durchwanderer, hin jüdische Wohlfahrtsvereine angewiesen [2. 233]. Seite 413 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm der Lloyd waren auch für die Rückführung von Mi- untersucht,die an einer Menschen der Grenzstationen und Gepäck bereits wurden untersucht desinfi- Seit den 1890er Jahren spielten jüdische wohl- Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch granten zuständig, denen die Einreise verweigert ziert.und desinfiziert Die Unterbringung worden waren, der Durchwanderer mussten sich in dieser den tätige Vereinigungen eine immer wichtigere Rolle worden war. 1891 hatten die Vereinigten Staaten ihre KontrollpunktenProzedur häufig ein war zweites unterschiedlich Mal unterziehen. geregelt. Gegen In bei der Durchwanderung. 1892 leisteten 25 Vereine Einwanderungsbestimmungen verschärft. Wer von OttlotschinEntrichtung gab einer es Gebühr beispielsweise von zwei keine Mark erhieltSchlafsäle, der jüdischen Migranten an den Grenzstationen, in den den US-amerikanischen Einreisebehörden abgewie- dieDurchwanderer Auswanderer dann mussten ein Gesundheitsattest.sich mit dem blanken Die Fuß- rus- Auswandererzügen und in den Häfen Hilfe. 1904 er- sen wurde, musste auf Kosten der Schifffahrtsgesell- bodensisch-jüdische begnügen. Schriftstellerin Alle Grenzstationen Mary Antin waren (ÑAmerika) um- öffnete der Berliner ÑHilfsverein der deutschen Juden 413 Bremerhaven schaftenSystem der zum Kontroll- Ausgangsort und Registrierstationen zurücktransportiert für Auswanderer wer- auszäuntschilderte dem Russischen und die hatten Situation Reich verschlossene und in Österreich-Ungarn Ruhleben Tore, als »beängstigen- sowiewodurch ihre die das Zentralbüro für jüdische Auswandererangelegen- den.Reiserouten Die Ausgaben nach Hamburg dafür und wurden Bremerhaven, durch um die 1905 aus dem Insassendes Durcheinander«. häufig den Eindruck Sie erinnerte gewannen, sich sie an seien »weiß- in heiten, um seine weitgespannten Tätigkeiten in der gen vor, an den deutschen Grenzen ein effektiveres Auswandererverkehr erzielten Gewinne jedoch mehr gekleidete Deutsche, die jede ihrer lautstarken An- Flüchtlingshilfe zu koordinieren. Diese Vereine nah- Kontrollsystem einzuführen, um nach festen Krite- als aufgewogen. Auch für die Schifffahrtsgesellschaf- weisungen mit den Worten ›Schnell, schnell!‹ beglei- men wichtige Aufgaben wahr. Manche unterstützten rien zu entscheiden, wer einreisen dürfe und wer ten war es von Vorteil, wenn die Kontrolle der Aus- teten. Die verwirrten Reisenden gehorchten wie Juden beim Passieren der russischen Grenze oder nicht. wanderer stattfand, bevor diese an Bord gingen. kleine Kinder [...]. Man nahm uns unsere Sachen kümmerten sich um ihre Betreuung in den Kontroll- Ende 1894 wurde daraufhin die Einreise wieder Zusätzlich wurden neue Kontrollstationen einge- weg und trennte uns von unseren Freunden, während stationen. Andere griffen Mittellosen finanziell unter aufgenommen. Die Kosten für den Unterhalt der richtet oder modernisiert, darunter Bajohren, Eydt- ein Mann uns anscheinend auf unseren Materialwert die Arme oder versorgten die Reisenden mit Nahrung Durchwanderer auf deutschem Boden wurden auf kuhnen, Prostken, Illowo und Ottlotschin, die meis- hin taxierte; wir ließen uns hilf- und widerstandslos und Trinkwasser. In den Hafenstädten vermittelten die Schifffahrtsgesellschaften übertragen. Darin inbe- ten von ihnen an der preußisch-russischen Grenze von gefährlich dreinschauenden Leuten hin- und her- sie den Migranten erschwingliche Unterkünfte und griffen waren an der Kontrollstation zu entrichtende (s. Karte). 1911 bestanden an der Grenze zu Russland treiben wie Vieh; für uns nicht sichtbare Kinder in koscheres Essen und kümmerten sich darum, dass Gebühren, der Transfer zum Hafen und die Unter- und zu Österreich zehn Hauptstationen. Dort wurden einem Nebenraum brüllten in einer Weise, die das ihnen die Ausübung ihrer Religion ermöglicht wur- bringung bis zur Abfahrt des Schiffs. Die HAPAG und die Emigranten auf ihren Gesundheitszustand hin Schlimmste befürchten ließ...« [1. 42f.]. de. Wieder andere verhandelten mit den russischen der Lloyd waren auch für die Rückführung von Mi- untersucht, Menschen und Gepäck wurden desinfi- Ärzte und Hilfspersonal untersuchten die Durch- Behörden um die Rückkehr von Personen, die an der granten zuständig, denen die Einreise verweigert ziert. Die Unterbringung der Durchwanderer in den wanderer auf Bindehautentzündung und sonstige Grenze zurückgewiesen worden waren. Die vielen worden war. 1891 hatten die Vereinigten Staaten ihre Kontrollpunkten war unterschiedlich geregelt. In Augenleiden, Ausschläge, Cholera und andere anste- Dankbriefe von glücklich am Bestimmungsort ange- Einwanderungsbestimmungen verschärft. Wer von Ottlotschin gab es beispielsweise keine Schlafsäle, ckende Krankheiten. Die als krank Eingestuften wur- langten Migranten vermitteln eine Vorstellung da- den US-amerikanischen Einreisebehörden abgewie- die Auswanderer mussten sich mit dem blanken Fuß- den entweder zur Beobachtung in einen besonderen von, wie wichtig für sie die Unterstützung jüdischer sen wurde, musste auf Kosten der Schifffahrtsgesell- boden begnügen. Alle Grenzstationen waren um- Bereich der Station verwiesen oder sofort nach Russ- Wohlfahrtsvereine war. schaften zum Ausgangsort zurücktransportiert wer- zäunt und hatten verschlossene Tore, wodurch die land zurückgeschickt. Über die Jahre wurde so tau- Eine weitere wichtige Aufgabe dieser jüdischen den. Die Ausgaben dafür wurden durch die aus dem Insassen häufig den Eindruck gewannen, sie seien in senden von russischen Emigranten die Weiterreise Hilfsvereine war die Dokumentation und Veröffent-

System der Kontroll- und Registrierstationen für Auswanderer aus dem Russischen Reich und Österreich-Ungarn sowie ihre Reiserouten nach Hamburg und Bremerhaven, um 1905

System der Kontroll- und Registrierstationen für Auswanderer aus dem Russischen Reich und Österreich-Ungarn sowie ihre Reiserouten nach Hamburg und Bremerhaven, um 1905 H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_BoardofDeputies_ClubBabel.3dH:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_BoardofDeputies_ClubBabel.3d vom vom 6.5.2011 6.5.2011 SeiteSeite 414 414 – – Seitenformat: Seitenformat: 185,00 185,00 x x 265,00 265,00 mm mm EnzyklopädieEnzyklopädie jüdischer jüdischer Geschichte Geschichte und und Kultur, Kultur, Umbruch Umbruch

BremerhavenBremerhaven 414414

einemeinem Gefängnis Gefängnis untergebracht. untergebracht. Ehemalige Ehemalige Migran- Migran- verweigert.verweigert. Zeitweise Zeitweise waren waren es es mehr mehr als als fünf fünf Prozent Prozent tenten berichteten berichteten im im Rückblick, Rückblick, dass dass sie sie durch durch die die Un- Un- derder Bewerber, Bewerber, denen denen auf auf diese diese Weise Weise das das Erreichen Erreichen freundlichkeitfreundlichkeit der der Grenzbeamten Grenzbeamten sowie sowie durch durch eine eine einereiner der der Auswandererhäfen Auswandererhäfen versagt versagt blieb. blieb. erniedrigendeerniedrigende Prozedur, Prozedur, die die sie sie in in den den Stationen Stationen zu zu Von Ruhleben wurden die Durchwanderer in Son- durchlaufendurchlaufen hatten, hatten, zusätzlich zusätzlich verängstigt verängstigt worden worden derzügenderzügen nach nach Bremen Bremen oder oder Hamburg Hamburg transportiert. transportiert. seienseien [9. [9. 107]. 107]. SchonSchon die die Strecke Strecke von von der der deutschen deutschen Grenze Grenze nach nach Ruh- Ruh- lebenleben hatten hatten sie sie in in geschlossenen geschlossenen Eisenbahnwaggons Eisenbahnwaggons zugebracht,zugebracht, wahrscheinlich wahrscheinlich um um möglichen möglichen Kontakt Kontakt 4.4. Auswandererbahnhof Auswandererbahnhof Ruhleben Ruhleben zurzur Bevölkerung Bevölkerung einzuschränken. einzuschränken. Die Die Durchwanderer Durchwanderer Ein zentraler Punkt in diesem Kontrollsystem war der durftendurften auf auf dem dem Weg Weg zu zu ihrem ihrem Bestimmungsort Bestimmungsort nicht nicht Auswandererbahnhof Ruhleben bei Berlin. Ruhleben aussteigen,aussteigen, auch auch wenn wenn die die Fahrt Fahrt bis bis zu zu 25 25 Stunden Stunden dientediente der der erneuten erneuten Untersuchung Untersuchung von von Reisenden Reisenden aus aus dauerte.dauerte. Länge Länge und und Häufigkeit Häufigkeit dieser dieser Sonderzüge Sonderzüge rich- rich- demdem Russischen Russischen Reich, Reich, für für die die diese diese Maßnahme Maßnahme zwin- zwin- tetenteten sich sich nach nach Bedarf; Bedarf; manchmal manchmal wurden wurden die die Auswan- Auswan- gendgend angeordnet angeordnet wurde. wurde. Durchreisende Durchreisende aus aus Öster- Öster- dererwaggonsdererwaggons an an reguläre reguläre Züge Züge angehängt, angehängt, bisweilen bisweilen reich-Ungarnreich-Ungarn wurden wurden über über zwei zwei Registrierstationen Registrierstationen bildetenbildeten sie sie einen einen Zug Zug für für sich. sich. anan der der habsburgisch-preußischen habsburgisch-preußischen Grenze, Grenze, Myslowitz Myslowitz Wer mit diesen Zügen gereist war, beschrieb die undund Ratibor, Ratibor, erfasst. erfasst. Ihnen Ihnen wurde wurde in in der der Regel Regel die die FahrtFahrt als als ausgesprochen ausgesprochen unangenehm. unangenehm. Die Die Waggons Waggons freiefreie Weiterreise Weiterreise zu zu den den deutschen deutschen Auswandererhäfen Auswandererhäfen waren vollgestopft mit Menschen und Gepäck, so (meist(meist über über Breslau, Breslau, Leipzig Leipzig oder oder Lehrte) Lehrte) gestattet. gestattet. dassdass häufig häufig gestanden gestanden werden werden musste. musste. Es Es handelte handelte Das Königreich Sachsen richtete 1903 in Leipzig eine sichsich um um unbequeme unbequeme Wagen Wagen vierter vierter Klasse, Klasse, in in denen denen Registrierstation ein. eses im im Sommer Sommer heiß heiß und und stickig stickig war. war. In In den den Wagen Wagen InIn Ruhleben Ruhleben existierten existierten drei drei Baracken, Baracken, in in denen denen an an war ein Sprachengemisch aus ÑÑPolnisch,Polnisch, ÑÑRussisch diedie 200 200 Personen Personen unterkamen. unterkamen. Außerdem Außerdem befanden befanden undund ÑÑJiddischJiddisch zu zu vernehmen. vernehmen. Die Die Reisenden Reisenden mussten mussten sichsich in in der der umfangreichen umfangreichen Anlage Anlage ein ein Desinfektions- Desinfektions- sichsich selbst selbst verpflegen; verpflegen; wer wer nicht nicht ausreichend ausreichend Proviant Proviant bereich,bereich, Duschräume, Duschräume, eine eine Quarantäne-Station, Quarantäne-Station, ein ein mit sich führte, war auf gutherzige Mitreisende oder SpeisesaalSpeisesaal und und Schlafräume. Schlafräume. Selbst Selbst Durchwanderer, Durchwanderer, jüdischejüdische Wohlfahrtsvereine Wohlfahrtsvereine angewiesen angewiesen [2. [2. 233]. 233]. diedie an an einer einer der der Grenzstationen Grenzstationen bereits bereits untersucht untersucht SeitSeit den den 1890er 1890er Jahren Jahren spielten spielten jüdische jüdische wohl- wohl- undund desinfiziert desinfiziert worden worden waren, waren, mussten mussten sich sich dieser dieser tätigetätige Vereinigungen Vereinigungen eine eine immer immer wichtigere wichtigere Rolle Rolle ProzedurProzedur häufig häufig ein ein zweites zweites Mal Mal unterziehen. unterziehen. Gegen Gegen beibei der der Durchwanderung. Durchwanderung. 1892 1892 leisteten leisteten 25 25 Vereine Vereine Entrichtung einer Gebühr von zwei Mark erhielt der jüdischenjüdischen Migranten Migranten an an den den Grenzstationen, Grenzstationen, in in den den Durchwanderer dann ein Gesundheitsattest. Die rus- Auswandererzügen und in den Häfen Hilfe. 1904 er- sisch-jüdischesisch-jüdische Schriftstellerin Schriftstellerin Mary Mary Antin Antin ( (ÑÑAmerika) öffneteöffnete der der Berliner BerlinerÑÑHilfsverein der deutschen Juden schilderteschilderte die die Situation Situation in in Ruhleben Ruhleben als als »beängstigen- »beängstigen- dasdas Zentralbüro Zentralbüro für für jüdische jüdische Auswandererangelegen- Auswandererangelegen- desdes Durcheinander«. Durcheinander«. Sie Sie erinnerte erinnerte sich sich an an »weiß- »weiß- heiten,heiten, um um seine seine weitgespannten weitgespannten Tätigkeiten Tätigkeiten in in der der gekleidetegekleidete Deutsche, Deutsche, die die jede jede ihrer ihrer lautstarken lautstarken An- An- FlüchtlingshilfeFlüchtlingshilfe zu zu koordinieren. koordinieren. Diese Diese Vereine Vereine nah- nah-

weisungen mit den Worten ›Schnell, schnell!‹ beglei-H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_BoardofDeputies_ClubBabel.3dmen wichtige Aufgaben wahr. Manche unterstützten vom 6.5.2011 teten.teten. Die Die verwirrten verwirrten Reisenden Reisenden gehorchten gehorchten wie wieSeite 431JudenJuden – Seitenformat: beim beim Passieren Passieren 185,00 x 265,00 der der russischen russischen mm Grenze Grenze oder oder kleinekleine Kinder Kinder [...]. [...]. Man Man nahm nahm uns uns unsere unsere Sachen SachenEnzyklopädiekümmertenkümmerten jüdischer sich sich Geschichte um um ihre ihre und Betreuung Betreuung Kultur, Umbruch in in den den Kontroll- Kontroll- weg und trennte uns von unseren Freunden, während stationen.stationen. Andere Andere griffen griffen Mittellosen Mittellosen finanziell finanziell unter unter ein43ein Mann Mann uns uns anscheinend anscheinend auf auf unseren unseren Materialwert Materialwert diedie Arme Arme oder oder versorgten versorgten die die Reisenden Reisenden mit mit Nahrung NahrungBrody hinhin taxierte; taxierte; wir wir ließen ließen uns uns hilf- hilf- und und widerstandslos widerstandslos undund Trinkwasser. Trinkwasser. In In den den Hafenstädten Hafenstädten vermittelten vermittelten vonvon gefährlich gefährlich dreinschauenden dreinschauenden Leuten Leuten hin- hin- und und her- her- siesie den den Migranten Migranten erschwingliche erschwingliche Unterkünfte Unterkünfte und und treibentreiben wie wie Vieh; Vieh; für für uns uns nicht nicht sichtbare sichtbare Kinder Kinder in in koscheres431koscheres Essen Essen und und kümmerten kümmerten sich sich darum, darum, dass dass Brody einemeinem Nebenraum Nebenraum brüllten brüllten in in einer einer Weise, Weise, die die das das ihnenihnen die die Ausübung Ausübung ihrer ihrer Religion Religion ermöglicht ermöglicht wur- wur- H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_BoardofDeputies_ClubBabel.3d vom 6.5.2011SchlimmsteSchlimmste befürchten befürchten ließ...« ließ...« [1. [1. 42f.]. 42f.]. H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_BoardofDeputies_ClubBabel.3dde.Sitzreihen.«de. Wieder Wieder andere andere Die emotionale verhandelten verhandelten Spannung, mit mit den den dierussischen russischen Jolson vom 6.5.2011 1. Brody im Werk Joseph Roths Seite 414 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm Ärzte und Hilfspersonal untersuchten die Durch-Seite 415Behördenentfesseln – Seitenformat: um konnte, die 185,00 Rückkehr war x 265,00 so außerordentlich, von mm Personen, die dass ander ein Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch wanderer auf Bindehautentzündung und sonstigeEnzyklopädieGrenzeanderer jüdischer Kritikerzurückgewiesen Geschichte meinte, und etwas worden Kultur, dieser Umbruch waren. Ausgelassenheit Die vielen So wenig Joseph Roth (1894–1939) nach seinen Auf- Augenleiden, Ausschläge, Cholera und andere anste- DankbriefeVergleichbares von sei glücklich nur in am religiöser Bestimmungsort Begeisterung, ange- enthalten in Wien, Berlin und Paris jemals wieder in ckendeckende Krankheiten. Krankheiten. Die Die als als krank krank Eingestuften Eingestuften wur- wur- langtenMassenhysterielangten Migranten Migranten und vermittelnan vermitteln der Börse eine eine zu finden. Vorstellung Vorstellung da- da- die Lebenswelt der Juden des östlichen Europa hätte denden entweder entweder zur zur Beobachtung Beobachtung in in einen einen besonderen besonderen von,von,Aus wie wie diesen wichtig wichtig Rohstoffen für für sie sie die die wurde Unterstützung Unterstützung das goldene jüdischer jüdischer Zeit- zurückkehren können, so sehr sind Galizien und Bereich der Station verwiesen oder sofort nach Russ- Wohlfahrtsvereinealter einer Kunstform war. geschmiedet und ein wenig seine Heimatstadt Brody – meist ohne Nennung des Bremerhaven landland zurückgeschickt. zurückgeschickt. Über Über die die Jahre Jahre wurde wurde so so tau-414 tau- Vulgarität415Eine weitere erwies wichtige sich dabei Aufgabe als das dieser richtige jüdischen ästheti- Namens, manchmal sogar camouflierendBremerhaven unter dem sendensenden von von russischen russischen Emigranten Emigranten die die Weiterreise Weiterreise Hilfsvereinesche Stilmittel. war Die die für Dokumentation die Ehrung desund amerikani- Veröffent- Namen des in der Nähe von Brody liegenden Schwaby einem Gefängnis untergebracht. Ehemalige Migran- verweigert. Zeitweise waren es mehr als fünf Prozent schenlichung Theaters von Misshandlungen zuständige Jury des und Pulitzer-Preises Unrecht, die (Szwaby)eine Synagoge. – in großen Im Unterschied Teilen seines zu Œuvres Hamburg präsent. be- ten berichteten im Rückblick, dass sie durch die Un- der Bewerber, denen auf diese Weise das Erreichen standjüdischen dem Durchwanderern Broadway daherstets widerfahren etwas ratlos waren. gegen- Der Besondersschränkten eindrucksvoll die Bremer Behörden wird Brody den in Aufenthalt dem um 1929 der freundlichkeit der Grenzbeamten sowie durch eine einer der Auswandererhäfen versagt blieb. über.Hilfsverein Als mit warfOf Thee 1904 I Sing dem1931 Direktor zum ersten der HAPAG, Mal ein entstandenenMigranten nicht, autobiographischen sie durften sich Fragment frei in derErdbeeren Stadt erniedrigende Prozedur, die sie in den Stationen zu Von Ruhleben wurden die Durchwanderer in Son- MusicalAlbert Ballin ausgezeichnet (1857–1918), wurde, die warenschlechte die Behandlung Librettisten vergegenwärtigt:bewegen [6. 18–28]. »Die Stadt, in der ich geboren wur- durchlaufen hatten, zusätzlich verängstigt worden derzügen nach Bremen oder Hamburg transportiert. (Georgevon Juden S. in Kaufman den Kontrollstationen und Morrie Ryskind) vor. Ballin und zählte der de,Nachdem lag im Osten die Europas, Durchreisenden in einer tage- großen oder Ebene, gar wo- die seien [9. 107]. Schon die Strecke von der deutschen Grenze nach Ruh- Songtexterzu den sogenannten (Ira Gershwin)ÑKaiserjuden, die Preisträger. eine Gruppe Die Leis- von spärlichchenlang bewohnt unterwegs war. gewesen Nach Osten waren, hin war gingen sie endlos. sie in leben hatten sie in geschlossenen Eisenbahnwaggons tungeinflussreichen des Komponisten und patriotischen fand rätselhafterweise deutschen Juden, keine ImBremerhaven Westen wurde oder sie Hamburg von einer an blauen, Bord nur der an Übersee- klaren zugebracht, wahrscheinlich um möglichen Kontakt Beachtung.die dem Kaiser Gleichwohl nahestanden. trug George Auf Ballin Gershwin ging die zu Ini- ei- Sommertagendampfer. Da Auswanderer sichtbaren Hügelkette selten in Bremerhavenbegrenzt. In 4. Auswandererbahnhof Ruhleben zur Bevölkerung einzuschränken. Die Durchwanderer nemtiative kulturellen zur Übertragung Erbe bei, der das ausschließlichen ebenso zugänglich Verant- wie meinerübernachteten, Heimatstadt erreichten lebten sie etwa den Hafenzehntausend in der RegelMen- Ein zentraler Punkt in diesem Kontrollsystem war der durften auf dem Weg zu ihrem Bestimmungsort nicht erhabenwortung ist für und jüdische nicht Transmigration nur den Anforderungen an die Schiff- an schen.von Bremen Dreitausend aus mit unter der Bahn. ihnen Vor waren ihnen verrückt, lag nun wenn die Auswandererbahnhof Ruhleben bei Berlin. Ruhleben aussteigen, auch wenn die Fahrt bis zu 25 Stunden »gutefahrtsgesellschaften jüdische Musik«, im sondern Jahr 1894 an gute zurück, Musik die über- der auchetwa nicht eine Woche gemeingefährlich. dauernde Schiffspassage Ein linder Wahnsinn in der diente der erneuten Untersuchung von Reisenden aus dauerte. Länge und Häufigkeit dieser Sonderzüge rich- hauptHAPAG entspricht. enorme Gewinne verschafft hatte. Infolge umgabpreiswertesten sie wie eine Reiseklasse, goldene Wolke. dem sogenannten [...] Meine Lands- Zwi- dem Russischen Reich, für die diese Maßnahme zwin- teten sich nach Bedarf; manchmal wurden die Auswan- des steigenden Passagierverkehrs nach Übersee und leuteschendeck, waren das begabt. äußerst Viele unkomfortabel leben in großen war. Städten Wer der in [1] G. Block, Enchanted Evenings. The Broadway Musical gend angeordnet wurde. Durchreisende aus Öster- dererwaggons an reguläre Züge angehängt, bisweilen fromder Monopolstellung Show Boat to Sondheim, anderen, New vor York allem 1997. niederländi- [2] H. Fordin, altendie Vereinigten und der neuen Staaten Welt. reiste, Alle sindmusste bedeutend, dann in man-einer reich-Ungarn wurden über zwei Registrierstationen bildeten sie einen Zug für sich. Gettingschen Reedereien to Know Him. gegenüber, A Biography avancierte of Oscar Hammerstein, seine Firma cheder berühmt. Kontrollstationen [...] Bei uns der zu Neuen Hause Welt,herrschte wie Frieden. z.B. in an der habsburgisch-preußischen Grenze, Myslowitz Wer mit diesen Zügen gereist war, beschrieb die Newzur bedeutendsten York 1977. [3] M. Schifffahrtslinie Gottfried, Broadway der Welt.Musicals, Auf New die NurÑEllis die Island, engsten weitere Nachbarn Untersuchungen hielten Feindschaft. und Befragun- Die und Ratibor, erfasst. Ihnen wurde in der Regel die Fahrt als ausgesprochen unangenehm. Die Waggons YorkBeschwerde 1979. [4] des R. Gottlieb/ Hilfsvereins R. Kimball reagierte (Hg.), ReadingBallin unver- Lyrics, Besoffenengen über sich versöhnten ergehen lassen. sich wieder. Konkurrenten ta- New York 2000. [5] J. B. Jones, Our Musicals, Ourselves. A So- freie Weiterreise zu den deutschen Auswandererhäfen waren vollgestopft mit Menschen und Gepäck, so züglich mit der Zulassung von jüdischen Vertretern Während des Ersten Weltkriegs kam die Auswan- cial History of the American Musical Theatre, Hanover 2003. ten einander nichts Böses an. Sie rächten sich an den (meist über Breslau, Leipzig oder Lehrte) gestattet. dass häufig gestanden werden musste. Es handelte [6]in J. den Lahr, Kontrollstationen. Honky Tonk Parade. Durch New Yorker die erhöhte Profiles of Trans- Show Kundenderung zum und Käufern.Erliegen Jederund erreichte lieh jedem danach Geld. nicht Alle Das Königreich Sachsen richtete 1903 in Leipzig eine sich um unbequeme Wagen vierter Klasse, in denen People,parenz New des York Untersuchungsverfahrens 2005. [7] H. Marx, Die Broadway-Story. und das Hin- Eine warenmehr den einander vorigen Geld Stand. schuldig. Hierdurch Einer hatteverlor dem auch ande- Bre- Registrierstation ein. es im Sommer heiß und stickig war. In den Wagen Kulturgeschichtezuziehen jüdischer des amerikanischen Hilfsorganisationen Theaters, wurde Düsseldorf die renmerhaven nichts etwas vorzuwerfen. von seinem [...] Status.Unsere Die Stadt Stadt war blieb sehr 1986. [8] A. Most, Making Americans. Jews and the Broadway In Ruhleben existierten drei Baracken, in denen an war ein Sprachengemisch aus ÑPolnisch, ÑRussisch Lage der Durchwanderer erträglicher. (...) regelmäßigjedoch Auswandererhafen und höchst einfach für angelegt. osteuropäische In der Mitte Emi- Musical, Cambridge (MA) 2004. [9] S. Whitfield, In Search of die 200 Personen unterkamen. Außerdem befanden und ÑJiddisch zu vernehmen. Die Reisenden mussten kreuztengranten; in sich den ihre Jahren beiden 1920 Hauptstraßen. bis 1924 reisten In mehr diesem als American Jewish Culture, HanoverNicole 1999. Kvale Eilers, Madison sich in der umfangreichen Anlage ein Desinfektions- sich selbst verpflegen; wer nicht ausreichend Proviant Mittelpunkt45000 Durchwanderer entstand ein über kleiner Bremerhaven Kreis, auf dem aus. man Zur 5. In Bremen und HamburgStephen J. Whitfield, Waltham (MA) bereich, Duschräume, eine Quarantäne-Station, ein mit sich führte, war auf gutherzige Mitreisende oder zweimalgleichen inZeit der reduzierte Woche den die Markt Beschränkung abhielt. Dieder Ein-eine Speisesaal und Schlafräume. Selbst Durchwanderer, jüdische Wohlfahrtsvereine angewiesen [2. 233]. Nach der langen Bahnfahrt durch Deutschland er- Straßewanderungsquoten führte vom Bahnhof in den zum Vereinigten Friedhof. Staaten Die andere und die an einer der Grenzstationen bereits untersucht Seit den 1890er Jahren spielten jüdische wohl- Brodyreichten die Durchwanderer schließlich Hamburg vomKanada Gefängnis die Anzahl in den der Wald« Migranten [2. Bd. drastisch. 4, 1008–1011]. Das ame- und desinfiziert worden waren, mussten sich dieser tätige Vereinigungen eine immer wichtigere Rolle oder Bremen. Für diejenigen unter ihnen, die mit rikanischeDie Zitatauszüge Quotengesetz belegen von 1921 die legte ironisch-ambiva- eine Höchst- Prozedur häufig ein zweites Mal unterziehen. Gegen bei der Durchwanderung. 1892 leisteten 25 Vereine Diedem habsburgische Lloyd reisten, war Kleinstadt die Wesermetropole Brody, in Ostgalizien die letzte lentegrenze Identifikation der Einwanderung des Autors aus mit einzelnen den Menschen, Ländern Entrichtung einer Gebühr von zwei Mark erhielt der jüdischen Migranten an den Grenzstationen, in den anStation, der Grenzebevor sie zum im 60 Russischen Kilometer entfernten Reich gelegen, Bremer- ist diefest. grundlegend Ausgehend von für der sein Größe poetisches der in den Verfahren Vereinigten ist. Durchwanderer dann ein Gesundheitsattest. Die rus- Auswandererzügen und in den Häfen Hilfe. 1904 er- paradigmatischhaven an Bord derfür dieÜberseedampfer osteuropäische gingen. Erfahrung Häufig in DieseStaaten Identifikation bereits ansässigen enthält zugleich Bevölkerungsgruppe eine program- sisch-jüdische Schriftstellerin Mary Antin (ÑAmerika) öffnete der Berliner ÑHilfsverein der deutschen Juden dermussten zweiten die AuswandererHälfte des 19. noch und eine im frühen weitere 20. medizi- Jahr- matischedurfte die Absage Neueinwanderung an den Hochmut aus derdem Westeuropäer, entsprechen- schilderte die Situation in Ruhleben als »beängstigen- das Zentralbüro für jüdische Auswandererangelegen- hundert.nische Untersuchung Wie kein anderer über Autor sich ergehenhat Joseph lassen. Roth Inin derden sich Land in jährlich der Verachtung maximal der drei Juden Prozent des betragen. östlichen des Durcheinander«. Sie erinnerte sich an »weiß- heiten, um seine weitgespannten Tätigkeiten in der seinemHamburg literarischen war die Abwicklung Werk Brody und zu einemVersorgung Gedächt- der EuropaBasis der manifestiert. Quote war die Ähnlich amerikanische wie seine Volkszählung Reportage gekleidete Deutsche, die jede ihrer lautstarken An- Flüchtlingshilfe zu koordinieren. Diese Vereine nah- nisortDurchwanderer par excellence besser werden organisiert. lassen. Während Nur in der des Flucht Som- Reisevon 1890; durch damit Galizien wurde(1924) die leitet Frühphase Joseph Roth der Massenein- den Essay weisungen mit den Worten ›Schnell, schnell!‹ beglei- men wichtige Aufgaben wahr. Manche unterstützten ausmers seinem 1892 ließ Geburtsort die HAPAG, sah Roth erneut eine auf Aufstiegschance Anregung von Judenwanderung auf Wanderschaft von osteuropäischen(1927) mit einer Juden Zurückweisung zum Bewer- teten. Die verwirrten Reisenden gehorchten wie Juden beim Passieren der russischen Grenze oder undBallin, wurde am sogenannten doch die Erinnerung Amerikaquai an Baracken die galizische bau- diesestungsmaßstab Hochmuts herangezogen. ein: »Der Verfasser Noch hegt restriktiver die törichte wa- kleine Kinder [...]. Man nahm uns unsere Sachen kümmerten sich um ihre Betreuung in den Kontroll- Heimaten, um die nie Migranten los. Seine unterzubringen. Erinnerung an 1901Brody existierte ist ein Hoffnung,ren der Johnson-Reed-Act daß es noch Leser von gibt, 1924 vor und denen ein weiteresman die weg und trennte uns von unseren Freunden, während stationen. Andere griffen Mittellosen finanziell unter zentraleseine ganze Element Auswanderersiedlung einer mythisierenden in Hafennähe, Konstrukti- in OstjudenQuotengesetz nicht vonzu verteidigen 1929. Von braucht; den neuen Leser, Einwan-die Ach- ein Mann uns anscheinend auf unseren Materialwert die Arme oder versorgten die Reisenden mit Nahrung on,der in neben der das Gemeinschaftsräumen untergegangene Habsburgerreich und Speisesälen als tungderungsbestimmungen haben vor Schmerz, waren menschlicher vor allem Juden Größe betrof- und hin taxierte; wir ließen uns hilf- und widerstandslos und Trinkwasser. In den Hafenstädten vermittelten einauch utopisches eine Reihe Friedensreich von Dienstleistungen erscheint. angeboten wur- vorfen, dem denn Schmutz, sie wurden der nun überall nach ihrendas Leid Ausgangslän- begleitet; von gefährlich dreinschauenden Leuten hin- und her- sie den Migranten erschwingliche Unterkünfte und den. Jüdische Migranten wurden separat unterge- Westeuropäer,dern gezählt und die nicht [...] fühlen, als Angehörige daß sie vom einer Osten jüdi- 1. Brody im Werk Joseph Roths treiben wie Vieh; für uns nicht sichtbare Kinder in koscheres Essen und kümmerten sich darum, dass 2.bracht Das jüdische und erhielten Brody im spätenkoscheres Habsburgerreich Essen. Speziell in vielschen zu Nation empfangen – ein hätten, Unterschied, und die der vielleicht dazu wissen, führte, einem Nebenraum brüllten in einer Weise, die das ihnen die Ausübung ihrer Religion ermöglicht wur- 3.Hamburg Heimat als wurden Utopie Russen, in erster Linie russische daßdass aus die Galizien, Zahl der Rußland, jüdischen Litauen, Einwanderer Rumänien aus große dem Schlimmste befürchten ließ...« [1. 42f.]. de. Wieder andere verhandelten mit den russischen Juden, als besonders gefährlich eingestuft; sie durften östlichen Europa in der Zwischenkriegszeit erheblich Ärzte und Hilfspersonal untersuchten die Durch- Behörden um die Rückkehr von Personen, die an der daher den ihnen zugewiesenen Aufenthaltsbereich zurückging. wanderer auf Bindehautentzündung und sonstige Grenze zurückgewiesen worden waren. Die vielen nicht verlassen und die Stadt nicht betreten. Mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus Augenleiden, Ausschläge, Cholera und andere anste- Dankbriefe von glücklich am Bestimmungsort ange- In Bremen mussten sich die Emigranten bis 1907 verlor Bremerhaven für die jüdische Durchwan- ckende Krankheiten. Die als krank Eingestuften wur- langten Migranten vermitteln eine Vorstellung da- selbst Unterkünfte suchen; später ließ die Reederei derung weiter an Bedeutung. Um antisemitischen den entweder zur Beobachtung in einen besonderen von, wie wichtig für sie die Unterstützung jüdischer in der Nähe des Hauptbahnhofs elf Gebäude errich- Übergriffen zu entgehen, traten Juden die Reise Bereich der Station verwiesen oder sofort nach Russ- Wohlfahrtsvereine war. ten, in denen bis zu 3400 Personen übernachten nach Übersee oftmals nicht von deutschen Häfen aus land zurückgeschickt. Über die Jahre wurde so tau- Eine weitere wichtige Aufgabe dieser jüdischen konnten. Eines davon, bekannt als »Hotel Stadt War- an, sondern wichen auf Rotterdam oder Antwerpen senden von russischen Emigranten die Weiterreise Hilfsvereine war die Dokumentation und Veröffent- schau«, verfügte über eine koschere Küche und sogar aus. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_BoardofDeputies_ClubBabel.3d vom 6.5.2011 Seite 431 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_BoardofDeputies_ClubBabel.3dEnzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch vom 6.5.2011 Seite 431 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch

431 Brody

431 Brody Sitzreihen.« Die emotionale Spannung, die Jolson 1. Brody im Werk Joseph Roths entfesseln konnte, war so außerordentlich, dass ein Sitzreihen.« Die emotionale Spannung, die Jolson anderer Kritiker meinte, etwas dieser Ausgelassenheit 1.So wenig Brody Joseph im Werk Roth Joseph (1894–1939) Roths nach seinen Auf- entfesseln konnte, war so außerordentlich, dass ein Vergleichbares sei nur in religiöser Begeisterung, enthalten in Wien, Berlin und Paris jemals wieder in anderer Kritiker meinte, etwas dieser Ausgelassenheit So wenig Joseph Roth (1894–1939) nach seinen Auf- Massenhysterie und an der Börse zu finden. die Lebenswelt der Juden des östlichen Europa hätte Vergleichbares sei nur in religiöser Begeisterung, enthalten in Wien, Berlin und Paris jemals wieder in Aus diesen Rohstoffen wurde das goldene Zeit- zurückkehren können, so sehr sind Galizien und Massenhysterie und an der Börse zu finden. die Lebenswelt der Juden des östlichen Europa hätte alter einer Kunstform geschmiedet und ein wenig seine Heimatstadt Brody – meist ohne Nennung des Aus diesen Rohstoffen wurde das goldene Zeit- zurückkehren können, so sehr sind Galizien und Vulgarität erwies sich dabei als das richtige ästheti- Namens, manchmal sogar camouflierend unter dem alter einer Kunstform geschmiedet und ein wenig seine Heimatstadt Brody – meist ohne Nennung des sche Stilmittel. Die für die Ehrung des amerikani- Namen des in der Nähe von Brody liegenden Schwaby Vulgarität erwies sich dabei als das richtige ästheti- Namens, manchmal sogar camouflierend unter dem schen Theaters zuständige Jury des Pulitzer-Preises (Szwaby) – in großen Teilen seines Œuvres präsent. sche Stilmittel. Die für die Ehrung des amerikani- Namen des in der Nähe von Brody liegenden Schwaby stand dem Broadway daher stets etwas ratlos gegen- Besonders eindrucksvoll wird Brody in dem um 1929 schen Theaters zuständige Jury des Pulitzer-Preises (Szwaby) – in großen Teilen seines Œuvres präsent. über. Als mit Of Thee I Sing 1931 zum ersten Mal ein entstandenen autobiographischen Fragment Erdbeeren stand dem Broadway daher stets etwas ratlos gegen- Besonders eindrucksvoll wird Brody in dem um 1929 Musical ausgezeichnet wurde, waren die Librettisten vergegenwärtigt: »Die Stadt, in der ich geboren wur- über. Als mit Of Thee I Sing 1931 zum ersten Mal ein entstandenen autobiographischen Fragment Erdbeeren (George S. Kaufman und Morrie Ryskind) und der de, lag im Osten Europas, in einer großen Ebene, die Musical ausgezeichnet wurde, waren die Librettisten vergegenwärtigt: »Die Stadt, in der ich geboren wur- Songtexter (Ira Gershwin) die Preisträger. Die Leis- spärlich bewohnt war. Nach Osten hin war sie endlos. (George S. Kaufman und Morrie Ryskind) und der de, lag im Osten Europas, in einer großen Ebene, die tung des Komponisten fand rätselhafterweise keine Im Westen wurde sie von einer blauen, nur an klaren Songtexter (Ira Gershwin) die Preisträger. Die Leis- spärlich bewohnt war. Nach Osten hin war sie endlos. Beachtung. Gleichwohl trug George Gershwin zu ei- Sommertagen sichtbaren Hügelkette begrenzt. In tung des Komponisten fand rätselhafterweise keine Im Westen wurde sie von einer blauen, nur an klaren nem kulturellen Erbe bei, das ebenso zugänglich wie meiner Heimatstadt lebten etwa zehntausend Men- Beachtung. Gleichwohl trug George Gershwin zu ei- Sommertagen sichtbaren Hügelkette begrenzt. In erhaben ist und nicht nur den Anforderungen an schen. Dreitausend unter ihnen waren verrückt, wenn nem kulturellen Erbe bei, das ebenso zugänglich wie meiner Heimatstadt lebten etwa zehntausend Men- »gute jüdische Musik«, sondern an gute Musik über- auch nicht gemeingefährlich. Ein linder Wahnsinn erhaben ist und nicht nur den Anforderungen an schen. Dreitausend unter ihnen waren verrückt, wenn haupt entspricht. umgab sie wie eine goldene Wolke. [...] Meine Lands- »gute jüdische Musik«, sondern an gute Musik über- auch nicht gemeingefährlich. Ein linder Wahnsinn leute waren begabt. Viele leben in großen Städten der haupt[1] G. Block, entspricht. Enchanted Evenings. The Broadway Musical umgab sie wie eine goldene Wolke. [...] Meine Lands- alten und der neuen Welt. Alle sind bedeutend, man- from Show Boat to Sondheim, New York 1997. [2] H. Fordin, leute waren begabt. Viele leben in großen Städten der [1]Getting G. Block, to Know Enchanted Him. A Evenings. Biography The of Oscar Broadway Hammerstein, Musical che berühmt. [...] Bei uns zu Hause herrschte Frieden. alten und der neuen Welt. Alle sind bedeutend, man- fromNew ShowYork Boat1977. to [3] Sondheim, M. Gottfried, New Broadway York 1997. Musicals, [2] H. Fordin, New Nur die engsten Nachbarn hielten Feindschaft. Die Getting to Know Him. A Biography of Oscar Hammerstein, che berühmt. [...] Bei uns zu Hause herrschte Frieden. York 1979. [4] R. Gottlieb/ R. Kimball (Hg.), Reading Lyrics, Besoffenen versöhnten sich wieder. Konkurrenten ta- New York York 2000. 1977. [5] [3] J. M. B. Gottfried,Jones, Our BroadwayMusicals, Ourselves. Musicals, A New So- Nur die engsten Nachbarn hielten Feindschaft. Die ten einander nichts Böses an. Sie rächten sich an den Yorkcial History 1979. [4] of R.the Gottlieb/ American R. Musical Kimball Theatre, (Hg.), Reading Hanover Lyrics, 2003. Besoffenen versöhnten sich wieder. Konkurrenten ta- New York 2000. [5] J. B. Jones, Our Musicals, Ourselves. A So- Kunden und Käufern. Jeder lieh jedem Geld. Alle [6] J. Lahr, Honky Tonk Parade. New Yorker Profiles of Show ten einander nichts Böses an. Sie rächten sich an den cialPeople, History New of York the 2005. American [7] H. Musical Marx, Die Theatre, Broadway-Story. Hanover 2003. Eine waren einander Geld schuldig. Einer hatte dem ande- [6] J. Lahr, Honky Tonk Parade. New Yorker Profiles of Show Kunden und Käufern. Jeder lieh jedem Geld. Alle Kulturgeschichte des amerikanischen Theaters, Düsseldorf ren nichts vorzuwerfen. [...] Unsere Stadt war sehr People,1986. [8] New A. Most, York2005. Making [7] Americans. H. Marx, Die Jews Broadway-Story. and the Broadway Eine waren einander Geld schuldig. Einer hatte dem ande- regelmäßig und höchst einfach angelegt. In der Mitte KulturgeschichteMusical, Cambridge des (MA) amerikanischen 2004. [9] S. Whitfield, Theaters, In Düsseldorf Search of ren nichts vorzuwerfen. [...] Unsere Stadt war sehr 1986. [8] A. Most, Making Americans. Jews and the Broadway kreuzten sich ihre beiden Hauptstraßen. In diesem American Jewish Culture, Hanover 1999. regelmäßig und höchst einfach angelegt. In der Mitte Musical, Cambridge (MA) 2004. [9] S. Whitfield, In Search of Mittelpunkt entstand ein kleiner Kreis, auf dem man Stephen J. Whitfield, Waltham (MA) kreuzten sich ihre beiden Hauptstraßen. In diesem American Jewish Culture, Hanover 1999. zweimal in der Woche den Markt abhielt. Die eine Mittelpunkt entstand ein kleiner Kreis, auf dem man Stephen J. Whitfield, Waltham (MA) Straße führte vom Bahnhof zum Friedhof. Die andere zweimal in der Woche den Markt abhielt. Die eine Brody vom Gefängnis in den Wald« [2. Bd. 4, 1008–1011]. Straße führte vom Bahnhof zum Friedhof. Die andere Die Zitatauszüge belegen die ironisch-ambiva- Brody vom Gefängnis in den Wald« [2. Bd. 4, 1008–1011]. Die habsburgische Kleinstadt Brody, in Ostgalizien lente Identifikation des Autors mit den Menschen, Die Zitatauszüge belegen die ironisch-ambiva- an der Grenze zum Russischen Reich gelegen, ist die grundlegend für sein poetisches Verfahren ist. Die habsburgische Kleinstadt Brody, in Ostgalizien lente Identifikation des Autors mit den Menschen, paradigmatisch für die osteuropäische Erfahrung in Diese Identifikation enthält zugleich eine program- an der Grenze zum Russischen Reich gelegen, ist die grundlegend für sein poetisches Verfahren ist. der zweiten Hälfte des 19. und im frühen 20. Jahr- matische Absage an den Hochmut der Westeuropäer, paradigmatisch für die osteuropäische Erfahrung in Diese Identifikation enthält zugleich eine program- hundert. Wie kein anderer Autor hat Joseph Roth in der sich in der Verachtung der Juden des östlichen der zweiten Hälfte des 19. und im frühen 20. Jahr- matische Absage an den Hochmut der Westeuropäer, seinem literarischen Werk Brody zu einem Gedächt- Europa manifestiert. Ähnlich wie seine Reportage hundert. Wie kein anderer Autor hat Joseph Roth in der sich in der Verachtung der Juden des östlichen nisort par excellence werden lassen. Nur in der Flucht Reise durch Galizien (1924) leitet Joseph Roth den Essay seinem literarischen Werk Brody zu einem Gedächt- Europa manifestiert. Ähnlich wie seine Reportage aus seinem Geburtsort sah Roth eine Aufstiegschance Juden auf Wanderschaft (1927) mit einer Zurückweisung nisort par excellence werden lassen. Nur in der Flucht Reise durch Galizien (1924) leitet Joseph Roth den Essay und wurde doch die Erinnerung an die galizische dieses Hochmuts ein: »Der Verfasser hegt die törichte H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_BoardofDeputies_ClubBabel.3daus vom 6.5.2011seinem Geburtsort sah Roth eine AufstiegschanceH:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_BoardofDeputies_ClubBabel.3dJuden auf Wanderschaft (1927) mit einer Zurückweisung vom 6.5.2011 Heimat nie los. Seine Erinnerung an Brody ist ein Hoffnung, daß es noch Leser gibt, vor denen man die Seite 431 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm und wurde doch die Erinnerung an dieSeite galizische 432 – Seitenformat:dieses Hochmuts 185,00 x 265,00 ein: mm »Der Verfasser hegt die törichte zentrales Element einer mythisierenden Konstrukti- Ostjuden nicht zu verteidigen braucht; Leser, die Ach- Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch Heimat nie los. Seine Erinnerung an BrodyEnzyklopädie ist ein jüdischerHoffnung, Geschichte daß und es nochKultur, Leser Umbruch gibt, vor denen man die on, in der das untergegangene Habsburgerreich als tung haben vor Schmerz, menschlicher Größe und Brodyzentrales Element einer mythisierenden Konstrukti- Ostjuden nicht zu verteidigen braucht; Leser, die Ach-44 ein utopisches Friedensreich erscheint. vor dem Schmutz, der überall das Leid begleitet; on, in der das untergegangene Habsburgerreich als tung haben vor Schmerz, menschlicher Größe und Westeuropäer, die [...] fühlen, daß sie vom Osten ein1. Brody utopisches im Werk Friedensreich Joseph Roths erscheint. vor dem Schmutz, der überall das Leid begleitet; viel zu empfangen hätten, und die vielleicht wissen, 2. Das jüdische Brody im späten Habsburgerreich Westeuropäer, die [...] fühlen, daß sie vom Osten 1.3. BrodyHeimat im als Werk Utopie Joseph Roths daß aus Galizien, Rußland, Litauen, Rumänien große 431 2. Das jüdische Brody im späten Habsburgerreich Brody vielBrody zu empfangen hätten, und die vielleicht wissen, 432 3. Heimat als Utopie daß aus Galizien, Rußland, Litauen, Rumänien große Sitzreihen.« Die emotionale Spannung, die Jolson Menschen und große Ideen kommen« [2. Bd. 2, 827]. chenden politischen Partizipation in kommunalen 1. Brody im Werk Joseph Roths entfesseln konnte, war so außerordentlich, dass ein Im Roman Radetzkymarsch (1932), der den Untergang und überregionalen Institutionen einher. Bezüglich anderer Kritiker meinte, etwas dieser Ausgelassenheit So wenig Joseph Roth (1894–1939) nach seinen Auf- der Habsburgermonarchie zum Thema hat, ist – mit des religiösen Lebens hatte Brody den Juden der Re- Vergleichbares sei nur in religiöser Begeisterung, enthalten in Wien, Berlin und Paris jemals wieder in deutlichen Parallelen zu Erdbeeren – Brody Modell für gion traditionell als »Jerusalem des Ostens« gegolten. Massenhysterie und an der Börse zu finden. die Lebenswelt der Juden des östlichen Europa hätte das Städtchen Sipolje, in dem der Leutnant Carl Jo- Mit der »Alte Schul« wies die Stadt seit Beginn des Aus diesen Rohstoffen wurde das goldene Zeit- zurückkehren können, so sehr sind Galizien und seph von Trotta in einem Jägerbataillon Dienst tut. 17. Jahrhunderts die prächtigste ÑSynagoge Galiziens alter einer Kunstform geschmiedet und ein wenig seine Heimatstadt Brody – meist ohne Nennung des Die hier manifeste Evokation der Natur entbehrt auf. Charakteristisch für die Juden von Brody war das Vulgarität erwies sich dabei als das richtige ästheti- Namens, manchmal sogar camouflierend unter dem nicht einer Ambivalenz, wie sie für Roths Heimatbild Bekenntnis zur traditionellen Orthodoxie; bereits sche Stilmittel. Die für die Ehrung des amerikani- Namen des in der Nähe von Brody liegenden Schwaby typisch ist: »Die Natur schmiedete einen unendlichen früh zeichnete sich eine deutliche Gegnerschaft zu schen Theaters zuständige Jury des Pulitzer-Preises (Szwaby) – in großen Teilen seines Œuvres präsent. Horizont um die Menschen an der Grenze und um- sektiererischen Abspaltungen ab. 1784 erfolgte die stand dem Broadway daher stets etwas ratlos gegen- Besonders eindrucksvoll wird Brody in dem um 1929 gab sie mit einem edlen Ring aus grünen Wäldern Gründung einer deutschen Normalschule für Knaben über. Als mit Of Thee I Sing 1931 zum ersten Mal ein entstandenen autobiographischen Fragment Erdbeeren und blauen Hügeln. Und gingen [die Bewohner] und Mädchen, was die beginnende Öffnung zur sä- Musical ausgezeichnet wurde, waren die Librettisten vergegenwärtigt: »Die Stadt, in der ich geboren wur- durch das Dunkel der Tannen, so konnten sie sogar kularen Bildung signalisiert. 1816 nahm eine deutsch- (George S. Kaufman und Morrie Ryskind) und der de, lag im Osten Europas, in einer großen Ebene, die glauben, von Gott bevorzugt zu sein [...]. Alle aber, sprachige jüdische Realschule ihre Tätigkeit auf, die Songtexter (Ira Gershwin) die Preisträger. Die Leis- spärlich bewohnt war. Nach Osten hin war sie endlos. die dort geboren waren, kannten die Tücken des Sump- deutsche Bildungstradition wurde zur Grundlage der tung des Komponisten fand rätselhafterweise keine Im Westen wurde sie von einer blauen, nur an klaren fes und besaßen selbst etwas von seiner Tücke. Im weiteren Entwicklung. Die Stadt entwickelte sich zu Beachtung. Gleichwohl trug George Gershwin zu ei- Sommertagen sichtbaren Hügelkette begrenzt. In Frühling und im Sommer war die Luft erfüllt von einem Zentrum der ÑHaskala; in Reaktion darauf nem kulturellen Erbe bei, das ebenso zugänglich wie meiner Heimatstadt lebten etwa zehntausend Men- einem unaufhörlichen, satten Quaken der Frösche. Un- wurde sie im Jahr 1816 (zusammen mit Tarnopol) erhaben ist und nicht nur den Anforderungen an schen. Dreitausend unter ihnen waren verrückt, wenn ter den Himmeln jubelte ein ebenso sattes Trillern der von der etablierten Orthodoxie mit dem ÑBann be- »gute jüdische Musik«, sondern an gute Musik über- auch nicht gemeingefährlich. Ein linder Wahnsinn Lerchen. Und es war eine unermüdliche Zwiesprach' legt. In der Oberschicht war Brody auf die deutsche haupt entspricht. umgab sie wie eine goldene Wolke. [...] Meine Lands- des Himmels mit dem Sumpf« [2. Bd. 5, 257f.]. Kultur ausgerichtet. Als seit 1867 Galizien polonisiert leute waren begabt. Viele leben in großen Städten der Roths Eingedenken hat mit Blick auf Brody etwas wurde, entstand weiterer Assimilationsdruck. Ebenso [1] G. Block, Enchanted Evenings. The Broadway Musical from Show Boat to Sondheim, New York 1997. [2] H. Fordin, alten und der neuen Welt. Alle sind bedeutend, man- von »erpresster Versöhnung« (Th. W. Adorno); sie ist war aber auch die traditionelle orthodoxe Kultur wei- Getting to Know Him. A Biography of Oscar Hammerstein, che berühmt. [...] Bei uns zu Hause herrschte Frieden. nur möglich aus der Distanz: eine sentimentalische terhin präsent, die in der mütterlichen Familie Joseph New York 1977. [3] M. Gottfried, Broadway Musicals, New Nur die engsten Nachbarn hielten Feindschaft. Die Konstruktion, keine naive Anverwandlung. Doch Roths über den Großvater erhalten blieb. So war ihm York 1979. [4] R. Gottlieb/ R. Kimball (Hg.), Reading Lyrics, Besoffenen versöhnten sich wieder. Konkurrenten ta- während sich diese Distanz gegenüber Brody und die jiddische Sprache heimatlich vertraut; auch sein New York 2000. [5] J. B. Jones, Our Musicals, Ourselves. A So- cial History of the American Musical Theatre, Hanover 2003. ten einander nichts Böses an. Sie rächten sich an den Galizien nicht verringerte, begann Roth mit wachsen- präzises Deutsch hat Roth auf seine Jiddisch-Kennt- [6] J. Lahr, Honky Tonk Parade. New Yorker Profiles of Show Kunden und Käufern. Jeder lieh jedem Geld. Alle dem Abstand zur untergegangenen Habsburgermo- nisse zurückgeführt. People, New York 2005. [7] H. Marx, Die Broadway-Story. Eine waren einander Geld schuldig. Einer hatte dem ande- narchie, diese zu einem Mythos zu verklären [8]. In Am Aufschwung Galiziens um 1900 konnte Kulturgeschichte des amerikanischen Theaters, Düsseldorf ren nichts vorzuwerfen. [...] Unsere Stadt war sehr einer persönlichen Erklärung zum Vorabdruck des Brody kaum partizipieren. Als nach den russischen 1986. [8] A. Most, Making Americans. Jews and the Broadway regelmäßig und höchst einfach angelegt. In der Mitte Romans Radetzkymarsch in der Frankfurter Zeitung legte Pogromen 1881/1882 tausende von russisch-jüdischen Musical, Cambridge (MA) 2004. [9] S. Whitfield, In Search of American Jewish Culture, Hanover 1999. kreuzten sich ihre beiden Hauptstraßen. In diesem er ein programmatisches Bekenntnis zu diesem alten Flüchtlingen in der Grenzstadt Brody Zuflucht such- Mittelpunkt entstand ein kleiner Kreis, auf dem man Österreich ab: »Ich habe es geliebt, dieses Vaterland, ten und damit für einige Zeit die Bewohnerzahl fast Stephen J. Whitfield, Waltham (MA) zweimal in der Woche den Markt abhielt. Die eine das mir erlaubte, ein Patriot und ein Weltbürger zu- verdoppelten, überstieg dies die Kapazität der Stadt, Straße führte vom Bahnhof zum Friedhof. Die andere gleich zu sein, ein Österreicher und ein Deutscher die nun immer mehr verarmte. »Verfallen wie in Brody vom Gefängnis in den Wald« [2. Bd. 4, 1008–1011]. unter allen österreichischen Völkern« [2. Bd. 5, 874]. Brody« wurde zu einer geläufigen Redewendung. In Die Zitatauszüge belegen die ironisch-ambiva- den 1890er Jahren führte die Polonisierung des Kron- Die habsburgische Kleinstadt Brody, in Ostgalizien lente Identifikation des Autors mit den Menschen, lands Galizien und damit auch Brodys zum Ende der 2. Das jüdische Brody im späten Habsburgerreich an der Grenze zum Russischen Reich gelegen, ist die grundlegend für sein poetisches Verfahren ist. deutschsprachigen Ära, während der Zionismus und paradigmatisch für die osteuropäische Erfahrung in Diese Identifikation enthält zugleich eine program- Während der gesamten Zeit der österreichischen damit die Idee einer anderen jüdischen Heimat an der zweiten Hälfte des 19. und im frühen 20. Jahr- matische Absage an den Hochmut der Westeuropäer, Herrschaft, die 1772 mit der ersten Teilung Polens Zuspruch gewannen. Das gewaltsame Ende Brodys hundert. Wie kein anderer Autor hat Joseph Roth in der sich in der Verachtung der Juden des östlichen und der Etablierung Galiziens als Kronland begann, als einer jüdischen Stadt in den Jahren 1941 bis 1944 seinem literarischen Werk Brody zu einem Gedächt- Europa manifestiert. Ähnlich wie seine Reportage hatten Juden zwischen zwei Drittel und drei Viertel hat Roth nicht mehr erlebt. nisort par excellence werden lassen. Nur in der Flucht Reise durch Galizien (1924) leitet Joseph Roth den Essay der Gesamtbevölkerung der Stadt ausgemacht. Brody aus seinem Geburtsort sah Roth eine Aufstiegschance Juden auf Wanderschaft (1927) mit einer Zurückweisung wurde nach Lemberg und Krakau zeitweilig zur dritt- 3. Heimat als Utopie und wurde doch die Erinnerung an die galizische dieses Hochmuts ein: »Der Verfasser hegt die törichte größten Stadt Galiziens. Seit 1779 mit einem Freihan- Heimat nie los. Seine Erinnerung an Brody ist ein Hoffnung, daß es noch Leser gibt, vor denen man die delsprivileg ausgestattet, wurde sie zum Umschlag- Moses Joseph Roth, der diesem Kontext des späten zentrales Element einer mythisierenden Konstrukti- Ostjuden nicht zu verteidigen braucht; Leser, die Ach- platz von Waren aus dem Westen und aus dem un- habsburgischen Brody entstammte, wuchs zusam- on, in der das untergegangene Habsburgerreich als tung haben vor Schmerz, menschlicher Größe und mittelbar benachbarten Russischen Reich. Bis in die men mit seiner Mutter Maria (Miriam) Roth bei sei- ein utopisches Friedensreich erscheint. vor dem Schmutz, der überall das Leid begleitet; 1850er Jahre konnte Brody als Handelsstadt von die- nem Großvater Jechiel Grübel auf, einem Händler, Westeuropäer, die [...] fühlen, daß sie vom Osten 1. Brody im Werk Joseph Roths ser grenznahen Position profitieren. Die deutliche der in der jüdisch-orthodoxen jiddischsprachigen 2. Das jüdische Brody im späten Habsburgerreich viel zu empfangen hätten, und die vielleicht wissen, jüdische Bevölkerungsmehrheit ging insbesondere Tradition tief verwurzelt war, in dessen Haushalt 3. Heimat als Utopie daß aus Galizien, Rußland, Litauen, Rumänien große nach der Gleichberechtigung 1868 mit einer entspre- aber später Deutsch gesprochen wurde. Den psy- H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_BoardofDeputies_ClubBabel.3d vom 6.5.2011 Seite 432 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch

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Menschen und große Ideen kommen« [2. Bd. 2, 827]. chenden politischen Partizipation in kommunalen Im Roman Radetzkymarsch (1932),(1932), der der den den Untergang Untergang und überregionalen Institutionen einher. Bezüglich der Habsburgermonarchie zum Thema hat, ist – mit des religiösen Lebens hatte Brody den Juden der Re- deutlichen Parallelen zu Erdbeeren – Brody Modell für gion traditionell als »Jerusalem des Ostens« gegolten. das Städtchen Sipolje, in dem der Leutnant Carl Jo- Mit der »Alte Schul« wies die Stadt seit Beginn des seph von Trotta in einem Jägerbataillon Dienst tut. 17. Jahrhunderts die prächtigste ÑSynagoge Galiziens Die hier manifeste Evokation der Natur entbehrt auf. Charakteristisch für die Juden von Brody war das nicht einer Ambivalenz, wie sie für Roths Heimatbild Bekenntnis zur traditionellen Orthodoxie; bereits typisch ist: »Die Natur schmiedete einen unendlichen frühfrüh zeichnete zeichnete sich sich eine eine deutliche deutliche Gegnerschaft Gegnerschaft zu zu Horizont um die Menschen an der Grenze und um- sektiererischen Abspaltungen ab. 1784 erfolgte die gab sie mit einem edlen Ring aus grünen Wäldern Gründung einer deutschen Normalschule für Knaben und blauen Hügeln. Und gingen [die Bewohner] und Mädchen, was die beginnende Öffnung zur sä- durch das Dunkel der Tannen, so konnten sie sogar kularen Bildung signalisiert. 1816 nahm eine deutsch- glauben, von Gott bevorzugt zu sein [...]. Alle aber, sprachige jüdische Realschule ihre Tätigkeit auf, die die dort geboren waren, kannten die Tücken des Sump- deutsche Bildungstradition wurde zur Grundlage der fesfes und und besaßen besaßen selbst selbst etwas etwas von von seiner seiner Tücke. Tücke. Im Im weiteren Entwicklung. Die Stadt entwickelte sich zu Frühling und im Sommer war die Luft erfüllt von einem Zentrum der ÑHaskala; in Reaktion darauf einem unaufhörlichen, satten Quaken der Frösche. Un- wurde sie im Jahr 1816 (zusammen mit Tarnopol) ter den Himmeln jubelte ein ebenso sattes Trillern der von der etablierten Orthodoxie mit dem ÑBann be- Lerchen. Und es war eine unermüdliche Zwiesprach' legt.legt. In In der der Oberschicht Oberschicht war war Brody Brody auf auf die die deutsche deutsche des Himmels mit dem Sumpf« [2. Bd. 5, 257f.]. Kultur ausgerichtet. Als seit 1867 Galizien polonisiert Roths Eingedenken hat mit Blick auf Brody etwas wurde, entstand weiterer Assimilationsdruck. Ebenso von »erpresster Versöhnung« (Th. W. Adorno); sie ist war aber auch die traditionelle orthodoxe Kultur wei- nur möglich aus der Distanz: eine sentimentalische terhin präsent, die in der mütterlichen Familie Joseph Konstruktion, keine naive Anverwandlung. Doch Roths über den Großvater erhalten blieb. So war ihm während sich diese Distanz gegenüber Brody und die jiddische Sprache heimatlich vertraut; auch sein Galizien nicht verringerte, begann Roth mit wachsen- präzises Deutsch hat Roth auf seine Jiddisch-Kennt- dem Abstand zur untergegangenen Habsburgermo- nisse zurückgeführt. narchie, diese zu einem Mythos zu verklären [8]. In Am Aufschwung Galiziens um 1900 konnte einer persönlichen Erklärung zum Vorabdruck des Brody kaum partizipieren. Als nach den russischen Romans Radetzkymarsch inin der der Frankfurter Zeitung legtelegte Pogromen 1881/1882 tausende von russisch-jüdischen er ein programmatisches Bekenntnis zu diesem alten Flüchtlingen in der Grenzstadt Brody Zuflucht such- Österreich ab: »Ich habe es geliebt, dieses Vaterland, ten und damit für einige Zeit die Bewohnerzahl fast das mir erlaubte, ein Patriot und ein Weltbürger zu- verdoppelten, überstieg dies die Kapazität der Stadt, gleich zu sein, ein Österreicher und ein Deutscher die nun immer mehr verarmte. »Verfallen wie in unter allen österreichischen Völkern« [2. Bd. 5, 874]. Brody« wurde zu einer geläufigen Redewendung. In den 1890er Jahren führte die Polonisierung des Kron- landslands Galizien Galizien und und damit damit auch auch Brodys Brodys zum zum Ende Ende der der 2. Das jüdische Brody im späten Habsburgerreich deutschsprachigen Ära, während der Zionismus und Während der gesamten Zeit der österreichischen damit die Idee einer anderen jüdischen Heimat an Herrschaft, die 1772 mit der ersten Teilung Polens Zuspruch gewannen. Das gewaltsame Ende Brodys und der Etablierung Galiziens als Kronland begann, als einer jüdischen Stadt in den Jahren 1941 bis 1944 hatten Juden zwischen zwei Drittel und drei Viertel hat Roth nicht mehr erlebt. der Gesamtbevölkerung der Stadt ausgemacht. Brody H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_BoardofDeputies_ClubBabel.3d vom 6.5.2011wurde nach Lemberg und Krakau zeitweilig zur dritt-H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_BoardofDeputies_ClubBabel.3d vom 6.5.2011 3. Heimat als Utopie Seite 432 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm größten Stadt Galiziens. Seit 1779 mit einem Freihan-Seite 433 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch delsprivileg ausgestattet, wurde sie zum Umschlag-EnzyklopädieMoses jüdischer Joseph Geschichte Roth, der und diesem Kultur, Umbruch Kontext des späten platz45 von Waren aus dem Westen und ausdem un- habsburgischen Brody entstammte, wuchs zusam-Brody mittelbar benachbarten Russischen Reich. Bis in die men mit seiner Mutter Maria (Miriam) Roth bei sei- 1850er Jahre konnte Brody als Handelsstadt von die- nem Großvater Jechiel Grübel auf, einem Händler, ser grenznahen Position profitieren. Die deutliche der in der jüdisch-orthodoxen jiddischsprachigen Brody jüdischejüdische Bevölkerungsmehrheit Bevölkerungsmehrheit ging ging insbesondere insbesondere432 Tradition433 tief verwurzelt war, in dessen Haushalt Brody nach der Gleichberechtigung 1868 mit einer entspre- aber später Deutsch gesprochen wurde. Den psy- Menschen und große Ideen kommen« [2. Bd. 2, 827]. chenden politischen Partizipation in kommunalen chisch labilen Vater Nachum Roth hat der Sohn nie Im Roman Radetzkymarsch (1932), der den Untergang und überregionalen Institutionen einher. Bezüglich kennengelernt – sicher ein Grund dafür, dass er sich der Habsburgermonarchie zum Thema hat, ist – mit des religiösen Lebens hatte Brody den Juden der Re- Vaterfiguren als Gegengewicht zur dominanten Mut- deutlichen Parallelen zu Erdbeeren – Brody Modell für gion traditionell als »Jerusalem des Ostens« gegolten. ter entwarf. Deutsch und primär säkular orientiert das Städtchen Sipolje, in dem der Leutnant Carl Jo- Mit der »Alte Schul« wies die Stadt seit Beginn des war auch die Baron-Hirsch-Grundschule, die Roth seph von Trotta in einem Jägerbataillon Dienst tut. 17. Jahrhunderts die prächtigste ÑSynagoge Galiziens von 1901 bis 1905 besuchte. Ebenfalls ausdrücklich Die hier manifeste Evokation der Natur entbehrt auf. Charakteristisch für die Juden von Brody war das der deutschen Bildungstradition verpflichtet war das nicht einer Ambivalenz, wie sie für Roths Heimatbild Bekenntnis zur traditionellen Orthodoxie; bereits k.k. Kronprinz-Rudolf-Gymnasium, an dem Roth typisch ist: »Die Natur schmiedete einen unendlichen früh zeichnete sich eine deutliche Gegnerschaft zu 1913 seine Matura mit Auszeichnung absolvierte, um Horizont um die Menschen an der Grenze und um- sektiererischen Abspaltungen ab. 1784 erfolgte die zunächst in Lemberg, dann in Wien Germanistik zu gab sie mit einem edlen Ring aus grünen Wäldern Gründung einer deutschen Normalschule für Knaben studieren. Neben Goethe und Shakespeare (dessen und blauen Hügeln. Und gingen [die Bewohner] und Mädchen, was die beginnende Öffnung zur sä- Shylock-Figur ihm näher stand als der edle lessing- durch das Dunkel der Tannen, so konnten sie sogar kularen Bildung signalisiert. 1816 nahm eine deutsch- sche Nathan) wurde ihm in der Gymnasialzeit vor glauben, von Gott bevorzugt zu sein [...]. Alle aber, sprachige jüdische Realschule ihre Tätigkeit auf, die allem Heinrich Heine zum Vorbild, zu dessen Schick- die dort geboren waren, kannten die Tücken des Sump- deutsche Bildungstradition wurde zur Grundlage der sal und Schreibweise Roth manche Parallelen ent- fes und besaßen selbst etwas von seiner Tücke. Im weiteren Entwicklung. Die Stadt entwickelte sich zu wickelte. Wien wurde nach dem Ersten Weltkrieg Frühling und im Sommer war die Luft erfüllt von einem Zentrum der ÑHaskala; in Reaktion darauf zur ersten Station seiner beginnenden Karriere als einem unaufhörlichen, satten Quaken der Frösche. Un- wurde sie im Jahr 1816 (zusammen mit Tarnopol) Journalist, nach seiner Übersiedlung nach Berlin ter den Himmeln jubelte ein ebenso sattes Trillern der von der etablierten Orthodoxie mit dem ÑBann be- avancierte Roth zu einem der bedeutendsten Journa- Lerchen. Und es war eine unermüdliche Zwiesprach' legt. In der Oberschicht war Brody auf die deutsche listen der Weimarer Republik. des Himmels mit dem Sumpf« [2. Bd. 5, 257f.]. Kultur ausgerichtet. Als seit 1867 Galizien polonisiert Nach Brody und Galizien kehrte Roth nur noch zu Roths Eingedenken hat mit Blick auf Brody etwas wurde, entstand weiterer Assimilationsdruck. Ebenso kurzen Besuchen zurück, nachdem er während des von »erpresster Versöhnung« (Th. W. Adorno); sie ist war aber auch die traditionelle orthodoxe Kultur wei- Ersten Weltkriegs 1916/1917 als Soldat dort Dienst Joseph Roth (1894–1939) im Pariser Hotel Foyot, 1935 nur möglich aus der Distanz: eine sentimentalische terhin präsent, die in der mütterlichen Familie Joseph getan hatte: zunächst im Dezember 1918, dann aus Konstruktion, keine naive Anverwandlung. Doch Roths über den Großvater erhalten blieb. So war ihm Anlass des Todes seiner Mutter im Februar 1922, im während sich diese Distanz gegenüber Brody und die jiddische Sprache heimatlich vertraut; auch sein Sommer 1924 als Berichterstatter der Frankfurter Zei- Bedrohung der Juden in der Zeit der Entstehung des Galizien nicht verringerte, begann Roth mit wachsen- präzises Deutsch hat Roth auf seine Jiddisch-Kennt- tung (die Artikelserie Reise durch Galizien erschien im Nationalsozialismus nach dem Ersten Weltkrieg den dem Abstand zur untergegangenen Habsburgermo- nisse zurückgeführt. November) sowie im Mai 1928 anlässlich einer Polen- Boden bereiteten. narchie, diese zu einem Mythos zu verklären [8]. In Am Aufschwung Galiziens um 1900 konnte reise. Die letzte Reise in seine Heimat unternahm In Juden auf Wanderschaft (1927) wird dagegen die einer persönlichen Erklärung zum Vorabdruck des Brody kaum partizipieren. Als nach den russischen Roth zusammen mit der Schriftstellerin Irmgard jüdische Tradition gewürdigt. Besonders eindrück- Romans Radetzkymarsch in der Frankfurter Zeitung legte Pogromen 1881/1882 tausende von russisch-jüdischen Keun (seine Lebensgefährtin in den Jahren 1936–1938) lich ist die Schilderung des ostjüdischen ÑSchtetls, er ein programmatisches Bekenntnis zu diesem alten Flüchtlingen in der Grenzstadt Brody Zuflucht such- auf Einladung des polnischen P.E.N.-Clubs vom De- die zweifellos von Brody inspiriert ist: »Von den Österreich ab: »Ich habe es geliebt, dieses Vaterland, ten und damit für einige Zeit die Bewohnerzahl fast zember 1936 bis Februar 1937; der Besuch bei gali- 15000 Juden leben 8000 vom Handel. Sie sind kleine das mir erlaubte, ein Patriot und ein Weltbürger zu- verdoppelten, überstieg dies die Kapazität der Stadt, zischen Verwandten in Lemberg schien den schwer Krämer, größere Krämer und große Krämer. Die an- gleich zu sein, ein Österreicher und ein Deutscher die nun immer mehr verarmte. »Verfallen wie in alkoholkranken Roth ein wenig aufgerichtet zu ha- deren 7000 Juden sind kleine Handwerker, Arbeiter, unter allen österreichischen Völkern« [2. Bd. 5, 874]. Brody« wurde zu einer geläufigen Redewendung. In ben, wie Keun berichtet. Wasserträger, Gelehrte, Kultusbeamte, Synagogen- den 1890er Jahren führte die Polonisierung des Kron- Vor dem Hintergrund seiner Jugendzeit in Gali- diener, Lehrer, Schreiber, Thoraschreiber, Talleswe- lands Galizien und damit auch Brodys zum Ende der zien kristallisieren sich Roths Hauptthemen heraus, ber, Ärzte, Advokaten, Beamte, Bettler und ver- 2. Das jüdische Brody im späten Habsburgerreich deutschsprachigen Ära, während der Zionismus und etwa der Zusammenstoß von jüdisch-religiöser Tra- schämte Arme, die von der öffentlichen Wohltätigkeit Während der gesamten Zeit der österreichischen damit die Idee einer anderen jüdischen Heimat an dition und säkularer westlicher Bildung, die Roth leben, Totengräber, Beschneider und Grabsteinhau- Herrschaft, die 1772 mit der ersten Teilung Polens Zuspruch gewannen. Das gewaltsame Ende Brodys wesentlich geprägt hat. Einen deutschen Patriotismus er« [2. Bd. 2, 840]. Nahezu alle diese Menschen haben und der Etablierung Galiziens als Kronland begann, als einer jüdischen Stadt in den Jahren 1941 bis 1944 lehnt Roth zugunsten eines österreichischen Patrio- eines gemeinsam: Sie sind religiös, jedenfalls besu- hatten Juden zwischen zwei Drittel und drei Viertel hat Roth nicht mehr erlebt. tismus ab, den er im Sinne eines europäischen Huma- chen sie regelmäßig die Synagoge, in der sie sich der Gesamtbevölkerung der Stadt ausgemacht. Brody nismus universalisiert. Heimkehr kann nur als Utopie auch über politische Neuigkeiten austauschen. »Sie wurde nach Lemberg und Krakau zeitweilig zur dritt- gedacht werden, so dass die Heimat als verlorene zum rauchen Zigaretten und schlechten Pfeifentabak im 3. Heimat als Utopie größten Stadt Galiziens. Seit 1779 mit einem Freihan- realen Existenzgrund wird. Die Romane Hotel Savoy Bethaus. Sie benehmen sich wie in einem Kasino. Sie delsprivileg ausgestattet, wurde sie zum Umschlag- Moses Joseph Roth, der diesem Kontext des späten (1924) und Flucht ohne Ende (1927) belegen diese Pro- sind bei Gott nicht seltene Gäste, sondern zu Hause. platz von Waren aus dem Westen und aus dem un- habsburgischen Brody entstammte, wuchs zusam- blematik der Rückkehr in eine unheimische Heimat, [...] Im Gebet empören sie sich gegen ihn, schreien mittelbar benachbarten Russischen Reich. Bis in die men mit seiner Mutter Maria (Miriam) Roth bei sei- während im Erstlingsroman Das Spinnennetz (1923) zum Himmel, klagen über seine Strenge und führen 1850er Jahre konnte Brody als Handelsstadt von die- nem Großvater Jechiel Grübel auf, einem Händler, hellsichtig – und nicht ohne Kritik an Überassimila- bei Gott Prozeß gegen Gott, um dann einzugestehn, ser grenznahen Position profitieren. Die deutliche der in der jüdisch-orthodoxen jiddischsprachigen tion und daraus resultierendem jüdischem ÑSelbst- daß sie gesündigt haben, daß alle Strafen gerecht jüdische Bevölkerungsmehrheit ging insbesondere Tradition tief verwurzelt war, in dessen Haushalt hass – die politischen und sozialpsychologischen Be- waren und daß sie besser sein wollen. Es gibt kein nach der Gleichberechtigung 1868 mit einer entspre- aber später Deutsch gesprochen wurde. Den psy- dingungen analysiert werden, die der antisemitischen Volk, das dieses Verhältnis zu Gott hätte. Es ist ein H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_BoardofDeputies_ClubBabel.3d vom 6.5.2011 Seite 433 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch

433 Brody

chisch labilen Vater Nachum Roth hat der Sohn nie kennengelernt – sicher ein Grund dafür, dass er sich Vaterfiguren als Gegengewicht zur dominanten Mut- ter entwarf. Deutsch und primär säkular orientiert war auch die Baron-Hirsch-Grundschule, die Roth von 1901 bis 1905 besuchte. Ebenfalls ausdrücklich der deutschen Bildungstradition verpflichtet war das k.k. Kronprinz-Rudolf-Gymnasium, an dem Roth 1913 seine Matura mit Auszeichnung absolvierte, um zunächst in Lemberg, dann in Wien Germanistik zu studieren. Neben Goethe und Shakespeare (dessen Shylock-Figur ihm näher stand als der edle lessing- sche Nathan) wurde ihm in der Gymnasialzeit vor allem Heinrich Heine zum Vorbild, zu dessen Schick- sal und Schreibweise Roth manche Parallelen ent- wickelte. Wien wurde nach dem Ersten Weltkrieg zur ersten Station seiner beginnenden Karriere als Journalist, nach seiner Übersiedlung nach Berlin avancierte Roth zu einem der bedeutendsten Journa- H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_BoardofDeputies_ClubBabel.3dlisten vom 6.5.2011 der Weimarer Republik. Seite 433 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm Nach Brody und Galizien kehrte Roth nur noch zu Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch kurzen Besuchen zurück, nachdem er während des Ersten Weltkriegs 1916/1917 als Soldat dort Dienst JosephJoseph Roth Roth (1894–1939) (1894–1939) im im Pariser Pariser Hotel Hotel Foyot, Foyot, 1935 1935 getan hatte: zunächst im Dezember 1918, dann aus Anlass des Todes seiner Mutter im Februar 1922, im Sommer 1924 als Berichterstatter der Frankfurter Zei- Bedrohung der Juden in der Zeit der Entstehung des 433 tung (die(die Artikelserie Artikelserie Reise durch Galizien erschienBrody im Nationalsozialismus nach dem Ersten Weltkrieg den November) sowie im Mai 1928 anlässlich einer Polen- Boden bereiteten. chisch labilen Vater Nachum Roth hat der Sohn nie reise. Die letzte Reise in seine Heimat unternahm In Juden auf Wanderschaft (1927)(1927) wird wird dagegen dagegen die die kennengelernt – sicher ein Grund dafür, dass er sich Roth zusammen mit der Schriftstellerin Irmgard jüdische Tradition gewürdigt. Besonders eindrück- Vaterfiguren als Gegengewicht zur dominanten Mut- Keun (seine Lebensgefährtin in den Jahren 1936–1938) lich ist die Schilderung des ostjüdischen ÑSchtetls, ter entwarf. Deutsch und primär säkular orientiert auf Einladung des polnischen P.E.N.-Clubs vom De- die zweifellos von Brody inspiriert ist: »Von den war auch die Baron-Hirsch-Grundschule, die Roth zember 1936 bis Februar 1937; der Besuch bei gali- 15000 Juden leben 8000 vom Handel. Sie sind kleine von 1901 bis 1905 besuchte. Ebenfalls ausdrücklich zischen Verwandten in Lemberg schien den schwer Krämer, größere Krämer und große Krämer. Die an- der deutschen Bildungstradition verpflichtet war das alkoholkranken Roth ein wenig aufgerichtet zu ha- deren 7000 Juden sind kleine Handwerker, Arbeiter, k.k. Kronprinz-Rudolf-Gymnasium, an dem Roth ben, wie Keun berichtet. Wasserträger, Gelehrte, Kultusbeamte, Synagogen- 1913 seine Matura mit Auszeichnung absolvierte, um Vor dem Hintergrund seiner Jugendzeit in Gali- diener, Lehrer, Schreiber, Thoraschreiber, Talleswe- zunächst in Lemberg, dann in Wien Germanistik zu zien kristallisieren sich Roths Hauptthemen heraus, ber, Ärzte, Advokaten, Beamte, Bettler und ver- studieren. Neben Goethe und Shakespeare (dessen etwa der Zusammenstoß von jüdisch-religiöser Tra- schämte Arme, die von der öffentlichen Wohltätigkeit Shylock-Figur ihm näher stand als der edle lessing- dition und säkularer westlicher Bildung, die Roth leben, Totengräber, Beschneider und Grabsteinhau- sche Nathan) wurde ihm in der Gymnasialzeit vor wesentlich geprägt hat. Einen deutschen Patriotismus er« [2. Bd. 2, 840]. Nahezu alle diese Menschen haben allem Heinrich Heine zum Vorbild, zu dessen Schick- lehnt Roth zugunsten eines österreichischen Patrio- eines gemeinsam: Sie sind religiös, jedenfalls besu- sal und Schreibweise Roth manche Parallelen ent- tismus ab, den er im Sinne eines europäischen Huma- chen sie regelmäßig die Synagoge, in der sie sich wickelte. Wien wurde nach dem Ersten Weltkrieg nismus universalisiert. Heimkehr kann nur als Utopie auch über politische Neuigkeiten austauschen. »Sie zur ersten Station seiner beginnenden Karriere als gedacht werden, so dass die Heimat als verloreneH:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_BoardofDeputies_ClubBabel.3d zum rauchen Zigaretten und schlechten Pfeifentabak vom im 6.5.2011 Journalist, nach seiner Übersiedlung nach Berlin realen Existenzgrund wird. Die RomaneSeiteHotel 434 Savoy – Seitenformat:Bethaus. 185,00 Sie benehmenx 265,00 mm sich wie in einem Kasino. Sie avancierte Roth zu einem der bedeutendsten Journa- (1924)(1924) und und Flucht ohne Ende (1927)(1927) belegen belegenEnzyklopädie diese diese Pro- Pro- jüdischersind Geschichte bei Gott nicht und Kultur, seltene Umbruch Gäste, sondern zu Hause. listen der Weimarer Republik. blematikBrody der Rückkehr in eine unheimische Heimat, [...][...] Im Im Gebet Gebet empören empören sie sie sich sich gegen gegen ihn, ihn, schreien schreien46 Nach Brody und Galizien kehrte Roth nur noch zu während im Erstlingsroman Das Spinnennetz (1923)(1923) zum Himmel, klagen über seine Strenge und führen kurzen Besuchen zurück, nachdem er während des hellsichtig – und nicht ohne Kritik an Überassimila- bei Gott Prozeß gegen Gott, um dann einzugestehn, Ersten Weltkriegs 1916/1917 als Soldat dort Dienst Josephtion und Roth daraus (1894–1939) resultierendem im Pariser Hotel jüdischem Foyot, 1935ÑSelbst- daß sie gesündigt haben, daß alle Strafen gerecht getan hatte: zunächst im Dezember 1918, dann aus hass – die politischen und sozialpsychologischen Be- warenBrody und daß sie besser sein wollen. Es gibt kein 434 Anlass des Todes seiner Mutter im Februar 1922, im dingungen analysiert werden, die der antisemitischen Volk, das dieses Verhältnis zu Gott hätte. Es ist ein Sommer 1924 als Berichterstatter der Frankfurter Zei- Bedrohung der Juden in der Zeit der Entstehung des altes Volk, und es kennt ihn schon lange! Es hat seine den zu Roths größten Erfolgen. Die problematischen tung (die Artikelserie Reise durch Galizien erschien im Nationalsozialismus nach dem Ersten Weltkrieg den große Güte erlebt und seine kalte Gerechtigkeit, es Seiten der Monarchie werden darin keineswegs über- November) sowie im Mai 1928 anlässlich einer Polen- Boden bereiteten. hat oft gesündigt und bitter gebüßt, und es weiß, daß sehen, wie etwa die äußerst realistische Beschreibung reise. Die letzte Reise in seine Heimat unternahm In Juden auf Wanderschaft (1927) wird dagegen die es gestraft werden kann, aber niemals verlassen« der Gräuel der österreichischen Armee gegen die Zi- Roth zusammen mit der Schriftstellerin Irmgard jüdische Tradition gewürdigt. Besonders eindrück- [2. Bd. 2, 840f.]. Aus dieser Gewissheit resultiert das vilbevölkerung zeigt. Es gibt in Roths Weltsicht prin- Keun (seine Lebensgefährtin in den Jahren 1936–1938) lich ist die Schilderung des ostjüdischen ÑSchtetls, Gefühl einer unbedingten Überlegenheit: »Die Ver- zipiell keinen nicht hinterfragbaren Begriff von Hei- auf Einladung des polnischen P.E.N.-Clubs vom De- die zweifellos von Brody inspiriert ist: »Von den achtung, die ein Ostjude gegen den Ungläubigen mat; der Mensch lebt buchstäblich und im übertrage- zember 1936 bis Februar 1937; der Besuch bei gali- 15000 Juden leben 8000 vom Handel. Sie sind kleine empfindet, ist tausendmal größer als jene, die ihn nen Sinn in Grenzsituationen. Aus dieser Überlegung zischen Verwandten in Lemberg schien den schwer Krämer, größere Krämer und große Krämer. Die an- selbst treffen könnte« [2. Bd. 2, 842]. Insbesondere heraus verklärt Roth jene habsburgische Staatskon- alkoholkranken Roth ein wenig aufgerichtet zu ha- deren 7000 Juden sind kleine Handwerker, Arbeiter, die chassidischen »Wunderrabbis« (ÑChassidismus) struktion, die durch das monarchische Prinzip die ben, wie Keun berichtet. Wasserträger, Gelehrte, Kultusbeamte, Synagogen- stehen Roth – trotz der Kuriosität ihrer Höfe und unterschiedlichsten Nationalitäten und Religionen Vor dem Hintergrund seiner Jugendzeit in Gali- diener, Lehrer, Schreiber, Thoraschreiber, Talleswe- der Idolatrie, die die Gläubigen mit ihnen treiben – unter einem alle Grenzen transzendierenden Dach zien kristallisieren sich Roths Hauptthemen heraus, ber, Ärzte, Advokaten, Beamte, Bettler und ver- für eine Seite des traditionellen Judentums, die die friedlich zu vereinigen vermag. Die Juden als eine etwa der Zusammenstoß von jüdisch-religiöser Tra- schämte Arme, die von der öffentlichen Wohltätigkeit Regeln strikter Observanz transzendiert: »[Der Wun- seit je gefährdete Minderheit können, so glaubte dition und säkularer westlicher Bildung, die Roth leben, Totengräber, Beschneider und Grabsteinhau- derrabbi] weiß, daß über dieser Welt noch eine andere Roth, nur innerhalb dieser Konstruktion auf eine ei- wesentlich geprägt hat. Einen deutschen Patriotismus er« [2. Bd. 2, 840]. Nahezu alle diese Menschen haben ist, mit anderen Gesetzen, und vielleicht ahnt er so- nigermaßen gesicherte Existenz hoffen. Je prekärer lehnt Roth zugunsten eines österreichischen Patrio- eines gemeinsam: Sie sind religiös, jedenfalls besu- gar, daß Verbote und Gebote in dieser Welt von Sinn, sich die politische Entwicklung in den zwanziger und H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_BoardofDeputies_ClubBabel.3dtismus ab, den er im Sinne eines europäischen Huma- chen vom 6.5.2011 sie regelmäßig die Synagoge, in der sie sich in einer anderen ohne Bedeutung sind. Es kommt frühen dreißiger Jahren abzeichnete, desto deutlicher Seite 433nismus – Seitenformat: universalisiert. 185,00 x Heimkehr265,00 mm kann nur als Utopie auch über politische Neuigkeiten austauschen. »Sie ihm auf die Befolgung des ungeschriebenen, aber griff Roth auf den restaurativen Habsburgermythos Enzyklopädiegedacht jüdischer werden, Geschichte so dass und die Kultur, Heimat Umbruch als verlorene zum rauchen Zigaretten und schlechten Pfeifentabak im desto gültigeren Gesetzes an« [2. Bd. 2, 845]. zurück. Dieses Österreichbild – vor allem in Radetzky- realen Existenzgrund wird. Die Romane Hotel Savoy Bethaus. Sie benehmen sich wie in einem Kasino. Sie Mit dem Roman Hiob (1930) beginnt eine neue Phase marsch und Kapuzinergruft (1938) – lässt sich als Kon- (1924) und Flucht ohne Ende (1927) belegen diese Pro- sind bei Gott nicht seltene Gäste, sondern zu Hause. des Erzählwerks. Vor dem Hintergrund des biblischen struktion einer messianisch konnotierten Utopie ver- blematik der Rückkehr in eine unheimische Heimat, [...] Im Gebet empören sie sich gegen ihn, schreien Hiob und der Josefsgeschichte wird die Exilerfah- stehen, deren notwendige Ergänzung, ja Voraus- während im Erstlingsroman Das Spinnennetz (1923) zum Himmel, klagen über seine Strenge und führen rung zu einer Art modernem jüdischem Märchen setzung die Restauration darstellt. Auch Roths Nei- 433hellsichtig – und nicht ohne Kritik an Überassimila- bei Gott Prozeß gegen Gott, um dann einzugestehn,Brody transformiert [10. 81–94]. Die Auswanderung des from- gung zu apokalyptischem Pessimismus passt zu tion und daraus resultierendem jüdischem ÑSelbst- daß sie gesündigt haben, daß alle Strafen gerecht men Dorfschullehrers Mendel Singer mit seiner Fami- dieser Art des Messianismus. hasschisch – dielabilen politischen Vater Nachum und sozialpsychologischen Roth hat der Sohn Be-nie waren und daß sie besser sein wollen. Es gibt kein lie in die Vereinigten Staaten soll der Gefahr völliger In den bedrückenden Jahren des Exils nach 1933 dingungenkennengelernt analysiert – sicher werden, ein Grund die der dafür, antisemitischen dass er sich Volk, das dieses Verhältnis zu Gott hätte. Es ist ein ÑAssimilation begegnen, die sich mit der Entscheidung bis zu seinem Tod am 27. Mai 1939 in Paris entstan- Vaterfiguren als Gegengewicht zur dominanten Mut- des Sohnes Jonas, als russischer Bauer und Soldat zu den weitere Werke Roths, die trotz des sich ver- ter entwarf. Deutsch und primär säkular orientiert leben, der Liaison der Tochter Mirjam mit einem schlechternden Gesundheitszustands des Autors von war auch die Baron-Hirsch-Grundschule, die Roth Kosaken und der vorherigen Auswanderung des Sohns größter poetischer wie gedanklicher Kraft sind. Dabei von 1901 bis 1905 besuchte. Ebenfalls ausdrücklich Schemarjah (Sam) nach Amerika abzeichnet. Die Ge- rückt neben dem Thema der Heimatlosigkeit die Welt der deutschen Bildungstradition verpflichtet war das schichte kulminiert im Wahnsinn Mirjams und im der Juden des östlichen Europa noch einmal deutlich k.k. Kronprinz-Rudolf-Gymnasium, an dem Roth Tod von Mendels Frau Deborah; Sam stirbt als Soldat in den Vordergrund. Das Schicksal des offensichtlich 1913 seine Matura mit Auszeichnung absolvierte, um im Ersten Weltkrieg. Mendel sieht sich anders als seine aus Brody stammenden Korallenhändlers Nissen zunächst in Lemberg, dann in Wien Germanistik zu Freunde schuldlos von Gott bestraft und fordert ihn Piczenik (Der Leviathan, 1934) zeigt die tiefe Ambiva- studieren. Neben Goethe und Shakespeare (dessen durch bewusste Verstöße gegen die rituellen Gebote lenz der Assimilation, insofern die »kontinentale« Shylock-Figur ihm näher stand als der edle lessing- heraus. Als aber der behinderte und in Russland zu- jüdische Existenz zugunsten einer neuen »ozea- sche Nathan) wurde ihm in der Gymnasialzeit vor rückgelassene Sohn Menuchim als berühmter Sänger nischen« aufgegeben wird, das Ende durch Ertrinken allem Heinrich Heine zum Vorbild, zu dessen Schick- und Komponist Alexej Kossak in die Vereinigten Staa- im Ozean diese Entscheidung aber gleichsam als töd- sal und Schreibweise Roth manche Parallelen ent- ten kommt und somit eine an den biblischen Josef lich erscheinen lässt [7. 498]. Allerdings wird im Er- wickelte. Wien wurde nach dem Ersten Weltkrieg erinnernde Assimilationsgeschichte die Katastrophen- zählerkommentar des Schlusses die Heimkehr in den zur ersten Station seiner beginnenden Karriere als geschichte aufhebt, versöhnt Mendel sich mit Gott, der Ozean als einzig sinnvolle Konsequenz jüdischen Le- Journalist, nach seiner Übersiedlung nach Berlin letztlich noch alles zum Guten gewendet hat. Die Bot- bens in der Moderne dargestellt: »Möge er dort in avancierte Roth zu einem der bedeutendsten Journa- schaft des Romans erscheint im Sinne der jüdischen Frieden ruhn neben dem Leviathan bis zur Ankunft listen der Weimarer Republik. Moderne ambivalent: Einerseits wird deutlich, dass des Messias« [2. Bd. 6, 574]. Nach Brody und Galizien kehrte Roth nur noch zu die jüdische Tradition in ihrer alten Gestalt keine Zu- In Das falsche Gewicht (1937) geht es um die Recht- kurzen Besuchen zurück, nachdem er während des kunft mehr hat, andererseits ist die Geschichte insofern fertigung einer konkreten Lebens- und Staatsform Ersten Weltkriegs 1916/1917 als Soldat dort Dienst Joseph Roth (1894–1939) im Pariser Hotel Foyot, 1935 auf die religiöse Tradition bezogen, als die Wendung vor einer höheren Instanz, wobei dem jüdischen Eich- getan hatte: zunächst im Dezember 1918, dann aus von Mendels Schicksal sich nicht als ein bloßer Zufall meister Anselm Eibenschütz im fiktiven galizischen Anlass des Todes seiner Mutter im Februar 1922, im deuten lässt. Ort Zlotogrod (ebenfalls an Brody angelehnt) eine Art Sommer 1924 als Berichterstatter der Frankfurter Zei- Bedrohung der Juden in der Zeit der Entstehung des Hiob und vor allem Radetzkymarsch, der Roman unmögliche Vermittlungsfunktion zugewiesen wird. tung (die Artikelserie Reise durch Galizien erschien im Nationalsozialismus nach dem Ersten Weltkrieg den über den Untergang der Habsburgermonarchie, wur- Das eigentliche Thema des Romans ist die prinzi- November) sowie im Mai 1928 anlässlich einer Polen- Boden bereiteten. reise. Die letzte Reise in seine Heimat unternahm In Juden auf Wanderschaft (1927) wird dagegen die Roth zusammen mit der Schriftstellerin Irmgard jüdische Tradition gewürdigt. Besonders eindrück- Keun (seine Lebensgefährtin in den Jahren 1936–1938) lich ist die Schilderung des ostjüdischen ÑSchtetls, auf Einladung des polnischen P.E.N.-Clubs vom De- die zweifellos von Brody inspiriert ist: »Von den zember 1936 bis Februar 1937; der Besuch bei gali- 15000 Juden leben 8000 vom Handel. Sie sind kleine zischen Verwandten in Lemberg schien den schwer Krämer, größere Krämer und große Krämer. Die an- alkoholkranken Roth ein wenig aufgerichtet zu ha- deren 7000 Juden sind kleine Handwerker, Arbeiter, ben, wie Keun berichtet. Wasserträger, Gelehrte, Kultusbeamte, Synagogen- Vor dem Hintergrund seiner Jugendzeit in Gali- diener, Lehrer, Schreiber, Thoraschreiber, Talleswe- zien kristallisieren sich Roths Hauptthemen heraus, ber, Ärzte, Advokaten, Beamte, Bettler und ver- etwa der Zusammenstoß von jüdisch-religiöser Tra- schämte Arme, die von der öffentlichen Wohltätigkeit dition und säkularer westlicher Bildung, die Roth leben, Totengräber, Beschneider und Grabsteinhau- wesentlich geprägt hat. Einen deutschen Patriotismus er« [2. Bd. 2, 840]. Nahezu alle diese Menschen haben lehnt Roth zugunsten eines österreichischen Patrio- eines gemeinsam: Sie sind religiös, jedenfalls besu- tismus ab, den er im Sinne eines europäischen Huma- chen sie regelmäßig die Synagoge, in der sie sich nismus universalisiert. Heimkehr kann nur als Utopie auch über politische Neuigkeiten austauschen. »Sie gedacht werden, so dass die Heimat als verlorene zum rauchen Zigaretten und schlechten Pfeifentabak im realen Existenzgrund wird. Die Romane Hotel Savoy Bethaus. Sie benehmen sich wie in einem Kasino. Sie (1924) und Flucht ohne Ende (1927) belegen diese Pro- sind bei Gott nicht seltene Gäste, sondern zu Hause. blematik der Rückkehr in eine unheimische Heimat, [...] Im Gebet empören sie sich gegen ihn, schreien während im Erstlingsroman Das Spinnennetz (1923) zum Himmel, klagen über seine Strenge und führen hellsichtig – und nicht ohne Kritik an Überassimila- bei Gott Prozeß gegen Gott, um dann einzugestehn, tion und daraus resultierendem jüdischem ÑSelbst- daß sie gesündigt haben, daß alle Strafen gerecht hass – die politischen und sozialpsychologischen Be- waren und daß sie besser sein wollen. Es gibt kein dingungen analysiert werden, die der antisemitischen Volk, das dieses Verhältnis zu Gott hätte. Es ist ein H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_BoardofDeputies_ClubBabel.3d vom 6.5.2011 Seite 434 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch

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altes Volk, und es kennt ihn schon lange! Es hat seine den zu Roths größten Erfolgen. Die problematischen große Güte erlebt und seine kalte Gerechtigkeit, es Seiten der Monarchie werden darin keineswegs über- hat oft gesündigt und bitter gebüßt, und es weiß, daß sehen, wie etwa die äußerst realistische Beschreibung es gestraft werden kann, aber niemals verlassen« der Gräuel der österreichischen Armee gegen die Zi- [2. Bd. 2, 840f.]. Aus dieser Gewissheit resultiert das vilbevölkerung zeigt. Es gibt in Roths Weltsicht prin- Gefühl einer unbedingten Überlegenheit: »Die Ver- zipiell keinen nicht hinterfragbaren Begriff von Hei- achtung, die ein Ostjude gegen den Ungläubigen mat; der Mensch lebt buchstäblich und im übertrage- empfindet, ist tausendmal größer als jene, die ihn nen Sinn in Grenzsituationen. Aus dieser Überlegung selbst treffen könnte« [2. Bd. 2, 842]. Insbesondere heraus verklärt Roth jene habsburgische Staatskon- die chassidischen »Wunderrabbis« (ÑChassidismus) struktion, die durch das monarchische Prinzip die stehen Roth – trotz der Kuriosität ihrer Höfe und unterschiedlichsten Nationalitäten und Religionen der Idolatrie, die die Gläubigen mit ihnen treiben – unter einem alle Grenzen transzendierenden Dach für eine Seite des traditionellen Judentums, die die friedlich zu vereinigen vermag. Die Juden als eine Regeln strikter Observanz transzendiert: »[Der Wun- seit je gefährdete Minderheit können, so glaubte derrabbi] weiß, daß über dieser Welt noch eine andere Roth, nur innerhalb dieser Konstruktion auf eine ei- ist, mit anderen Gesetzen, und vielleicht ahnt er so- nigermaßen gesicherte Existenz hoffen. Je prekärer gar, daß Verbote und Gebote in dieser Welt von Sinn, sich die politische Entwicklung in den zwanziger und in einer anderen ohne Bedeutung sind. Es kommt frühen dreißiger Jahren abzeichnete, desto deutlicher ihm auf die Befolgung des ungeschriebenen, aber griff Roth auf den restaurativen Habsburgermythos desto gültigeren Gesetzes an« [2. Bd. 2, 845]. zurück. Dieses Österreichbild – vor allem in Radetzky- Mit dem Roman Hiob (1930) beginnt eine neue Phase marsch und Kapuzinergruft (1938) – lässt sich als Kon- des Erzählwerks. Vor dem Hintergrund des biblischen struktion einer messianisch konnotierten Utopie ver- Hiob und der Josefsgeschichte wird die Exilerfah- stehen, deren notwendige Ergänzung, ja Voraus- rung zu einer Art modernem jüdischem Märchen setzung die Restauration darstellt. Auch Roths Nei- transformiert [10. 81–94]. Die Auswanderung des from- gung zu apokalyptischem Pessimismus passt zu men Dorfschullehrers Mendel Singer mit seiner Fami- dieser Art des Messianismus. lie in die Vereinigten Staaten soll der Gefahr völliger In den bedrückenden Jahren des Exils nach 1933 ÑAssimilation begegnen, die sich mit der Entscheidung bis zu seinem Tod am 27. Mai 1939 in Paris entstan- des Sohnes Jonas, als russischer Bauer und Soldat zu den weitere Werke Roths, die trotz des sich ver- leben, der Liaison der Tochter Mirjam mit einem schlechternden Gesundheitszustands des Autors von Kosaken und der vorherigen Auswanderung des Sohns größter poetischer wie gedanklicher Kraft sind. Dabei Schemarjah (Sam) nach Amerika abzeichnet. Die Ge- rückt neben dem Thema der Heimatlosigkeit die Welt schichte kulminiert im Wahnsinn Mirjams und im der Juden des östlichen Europa noch einmal deutlich Tod von Mendels Frau Deborah; Sam stirbt als Soldat in den Vordergrund. Das Schicksal des offensichtlich im Ersten Weltkrieg. Mendel sieht sich anders als seine aus Brody stammenden Korallenhändlers Nissen Freunde schuldlos von Gott bestraft und fordert ihn Piczenik (Der Leviathan, 1934) zeigt die tiefe Ambiva- durch bewusste Verstöße gegen die rituellen Gebote lenz der Assimilation, insofern die »kontinentale« heraus. Als aber der behinderte und in Russland zu- jüdische Existenz zugunsten einer neuen »ozea- rückgelassene Sohn Menuchim als berühmter Sänger nischen« aufgegeben wird, das Ende durch Ertrinken und Komponist Alexej Kossak in die Vereinigten Staa- im Ozean diese Entscheidung aber gleichsam als töd- ten kommt und somit eine an den biblischen Josef lich erscheinen lässt [7. 498]. Allerdings wird im Er- erinnernde Assimilationsgeschichte die Katastrophen- zählerkommentar des Schlusses die Heimkehr in den geschichte aufhebt, versöhnt Mendel sich mit Gott, der Ozean als einzig sinnvolle Konsequenz jüdischen Le- letztlich noch alles zum Guten gewendet hat. Die Bot- bens in der Moderne dargestellt: »Möge er dort in H:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_BoardofDeputies_ClubBabel.3d vom 6.5.2011schaft des Romans erscheint im Sinne der jüdischenH:/s/schaeff/03362_EJGK_Bd1/satz/Umbruch/Umbruch_BoardofDeputies_ClubBabel.3dFrieden ruhn neben dem Leviathan bis zur Ankunft vom 6.5.2011 Seite 434 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm Moderne ambivalent: Einerseits wird deutlich, dassSeite 435des – Seitenformat: Messias« [2. 185,00 Bd. 6, x 574]. 265,00 mm Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Umbruch die jüdische Tradition in ihrer alten Gestalt keine Zu-EnzyklopädieIn jüdischerDas falsche Geschichte Gewicht und(1937) Kultur, geht Umbruch es um die Recht- 47kunft mehr hat, andererseits ist die Geschichte insofern fertigung einer konkreten Lebens- und StaatsformBrody auf die religiöse Tradition bezogen, als die Wendung vor einer höheren Instanz, wobei dem jüdischen Eich- von Mendels Schicksal sich nicht als ein bloßer Zufall meister Anselm Eibenschütz im fiktiven galizischen deuten lässt. Ort Zlotogrod (ebenfalls an Brody angelehnt) eine Art Brody Hiob und vor allem Radetzkymarsch, der Roman434 435unmögliche Vermittlungsfunktion zugewiesen wird. Buchdruck über den Untergang der Habsburgermonarchie, wur- Das eigentliche Thema des Romans ist die prinzi- altes Volk, und es kennt ihn schon lange! Es hat seine den zu Roths größten Erfolgen. Die problematischen pielle Frage nach menschlicher Schuld und Verant- Jüdischen Museums der Stadt Wien, hg. v. H. Lunzer/V. große Güte erlebt und seine kalte Gerechtigkeit, es Seiten der Monarchie werden darin keineswegs über- wortung angesichts des Elends in der Welt. Die Auto- Lunzer-Talos, Wien 1994. [4] T. Andlauer, Die jüdische Be- völkerung im Modernisierungsprozess Galiziens (1867–1914), hat oft gesündigt und bitter gebüßt, und es weiß, daß sehen, wie etwa die äußerst realistische Beschreibung rität des Eichmeisters, von der er selbst durchdrun- Frankfurt a.M. u.a. 2001. [5] D. Bronsen, Joseph Roth, Köln es gestraft werden kann, aber niemals verlassen« der Gräuel der österreichischen Armee gegen die Zi- gen ist, ist gleichsam usurpiert. Abstrakte Gleichheit 1974. [6] E. Hofbauer, Brody. Die tote Stadt, in: E. Hofbauer/ [2. Bd. 2, 840f.]. Aus dieser Gewissheit resultiert das vilbevölkerung zeigt. Es gibt in Roths Weltsicht prin- und Gerechtigkeit stehen einander unversöhnlich ge- L. Weidmann, Verwehte Spuren. Von Lemberg bis Czerno- Gefühl einer unbedingten Überlegenheit: »Die Ver- zipiell keinen nicht hinterfragbaren Begriff von Hei- genüber; die offensichtlich empörend ungerechte witz. Ein Trümmerfeld der Erinnerungen, Wien 1999, 93– 107. [7] A. Kilcher, Joseph Roth, in: A. Kilcher (Hg.), Metzler achtung, die ein Ostjude gegen den Ungläubigen mat; der Mensch lebt buchstäblich und im übertrage- Handlung gegenüber dem frommen Mendel Singer Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur, Stuttgart/Weimar empfindet, ist tausendmal größer als jene, die ihn nen Sinn in Grenzsituationen. Aus dieser Überlegung und seiner Frau, deren ärmlicher Laden wegen fal- 2000, 494–499. [8] C. Magris, Weit von wo. Verlorene Welt selbst treffen könnte« [2. Bd. 2, 842]. Insbesondere heraus verklärt Roth jene habsburgische Staatskon- scher Gewichte geschlossen wird, führt schließlich zu des Ostjudentums, Wien 1974. [9] M. Pollack, Galizien. Eine die chassidischen »Wunderrabbis« (ÑChassidismus) struktion, die durch das monarchische Prinzip die Eibenschütz' Untergang. In der Schlusssequenz wird Reise durch die verschwundene Welt Ostgaliziens und der stehen Roth – trotz der Kuriosität ihrer Höfe und unterschiedlichsten Nationalitäten und Religionen die Frage der Gerechtigkeit in der Imagination des Bukowina, Frankfurt a.M./Leipzig 2001. [10] G. Shaked, Die Macht der Identität. Essays über jüdische Schriftsteller, der Idolatrie, die die Gläubigen mit ihnen treiben – unter einem alle Grenzen transzendierenden Dach sterbenden Eibenschütz zur entscheidenden Probe Frankfurt a.M. 1992. [11] W. von Sternburg, Joseph Roth. für eine Seite des traditionellen Judentums, die die friedlich zu vereinigen vermag. Die Juden als eine des göttlichen Gerichts. Seine Gewichte werden vom Eine Biographie, Köln 2009. Regeln strikter Observanz transzendiert: »[Der Wun- seit je gefährdete Minderheit können, so glaubte Großen Eichmeister als eindeutig falsch erkannt und Hans Otto Horch, Aachen derrabbi] weiß, daß über dieser Welt noch eine andere Roth, nur innerhalb dieser Konstruktion auf eine ei- dennoch vor einer höheren Instanz als richtig dekla- ist, mit anderen Gesetzen, und vielleicht ahnt er so- nigermaßen gesicherte Existenz hoffen. Je prekärer riert. In gewisser Weise ergibt sich dabei eine Verbin- gar, daß Verbote und Gebote in dieser Welt von Sinn, sich die politische Entwicklung in den zwanziger und dung zur Novelle Die Legende vom heiligen Trinker Buchdruck in einer anderen ohne Bedeutung sind. Es kommt frühen dreißiger Jahren abzeichnete, desto deutlicher (1939), die als eine Art heiteres Gegenstück zu der ihm auf die Befolgung des ungeschriebenen, aber griff Roth auf den restaurativen Habsburgermythos düsteren Erzählung Das falsche Gewicht gelten kann. Der Buchdruck mit hebräischen Lettern beschränkte desto gültigeren Gesetzes an« [2. Bd. 2, 845]. zurück. Dieses Österreichbild – vor allem in Radetzky- Trotz der weitgehenden Sprachlosigkeit und sich in der frühen Neuzeit weitgehend auf die Repro- Mit dem Roman Hiob (1930) beginnt eine neue Phase marsch und Kapuzinergruft (1938) – lässt sich als Kon- Kommunikationsunfähigkeit der Personen bleibt duktion traditionell-religiöser Wissensbestände und des Erzählwerks. Vor dem Hintergrund des biblischen struktion einer messianisch konnotierten Utopie ver- letztlich die Möglichkeit der Kommunikation mit trug somit zur Befestigung jüdischer Religion und Hiob und der Josefsgeschichte wird die Exilerfah- stehen, deren notwendige Ergänzung, ja Voraus- einer überirdischen Instanz erhalten, auch wenn Kultur nach außen hin bei. Zugleich beförderte er rung zu einer Art modernem jüdischem Märchen setzung die Restauration darstellt. Auch Roths Nei- ihre Realisierung zugleich das Ende des Lebens mar- den innerjüdischen Kulturtransfer zwischen sephar- transformiert [10. 81–94]. Die Auswanderung des from- gung zu apokalyptischem Pessimismus passt zu kiert und, nüchtern betrachtet, lediglich als Phantasie dischen und aschkenasischen Wissenstraditionen so- men Dorfschullehrers Mendel Singer mit seiner Fami- dieser Art des Messianismus. eines Sterbenden dargestellt wird. wie in einem gewissen Maß den Austausch zwischen lie in die Vereinigten Staaten soll der Gefahr völliger In den bedrückenden Jahren des Exils nach 1933 Der Ort »zwischen den Kulturen« jenseits der Juden und Christen. Hierdurch führte er schließlich ÑAssimilation begegnen, die sich mit der Entscheidung bis zu seinem Tod am 27. Mai 1939 in Paris entstan- sich abgrenzenden Sphären der Nationalitäten und einen tiefgreifenden Transformationsprozess im Kor- des Sohnes Jonas, als russischer Bauer und Soldat zu den weitere Werke Roths, die trotz des sich ver- Religionen wurde zur eigentlichen geistigen Heimat pus des traditionellen jüdischen Wissens herbei. Mit leben, der Liaison der Tochter Mirjam mit einem schlechternden Gesundheitszustands des Autors von des jüdischen Dichters Joseph Roth. Angesichts der der ÑHaskala wurde der hebräische Buchdruck zum Kosaken und der vorherigen Auswanderung des Sohns größter poetischer wie gedanklicher Kraft sind. Dabei Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts musste Katalysator der Säkularisierung jüdischen Wissens; in Schemarjah (Sam) nach Amerika abzeichnet. Die Ge- rückt neben dem Thema der Heimatlosigkeit die Welt diese Heimat, in die auch Brody mit einbegriffen ist, dieser Hinsicht erreichte er vor allem im östlichen schichte kulminiert im Wahnsinn Mirjams und im der Juden des östlichen Europa noch einmal deutlich utopisch bleiben – modellhaft imaginiert als das Frie- Europa im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts große Tod von Mendels Frau Deborah; Sam stirbt als Soldat in den Vordergrund. Das Schicksal des offensichtlich densreich der untergegangenen k.u.k. Monarchie Wirksamkeit. im Ersten Weltkrieg. Mendel sieht sich anders als seine aus Brody stammenden Korallenhändlers Nissen Kaiser Franz Josephs. Sein kompetentester Biograph Freunde schuldlos von Gott bestraft und fordert ihn Piczenik (Der Leviathan, 1934) zeigt die tiefe Ambiva- David Bronsen hat Roths Position dergestalt zusam- 1. Hebräischer Buchdruck in der frühen Neuzeit 2. Zentren des hebräischen Buchdrucks durch bewusste Verstöße gegen die rituellen Gebote lenz der Assimilation, insofern die »kontinentale« mengefasst, dass die auffallende Mischung von Ju- 3. Hebräischer Buchdruck zu Beginn der Moderne heraus. Als aber der behinderte und in Russland zu- jüdische Existenz zugunsten einer neuen »ozea- dentum und Österreichertum bei ihm nie richtig zu rückgelassene Sohn Menuchim als berühmter Sänger nischen« aufgegeben wird, das Ende durch Ertrinken einer Synthese verschmolzen sei; der Zwiespalt, den 1. Hebräischer Buchdruck in der frühen Neuzeit und Komponist Alexej Kossak in die Vereinigten Staa- im Ozean diese Entscheidung aber gleichsam als töd- sie in Roth auslöste, habe ihn nie zur Ruhe kommen ten kommt und somit eine an den biblischen Josef lich erscheinen lässt [7. 498]. Allerdings wird im Er- lassen. Dennoch war selbst noch seine Treue zum Der Buchdruck mit hebräischen Lettern setzte etwa erinnernde Assimilationsgeschichte die Katastrophen- zählerkommentar des Schlusses die Heimkehr in den Habsburgerreich gewissermaßen eine »jüdische Ange- zwanzig Jahre nach Johannes Gutenbergs ersten Dru- geschichte aufhebt, versöhnt Mendel sich mit Gott, der Ozean als einzig sinnvolle Konsequenz jüdischen Le- legenheit« [5. 72]. So problematisch Roths legitimisti- cken um 1450 ein. Die ersten beiden datierten hebräi- letztlich noch alles zum Guten gewendet hat. Die Bot- bens in der Moderne dargestellt: »Möge er dort in sche Verklärung der Habsburgermonarchie war: Er schen Drucke stammen aus Italien; es handelt sich um schaft des Romans erscheint im Sinne der jüdischen Frieden ruhn neben dem Leviathan bis zur Ankunft teilte sie mit Autoren seiner Generation wie Stefan einen 1475 in Reggio di Calabria gedruckten Kom- Moderne ambivalent: Einerseits wird deutlich, dass des Messias« [2. Bd. 6, 574]. Zweig, Franz Werfel oder Leo Perutz und ist zu ihrem mentar zum Pentateuch von Raschi (ÑWorms) und die jüdische Tradition in ihrer alten Gestalt keine Zu- In Das falsche Gewicht (1937) geht es um die Recht- vielleicht bedeutendsten jüdischen Dichter geworden. den im gleichen Jahr in Piove di Sacco gedruckten kunft mehr hat, andererseits ist die Geschichte insofern fertigung einer konkreten Lebens- und Staatsform (...) religionsgesetzlichen Kodex Arba'a Turim (Vier Säu- auf die religiöse Tradition bezogen, als die Wendung vor einer höheren Instanz, wobei dem jüdischen Eich- [1] J. Roth, Briefe 1911–1939, hg.Hans v. H. Otto Kesten, Horch, Köln Aachen 1970. len) von Jakob ben Ascher. Zur Beschreibung ihrer von Mendels Schicksal sich nicht als ein bloßer Zufall meister Anselm Eibenschütz im fiktiven galizischen [2] J. Roth, Werke in 6 Bänden, Bd. 1–3: Das journalistische Tätigkeit wählten die Drucker in den Kolophonen Werk, hg. v. K. Westermann; Bd. 4–6: Romane und Erzäh- (Druckervermerke am Ende des Buchs) der ersten Bü- deuten lässt. Ort Zlotogrod (ebenfalls an Brody angelehnt) eine Art lungen, hg. v. F. Hackert, Köln 1989–1991. Hiob und vor allem Radetzkymarsch, der Roman unmögliche Vermittlungsfunktion zugewiesen wird. [3] Joseph Roth 1894–1939. Ein Katalog der Dokumentations- cher zunächst die hebräischen Verben für »schrei- über den Untergang der Habsburgermonarchie, wur- Das eigentliche Thema des Romans ist die prinzi- stelle für neuere österreichische Literatur zur Ausstellung des ben«, »kopieren« (hebr. katav) oder für »eingravie- Bestellcoupon

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