Dossier Rechtspopulismus

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Einleitung

Rechtspopulismus (© picture-alliance, abaca) Rechtspopulisten gehen davon aus, dass die Gesellschaft in zwei homogene Gruppen getrennt ist. Dem "reinen" Volk steht eine korrupte Elite gegenüber, amoralisch, im Kern verdorben.

Die Rede vom Populisten ist momentan allgegenwärtig. Als politische Kampfvokabel dient das Wort auch der Diffamierung des Gegners. Dennoch gibt es Kriterien, mit denen die Politikwissenschaft versucht, das Phänomen des Rechtspopulismus möglichst trennscharf abzugrenzen. Die Schwarz- Weiß-Dichotomie "Volk" gegen "korrupte Elite" ist ein solches Kriterium. Andere Kriterien sind weniger deutlich, innerhalb "des Rechtspopulismus" wird auch gestritten um z.B. den richtigen Umgang mit gleichgeschlechtlichen Partnerschaften oder dem Verhältnis zum Staat Israel. Das Dossier zeigt, was Rechtspopulismus ist, an welcher Sprache man Rechtspopulisten erkennt und für welche Ideen sie streiten.

Marcel Lewandowsky zum Begriff Rechtspopulismus. (http://www.bpb.de/mediathek/246881/marcel-lewandowsky- zum-begriff-rechtspopulismus)

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Inhaltsverzeichnis

1. Was heißt Rechtspopulismus? 5

1.1 Das Syndrom des Populismus 6

1.2 Rechtspopulismus im europäischen Vergleich – Kernelemente und Unterschiede 12

1.3 Rechtspopulismus: Erscheinungsformen, Ursachen und Gegenstrategien 21

1.4 Was versteht man unter "Populismus"? 35

2. Sprache, Themen und politische Agitationsformen 39

2.1 Diskussionsräume und Radikalisierungsprozesse in sozialen Medien 40

2.2 Nation – eine Begriffsbestimmung aus aktuellem Anlass 47

2.3 Fakten und Wissen in der Postmoderne 57

2.4 Zwischen Hyperkultur und Kulturessenzialismus 62

2.5 Rechtspopulistische Lexik und die Grenzen des Sagbaren 70

2.6 Der Begriff der Identität 76

2.7 – eine Protestbewegung zwischen Ängsten und Ressentiments (II) 83

2.8 Pegida – eine Protestbewegung zwischen Ängsten und Ressentiments 90

2.9 Sind sie das Volk? Pegida – die Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des 99 Abendlandes

3. Rechtspopulistische Parteien und Strömungen 107

3.1 Dialog oder Ausgrenzung – Ist die AfD eine rechtsextreme Partei? 108

3.2 Die AfD: Werdegang und Wesensmerkmale einer Rechtsaußenpartei 119

3.3 Karte der rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien in Europa 130

3.4 Wer wählt warum die AfD? 131

3.5 Der Front National – eine feste politische Größe in Frankreich 135

3.6 Debatte: Ist die Alternative für Deutschland eine rechtspopulistische Partei? 141

3.7 Der Aufstieg der Rechtspopulisten in den USA 145

3.8 Die Lega Nord in Italien 152

3.9 Rechtspopulismus in den Niederlanden 158

3.10 Die UKIP - Ein fruchtbarer Boden für die radikale Rechte in Großbritannien 164

3.11 FPÖ: Von der Alt-Nazi-Partei zum Prototyp des europäischen Rechtspopulismus 171

3.12 Rechtspopulismus in Polen: Kaczyńskis Kampf gegen angebliche postkommunistische Eliten 176

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3.13 Wie den Front National modernisierte 182

4. Redaktion 187

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Was heißt Rechtspopulismus?

25.1.2017

Die Rede vom Populisten ist momentan allgegenwärtig. Als politische Kampfvokabel dient das Wort auch der Diffamierung des Gegners. Dennoch gibt es Kriterien, mit denen die Politikwissenschaft versucht, das Phänomen des Rechtspopulismus möglichst trennscharf abzugrenzen.

Marcel Lewandowsky zum Begriff Rechtspopulismus. (http://www.bpb.de/mediathek/246881/marcel-lewandowsky- zum-begriff-rechtspopulismus)

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Das Syndrom des Populismus

Von Prof. Dr. Karin Priester 16.1.2017 Prof. Dr. Karin Priester, geb. 1941, war bis 2007 Professorin für Politische Soziologie am Institut für Soziologie der Universität Münster. Im Februar 2007 wurde sie emeritiert. [email protected]

Wie lässt sich das Phänomen des Populismus bestimmen? In seinen vielschichtigen Formen fällt es nämlich zunehmend schwer, einen gemeinsamer Nenner zu finden. Mit Sicherheit gibt es keine konsistente Ideologie – womit es eher ein Syndrom, als eine Doktrin wäre. Gleichzeitig lässt sich eine Ideologie des Antagonismus beobachten, die von einem 'reinen Volk' und einer 'korrupten Elite' ausgeht.

Demonstration der Alternative für Deutschland gegen die deutsche Asylpolitik am 17.10.2015 in Rostock (Mecklenburg- Vorpommern). Der NPD-Landtagsabgeordnete David Petereit (r) trägt das Transparent mit. (© picture-alliance/dpa)

Das Ergebnis des britischen Referendums zum Austritt aus der EU (Brexit (http://www.bpb.de/ internationales/europa/brexit/)) und der Sieg des US-amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump haben dem Thema "Populismus" erneut Auftrieb gegeben. Der Begriff bezeichnet rechte oder linke Anti-Establishment-Parteien, die sich gegen die herrschende „Machtelite“ (C. Wright Mills) in Wirtschaft, Politik und Kultur richten[1]. Unter Populisten galt "Populismus" lange als stigmatisierende Fremdzuschreibung. Der populistische Gouverneur von Alabama, George C. Wallace, erklärte in den 1960er Jahren, der Begriff sei nur das hochgestochene Gewäsch von Pseudointellektuellen, die ihm schaden wollten[2]. Erst in jüngerer Zeit haben Linkspopulisten wie Jean-Luc Mélenchon (Vorsitzender der französischen sozialistischen Parti de Gauche) oder Pablo Iglesias (Generalsekretär der 2014 gegründeten linkspopulistischen Partei Podemos in Spanien), Beppe Grillo von der italienischen Fünf-

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Sterne-Bewegung (M5S) oder der Front National das Stigma in eine positiv konnotierte Selbstbezeichnung umgekehrt: Ja, sie seien Populisten und stolz darauf.

Was ist Populismus?

Es gibt keine konsistente Ideologie mit unverwechselbaren Elementen, die ein kohärentes Ganzes bilden, sondern nur ein aus wenigen Kernelementen bestehendes Narrativ. Populismus, so Peter Wiles, sei ein Syndrom, keine Doktrin[3]. Da aber in der Öffentlichkeit bündige Minimaldefinitionen gefragt sind, wird die Polarisierung und Moralisierung von Politik als kleinster gemeinsamer Nenner des Phänomens bestimmt. Der niederländische Politikwissenschaftler Cas Mudde definiert Populismus als "eine Ideologie, die davon ausgeht, dass die Gesellschaft in zwei homogene, antagonistische Gruppen getrennt ist, das 'reine Volk' und die 'korrupte Elite', und die geltend macht, dass Politik ein Ausdruck der volonté générale oder des allgemeinen Volkswillens sein soll.[4]" Ähnlich auch Jan- Werner Müller (http://www.bpb.de/apuz/234701/populismus-symptom-einer-krise-der-politischen- repraesentation): "Populismus […] ist eine ganz bestimmte Politikvorstellung, laut der einem moralisch reinen, homogenen Volk stets unmoralische, korrupte und parasitäre Eliten gegenüberstehen.[5]" Populisten berufen sich aber nicht auf die 'moralische Reinheit' des Volkes, sondern auf den gesunden Menschenverstand (common sense) der "guten, anständigen, patriotischen, hart arbeitenden, gesetzestreuen Menschen" (Nigel Farage).

Yves Mény und Yves Surel heben drei Kernelemente des populistischen Narrativs hervor: (a) das Volk ist die Grundlage der politischen Gemeinschaft, (b) seine Souveränität wird von einigen Akteuren oder Prozessen missachtet, (c) dies müsse angeprangert und der Platz des Volkes in der Gesellschaft wieder hergestellt werden[6]. Die Missachtung des souveränen Volkes kann von unterschiedlichen, vonseiten der Populisten identifizierten Akteuren ausgehen: vom Finanzkapital, von technokratischen Steuerungseliten, von den Parteien des Mainstream oder von sozialmoralischen Deutungseliten. Mithilfe dieser Merkmalsbestimmung lässt sich Populismus als Reaktion auf den Entzug von Souveränität verstehen.

Populistische Führer sind oft Außenseiter und homines novi. Häufig kommen sie aus der Wirtschaft wie Silvio Berlusconi, der Schweizer Christoph Blocher oder die Amerikaner Henry Ross Perot und Donald Trump. Der Niederländer Pim Fortuyn war als homosexueller, katholisch sozialisierter Intellektueller gleich in dreifacher Hinsicht ein Außenseiter. Individueller Reichtum ist kein Hindernis für ihren Erfolg, zeigt er doch, dass sie weder zum politischen Establishment gehören noch sich von finanzstarken Sponsoren korrumpieren lassen. Trump machte gegenüber seiner Konkurrentin Hillary Clinton geltend, er sei nicht von Wallstreet "gekauft", sondern unabhängig und daher glaubwürdig. Der eher pseudo-populistische amerikanische Präsident Jimmy Carter, als baptistischer Südstaatenfarmer ebenfalls ein Außenseiter, wich der Frage aus, ob er ein Liberaler oder ein Konservativer sei. Er sei Populist: "Ich habe die politische Unterstützung, den Zuspruch für mich und mein Anliegen direkt vom Volk selbst hergeleitet, nicht von mächtigen Mittelsmännern (intermediaries) oder von Vertretern spezieller Interessen.[7]"

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 8 Die zwei Säulen der modernen Demokratie

Angst vor Statusverlust, Zukunftsunsicherheit, die wachsende Kluft zwischen arm und reich oder Verteilungskonflikte auf dem Wohnungs- oder Arbeitsmarkt zwischen Autochthonen und Immigranten lassen sich nicht mehr als Gegensatz zwischen rechts und links abbilden, sondern erscheinen als Konflikt zwischen Volk und Eliten. Zentral zum Verständnis von Populismus ist daher die Frage nach dem Zugang zur Macht: Im Prinzip lehnen Populisten intermediäre Instanzen (vor allem Parteien und mediale Bildungseliten) zwischen dem Volk und der Macht ab, da diese den wahren Volkswillen verfälschten und nur ihre Sonderinteressen im Auge hätten. In der Praxis organisieren sie sich aber in Parteien und nehmen an Wahl teil.

Moderne Demokratien sind Mischsysteme und beruhen auf zwei Pfeilern: dem Konstitutionalismus (in Deutschland eher als Rechtsstaat bekannt) und der Volkssouveränität. Der Rechtsstaat hat ältere Wurzeln, steht für die Herrschaft des Gesetzes (rule of law) und garantiert konstitutionelle Rechte zum Schutz des Einzelnen oder von Minderheiten gegenüber staatlicher Omnipotenz. Volkssouveränität ist dagegen eine Errungenschaft der Französischen Revolution und besagt, dass alle Macht vom Volke ausgeht. Das Volk ist der Souverän, d.h. oberster Gesetzgeber und Kontrolleur der Demokratie und bringt seinen Willen durch Wahlen zum Ausdruck. Eine bloße Akklamationsdemokratie – also eine Art Zustimmung- bzw. Ablehnungsdemokratie eines de facto öffentlich versammelten Volkes –, wie sie von rechts (Carl Schmitt) propagiert wurde, entzieht dagegen dem Wahlvolk die Kontrolle.

Das Misstrauen liberaler Eliten gegenüber dem Volk oder den Massen war immer schon groß. Der Liberalkonservative Alexis de Tocqueville (1805-1859) warnte vor der "Tyrannei der Mehrheit". Edmund Burke (1729-1797) oder der französische Liberale François Guizot (1787-1874) erklärten, nicht das Volk sei der Souverän, sondern die Vernunft, zu der nur das Bildungs- und Besitzbürgertum befähigt sei (heute eher Experten, Fachleute oder Berufspolitiker). Das Volk, gleichgesetzt mit dem "niederen" Volk oder den bildungsfernen Massen, sei dagegen stimmungsabhängig, emotional, und verführbar. Nach der Einführung des allgemeinen und geheimen Wahlrechts hat man daher Filter eingebaut, um zu verhindern, dass der Volkswille unmittelbar zum Ausdruck kommt. Einer dieser Filter sind die Parteien. In der Weimarer Verfassung von 1919 wurden sie nicht erwähnt und galten nur als zivilgesellschaftliche Vereinigungen. Erst das deutsche Grundgesetz hat sie in den Rang von Verfassungsorganen erhoben und ihnen die Aufgabe zugewiesen, den politischen Willen zu bilden und zu aggregieren. Populisten halten diesen Bildungsauftrag der Parteien für eine Bevormundung mündiger Bürger. Sie fordern eine ungefilterte, nicht-mediatisierte Willensartikulation durch direkte Demokratie, entweder nach Schweizer Vorbild oder als Netzdemokratie, für die sich die italienische M5S stark macht.

Es lässt sich kaum bestreiten, dass die beiden Säulen der liberalen Demokratie zunehmend in ein Ungleichgewicht geraten sind. Von der Volkssouveränität ist kaum noch die Rede. Im Zuge des Mehr- Ebenen-Regierens in der EU habe sie ihre Relevanz eingebüßt, zumal es Rechtspopulisten zufolge gar kein europäisches Volk gäbe. Der Populismusforscher Guy Hermet bemerkt dazu: "Besonders auffällig ist, dass der Souveränität des Volkes, bislang als das Herzstück der Demokratie betrachtet, immer weniger Bedeutung beigemessen wird. (…) Es schleicht sich, allgemeiner gesagt, ein philosophischer Zweifel an der Relevanz der Volkssouveränität ein.[8]" Wenn aber das Band zwischen Rechtsstaat und Volkssouveränität zerreißt, stehen sich die liberale und die demokratische Komponente wieder als Kontrahenten gegenüber. Cas Mudde und Ivan Krastev sprechen daher in Anlehnung an Fareed Zakaria vom Populismus als demokratischem Illiberalismus: "Populismus ist eine illiberale, [aber] demokratische Antwort auf undemokratischen Liberalismus.[9]" Wohlgemerkt: eine Antwort. Als Syndrom ist Populismus eher reaktiv. Aktiv wird er erst, wenn die herrschende Politik auf Missstände nicht adäquat reagiert und den Appell an Emotionen als "Stimmungsmache" abtut.

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 9 Rechtspopulismus als Rechtsextremismus light?

In Europa sind rechtsextreme Parteien wie die British National Party (BNP), die deutsche NPD oder ethnozentrische Regionalparteien wie der Vlaams Belang (Belgien) und die Lega Nord (Italien) im Niedergang. Ausnahmen sind die ungarische Partei Jobbik und der französische Front National (FN). Der FN versteht sich als nationalpopulistisch, ist aber für rechtsextreme Strömungen und Holocaust- Leugner offen. Mit einer von der AfD-Politikerin als "sozialistisch" bezeichneten Sozialpolitik, zugleich aber mit der Öffnung gegenüber sexuellen Minderheiten ist Marine Le Pen, der Vorsitzenden des FN, gelungen, was der Linken immer weniger gelingt: die Verbindung materieller mit postmateriellen Werten und wählersoziologisch ein Bündnis zwischen unteren und mittleren sozialen Segmenten.

Zwischen konservativen Volks- oder Sammlungsparteien und dem rechtsextremen Rand sind neue Parteien entstanden, die trotz teilweise großer programmatischer Unterschiede in der Wirtschafts-, Sozial- und Familienpolitik als rechtspopulistisch gelten: in Großbritannien die United Kingdom Independence Party (UKIP), in Flandern die Neue Flämische Allianz (Nieuw Vlaamse Alliantie, N-VA), in Italien die M5S. Sie vertreten einen "Dritten Weges von rechts" (René Cuperus), erklären aber, weder rechts, noch links zu stehen, sondern auf der Seite der Bürger[10]. Da diese neuen Parteien weitaus erfolgreicher als der Rechtsextremismus sind, kann es, wie bei der noch jungen AfD, zu einem Bandwaggon-Effekt kommen: Viele, die in Denkzirkeln der Neuen Rechten oder in rechtsextremen Kleinparteien marginalisiert sind, springen auf den Zug auf und versuchen, seine Richtung zu bestimmen. Ähnlich beschreiten neue Linksparteien wie die spanische Podemos, die griechische Syriza oder der französische Parti de gauche einen "Dritten weg von links" jenseits der alten kommunistischen Linken und der etablierten Sozialdemokratie[11].

Krise der Repräsentation, Krise der Partizipation, Krise der Souveränität

Wenn sozialdemokratische Parteien ihre Funktion als Volkstribun oder Anwalt der "kleinen Leute" nicht mehr wahrnehmen, konservative Volksparteien sich dagegen "sozialdemokratisieren" und als Modernisierer auftreten, führt dies führt zur Schwächung ihrer Integrationsfunktion, zu Vertrauenskrisen und Wählerschwund. Solche Parteien hinterlassen auf ihrem Weg zur Mitte an den Rändern ein Vakuum, in das rechtspopulistische, nur in Südeuropa auch linkspopulistische, Parteien eindringen und es mit ihren Themen besetzen.

Von Krise der Repräsentation ist die Rede, wenn sich viele Menschen von den etablierten Parteien nicht mehr vertreten fühlen und sie als alternativloses Kartell wahrnehmen. Lange vor dem Kampf der spanischen Podemos gegen die "oligarquía" haben Klassiker des politischen Denkens wie Robert Michels, Josef Schumpeter oder Gerhard Leibholz auf die Tendenz zur Oligarchisierung von Parteien hingewiesen. Parteien nehmen nicht mehr ihre Funktion als Interessenvertretungsorgane zwischen Staat und Gesellschaft wahr, sondern mutieren zu einer abgeschotteten Kaste mit sinkender innerparteilicher Demokratie. Eng verbunden mit der Krise der Repräsentation ist die Krise der Partizipation. Sie liegt vor, wenn eine beträchtliche Anzahl von Wahlbürgern vor allem im unteren sozialen Segment an Politik nicht mehr partizipiert, aber einen Groll gegen "die da oben" hegt und nach Ventilen für ihre Verdrossenheit sucht.

Der dritte Aspekt, die Krise der Souveränität, bezeichnet Einbußen an nationaler Souveränität zugunsten transnationaler Organisationen wie der EU, aber auch den Verlust individueller Handlungskompetenz. "Mit Krisen", so Jürgen Habermas, "verbinden wir die Vorstellung einer objektiven Gewalt, die einem Subjekt ein Stück Souveränität entzieht, die ihm normalerweise zusteht.[12]" Wenn Menschen die Erfahrung machen, nicht mehr Herr der eigenen Lage zu sein, ihr Leben nicht mehr selbst bestimmen zu können und sich unbeherrschbaren Einflüssen ausgesetzt fühlen, erleben sie dies als Kontrollverlust. Die Sieg Trumps, der Brexit, der Aufstieg der AfD, aber auch der rechtspopulistischen Schwedendemokraten (Sverigedemokraterna[13]) im Zuge der Massenimmigration von 2015 folgen dem Imperativ: Wiedererlangung der nationalen Kontrolle, in Europa auch gegenüber dem "Leviathan" (Umberto Bossi, ehemals Lega Nord) oder dem "Monster"

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(Geert Wilders, Partij voor de Vrijheid PVV) in Gestalt der EU.

Neue gesellschaftliche Trennlinien

Zeitdiagnostiker sprechen von einer neuen epochalen Trennlinie (cleavage) zwischen erstarkendem Nationalismus und liberaler Weltoffenheit. Näher betrachtet überlagern sich aber vier Konfliktlinien: ein Konflikt zwischen materieller und postmaterieller Werteorientierung, ein Konflikt zwischen repräsentativer und direkter Demokratie, ein Identitätskonflikt zwischen Nativismus[14] und Kosmopolitismus, sowie ein Konflikt zwischen Zentrum und Peripherie. Rechtspopulisten machen auch geltend, die Diskriminierung ethnischer und sexueller Minderheiten oder Frauen stünde einseitig im Zentrum der Aufmerksamkeit, während die soziale Benachteiligung großer Teile der Bevölkerung übergangen würde.

Die soziale Ungleichheit hat unter der Hegemonie des Neoliberalismus zugenommen; die Schere zwischen arm und reich ist weit auseinandergegangen. Das dealignment, d.h. die Abkehr des unteren sozialen Segments (ehemalige Industriearbeiter, junge Arbeitslose, die keinen Zugang zum Arbeitsmarkt finden, kleine Selbständige) von den Linksparteien hat zu einer Unterschichtung rechtspopulistischer Parteien geführt. Sie übernehmen die Funktion eines Fürsprechers bzw. Advokaten, die lang Zeit die Linke innehatte. Populisten richten sich aber nicht an eine bestimmte soziale Klasse oder Schicht, sondern an die Vergessenen (den forgotten man), die "einfachen Menschen" (plain people), die "schweigende Mehrheit", die "ganz normalen Leute", die nicht nur mit drohendem Statusverlust, sondern mit zahlreichen zivilgesellschaftlichen Missständen (aufgeblähte, aber ineffiziente Bürokratie, Korruption, mangelhafte Infrastruktur) konfrontiert sind. Der rasante Aufstieg der Fünf-Sterne-Bewegung zur zweitstärksten Partei Italiens ist auch auf das Versagen der etablierten Parteien und ihre Missachtung zentraler Bürgerbelange zurückzuführen. Mittlerweile hat sich die sozialdemokratische Partei unter Matteo Renzi viele soziale und ökologische Forderungen dieser Außenseiterpartei zu Eigen gemacht, auch wenn die Wähler eher dem Original als der Kopie den Vorzug geben[15].

Ausblick

Die Gründe für den Erfolg rechtspopulistischer Parteien unterscheiden sich von Land zu Land, nach 1989 auch zwischen West- und Mittelosteuropa[16]. Immer geht es aber um die Rückgewinnung von Souveränität und Selbstbestimmung nach außen (gegenüber der EU) und nach innen (gegenüber der Kaste oder dem Kartell der etablierten Parteien oder den vested interests, also Partikularinteressen in den USA). Als Reaktion darauf verschanzt sich die politische Mitte in einer Wagenburg für "aufgeklärte Bürger" (Müller). Wo aber die Parteien des Mainstream als weitere Reaktion darauf zusammenrücken und Große Koalitionen und mithin die Alternativlosigkeit zum Programm erheben, ist das Wasser auf die Mühlen des populistischen Protests. Ralf Dahrendorf prognostizierte schon 1997, das 21. Jahrhundert könnte die Signatur des Autoritarismus tragen. Im gleichen Jahr plädierte ein anderer Liberaler, Fareed Zakaria, für eine liberale Demokratie, "die beide Teile der Formulierung betont.[17]" Demnach beruhte die Stabilität der Nachkriegsordnung auf der Verbindung von Rechtsstaat und Volkssouveränität. Inzwischen aber habe die Tektonik dieser beiden Pfeiler Risse bekommen. Das Pendel schlägt in Richtung des liberalen Rechtsstaats und einer "aufgeklärten" Elitenherrschaft aus, die als Bollwerk gegen die Volkssouveränität in Stellung gebracht werden. Wir sind, so Ivan Krastev, "Zeugen eines strukturellen Konflikts zwischen Eliten, welche die Demokratie mit wachsendem Argwohn betrachten, und einer zornigen Wählerschaft, die zunehmend antiliberal wird. (…) Wer die Demokratie retten will, ist dazu aufgerufen, an zwei Fronten zu kämpfen: gegen die Populisten und gegen die liberalen Verächter der Demokratie.[18]"

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Prof. Dr. Karin Priester für bpb.de

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Fußnoten

1. Vgl. Karin Priester, Populismus in den Medien: Realität und Stigmawort, in: Ernst Hillebrand (Hrsg.), Rechtspopulismus in Europa. Gefahr für die Demokratie?, Bonn 2015, S. 138-145. Dies.: Wesensmerkmale des Populismus, in: APuZ, 62 (2012) 5-6, S. 3-9. 2. Zit. n. Niels Bjerre-Poulsen, Populism – A Brief Introduction to a Baffling Notion, in: American Studies in Scandinavia, 18 (1986), S. 27. 3. Peter Wiles, A Syndrome, not a Doctrine. Some Elementary Theses on Populism, in: Ghita Ionescu/ Ernest Gellner (Hg.), Populism. Its Meanings and National Characteristics, London 1969, S. 166-179. 4. Cas Mudde, The Populist Zeitgeist, in: Government and Opposition, 39 (2004) 3, S. 543. 5. Jan-Werner Müller, Was ist Populismus? Ein Essay, Berlin 2016, S. 42. 6. Yves Mény/Yves Surel, Par le peuple, pour le peuple. Le populisme et les démocraties, Paris 2000, S. 181. 7. Jimmy Carter in einem Interview vom 13.09.1976, in: Don Richardson (Hg.), Conversations with Carter, London 1998, S. 19. Carter berief sich rhetorisch zwar auf das Volk, hat aber während seiner Amtszeit keinen Kampf gegen intermediären Akteure, vor allem die großen Interessengruppen, geführt. 8. Guy Hermet, Willkommen im nachdemokratischen Zeitalter, in: Internationale Politik, 4 (2008), S. 108f. 9. Cas Mudde, The problem with populism, in: The Guardian, 17.02.2015. Fareed Zakaria, The Rise of Illiberral Democracy, in: Foreign Affairs 76 (1997), 6, S. 22-43. 10. Beppe Grillo 2013 auf seinem Blog http://www.beppegrillo.it/2013/12/il_m5s_e_populista_ne_di­ _destra_ne_di_sinistra.html. (16.12.2016) 11. Jan-Werner Müller ist unschlüssig, auf wen die Bezeichnung „populistisch“ zutrifft. Am 13. 10.2015 erklärte er auf http://www.ippr.org., Syriza sei populistisch, weil sie beanspruche, das „authentische “ griechische Volk zu repräsentieren, was immer „authenthisch“ bedeuten mag. Ein Jahr später plädierte er in The Guardian vom 02. September 2016 dafür, den Begriff Populismus nicht inflationär zu benutzen und nahm die neue Linke (Bernie Sanders, Jeremy Corbyn, Syriza und Podemos) davon aus. Das seien nur Versuche, die Sozialdemokratie neu zu erfinden. Dagegen erklärte Bill Clinton, Bernie Sanders sei ein „viel positiverer“ Populist als Trump. Diese kontroversen Einschätzungen bestätigen nur, dass „Populismus“ ein ideologischer Kampfbegriff ist, der je nach politischer Präferenz als Selbstbezeichnung oder als stigmatisierendes Etikett eingesetzt wird. 12. Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt/M. 1973, 4. Auflage, S. 10. 13. Bei den Parlamentswahlen 2010 lagen die Schwedendemokraten bei nur 5,7 Prozent, 2014 bei 12,9 Prozent und bei Umfragen vom Sommer 2015 bereits bei 19,4 Prozent. 14. Populisten sind nicht immer Nationalisten; sie können sich auch gegen den Nationalstaat richten. Cas Mudde spricht daher eher von Nativismus, einer Einstellung, die die Belange der eingesessenen Bevölkerung in den Vordergrund stellt. 15. Vgl. Nicolò Conti/Vincenzo Memoli, The Emergence of a New Party in the Italian Party System: Rise and Fortunes of the Five Star Movement, in: West European Politics, 38 (2015), 3, S. 516-534, hier vor allem S. 531f. 16. Auf die Gründe für die stärker nationalistischen Tendenzen in Mittelosteuropa kann hier nicht eingegangen werden. So spielen beispielsweise in Ungarn die Gebietsverluste nach dem Ersten Weltkrieg eine zentrale Rolle für das Erstarken der ungarischen Rechten. 17. Zakaria (Anm. 9), S. 40. 18. Ivan Krastev, Die Stunde des Populismus, in: Eurozine, 18.09.2007, S. 5f.

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Rechtspopulismus im europäischen Vergleich – Kernelemente und Unterschiede

Von Britta Schellenberg 28.10.2018 Britta Schellenberg ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am "Centrum für Angewandte Politikforschung" C.A.P. der Ludwig-Maximilians- Universität München. Sie ist zuständig für das Projekt "Erfolgreiche Strategien gegen den Rechtsextremismus". www.cap.uni-muenchen.de

Der Rechtspopulismus verbucht in Europa zum Teil beachtliche Erfolge. Doch obwohl die verschiedenen rechtspopulistischen Parteien Gemeinsamkeiten aufweisen, unterscheiden sie sich von Land zu Land und sogar von Region zu Region. Britta Schellenberg bietet einen Überblick über den Rechtspopulismus in Europa.

Angehörige der Fraktion "Europa der Nationen und der Freiheit" des EU-Parlaments (von links nach rechts): Matteo Salvini (Lega Nord, Italien), (Partei für die Freiheit, Niederlande), Janice Atkinson (United Kingdom Independence Party, Großbritannien), (FPÖ, Österreich), Marine Le Pen (Front National, Frankreich), Geert Wilders (Partei für die Freiheit, Niederlande) u.a. (© picture-alliance/dpa)

Radikal rechte Parteien und Bewegungen konnten sich in den vergangenen Jahren in zahlreichen europäischen Ländern profilieren. Das radikal rechte Spektrum reicht von rechtspopulistischen bis hin zu rechtsextremen Parteien, wobei in Westeuropa vor allem Rechtspopulisten Zustimmung finden. Der entscheidende Unterschied zwischen diesen beiden Typen ist ihre Haltung zur sogenannten Systemfrage: Während Rechtsextreme die gegenwärtige staatliche Ordnung und ihre Prinzipien klar ablehnen und teilweise aktiv angreifen, treten Rechtspopulisten nicht explizit systemoppositionell auf. Ohne ihre Kernideologie entscheidend zu ändern, geben sich einst eindeutig rechtsextreme Parteien

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 13 die Schwedendemokraten heute verbal gemäßigter. So versucht ihr Vorsitzender, Jimmie Åkesson, heute nicht wie seine Vorgänger durch plumpen Rassismus und hasserfüllte Neonazi-Parolen zu überzeugen. Stattdessen wirbt er freundlicher für die Fürsorge weißer schwedischer Bürger. Den Kontrast zum weißen „Wir“ bilden die üblichen Feindbilder – Feindbild Nummer 1 sind aktuell „die Muslime“. “Wollen wir eine multikulturelle Gesellschaft sein, (...) in der sich der fundamentale Islam ausbreitet und religiöse Ansprüche stellt oder wollen wir eine unabhängige Nation sein, mit Bürgern, die ihr eigenes Schicksal bestimmen können (...)?”, so formuliert Marine Le Pen. Die Chefin des früheren französischen Front National passte nun auch ihren Parteinamen an: seit Juni 2018 heißt sie Nationale Sammlungsbewegung.

Dass radikal rechte Agitation günstige Gelegenheitsstrukturen vorfindet, hat mit zahlreichen gesellschaftlichen Modernisierungs- und Globalisierungstendenzen zu tun, die von Teilen der Bevölkerungen als negativ oder zumindest bedrohlich empfunden werden. So die tiefgreifende Liberalisierung der Märkte, die globale Vernetzung, der Bedeutungszuwachs der EU und mitunter das daraus resultierende Gefühl von Unübersichtlichkeit und geringeren Einflussmöglichkeiten für die Bürger, eine als ungerecht empfundene Verteilung der Wohlstandsgewinne, der demographische Wandel, die aktuelle Flüchtlingssituation, die erhöhte Sichtbarkeit des Islams und die zunehmende Überwindung traditioneller Geschlechter- und Familienbilder. [1]

Tatsächlich weist der nicht unerhebliche Erfolg des Rechtspopulismus in Europa Gemeinsamkeiten auf: So gibt es zum einen ähnliche Themensetzungen und strategische Weichenstellungen, zum anderen charakteristische Entstehungsursachen und Bedingungen für den Erfolg der Rechtspopulisten in Europa. Trotz Gemeinsamkeiten dürfen jedoch die national und regional unterschiedlichen Ausdrucksformen nicht aus dem Blick geraten.

Die Logik des Populismus

Die Grundannahme des Populismus ist, dass "das Volk" als homogener Körper und somit als Einheit existiert. Es gilt, "den Volkswillen" zu erfassen - am besten durch eine starke Führungspersönlichkeit - und ihn tatkräftig zu umzusetzen. So soll eine "Volksherrschaft", jenseits einer Unterscheidung zwischen Mehrheit und Minderheit, zwischen arm und reich, zwischen Masse und Elite möglich sein. Damit blendet der Populismus unterschiedliche Interessen, Machtverhältnisse zwischen gesellschaftlichen Gruppen und innergesellschaftliche Konflikte aus. Ihm gelten Interessenvertretungen wie Parteien oder kontroverse Bürgerbewegungen als ebenso unnütz wie konflikthafte Debatten und Kompromissfindungsprozesse, die in pluralen, demokratischen Gesellschaften konstitutiv sind.

Stattdessen greifen Populisten auf diffuse Einstellungen und Vorurteile, die in der Gesellschaft bestehen, zurück, spitzen diese zu und behaupten dabei, sie sprächen als "Stimme des Volkes". Bei der Diskussion über gesellschaftliche Probleme werden differenzierte Ursachenanalysen zugunsten einfacher Gut-Böse-Schemata, Schuldzuweisungen und pauschalen Feindbildkonstruktionen ausgeblendet: Die Führungsfigur und die "Wir"-Gruppe sind stets die Guten, die "Anderen" stellen eine potenzielle Bedrohung für das Gemeinwohl dar.

[An dieser Stelle befindet sich ein eingebettetes Objekt, das wir in der PDF-/EPUB-Version nicht ausspielen können. Das Objekt können Sie sich in der Online-Version des Beitrags anschauen: http:// www.bpb.de/politik/extremismus/rechtspopulismus/240093/rechtspopulismus-im-europaeischen-vergleich- kernelemente-und-unterschiede]

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 14 Eine Stimme gegen Vertreter verschiedener Interessen und Ideen

Rechtspopulisten präsentieren sich als die "wahre Stimme des Volkes" und als "Vertreter des einfachen Mannes". Dies ist nicht allein eine selbstbewusste Selbstdarstellung, sondern als Hieb gegen andere Politiker und Parteien gemeint.

Hinter den Angriffen auf "die etablierte Politik" und dem Verächtlichmachen von Politikerinnen und politischen Parteien, steht die Abneigung gegenüber demokratischen Aushandlungsprozessen, unterschiedlichen Meinungen und das Negieren einer sozial komplexen Wirklichkeit. In ihren Slogans und Kampagnen zweifeln die Rechtspopulisten an, dass „das Volk“ tatsächlich von den regierenden Politikern vertreten wird. Sie stellen diese – sowie weitere Repräsentanten einer vielfältigen demokratischen Gesellschaft, wie z.B. Journalisten – als korrupt oder unglaubwürdig dar und werfen ihnen vor, sie würden für die eigenen persönlichen oder für fremde, "volksfeindliche" Interessen "das Volk ausbeuten und verkaufen". So werden Politiker als "Volksverräter" gebrandmarkt, und die freien Medien gelten als "Lügenpresse" und Teil einer Verschwörung.

Durch die pauschale Abwertung der Politik – insbesondere durch den Vorwurf, "Volkes Stimme" bleibe in durch „die elitären“ Politiker und Parteien ungehört – werden antidemokratische und antiparlamentarische Einstellungen genährt. Paradoxerweise handelt es sich aber bei den zur Wahl stehenden Rechtspopulisten häufig selbst um Angehörige der sogenannten Elite, meist um besonders Privilegierte. So sind in rechtspopulistischen Parteiführungen Adlige, Volkswirtschaftsprofessoren und Juristen (z.B. in der deutschen AfD) ebenso vertreten wie deutsch-nationale "Alte Herren" aus akademischen Verbindungen (z.B. bei der österreichischen FPÖ) wie Großunternehmerfamilien und Multimillionäre (z.B. bei der Schweizer Volkspartei und der französischen Nationalen Sammlungsbewegung, früher: Front National).

"Das Volk" gegen "die Volksfremden" – Wer sind die Hauptfeindbilder?

Rechtspopulisten bestimmen – wie ihre Verwandten, die extremen Rechten, und anders als Linkspopulisten – ihr "Volk" entlang rassistisch-chauvinistischer Grenzen. Die "Anderen" oder "Volksfremden" werden durch übersteigerte ethnische, religiöse, kulturelle, sexuelle und politische Ausgrenzungskriterien definiert. Die populistischen Vertreter der radikalen Rechten reden nicht mehr offensiv von "Rasse" und "Rassensegregation", sondern nutzen Konzepte wie den "Ethnopluralismus" (http://www.bpb.de/mediathek/230595/vermeintlich-harmlos) – womit eine Vielfalt an zu unterscheidenden "Ethnien" gemeint ist, die sich angeblich nicht vermischen dürfen.

Mit dem rechtspopulistischen "Volk"-Begriff wird ein Teil der Bevölkerung pluraler Gesellschaften der Gegenwart vereinnahmt, andere Teile hingegen werden als nicht-dazugehörig ausgegrenzt. Als "die Anderen" können zum Beispiel Juden, Muslime, Roma und Sinti, Homosexuelle, Obdachlose, Flüchtlinge oder Menschenrechtsverteidiger, Menschen mit ausländischen Familienbiographien oder Parteien und Politikerinnen gelten. In Osteuropa ist das Repertoire der Feindgruppen meist breiter und die Ablehnung aggressiver: Neben Roma trifft der Hass vor allem Juden und Jüdinnen (z.B. in Ungarn und Polen), ethnische Minderheiten (z.B. Türken in Bulgarien) und Homosexuelle.[2] In Westeuropa sind Muslime zum Feindbild Nummer 1 avanciert. Insbesondere hier machen Rechtspopulisten in regelmäßiger Wiederkehr gegen "Muslime", "den Islam" und dessen Glaubenshäuser mobil. Obwohl Religion in ihrer Programmatik selten eine Rolle spielt, lautet ihre Hauptbotschaft, dass das christliche Abendland gegen Muslime verteidigt werden müsse. Manche Rechtspopulisten in Westeuropa inszenieren sich aber auch gezielt als Verteidiger freiheitlicher Rechte bestimmter Gruppen, etwa von Frauen und Juden, gegenüber einem als Bedrohung dargestellten, intoleranten Islam, wie zum Beispiel in den Niederlanden Geert Wilders "Partei von der Freiheit".

Top-Thema "Migration und Flüchtlinge": Gemeinsam sind den rechtspopulistischen Parteien in Europa ihre Bemühungen, Einwanderung zu beschränken, Integration zu erschweren und liberale

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Bestimmungen diesbezüglich rückgängig zu machen.[3] Sie versuchen, entsprechend Debatten zu prägen. Insbesondere wenn rechtspopulistische Parteien an Regierungen beteiligt sind oder diese dulden, erwirken sie umfangreiche Änderungen im Politikfeld "Migration und Integration": So unterstützte die Dänische Volkspartei von 2001 bis 2011 und seit 2015 verschiedene Minderheitenregierungen aus Rechtsliberalen (Venstre) bzw. Konservativen (Det Konservative Folkeparti); dabei setzte die Dänische Volkspartei durch, dass die Regierung Inlands-Grenzkontrollen und eine strikte Ehe-Gesetzgebung einführte, das Einheiraten von Ausländern erschwerte und die Immigrations- und Integrationsgesetzgebung restriktiver fasste. Zuletzt wurde die Flüchtlingspolitik erheblich verschärft, u.a. wurden Flüchtlingen finanzielle Leistungen gekürzt, der Familiennachzug erschwert und ermöglicht, dass Vermögen und Schmuck im Wert von über 10.000 Kronen (umgerechnet 1.340 Euro) von Asylbewerbern beschlagnahmt werden kann.[4]

Feindbild EU: Eines der wichtigsten Feindbilder der europäischen Rechtspopulisten ist das supranationale Gebilde "Europäische Union". Charakteristisch für die Stoßrichtung ist ein Wahlplakat der österreichischen FPÖ, auf dem gefordert wird, die "EU-Verräter" durch die FPÖ-"Volksvertreter" abzulösen. Der EU wird unterstellt, gegen die Interessen des "Volkes" zu wirken. Dafür wird sie als bürgerfern, überkomplex und bürokratisch karikiert. Die Parteien misstrauen dem Supranationalismus der EU, einem gemeinsamen Markt und der Bewegungsfreiheit. Sie sehen ihre nationale Souveränität und Kultur durch die EU angegriffen. Entsprechend haben sie das Brexit-Votum der Britten im Jahr 2016 gefeiert. Interessant ist allerdings, dass ein „EU-Ausstieg“ (bisher) nicht zum zentralen Thema eigener Wahlkämpfe wurde.

Ungeachtet ihrer EU-Kritik kandidieren rechtspopulistische Parteien für das Europäische Parlament (EP) – mit ups and downs, insgesamt jedoch nimmt ihr Einfluss zu . Im Sommer 2015, ein gutes Jahr nach der Europawahl, schlossen sich rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien zur EP-Fraktion "Europa der Nationen und der Freiheit" (ENF) zusammen und erhöhten damit ihre politischen und finanziellen Möglichkeiten erheblich. Im Sommer 2018 umfasst diese Fraktion Abgeordnete aus acht Parteien und Ländern: die französische Nationale Sammlungsbewegung (RN), die italienische Lega, die niederländischen Partei für die Freiheit und die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ); darüber hinaus gehören ihr auch Einzelvertreter aus Belgien (Vlaams Belang), Deutschland (Blaue Partei - ehemals AfD, Austritt 2017), Polen (KNP) und Großbritannien (ehemals UKIP) an. Darüber hinaus sitzen Rechtspopulisten gemeinsam mit anderen EU-Skeptikern in der EP-Fraktion „Europa der Freiheit und der direkten Demokratie“ (EFDD), so etwa die litauische Ordnung und Gerechtigkeit und die deutsche AfD. Einige rechtspopulistische Parteien, wie die Dänische Volkspartei und die Wahren Finnen, haben sich auch der Fraktion „Europäische Konservative und Reformer“ (EKR) angeschlossen.

Trotz Fraktionsbildungen zeigt das Abstimmungsverhalten der rechtspopulistischen Parteien im EP jedoch, dass ihre Gemeinsamkeiten in zahlreichen Politikfeldern begrenzt sind. So hatten etwa die Partei für die Freiheit und die französische Nationale Sammlungsbewegung (damals noch Front National) lediglich bei 51 Prozent der Abstimmungen im EP gleich gestimmt.[5] Insgesamt ist das Streitpotenzial zwischen diesen Parteien bei transnationaler Zusammenarbeit ideologiegegeben groß, u.a. wenn Rechtspopulisten die Angehörigen jeweils anderer "Völker" mit chauvinistischem Zungenschlag abwerten[6] oder wenn unterschiedliche, grenzüberschreitende Gebietsansprüche gestellt werden, insbesondere in Osteuropa.

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 16 Autoritarismus und Aufrüstung als Versprechen

Rechtspopulisten werben oft mit dem Versprechen, Recht und Ordnung durchzusetzen. Parteien wie die polnische Recht und Gerechtigkeit (PiS, 2015 mit 38 Prozent der Wählerstimmen Regierungspartei geworden) knüpfen hier bereits in ihrer Namensgebung an. Soziale Probleme und insbesondere Kriminalität und Gewalt werden thematisiert, um anderen Parteien Unfähigkeit und Schwäche vorzuwerfen und die eigene potenzielle Stärke zu demonstrieren; sie werden außerdem ethnisiert, um Vorurteile gegen die üblichen Feindbilder anzuheizen.

Rechtspopulisten versprechen zur Durchsetzung der Volksinteressen "hart durchzugreifen". Als Bedrohung werden immer wieder "kriminelle Ausländer", "Parteien-Filz" und "Sozialschmarotzer" genannt sowie, je nach Land, Muslime, Juden, Flüchtlinge oder Roma. Dabei entwerfen Rechtspopulisten häufig eine Art Polizei- und Überwachungsstaat als Vision, in dem Fragen der Sicherheit im Mittelpunkt stehen.

Die Bedrohung wird darüber hinaus auch klar von außen gesehen: Andere Länder, Flüchtlinge und potenzielle Migranten werden als besondere Gefahr für Ordnung und nationale Sicherheit markiert. Charakteristisch für diese doppelte Abgrenzung ist z.B. das Dauer-Motto der FPÖ "Österreich zuerst", das u.a. der FPÖ-Präsidentschaftskandidat Norbert Hofer nutzt: Neben innenpolitischen Forderungen steht das Motto für eine Stärkung der Armee und Grenzen Österreichs.

Wirtschaft und Sozialpolitik – nationale Abschottung als Lösung

Ein gegenwärtiger Trend innerhalb des Rechtspopulismus ist die Ablehnung globaler Märkte und transnationaler Bündnisse. Bislang eher für Osteuropa typisch, werben heute auch die westeuropäischen Rechtspopulisten für sozial-nationalistische und autarkistische Volkswirtschaften. "National und Sozial" ist heute (wie in den 1920er und 1930er Jahren) ein typischer Slogan der radikalen Rechten europaweit.[7] So nennt sich beispielsweise die FPÖ "soziale Heimatpartei" und wendet sich mit diesem Schlagwort gegen vermeintliche Souveränitätsverluste Österreichs.[8] In Westeuropa haben die rechtspopulistischen Parteien jedoch häufig eine wirtschaftsliberale Tradition (z.B. die französische Nationale Sammlungsbewegung, früher: Front National, die Schweizerische Volkspartei, die FPÖ aus Österreich oder die norwegische Fortschrittspartei), die sich auch in den Wahlprogrammen und Aktivitäten zeigt. Bei der Vorstellung ihrer sozial verstandenen Nation bleibt die Marktwirtschaft ihr Bezugspunkt (social parce que national = sozial, weil national). Parteien wie der FN, die FPÖ und die AfD z.B. favorisieren eine Liberalisierung der nationalen Märkte und hofieren zum Teil (mittelständische) Unternehmen. Dabei propagieren sie eine "nationale und soziale" Politik für die rechtspopulistisch definierte Volksgemeinschaft. Gerade in den skandinavischen Ländern, in denen ein hohes Maß an sozialer Gerechtigkeit fast zum nationalen Selbstverständnis gehört, wird von Rechtspopulisten häufig der Abbau des Wohlfahrtstaats scharf kritisiert. Seine Früchte sollen aber nur den Einheimischen, oft als Blutverwandte und ihren Ahnen imaginiert, zukommen. Die französische Nationale Sammlungsbewegung fordert entsprechend, Eingewanderten das Recht zu Krankenversicherung zu entziehen. In den post-kommunistischen Ländern Osteuropas wird häufig eine stärkere staatliche Kontrolle der liberalisierten Märkte gefordert und – wie im Westen auch – gegen internationalen, insbesondere transatlantischen Freihandel agitiert.

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 17 Unterschiedliche politische Traditionen und Selbstverständnisse

Der Rechtspopulismus ist in den europäischen Ländern durch unterschiedliche nationale politische Traditionen geprägt. Diese reichen von Erfahrungen in lange gewachsenen Demokratien über Erfahrungen mit Nationalsozialismus oder Faschismus, mit dem Stalinismus oder gar doppelten Diktaturerfahrungen. Von Land zu Land unterscheiden sich auch die Transformationserfahrungen der vergangenen Jahrzehnte, vor allem in Osteuropa sind sie stark geprägt durch den Fall des Eisernen Vorhangs und den Umbau von Plan- zu Marktwirtschaften; die Staaten und Gesellschaften Westeuropas waren hingegen in unterschiedlichem Maße der Globalisierung und Reformen des Sozialstaates ausgesetzt.

Osteuropa: Demokratie und Diskriminierungsschutz müssen keine Option sein

In Osteuropa erstarkte der Nationalismus nach dem Zerfall der Sowjetunion und des Ostblocks. Wirtschaftliche Probleme, zum Teil starke Korruption, zahlreiche Regierungswechsel und geringe traditionelle Parteienbindungen führten zu einer von Vielen als bedrückend wahrgenommenen gesellschaftlichen Instabilität. Massive Transformationsprozesse haben traumatische Erfahrungen, soziale Spannungen, Frustrationen, die Auflösung gesellschaftlichen Zusammenhalts und Ängste gegenüber einer neuen, beschleunigten, globaleren Welt hinterlassen.

Anders als in westeuropäischen Staaten sind hier kaum Abgrenzungsbemühungen des politischen Mainstreams gegenüber radikal rechten Parteien sichtbar. Bei diesen ist oft die Grenze zwischen Rechtspopulismus und Rechtsextremismus fließend. Demokratie ist nicht die einzige vorstellbare Staatsform, und die Forderung, "das System" grundlegend zu reformieren oder abzuschaffen, ist nicht unüblich. Radikal rechte Parteien in Osteuropa beziehen sich zumeist auf autoritäre Staatsformen in der jeweiligen nationalen Geschichte, häufig auf die Zwischenkriegszeit. Die Gewaltbereitschaft ist tendenziell stärker als in Westeuropa, z.T. existieren im Umfeld der Parteien paramilitärische Gruppen.

In Ungarn beispielsweise ist es der rechtsextremen Jobbik-Partei (19,5 Prozent der Stimmen in den Parlamentswahlen 2018, 2014: 20,2%) gelungen, wenn nicht an der Regierung beteiligt zu sein, diese doch ideologisch anzutreiben, so beim Regierungsprogramm, der Verfassung und der Einführung eines nationalen Trianon-Gedenktages. Die Erinnerung an eine heroische nationale Vergangenheit – in Ungarn verknüpft mit "der Schmach von Trianon" und dem hierauf bezogenen Opfermythos des ungarischen Volkes – eint Rechtskonservativismus und Rechtsradikalismus und begünstigt den fließenden Übergang. Die regierende rechts-autoritäre Fidesz-Partei (48,5 Prozent der Stimmen bei den Parlamentswahlen 2018, 2014: 44,9%) war einst als liberale Partei gestartet. Im Jahr 2015 richteten sich die Partei und ihr Vorsitzender Viktor Orban mit Fragebögen und Plakatkampagnen, die Ressentiments gegen Flüchtlinge schürten, an die Bevölkerung. Auf ihnen stand auf Ungarisch und damit für die Geflüchteten nicht verständlich: "Wenn Du nach Ungarn kommst, musst Du unsere Kultur respektieren" oder "Wenn Du nach Ungarn kommst, darfst Du den Ungarn keine Arbeitsplätze wegnehmen". Im Jahr 2018 ist Ungarns Flüchtlingspolitik deutlich verschärft: Pro Werktag dürfen nur noch zwei Personen Asyl beantragen. Darüber hinaus können Anwälte und Aktivisten ein Jahr Gefängnisstrafe bekommen, wenn sie Flüchtlingen helfen. Auch werden Flüchtlinge an der Grenze in Containern mit Stacheldrahtzäunen und bewaffneten Wächtern festgehalten. Da diese Behandlung EU-Recht zuwiderläuft, verklagt die EU aktuell Ungarn wegen ihrer Flüchtlingspolitik.

Westeuropa: "Meinungsfreiheit" und "direkte Demokratie" ohne Menschenrechte und Pluralismus

Ihren Homogenitätsanspruch an "das Volk" und explizite Muslim-Feindlichkeit verbinden westeuropäische Rechtspopulisten häufig mit einem Plädoyer für "mehr Freiheit und Demokratie", Begriffe, die sich häufig bereits in der Namensgebung der Parteien widerspiegeln. Die niederländische Partei für die Freiheit beispielsweise inszeniert sich als "Bürgerrechtspartei" und tritt für direkte Demokratie ein. Auch von Rechtspopulisten gegründete oder beliebte EP-Fraktionen tragen "Freiheit" und "direkte Demokratie" im Namen.

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Insbesondere in Ländern mit gewachsenen Demokratien stellen sich Rechtspopulisten offensiv in die demokratische Tradition ihres Landes. Die Dänische Volkspartei und die niederländische Partei für die Freiheit behaupten, die eigentlichen Vertreterinnen der demokratischen Werte des Landes zu sein. Diese werden wiederum in Abgrenzung zu "den Anderen", den Feindbildern, konstruiert.

Während die Parteien gegen Gender-Mainstreaming wettern und sich für die traditionelle Familie mit der Frau als Mutter und Hausfrau stark machen, inszenieren sie sich durch Kampagnen gegen muslimische Einwanderer, die vermeintlich Frauen diskriminieren, oder gegen islamische Vorschriften als "Anwalt" demokratisch-liberaler Werte. In Westeuropa unterstreichen Rechtspopulisten ihr Politikverständnis oft durch Volksbegehren wie etwa über ein "Minarettverbot" und "Burkaverbot" (Schweiz), Bürgerinitiativen gegen den lokalen Moscheenbau oder Demonstrationen gegen "die Islamisierung" (Österreich, Deutschland, Dänemark, Niederlande etc.).

Dabei plädieren sie für mehr direkte Demokratie. Mit basisdemokratischen Ansinnen, der Abbildung pluralistischer Meinungsvielfalt oder der Etablierung kontroverser bürgerschaftlicher Debatten, hat das jedoch nichts gemein. Stattdessen entspricht es dem Volksverständnis der Rechtspopulisten ("die Volkseinheit" wehrt sich) und ihrer Strategie, diffuse Vorurteile in der Gesellschaft zu verstärken. Somit handelt es sich um einen Vorstoß gegen die parlamentarische Demokratie und ein Instrument, das sich gegen den Pluralismus von Lebensformen (z.B. Religionsfreiheit, verschiedene Arten von Familie) und gegen den rechtlich verankerten Diskriminierungsschutz richtet. Ziel ist es, eine illiberale Demokratie umzusetzen, in Menschenrechte keine Rolle spielen und die einer (vermeintliche) Mehrheit das Wort redet, die bestimmt, wer dazu gehört und wie jeder Einzelne zu leben hat.

Die Gültigkeit der Menschenrechte lehnen Rechtspopulisten weitgehend ab, was sich u.a. in Forderungen nach der Abschaffung des Europäischen Gerichtshofs oder der Aufkündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention ausdrückt. Darum geht es beispielsweise in der Volksinitiative "Schweizer Recht statt fremde Richter", auch "Selbstbestimmungsinitiative" genannt, welche die Schweizerische Volkspartei (SVP) im Sommer 2016 gestartet hat. Ihr Aufschrei für "Meinungsfreiheit" und gegen eine angebliche "Meinungsdiktatur" meint im Kern, dass sie selbst sich ungezügelt von Verfassungen, Anti-Diskriminierungsgesetzen, Beleidigungs- oder Volksverhetzungsparagraphen rassistisch und menschenverachtend äußern wollen. Daher verunglimpfen sie die Verteidigung von Menschenrechten und Diskriminierungsschutz als "Gesinnungsjustiz" oder versuchen, durch Begriffe wie "politische Korrektheit" andere Meinungen zu diskreditieren und die Abwertung "der Anderen" zur Selbstverständlichkeit zu erheben.[9]

Die Unterstützer: Kulturell entfremdet, subjektiv benachteiligt oder tatsächlich unterprivilegiert

Von der zunehmenden Liberalisierung und Öffnung der Gesellschaften und der Märkte profitiert nur ein Teil der Bevölkerung. Andere fühlen sich von den ökonomischen und technischen Gewinnen und der gesellschaftlichen Teilhabe ausgegrenzt, überfordert oder abgestoßen. Angesprochen von den kulturellen und sozialen Versprechen der Rechtspopulisten fühlen sich insbesondere diejenigen, die im Zuge wirtschaftlicher und sozialer Veränderungsprozesse in den Bereichen Arbeit, Einkommen, Prestige, Dominanzrolle im Job und der Familie, Zugang zu Bildung und Freizeit Verluste spüren.

Der Blick auf die Wähler verrät: Rechtspopulisten sind europaweit überdurchschnittlich erfolgreich bei weißen Männern, häufig in niedrigen Bildungsgraden und unteren Einkommensgruppen, der unteren Mittelschicht, zum Teil auch einer breiteren Mittelschicht, ebenso wie bei einer rassistisch geprägten alten Elite.[15] Zudem sind sie auf dem Land jenseits der dynamischen und vielfältigen Großstädte erfolgreicher. Nicht überraschend ist, dass es Parteien wie der Dänischen Volkspartei, der Norwegischen Fortschrittspartei (FrP) und der FPÖ gelungen ist, einen großen Teil der eher bildungsfernen unteren Schichten, die früher vor allem sozialdemokratisch gewählt haben, an sich zu binden. Und auch nicht, dass sich in Luxemburg Rechtspopulisten aus einer Rentnerpartei entwickelt

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 19 haben.[16]

Empirische Studien deuten auf eine neue gesellschaftliche Konfliktlinie in den Staaten Europas: den Widerstreit zwischen gesellschaftlicher Öffnung und nationaler Schließung (Demarkation).[10] Wissenschaftlich belegt ist zudem ein starker Zusammenhang zwischen dem subjektiven Gefühl, benachteiligt zu sein (subjektive Deprivation) und radikal rechter Orientierung.[11] Weitere Studien zeigen, dass die von Rechtspopulisten angebotenen kulturellen Versprechen eine herausragende Rolle für ihre Wahl spielen[12]: So sehnt sich ein erheblicher Teil der Bevölkerungen nach "alten" Selbstverständlichkeiten zurück. Einige fühlen sich subjektiv bedroht – ob bezüglich einer veränderten Rolle des Mannes in der Gesellschaft, einem gleichberechtigten Umgang mit Menschen mit ausländischen Familienbiografien oder anderen Religionen, der Möglichkeit diverser sexueller Partnerschaftsformen oder insgesamt bezüglich für sie fremder Lebensentwürfe.

Der Blick auf die Wähler verrät: Rechtspopulisten sind europaweit überdurchschnittlich erfolgreich bei weißen Männern, häufig in niedrigen Bildungsgraden und unteren Einkommensgruppen, der unteren Mittelschicht, zum Teil auch einer breiteren Mittelschicht, ebenso wie bei einer rassistisch geprägten alten Elite. Zudem sind sie auf dem Land jenseits der dynamischen und vielfältigen Großstädte erfolgreicher. Nicht überraschend ist, dass es Parteien wie der Dänischen Volkspartei, der Norwegischen Fortschrittspartei (FrP) und der FPÖ gelungen ist, einen großen Teil der eher bildungsfernen unteren Schichten, die früher vor allem sozialdemokratisch gewählt haben, an sich zu binden. Und auch nicht, dass sich in Luxemburg Rechtspopulisten aus einer Rentnerpartei entwickelt haben.

Resümee und Ausblick

Da der Populismus von der scharfen Kritik an den gegebenen Verhältnissen lebt, vermag er nicht nur gesellschaftliche Debatten zu dominieren – vielmehr hat populistische Rhetorik den Impuls, sich stetig selbst zu radikalisieren. Tatsächlich hat die ausgrenzende oder beleidigende Sprache gegenüber den Feindgruppen der Rechtspopulisten seit einigen Jahren an Aggressivität zugenommen. Hassrede wird durch digitale Medien beflügelt, in denen auch Einzelne oder relativ kleine ideologische Gruppen eine enorme Breitenwirkung entfalten können. Die Möglichkeiten digitaler Hetze und die Hetze in Filterblasen gegen bestimmte soziale Gruppen wie Muslime, Roma, Flüchtlinge und Juden - und die Schwierigkeit des strafrechtlichen Zugriffs - dürften nicht zuletzt dazu beigetragen haben, dass in einigen Ländern (z.B. Ungarn, Deutschland) die Hemmschwelle auch zu physischer Gewalt gesunken und die Zahl rassistischer Angriffe drastisch gestiegen ist.

Um eine sachliche Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Entwicklungen und individuellen Problemlagen zu ermöglichen, den Problemhaushalt einer Gesellschaft zu verstehen und ihre friedliche internationale Einbindung zu garantieren, muss die Grundfiktion des Rechtspopulismus durchbrochen werden: Der populistische "Volks"-Begriff, als homogene Einheit verstanden, steht im Widerspruch zur Wirklichkeit in allen Gesellschaften und ganz besonders zur Wirklichkeit in modernen, ausdifferenzierten und vielfältigen Gesellschaften. Er leugnet die Bruch- und Konfliktlinien (cleavages), innergesellschaftliche Gegensätze und Konflikte, die es in jeder Gesellschaft gibt – und die übrigens Gegenstand der Sozialwissenschaften, also der Gesellschaftswissenschaften, sind. Eine Auseinandersetzung mit rechtspopulistischen Parteien und Bewegung kommt daher nicht ohne die Dekonstruktion des populistischen Volksbegriffs aus, der letztlich ein Mythos ist.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Britta Schellenberg für bpb.de

Fußnoten

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1. Vgl. Lazaridis, Gabriella, Beneveniste, Anne, Campani, Giovanne (eds.) (2016): The Rise of the Far Right in a Europe under crisis: Populist Shifts and ‚Othering’, London: Palgrave Macmillan; Kriesi, Hanspeter and Takis Pappas (2015): European populism in the shadow of the great recession, Colchester: ECPR Press; Caiani, Manuela und Linda Parenti (2013): 'Technological' , Political and Cultural Opportunities for the Extreme Right in the United States and the European Countries, in: Caiani and Parenti: European and American Extreme Right Groups and the Internet. Franham, Surrey: Ashgate ,S. 31-54; Schellenberg, Britta und Langenbacher, Nora: An anthology about the manifestations and development of the radical right in Europe, in: Langenbacher and Schellenberg (Hrsg.): Is Europe on the „right“ path? Right-wing extremism and right-wing populism in Europe, Friedrich-Ebert-Foundation: Berlin 2011, S. 11-26; Wodak, Ruth, Mral, Brigitte and Khosravinik, Majid (eds.) (2013): Right Wing Populism in Europe: Politics and Discourse, Bloomsbury: London. Ferner vgl. auch: Kriesi, Hanspeter et al. (Hrsg.) (2012): Political Conflict in Western Europe, Cambridge; Honneth, Axel, Lindemann, Ophelia und Stephan Voswinkel (Hrsg.) (2013): Strukturwandel der Anerkennung. Paradoxien sozialer Integration in der Gegenwart, Frankfurt a. M.; Blühdorn, Ingolfur (2013): Simulative Demokratie. Neue Politik nach der postdemokratischen Wende, Berlin 2013. 2. Pytlas, Bartek (2015): Radical Right Parties in Central and Eastern Europe: Mainstream Party Competition and Electoral Fortune. Abingdon: Routledge; Guesnet, Francois and Gwen Jones (ed.) (2012): Antisemitisn in Poland and Hungary, London: Routledge. 3. Bertelsmann Stiftung (eds.) (2009): Strategies for Combating Right-Wing Extremism. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung (verantwortlich Kösemen und Schellenberg). 4. http://www.spiegel.de/politik/ausland/fluechtlinge-in-daenemark-polizei-nimmt-asylbewerbern-knapp-16-000- euro-ab-a-1119672.html (letzter Zugriff: 15.11.2016). 5. VoteWatch Europe (2014): How often have Euro-sceptic/far-right parties voted together in 2009-2014? Special policy brief, No 3, Brussels 5/2014. http://www.votewatch.eu/blog/wp-content/ uploads/2014/05/votewatch-europe-end-of-term-scorecard-part-3-far-right-parties-final.pdf (letzter Zugriff: 15.11.2016). Zum Vergleich, bei den großen Fraktionen im EP (EVP und S&D) sowie den Grünen war die transnationale Übereinstimmung bei über 90%. Daten für die Legislaturperiode 2009-2014. 6. Beispielsweise zerstob die im Jahr 2007 gegründete EP-Fraktion Identität, Tradition und Souveränität schnell, nachdem italienische Abgeordnete sich rumänienfeindlich äußerten und daraufhin rumänische Abgeordnete die Fraktion verließen. 7. Vgl. Siim, Birte and Meret, Susi (2016): Right wing populism in Denmark: people, nation and welfare in the construction oft he ‚Other’, in: Lazaridis, Gabriella, Beneveniste, Anne, Campani, Giovanne (eds.): The Rise oft he Far Right in a Europe under crisis: Populist Shifts and ‚Othering’, London: Palgrave Macmillan, S. 106-137. Vgl. auch Wahlplakate z.B. des Front National oder der FPÖ; auch der extrem rechten NPD. 8. Vgl. z.B. FPÖ-Webseite: HC Strache zum Nationalfeiertag: Ohne Souveränität gibt es keine Neutralität. Vom 26.10.2015. https://www.fpoe.at/artikel/hc-strache-zum-nationalfeiertag-ohne- souveraenitaet-gibt-es-keine-neutralitaet-1/ (letzter Zugriff: 15.11.2016). 9. Schellenberg, Britta (2014): Die Rechtsextremismus-Debatte. VS Springer. Vgl. neben Debatten- Analysen Sächsischer Landtag, auch Gauweiler-Edathy-Debatte. 10. Kriesi, Hanspeter et al. (Hrsg.) (2005): Der Aufstieg der SVP. Acht Kantone im Vergleich. Zürich. 11. Vgl. z.B. Decker, Weißmann, Kiess, Brähler: Die Mitte in der Krise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2010, FES 2011. 12. Kriesi, Hans J. Peter et al. (Hrsg.) (2012): Political Conflict in Western Europe. Cambridge.

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 21

Rechtspopulismus: Erscheinungsformen, Ursachen und Gegenstrategien

Von Prof. Frank Decker / Dr. Marcel Lewandowsky 10.1.2017 Frank Decker, Dr. rer. pol., Dipl-Pol., ist seit 2001 Professor für Politikwissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und seit 2011 Wissenschaftlicher Leiter der Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik (BAPP). Dr. Marcel Lewandowsky ist Politikwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Helmut-Schmidt- Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg. Er ist Autor zahlreicher Fachpublikationen zum Thema Rechtspopulismus.

Für eine ganze Reihe von fremdenfeindlichen Protestparteien hat sich der Begriff "rechtspopulistisch" durchgesetzt. In der Forschung jedoch war lange umstritten, ob rechtspopulistische Parteien über eine gemeinsame ideologische Basis verfügen. Die Politikwissenschaftler Frank Decker und Marcel Lewandowsky über die Genese und den ideologischen Gehalt dieser politischen Strömung.

Jörg Haider mit seiner Frau Claudia bei einer Wahlveranstaltung in Wien im Oktober 1986. (© picture-alliance, picture alliance/IMAGNO)

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 22 Einleitung

Seit Mitte der 1980er Jahre ist es in zahlreichen westeuropäischen Ländern zur Herausbildung einer neuen und zugleich neuartigen Parteienfamilie gekommen, für die sich in der Wissenschaft und im journalistischen Sprachgebrauch der Begriff "rechtspopulistisch" eingebürgert hat. Als die Neuankömmlinge am rechten Rand (Front National, Lega Nord, Vlaams Blok, FPÖ) in ihren Ländern auf den Plan traten und die ersten spektakulären Wahlerfolge erzielten, war man noch geneigt, sie als flüchtige Protesterscheinungen abzutun, wie es sie in den westlichen Demokratien – auch in populistischer Gestalt – schon immer gegeben hatte. Es herrschte also die Erwartung, dass die Herausforderer über kurz oder lang wieder zurückgestutzt oder aus den Parteiensystemen ganz verschwinden würden. Die weitere Entwicklung sollte dies gründlich widerlegen. Nicht nur, dass die Rechtspopulisten ihre Stellung verteidigen und sogar noch ausbauen konnten. Das Phänomen begann sich nun auf andere westeuropäische Länder auszudehnen und machte auch vor den neuen Demokratien Mittelosteuropas nicht halt.

Der Begriff "Rechtspopulismus" hat sich sowohl in der Forschung als auch in der Umgangssprache als Bezeichnung für fremdenfeindliche Protestparteien weitgehend durchgesetzt. In der Forschung galt jedoch lange als strittig, ob er auf eine gemeinsame ideologische Basis zurückgeführt werden kann oder er überhaupt als Gegenstand der Forschung geeignet sei. Bei der Untersuchung der europäischen Vertreter wurden auch immer wieder Überschneidungen zwischen Populismus und Extremismus deutlich. Einige Autoren betonen, dass der Populismus supplementäres Merkmal einer radikalen Ideologie sei, es sich also lediglich um einen besonderen Politikstil von Parteien der radikalen Rechten handele. Andere Forscher sehen die populistischen Parteien als eigenständigen Parteientypus. Tatsächlich erweist sich der Populismus als äußerst wandlungsfähig. Besonders erfolgreiche Exponenten wie Geert Wilders‘ Partij voor de Vrijheid (PVV) in den Niederlanden oder die Dansk Folkeparti in Dänemark geben sich nicht mehr als Außenseiter vom rechten Rand, sondern als Verteidiger der liberalen Demokratie gegen die vermeintliche Bedrohung durch "den Islam". Kulturelle treten an die Stelle rassistischer Abgrenzungsmuster. Dabei werden die Zuwanderer und die politischen Eliten gleichzeitig angeprangert. Letztere hätten eine erfolgreiche Integrationspolitik versäumt und seien aus falsch verstandener political correctness nicht gewillt, die mit der Migration verbundenen Probleme zu benennen. Das Establishment habe sich ohnehin von den Bürgern abgesetzt; es verfolge in den raumschiffartigen Parlamenten (materielle) Eigeninteressen, während "das Volk" als Träger demokratischer Legitimation bei den Entscheidungen nicht (mehr) berücksichtigt werde.

Nach einem kontinuierlichen Aufwuchs bis zum Jahre 2000 neigte sich die Erfolgskurve der rechten Herausforderer bis Mitte der 2000er Jahre zunächst leicht nach unten; danach stieg die Resonanz wieder deutlich an. Der Rechtspopulismus erfasste jetzt auch Länder, in denen er vorher nicht in Erscheinung getreten war. Das zwischenzeitliche Tief dürfte mehr mit Schwächen beim politischen Angebot als mit einer nachlassenden Empfänglichkeit der Wähler für rechtspopulistische Botschaften zu tun gehabt haben. Ein Beleg dafür ist, dass der Populismus auf die etablierten Parteien des politischen "Mainstreams" immer stärker übergriff. Diese machten sich sowohl die Themen der rechtspopulistischen Akteure als auch deren Wähleransprache zu eigen. Ein gutes Beispiel dafür ist der aggressive Präsidentschaftswahlkampf Nicolas Sarkozys 2012 in Frankreich. Zwei – sich häufig auch in Parteienform überlappende – Spielarten des Populismus nehmen die christdemokratisch- konservativen und sozialdemokratischen Parteien heute in ihren Zangengriff – ein kapitalismuskritischer und/oder wohlfahrtschauvinistisch geprägten Sozialpopulismus und ein kulturalistisch unterfütterter Anti-Islam-Populismus.

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 23 Was ist Populismus?

Das "Schillernde" des Populismus ist in der Forschung nahezu zu einem Sprichwort avanciert. Alltagssprachlich setzt man den Populismus häufig mit einer popularitätsheischenden, den Stimmungen in der Bevölkerung nachlaufenden und nachgebenden Politik gleich. In der Konsequenz ist er negativ besetzt. Es heißt, der Populist biedere sich "Volkes Meinung" an; es gehe ihm nicht um die Sache, sondern allein um die Wählergunst.

Den wissenschaftlichen Inhalt des Begriffs trifft das nur zum Teil. Hier wird mit Populismus in erster Linie eine Haltung umschrieben, die für das sogenannte "einfache" Volk und gegen die herrschenden gesellschaftlichen und politischen Eliten Partei ergreift. Der Populismus befindet sich also in Opposition zum (angeblichen) Establishment und verzichtet deshalb bewusst auf die Zustimmung relevanter Bevölkerungsteile. Gerade dieser Außenseiterstatus verschafft ihm Glaubwürdigkeit unter seinen Anhängern.

Träger einer solchen Anti-Establishment-Orientierung können einzelne Personen, Bewegungen, Parteien oder auch ganze Regime sein. Für die wissenschaftliche Analyse des Populismus bietet es sich an, drei Bedeutungsebenen voneinander zu unterscheiden. Die erste Bedeutungsebene fragt danach, wie der Populismus entsteht, das heißt, welche gesellschaftlichen Ursachen ihm zugrunde liegen. Die zweite Bedeutungsebene bezieht sich auf die ideologischen Inhalte des Populismus, welche Abgrenzungsmuster er pflegt und welche Gruppe(n) er mit seinem Volksbegriff adressiert. Die dritte Bedeutungsebene stellt auf die formalen und stilistischen Merkmale des Phänomens ab; hier geht es um die Organisation des Populismus und seine Techniken der Wähleransprache.

Gesellschaftliche Entstehungshintergründe. Populistische Parteien und Bewegungen sind ein Phänomen gesellschaftlicher Modernisierungskrisen; sie treten auf, wenn infolge zu raschen Wandels oder zu großer Verwerfungen bestimmte Bevölkerungsgruppen Wert- und Orientierungsverluste erleiden. Diese Verluste gehen mit Statusangst, Zukunftsunsicherheit und politischen Entfremdungsgefühlen einher. Schon zu früheren Zeiten hat es populistische Bewegungen gegeben, die sich dies zunutze machten. So verdankt der wissenschaftliche Begriff seinen Namen der ausgangs des 19. Jahrhunderts in den USA entstandenen Populist Party. Als weiteres Beispiel könnte man die Poujadisten in der IV. Französischen Republik nennen, zu deren Abgeordneten damals bereits Jean- Marie Le Pen gehörte, der spätere Gründer des Front National. Handelt es sich bei den historischen Populismen um zeitversetzt auftretende Erscheinungen, so sind die aktuellen Modernisierungsprozesse dadurch charakterisiert, dass die Gesellschaften in ihrer ökonomischen, kulturellen und politischen Problembetroffenheit immer mehr zusammenrücken. Dies erklärt, warum die meisten der heutigen populistischen Parteien in Europa in etwa zeitgleich entstanden sind und sich in den jeweiligen Parteiensystemen dauerhaft etablieren konnten.

Selbstverständnis und Ideologie. Charakteristisch für den Populismus ist sein "schizophrenes" Gleichheitsverständnis: Einerseits bringen die Populisten das Volk in Stellung gegen die herrschende Elite, die sie in verschwörungstheoretischer Manier als Verräter des eigentlichen Volkswillens brandmarken. Andererseits grenzen sie das "einheimische" Volk von vermeintlich Nicht-Zugehörigen aus anderen Nationen oder Kulturen ab. Es ist nicht in erster Linie eine Rückwärtsgewandtheit, sondern das anti-egalitäre Moment, das solche Abgrenzungen als ideologisch “rechts” qualifiziert. Auch linke Populisten pflegen das anti-elitäre Ressentiment, die Gegnerschaft zum System und die Parteinahme für die "kleinen Leute". In der Regel spielt ihr Volksbegriff diese allerdings nicht gegen andere gesellschaftliche Gruppen – etwa die "Ausländer" – aus, und in wertebezogenen Fragen tritt der Linkspopulismus eher liberal auf. Es gibt jedoch auch Ausnahmen von dieser idealtypischen Unterscheidung, insbesondere beim niederländischen Populismus um Geert Wilders und dessen ideologischen Vorgänger Pim Fortuyn: Fortuyn lebte seinen hedonistischen Lebensstil und seine Homosexualität offen aus, und auch Wilders inszeniert sich als Bewahrer der liberalen Gesellschaftsordnung gegenüber dem Islam.

Auftreten und Organisation. In formaler Hinsicht treten als Hauptmerkmale rechtspopulistischer

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Parteien ihr Selbstverständnis als gesellschaftliche Bewegung (zum Beispiel im Zusammenwirken mit außerparlamentarischen Protestgruppen) und das Prinzip der charismatischen Führerschaft hervor. Innerparteiliche Konflikte werden häufig nicht demokratisch ausgetragen, sondern von der Führungsspitze autoritär entschieden. Darüber hinaus kennzeichnet den Populismus eine bestimmte Art und Weise, wie er sich zu den umworbenen Wählern in Beziehung setzt. Inhalte und formale Merkmale des Populismus stehen in engem Zusammenhang. Das inhaltliche Selbstverständnis gipfelt in der Ausrichtung auf eine Führerfigur als Verkörperung des "Volkswillens"; die Anti-Establishment- Orientierung äußert sich in den Techniken der populistischen Agitation.

Identität und Feindbilder

Adressat und ideologische Grundlage aller Formen des Populismus ist die romantisierte Vorstellung eines homogenen "Volkes" als identitätsstiftendes Ideal. Die Komplexität moderner Gesellschaften, die sich in der Vielfalt von Interessen und Lebensformen widerspiegelt, wird negiert. Die inhaltliche Füllung des Volksbegriffes variiert dabei je nach ideologischer Ausrichtung. Rechte Parteien verweisen auf die nationale Identität, während linke Gruppierungen stärker an den sozialen Status appellieren, etwa von Arbeitnehmern und Arbeitslosen. Beiden Richtungen ist gemeinsam, dass sie die Partikularinteressen ihrer Adressaten als den "wahren" und einzigen Volkswillen propagieren.

Populismus ist also immer auch eine Abgrenzungsideologie. Dem "guten" Volk wird die politische Elite gegenübergestellt, die sich durch Eigeninteressen dem eigentlichen demokratischen Souverän entziehe und vom Willen "des Volkes" entfernt habe. Die populistische Demokratievorstellung ist vage. Sie spielt die Volkssouveränität gegen den Verfassungsstaat aus, "beansprucht, demokratischen Willen ohne demokratische Formen zum Ausdruck zu bringen."[1] Demokratie wird als unmittelbare und absolute Umsetzung des konstruierten, homogenen "Volkswillens" verstanden. Unzulänglichkeiten des politischen Prozesses und materielle Regierbarkeitsprobleme führen die Populisten auf den Unwillen der politischen Eliten zurück, den Volkswillen zu berücksichtigen. Politische Entscheidungen werden daher aus komplexen Zusammenhängen gelöst und der Verantwortung einzelner oder dem "Establishment" als Ganzes zugeschrieben.

Um den "Volkswillen" unmittelbar zum Ausdruck zu bringen, setzen die Populisten zum einen auf charismatische Führungspersönlichkeiten, die als "Sprachrohre des Volkes" inszeniert werden. Andererseits propagieren sie direktdemokratische Beteiligungsformen, die die repräsentativen und verfassungsstaatlichen Institutionen im politischen Entscheidungsprozess umgehen sollen.

Auf der kulturellen Achse grenzt der Populismus all jene Gruppen aus, die er nach seinem Volksbegriff als "Fremde" identifiziert, also vornehmlich ethnische, kulturelle und religiöse Minderheiten; auch können Bevölkerungsteile aufgrund ihrer sexuellen Orientierungen (z.B. homosexuelle Menschen) oder politischen Überzeugungen (Linke) dabei ins Visier geraten. Zum Feindbild gehören außerdem einzelne Länder wie die USA oder staatenübergreifende Institutionen wie die Europäische Union, die als Gefahr für die nationale Kultur dargestellt werden.

Wer zu den "Feinden" gehört, ist je nach politischer Situation unterschiedlich. Waren es schon in den 1980er und frühen 1990er Jahren häufig Asylbewerber, die sich verbaler Attacken von Seiten der Rechtsparteien ausgesetzt sahen, verdanken sich die Wahlerfolge und mediale Resonanz des Populismus seit den 2000er Jahren nicht zuletzt der Agitation gegen Muslime (etwa im Falle der PVV, der Dansk Folkeparti, der schweizerischen SVP oder der österreichischen FPÖ). Wie die deutsche Debatte um Thilo Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab" illustriert hat, sind islamfeindliche Ressentiments in den politischen Mainstream weit vorgedrungen. Oft wird der Islam mit Islamismus als dessen politischer Ausprägung gleichgesetzt und künstlich eine Brücke zum Terrorismus geschlagen. Die Flüchtlingsbewegungen aus nordafrikanischen und arabischen Staaten haben Rechtspopulisten mit der Warnung vor "Überfremdung" und "Islamisierung" aufgegriffen und für sich nutzbar gemacht.

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Antiislamischer Populismus profitiert von vorhandenen Ängsten, die durch die Serie islamistischer Terroranschläge seit dem 11. September 2001 gewachsen sind. Muslimische Gemeinden werden häufig als "Parallelgesellschaften" wahrgenommen, die sich der Integration verweigerten. Der Populismus kann hier durchaus auf reale Probleme verweisen, etwa die wachsende religiöse Radikalisierung oder die Schwierigkeiten muslimischer Migranten auf dem Arbeitsmarkt. Das Perfide besteht darin, dass seine Vertreter diese Probleme instrumentalisieren, indem sie Misstrauen vor den "Fremden" schüren und Muslime unter Generalverdacht stellen. Die Warnung der Rechtspopulisten vor der Übernahme des "christlichen Abendlandes" durch einen aggressiven Islam erfolgt in der Regel nicht auf Grundlage eines rassistischen, sondern eines eurozentristischen Weltbildes. Statt auf Verständigung und die Förderung eines aufgeklärten, liberalen Islam setzen sie auf Abschottung und Abgrenzung von der vermeintlich nicht-zugehörigen kulturellen Fremdgruppe bis hin zur offenen Forderung nach Massenabschiebung.

Populismus und Modernisierung

Mit dem durch die Globalisierung noch beschleunigten gesellschaftlichen Modernisierungsprozess gehen massive strukturelle Veränderungen einher: Arbeitsverhältnisse verändern sich, ganze Wirtschaftszweige lösen sich auf, traditionelle Bindungen (etwa an die Familie oder an Institutionen wie Gewerkschaften, Parteien, Kirchen etc.) lockern sich. Die Modernisierung produziert nicht nur objektive Verlierer, die dauerhaft in Erwerbslosigkeit und/oder Armut leben. Auch Personen, die nicht unmittelbar betroffen sind, sondern ihren eigenen sozialen Abstieg lediglich befürchten, können durch den Prozess verunsichert werden.

Die schon erwähnte erste "echte" populistische Partei, die Ende des 19. Jahrhunderts in den USA entstandene Populist Party, hatte sich in diesem Sinne als Sprachrohr der Farmer im Süden und Westen des Landes verstanden, deren ökonomische Position und kulturelle Lebensweise durch die industrielle Entwicklung bedroht wurde. Auch in anderen Staaten, vornehmlich in Mittelosteuropa, bildete sich der Populismus zunächst als Agrarpopulismus heraus, der die bäuerliche Lebenswelt gegen Industrialisierung und Urbanisierung verteidigen wollte.

War es Ende des 19. Jahrhunderts der Niedergang des primären Sektors, so sind die westlichen Gesellschaften seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vom Bedeutungsverlust des industriellen Sektors geprägt; die klassische Dienstleistungsindustrie seit der Jahrtausendwende wiederum von der zunehmenden Digitalisierung. Auch hier führt der Strukturwandel dazu, dass bestimmte Berufsqualifikationen nicht mehr nachgefragt werden; gleichzeitig gerät die ökonomische Gestaltungsfähigkeit des Nationalstaates angesichts der globalisierten Wirtschaft unter Druck. Die einzelnen Länder werden in einen Wettbewerb um die besten Standortbedingungen hineingezwungen, der Löhne und Sozialstandards tendenziell nach unten drückt. Die Folgen sind Arbeitslosigkeit, wohlfahrtsstaatlicher Leistungsabbau und eine Spreizung der Schere zwischen Arm und Reich.

Die Wahlerfolge der Rechtspopulisten stehen aber auch in Zusammenhang mit dem kulturellen Wandel, den wir seit etwa den 1960er Jahren in den westlichen Gesellschaften beobachten. Angetrieben wird dieser zum einen durch den Zuzug von Migranten, die insbesondere in den urbanen Ballungsräumen als religiös und kulturell abgrenzbare Gruppen sichtbar in Erscheinung treten. Zum anderen sind früher vorherrschende traditionelle Ordnungsvorstellungen durch eine neue Vielfalt von Lebensstilen und postmaterialistischen Wertorientierungen verdrängt worden (Individualisierung).

Sogenannte "Modernisierungsverlierer", die von den negativen Effekten ökonomischen Fortschritts unmittelbar betroffen sind, machen einen relativ hohen Anteil der Wählerschaft rechtspopulistischer Parteien aus. Allerdings lässt sich die Erklärung für deren Wählerzuspruch nicht darauf verkürzen. Es ist vor allem die subjektive Deprivation, das heißt die Angst vor sozialem Abstieg, gepaart mit dem Gefühl, politisch machtlos und von den etablierten Parteien und Politikern nicht vertreten zu sein, die bestimmte Gruppen der Gesellschaft für die populistischen Botschaften empfänglich macht. Die Wahlerfolge rechtspopulistischer Parteien rühren folglich nicht unmittelbar aus der ökonomischen und

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 26 kulturellen Modernisierung, sondern daraus, dass die gemäßigten Parteien des linken und rechten Mainstreams in der Krise als Transmissionsriemen des politischen Systems versagen: Zum einen werden sie sich im Wettbewerb um die mehrheitsfähige Wählermitte ideologisch immer ähnlicher, können also nicht mehr glaubhaft vermitteln, für unterscheidbare politische Konzepte zu stehen. Zum anderen haben sowohl die sozialdemokratischen als auch die konservativen bzw. christdemokratischen Parteien ökonomische und kulturelle Positionen geräumt, die ihre Programmatik und Ideologie über Jahrzehnte hinweg prägten.

Diese Probleme der Parteien sind zum Teil hausgemacht; zum Teil fußen sie ebenfalls auf strukturellen Veränderungen, die es ihnen schwerer machen, ihre angestammten Funktionen als Repräsentationsorgane und Träger des demokratischen Wettbewerbs zu erfüllen. Die Verlagerung von Entscheidungszuständigkeiten in trans- und supranationale Gremien – etwa der Europäischen Union – führt zu immer länger werdenden Legitimationsketten und wachsender Intransparenz. Die politischen Akteure reagieren darauf, indem sie die Darstellung und mediengerechte Inszenierung der Politik von deren technokratischen Wirklichkeit entkoppeln. Die Wähler wiederum merken oder ahnen den Widerspruch. Es verwundert daher nicht, dass das Bild einer machtlosen, sich in Phrasen verlierenden politischen Klasse weithin anschlussfähig geworden ist.

Organisatorische Merkmale

Die populistischen Herausforderer weisen auch in organisatorischer Hinsicht eigene Merkmale auf, die sie von den Vertretern des politischen Mainstreams abheben. Letztere werden in der Parteienforschung heute meistens unter den – von Angelo Panebianco so bezeichneten – Typus der "professionellen Wählerpartei" subsumiert, der eine modernisierte Form der Mitglieder- und Funktionärspartei darstellt. Bei den Rechtspopulisten lassen sich drei davon abweichende Organisationstypen unterscheiden, die zum Teil ineinander übergehen: Den ersten Typus könnte man ebenfalls im Anschluss an Panebianco als charismatische Partei bezeichnen. Unter ihn fällt das Gros der heutigen Rechts- und Linkspopulisten. Solche Parteien gruppieren sich um eine einzelne Person, die als Anführer meistens auch die Urheber der Partei sind. Institutionalisierte Strukturen und demokratische Verfahren treten in der Organisation hinter der Autorität des Anführers zurück; es gilt das Prinzip der loyalen Gefolgschaft. Beispiele sind der französische Front National unter seinem früheren Vorsitzenden Jean-Marie Le Pen oder die niederländische Partij voor de Vrijheid (PVV), die in ihrem Vorsitzenden Geert Wilders ihr einziges Mitglied hat.

Beim zweiten Typus, exemplarisch von Silvio Berlusconis Forza Italia oder der tschechischen ANO des Oligarchen Andrej Babiš verkörpert, wird die Organisation von einer einzelnen Unternehmerpersönlichkeit begründet, maßgeblich aus deren eigenen Mitteln finanziert und nach den Prinzipien eines Wirtschaftsunternehmens geführt. Dieser Typus der Unternehmerpartei ist weniger ideologisch geprägt als der populistische Typus, dem er ansonsten ähnelt; er stellt eine spezifische Form der Wählerpartei dar. Gemein ist beiden Typen, dass zwischen der Parteiführung und den Mitgliedern eine eher lose institutionelle Verbindung besteht; die Parteien also organisatorisch weniger ausdifferenziert sind als etablierte Parteien.

Den dritten Typus bildet die Bewegungs- oder Rahmenpartei. Deren Organisation besteht aus einem locker verbundenen Netzwerk von Aktivisten, die aus der Gesellschaft hervortreten. Beispiele sind die Piraten, die deutschen Grünen in ihrer Entstehungsphase oder die Fünf-Sterne-Bewegung von Beppe Grillo in Italien, die zugleich Überschneidungen mit dem charismatischen Typus aufweist. In den Vereinigten Staaten haben populistische Bewegungen, die ohne dominante Führungspersönlichkeiten auskommen, eine lange Tradition. Ein Beispiel ist die rechtspopulistische Tea-Party-Bewegung.

Der Bewegungscharakter des Populismus lässt sich zum einen daran festmachen, dass seine Vertreter zumeist keine Abspaltungen von existierenden Parteien sind, sondern gesellschaftlichen Ursprungs. Zum anderen folgt er aus dem ideologischen Verständnis einer Anti-Parteien-Partei. Die Kritik am Machtsystem der repräsentativen Institutionen und das Eintreten für mehr direkte Entscheidungsrechte

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 27 des Volkes stellen in der populistischen Demokratieauffassung Seiten derselben Medaille dar. Auch die Bedeutung der charismatischen Führung ergibt sich unmittelbar aus der populistischen Vorstellung eines einheitlichen Volkswillens, der durch eine einzelne Person an der Spitze scheinbar am besten abgebildet werden kann. Die Abhängigkeit der Bewegung von dieser Person bleibt allerdings prekär, weil deren Nimbus früher oder später verblassen dürfte. Die Bedeutung des Charismas für den Populismus ist insofern zu relativieren. Sie zeigt sich vor allem in der Etablierungsphase – bei der Gründung und dem Durchbruch der Parteien bei Wahlen, die sich tatsächlich fast immer einzelnen herausragenden Führungspersönlichkeiten verdanken. Den allermeisten dieser Parteien ist jedoch gelungen, auch nach deren Ausscheiden weiterzubestehen und erfolgreich zu bleiben. Im Zuge dieser institutionellen Verstetigung schwächten sie ihren Bewegungscharakter ab und passten sich in der Organisationsform den Mainstream-Parteien an.

In einigen Ländern ist die Institutionalisierung durch die Verrechtlichung des Parteiwesens ohnehin vorgegeben. So wäre es z.B. in der Bundesrepublik gar nicht möglich, eine Partei nach dem "Führerprinzip" zu errichten, da Grund- und Parteiengesetz strenge demokratische Anforderungen an deren "innere Ordnung" stellen. Dass die so generierten Teilhabeansprüche der Basis einen kontrollierten Aufbau der Parteiorganisation erschweren, lässt sich an der Eskalation der personellen und Machtkonflikte in der AfD ablesen, die der Spaltung der Partei im Juli 2015 vorausgingen. Im Gebot innerparteilicher Demokratie liegt insofern ein größeres Erfolgshemmnis für die populistischen Herausforderer als im Wahlrecht oder den Regeln der Parteienfinanzierung. Verschärft wird das Problem durch das von ihnen selbst propagierte plebiszitäre Demokratieverständnis, das sie konsequenterweise auch in der eigenen Organisation gelten lassen müssen. Dies zeigt sich z.B. darin, dass die AfD häufig Mitgliederversammlungen anstelle von Delegierten entscheiden lässt. Mit ihrem Modell einer gleichberechtigten Dreier- bzw. Doppelspitze in der Führung weist sie zudem Organisationselemente auf, die man in der Bundesrepublik bisher nur von den linken Parteien (Grüne und Die Linke) kannte.

Stilmittel des Populismus

Als Politikstil bezeichnet man das Auftreten – die performance – eines politischen Akteurs, das heißt die Art und Weise, wie er an das Wählerpublikum heran- und mit diesem in Beziehung tritt. Dies schließt zum einen die rhetorische Ansprache, zum anderen die Ästhetik des Auftritts ein. In aufsteigender Reihenfolge ihrer Radikalität lassen sich folgende “Stilmittel” des Populismus identifizieren:

Rückgriff auf common sense-Argumente. Eine typische Argumentationsfigur besteht in der Gleichsetzung von individueller und kollektiver Moral nach dem Motto: Was sich im privaten Bereich bewährt und als richtig erwiesen hat, kann im öffentlichen Bereich nicht falsch sein! Dieser Logik folgt z. B. ein Großteil der populistischen Aussagen zur Wirtschaftspolitik (Forderungen nach Sparsamkeit, stärkerer Eigenvorsorge, individueller Haftung bei Unternehmenspleiten und ähnliche).

Vorliebe für radikale Lösungen. Populisten halten nichts von einer Politik kleiner Schritte, sondern verlangen stets das beherzte Durchgreifen, den großen Wurf. Weil sie Kompromissfähigkeit als Untugend erachten, geraten sie fast zwangsläufig in den Status einer Fundamentalopposition. Entsprechend schwer tun sie sich, wenn sie selbst Verantwortung übernehmen, es sei denn, sie verfügen – wie in Ungarn unter Fidesz – über die gesamte Macht und können die Durchsetzung ihrer radikalen Lösungen ohne größeren Widerstand betreiben.

Verschwörungstheorien und Denken in Feindbildern. Das populistische Bild der Gesellschaft entspricht einer klaren Frontstellung: hier das Volk und seine Fürsprecher, dort der innere und äußere Feind. Die Konstruktion des Feindbildes erfolgt zum einen durch Personifizierung – gesellschaftliche Probleme werden auf bestimmte Personengruppen projiziert, um diese als Schuldige zu entlarven –, zum anderen durch verschwörungstheoretische Begründungen. Dabei wird auch die eigene Partei oder Bewegung gern als "Opfer" hingestellt.

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Provokation und Tabubruch. Die Parteinahme für den "kleinen Mann" bedeutet nicht, dass der Populismus dessen Stimmungen hinterherläuft und immer nur solche Meinungen vertritt, die besonders populär sind. Der Zwang, sich von der angeblich herrschenden Elite abzugrenzen, verlangt im Gegenteil nach kalkulierten Entgleisungen; diese sollen an Tabus rühren und damit provozierend wirken. Populisten setzen sich über die Gebote politischer Korrektheit gezielt und bisweilen lustvoll hinweg, die sie als Ausfluss eines "linksliberalen Meinungskartells" betrachten.

Emotionalisierung und Angstmache. Wortwahl und Diktion tragen dazu bei, Stimmungen in der Bevölkerung emotional anzuheizen. Der populistische Akteur spielt mit Ressentiments und Vorurteilen, die sich in aggressiver Form gegen den angeblichen Feind entladen. Vorhandene Unsicherheiten und Statusängste werden nicht argumentativ entkräftet, sondern im Gegenteil als "Malaise" bewusst geschürt, um das Publikum für die populistische Botschaft empfänglich zu machen. Die Gegenüberstellung von Freund und Feind gibt dem Agitator die Möglichkeit, sich selbst als Auserwählten und Retter hinzustellen.

Verwendung von biologistischen und Gewaltmetaphern. Um die Feindlage glaubwürdig zu vermitteln, greift der Agitator zu drastischen Formulierungen, bedient er sich einer Sprache, die an Gewalt und Krieg erinnert. Die Ablehnung des Fremdartigen und "Widernatürlichen" wird durch sexuelle, medizinische oder Tiermetaphern zum Ausdruck gebracht, die das Bild einer kranken, von Zerfall und Zersetzung bedrohten Gesellschaft zeichnen sollen (Volkskörper, Geißel, Schmarotzer, Raubtierkapitalismus und ähnliche).

Populismus und Extremismus

Populistische Parteien können zugleich extremistisch sein, wenn sie die Schwelle zur offenen Systemfeindlichkeit überschreiten. Unter den europäischen Vertretern galt dies z.B. lange Zeit für den französischen Front National, den – später in Vlaams Belang umbenannten – belgischen Vlaams Blok und die Schwedendemokraten. Inzwischen haben diese Parteien den harten Extremismus zurückgedrängt und bemühen sich um ein gemäßigteres Erscheinungsbild. Ob es sich dabei um ein ehrlich gemeintes Bekenntnis oder lediglich eine Camouflage des rassistischen Gedankenguts handelt, bleibt unter den Beobachtern umstritten.

Als rechtspopulistische Vertreter mit extremistischen "Einsprengseln" können auch die FPÖ und die AfD bezeichnet werden. Damit bilden sie innerhalb der populistischen Parteienfamilie allerdings die Ausnahme, deren Mainstream – von den skandinavischen Fortschrittsparteien über Berlusconis Forza Italia bis hin zu Fidesz in Ungarn – gerade nicht extremistisch ist. Umgekehrt kann es rechtsextreme Parteien geben, denen die typischen Elemente des Populismus fehlen. Dies gilt z.B. für die bundesdeutsche NPD, die ausschließlich virtuelle Wahlkämpfe führt und es gar nicht darauf angelegt, zu der von ihr umworbenen Wählerschaft in eine öffentlich sichtbare Beziehung zu treten.

Im europäischen Vergleich ziehen die nicht-populistischen extremen Rechtsparteien gegenüber den nicht-extremistischen populistischen Vertretern klar den Kürzeren. Der Populismus stellt also die eigentliche Erfolgsformel der Rechtsparteien dar. Der Extremismus steht solchen Erfolgen eher im Wege, weil er ideologisch gemäßigte Wähler abschreckt und die Entwicklung einer populistischen Strategie der Wähleransprache behindert. Der Zusammenhang hat allerdings zugleich eine aus Sicht der gemäßigteren Vertreter unschöne Kehrseite: Sind die Populisten im Wählerwettbewerb erfolgreich, könnten extremistische Kräfte versuchen, auf deren Trittbrett aufzuspringen. In der Bundesrepublik wurde auf diese Weise eine Reihe von Rechtsaußenparteien unterwandert (Republikaner, Bund Freier Bürger, Schill-Partei), die daraufhin prompt an Wählerzuspruch verloren bzw. an innerparteilichen Richtungskonflikten zugrunde gingen. Mit Blick auf den Erfolg der Niederländer Pim Fortuyn und Geert Wilders liegt die Vermutung nahe, dass der Populismus umso erfolgreicher ist, je weiter er sich selbst in der vermeintlichen "Mitte" verortet und je bürgerlicher er sich in seinem Auftreten gibt.

Wenn die Extremisten "systemfeindlich" sind, heißt das im Umkehrschluss nicht, dass sich die

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Rechtspopulisten automatisch innerhalb des "Verfassungsbogens" bewegen. Die populistische Demokratiekonzeption stellt den "deliberativen" Elementen der modernen Demokratie, dem geduldigen Aushandeln, Abwägen und Argumentieren, die autoritäre "Dezision" gegenüber. Die reale Interessen- und Meinungsvielfalt in heutigen, ausdifferenzierten Gesellschaften wird verneint und soll in einer mehrheitsabsolutistischen, tendenziell autoritären Organisation von Entscheidungen ausgehebelt werden. Populismus ist in letzter Konsequenz immer anti-liberal und anti-pluralistisch. Weil er die institutionellen und kulturellen Prinzipien aushöhlt, auf denen die heutige Demokratie beruht, wirkt er wie ein "schleichendes Gift".

Solange die Herausforderer in der Opposition verharren und als reine Protestparteien auftreten, dürfte von ihnen für die verfassungsmäßige Ordnung keine unmittelbare Bedrohung ausgehen. Bedenklich wird es erst, wenn sie über Regierungsmacht verfügen und ihre Demokratievorstellungen aktiv umsetzen können. Die Erfahrungen nach der Machtbeteiligung bzw. -übernahme rechtspopulistischer Parteien in Österreich, Italien, Ungarn und neuerdings auch Polen haben gezeigt, dass diese Befürchtungen keineswegs aus der Luft gegriffen sind und auch durch das mögliche Scheitern der Populisten an der Regierung nicht zerstreut werden können.

Rechtspopulismus in der Bundesrepublik Deutschland

Deutschland galt lange Zeit als schwieriges Terrain für rechtspopulistische Parteien. Das lag nicht etwa daran, dass Einstellungsmerkmale, auf die der Rechtspopulismus rekurriert, unter den Wählern hierzulande weniger ausgeprägt wären. Dennoch schaffte es bislang keiner der Herausforderer in den . Unter dem Eindruck der seinerzeitigen Großen Koalition gelang der NPD 1969 mit 4,3 Prozent der Zweitstimmen ein Achtungserfolg. Danach brauchte es fast ein halbes Jahrhundert, bis mit der Alternative für Deutschland (AfD) und ihrem 2013er Resultat von 4,7 Prozent eine neu entstandene Rechtsaußenpartei dieses Ergebnis überbot.

Aus der vergleichenden Forschung weiß man, dass es in der Regel einer Initialzündung, eines bestimmten "populistischen Moments" bedarf, um solche Parteien oder Bewegungen hervorzubringen. Bei der AfD war es die Finanz- und Eurokrise, die das "Gelegenheitsfenster" für eine neue EU-kritische Partei öffnete. Deren programmatische Kernforderungen – kontrollierte Auflösung der Währungsunion und Absage an eine weitere Vertiefung des europäischen Integrationsprozesses – eigneten sich bestens, um daran eine breitere rechtspopulistische Plattform anzudocken, die die Gegnerschaft zum Establishment mit Anti-Positionen in der Zuwanderungsfrage und anderen Bereichen der Gesellschaftspolitik verknüpfte.

Die AfD war keine Ad-hoc-Parteigründung. Sie kann eher als das Ergebnis eines lange währenden, bürgerlich-konservativen Protestes gegen die Europolitik der Bundesregierung Angela Merkels (und ihrer Vorgänger) interpretiert werden. Die AfD gründete sich aus einem Kreis konservativer Ökonomen, umfasste aber auch gesellschaftspolitisch konservative Netzwerke. Empirische Befunde zu den Kandidaten der Partei zeigen, dass rechtspopulistische Einstellungsmerkmale von Beginn an präsent waren. Diese fanden allerdings in der Programmatik der Partei zunächst wenig Widerhall. Bis zur Europawahl 2014 trat die AfD zwar populistisch auf, indem sie die etablierten Parteien, Bundesregierung und die EU kritisierte, konzentrierte sich aber auf euroskeptische Positionen. Ihre Forderung nach Abwicklung der gemeinsamen europäischen Währung schloss dabei neben der ökonomischen auch eine politische Dimension mit ein, indem sie auf die Rückgewinnung nationalstaatlicher Souveränität abzielte. Zugleich achtete die Partei darauf, ein möglichst bürgerliches Auftreten zu wahren. Nichtsdestoweniger nährten gegen den Islam oder Gender Mainstreaming gerichtete Aussagen von AfD-Funktionären bereits in der Entstehungszeit der Partei den Verdacht, dass es sich, wenn nicht um eine rechtspopulistische Partei im klassischen Sinne, so doch zumindest um ein funktionales Äquivalent handele; eine Partei also, die nicht offen rechtspopulistisch auftritt, aber auf der Wählerebene wie eine solche funktioniert.

Nach der Europawahl 2014 stellte die AfD die gesellschaftspolitischen Themen immer stärker in den

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Mittelpunkt. Die Euro-Krise nahm demgegenüber einen deutlich geringeren Stellenwert ein. Stattdessen warb die Partei mit restriktiven Positionen in der Einwanderungspolitik und stilisierte sich besonders in den ostdeutschen Ländern als Bewahrerin der einheimischen Kultur. Die innerparteiliche Auseinandersetzung, die sich am Führungsstil des Sprechers Bernd Lucke entzündete, im Kern aber die ideologische Ausrichtung der AfD betraf, mündete im Sommer 2015 in deren Spaltung. Nachdem Lucke den Vorsitz in einer Kampfabstimmung an Frauke Petry verlor, trat er mit seinen Gefolgsleuten aus der AfD aus und brachte unter der Bezeichnung "Allianz für Fortschritt und Aufbruch" (ALFA) eine neue Gruppierung an den Start, die jedoch bei den folgenden Landtagswahlen chancenlos bleiben sollte. Bei der AfD bildete sich das rechtspopulistische Profil unterdessen immer deutlicher aus. Verfestigt wurde es im Sommer 2016 auf dem Stuttgarter Parteitag, wo sich die Partei erstmals ein Grundsatzprogramm gab. Die Selbstbeschreibung als Alternative zu den Etablierten, aber auch kritische Passagen gegen den Islam und das Bekenntnis zur traditionellen Mehrkindfamilie bildeten dessen Kernaussagen.

Bereits bei der Bundestagswahl 2013 hatte sich gezeigt, dass die AfD ihre Unterstützung weniger dem Euro-Thema verdankte als dem Unbehagen weiter Bevölkerungskreise an der Migrations- und Integrationspolitik. Der Befund deckt sich mit anderen Studien, die der im öffentlichen Diskurs immer wieder auftauchenden Diagnose, es handele sich um eine kurzlebige Protestpartei, empirisch fundiert widersprechen: Die AfD lebt danach zum einen von der Parteien- bzw. Politikverdrossenheit ihrer Wähler. Zum anderen besteht zwischen Partei und Elektorat ein hohes Maß an Konvergenz in sozio- kulturellen Positionen. Auch wenn nur ein gutes Viertel der AfD-Unterstützer ein geschlossen rechtsextremes Weltbild aufweisen, kann dies doch als Hinweis darauf gelesen werden, dass die AfD zwar zu einem großen Teil aus Protest unterstützt wird, es ihr aber zugleich gelungen ist, durch eine in die politische Mitte gewanderte Union freigewordene Wählerpotenziale am rechten Rand des Parteiensystems für sich zu gewinnen. Zumindest auf mittlere Sicht spricht also einiges dafür, dass sich der Rechtspopulismus in Gestalt der AfD nun auch in der Bundesrepublik etablieren kann.

Rechtspopulismus in Mittel- und Osteuropa

In den mittelosteuropäischen Staaten hat sich eine andere Form des Rechtspopulismus entwickelt, als sie aus Westeuropa bekannt ist. Die wesentlichen Unterschiede bestehen darin, dass sich die dortigen Vertreter weniger gegen zugewanderte Muslime als gegen eingesessene nationale und ethnische Minderheiten – etwa Sinti und Roma – richten. In der Regel treten sie mit dem Anspruch auf, die eigene Ethnie innerhalb der gemeinsamen, historisch legitimierten Grenzen zusammenzuführen (Irredentismus). Hinzu kommt, dass die religiöse Identität in Gestalt des Katholizismus (etwa in Polen) oder des orthodoxen Christentums eine weitaus größere Rolle spielt als in den säkularisierten Gesellschaften Westeuropas. Im Vergleich zu den dortigen Rechtspopulisten, deren wirtschaftspolitische Programmatik auch liberale Züge trägt, propagiert der Großteil der mittelosteuropäischen Exponenten eine sozialprotektionistische Politik. Gemeinsam mit den westeuropäischen Nachbarn ist ihnen der Protest gegen das politische Establishment. Mit der Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) und der ungarischen Fidesz haben sich rechtspopulistische Staatsparteien etabliert, die ihren anti-elitären Habitus und ihre Außenseiterrolle auf der europäischen Bühne fortsetzen.

Die Ursachen für die Herausbildung eines spezifischen mittelosteuropäischen Rechtspopulismus liegen in der Historie. Die Parteien schließen an autoritäre Vor- und Zwischenkriegstraditionen ebenso an wie an die verklärte Egalität der staatssozialistischen Gesellschaftsordnung. Nach dem Epochenumbruch 1989/1990 begann der politische Wettbewerb praktisch bei Null. Entsprechend profitieren rechtspopulistische Parteien von mangelnden Parteibindungen sowie von großer Skepsis gegenüber den alten und neuen politischen Eliten.

Ähnlich wie in Westeuropa ist das Spektrum der rechtspopulistischen Parteien in Mittelosteuropa alles andere als einheitlich. Dies zeigt ein Vergleich zwischen der polnischen PiS und der ungarischen Fidesz. Der ideologische Kern der 2001 von Lech Kaczyński gegründeten PiS fußt auf dem Bild des

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"Polentums" und besteht zum einen im polnischen Nationalismus, zum anderen in ihrer konservativ- katholischen Gesellschaftspolitik. Die Partei steht in enger Verbindung zu dem katholischen Radiosender Radio Maryja. Sie war mehrmals an polnischen Regierungen beteiligt und stellt seit 2015 die alleinige Regierungsfraktion.

Fidesz stellt seit 2010 unter Ministerpräsident Viktor Orbán die ungarische Regierung. Die Partei wurde jedoch bereits 1988 gegründet. Allerdings handelte es sich damals um eine liberale, bürgerliche Formation. Erst ab Anfang der 1990er Jahre kam es nach Abspaltungen zur Herausbildung eines konservativen, nationalistischen Profils, das sich nach der Wahlniederlage 2002 noch zuspitzte. Die ungarische Wählerschaft galt lange Zeit nicht als affin gegenüber dem Rechtspopulismus. Die Festigung von Fidesz als Partei mit breiten Mehrheiten stellte sich erst nach 2006 ein, als ein Skandal um Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány dessen sozialdemokratische Regierung zu Fall brachte. Die Beispiele Polen und Ungarn illustrieren, welche Auswirkungen die Regierungsbeteiligung von Rechtspopulisten haben kann. In Polen hat die Regierung unmittelbar nach den Wahlen ihren Einfluss auf die öffentlich-rechtlichen Medien ausgedehnt und gleichzeitig das Verfassungsgericht zu entmachten versucht. Damit eifert sie nicht nur dem "antiliberalen" Vorbild Ungarns nach, dessen Umbau zu einem quasi-demokratischen autoritären System seit der Machtübernahme von Fidesz konsequent betrieben wird, sondern auch dem – von seinem Urheber Wladimir Putin zynisch als "gelenkte" Demokratie titulierten – Herrschaftsmodell des verhassten russischen Nachbarn. Dabei waren es gerade Ungarn und Polen gewesen, die den eigenen Freiheitswillen in der kommunistischen Zeit gegen die Sowjetunion am konsequentesten unter Beweis gestellt hatten.

Meinung: Strategien der Auseinandersetzung

Die dauerhaft hohen Wahlergebnisse der Rechtspopulisten weisen darauf hin, dass es sich nicht um kurzlebige Protestphänomene handelt. Die etablierten Parteien und die zivilgesellschaftlichen Akteure müssen sich daran gewöhnen, dass sich rechtspopulistische Parteien etablieren – fraglich ist, wie den Populisten begegnet werden kann. Ein wesentliches Ziel sollte darin liegen, ihnen die Protestgründe, von denen sie profitieren, zu entziehen. Dies erfordert eine Kombination aus tatsächlicher (materieller) Problemlösung durch "gutes" Regieren, symbolischer Repräsentation der potenziellen Protestwählerschaft und politischer Auseinandersetzung mit den rechten Herausforderern.

Im politischen Wettbewerb haben sich die Parteien des Mainstreams an unterschiedlichen Strategien versucht. Diese reichen von Isolation (Deutschland, Frankreich), Imitation (Dänemark) bis zu Kooperation (Österreich, Finnland). Keine der gewählten Strategien hat die Wahlergebnisse von Rechtspopulisten bislang dauerhaft sinken lassen. In Dänemark und jüngst in Österreich haben sich nach Konservativen und Christdemokraten auch die Sozialdemokraten auf die Positionen der Rechtspopulisten eingelassen und dafür einen hohen Preis gezahlt. In Dänemark wurde die sozialdemokratisch geführte Regierung bei der Parlamentswahl Mitte 2015 abgewählt. In Österreich stürzte sie 2016 nach dem Umschwenken auf eine restriktivere Flüchtlingspolitik in eine tiefe Krise, die im Rücktritt von Bundeskanzler Werner Faymann endete.

Österreich ist aber auch ein Beispiel für die Konsequenzen, die eine Regierungsbeteiligung für rechtspopulistische Parteien haben kann. Zwischen 2000 und 2007 koalierte die konservative ÖVP auf Bundesebene mit der FPÖ. In dieser Zeit spaltete sich von der FPÖ das Bündnis Zukunft Österreich (BZÖ) ab. Dem waren eine Reihe von Niederlagen bei Landtagswahlen und ein massiver Stimmenverlust bei der vorgezogenen Nationalratswahl 2002 vorausgegangen. Auch wenn das BZÖ inzwischen in der Versenkung verschwunden ist und die FPÖ sich seit Jahren nach Wählerstimmen auf Augenhöhe mit SPÖ und ÖVP befindet, zeigt das Beispiel, dass die Kompromisse einer Koalitionsregierung protestorientierte Parteien in heftige interne Konflikte stürzen können. Auch die Partei "Die Finnen" hat seit ihrer Regierungsbeteiligung in Finnland mit starken Popularitätsverlusten zu kämpfen.

In Dänemark und den Niederlanden wurden konservative Regierungen von Rechtspopulisten geduldet

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 32 bzw. gestützt. Solche Konstellationen zahlen sich für Rechtspopulisten möglicherweise am meisten aus: Sie können Einfluss auf die Regierungsgeschäfte nehmen, befinden sich aber selbst nicht in der Verantwortung.

Dämonisierung und Isolation hingegen, wie sie die etablierten Parteien in Deutschland und Frankreich versuchen, führen nicht zu den erhofften Effekten. Das grundlegende Problem besteht darin, dass die etablierten Parteien die Herausforderer "entlarven" wollen, selbst aber Objekt des Populismus sind – handelt es sich bei ihnen doch gerade um die Vertreter jener "Altparteien", gegen die die Rechtspopulisten ihre Wähler erfolgreich mobilisieren. Der Versuch, die Parteien auszugrenzen, kann dann den unerwünschten Effekt haben, dass sich deren Sympathisanten ebenso stigmatisiert fühlen. So führt auch der Ausschluss aus der politischen Debatte dazu, die von den Rechtspopulisten behauptete Außenseiterrolle sogar noch zu bestätigen. Es dürfte daher generell sinnvoller sein, die politische Konfrontation nicht zu vermeiden, sondern gerade zu suchen. Auch dabei gilt jedoch, die Außenseiterrolle der Partei nicht zu adressieren, sondern den politischen Gegner inhaltlich zu stellen und mit seinen mangelnden Lösungsangeboten zu konfrontieren. Nehmen die linken wie rechten Parteien des politischen Mainstreams für sich in Anspruch, die besseren Argumente zu haben, so sollten sie auch die Gelegenheit nutzen, diese unaufgeregt ins Feld zu führen.

Welche Handlungsempfehlungen lassen sich aus dem Scheitern der gegensätzlichen Bekämpfungsstrategien ableiten? Neben der unmittelbaren politischen Auseinandersetzung erscheinen folgende vier Aufgaben(felder) wesentlich: Erstens bedarf es auf der nationalen wie auf der europäischen Ebene einer Politik, die ökonomischen und sozialen Zusammenhalt der Gesellschaften wieder stärker in den Mittelpunkt rückt. Das Bewusstsein der Bedeutung, die der Wohlfahrtsstaat für diesen Zusammenhalt gewinnt, ist in der Vergangenheit mehr und mehr abhandengekommen. Sie zeigt sich gerade mit Blick auf den internationalen Wettbewerb: Je weiter sich die Volkswirtschaften nach außen öffnen, umso wichtiger werden Bildung und Ausbildung (um sich für den Wettbewerb zu wappnen), aber auch die Absicherung gegen die durch den Wettbewerb entstehenden Risiken im Inneren. Gelingt es der Politik nicht, eine Gesellschaft auf der Basis von Chancengleichheit und Fairness zu errichten, kann das Populismus-Potenzial nicht reduziert werden.

Zweitens muss man beim Rechtspopulismus versuchen, der Konkurrenz auf deren eigenem Feld zu begegnen – der Wertepolitik. Dies stellt vor allem für die in ihrem Werteverständnis eher materialistisch geprägten Sozialdemokraten ein schwieriges Problem dar, die verloren gegangenen Kredit aber nur zurückgewinnen können, wenn sie der rechten "Gegenmodernisierung" ein eigenes, nicht-regressives Modell einer guten Gesellschaft entgegenstellen, das die Bedürfnisse der Menschen nach Zugehörigkeit aufnimmt. Dies gilt vor allem für die Zuwanderungspolitik. So entschieden man der rechtspopulistischen Perfidie entgegentreten muss, soziale Konflikte in rein kulturelle oder nationale Konflikte umzudeuten, so wenig sollte man umgekehrt der Versuchung unterliegen, kulturelle Differenz (und den Umgang mit ihr) auf ein ausschließlich soziales Problem zu reduzieren.

Drittens gilt es deutlich zu machen, warum eine Politik, die die Märkte auf der europäischen und transnationalen Ebene reguliert und dazu nationale Zuständigkeiten abgibt (bzw. abzugeben bereit wäre), dennoch im nationalen Interesse ist. Diese Herausforderung stellt sich in der Auseinandersetzung mit dem rechten und linken Populismus gleichermaßen. Die zunehmend europamüden Bürger lassen sich für das Integrationsprojekt nur zurückgewinnen, wenn die sozialen und kulturellen Nebenfolgen, die sich aus dem Marktgeschehen ergeben, nicht mehr ausschließlich der nationalstaatlichen Politik aufgebürdet werden. In anderen Bereichen – etwa der Außen- und Verteidigungspolitik – wäre es geboten, dass die politischen Eliten selbst über ihren Schatten springen; hier scheitert die Überwindung des nationalen Denkens nicht an den Widerständen der Bevölkerung.

Und viertens müssen die Parteien sich nach außen hin gegenüber den Bürgern öffnen. Dies verlangt nach einem anderen Repräsentations- und Organisationsverständnis, das mit dem heutigen Modell der von oben gesteuerten Mitglieder- und Funktionärsparteien bricht. Überlegt werden sollte auch, ob und in welcher Form man die repräsentative Parteiendemokratie durch direktdemokratische

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Beteiligungsverfahren ergänzen kann – damit sich die Rechtspopulisten dieser Forderung nicht exklusiv bemächtigen. Vor allem braucht es eine neue Kultur des Zuhörens und Aufeinanderzugehens. Die in einer Demokratie unverzichtbare Volksnähe des Politikers gebietet nicht, dem Volkswillen hinterherzulaufen, sondern den Bürgern Gehör zu schenken. Dies setzt voraus, dass man die Lebenswirklichkeiten seiner Wähler kennt oder ihnen zumindest nicht ausweicht.

Literatur

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Prof. Frank Decker / Dr. Marcel Lewandowsky für bpb.de

Fußnoten

1. Christoph Möllers, Demokratie. Zumutungen und Versprechen, Hamburg 2008, S. 33.

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Was versteht man unter "Populismus"?

Von Tim Spier 25.9.2014 Dr. disc. pol, geb. 1975; Vertreter der Professur "Politisches System der Bundesrepublik Deutschland und Public Administration" an der Universität Siegen, Fachbereich 1/Politikwissenschaft, Adolf-Reichwein-Straße 2, 57068 Siegen. [email protected]

Populismus ist ein häufig genutzter Begriff. In der politischen Auseinandersetzung taucht er als Stigmawort auf, um andere Politiker oder Parteien zu diffamieren. In der Wissenschaft wird er z.B. benutzt, um bestimmte Programme, Positionen und Kommunikationsweisen zu beschreiben. Eineindeutig ist Populismus jedenfalls nicht. Der Politologe Tim Spier erklärt, warum.

Plakat aus einer Kampagne der rechtspopulistischen Schweizerischen Volkspartei (SVP) gegen den Bau von Minaretten. (© picture-alliance/dpa) Es ist das ironische Schicksal des Populismus-Begriffs[1], populär geworden zu sein. So sieht es zumindest der französische Populismus-Forscher Pierre-André Taguieff.[2] Und in der Tat: Die Popularität des Begriffs erschwert eine einigermaßen neutrale wissenschaftliche Verwendung ungemein. Zwei Probleme ergeben sich hier: Das Wort "Populismus" ist außerordentlich wertgeladen und noch dazu unpräzise.

Mit Wertgeladenheit ist zunächst gemeint, dass der Populismus-Vorwurf ein gern genutztes Mittel in der politischen Auseinandersetzung ist. Kaum ein Politiker, der nicht schon andere Parteien und Politiker bezichtigt hätte, "populistische" Forderungen zu verbreiten. Das soll den politischen Gegner abwerten und die Ernsthaftigkeit und Realisierbarkeit seiner Forderungen in Abrede stellen. Die mit dem Populismus-Vorwurf einhergehenden Assoziationen reichen von "Stammtisch-Niveau" bis hin zu

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"Demagogie". Der angebliche Populist zielt in dieser Sichtweise darauf ab, die Gunst der Massen zu erringen, indem er Versprechungen macht, ohne auf deren Umsetzbarkeit zu achten. Versteht man Populismus in diesem Sinne vor allem als ein Stilmittel, das auf eine größtmögliche mediale Aufmerksamkeit abzielt, so kann man den Populismus-Vorwurf durch Politiker selbst als "populistisch" bezeichnen.

So schillernd der Begriff "Populismus" ist, so ist er kaum präzise oder gar eindeutig. Man findet ihn immer wieder in medialen und politischen Alltagsdiskursen. Er wird als Bezeichnung für die verschiedensten historischen und aktuellen Parteien, Bewegungen und Politiker genutzt, gleich welcher politischen Ausrichtung. Offenbar gibt es rechte Populisten genauso wie linke. Man braucht nicht lange zu suchen, um auch andere vermeintliche Spielarten des Populismus zu finden: So ist von „Nationalpopulismus“, "Ökopopulismus" oder "Steuerpopulismus" die Rede – die Liste ließe sich fortführen. In den seltensten Fällen wird jedoch klar, was genau mit "Populismus" gemeint ist.

Populismus als Politikstil

Um der Begriffsverwirrung zu begegnen, soll hier der Versuch einer Definition unternommen werden, die den Begriff beschreibt und einordnet. Sie begreift Populismus einerseits als einen Politikstil, der sich an vier Elementen festmachen lässt. Einige davon können sich, wie bereits erwähnt, bei allen Parteien oder Politikern finden. Treten diese Elemente aber gemeinsam auf und wird die Bezugnahme auf ein abgrenzend definiertes "Volk" zentral, dann kann andererseits durchaus von einem eigenen Parteientypus gesprochen werden.

1. "Das Volk" Ein erstes Merkmal ist der Bezug auf "das Volk". Denn dies ist die lateinische Wurzel des Wortes, abgeleitet von populus ("das Volk"). Populisten sprechen in ihren Reden und Medienbeiträgen "das Volk", "die einfachen Leute" oder – häufig ganz selbstverständlich auf die männliche Version beschränkt – "den kleinen Mann auf der Straße" an. Dabei wird suggeriert, dass "das Volk" eine Einheit sei. Interessengegensätze, die es in modernen Gesellschaften in vielfacher Weise gibt, werden so implizit geleugnet.

Der Appell an das nicht näher spezifizierte "Volk" erlaubt Populisten, eine möglichst große Zielgruppe anzusprechen. Eine große Zahl von Menschen soll sich zugehörig fühlen können. Zugleich wird "das Volk" häufig romantisch überhöht: Es wird in der Rhetorik der Populisten als "ehrlich", "hart arbeitend" und "vernünftig" dargestellt. Dies ist eine identitätsstiftende Strategie der Populisten, die auf diese Weise eine imaginäre Gemeinschaft konstruieren, die ein Zugehörigkeitsgefühl vermitteln soll.

2. Identität: Gemeinschaft durch Abgrenzung Identitätspolitik ist zentral für die Agitation der Populisten. Identität wird in der Rhetorik von Populisten jedoch nicht nur dadurch erzeugt, dass man die Adressaten in eine romantisch überhöhte Gemeinschaft einschließt, sondern – vielleicht noch viel effektiver – dadurch, dass man andere aus dieser Gemeinschaft ausschließt. Erst durch die Abgrenzung gegenüber Dritten wird ganz deutlich, wer vermeintlich zur Gemeinschaft gehört und wer nicht. Die Stimmungsmache gegen – mitunter gar nicht reale – Feindbilder ist eines der wichtigsten Stilmittel von Populisten.

Dabei lassen sich typischerweise zwei Gruppen von Feindbildern unterscheiden: Einerseits politische, ökonomische oder kulturelle Eliten, die in ein antagonistisches Verhältnis, also in einen feindschaftlichen Gegensatz, zum „einfachen Volk“ gesetzt werden: "Wir" gegen "die da oben". Diese Eliten werden als abgehoben, korrupt, selbstsüchtig und nur am eigenen Machterhalt interessiert dargestellt.

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Andererseits greifen Populisten auch immer wieder marginalisierte Bevölkerungsgruppen an, gleich ob es sich um soziale, kulturelle, religiöse oder sprachliche Minderheiten handelt. Bei Rechtspopulisten sind es typischerweise Migranten. Durch die aggressive Abgrenzung gegenüber Minderheiten soll die Zielgruppe der Populisten davon überzeugt werden, dass sie zur imaginierten Gemeinschaft gehört ("wir" gegen "die anderen"). Zugleich werden die Minderheiten als Sündenböcke für alle möglichen sozialen oder anderen Missstände verantwortlich gemacht.

3. Die Führungsfiguren Ein drittes, fast immer anzutreffendes Merkmal des Populismus ist seine Abhängigkeit von charismatischen Führungsfiguren. Kaum eine populistische Partei kommt ohne einen selbsternannten "Volkstribunen" aus, der ihr als Gesicht und Aushängeschild dient. Diese Anführer versuchen, über die Medien in eine möglichst direkte Beziehung zu ihrer Zielgruppe zu treten, wobei sie sich eines festen Kanons aufmerksamkeitserregender Stilmittel bedienen: radikale Lösungen für komplexe Probleme, gezielte Tabubrüche und Provokationen, Personalisierung, Emotionalisierung sowie das Schüren von Angst und Hass auf "die da oben" oder "die anderen".

Es ist daher kein Wunder, dass die meisten populistischen Bewegungen und Parteien mit einer bestimmten Person verbunden werden: Die Beispiele von Pim Fortuyn in den Niederlanden, Jörg Haider in Österreich oder Ronald Schill in Deutschland zeigen, dass mit dem Wegfall des Anführers meist auch die dahinterstehende Organisation zusammenbricht.

4. Die Organisation: Bewegung ≠ Partei Typisch für Populismus ist viertens, dass er sich als Bewegung organisiert. Populisten meiden in der Regel den Begriff "Partei" als Selbstbezeichnung ihrer Organisation, schon um sich von den etablierten Parteien abzugrenzen. Stattdessen nennen sie sich Bund, Liga, Liste, Front oder eben Bewegung. Die Bewegung suggeriert eine tiefe Verwurzelung im "Volk". Zudem unterstreicht sie die Rolle des Anführers, der durch sein Charisma die unter Umständen sehr heterogene Gruppe der Anhänger zusammenhält.

Dabei sind populistische Bewegungen nur selten basisdemokratisch aufgebaut. Häufig haben sie gar keine formelle Mitgliedschaft, die mit Rechten und Pflichten ausgestattet ist. Viel eher findet sich eine strikt hierarchische Entscheidungsstruktur, die meist ganz auf die zentrale Rolle des Anführers zugeschnitten ist.

Populismus als "dünne" Ideologie

Wenn Populismus bisher vor allem als Politikstil beschrieben wurde, so soll damit nicht der Eindruck erweckt werden, dass es keine ideologischen Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen populistischen Phänomenen gibt. Vielmehr ist Populismus das, was Michael Freeden eine "dünne" Ideologie nennt ("thin-centred ideology"):[3] Eine solche hat nur einen begrenzten ideologischen Kern. Im Fall des Populismus besteht die zentrale Idee dieser "dünnen" Ideologie in der Unterscheidung von "Volk" und "Elite", wobei sich die Populisten auf der Seite "des Volkes" sehen und vorgeben, das, was sie für den Volkswillen halten, durchzusetzen helfen. Diesen ideologischen Kern kann man bei ganz unterschiedlichen populistischen Bewegungen und Parteien identifizieren. Etwa beim amerikanischen "Populist Movement" oder den russischen "Narodniki" (http://www.bpb.de/izpb/189545/der-sieg-der- bolschewiki) (Volkstümlern) des 19. Jahrhunderts; bei der französischen Poujade (http://www.bpb.de/ izpb/9102/unser-nachbar-frankreich) - ebenso wie bei der amerikanischen McCarthy-Bewegung (http://www.bpb.de/apuz/59618/antikommunismus-angst-und-kalter-krieg-versuch-einer-erneuten-annaeherung- essay) der 1950er Jahre. Über den zentralen Bezug auf das "einfache Volk" hinaus hatten diese vier Phänomene wenig gemeinsam, sondern waren inhaltlich sehr unterschiedlich ausgerichtet.

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Insofern gibt es nicht "den" Populismus, sondern vielmehr Populismen unterschiedlicher ideologischer Ausrichtungen. An die "dünne" Ideologie des Populismus lassen sich andere Ideologieelemente andocken, die ihn inhaltlich näher qualifizieren. Beim Rechtspopulismus ist das typischerweise ein radikaler Nationalismus, der die eigene Nation, das eigene "Volk", über alle anderen stellt. Hinzu kommt häufig eine ausgeprägte Fremdenfeindlichkeit, die sich daran festmachen lässt, dass Rechtspopulisten oft Vorurteile gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund schüren. Ein drittes, immer wieder vorzufindendes Ideologieelement ist der Autoritarismus. Die Gesellschaft soll sich in der Vorstellung der Rechtspopulisten an strikten Ordnungsvorstellungen orientieren, die um jeden Preis einzuhalten sind. Beispiele hierfür sind Forderungen nach der Einführung der Todesstrafe, nach schnelleren und härteren Urteilen von Gerichten oder nach einer stärkeren Polizeipräsenz. Weitere Elemente wie Rassismus, Antisemitismus oder Homophobie können zusätzlich hinzukommen, sind jedoch nicht bei allen rechtspopulistischen Phänomenen zu beobachten.

Da Populismus in ganz verschiedenen ideologischen Ausrichtungen daherkommt, ist es schwierig, diese unterschiedlichen Phänomene über einen Kamm zu scheren. Viele zutreffende negative Bewertungen von Populismen hängen nämlich vor allem mit den angedockten Ideologieelementen zusammen. Den Bezug auf "das Volk" selbst als problematisch zu qualifizieren, fällt schwer, handelt es sich dabei doch um den demokratischen Souverän. Die westlichen Demokratien sind in aller Regel repräsentative Demokratien, in der diese Volkssouveränität vor allem in der Wahl von Abgeordneten in Volksvertretungen besteht. Deswegen sind Forderungen nach direktdemokratischen Partizipationsformen, die der Bevölkerung ein wesentlich unmittelbareres Mitspracherecht einräumen, nicht pauschal abzulehnen. Viele Populisten fordern diese unmittelbare Mitbestimmung des Volkes, aber dies macht noch nicht alle Befürworter direkter Demokratie zu Populisten.

Viel problematischer ist, dass die meisten Populisten einer Art "Führerdemokratie" das Wort reden: Die charismatischen Führungsfiguren der Populisten geben vor, sie selbst wüssten besser als alle anderen Politiker, was "das Volk" will und was dessen Interessen sind. Sie geben vor, diesen vermeintlichen Volkswillen gegen alle Widerstände durchzusetzen, ohne "faule Kompromisse". Eine moderne pluralistische Demokratie hingegen erkennt an, dass es in modernen Gesellschaften eine Vielfalt unterschiedlicher Meinungen und Interessen gibt, die im politischen Prozess gegeneinander austariert werden. Dies führt häufig zu politischen Kompromissen, die in der Regel komplex sind, nicht immer allen einleuchten und selten alle Seiten vollständig zufriedenstellen – dafür aber meist auch keine Meinungen und Interessen komplett außer Acht lassen und keine Minderheitenrechte ignorieren. Die Forderungen von Populisten sind demgegenüber viel einfacher, vielleicht auch leichter verständlich – doch sie suggerieren, dass es für komplexe Probleme einfache Lösungen gäbe. Dies ist in modernen Gesellschaften selten der Fall.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/)

Fußnoten

1. Der Text greift auf Argumente zurück, die sich in einer Monographie des Verfassers finden: Tim Spier, Modernisierungsverlierer? Die Wählerschaft rechtspopulistischer Parteien in Westeuropa, Wiesbaden 2010, S. 18ff. 2. Pierre-André Taguieff, Political Science Confronts Populism, in: Telos, H. 103 (1995), S. 9-43, hier: S. 4. 3. Michael Freeden: Is Nationalism a Distinct Ideology, in: Political Studies, Bd. 46 (1998), S. 748-765.

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Sprache, Themen und politische Agitationsformen

16.1.2017

Wo Rechtspopulisten auf komplexe gesellschaftliche Verflechtungen und gegenwärtige Krisen mit ausgrenzend-identitätsstiftenden Angeboten antworten, stellt sich immer auch die Frage: Von was reden Rechtspopulisten, wenn sie von Identität reden? Was ist ihr Verständnis von Volk oder Nation? Der Blick auf rechtspopulistische Lexik, ihre Verwendungsweisen und Versuche, Wörter ideologisch aufzuladen, soll dazu beitragen, den Grauzonenbereich zwischen rechtskonservativem und rechtsextremem Denken auszuloten.

Gleichsam reicht es nicht aus, die Widersprüchlichkeiten und Inkonsistenzen von Rechtspopulisten auf der sprachlichen Ebene aufzuzeigen und diese zu dekonstruieren. So sollen in unterschiedlichen Beiträgen auch die politischen Felder und Formen untersucht werden, die den Erfolg von Rechtspopulisten erklärbar machen. Hier geht es u.a. auch um die Frage nach einer vermeintlichen "postfaktischen Politik", Politikstilen der Polarisierung oder der rechtspopulistischen Kritik an Political Correctness und Hatespeech und ihren Mobilisierungseffekten.

Ralf Klausnitzer zum Begriff Lügenpresse - ein Beitrag aus dem Dossier Rechtsextremismus. (http://www.bpb.de/ mediathek/242205/ralf-klausnitzer-zum-begriff-der-luegenpresse)

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Diskussionsräume und Radikalisierungsprozesse in sozialen Medien

Von Diana Rieger 9.5.2019 Prof. Dr. Diana Rieger ist am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München tätig.

Soziale Medien können gerade im politischen Diskurs eine Bereicherung sein. Ihnen wird aber auch vorgeworfen, eine Plattform für Online-Hetze zu bieten, die zur Polarisierung der Gesellschaft beiträgt.

Menschen mit bereits vorhandenen extremen politischen Einstellungen sind häufiger in homogenen Echokammern zu finden, radikalisieren sich und wenden sich von anderen Meinungen ab. (© picture-alliance/dpa)

Wenn wir von den negativen Auswirkungen der “Digitalisierung“ sprechen, wird häufig auch die Angst vor Polarisierung und Radikalisierung thematisiert. In diesem Zusammenhang wird häufig der Begriff “alternative Medien“ diskutiert. Ganz grundsätzlich zeichnen sich alternative Medien durch eine Abweichung (=Alternative) von etwas anderem aus, auf das sie sich beziehen. Sie stellen sich bewusst in den Gegensatz zu einer “herrschenden“ Öffentlichkeit, um vernachlässigte oder unterdrückte Themen, Probleme oder soziale Gruppen der allgemeinen Wahrnehmung zugänglich zu machen. Der Begriff wird jedoch auch benutzt, wenn beispielsweise selbsternannte “ Verteidiger des Abendlandes “ die Medien als “Lügenpresse“ diffamieren, auf Webseiten trollen, somit Meinungsäußerungen stören und Diskussionen im Keim ersticken. Unter dem Sammelbegriff „alternative Medien“ werden daher auch Medien subsumiert, die das Qualitätskriterium der Ausgewogenheit für sich ablehnen und bewusst

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 41

Nachrichten mit einer bestimmten politischen Stoßrichtung veröffentlichen. Im Englischen wird von “partisan media“ gesprochen.[1] Auch extremistische Gruppierungen nutzen in sozialen Medien eine verzerrte, “alternative“ Darstellung, um ihre Botschaften in den Diskurs einzubringen, mit dem Ziel, Radikalisierungsprozesse anzustoßen.[2]

Rechte Themen in den öffentlichen Diskurs einbringen

Wir beobachten online Veränderungen durch die neue Vielfalt öffentlicher Teilhabe – gerade zu Themen, über die selten gesprochen wird: Hier wandelt sich zum einen der partizipative Journalismus [3], zum anderen sind auch Blogger/-innen, kommentierende Internetnutzer/-innen oder Webseiten- Betreiber/-innen potenziell Teilnehmer/-innen an öffentlichen Diskursen.[4] Öffentlichkeiten können demnach beispielsweise durch unzählige Diskussionsforen, virtuelle Archive, Mailinglisten, Blogs, Posts in sozialen Medien, Kommentare, Videos oder eigene Webseiten entstehen (ebd.). Rechtspopulistische Parteien und ihre Politik sind in den westlichen Gesellschaften, wenn nicht auf der ganzen Welt, immer erfolgreicher geworden.[5] Beispiele für rechtspopulistische Parteien sind die AfD (Alternative für Deutschland), die FPÖ (Freiheitliche Partei Österreichs) oder die nationale Sammelbewegung RN in Frankreich (Rassemblement National, hervorgegangen aus dem Front National). Zu den rechtsextremen Gruppen zählen in Deutschland beispielsweise die Identitäre Bewegung oder . Häufig sind es solche rechtspopulistischen Parteien oder sogar rechtsextreme Gruppen, die sich online als Alternative darstellen[6], und sich vehement gegen die “Leitmedien“ wenden, denen sie eine einseitige und verzerrte Themendarstellung unterstellen und Misstrauen gegen sie schüren wollen.[7]

Rechte, rechtspopulistische und rechtsextreme politische Akteure profitieren von einem Klima der Angst in der Gesellschaft, welches auch durch die Verknüpfung zwischen der jüngsten “Flüchtlingskrise “, Terrorismus und einer angeblichen Verbreitung des Islams in westlichen Gesellschaften hervorgerufen wird. Sie nutzen gezielt die Unsicherheit der Nutzer/-innen, um ihre radikalen Weltanschauungen[8] zu stärken. Vor allem im Internet werden Parolen, Botschaften und Aufrufe verbreitet und so unzensiert einem großen Massenpublikum zugänglich gemacht.

Diese Strategie geht mit Befürchtungen einher, dass sich Menschen in Echokammern gegenseitig ihre Einstellungen verstärken.[9] Die Idee geht zurück auf die Tatsache, dass Menschen tendenziell lieber mit andern Menschen in Beziehung treten, die ihnen bei einer Vielzahl von Merkmalen (z. B. die eigene politische Meinung oder die eigene ethnische Herkunft) ähnlich sind.[10] Während diese Annahme häufig in Studien nicht bestätigt werden kann, zeigt sich, dass Menschen mit bereits vorhandenen extremen politischen Einstellungen häufiger in homogenen Echokammern zu finden sind und sich stärker von anderen Meinungen abwenden [11]. Zudem überschätzen sie die Zustimmung in der breiten Bevölkerung und fühlen sich infolge stärker im Recht [12]. Eine solche Tendenz zeigt sich für Menschen mit gemäßigten politischen Einstellungen nicht. Darin verdeutlicht sich der „Teufelskreis“: Ist jemand bereits politisch extremer, kann sich diese Tendenz in homogenen Netzwerken weiter verfestigen. Ist jemand politisch gemäßigt eingestellt, hat er/sie auch häufiger Kontakt mit heterogenen Perspektiven und Meinungen.[13]

Eine Hinwendung nach rechts spiegelt sich auch in den kommunikativen Bemühungen und Diskursstrategien der populistischen Rechte wider, die versucht, die Grenzen der akzeptablen Sprache in öffentlichen Diskursen hin zu radikaleren Positionen und Sichtweisen zu verschieben[14] und diese somit zu “normalisieren“[15]. Beispielsweise werden NS-Vokabular oder Verschwörungsmythen zum Holocaust benutzt, um diese wieder in den öffentlichen Diskurs einzubringen[16]. Die Wirksamkeit einer solchen Normalisierungs-Strategie ist daher weniger auf der individuellen Ebene von Menschen zu sehen, die für rechtsradikale Agitation anfällig sind, sondern eher hinsichtlich der Debatte in der Gesellschaft. Sichtbar werden solche Diskurse auch durch die Sprache, die im Internet mit Bezug auf bestimmte Menschengruppen kursiert:

Hassrede (engl. Hate Speech) wird definiert als „der sprachliche Ausdruck von Hass gegen Personen

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 42 oder Gruppen, insbesondere durch die Verwendung von Ausdrücken, die der Herabsetzung und Verunglimpfung von Bevölkerungsgruppen dienen“[17]. Schmitt [18] unterscheidet vier verschiedene Gründe, um Hassrede im Internet zu verbreiten. Diese Art der gruppenbezogenen Ausgrenzung und Herabwürdigung wird eingesetzt, 1. um andere auszugrenzen, 2. um andere einzuschüchtern (aufgrund von eigenen Gefühlen wie Wut oder einem Bedrohungserleben), 3. um Macht zu demonstrieren, also Dominanz und Deutungshoheit in einem Diskurs deutlich zu machen[19] und 4. natürlich auch aus Spaß oder Nervenkitzel.

Hate Speech als Strategie, um den gesellschaftlichen Konsens zu brechen

Obwohl die Feststellung nicht neu ist, dass Online-Medien aufgrund von negativen Kommunikationspraktiken wie Trolling (emotionale Provokationen[20]) oder Flaming (unspezifische Beschimpfungen[21]) nicht den allgemeinen Höflichkeitsnormen entsprechen[22], scheint das Risiko einer Konfrontation mit eher unzivilen Online-Diskursen[23] gerade in den sozialen Medien zuzunehmen.[24]

Ein Fünftel der Facebook-Nutzer/innen (21%) berichten sogar, persönlich mit Hassrede-Material im Internet in Berührung gekommen zu sein.[25] Für Gruppen, die bevorzugt als Ziele von Hassrede ausgewählt werden, wie Mitglieder von stigmatisierten Gruppen (also Politiker/-innen, Aktivist/-innen oder Journalist/-innen[26]), können diese Zahlen wesentlich höher liegen: Im Jahr 2016 gaben beispielsweise 42% der deutschen Journalist/-innen an, persönlich angegriffen worden zu sein.[27] Es ist daher nicht verwunderlich, dass auch mehr als die Hälfte (67%) der Deutschen, die älter als 14 sind, von Erfahrungen mit “Hasskommentaren“ berichten.[28] Zudem berichtet etwa die Hälfte der Jugendlichen zwischen 14 und 19 in Deutschland von Berührungspunkte mit extremistischer Online-Propaganda[29] Bewusst werden sowohl rechts- und linksextremistische sowie religiös-extremistische Inhalte wahrgenommen. Diese Studie zeigt jedoch auch, dass Kontakt mit Extremismus über vielfältige Quellen möglich ist: Neben sozialen Medien berichten Jugendliche auch, über das Fernsehen, Zeitungen/Zeitschriften und Videoplattformen auf extremistische Inhalte gestoßen zu sein. Das direkt soziale Umfeld erscheint weniger bedeutsam.

Online-Hetze kann zur Polarisierung der Gesellschaft beitragen

Der kürzlich veröffentlichte Bericht der Online Civil Courage Initiative[30] argumentiert, dass Online- Hass zu gesellschaftlicher Polarisierung und extremistischer Radikalisierung beitragen kann. Diesem Zusammenhang liegt zugrunde, dass Radikalisierungs- und Polarisierungsprozesse häufig mit einer fortlaufenden Einstellungsänderung (hin zum Extremen, beispielsweise bei der politischen Einstellung) beginnen. Wie kann nun Online-Hetze solche Prozesse begünstigen? Negative Kommentare unter Nachrichtenbeiträgen können zum Beispiel die journalistische Qualität, Vertrauenswürdigkeit und Überzeugungskraft des Beitrages reduzieren.[31]Darüber hinaus änderten Leser/-innen von Online-Nachrichten häufiger ihre Meinung, wenn Leser/-innen-Kommentare sich gegen die Position des Nachrichtenartikels richteten.[32] Im laufenden Strom von Online-Nachrichten in Newsfeeds ist zudem möglich, dass einzelne Aussagen wahrgenommen, aber nicht weiter hinterfragt werden. So können Hasskommentare die Einstellungen gegenüber den verunglimpften Gruppen verändern und Nutzer/-innen dazu anregen, sich selbst negativer über die angesprochene Gruppe zu äußern[33]. Gleichzeitig können Hasskommentare auch direkt denjenigen schaden, die angegriffen werden:

Hassrede löst bei ihren Opfern negative emotionale Reaktionen aus[34] und fördert Vorurteile und Aggressionen gegenüber der Gruppe, die die Hassrede verbreitet[35], [36]. Selbst lediglich Zeuge von

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Hassrede zu sein, kann das soziale Vertrauen in andere Menschen und in die Gesellschaft als Ganzes verringern.[37] Eine politische Polarisierung kann somit damit einhergehen, dass die unterschiedlichen Gruppen sich immer mehr voneinander entfernen, nicht mehr miteinander in Austausch treten und ihre „Wir gegen die“-Mentalität verstärken.

Versuche, Online-Hass entgegenzuwirken, wie durch die Verabschiedung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) [38], stehen in der Kritik, das Recht auf freie Meinungsäußerung zu verringern[39]. Auch präventive Maßnahmen bringen Probleme mit sich, weil sie selbst die Aufmerksamkeit von Hassrednern auf sich ziehen[40] oder Medienprodukte der (rechten) alternativen Medien durch Empfehlungsalgorithmen direkt mit ihnen verknüpft werden[41]. Es kann jedoch ebenso festgehalten werden, dass viele rechte Gruppen nicht komplett am öffentlichen Diskurs “vorbeileben“. Eine Analyse der Posts auf AfD-nahen Facebook-Seiten zeigte, dass dort häufig alternative Medienquellen benutzt wurden. Zwar wurden zahlreiche kleinere Quellen geteilt, die sich explizit gegen die massenmediale Berichterstattung (und häufig damit verbundene Tendenz zur politischen Mitte) ausrichteten.

Gemessen an ihrer Reichweite waren Quellen, die sich bekanntlich gegen die AfD ausrichteten, unterrepräsentiert, wie beispielsweise Webseiten der Sender des öffentlich-rechtlichen Rundfunks oder die Webseite von bild.de. Hingegen waren drei Quellen, die häufig in der Debatte um alternative Medien erwähnt werden, auffällig häufig vertreten: Die Webseite der rechtskonservativen Wochenschrift Junge Freiheit, die deutsche Ausgabe der kontrovers diskutierten Epoch Times und die Nachrichtenseite des Kopp Verlags, welcher auf das Verlegen von Büchern mit verschwörungstheoretischem Gedankengut spezialisiert ist. Vor allem von Nutzer/-innen-Seite (nicht so sehr hingegen von Parteiangehörigen) wurden solche alternativen Quellen in den Diskurs eingebracht. Inhalte etablierter traditionell-kommerzieller Nachrichten-Webseiten wie Focus.de und Welt.de wurden jedoch über alle Nutzer/-innengruppen hinweg am häufigsten geteilt.[42]

Abschließend kann daher festgehalten werden, dass alternativen Medienquellen das Potenzial zugesprochen wird, 1. einen immer extremer geführten Diskurs und seine häufig rechtspopulistischen Positionen salonfähig zu machen und 2. über thematische Anknüpfungspunkte auch verschwörungstheoretisches Gedankengut oder Fake News in den öffentlichen Diskurs einzubringen.[43]

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Diana Rieger für bpb.de

Fußnoten

1. Schweiger, W. (2017): Der (des)informierte Bürger im Netz. Wiesbaden: Springer Fachmedien. 2. Neumann, K. & Baugut, P. (2017):„In der Szene bist du wie in Trance. Da kommt nichts an dich heran.“ Entwicklung eines Modells zur Bescheribung von Medieneinflüssen in rechtsextremen Radikalisierungsprozessen. Studies in Communication & Media, 6(1), 39-70. 3. Zum partizipativen Journalismus oder Bürgerjournalismus siehe www.bpb.de/gesellschaft/ medien-und-sport/medienpolitik/171586/glossar?p=9 (http://www.bpb.de/gesellschaft/medien- und-sport/medienpolitik/171586/glossar) 4. Engesser & Wimmer, 2009; Töpfl & Piwoni, 2015 5. Pisoiu, D. & Ahmed, R. (2015): Aus der Angst Kapitel schlagen: der Aufstieg rechtspopulistischer Bewegungen in Westeuropa. OSZE-Jahrbuch, 181-194.

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6. siehe http://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/239267/gegenoeffentlichkeit-von- rechtsaussen (http://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/239267/gegenoeffentlichkeit- von-rechtsaussen) 7. Der Begriff “ „Lügenpresse“ gewann zuletzt vor allem durch die Bewegung “Pegida“ wieder an Bedeutung (siehe Denner, N. & Peter, C. (2017): Der Begriff Lügenpresse in deutschen Tageszeitungen. Publizistik, 62(3), 273-297.). Er drückt ein Misstrauen gegenüber den etablierten Medien aus, welches vor allem durch eine rechtspopulistische Rhetorik geschürt wird. Zwar kritisieren auch andere Gruppierungen die Haltungen vieler massenmedialen Publika; der rechtspopulistischen Rhetorik wird diese Kritik jedoch absolutistisch vorgetragen, ohne Gegenargumente oder Widerspruch zu dulden. 8. Bornschier, S. (2018): Globalization, cleavages and the radical right. In: J. Rydgren, The Oxford Handbook of the radical right (S. 212). Oxford: Oxford University Press. 9. Unter dem Begriff “Echokammer“ ‘ versteht man virtuelle Räume im Internet (z. B. das eigene soziale Netzwerk), in denen Menschen vorrangig mit Informationen und Meinungen konfrontiert sind, die den eigenen Einstellungen und Sichtweisen entsprechen (Sunstein, C. (2007): Republic. com 2.0. Princeton, NJ: Princeton University Press.). Das Fehlen von “anderen“ (z. B. widersprechenden) Meinungen oder Sichtweisen soll – der Theorie nach – dazu führen, dass bestimmte Ansichten echoartig bestärkt werden (ohne dass alternative Perspektiven vorkommen). Die meisten Mediennutzer/-innen werden aber sehr unterschiedliche Medien konsumieren – sie lesen Zeitung, scrollen durch Facebook und schauen Fernsehen –, eine solche Vielfalt des Medienkonsums schränkt die Gültigkeit von Echokammern ein (siehe Dubois, E. & Blank, G. (2018): The Echo Chamber Is Overstated: The Moderating Effect of Political Interest and Diverse Media. Information Communication and Society 0 (0), 1-17.). Lediglich wenn nur noch “Szene- Medien“ konsumiert werden und andere Quellen aktiv vermieden werden, kann von einer tatsächlichen Echokammer gesprochen werden. Der Anteil an Personen, auf die ein solches Mediennutzungsverhalten zutrifft, ist aber vermutlich gering. 10. Morey, A. C., Eveland, W. P., Jr., & Hutchens, M. J. (2012): The “who” matters: Types of interpersonal relationships and avoidance of political disagreement. Political. Communication, 29, 86-103. doi:10.1080/10584609.2011.641070 11. Bright, J. (2017): Explaining the emergence of echo chambers on social media: the role of ideology and extremism, 1-19. 12. Wojcieszak, M. (2008): False consensus goes online: Impact of ideologically homogeneous groups on false consensus. Public Opinion Quarterly, 72(4), 781-791. 13. Stark, B., Magin, M., & Jürgens, P. (2017). Ganz meine Meinung?: Informationsintermediäre und Meinungsbildung – Eine Mehrmethodenstudie am Beispiel von Facebook. LfM-Dokumentation (Band 55). Düsseldorf: Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (LfM). 14. Cammaerts, C. (2018): The Circulation of Anti-Austerity Protests. Palgrave Macmillan. 15. Wodak, R. (2018): Vom Rand in die Mitte – „Schamlose Normalisierung“. Politische Vierteljahresschrift, 59, 323-335.; Schwarzenegger, C. & Wagner, A. (2018): Can it be hate if it is fun? Discursive ensembles of hatred and laughter in extreme right satire on Facebook. Studies in Communication and Media, 7(4), 473-498. 16. Rieger, D. & Schneider, J. (2019): Zwischen Chemtrails, Reptiloiden und #pizzagate: Verschwörungstheorien aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive. In: Landesarbeitsgemeinschaft Mobile Jugendarbeit/Streetwork Baden-Württemberg e. V. & Jugendstiftung Baden-Württemberg, Mythen, Ideologien, und Theorien. Verschwörungsglaube in Zeiten von Social Media (S. 13-20). Vaihingen an der Enz: Printmedien Karl-Heinz Sprenger. 17. Meibauer, J. (2013): Hassrede/Hate Speech. Interdisziplinäre Beiträge zu einer aktuellen Diskussion. Gießen., S. 1. Die Broschüre “Hate Speech Hass im Netz“, herausgegeben von der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (LfM) sowie der Arbeitsgemeinschaft Kinder und Jugendschutz NRW in Zusammenarbeit mit Klicksafe, gibt einen Überblick über konkrete Formen und Beispiele für konkrete sprachliche Muster von Online-Hate Speech (http://publikationen. medienanstalt-nrw.de/index.php?view=product_detail&product_id=442 (http://publikationen.medienanstalt- nrw.de/index.php?view=product_detail&product_id=442)). 18. Schmitt, J.B. (2017): Online-Hate Speech: Definition und Verbreitungsmotivation aus

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psychologischer Perspektive. In: K. Kaspar, L. Gräßer & A. Riffi (Hrsg.), Online Hate Speech: Perspektiven auf eine neue Form des Hasses (S. 52-56). Schriftenreihe zur digitalen Gesellschaft NRW. Marl: kopaed verlagsgmbh. 19. Gerade bezüglich des Aspektes der Deutungshoheit zeigt sich, dass Hate Speech ein Mechanismus zum Aufbau der alternativen Medien sein kann. Christoph Neuberger (2018) spricht in seinem Aufsatz “Meinungsmacht im Internet aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive“ davon, dass sich die Meinungsmacht im Internet umverteilt. Dadurch, dass die traditionellen Massenmedien ihr Monopol als Gatekeeper verlieren und ihre Aktivitäten in nicht- publizistische und politisch irrelevante Bereiche verlagern, verlieren sie auch an Meinungsmacht. Andere nicht-publizistische Anbieter gewinnen dadurch an politischer Relevanz. 20. Vgl. Buckles, E.E., Trapnell, P.D. & Paulhus, D.L. (2014): Trolls just want to have fun. Personality and Individual Differences, 67, 97-102. 21. Vgl. O’Sullivan, P.B. & Flanagin, A.J. (2003): Reconceptualizing ‘flaming’ and other problematic messages. New Media & Society, 5(1), 69-94. 22. Vgl. Papacharissi, Z. (2004): Democracy online: civility, politeness, and the democratic potential of online political discussion groups. New Media & Society, 6(2), 259-283. 23. Vgl. Coe, K., Kenski, K & Rains, S.A. (2014) : Online and Uncivil? Patterns and Determinants of Incivility in Newspaper Website Comments. Journal of Communication, 64(4), 658-679.; Kaakinen, M., Oksanen, A. & Räsänen, P. (2018): Did the risk of exposure to online hate increase after teh November 2015 Paris attacks? A group relations approach. Computers in Human Behavior, 78, 90-97.; Muddiman, A. (2017): News Values, Cognitive Biases, and Partisan Incivility in Comment Sections. Journal of Communication, 67(4), 586-609. 24. In Deutschland berichtete Jugendschutz.net, dass die Zahl der Verstöße gegen das Jugendschutzgesetz von rund 6.000 registrierten Verstößen im Jahr 2015 auf über 7.500 im Jahr 2017 gestiegen ist. Der Anteil von Verstößen aufgrund extremistischer Inhalte hat sich in dieser Zeit mehr als verdoppelt (siehe Schindler, F., Glaser, S., Herzog, H. & Özkilic, M. (2015): Jugendschutz im Internet. Ergebnisse der Recherchen und Kontrollen. Bericht 2015. Jugendschutz.net.; Schindler, F., Glaser, S., Herzog, H. & Özkilic, M. (2017): 2017 Bericht. Jugendschutz im Internet. Risiken und Handlungsbedarf. Jugendschutz.net. Abgerufen von https:// www.jugendschutz.net/fileadmin/download/pdf/bericht2017.pdf (https://www.jugendschutz.net/ fileadmin/download/pdf/bericht2017.pdf)). 25. Oksanen, A., Hawdon, J., Holkeri, E., Näsi, M. & Räsänen, P. (2014): Exposure to Online Hate Among Young Social Media Users. Sociological Studies of Children & Youth, 18, 253-273. 26. Vgl. Dieckmann, J., Geschke, D. & Braune, I. (2018): Diskriminierung und ihre Auswirkungen für Betroffene und die Gesellschaft. Jena: Institut für Demokratie und Gesellschaft. 27. Preuß, M., Tetzlaff, F. & Zick, A. (2017): Hass im Arbeitsalltag Medienschaffender – „Publizieren wird zur Mutprobe“ (IKG Forschungsbericht). Berlin: Mediendienst Integration. 28. Landesanstalt für Medien NRW (2018): Ergebnisbericht Hassrede. Abgerufen von https://www. medienanstalt-nrw.de/fileadmin/user_upload/lfm-nrw/Foerderung/Forschung/Dateien_Forschung/ forsaHate_Speech_2018_Ergebnisbericht_LFM_NRW.PDF (https://www.medienanstalt-nrw.de/ fileadmin/user_upload/lfm-nrw/Foerderung/Forschung/Dateien_Forschung/forsaHate_Speech_2­ 018_Ergebnisbericht_LFM_NRW.PDF) 29. Reinemann, C., Nienierza, A., Fawzi, N., Riesmeyer, C. & Neumann, K. (2019): Jugend – Medien – Extremismus. Wiesbaden: Springer VS. 30. Baldauf, J., Ebner, J. & Guhl, J. (2018): Hassrede und Radikalisierung im Netz. Online Civil Courage Initiative. London: Institute for Strategic Dialogue. Abgerufen von www.isdglobal.org/wp-content/ uploads/2018/09/ISD-NetzDG-Report-German-FINAL-26.9.18.pdf (http://www.isdglobal.org/wp- content/uploads/2018/09/ISD-NetzDG-Report-German-FINAL-26.9.18.pdf) 31. von Sikorski C., Hänelt M. (2016): (Re)Framing the News: Die Effekte gerahmter Online- Kommentare in der Skandalberichterstattung – ein theoretisches Prozessmodell und eine experimentelle Überprüfung. In: M. Ludwig, T. Schierl & C. von Sikorski (Hrsg.), Mediated Scandals: Gründe, Genese und Folgeeffekte von medialer Skandalberichterstattung, S. 210-232. Köln: Herbert von Halem Verlag. 32. Lee, E.-J., & Jang, Y. J. (2010): What do others’ reactions to news on internet portal sites tell us?

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Effects of presentation format and readers’ need for cognition on reality perception. Communication Research, 37, 825-846. 33. Huseh, M., Yogeeswaran, K. & Malinen, S. (2015): „Leave your comment below“: Can biased online comments influence our own prejudicial attitudes and behaviors? Human Communication Research, 41(4), 557-576. 34. Leets, L. (2002): Experiencing Hate Speech: Perceptions and Responses to Anti-Semitism and Antigay Speech. Journal of Social Issues, 58(2), 341-361. 35. Hsueh, Yogeeswaran & Malinen, 2015;Rösner, L., Winter, S. & Krämer, N.C. (2016): Dangerous minds? Effects of uncivil online comments on aggressive cognitions, emotions, and behavior. Computers in Human Behavior, 58, 461-470.; Soral, W., Bilewicz, M. & Winiewski, M. (2018): Exposure to hate speech increases prejudice through desensitization. Aggressive Behavior, 44 (2), 136-146. 36. Die Dokumentation “Lösch dich! So organisiert ist der Hate im Netz“ von Anders, Stegemann, Heidmeier und Baumann-Gibbon (2018) gibt beispielsweise Einblicke in das Netzwerk von Reconquista Germanica. Hierbei handelt es sich um ein Netzwerk, in welchem Rechtsextreme gezielt Online-Attacken auf politische Gegner, Medien und Institutionen koordinieren. Es zeigt sich eine enge Verflechtung zwischen Trolling und Hate Speech: Über die App Discord organisieren sich Mitglieder der Reconquista Germanica und geben gezielte Befehle zu Inhalt und Personen, die angegangen werden sollen. So können aus relativ harmlosen Trollen auch schnell organisierte Hater werden: Um Teil des stark hierarchischen Netzwerkes zu sein, gibt es einen mehrstufigen Bewerbungsprozess. Mehrere, teilweise hochrangige AfD-Mitglieder waren nachweisbar innerhalb des Reconquista Germanica Netzwerkes tätig. Auch Mitglieder der Identitären Bewegung konnten unter den 6.000 Aktivisten ausfindig gemacht werden (Stegemann, P., Musyal, S., Kulozik, D., Wandt, L., Pohl, M. & Gensing, P. (2018): AfD-Funktionär an Troll-Attacken beteiligt. [WWW document]. URL https://faktenfinder.tagesschau.de/inland/manipulation-wahlkampf-103.html, zuletzt abgerufen am 21.07.2018.). So schaffen es Trolle, die als Einzelpersonen einen begrenzten Wirkkreis hätten, diesen zu vergrößern und sich gemeinsam eine stärkere Stimme zu verschaffen. Die Grenzen zwischen bloßem Trollen zu Unterhaltungszwecken und dem gezielten Einsatz von Hate Speech zur politischen Einflussnahme werden dadurch unscharf. 37. Näsi, M., Räsänen, P., Hawdon, J., Holkeri, E., & Oksanen, A. (2015): Exposure to online hate material and social trust among Finnish youth. Information Technology & People, 28(3), 607-622. 38. Netz-Durchführungsgesetzes (NetzDG) 2017, siehe www.bpb.de/dialog/netzdebatte/262660/ debatte-netzwerkdurchsetzungsgesetz-netzdg (http://www.bpb.de/dialog/netzdebatte/262660/ debatte-netzwerkdurchsetzungsgesetz-netzdg) 39. George, S. (2016): Approaches for Countering Violent Extremism at Home and Abroad. The Annals of the American Academy of Political and Social Science 668(1), 94-101. 40. Vgl. Ernst, J., Schmitt, J. C., Rieger, D., Beier, A. K., Vorderer, P., Bente, G., & Roth, H-J. (2017): Hate beneath the counter speech? A qualitative content analysis of user comments on YouTube related to counter speech videos. Journal for Deradicalization, 10, 1-49. 41. Vgl. Schmitt, J. B., Rieger, D., Rutkowski, O., & Ernst, J. (2018): Counter-messages as prevention or promotion of extremism?! The potential role of YouTube recommendation algorithms. Journal of Communication, 68(4), 780-808. 42. Bachl, M. (2018) : (Alternative) media sources in AfD-centered Facebook discussions. Studies in Communication and Media, 2, 256-270. 43. Schmitt et al., 2018

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Nation – eine Begriffsbestimmung aus aktuellem Anlass

Von Jörg Himmelreich 26.4.2017 ist Politikwissenschaftler und Journalist. Er war auf internationaler Ebene in verschiedenen Positionen tätig, darunter im Planungsstab des Auswärtigen Amts. Er wirkte als Sachverständiger der EU zum Georgien-Konflikt 2008 und er dozierte als Gastprofessor an der University of California in San Diego. Er studierte Geschichte sowie Rechts- und Politikwissenschaften in Freiburg, Köln, Bonn und London. Himmelreich veröffentlicht regelmäßig zu internationalen politischen Themen (Russland, Europa und Indien), u.a. in der Zeitschrift "Internationale Politik", der NZZ und dem Deutschlandradio Kultur.

Weltweit findet eine Rückbesinnung auf die Nation statt, auch in Deutschland. Jörg Himmelreich setzt sich in seinem Beitrag mit der Geschichte und Gegenwart des Wortes auseinander. Und untersucht auch den völkischen Nationalismus der AfD.

Die 10,5 Meter hohe und 32 Tonnen schwere Figur der Germania thront am 27.03.2013 auf dem Sockel des Niederwalddenkmals bei Rüdesheim am Rhein (Hessen). Das Niederwalddenkmal erinnert an den Sieg über Frankreich im Jahr 1870/1871 und die daraus resultierende Neugründung des Deutschen Kaiserreichs. Das am 16. September 1877 eingeweihte Denkmal wurde nach den Entwürfen des Bildhauers Johannes Schilling und des Architekten Karl Weißbach erbaut. (© picture-alliance/dpa)

Weltweit breitet sich nicht nur in den Autokratien Chinas und Russlands, sondern auch in den Staaten westlicher freiheitlicher Demokratien in der Europäischen Union (EU) und in den USA eine neue politische Rückbesinnung auf die Nation aus. Diese Wiederentdeckung der Nation als Ideal gesellschaftlicher innerstaatlicher und internationaler Ordnung – im Folgenden als Nationalismus bezeichnet – stellt sich gegen die liberalen Errungenschaften offener, freiheitlicher Demokratien und gegen eine multilaterale, von gegenseitigen Abhängigkeiten geprägte Globalisierung. Auch die

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 48 politische Kultur der Bundesrepublik, die nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst wegen der Lehren aus deutschem nationalen Größenwahn im 20. Jahrhundert geläutert schien, ist nicht länger vor einer Renaissance eines neuen deutschen Nationalismus gefeit, wie der rechtspopulistische Zulauf zu AfD und Pegida zeigt.

Im Folgenden soll daher dem Bedeutungswandel des Begriffs der "Nation" in der deutschen Geschichte (I) kurz nachgegangen werden, um vor diesem historischen Hintergrund (II) zu analysieren, welches Nationenverständnis AfD und Pegida zu eigen ist und warum sie damit so erfolgreich sind; (III) schließlich ist deren rechtspopulistisches Begriffsverständnis in die Begriffsgeschichte einzuordnen und zu bewerten.

Ursprünge und Wandel des Begriffs der Nation

Der Begriff der Nation wurde erstmals im Zuge der Bemühungen um Reichs- und Kirchenreformen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts als Kampfbegriff reichsständischer und reichskirchlicher Opposition gegen die Universalgewalten von Kaiser und Papst verwendet.[1] Als Kaiser Friedrich III. auf dem sog. "Türkenreichstag" in Regensburg im Mai 1454 die versammelten Reichsstände durch seinen Gesandten Piccolomini auffordern ließ, den Kreuzzug gegen die Türken zu unterstützten, widersetzten sie sich dem zunächst, indem sie vom Kaiser verlangten, erst einmal die innere Ordnung im Reich herzustellen – " das reich und Teutsch gezunge...in ordenung ...zu setzen" – , bevor sie ihn in seinen universalen Pflichten unterstützen könnten. Die partikulare deutsche Sprachnation – "Teutsch gezunge" – wird vom Universalreich des Kaisers unterschieden und erschien zugleich auch als die Nation, die das Reich eigentlich trägt.[2] Nationale, innerreichisch-deutsche Reformbelange haben nach Auffassung dieser Opposition Vorrang vor dem Kampf gegen die Türken als einem universalen Interesse des Kaisers. Fast gleichzeitig beschwert sich der Mainzer Erzbischof durch seinen Kanzler Mayr 1457 in Rom über tausend Vorschriften, die man sich am römischen Stuhle ausgedacht habe, um den Deutschen das Geld aus der Tasche zu ziehen, und so ihre "einstmals berühmte Nation", die "durch ihre Tapferkeit und ihr Blut - alles für (Anm. des Autors) - das Römische Reich erworben" habe und nunmehr zur Sklavin gemacht und tributpflichtig geworden sei. Das zeigt an, wie sehr die spätere Reformation Luthers nicht nur ein theologisches, sondern auch ein deutsches nationales Auflehnen gegen die römische universale Kirchenherrschaft des Papstes darstellte; nicht umsonst übersetzte er die Bibel in die deutsche Sprache und betitelte zu "christlichen Standes Besserung" eine Schrift "An den christlichen Adel deutscher Nation".[3] Umgekehrt erfasste die kaiserliche Propaganda bald die politische Anziehungskraft von Appellen an die "Teutsche nacion" und begründete ihre personellen und materiellen Forderungen an die Reichsstände damit, dass sie so "zu ere und rettung Tutscher nacion" beitrügen. Aus universaler Reichssicht stiftet der Begriff "Teutsche nacion" eine einende, reichspatriotische Identität. Der politische Verweis auf die "Teutsche nacion" ist also schon im Zeitpunkt seines Entstehens ein Ausdruck von oppositionellen Partikularinteressen gegenüber transnationalen Universalinteressen einerseits, andererseits integriert er aber auch einzelne Reichsteile.

Zur selben Zeit wird in der damaligen Gelehrtenwelt des Reichs die historiografische Schrift "Germania" von Tacitus wiederentdeckt, die "germanischer Eigenarten" beschreibt. Sie bietet eine historische Traditionsbrücke, mit der sich ein akademisches deutsches Nationsverständnis als Nachfolge Germaniens begreift. Damit erhält der Begriff der deutschen Nation auch eine über das rein Politische hinausgehende kulturelle Wertschätzung.[4] Die Kompromissformel des "Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation" der damaligen staatsrechtlichen Literatur versucht diese besondere Gemengelage einzelner politischer Einheiten einer deutschen Nation unter dem Dach eines über die deutsche Nation hinausgehenden Gesamtreichs als letzter Rechts- und Gerichtsinstanz zu beschreiben – eine staatsrechtliche Formel für ein Reich, das erst 1806 in den Napoleonischen Kriegen untergeht.

Wie diese genauere Betrachtung seines Entstehens in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zeigt, enthält der Begriff der Nation von Beginn an schon wesentliche, prägende Merkmale, die bis heute nicht ihre Aktualität verloren haben: partikulare Opposition gegen universale, heute: globale Ordnungsinteressen; regierungsamtliche Appelle an eine deutsche nationale Integrationsfunktion zur

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Wahrung trans- oder supranationaler Interessen – "Europa ist in Deutschlands Interesse" – und die Behauptung einer eigenen nationalen sprachlichen ("Teutsch gezunge" ) und kulturellen Dignität.[5]

Mit der Vertiefung des religiösen Zwiespalts und der Politisierung konfessioneller Konflikte in der Phase von der Reformation bis zum Dreißigjährigen Krieg verliert der Begriff der Nation seine Integrationskraft.[6] Die Konfessionsunterschiede sind wichtiger als nationale Zugehörigkeiten. "Cuius regio, cuius religio" (Wessen Regierung, dessen Religion) ist das Ordnungsprinzip der Friedensverträge von Augsburg 1555 bzw. nach dem Dreißigjährigen Krieg 1648 von Münster und Osnabrück . In der nach diesem Ordnungsprinzip entstehenden Staatenwelt bestimmt sich die staatliche Zugehörigkeit nach der Religion des Herrschers, nicht nach nationalen Merkmalen.

Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird der Begriff der Nation unter den aufsteigenden gelehrten und gebildeten Bürgerschichten – durchaus auch als Emanzipation zum noch ständestaatlichen Adel – wiederbelebt, und zwar in der Kultur durch "Nationaltheater" und "Nationalerziehung". Deutsche Nationaltheater entstehen in Hamburg (1767), Mannheim (1777), Berlin (1786) und Weimar (1791). Wilhelm von Humboldt plädiert 1792 für eine Erziehung durch die Nation, die er als eine dem Staat gegenüberstehende Gemeinschaft freier Bürger versteht. Diese Forderung spiegelt schon den von der Revolution in Frankreich ausgehenden revolutionären Umbruch wider. Herder begründet in Deutschland den Gedanken einer Kulturnation, die verbunden ist durch ähnliche Gesinnung, Geist und Seele und natürlich gleiche Sprache. Eine solche Kulturnation bedürfe gar keines äußeren Zusammenschlusses zu einem Staat: "Staaten ...können überwältigt werden, aber die Nation dauret."[7]

Die politische Verwirklichung der Nation in einem Nationalstaat begann mit der amerikanischen Revolution durch die Unabhängigkeitserklärung vom britischen Mutterland 1776 und durch die Französische Revolution 1789. In Washington protestierten die "Gründungsväter", eine kleine Schicht amerikanischer Intellektueller, die "Gründungsväter", von den Gedanken der europäischen Aufklärung unveräußerlicher, universeller, bürgerlicher Grundrechte für jeden einzelnen Bürger beseelt, gegen die Londoner Kolonialmacht und Monarchie, die sich keinen Deut um die Belange versprengter englischer Siedlungen in der Neuen Welt scherte. Die verschiedenen amerikanischen Gründerstaaten einte der Gedanke, sich vom britischen Kolonialreich zu lösen und als eine neue amerikanische demokratische und republikanische Nation zu verstehen. In der Pariser Revolution stürzte der Dritte Stand den König mit der Forderung von "Liberté, E’galité, Fraternité" für alle Bürger einer französischen Nation. In beiden Revolutionen, wie natürlich auch bei Herder, war die Nation eine künstliche, abstrakte Konstruktion von akademisch gebildeten Intellektuellen.[8] Denn tatsächlich identifizierten sich vor allem in Deutschland weite Teile der Bevölkerung mit ganz anderen Loyalitäten, wie Familie, sprachlichem Dialekt und lokalem und regionalem, sozialen und kulturellem Umfeld. Der politische Rückgriff auf eine intellektuell imaginierte Nation diente einem wachsenden bürgerlichen Selbstbewusstsein dazu monarchische Loyalitätsverpflichtungen des Volkes gegenüber Kaiser und König aufzulösen. Er sollte politische Macht neu legitimieren, eben national. Da die "Nation" eine künstliche, intellektuelle Konstruktion zur Legitimation von Herrschaft war, gleich einer "Ersatzreligion" [9], passt sich auch der Begriffsinhalt von Nation und dessen, was national ist, den jeweiligen innerstaatlichen und außenpolitischen Bedürfnissen flexibel an.[10] Als "Ersatzreligion" begründet ein so überhöhter Begriffsinhalt der Nation mitunter einen messianischen Beglückungswahn, Werte des eigenen Nationsverständnisses anderen aufzudrängen; das ist dem US-amerikanischen Nationenverständnis eigen[11], aber auch phasenweise dem deutschen.[12] Für die Überlegenheit einer Nation über andere Gruppen in einem Staat und um Gebietsansprüche außenpolitisch zu reklamieren, werden "nationale" Traditionen weit zurück in die Vergangenheit konstruiert, wie jüngst bei der Krim-Annexion durch Russland.

In Deutschland führt der von der französischen Revolution inspirierte Gedanke der Nation zu einer politischen Strömung, dem Nationalismus, die die deutsche und europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts neben dem Liberalismus entscheidend prägte.[13] Der aus den westfälischen Verträgen von 1648 entstandene Staat mit einem fest umrissenem Territorium, auf dem eine politische Herrschaft

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über die dort lebende Bevölkerung regiert, indem sie sie nach außen gegenüber fremden Mächten schützt und nach innen Frieden und Sicherheit verantwortet, wird nicht mehr alleine monarchisch legitimiert, sondern jetzt auch national. Die Überhöhung des Gedankens der Nation in Europa und sein ideologischer Missbrauch durch Faschismus und Nationalsozialismus führen zu den beiden Weltkriegen und ihren Katastrophen im 20. Jahrhunderts. Das von US-Präsident Wilson zuvor in seinem 14-Punkte-Programm proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker bestimmt wenige Monate nach dem Ende des Ersten Weltkriegs 1919 den Versailler Friedensvertrag. Auch dieses Selbstbestimmungsrecht trägt dazu bei, dass aus dem Niedergang dreier Imperien – dem Habsburger Vielvölkerstaat, dem Osmanischen Reich und dem Zarenreich – nach dem Krieg eine Vielzahl von Abspaltungskonflikten entstehen, weil viele Bevölkerungen auf der Basis eines national verstandenen Selbstbestimmungsrechts eigene souveräne Staatlichkeit fordern. In der Entkolonialisierung Asiens und Afrikas nach dem Zweiten Weltkrieg begründen ehemalige britische und französische Kolonien eigene Staaten, deren politische Herrschaft sich national legitimiert.

Der Territorialstaat und seine territorial begrenzte Herrschaftsgewalt des Staatssystems der Westfälischen Verträge von 1648 werden mit seiner jetzt nationalen Legitimierung zum bestimmenden politischen Ordnungsmodell politischer Gesellschaften weltweit. Diese nationale Legitimierung gilt bis heute, trotz aller sie modifizierenden, supranationalen Souveranitätsübertragungen, wie etwa in der Europäischen Union, und trotz aller globaler, staatlicher und nicht-staatlicher wechselseitiger Abhängigkeiten.[14]

In der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte ist der Begriff der Nation nach seinem ideologischen Missbrauch durch den Nationalsozialismus im öffentlichen politischen Diskurs weitgehend delegitimiert. Als gespaltene Nation wurde zwar eine nationale deutsche Wiedervereinigung als Ziel in der Präambel des deutschen Grundgesetzes von 1949 formal verankert. Tatsächlich aber bestimmte die eindeutige Priorität der Westintegration des westdeutschen Staats vor einer deutschen Wiedereinigung seit der Regierung Adenauer die bundesdeutsche Nachkriegspolitik bis zum Fall der Mauer am 9. November 1989 – einer Politik, die zumindest zu Beginn der Bundesrepublik Deutschland von Kurt Schuhmacher, dem Oppositionsführer der SPD, als Aufgabe der Wiedervereinigung der deutschen Nation gesehen wurde.[15] In der Bonner Republik beherrsche ein "negativer Nationalismus"[16] den intellektuellen Diskurs, nach dem die deutsche Nation im 19. und 20. Jahrhundert einen "deutschen Sonderweg"[17] durchlaufen habe, der im sogenannten Dritten Reich ein Extrem erreicht habe, – so Martin Walser 1988.[18] Im ideologischen Wettstreit der beiden deutschen Teilstaaten um die wahre Rechtsnachfolge des Deutschen Reichs tat sich die DDR leichter, auf nationale Traditionen deutscher Geschichte bis hin zum Reformator Martin Luther und den Bauernkriegen zurückzugreifen, um die sozialistische Herrschaft der SED auch historisch zu legitimieren.

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die friedliche Revolution des 9. November 1989 und mit ihr die Wiedervereinigung der geteilten deutschen Nation mit der Forderung der verfemten vierten Zeile der DDR Hymne von Becher – "Deutschland, einig Vaterland" – von weiten Teilen der DDR-Bevölkerung ausging, und weniger von der Mehrheit der Intellektuellen der DDR.

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 51 Der völkische Nationalismus der AfD

In der Präambel ihres Grundsatzprogramms vom 1.5.2016 bekennt die AfD "die historisch-kulturelle Identita t unserer Nation und ein souvera nes Deutschland als Nationalstaat des deutschen Volkes bewahren zu wollen".[19] Die historisch-kulturelle Identität einer Nation entspringt dem Wertekanon, den eine Bevölkerung mit der Identität ihrer Nation verbindet. Dieser variiert in der subjektiven Wahrnehmung jedes einzelnen und unterliegt dem Wandel der Zeit. Ein Charakteristikum der deutschen Identität mag in Abwandlung von Nietzsches Frage: "Was ist deutsch?" gerade sein, sich immer auf ihrer Suche zu befinden.[20] Der im Grundsatzprogramm der AfD so verwendete Begriff eines "souvera nen Deutschland als Nationalstaat des deutschen Volkes" kehrt zum Verständnis eines deutschen Nationalstaats des frühen 19. Jahrhunderts zurück und ignoriert die vielfachen Souveränitätseinschränkungen eines jeden Nationalstaats des 21. Jahrhunderts durch internationale Verträge, durch Mitgliedschaften in internationalen Organisationen und etwa der EU und durch wechselseitige Wirtschafts-, Handels- und Finanzabhängigkeiten. Insofern stellt das Bekenntnis der AfD nichts als ein längst vergangenes Abziehbild aus einem Poesiealbum des 19. Jahrhunderts dar. Indem das oben zitierte Grundsatzprogramm seinen Begriff des Nationalstaates auf das "deutsche Volk" bezieht, erhält dieser Begriff eine völkische Konnotation aus der alldeutschen Bewegung am Ende des 19. Jahrhunderts – "Deutschland den Deutschen"[21]. Wie sehr diese völkische Definition des Nationenbegriffs der AfD sich einem nationalsozialistischen Rassismus nähert, verdeutlicht der Satz des stellvertretenden AfD-Bundesvorsitzenden , er verstünde die Leute, die den Fußballspieler Boateng nicht als Nachbarn haben wollten. Später distanzierte er sich mit dem Hinweis, dass er Boateng nicht habe beleidigen wollen, dessen "gelungene Integration und christliches Glaubensbekenntnis" ihm bekannt seien.[22] Boateng ist zwar in Berlin als Sohn einer deutschen Mutter geboren und mit der Muttersprache Deutsch aufgewachsen, aber als Sohn eines ghanaischen Vaters nicht so "reinen deutschen Bluts" wie der "reinrassige" Gauland, und "beschmutzt" daher die weitere "reinrassige" Wohnnachbarschaft Boatengs in München-Bogenhausen – nur so ist der in bekannter AfD-Perfidie sublimierte Subtext von Gaulands Aussage zu verstehen.

Mit einem solchen völkischen Nationenbegriff schließen die AfD und andere rechtsextreme politische Gruppierungen viele Deutsche als nicht zur Nation gehörig aus. Hier gibt es Parallelen zum nationalsozialistischen Gedankengut. Verfassungswidrigkeit wäre auf dem Rechtsweg jedoch schwer festzustellen,[23] weil dieser völkische Nationenbegriff nie ausdrücklich erklärt wird, sondern formal und oberflächlich betrachtet auch immer andere Interpretationsmöglichkeiten nicht völlig ausschließt. Spitzenvertreter der AfD haben mittlerweile eine professionelle Spitzfindigkeit entwickelt, mit der entsprechenden medialen Erregung durch unausgesprochene, aber unmissverständliche Unterstellungen einen an sich verfassungswidrigen völkischen Nationenbegriff im öffentlichen politischen Diskurs zu etablieren.

Renaissance einer "Deutschen Nation" als Kulturnation

Selbst wenn viele AfD-Sympathisanten die völkische Komponente des von der Partei etablierten Nationenbegriffs nicht wahrnehmen, ist eine Renaissance des Begriffs einer "deutschen Nation" weit über ihren Kreis hinaus festzustellen[24] – bei aller weiteren Schwierigkeit zu bestimmen, was nun "deutsch" ist. In einer in seiner Globalität und Komplexität für viele Menschen kaum noch zu verstehenden Gegenwart und bei gleichzeitig schwindenden oder sich wandelnden kirchlichen[25] und familiären Identitäten[26] bietet vor allem – aber nicht nur – den Wählern und Sympathisanten der AfD eine Rückbesinnung auf einen traditionellen Nationenbegriff des 19. Jahrhunderts einen letzten Identitätsanker. Die AfD hat großen Rückhalt bei Arbeitern und Arbeitslosen, aber auch im bürgerlichen Lager, sie umfasst vornehmlich Männer, besonders jüngere und solche mittleren Alters - so zumindest bei den drei Landtagswahlen in Baden Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt am 13. März 2016. Bei den Landtagswahlen in Mecklenburg – Vorpommern am 2.9.2016 (AfD: 20,8%) überwogen bei den AfD-Wählern indessen die älteren Männer[27]. Bei den Berliner Abgeordnetenhauswahlen gewinnt die AfD auch in den gutsituierten bürgerlichen Bezirken Berlins.[28] Bei allen sozialen, wirtschaftlichen, regionalen und altersbedingten Unterschieden gewinnt die AfD ihre Anziehungskraft vor allem bei Protestwählern, die unzufrieden sind mit dem Funktionieren der

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Demokratie und von den etablierten Parteien enttäuscht sind.[29] Nicht nur eine befürchtete Abstiegsangst habe zum Erstarken der AfD beigetragen, sondern auch der Verlust nationaler Identität.[30] Auf jenen traditionellen Nationenbegriff des 19. Jahrhunderts baut auch eine ""[31] auf, deren politische Ideen politisch rechts von CDU und CSU die rechtsextremen Ideologien einer "konservativen Revolution" der Weimarer Republik auf die Gegenwart beziehen. Mit Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab" im Jahre 2010 fanden durch einen Vertreter des Establishments mit seinen kruden Begründungen einer genetischen Überlegenheit des Europäers gegenüber türkischen und arabischen Moslems Gedanken rechtskonservativer Nischengruppen erstmals wieder Eingang in den breiten öffentlichen bundesdeutschen Politikdiskurs[32]. Das Buch, das mehrere Monate als Bestseller Auflagenhöhen erreichte, die für ein Sachbuch ungewöhnlich sind, sprach unterschiedliche, verunsicherte Gesellschaftsgruppen an, die der wütende Protest gegen wechselnde Themen (Demokratie, Parteien, Presse, Euro, Flüchtlingspolitik) und ein subjkektiv empfundener Verlust nationaler Identität vereint[33].

Dabei beleben vor allem zwei historische Muster den Nationenbegriffs wieder. Wie im späten Mittelalter gegen die Universalinteressen von Kaiser und Papst dient der Nationenbegriff auch heute wieder als Kampfbegriff gegen jede supranationale und heute globale, vermeintliche Fremdbestimmung, ob nun gegen Eurokrise oder gegen die EU-Flüchtlingspolitik oder gegen Demokratiedefizite in der EU. "Ohnmacht durch Globalisierung" lautet die Parole.[34] Zum Zweiten vermittelt die "Nation als Ersatzreligion" heute wieder eine Ersatzidentität, in einer Moderne, in der kirchliche und familiäre Identitäten für manche Menschen weiter schwinden. Die weltweite Renaissance des Begriffs der Nation in den USA, in China, Indien, Russland und in Europa zeigt wie globalisiert die Welt, der Nationalismus und seine Ursachen sind, wobei zwar zunächst überraschen mag, dass auch die Bundesrepublik trotz der deutschen Geschichte davon nicht mehr frei ist. An der wachsenden öffentlichen Diskussion des Nationen-Begriffs und den Wahlerfolgen der AfD[35] lässt sich ablesen, dass mancher Bundesbürger neben einer europäischen Identität und der des Weltbürgers auch eine nationale Identität zu benötigen scheint, die sich nicht alleine mit der Begeisterung für die deutsche Fußballmannschaft begnügt.

Der für dieses Bedürfnis nach nationaler Identität angebotene Begriff des "Verfassungspatriotismus" [36] war nur eine intellektuelle Flucht aus den Kategorien nationalstaatlichen politischen Denkens hin zu einer "postnationalen Gesellschaft.[37] Für den ehemaligen Bundesverfassungsrichter und bedeutenden Staatsrechtslehrer Ernst-Wolfgang Böckenförde war der Verfassungspatriotismus nicht mehr als ein "blasser Seminargedanke"[38]. Gleichzeitig war dieser Diskurs der Professoren[39] ein Symptom dafür, wie weit sich schließlich ein abgehobener intellektueller Diskurs in der Bundesrepublik vor aber auch nach der Wiedervereinigung von der politischen Meinung der Wahlbürger entfernt hatte. Diese Diskrepanz ähnelt der zuvor dargestellten in der DDR. Gipfel dieser Kluft zwischen Intellektuellen und Bürgern war die in seiner Poetik-Vorlesung im Februar 1990 verkündete Äußerung des Literatur- Nobelpreisträgers Günter Grass, Auschwitz verböte eine Wiedervereinigung,[40] – für ein ehemaliges Mitglied der Waffen-SS eine bemerkenswerte Aussage. Inwieweit gerade die Leugnung und Unterdrückung[41] eines solchen nationalen Identitätsbedürfnisses im akademischen und medialen Diskurs der Bonner Republik der 70er und 80er Jahre auch für die Renaissance des deutschen Nationenbegriffs heute mitursächlich ist, kann hier nicht weiter erörtert werden.

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Wie könnte nun angesichts einer solchen Herausforderung des Nationenbegriffs durch die Rechtspopulisten die Nation heute neu und anders begriffen werden? Erst wenn es gelingt, den politischen Nationenbegriff wieder im Sinne einer Herder’schen Kulturnation zu erweitern – und gleichzeitig jede kleinste Anleihe an einen völkischen Nationalismus mit allen Mitteln zu bekämpfen – , kann die so verengte, gänzlich subjektive Weltsicht, die der gegenwärtigen Renaissance des deutschen "Nationenbegriffs" zu Grunde liegt, der objektiven Realität angenähert werden. Denn diese wird ja durch eine nie dagewesene globalen und supranationalen Interdependenzen und daraus folgenden notwendigen Einschränkungen staatlicher Souveranität geprägt, die jeder Bürger heute ganz selbstverständlich unter anderem durch globales Kommunizieren, Reisen und Einkaufen nutzt und schätzt. Erst wenn der deutsche Nationenbegriff als politischer Kampfbegriff aufgegeben und wieder kulturgeschichtlich erweitert als Kulturnation verstanden wird, ist zu erkennen, welch europäisch-integratives Weltverständnis dem Begriff der deutschen Kulturnation ursprünglich zu Grunde liegt. Denn dann wird die deutsche Kulturnation wieder nach Thomas Mann "ein Deutschland als selbstbewusst dienendes Glied eines in Selbstbewusstsein geeinten Europa."[42] Die Verschiedenheit der vielzähligen europäischen Kulturnationen macht ja erst den Reichtum und die weltweite Anziehungskraft eines politisch geeinten Europas aus. Eine Einheit jeder Nation wird so von einer Einheit Europas überwölbt.[43] Die deutsche geographische Lage in der Mitte Europas und die Jahrhunderte währende, kleinstaatliche Zersplitterung der "verspäteten Nation"[44] prädestinieren eine deutsche Kulturnation zur Integration des europäischen Kontinents.[45] Gegenwärtige politische Tendenzen, die Balance zwischen deutscher und europäischer Identität, zwischen Nationalstaat und europäischer Supranationalität, möglicherweise neu zu justieren, tun ihrer beider engen, wechselseitigen Abhängigkeit keinen Abbruch.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Jörg Himmelreich für bpb.de

Fußnoten

1. Reinhart Koselleck u.a., Volk, Nation, Nationalismus, Masse, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. VII, Stuttgart 1992, S.141 – 431, (287f.), (im Folgenden: Koselleck, Nation). 2. Vgl. dazu auch das Kurfürstenschreiben an Friedrich III, 1456:"...dem helligen rich und der duschen nacion...", zit. nach Koselleck, Nation, S. 285. 3. Auf die Bedeutung der von Luther einer erst erschaffenen deutschen Kunst- oder Vernikularsprache, in der Variante des sächsischen Kanzleistils, und ihrer Verbreitung durch die gerade von Gutenberg erfundene Drucktechnik für die Herausbildung eines eigenen deutschen Nationsverständnisses weist hin: Hans – Ulrich Wehler, Nationalismus – Geschichte, Formen, Folgen, München 2011, S. 47. 4. Koselleck, Nation, S.288f. 5. Anderer Ansicht: Wehler, Nationalismus, S. 36. Er sieht im Nationalismus ein ausschließlich modernes Phänomen, das von der Loyalitätsbindung in älteren Herrschaftsverbänden prinzipiell zu unterscheiden ist. "Der Nationsbegriff im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit bezieht sich allein auf landsmannschaftliche Vereinigungen von Studenten, Kaufleuten, Handwerkern, auch auf Adelseliten, die ihren Herrschaftsverband zu repräsentieren beanspruchen; er hat aber gar nichts mit der souveränen Handlungseinheit der modernen Nation zu tun." - Die Aussage des ersten Halbsatzes ist schlicht unzutreffend: Luther begnügt sich nicht, lediglich eine der genannten Teilgruppen zu repräsentieren, sondern spricht den "christlichen Adel", das ist jeder wahre Christ, von "deutscher Nation" insgesamt an, zu deren Fürsprecher er sich gegen Rom aufschwingt. Weil die nationalsozialistische Ideologie Luther als Vorvater einer deutschen Nation vereinnahmte, die schon im Mittelalter erste Vorformen herausgebildet hätte, mag Wehler zu dieser verkürzenden

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Fehleinschätzung verleitet worden sein, um jede Anleihe an nationalsozialistische Pseudowissenschaft demonstrativ auszuschließen. Auch die neuzeitliche Verwendung des Nationsbegriffs beginnt mit der amerikanischen und französischen Revolution als Opposition gegen eine zeitgenössische, monarchisch legitimierte Ordnung, bevor die Nation zur souveränen Handlungseinheit wird. So auch Heinrich August Winkler, Zerreissproben, Deutschland, Europa und der Westen. Interventionen 1990 – 2015, München 2015, S. 53: "Die Nationsbildung hatte bereits im Mittelalter begonnen." 6. Koselleck, Nation, S. 294. 7. Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Sämmtliche Werke, Berlin 1887, Bd.13 (Ndr. 1967), S.384. 8. So der Stand der aktuellen Nationalismusforschung, vgl. Wehler, Nationalismus, S.37. 9. Heinrich August Winkler (Hrsg.), Nationalismus, Königsstein Ts 1978, S. 5f.. 10. Eric J. Hobsbawm, Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt/Main 2005, S.16. 11. Diesen Aspekt arbeitet Wehler sehr gut heraus, Wehler, Nationalismus, S. 27ff. und S.55ff. 12. vgl. Johann Gottlieb Fichte, Reden an die deutsche Nation (1808), zit. nach Koselleck, Nation, S.332. 13. An dieser Stelle können die einzelnen Verläufe der Nationsentwicklung in Deutschland und Europa bis in die Gegenwart nicht näher vertieft werden. Als erste Einführung aus ganzen Bibliotheken zu diesem Thema sind zu empfehlen: Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation, Frankfurt/ New York, 2. erw. Aufl. 1996; Eric J. Hobsbawm, Nationen und Nationalismus; Hans-Ulrich Wehler, Nationalismus; Heinrich August Winkler (Hg.), Nationalismus in der Welt von heute, Göttingen 1982; ders., Nationalismus, Königsstein Ts 1978. 14. Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie, in: Die postnationale Konstellation. Politische Essays. Edition Suhrkamp, Frankfurt 1998, S. 91 – 169 (105ff). 15. Es ist eines von vielen Beispielen dafür, dass die Frage der Nation nicht nur ein "konservatives Dilemma" ist. 16. Martin Walser, Über Deutschland reden, in: ders.: Werke, Hg. von Helmuth Kiesel, Frankfurt/Main 1997, Bd. XI, S. 952 17. Die Diskussion eines "deutschen Sonderwegs" knüpfte an Helmuth Plessner Begriff einer " verspätete(n) Nation" an, die die späte Entstehung eines deutschen Nationalstaats mit der Gründung des Deutschen Reichs 1871 hervorhebt im Unterschied zu Nationen, wie die Frankreichs, die schon über Jahrhunderte einen eigenen Staat prägten. Helmuth Plessner, Über die Verführbarkeit des bürgerlichen Geistes, Frankfurt am Main 1974 ( zuerst: 1934/35), S.46f. Verfechter dieser These: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Band 3: Von der Deutschen Doppel-Revolution bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1849-1914, München 1995, S.482-484. Kritisch dazu: Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen. Band II: Deutsche Geschichte vom "Dritten Reich" bis zur Wiedervereinigung. 1933-1990, München 2000, S. 640-648, - um nur die Hauptprätendenten dieser Diskussion zu nennen. 18. Martin Walser, ebenda. 19. https://www.alternativefuer.de/wp-content/uploads/sites/7/2016/03/Leitantrag-Grundsatzprogramm- AfD.pdf, S.2 (01.03.2017). 20. Friedrich Nietzsche, Sämtliche werke. Kritische Studienausgabe, (Hg.) Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München/New York, Bd. V, S. 184f. 21. Diese Parole, in der völkischen Bewegung gegen Ende des 19. Jahrhunderts und dann bei den Alldeutschen sehr verbreitet, unterstellte, dass Deutschland nicht den Deutschen (im völkischen Sinne) gehöre; vielmehr gäbe es hier Juden, Polen, Dänen usw., die den Deutschen das Besitzrecht über ihr eigenes Land streitig machen würden. Folglich sei es notwendig, diese nicht-deutschen ‚Elemente’ entweder voll und ganz zu assimilieren ("germanisieren") oder im Extremfall zu vertreiben. 22. Frankfurter Sonntagszeitung(FAS) vom 29.5.2016, http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/afd- vize-gauland-beleidigt-jerome-boateng-14257743.html (01.03.2017). 23. Jérome Boateng hatte auf eine Anzeige wegen Beleidung nach §185 StGB verzichtet.

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24. Vgl. dazu die Auswertung einer Allensbach-Umfrage in der FAZ vom 22.09.2016, http://www.faz. net/aktuell/politik/allensbach-umfrage-zum-thema-nationalkultur-14446621.html?printPagedArticle= true#pageIndex_2 (2.03.2017). 25. Nach den Angaben der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz haben 2015 insgesamt 391925 Mitglieder die beiden Kirchen verlassen, nach 487719 in 2014. Der langjährige, konstante Schrumpfungsprozess in den Mitgliederzahlen beider Kirchen hält weiter an, mit 535025 Mitgliedern in 2015 weniger als in 2014. http://www.kirchenaustritt.de/statistik (08.04.2017). 26. Die Zahl der Eheschließungen sinkt, die der Scheidungsraten steigt, die der Lebensgemeinschaften sinkt , die der gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften steigt im Vergleich dazu minimal, die Zahl der Kinder sinkt, die Zahl der Mütter mit Kind sinkt, die Zahl der Familien mit einem oder zwei Kindern sinkt etc. Siehe dazu im einzelnen, Statistisches Bundesamt, Auszug aus dem Datenreport 2016, Kap.2: Familie, Lebensformen und Kinder. https://www. destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/HaushalteFamilien/HaushalteFamilien. html (08.04.2017).Die Familie als subjektive Wertschätzung steht im Vergleich zu Beruf, Freunden etc. dagegen sehr hoch da, vgl. Umfrage der statista Gmbh mit 78%, https://de.statista.com/ statistik/daten/studie/299645/umfrage/umfrage-in-deutschland-zum-stellenwert-von-familie-beruf- hobbys-freundeskreis/ (8.04.2017). Aber nicht subjektive Werte und Wünsche vermitteln Identitäten, sondern nur objektive Gegebenheiten. 27. http://www.faz.net/aktuell/politik/wahl-in-mecklenburg-vorpommern/wer-waehlt-die-afd-in-mecklenburg- vorpommern-14417851.html (08.04.2017). 28. Vgl. http://www.deutschlandfunk.de/eine-soziologische-analyse-der-afd-waehler-das-unbekannte.724. de.html?dram:article_id=360821 (08.04.2017). 29. "Jung, männlich und enttäuscht", eine Auswertung einer Umfrage von Infratest dimap für die ARD nach den drei Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland – Pfalz und Sachsen-Anhalt, in FAZ v. 14.03.2016, http://www.faz.net/aktuell/politik/afd-waehler-jung-maennlich-und- enttaeuscht-14123702.html (08.04.2017). 30. Pressereport zu Report Mainz, Auswertung einer Infratest dimap – Studie für die ARD vom 1.12.2016. http://www.swr.de//id=18582316/property=download/nid=233454/1r3gdxv/ pmmodernisierungsverlierer.pdf (08.04.2017). 31. Dazu gehören der Kreis um den fernsehbekannten Verleger, Autor und Aktivist Götz Kubitscheck mit seinem "Institut für Staatspolitik" (IfS), die Wochenzeitung "Junge Freiheit", das "Compact"- Magazin u.a., vgl. Volker Weiß, Die autoritäre Revolte. Der Untergang des Abendlandes, Stuttgart 2017, S.15ff. 32. Volker Weiß, ebenda. 33. Volker Weiß, ebenda 34. Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation, S.122. 35. Landtagswahlen 2016: Baden-Württemberg 15,1 %, Berlin 14,2%, Mecklenburg-Vorpommern 20,8%, Rheinland-Pfalz 12,6% und Sachsen-Anhalt 24,3%. 36. Dieser Begriff geht auf Dolf Sternberger zurück, ders. , "Verfassungspatriotismus" in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. Mai 1979, wiederabgedruckt in Dolf Sternberger, Schriften, Band X: Verfassungspatriotismus, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1990. 37. Diesen Begriff übernahm Jürgen Habermas, Apologetische Tendenzen, in: ders., Eine Art Schadensabwicklung. Kleine politische Schriften VI, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, S.120-136 (135); Jan-Werner Müller befürwortet ihn, in: Verfassungspatriotismus, Berlin: Edition Suhrkamp 2010, S. 21ff. 38. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Nation – Identität in Differenz, in: Staat, Nation, Europa. Studien zur Staatslehre, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie, Frankfurt am Main, Suhrkamp 1999, S. 34 – 58, 56f.," ...die Wiedervereinigung hat die deutsche Nation wieder auf die Bühne gebracht." 39. Für Joachim Fest war der Begriff eine der Professorenideen, "die am Schreibtisch erdacht und von anderen Professoren diskutiert werden und dann allmählich wieder versanden.", zit. nach Jan-Werner Müller, S. 14. 40. Günter Grass, "Schreiben nach Ausschwitz", Poetikvorlesung an der Universität Frankfurt am Main, Februar 1990, in: DIE ZEIT vom 23. Februar 1990. http://www.zeit.de/1990/09/schreiben- nach-auschwitz/komplettansicht (10.03.2017).

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41. "...Durch diese (i.e deutsche historische) Sonderentwicklung ist der Nationalstaat wie das Nationale überhaupt in Deutschland für immer kontaminiert. Schon der bloße Gebrauch des Wortes Deutschland macht den Sprecher also verdächtig...... " , sagt Martin Walser in seiner Rede "Über Deutschland reden" vom 30.Oktober 1988, die damals eine heftige öffentliche Debatte auslöste, in: ders.: Werke, Bd. XI, S. 952. Dagegen Heinrich August Winkler, Zerreissproben, S.53ff. 42. Thomas Mann, Gesammelte Werke, Bd. IX, S.950. 43. Dieter Borchmeyer, Was ist Deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst, Berlin 2017, S. 911. 44. Helmuth Plessner, Die verspätete Nation, Über die politische Verfügbarkeit des politischen Geistes, 3. Aufl., Frankfurt/Main 1988 45. So schon Erich Kahler, Das Problem Deutschland (1944)in: E. Kahler, Die Verantwortung des Geistes. Gesammelte Aufsätze. Frankfurt/Main 1952, S. 90 – 116 (113).

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Fakten und Wissen in der Postmoderne

Von Philipp Sarasin 28.3.2017 Prof. Dr. Philip Sarasin, geb. 1956, ist Ordinarius für Geschichte der Neuzeit und Schweizer Geschichte am Historischen Seminar der Universität Zürich, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Er ist Mitbegründer des Zentrums Geschichte des Wissens, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Internetplattform H-Soz-Kult und Herausgeber von Geschichte der Gegenwart.

Es gibt selten wirklich Neues. Doch die Rede vom "postfaktischen Zeitalter" und von " alternativen Fakten" ist definitiv neu. Sind wir gegenwärtig also daran, den Kontakt zu den Fakten, ja zur Wirklichkeit zu verlieren? Philipp Sarasin mit einer Einschätzung.

Im Jahr 2004 hat der amerikanische Journalist Ralph Keyes im Buch "The Post-Truth Era" seinen Landsleuten in einer im Rückblick geradezu altmodisch moralischen Weise vorgerechnet, wie oft sie im Alltag Euphemismen gebrauchen, unehrlich sind oder schlicht lügen würden. Keyes zielte zwar hauptsächlich auf die alltäglichen kleinen Lügen, er hatte aber auch schon Medien und Politiker als 'role models' (Vorbilder; Anm. d. Red.) fürs Lügen im Visier. Heute scheint sich durch alle politischen Diskurse von links bis rechts der Zweifel gefressen zu haben, ob man in der politischen Öffentlichkeit überhaupt noch auf so etwas wie die 'Wahrheit' oder 'Fakten' bauen kann. Das zeigt neu ein Buch aus dem Jahr 2016: In "Lies Incorporated. The World of Post-Truth Politics" von Ari Rabin-Havt erscheint die Lüge und die faktenfreie Am 26. Februar 2017 demonstrieren in New Rede nicht mehr primär als moralisches Problem der Durchschnittsamerikaner_innen, York City Hunderte sondern als das bevorzugte tool (Werkzeug; Anm. d. Red.) im politischen Menschen für eine freie Presse. (© picture- Kampf um Deutungshoheit und Macht. alliance, ZUMAPRESS) Postmoderne Beliebigkeit?

Desinformation und Propaganda sind sicher nichts Neues und im Kalten Krieg waren sie an der Tagesordnung. Neu ist aber – Donald Trump und andere Politiker führen es täglich vor –, dass es weniger darum geht, falsche Behauptungen wie Fakten aussehen zu lassen, wofür die Geheimdienste im Kalten Krieg einen ziemlichen Aufwand betrieben haben. Vielmehr bemüht man sich oft gar nicht mehr darum, die eigene Argumentation durch wissenschaftliche Fakten zu stützen. Der rechtsnationale Schweizer Politiker und auch in deutschen Talk-Shows dauerpräsente Journalist Roger Köppel etwa ließ in diesem Sinne während des US-Wahlkampfs 2016 verlauten, dass "bei Trump selbst die Lügen ehrlicher klingen als die hochgestochenen Pseudowahrheiten seiner Konkurrentin Clinton".[1]

Das war nicht etwa kritisch gemeint: Lieber "ehrlich" lügen als "hochgestochen" die Wahrheit sagen (und was genau soll eine "Pseudowahrheit" sein…?). Politiker wie Trump, seine Beraterin Kellyanne Conway ("alternative facts") oder rechtsnationale Journalisten wie Köppel sprechen ohne Scheu aus, was sie im politisch-publizistischen Geschäft von der Wahrheit halten: "Fakten" müssen mit ihrem eigenen "Gefühl" für die Wahrheit und damit mit ihrer politischen Weltsicht übereinstimmen. Es erscheint heute zunehmend akzeptabel, den Eindruck zu erwecken, alle Fakten könnten in beliebiger Weise "interpretiert" werden. Rechts von der politischen Mitte wird daraus ein Programm: Völlig normale wissenschaftliche Kontroversen – etwa von Klimatologen über die Umstände des Klimawandels –

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 58 gelten als Beleg dafür, dass diese auch nicht mehr als bloße "Meinungen" zu bieten hätten.[2] Der offenkundige, eindeutig belegte sinkende Trend der Verbrechensstatistik der USA wird durch eine glatte präsidiale Lüge ins Gegenteil eines 45-Jahres-Hochs verkehrt und auf diese Weise zur Grundlage einer repressiven Politik. Ein AfD-Kommunalpolitiker schließlich konterte den Einwand, es gäbe viel weniger Flüchtlinge in Deutschland, als seine Partei behaupte, mit der heute gängigen Behauptung: " Es geht nicht nur um die reine Statistik, sondern es geht darum, wie das der Bürger empfindet. Das heißt also das, was man fühlt, ist auch Realität."[3]

Was ist passiert? Kann man der amtlichen Statistik widersprechen, weil man etwas Anderes "fühlt"? Sind wissenschaftliche Erkenntnisse bloße Ansichtssache? Kann man gar "ehrlich lügen"…? Man reibt sich die Augen: Wie ist es möglich geworden, so zu denken? Viele kritische Beobachter behaupten, dies sei das Resultat der Postmoderne, d.h. die Folge eines angeblich verbreiteten anything goes, dem zynischen Spiel mit bloßen Worten, der frivolen Behauptung, 'alles' sei nur eine beliebige " Konstruktion" und überhaupt sei für die Postmoderne Wissen von Glauben nicht mehr zu unterscheiden…[4] Der ETH-Philosoph Michael Hampe hat kürzlich in der ZEIT genüsslich dieses bequeme Vorurteil bedient und die "kulturwissenschaftliche Linke" als "pubertäre Theoretiker" für diese angebliche Geistesverirrung verantwortlich gemacht.[5] Ist also die Postmoderne schuld am postfaktischen "Zeitalter"? Sind Fakten tatsächlich nicht mehr, was sie einmal waren? Sind Fakten einfach beliebige Konstruktionen, gar bloße Erfindungen?

Fragen Sie Kant!

Man kommt bei solchen Fragen schnell mit den ganz großen Problemen der abendländischen Philosophiegeschichte in Berührung: Was sind Wahrheit, Wirklichkeit, Realität, Vernunft, Erkenntnis? Seit Kant hat es auf diese alten Fragen in vielen Varianten die Antwort gegeben, dass wir von der Wirklichkeit nur das erkennen, was unsere Vernunft "nach ihrem Entwurfe hervorbringt", wie Kant sagte.[6] Kant sah in diesem Beitrag der menschlichen Vernunft nichts weniger als die Garantie für wissenschaftliche Erkenntnis überhaupt: Nur weil die menschliche Vernunft die Welt durch ihre " Kategorien" (angefangen bei Raum und Zeit) stabil und verlässlich strukturiert, sind gesicherte Aussagen über die Wirklichkeit möglich. Mit anderen Worten: die unveränderlichen Kategorien unserer Vernunft schaffen aus der "chaotischen Mannigfaltigkeit" (Kant) der äußeren Welt erkennbare Tatsachen. Das "Ding an sich" (Kant) hingegen bleibt uns auf ewig verborgen, ist unserer Wahrnehmung unerreichbar.

Die Moderne hat diesen Gedanken bis in unsere postmoderne Gegenwart hinein variiert. "Modern " heißt seither eine Gesellschaft bzw. eine Epoche, in welcher der Gedanke vorherrscht, dass es keine absoluten – etwa religiösen – Wahrheiten geben kann, sondern nur relative, d.h. an unser Erkenntnisvermögen zurückgebundene Wahrheiten. Kant versuchte, die Gewissheit von (wissenschaftlicher) Erkenntnis dadurch zu retten, dass er die Strukturen der menschlichen Vernunft als absolut gewiss und unveränderlich setzte. Ohne die gesamte Philosophiegeschichte seit Kant aufrollen zu wollen, lässt sich sagen: Diese Gewissheit löste sich schrittweise auf. Beispielsweise relativierten Hegel und Marx, aber auch der sogenannte Historismus, im 19. Jahrhundert Wahrheiten historisch, indem sie als zeitgebunden, nur für eine bestimmte Epoche gültig betrachtet wurden.

Ebenso einflussreich war die sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts formierende Annahme, dass es keine Wahrheit außerhalb der Sprache geben könne. Die Ausgangsvermutung lautete: Weil wir ohne Sprache nicht denken und Aussagen über die Wirklichkeit machen können, bildet die Sprache gleichsam den unübersteigbaren Rahmen, ja die Schranke unseres Wissens von der Welt. Denn die Sprache verändert sich laufend, sie 'passt' nie ganz, sondern stellt immer nur den nie vollständig gelingenden Versuch dar, die Dinge in Worte zu fassen. Nietzsche und Wittgenstein sind die wichtigsten Gewährsleute dieses Konzepts, das landläufig erst der Postmoderne, d.h. dem späten 20. Jahrhundert zugerechnet wird. Richtig ist jedoch: Die philosophische Postmoderne hat nur die erkenntnistheoretischen Konzepte der Moderne, wie sie seit Kant angelegt und von Nietzsche und Wittgenstein weiterentwickelt wurden, konsequent zu Ende gedacht. Es ist also keinesfalls so, dass

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 59 erst die Postmoderne die Wirklichkeit zu einer bloßen Konstruktion erklärt hätte.

Fakten sind nicht beliebig

Wahrheiten und damit auch das, was wir "Fakten" nennen, sind also an das menschliche Erkenntnisvermögen gebunden, variieren historisch, und sie bewegen sich nicht außerhalb unserer Sprache. Aus der Philosophie der Naturwissenschaften heraus entwickelte sich zusätzlich die Einsicht, dass "wissenschaftliche Tatsachen" (Ludwik Fleck) einem "Denkkollektiv" entstammen und unumgänglich von einem bestimmten "Denkstil" geprägt sind[7], sowie schließlich, dass sie auch von den Apparaten und Instrumenten abhängen, mit denen Natur beobachtet, gemessen und analysiert wird.[8]

Dies alles bedeutet, zusammengenommen, dass Fakten nicht außerhalb von Theorien, Konzepten, Modellen und Experimentalsystemen gedacht werden können, weil es ohne diese nicht möglich ist, die "chaotische Mannigfaltigkeit" der Welt zu ordnen, zu deuten und zu verstehen. Weil Modelle und Theorien aber veralten, kann Wissen schal und bislang für wahr Gehaltenes falsch werden. Ja, mehr noch: Aussagen über Fakten sind grundsätzlich der Gefahr ausgesetzt, in irrigen Vorannahmen und fixen Überzeugungen, in Denkroutinen und Ideologien gefangen zu sein. Bedeutet das nun, dass sich Fakten nicht von Überzeugungen, Wahrheiten nicht von Lügen und Wissenschaft sich nicht von Glaube unterscheiden lassen? Und wenn nein – warum nicht?

Tatsachen bzw. Fakten gelten in der heute dominanten Wissenschaftstheorie – und zwar in den Natur- ebenso wie in den Sozial- und Geisteswissenschaften – aus den angeführten Gründen als " Konstruktionen", das heißt als gemacht und von den Bedingungen ihrer Herstellung als wissenschaftliche Tatsachen geprägt. Das heißt im Umkehrschluss allerdings nicht, sie seien deshalb beliebig, bloße Erfindungen, Meinungen oder gar von Lügen nicht zu unterscheiden. Kein Postmoderner hat das je behauptet. Die Absicherung für die – immer nur relative – Verlässlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis liegt heute aber nicht mehr, wie bei Kant, in der Vernunft, sondern in einem durch gegenseitige Kontrolle, Überprüfung und Kritik strukturierten Forschungsprozess der scientific community. Argumente und Behauptungen über die Wirklichkeit müssen nachvollziehbar und überprüfbar sein, sie müssen andere Diskussionsteilnehmer_innen überzeugen und sie müssen an bisherige Diskussionen und Erklärungsmodelle anschließen können.

Aussagen über die Welt müssen, mit einem Wort, 'Sinn ergeben'. Wenn sie das nicht tun, gibt es im Wesentlichen zwei Möglichkeiten: Sie erweisen sich nach allen Maßstäben als falsch oder gelten als uninteressant (oder beides) – oder aber sie werden, früher oder später, zum Ausgangspunkt neuer Wahrheiten, neuer Erkenntnis, neuer Tatsachen. Fakten sind daher seit der Moderne und explizit in unserer Postmoderne "kontingent", wie der Soziologe Niklas Luhmann sagte[9]: Sie lassen sich nicht 'letztlich' und 'notwendiger Weise' als 'absolut' wahr erweisen, und sie gehören in den Raum dessen, was der Fall ist bzw. sein kann (wovon wir bspw. UFOs ausschließen).

Ein letzter Punkt: Soweit es nicht die Natur, sondern die soziale Welt betrifft, ist seit der Postmoderne deutlicher denn je, dass unsere Welt ausschließlich aus kontingenten Regeln und zeitgebundenen Institutionen, aus Kommunikation und Interpretation besteht – von der Verfassung eines Staates bis zum Fußballspiel. Und die Postmoderne hat deutlich gemacht, wie sehr wir diese unsere soziale Wirklichkeit nicht außerhalb unserer Medien und unseres Sprechens erleben können. Doch das heißt nicht, dass diese Wirklichkeit beliebig ist: Ein Rotlicht ist eine vollständig kontingente Regel, ein einfacher Code, den man interpretieren können muss. Wer ihn falsch interpretiert, riskiert den Tod.

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 60 Eine Frage der Redlichkeit

Trotz der (nicht erst) postmodernen Absage an eine als absolut verstandene 'Objektivität' sind Fakten nach wie vor 'robust': Sie sind durch viele Evidenzen bestätigt, können widerlegt werden und erscheinen daher als die beste Auskunft, die wir gegenwärtig zu geben im Stande sind. Sich in 'nicht-absoluter', eben kontingenter Weise auf Fakten zu beziehen und um diese Kontingenz zu wissen, hat daher eine ethische Dimension: Es ist eine Frage der Redlichkeit, unseren Bezug auf Fakten immer mit einer Fußnote zu versehen, um offenzulegen, dank welcher Annahmen, Quellen und Modelle ein bestimmtes Faktum 'möglich', ja 'wahr' ist. Mit bestem Wissen und Gewissen, gleichsam.

Diese Redlichkeit ist ein doppelter Schutz. Sie schützt uns einerseits davor, "Positivist" zu sein, das heißt glauben zu machen, Fakten seien – ganz unabhängig von unserer Erkenntnistätigkeit – 'an sich' da und wahr und müssten bloß 'ans Licht' gebracht werden. Wer eine solche Vorstellung von 'Fakten' behauptet, tut mächtiger, als er menschenmöglich sein kann: Er wäre ein Dogmatiker, ein Ideologe in Gestalt eines 'Realisten'. Gegen solche Versuchungen hat die postmoderne Philosophie nicht nur immer wieder die Konstruiertheit, sondern auch die damit immer mögliche Vielfalt von Aussagen über die Wirklichkeit angemahnt. Man kann die Welt aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten, und nicht alle der so entstehenden Bilder sind – auch bei bestem Wissen und Gewissen der Betrachter – deckungsgleich. Das aber bedeutet nicht, dass man n’importe quoi, dass man irgendetwas Beliebiges über die Wirklichkeit behaupten kann. Aussagen über die Welt müssen begründbar und für Andere nachvollziehbar sein, sonst sind es Glaubenssätze – oder Lügen. Im Garten steht kein rosaroter Elefant, auch wenn ich ihn "fühlen" oder an ihn glauben sollte. Oder auf Facebook von ihm gelesen, ja sogar ein Bild gesehen habe…

Diese Redlichkeit schützt daher andererseits auch gegen den Zynismus, der gegenwärtig am (breiten) rechten Rand des politischen Spektrums zu beobachten ist: Weil Wissenschaft, Experten und tendenziell komplizierte Erklärungen der Welt in weiten Teilen der politischen Öffentlichkeit als "links " oder "elitär" gelten, wird in ziemlich durchschaubarer Weise die postmoderne Erkenntnistheorie dazu missbraucht, die Unterscheidung zwischen Lüge und Wahrheit einzuebnen. Das hat mit der Postmoderne nichts zu tun, sondern enthüllt nur, wie wenig Leute, die von alternativen Fakten und ähnlichem sprechen, von Wissenschaft, Argumentation, Überprüfbarkeit und Rationalität halten. Das ist an sich nichts Neues. Aber es scheint durch die neuen technischen Möglichkeiten heute keine Geheimdienste mehr zu brauchen, um mit komplizierten Propaganda-Operationen Lügen den Anschein der Wahrheit zu verleihen. Die Neue Rechte lacht einfach zynisch über jene, die an so etwas wie die Wahrheit noch glauben.

Eine ältere Fassung dieses Textes erschien auf der online-Plattform Geschichte der Gegenwart (geschichtedergegenwart.de).

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Philipp Sarasin für bpb.de

Fußnoten

1. Roger Köppel: "Editorial: Hat Amerika die Wahl zwischen Pest und Cholera?", in: Weltwoche, Nr. 40, 2016 (http://www.weltwoche.ch/ausgaben/2016-40/artikel/trump-die-weltwoche-ausgabe-402016. html, abgerufen: 25.2.2017) 2. Matthias Binswanger: "Was die Wissenschaft weiss und was sie glaubt", in: Neue Zürcher Zeitung, 15.9.2016 (https://www.nzz.ch/feuilleton/zeitgeschehen/wissenschaftskritik-was-die-wissenschaft- weiss-und-was-sie-glaubt-ld.116772, abgerufen: 25.2.2017)

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3. Claudia von Laak: "Gefühlte Realität"; in: Deutschlandfunk, 14.9.2016 (http://www. deutschlandfunk.de/afd-wahlkampf-in-berlin-gefuehlte-realitaet.1773.de.html?dram:article_id=365806, abgerufen: 25.2.2017) 4. Eduard Käser: "Googlen statt Wissen. Das postfaktische Zeitalter", in: Neue Zürcher Zeitung, 22.8.2016 (https://www.nzz.ch/meinung/kommentare/googeln-statt-wissen-das-postfaktische-zeitalter- ld.111900, abgerufen: 25.2.2017) 5. Michael Hampe: "Katerstimmung bei den pubertären Theoretikern. Seitdem die Rechte postfaktisch geworden ist, hat die kulturwissenschaftliche Linke ein echtes Problem", in: DIE ZEIT, 15.12.2016 (http://www.zeit.de/2016/52/kulturwissenschaft-theorie-die-linke-donald-trump-postfaktisch- rechtspopulismus, abgerufen: 25.2.2017) 6. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1787). Nach der ersten und zweiten Originalausgabe hg. von Raymund Schmidt, Hamburg: Meiner 1976, "Vorrede zur zweiten Auflage", S. 18. 7. Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, hg. v. Lother Schäfer, Thomas Schnelle, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993 (Originalausgabe Basel 1935). 8. Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen: Wallstein 2001 (Toward a History of Epistemic Things. Synthesizing Proteins in the Test Tube, Stanford: Stanford University Press 1997). 9. Siehe z.B. Niklas Luhmann: Beobachtungen der Moderne, Opladen: Westdeutscher Verlag 1992.

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Zwischen Hyperkultur und Kulturessenzialismus Die Spätmoderne im Widerstreit zweier Kulturalisierungsregime

Von Prof. Dr. Andreas Reckwitz 16.1.2017

Professor Dr. Andreas Reckwitz lehrt Vergleichende Kultursoziologie an der Viadrina-Universität Frankfurt/Oder.

In der globalen Gesellschaft lässt sich sowohl eine außergewöhnliche Öffnung als auch eine Schließung von Lebensformen beobachten. Für die einen zählt die individuelle Selbstverwirklichung, für die anderen nur die kollektive Identität. Trotz dieser Gegensätzlichkeit haben beide eines gemeinsam: sie kulturalisieren das Soziale durchweg.

Trump-Anhänger und Trump-Gegner, die nach einer Wahlkampfveranstaltung von Donald Trump in San Diego am 27. Mai 2016 aufeinanderstoßen. (© picture-alliance)

Eine der zentralen Widersprüchlichkeiten der globalen Gesellschaft der Gegenwart betrifft die Ambivalenz von Öffnungs- und Schließungsprozessen. Eine solche Zwiespältigkeit lässt sich auf verschiedenen Ebenen festmachen. Sie findet sich zum einen im Bereich der sozialen Ungleichheit, in der Gegenläufigkeit zwischen dem Aufstieg und der sozialen Mobilität einer neuen globalen Mittelklasse, vor allem in Asien und Lateinamerika, und der ‚schließenden‘ Zementierung einer neuen, post-industriellen Unterklasse, vor allem in den Industriegesellschaften. Die Ambivalenz zwischen Öffnung und Schließung lässt sich jedoch auch auf der Ebene der kulturellen Lebensformen und den sie tragenden institutionellen Ordnungen beobachten, um die es mir im Folgenden geht: Auf der einen Seite findet in der Spätmoderne eine historisch außergewöhnliche kulturelle Öffnung der Lebensformen statt, eine Pluralisierung von Lebensstilen, verbunden mit einer Öffnung und Pluralisierung von

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Geschlechternormen, Konsummustern und individuellen Identitäten, wie sie vor allem von der globalen Mittelklasse getragen wird und sich in den globalen Metropolen konzentriert. Gleichzeitig beobachten wir jedoch weltweit an verschiedenen Orten Tendenzen einer kulturellen Schließung von Lebensformen, in denen eine neue rigide Moralisierung stattfindet. Das Spektrum derartiger Schließungen reicht von den partikularen Identitätsgemeinschaften über einen Neo-Nationalismus bis hin zu den religiösen Tendenzen des Fundamentalismus. Die Öffnung der Kontingenz von Lebensformen einerseits, der Versuch ihrer moralischen Schließung andererseits, die wir seit der Jahrtausendwende beobachten, bilden damit zwei Tendenzen der globalen Gegenwartsgesellschaft, die vollständig unvereinbar erscheinen.

Wie ließen sich beide Tendenzen nun informativ untersuchen? In der öffentlichen Debatte wird wiederholt auf ein einfaches, aber wirkungsvolles Theorieangebot zurückgegriffen: auf Samuel Huntingtons These eines „Kampfs der Kulturen“, wie er sie 1993 entwickelt hat.[1] Während sich Huntington zunächst gegenüber Francis Fukuyamas These vom Ende der Geschichte in der Defensive befand, die etwa zeitgleich ein quasi nicht mehr überbietbaren Ende des Modernisierungsprozesses behauptete und eine globale Verbreitung der westlichen Gesellschaftsmuster konstatierte[2],hat die Interpretationsfolie des Kampfs der Kulturen während der letzten Jahren in der öffentlichen Diskussion einiges an Überzeugungskraft gewonnen.

Muss man den genannten Widerspruch zwischen Schließung und Öffnung von Lebensformen letztlich nicht als einen Kulturkonflikt zwischen der westlichen Kultur des Liberalismus und diversen, östlichen oder südlichen, kollektivistischen Kulturen um die globale Dominanz deuten? Ich will dem Modell Huntingtons, das unterkomplex bleibt, nicht folgen und stattdessen eine alternative Lesart skizzieren: Ich denke tatsächlich, dass wir, um die globale Spätmoderne analytisch zu durchdringen, ohne das Konzept der Kultur nicht auskommen. Dies soll und muss jedoch in einer anderen Weise als bei Huntington geschehen.

Statt einen antagonistischen Kampf zwischen diversen Kulturen und ihren ‚kulturellen Mustern‘ zu behaupten, möchte ich die These ausführen, dass wir in der Spätmoderne einen sehr viel grundsätzlicheren Widerstreit zwischen dem beobachten können, was ich zwei konträr aufgebaute Regime der Kulturalisierung nennen will. Nicht Kulturen stehen einander gegenüber, sondern - noch elementarer - zwei konträre Auffassungen darüber, was Kultur überhaupt bedeutet, und dem entsprechend zwei konträre Formate, in denen die Kultursphäre organisiert ist.

In der Spätmoderne findet eine Kulturalisierung des Sozialen auf breiter Front statt, die allerdings zwei sehr unterschiedliche Formen annimmt: Auf der einen Seite - ich spreche hier von Kulturalisierung I - beobachten wir eine Kulturalisierung der Lebensformen in Gestalt von ‚Lebensstilen‘, die sich nach dem Muster eines Wettbewerbs kultureller Güter auf einem kulturellen Markt zueinander verhalten, also um die Gunst der nach individueller Selbstverwirklichung strebenden Subjekte wetteifern. Auf der anderen Seite lässt sich ein alternatives Regime beobachten, die Kulturalisierung II: Diese Kulturalisierung richtet sich auf Kollektive und baut sie als moralische Identitätsgemeinschaften auf. Sie arbeitet mit einem strikten Innen-Außen-Dualismus und gehorcht dem Modell homogener Gemeinschaften, die als imagined communities kreiert werden. Die Spätmoderne ist durch einen Konflikt dieser beiden Kulturalisierungsregime gekennzeichnet, die in einer widersprüchlichen Konstellation von Öffnung und Schließung münden.

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 64 Die Kulturalisierung des Sozialen

‚Kulturalisierung‘ mag zunächst wie ein merkwürdiger Begriff klingen. Für das Verständnis dieses Begriffs sind zwei Unterscheidungen zentral: erstens die Unterscheidung zwischen dem Kulturellen und der Kultursphäre; zweitens die Gegenüberstellung von Rationalisierung und Kulturalisierung.

Erstens: Die Unterscheidung zwischen dem Kulturellen und der Kultursphäre markiert eine Differenz zwischen Kultur in einem schwachen und allgemeinen Sinne und Kultur in einem starken und engeren Sinne. Mit dem Kulturellen im schwachen Sinne meine ich das Insgesamt aller kollektiven Sinnzusammenhänge oder Wissensordnungen, die in sozialen Praktiken verarbeitet werden und mit deren Hilfe Welt sinnhaft klassifiziert wird. Mit Kultur im starken oder engeren Sinne will ich hingegen die Sphäre von all jenem bezeichnen, dem in einem sozialen Kontext Wert, und zwar intrinsischer, eigener, nutzenbringender Wert zugeschrieben wird. Die Sphäre der Kultur umfasst in einer Gesellschaft also die Sphäre jener Objekte, Subjekte, Praktiken, Orte etc., die in einem starken Sinne mit Wert belegt werden. So werden beispielsweise Kunstwerke und religiöse Praktiken oder Glaubenselemente, Individuen oder herausgehobene Orte in mehr oder minder komplexen Prozessen und Praktiken mit Wert belegt oder im Gegenteil im wahrsten Sinne des Wortes entwertet.

Zweitens: Um in Bezug auf moderne Gesellschaften die Bedeutung von Kulturalisierung einschätzen zu können, muss man sich jedoch den dazu konträren Prozess vergegenwärtigen. Ihn mache ich in der formalen Rationalisierung des Sozialen aus. Formale Rationalisierung auf der einen Seite, Kulturalisierung auf der anderen Seite modellieren das Soziale gewissermaßen in entgegengesetzte Richtungen. Im Zuge von Prozessen der Rationalisierung - das wissen wir seit Max Weber - werden Objekte, Subjekte, Handlungen, Räumlichkeiten, Kollektive etc. zum Gegenstand einer Optimierung, sie werden systematisch als Mittel zum Zweck geformt. In Prozessen der Kulturalisierung hingegen werden sie valorisiert und darin zu sozial anerkannten Eigenwerten. In der Rationalisierung findet eine versachlichende Affektreduktion statt, in der Kulturalisierung hingegen eine Intensivierung von Affekten in Bezug auf das Wertvolle. Die Rationalisierung profanisiert die Dinge, die Kulturalisierung sakralisiert sie. Die Rationalisierung betreibt in der Regel ein doing generality, in dem alle Elemente der Welt - Objekte, Subjekte, Praktiken, räumliche, zeitliche und kollektive Einheiten - als Exemplare allgemeiner Typen geformt werden, die Kulturalisierung in der Regel ein doing singularity, in dem die Elemente der Welt als besondere und einzigartige, als nicht-austauschbare und unvergleichliche modelliert werden. Rationalisierungs- und Kulturalisierungsprozesse hat es in allen Gesellschaftsformen gegeben. Die moderne Gesellschaft aber kann im Kern als ein tiefgreifender und expansiver Prozess der formalen Rationalisierung, der Standardisierung, Formalisierung und Generalisierung des Sozialen verstanden werden. Trotzdem hat es in der gesamten Geschichte der Moderne gegenläufige Prozesse der Kulturalisierung gegeben, so in der Ausbildung der sogenannten bürgerlichen Hochkultur oder in den Nationalismen des 19. Jahrhunderts. Allerdings gewinnen die Kulturalisierungsprozesse in der Spätmoderne ungeahnte Stärke. Lässt sich die organisierte Moderne des 20. Jahrhunderts, die Moderne der Industriegesellschaft, von der Spätmoderne, die ungefähr in den 1980er Jahren einsetzt, unterscheiden, so nicht zuletzt dadurch, dass nun Regime der Kulturalisierung prägend wirken, die in dieser Reichweite und Intensität für die Moderne neuartig sind.

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 65 Kulturalisierung I: Hyperkultur

Die Kulturalisierung I wird vordergründig vom globalen Kulturkapitalismus und der Mittelklasse getragen, die ihn arbeitend und komsumierend zum Leben erweckt. Sie nimmt im Kern die Form einer expansiven Ästhetisierung (teilweise auch einer Ethisierung) der Lebensstile an, einer Ästhetisierung des Berufs und der persönlichen Beziehungen, des Essens, Wohnens, Reisens und des Körpers, die sich vom Ideal eines ‚guten Lebens‘ leiten lässt. Kultur ist hier gewissermaßen Hyperkultur, in der potenziell alles in höchst variabler Weise kulturell wertvoll werden kann. Entscheidend für die abstrakte Form dieser Kulturalisierung sind einerseits Objekte, die sich auf kulturellen Märkten bewegen, andererseits Subjekte, die den Objekten mit einem Wunsch nach Selbstverwirklichung gegenüberstehen. Kultur findet in dieser Konstellation immer auf kulturellen Märkten statt, in denen kulturelle Güter miteinander im Wettbewerb stehen. Dieser Wettbewerb ist nur vordergründig ein kommerzieller, im Kern handelt es sich vielmehr um Wettbewerbe, die Aufmerksamkeit sowie Valorisierung betreffen. Die Kultursphäre bildet hier gewissermaßen einen Attraktions- und Attraktivitätsmarkt, auf dem ein Wettbewerb um Anziehungskraft und das Urteil des Wertvollen ausgetragen wird. Entscheidend ist in diesem Kontext ein fundamentaler Sachverhalt: Welche Güter auf diesen Märkten reüssieren, welche Aufmerksamkeit sie auf sich ziehen und wie sie mit Hilfe dessen, was Lucien Karpik ‚judgemental devices‘ nennt, als qualitätsvoll valorisiert werden, ist in hohem Maße ungewiss und offen.[3] In der Gegenwart ist für die scheinbar grenzenlose Kulturalisierung I der globale Kulturkapitalismus die zentrale institutionelle Stütze. Selbstverständlich bilden aber auch die Medientechnologien, die mittlerweile weniger Informationsträger sind, als dass sie eine digitale Kulturmaschine von Narrationen und Affekten bilden, und der globale Attraktionswettbewerb zwischen den Städten und Regionen um Bewohner und Besucher bedeutsame Stützen für den Kulturalisierungsprozess der Hyperkultur.

Komplett wird die Konstellation der Kulturalisierung I jedoch erst durch den spezifischen Stellenwert, der den Subjekten in diesem Rahmen zukommt. Für die Subjekte sind die Güter der kulturellen Märkte potenzielle kulturelle Ressourcen zur Entfaltung ihrer Besonderheit und Expressivität, kurz: ihrer Selbstverwirklichung. Erst die spätmodernen Subjekte sind vollends das, was Georg Simmel bereits um 1900 als Orte des ‚qualitativen Individualismus‘', eines Individualismus der Besonderheit, antizipierte.[4] Das ursprünglich romantische Subjektivierungsmuster der ‚Selbstentfaltung‘ ist über den postmaterialistischen Wertewandel seit den 1970er Jahren in die globale Mittelklasse eingesickert und leitet die Haltung der Subjekte zur Kultur an. Die valorisierten Gegenstände der Kultur - seien es attraktive urbane Umgebungen, Berufe mit intrinsischer Motivation, Designobjekte, Reiseziele oder selbst die spirituellen Offerten auf dem Markt der Religionen - bilden nun Versatzstücke, in denen sich das Individuum seine subjektive Kultur zusammensetzt. Die kulturellen Güter zeichnen sich in der Hyperkultur folglich durch Kombinierbarkeit und Hybrisierbarkeit aus.

‚Diversität‘ und ‚Kosmopolitismus‘ avancieren damit zu Leitsemantiken der Kulturalisierung I. Sie ist in der Tat auf Vielfalt, diversity, geeicht, da die kulturellen Güter sich zunächst nicht in einer Hierarchie zueinander befinden, sondern prinzipiell gleichwertig scheinen. Diversität ist in diesem Kontext per se positiv besetzt, weil sie den Raum der kulturellen Ressourcen ausdehnt und zu ‚bereichern‘ verspricht. Und sie ist in dem Sinne auch kosmopolitisch, als sowohl die Kultursphäre wie auch die Individuen gegenüber der Herkunft der kulturellen Güter indifferent sind: Gleich welcher regionaler, nationaler oder kontinentaler, ebenso welcher gegenwärtigen oder historischen, hochkulturellen oder populärkulturellen Herkunft die kulturellen Güter sind - entscheidend ist, dass sie zur Ressource subjektiver Selbstentfaltung werden können. Man sieht an dieser Stelle, inwiefern die Kulturalisierung I, die Kultur der Diversität, der Märkte und der Selbstentfaltung eine soziale Öffnung im allgemeinen Sinne der Öffnung von Kontingenz bewirkt: Es ist die Ergebnisoffenheit und Mobilität der Aufmerksamkeit- und Valorisierungsmärkte einerseits, die unbegrenzte und variable Objektbesetzung durch den Selbstentfaltungswunsch der Individuen, ihren Wunsch nach Genuss, Sinn und Mangelkompensation andererseits, der die Kultursphäre für immer neue Möglichkeiten des als wertvoll angesehenen offen hält.

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 66 Kulturalisierung II: Kulturessenzialismus

Welche Form hat nun das zweite Regime der Kulturalisierung, das sich in der spätmodernen Gesellschaft findet? Auch hier wird die sachliche Welt des Zweckrationalen in Kultur umgeformt, und wiederverzaubert‘, wobei dieser Prozess allerdings einem anderen Muster folgt. Vordergründig findet sich die Kulturalisieung II in den neuen Bewegungen und Gemeinschaften, die kollektive Identität beanspruchen. Es handelt sich mithin um die Kultur der Identitären. Dies betrifft in gemäßigterer Form Teile des Feldes der identity politics in den USA, in denen sich Herkunftsgemeinschaften (Schwarze, Hispanics, Italo-Amerikaner etc.) imaginieren. Es gilt für die neuen Nationalismen etwa in Russland, China oder Indien und für neue sogenannte fundamentalistische religiöse Bewegungen wie Salafisten oder Pfingstkirchler. Man muss dem Vorurteil deutlich entgegentreten - der französische Religionssoziologie Olivier Roy weist am Beispiel der. fundamentalistischen religiösen Bewegungen zu Recht darauf hin -,[5] diese Kultur-Communities reaktivierten lediglich Alltagskulturen aus der Vorzeit der Moderne, das heißt aus traditionalen Gesellschaften. Faktisch betreiben sie, ganz im Gegenteil, eine ausgesprochen aktive, gegen die in der Moderne ‚vorgefundenen‘ Lebenswelten gerichtete Umwertung. Frühe Formen dieser Kulturalisierungsform finden sich bereits im 19. Jahrhundert, vor allem in den nationalistischen Bewegungen. In ihrer heutigen Fassung sind sie jedoch als Reaktionen auf das kulturelle Vakuum des Rationalismus der organisierten Moderne und auf die seit den 1980er Jahren global expandierende Hyperkultur zu verstehen.

Dabei ist die Kulturalisierung II in dreierlei Hinsicht der Kulturalisierung I entgegengesetzt: Erstens ist Kultur hier nicht als ein unendliches Spiel der Differenzen auf einem offenen Bewertungsmarkt organisiert, sondern modelliert die Welt in Form eines jeweiligen Antagonismus, eines Antagonismus zwischen Innen und Außen, zwischen ingroup und outgroup, der zugleich ein Dualismus zwischen dem Wertvollen und dem Wertlosen ist. Dieser Prozess verläuft also nicht dynamisch und mobil, sondern arbeitet vielmehr daran, die Eindeutigkeit der wertvollen Güter - der Glaubenssätze, der Symbole, der nationalen Geschichte, der Leidensgeschichte einer Herkunftsgemeinschaft - nach innen aufrechtzuerhalten und zugleich nach außen eine konsequente Devalorisierung zu betreiben: die eigene, überlegene Nation gegen die fremden (Nationalismus), die eigene Religion gegen die Ungläubigen (Fundamentalismus), das Volk gegen die kosmopolitischen Eliten (Rechtspopulismus). Zweitens ist diejenige Instanz, die gewissermaßen in den Genuss der Kultur kommt und damit den Referenzpunkt der Kultursphäre bildet, nun nicht das sich selbst verwirklichende Individuum, sondern das Kollektiv, die community, die sich über die Sphäre des als wertvoll Anerkannten ihrer Gemeinschaftlichkeit versichert. Drittens schließlich arbeitet die Kulturalisierung II nicht mehr mit einem Regime der Innovation und des Neuen, der ständigen Selbstüberbietung (wie im Kreativitätsdispositiv der Kulturalisierung I),[6] sondern mit einer Prämierung des ‚Alten‘, der vermeintlichen ‚Tradition‘, was sich in einem entsprechenden Bezug auf Narrationen der Geschichte oder auf historische Moralkodizes niederschlägt. Kollektiv und Geschichte tragen hier dazu bei, Kultur gewissermaßen zu essenzialisieren. Man erkennt damit, auf welchem Wege die Kulturalisierung II eine Schließung von Kontingenz bewirkt: Zum einen führt der zentrale Antagonismus zwischen Innen und Außen dazu, dass die Valorisierung der Güter nach innen nicht mobilisiert, sondern stabil gehalten werden soll. Zum anderen verringert und verengt die Orientierung am Kollektiv als Bezugseinheit der Kultur die Verhaltensspielräume für die Individuen.

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 67 Hyperkultur und Kulturessenzialismus: Interaktionsmöglichkeiten zwischen Koexistenz und Konflikt

Was wir in der Spätmoderne vielerorts beobachten, ist nur sehr vordergründig ein Huntington'scher Kampf der Kulturen, sondern letztlich ein Widerstreit zwischen diesen beiden Kulturalisierungsregimen I und II, zwischen Hyperkultur und Kulturessenzialismus. Erst wenn man diese abstraktere Perspektive einnimmt, wird erkennbar, dass einander derartig feindlich gesonnene Gruppen wie die Salafisten oder Marine LePens Front National, die Evangelikalen und Putins Nationalismus letztlich dem gleichen Muster folgen, nämlich dem der Kulturalisierung II. Sie füllen den Kulturessenzialismus inhaltlich zwar unterschiedlich aus, teilen aber das gleiche Kuturalisierungsschema, was zur Folge hat, dass sie allesamt der Kulturalisierung I entgegenstehen. Religiöse Fundamentalismen, Rechtspopulismen und Nationalismen in ihren verschiedenen regionalen Spielarten würden für Huntington jeweils unterschiedliche ‚Kulturen‘ bilden, während nun deutlich wird, dass sie allesamt dem gleichen Muster der Kulturalisierung II folgen. Umgekehrt bildet ‚der Westen‘ nicht lediglich eine weitere Kultur, wie Huntington suggeriert, sondern in seiner spätmodernen Form eine grundsätzlich andersartig strukturierte Form der Kulturalisierung, nämlich die Kulturalisierung I der Hyperkultur.

Räumlich stehen beide Regime einander im Übrigen durchaus nicht im einfachen Sinne einer Dramatisierung ‘The west against the rest‘ gegenüber. Die Kulturalisierung I der kulturellen Märkte und Selbstverwirklichungssubjekte mag historisch ihre Wurzeln in Europa und den Vereinigten Staaten haben, doch hat sie sich längst globalisiert. Sie findet sich mittlerweile in den entsprechenden avancierten Milieus sowohl in den ost- und südasiatischen als auch in lateinamerikanischen Metropolen. Umgekehrt ist die Kulturalisierung II keineswegs nur in Asien oder Osteuropa lokalisiert, sondern ebenso in Westeuropa oder den USA. Der ‚Westen‘ ist eben kein geografischer Begriff, sondern ein symbolischer.

Wie lässt sich nun aber das Verhältnis zwischen beiden Kulturalisierungsregimes begreifen? Was passiert, wenn die Hyperkultur auf den Kulturessenzialismus trifft? Genau diese Begegnung findet in der Spätmoderne statt, und zwar in explosiver Form.[7] Viele der aktuellen globalen Konflikte lassen sich als solche des Widerstreits zwischen diese beiden Kulturalisierungsregimes entziffern. Dabei bieten sich von beiden Seiten aus gesehen – der Hyperkultur und dem Kulturessenzialismus – immer zwei Möglichkeiten, mit der jeweils anderen Seite umzugehen: eine Strategie der Koexistenz qua Verähnlichung und eine Strategie der Verwerfung als absoluter Gegner (siehe Kreuztabelle). Verähnlichung heißt dabei: Man versucht, Phänomene des anderen Kultur-Regimes in die Perspektive des eigenen zu integrieren und somit im Sinne einer Koexistenz handhabbar zu machen. Verwerfung als absolute Gegner heißt: Man nimmt die radikale Andersheit des anderen Regimes wahr und dramatisiert das Verhältnis entsprechend in Form eines Freund-Feind-Schemas.

Die erste Möglichkeit lautet: Die Markt- und Selbstverwirklichungs-Kultur kann versuchen, die Kultur der Identitären in den eigenen Rahmen zu integrieren. Das heißt: man nimmt die Identitätsgemeinschaften gewissermaßen als eine kulturelle Option von Gruppen im Spiel der Selbstverwirklichung wahr, die man zu respektieren hat – oder sogar als Bereicherung begreift. Dies war die Perspektive des westlichen Multikulturalismus der 1980er Jahre. Man hat hier zum Beispiel fundamentalistische religiöse Gruppen nicht als radikal anderen Kulturessenzialismus begriffen, sondern als ein weiteres willkommenes Phänomen kultureller Diversität, das die Individuen für sich vermeintlich gewählt haben. Die Burka erscheint aus dieser Sicht gewissermaßen auf der gleichen Ebene von Kultur wie der Nasenring des Hipsters oder die chinesische Küche: variable Identitätsmarker auf einem Markt der Kulturen.

Eine vergleichbare Haltung kritischer Akzeptanz gibt es durchaus auch unter der Perspektive der Kulturalisierung II auf die Kulturalisierung I. Eine solche bedeutet, dass die kulturellen Identitätsgemeinschaften die Hyperkultur der Märkte und Selbstverwirklichung nicht als abstraktes Regime verstehen, sondern nur mehr als partikulare Eigenschaft einer anderen ‚Identitätsgemeinschaft ‘, etwa der USA, Großbritanniens, Frankreichs oder des gesamten Westens. Auch hier wird das Andere

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 68 strukturell verähnlicht. Eine solche Haltung findet sich etwa darin, dass die chinesischen Regierungen der Vergangenheit etwaige Kritiken an Menschenrechtsverletzungen mit dem Argument beantworteten, die Menschenrechte bezeichneten Werte des Westens: Dass der Westen diese Werte hat, wird ihm durchaus nicht bestritten – aber sie können ihre Geltungskraft nur im Westen, verstanden als eine partikulare Identitätsgemeinschaft, entfalten. Insofern wäre hier von einer Art politischer Kulturkreis- Lehre zu sprechen.

In dieser Lesart können Kulturalisierung I und Kulturalisierung II einander durchaus in friedlicher Koexistenz begegnen. Sobald die beiden Kulturalisierungsregimes einander jedoch tatsächlich als Kulturalisierungsregimes wahrzunehmen beginnen, sehen sie sich in ihrer Grundlage bedroht und behandeln die andere Seite feindlich. Dann bricht ein ‚Culture War‘ ganz eigener Art aus.

Damit erreichen wir den dritten und vierten Relationsmodus (siehe Kreuztabelle). Erkennt die Hyperkultur in der Kultur der Identitäten einen Kulturessenzialismus, wechselt sie über in den Modus eines Kampfes zwischen der offenen Gesellschaft und ihren Feinden. Nun wird der Kulturessenzialismus insofern als totalitär begriffen, als man dort versucht, das plurale Spiel der Differenzen innerhalb der Hyperkultur durch einen homogenisierenden Antagonismus zwischen Gläubigen und Ungläubigen zu eliminieren. Es geht nicht darum, dass dort draußen ‚andere Kulturen ‘ sind, sondern dass die Kulturalisierung II als eine diametral entgegengesetzte Weise verstanden wird, mit Kultur umzugehen. Genau dieses Verständnis beschreibt mittlerweile offenbar die Perspektive großer Teile der (links)liberalen Öffentlichkeit in Europa und den USA auf die diversen identitären Bewegungen, auf den Fundamentalismus der Religionen, vor allem den Islamismus, ebenso wie auf den Nationalismus oder den heimischen Rechtspopulismus.

Eine komplementäre Perspektive findet sich auf Seiten der Kulturalisierung II. Diese begreift die Markt- und Selbstverwirklichungs-Kultur in dem Moment als absolute Bedrohung, wenn sie in ihr nicht mehr nur eine ‚andere Kultur‘ mit ihren legitimen, aber partikularen Eigenheiten wahrnimmt, sondern als ein expansives ‚postmodernes‘ System mobiler Valorisierungen begreift, das am Ende auch die eigene Identitätsgemeinschaft aufzulösen droht. Dies ist die Perspektive auf die vorgebliche Dekadenz und zersetzende Morallosigkeit des Westens, wie sie mittlerweile viele der identitären Bewegungen weltweit einnehmen – die Islamisten so wie die Nationalisten und Rechtspopulisten – und die im Extrem gewaltsame Konsequenzen haben kann.

Wie es scheint, sind seit der Jahrtausendwende die Strategien der Koexistenz auf dem Rückzug und erlangen jene des Culture War Zulauf. Bemerkenswert ist, dass in dem Augenblick, wo der grundsätzliche Antagonismus zwischen den beiden Kulturalisierungsregimes in den Vordergrund tritt, die Differenzen innerhalb der beiden Regime relativ an Bedeutung verlieren. Innerhalb des Kulturalisierungsregimes I gilt dies für die ‚feinen Unterschiede‘ zwischen den Lebensstilen und Milieus, auch für die Differenzen zwischen den politischen Positionen, die gegenüber dem totalitären Gegner an Relevanz verlieren. Man beobachtet es allenthalben: die moderaten Sozialdemokraten und die moderaten Konservativen, die linksliberalen Kreativen und die wirtschaftsliberalen Performer rücken zusammen, wenn die reale oder vermeintliche Bedrohung durch den ‚totalitären‘ Kulturessenzialismus vor der Tür steht. Noch auffälliger freilich ist, dass innerhalb des Kulturessenzialismus die identitären Gegner von einst zu überraschenden Verbündeten avancieren, sobald sie gemeinsam gegen das vorgeblich dekadente Regime der Märkte und Selbstverwirklichung der postmodernen Hyperkultur ankämpfen. Dann ergibt sich beispielsweise ein Schulterschluss zwischen evangelikalen und orthodox- muslimischen Glaubensgemeinschaften im Kampf gegen die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare oder zwischen Le Pen und Putin gegen die USA. Es macht letztlich einen entscheidenden Unterschied, ob ein religiöses Symbol wie die Verschleierung als ein weiteres Stilaccessoire neben anderen in der urbanen Hyperkultur betrachtet wird oder ob man es als Symbol einer ‚totalitären ‘ Identitätsgemeinschaft liest, das die Grundlagen der mobilen Valorisierungspraxis grundsätzlich in Frage stellt. Auch ein Phänomen wie die globalen Migrationsprozesse lässt sich vor dem Hintergrund eines Modells kultureller Diversität entweder als willkommene Bereicherung des Kulturarsenals begreifen oder vor dem Hintergrund einer Vorstellung von Kultur als historischer Gemeinschaft als

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 69 eine Bedrohung derselben.

Was die Spätmoderne charakterisiert, ist damit ein Konflikt zwischen zwei Kulturalisierungregimes, die sich letztlich in ihren Grundlagen gegenseitig dementieren. Leicht übersieht man dabei allerdings das, was beide trotz aller Gegensätzlichkeit untergründig gemeinsam haben: nämlich dass sie kulturalisieren, dass sie valorisieren und damit das Soziale affektiv deutlich mehr aufladen, als es für die standardisierenden und versachlichenden Prozesse formaler Rationalisierung gilt, die wir in der Moderne ansonsten kennen und welche die organisierte Moderne der Industriegesellschaft auf beruhigende wie einschläfernde Weise prägten. Die Pandora-Büchse der globalen Valorisierungskonflikte, der ‚Kultur‘, ist geöffnet und es gibt keine Anzeichen, dass sie so schnell wieder geschlossen wird.

Der Text ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bamberg am 27. September 2016. Die Argumentation greift auf mein laufendes Buchprojekt unter dem Titel „Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne “ zurück, dessen Veröffentlichung für den Herbst 2017 im Suhrkamp Verlag geplant ist.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/)

Fußnoten

1. Samuel Huntington, „The clash of civilizations“, in: Foreign Affairs, 1993, Nr. 3; die spätere Buchveröffentlichung erschien unter dem Titel The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996, zu Deutsch: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München/ Wien 1996. 2. Francis Fukuyama, „Das Ende der Geschichte?“, in: Europäische Rundschau, 1989, Nr. 4; spätere Buchveröffentlichung The End of History and the Last Man, New York 1992, in deutscher Übersetzung: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, übersetzt von Helmut Dierlamm, München 1992. 3. Lucien Karpik, Valuing the Unique. The Economics of Singularities, Princeton 2010. 4. Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt am Main 1990. 5. Olivier Roy, Heilige Einfalt: über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen, München 2010. Roy verwendet in diesem Zusammenhang allerdings einen anderen Kulturbegriff. 6. Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 2012. 7. Es gibt darüber hinaus interessante Hybridisierungen zwischen beiden Regimen. So können etwa islamistische Identitäre zunächst im Rahmen der westlichen Jugendkulturen medial vermittelt als Träger eines ‚attraktiven Stils‘ erscheinen, also innerhalb der Logik der Kulturalisierung I funktionieren: Sie wetteifern zunächst auf dem Aufmerksamkeits- und Valorisierungsmarkt der Hyperkultur. Sobald Anhänger geworben werden – etwa als IS-Kämpfer – verlassen sie aber diese Logik und wechseln gewissermaßen – auch sehr handfest – in die Logik der Kulturalisierung II über.

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Rechtspopulistische Lexik und die Grenzen des Sagbaren

Von Prof. Dr. phil. Thomas Niehr 16.1.2017 Prof. Dr. phil. Thomas Niehr ist Sprachwissenschaftler und Universitätsprofessor am Institut für Sprach- und Kommunikationswissenschaft der RWTH Aachen.

Möchte man Rechtspopulismus und andere politische Erscheinungen analysieren, so scheint offensichtlich, dass man dies über die verwendete Sprache tun kann. Kann man aber auch bereits an der Verwendung einzelner Wörter erkennen, ob eine Äußerung rechtspopulistisch ist? Und ist eine Kategorisierung immer eindeutig möglich?

Gibt es rechtspopulistische Wörter?

Möchte man Rechtspopulismus und andere politische Erscheinungen analysieren, so scheint offensichtlich, dass man dies über die verwendete Sprache tun kann. Daran, wie Menschen sprechen, können wir eine Menge ablesen – bis hin zu ihren politischen Einstellungen. Kann man aber auch bereits an der Verwendung einzelner Wörter erkennen, ob eine Äußerung rechtspopulistisch ist? Wie sind solche Wörter beschaffen, die Rechtspopulismus signalisieren? Und ist eine Kategorisierung immer eindeutig möglich?

Sprachliche Grenzen

Betrachtet man die Sprache derer, die üblicherweise als (Rechts-)Populisten bezeichnet werden, dann fällt auf, dass diese häufig darauf angelegt ist, die Grenzen des (bislang) Sagbaren zu verschieben. Bereits hier lässt sich allerdings mit gutem Recht fragen, wer denn überhaupt in einem demokratisch verfassten Gemeinwesen, das in seinem Grundgesetz vergleichsweise lakonisch festlegt, dass eine Zensur nicht stattfindet (vgl. GG Art. 5, 1), diese Grenzen errichten und überwachen kann? Die Antwort darauf kann sicher nur lauten: Kein einzelner kann diese Grenzen festlegen. Dennoch gibt es eine weitgehende gesellschaftliche Übereinkunft darüber, was als (mehr oder weniger) sagbar gilt, auch wenn sich diese Grenzen im Laufe der Zeit immer wieder verändern. Wer diese Übereinkunft (wissentlich oder unwissentlich) übertritt, bricht ein Tabu und muss gegebenenfalls mit Sanktionen rechnen. Dies hat beispielsweise Thilo Sarrazin ausgelotet, der in einem Interview mit der Zeitschrift Lettre International im Jahr 2009 abschätzig über ausländische Mitbürger sprach und ihnen vorwarf, dass "ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert [werden]". In diesem Zusammenhang fiel auch der Ausdruck "Unterschichtgeburten“. Als Sarrazin seine Provokationen ein Jahr später zu einem Buch verarbeitete ("Deutschland schafft sich ab", 2010), in dem er wiederum gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen polemisierte, führte dies zu einem Skandal, der den Autor letztlich sein Amt kostete (vgl. Niehr 2011).

Neben den ungeschriebenen Sagbarkeitsregeln – die von gesellschaftlichen Gruppen, die über entsprechende Diskursmacht verfügen, gesetzt, aber immer auch neu verhandelt werden – gibt es auch geschriebene Gesetze, die den Sprechern und Schreibern bei politischen Auseinandersetzungen Grenzen aufzeigen. Diese Gesetze beziehen sich in Deutschland etwa auf die NS-Vergangenheit: Im § 130 des Strafgesetzbuches ist beispielsweise geregelt, dass die Verbrechen des Nationalsozialismus nicht "in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören", gebilligt, geleugnet oder verharmlost werden dürfen.

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Jenseits solcher geschriebenen Gesetze gibt es eine große sprachliche Grauzone, die Populisten immer wieder gezielt nutzen, um die Grenzen des Sagbaren zu verschieben, ohne mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. Wie dies typischerweise vonstattengeht und welche Mittel dazu verwendet werden – damit beschäftigt sich dieser Beitrag.

Rechtspopulistische Lexik

Betrachtet man den Teil des Wortschatzes, den Populisten zur Erzielung bestimmter Wirkungen einsetzen, dann lassen sich grob drei Kategorien unterscheiden:

Die Wörter der ersten Kategorie dienen dazu, politische Konzepte und Phänomene, die den Rechtspopulisten als bekämpfenswert gelten, extrem negativ zu bewerten. Dies geschieht häufig durch die Verwendung historisch belasteter Vokabeln wie Umvolkung oder Lügenpresse.

Die Wörter der zweiten Kategorie sind ebenfalls historisch belastet und sollen offenbar reanimiert und gleichzeitig rehabilitiert werden. Typische Beispiele sind die Wörter völkisch und Volksverräter.

Schließlich gibt es eine dritte Kategorie von Wörtern, die zunächst nicht durch historische Belastung im Diskurs auffallen, sondern durch ihre Qualität als grobe Beschimpfungen. Hierhin gehört das Wort linksversifft.

Für alle drei Kategorien werden im Folgenden Beispiele gegeben.

Die Abwertung gegnerischer politischer Konzepte durch Nazi-Vokabular

Gegnerische politische Konzepte durch eine entsprechende Wortwahl abzuwerten, gehört zum üblichen Vorgehen in der politischen Kommunikation. So finden sich in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zahlreiche Beispiele, in denen sozialdemokratische Konzepte oder auch Sozialdemokraten als "Kommunismus/Kommunisten" verunglimpft wurden. Entsprechend wurden und werden marktwirtschaftlich orientierte Positionen gerne als "neoliberal" abgewertet. Dies alles gehört zum Streit um Wörter und macht das Wesen politischer Auseinandersetzung aus. Rechtspopulisten neigen nun aber dazu, durch ihre Wortwahl immer wieder gezielt Assoziationen zum Nationalsozialismus ins Spiel zu bringen. Sie geben ihren Äußerungen dadurch eine spezielle rechtslastige Tendenz.

Wird beispielsweise im Zusammenhang mit den aktuellen Flüchtlingsbewegungen von einer Umvolkung oder einem Bevölkerungsaustausch gesprochen, so wird damit – auch wenn es vielen gar nicht bewusst sein mag – ein nationalsozialistischer Topos aktiviert. Wiewohl ähnliche Ausdrücke (Germanisierung, Volkstumswechsel, Entdeutschung; vgl. dazu Kellershohn 2016) bereits im 19. Jahrhundert kursierten, ist für den heutigen Gebrauch des Wortes Umvolkung das nationalsozialistische Konzept zentral: Denn Nationalsozialisten planten die sogenannte Umvolkung des Lebensraums im Osten aktiv (d.h. die Vertreibung der dort Ansässigen und gleichzeitige Re- Germanisierung der dort lebenden "Volksdeutschen"). Ab 1940 ist der Ausdruck "gleichbedeutend mit Eindeutschung" (Schmitz-Berning 2007: 617). Heutzutage soll mit der Vokabel auf eine drohende "Überfremdung" Deutschlands hingewiesen werden. Gemeint ist also, dass die Politik der Bundesregierung dazu führe, dass "das deutsche Volk" in der Bundesrepublik Deutschland durch zunehmende Immigrationsbewegungen Nichtdeutscher gegen eine ausländische Bevölkerung ausgetauscht werde. In diesem Zusammenhang ist auch von einem "Genozid aus niedrigen Beweggründen" (Kellershohn 2016: 289) die Rede. Stillschweigend vorausgesetzt wird hierbei die Existenz eines ethnisch definierten Nationalstaats, der das natürliche Areal einer Nation darstellt. Dieses Konzept, nach dem also in Deutschland v.a. Deutsche zu wohnen haben bzw. nach dem Deutschland den Deutschen gehöre, ist mit der politischen und gesellschaftlichen Realität freilich nicht in Einklang zu bringen.

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In ähnlicher Weise funktioniert die Vokabel Ethnosuizid: Hier wird davon ausgegangen, dass das deutsche Volk selbst aktiv seinen Untergang bzw. mindestens seine kulturelle Vernichtung plant. Anklänge an das Wort Ethnozid (Handlungen, die auf die kulturelle Vernichtung eines Volkes durch erzwungene Assimilation hinauslaufen) und an Genozid (Völkermord) liegen auf der Hand. Zumindest implizit wird durch diese Wortwahl eine Gleichsetzung von Holocaust (Genozid am jüdischen Volk) und der angeblichen Vernichtung des deutschen Volkes suggeriert. Dass mit dieser Gleichsetzung zwangsläufig auch eine Verharmlosung des Holocausts einhergeht, ist ein Effekt, der zumindest billigend in Kauf genommen wird.

In eine ähnliche Richtung weist der Ausdruck Islamisierung, wenn er zum Beispiel vonseiten der AfD in Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise gebraucht wird: Mit diesem Ausdruck wird suggeriert, dass es eine fortschreitende aktiv betriebene Ausbreitung des Islams oder sogar des Islamismus in das "christliche Abendland" gebe. Mithin wird behauptet, dass Deutschland zunehmend Opfer eines Religionskrieges werde, in dem es der Gegner darauf anlege, die zentralen christlichen Werte zugunsten islamisch-fundamentalistischer Werte zu untergraben. Dieser Prozess hängt eng mit der behaupteten "Umvolkung" zusammen und erscheint als deren notwendige Folge. Ebenfalls wird mit diesem Ausdruck eine tolerante Sicht auf den Islam kritisiert: So wird gleichzeitig "die Politik der etablierten Parteien angegriffen und ein angeblicher Werteverfall der westlich-europäischen Gesellschaften angeprangert" (Kerst 2016: 144).

Dies zeigt sich beispielsweise, wenn André Poggenburg, Landesvorsitzender der AfD in Sachsen- Anhalt, eine Gleichsetzung von Islam und Islamismus zumindest suggeriert: "Jeder der weiterhin leugnet, dass der Islam in direkter Verbindung mit dem islamistischen Terror steht, macht sich mitschuldig an jedem weiteren Opfer" (https://www.alternativefuer.de/poggenburg-der-terror-ist- endgueltig-in-deutschland-angekommen/ (https://www.alternativefuer.de/poggenburg-der-terror-ist- endgueltig-in-deutschland-angekommen/); 23.01.2017).

Die häufig auf Demonstrationen von Pegida und AfD zu hörende Vokabel Lügenpresse hat eine lange Geschichte. Auch aufgrund dieser Geschichte wurde das Wort 2015 zum Unwort des Jahres gewählt (vgl. http://www.unwortdesjahres.net/index.php?id=35 (http://www.unwortdesjahres.net/index.php? id=35); 06.01.2017). Bereits während des 1. Weltkrieges wurde Lügenpresse verwendet und diente später insbesondere den Nationalsozialisten zur pauschalen Abqualifizierung unabhängiger Presseorgane. Insofern wurde mit dieser Vokabel keine rational begründbare Medienkritik betrieben, sondern eine pauschale Abqualifizierung mit gleichzeitiger Bedrohung ausgedrückt. Dies gilt auch für die heutige Zeit, in der der Vorwurf der Lügenpresse bzw. der Meinungsdiktatur meist mit Kommunikationsverweigerung einhergeht, mit der konsequenten Weigerung, den solcherart diffamierten Medien und ihren VertreterInnen überhaupt eine Chance zur Rechtfertigung oder Richtigstellung zu geben.

Versifftes links-rot-grünes 68er Deutschland – eine bloße Beschimpfung?

Der ursprünglich von dem rechtspopulistischen Schriftsteller Akif Pirincci benutzte und von Jörg Meuthen (AfD) auf einem Bundesparteitag der AfD aufgegriffene Ausdruck vom versifften links-rot- grünen 68er Deutschland (vgl. http://www.berliner-zeitung.de/24382588 (http://www.berliner- zeitung.de/24382588); 06.01.2016) scheint auf den ersten Blick eine bloße grobe metaphorische Beschimpfung zu sein, mithilfe derer auf die mangelnde Hygiene des politischen Gegners hingewiesen wird, die auf das gesamte Land übergegriffen habe. Macht man sich jedoch klar, dass mit diesem Ausdruck zumindest unterschwellig auf die Geschlechtskrankheit Syphilis angespielt wird (vgl. Duden 2015: 1919), dann erscheint diese Beschimpfung in einem anderen Licht. Denn Krankheits- oder auch Tiermetaphern im politischen Diskurs dienen der Abwertung des politischen Gegners, in ihrer extremen Form gar seiner Dehumanisierung. Beispielsweise nutzen die Nationalsozialisten Krankheitsmetaphern, um Menschen jüdischen Glaubens ihre Menschenwürde abzusprechen: Die Rede war dann z.B. von Parasiten (vgl. Schmitz-Berning 2007: 460 ff.), die den "deutschen Volkskörper" schädigten (vgl. Musolff

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2007). Der politische Gegner erscheint dann als Krankheitserreger oder Seuche. Aktionen gegen einen solchen Gegner gelten dann als Notwehr, als medizinisch gebotene Maßnahme zur Erhaltung der eigenen Gesundheit bzw. der des ganzen Volkes. Zwar lässt sich der Ausdruck vom versifften links- rot-grünen 68er Deutschland nicht mit dem NS-Sprachgebrauch identifizieren oder auf ihn direkt zurückführen. Jedoch deutet diese Form der verbalen Diffamierung auf einen aggressiven politischen Agitationsstil hin, der in erster Linie durch Freund-Feind-Schemata gekennzeichnet ist.

Völkisch – die versuchte Reanimation eines Wortes

Besonders deutlich im Bereich nationalsozialistischen Gedanken- und Wortguts bewegt sich Frauke Petry (AfD), wenn sie – scheinbar naiv – fordert, das Wort völkisch wieder salonfähig zu machen:

Petry erklärte weiter:

"Ich benutze diesen Begriff zwar selbst nicht, aber mir missfällt, dass er ständig nur in einem negativen Kontext benutzt wird." Sie habe ein Problem damit, "dass es bei der Ächtung des Begriffes 'völkisch’ nicht bleibt, sondern der negative Beigeschmack auf das Wort 'Volk’ ausgedehnt wird". Der Begriff "völkisch" sei letztlich "ein zugehöriges Attribut" zum Wort "Volk", sagte Petry.

(https://www.welt.de/politik/deutschland/article158049092/Petry-will-den-Begriff-voelkisch-positiv-besetzen. html (https://www.welt.de/politik/deutschland/article158049092/Petry-will-den-Begriff-voelkisch-positiv- besetzen.html); 06.01.2017)

Petrys Argumentation blendet dabei gezielt aus, dass zwar aus grammatischer Sicht das Adjektiv völkisch problemlos aus dem Substantiv Volk abgeleitet werden kann. Dabei wird jedoch ignoriert, dass es sich um eine Vokabel handelt, die historisch belastet ist, weil sie seit dem späten 19. Jahrhundert nationalistisch-chauvinistische Bestrebungen bezeichnet und von entsprechenden Gruppierungen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert teilweise auch als Fahnenwort verwendet wird. Später wird der Ausdruck auch von den Nationalsozialisten (im Sinne von: 'zum Volk als Rasse gehörend‘) verwendet. Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an das berühmte nationalsozialistische Kampfblatt "Völkischer Beobachter". Im Jahre 2007 betont Schmitz-Berning in ihrer Analyse des NS- Vokabulars, dass der Ausdruck "nur noch in historischer Verwendung" vorkommt (Schmitz-Berning 2007: 647). Und auch in der aktuellen Ausgabe des Duden-Wörterbuchs wird das Wort noch als "nationalsozialistisch" gekennzeichnet (vgl. Duden 2015: 1944).

Dass tatsächlich in bestimmten Kontexten auch das Wort Volk politisch negativ konnotiert sein kann, dürfte ebenfalls auf das überaus häufige Vorkommen in nationalsozialistischem Sprachgebrauch zurückzuführen sein. Dort wurde Volk emphatisch überhöht und in engem Zusammenhang zur sogenannten Rasse verstanden (vgl. Schmitz-Berning 2007: 642).

Bereits Victor Klemperer bemerkt in seiner Beschreibung der Lingua Tertii Imperii (Sprache des Dritten Reiches) dazu:

"Volk" wird jetzt beim Reden und Schreiben so oft verwandt wie Salz beim Essen, an alles gibt man ein Prise Volk: Volksfest, Volksgenosse, Volksgemeinschaft, volksnah, volksfremd, volksentstammt…

(Klemperer 1947/2007: 45)

Jemandem, dem aufgrund seines Geschichtsbewusstseins dieser von Klemperer beschriebene Sprachgebrauch bewusst ist, muss die Argumentation Petrys als gezielte Provokation deutlich werden, mit der insbesondere rechtsextremistische Kreise angesprochen werden sollen. RezipientInnen, denen dieses Geschichtsbewusstsein abgeht, werden den Gebrauch derartig belasteter Vokabeln

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 74 möglicherweise für unproblematisch halten.

Politiker als Volksverräter ?

Auch mit dem Kampfbegriff Volksverräter bemühen Populisten nationalsozialistisch kontaminiertes Wortmaterial. Das ist beispielsweise daran abzulesen, dass der Straftatbestand des Volksverrats (statt Landesverrat) erst in der Zeit des Nationalsozialismus eingeführt wurde (vgl. http://gfds.de/ volksverraeter-und-luegenpresse-die-pegida-und-ihre-woerter/ (http://gfds.de/volksverraeter-und-luegenpresse- die-pegida-und-ihre-woerter/); 25.01.2017). Das Wort Volksverräter wurde zum Unwort des Jahres 2016 erklärt (http://www.unwortdesjahres.net/fileadmin/unwort/download/pressemitteilung_unwort2016. pdf (http://www.unwortdesjahres.net/fileadmin/unwort/download/pressemitteilung_unwort2016.pdf); 25.01.2017). In der Begründung der Jury (ebd.) heißt es: "Der Wortbestandteil Volk, wie er auch in den im letzten Jahr in die öffentliche Diskussion gebrachten Wörtern völkisch oder Umvolkung gebraucht wird, steht dabei ähnlich wie im Nationalsozialismus nicht für das Staatsvolk als Ganzes, sondern für eine ethnische Kategorie, die Teile der Bevölkerung ausschließt." Weiterhin ist in dieser Vokabel die typisch populistische Argumentation schlagwortartig verdichtet, nach der Politiker es darauf anlegten, nicht als Interessenvertretung "des Volkes" zu agieren, sondern im Gegenteil dessen Interessen (zu ihrem eigenen Vorteil) zu verraten. Mit einer solch pauschalen Anschuldigung wird das für eine Demokratie essentielle Aushandeln divergierender Interessen nicht nur nicht befördert, sondern massiv erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht.

Wirkungsweise

Sämtlichen hier beschriebenen Wörtern kommt ein hohes provokatives Potenzial zu. Dies hängt damit zusammen, dass die Verwendung historisch belasteter Vokabeln – auch wenn sie in veränderter Bedeutung verwendet werden – in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit noch immer einem Tabubruch gleichkommt. Von Rechtspopulisten werden sie gezielt eingesetzt, um auch ein rechtsextremes Publikum anzusprechen, das einer rationalen, abgewogenen Argumentation vermutlich wenig abgewinnen würde. Insofern dient die Verwendung solchermaßen historisch belasteter Ausdrücke gleich mehreren Zwecken: Einerseits werden, wenn die ständige Wiederholung sanktionsfrei bleibt, die Grenzen des Sagbaren nach rechts verschoben: Denn – so schreibt bereits Victor Klemperer –: "Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da." (Klemperer 1947/2007: 26) Andererseits kann mit der Verwendung solcher Wörter mit Schlagwort-Status Zustimmungsbereitschaft bei einem Publikum evoziert werden, das eher außerhalb des demokratischen Spektrums verortet werden kann.

Literatur

• Schmitz-Berning, Cornelia (2007): Vokabular des Nationalsozialismus. 2. Auflage. Berlin: de Gruyter.

• Duden (2015): Deutsches Universalwörterbuch. 8. Auflage. Berlin: Dudenverlag.

• Kellershohn, Helmut (2016): Umvolkung. In: Gießelmann, Bente et al. (Hrsg.): Handwörterbuch rechtsextremer Kampfbegriffe. Wochenschau Verlag: Schwalbach/Ts., S. 282–297.

• Kerst, Benjamin (2016): Islamisierung. In: Gießelmann, Bente et al. (Hrsg.): Handwörterbuch rechtsextremer Kampfbegriffe. Wochenschau Verlag: Schwalbach/Ts., S. 144–161.

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• Klemperer, Victor: (1947/2007): LTI. Notizbuch eines Philologen. Stuttgart: Philipp Reclam.

• Musolff, Andreas (2007): What role do metaphors play in racial prejudice? The function of antisemitic imagery in Hitler's Mein Kampf. In: Patterns of Prejudice 41 (1), S. 21–43.

• Niehr, Thomas (2011): Politische Sprache und Sprachkritik. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, H. 3, S. 278–288.

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Der Begriff der Identität

Von Sascha Nicke 17.12.2018 Sascha Nicke ist Doktorand an der Universität Potsdam am Arbeitsbereich für Sozialgeschichte. In seiner Doktorarbeit forscht er zu Konstruktion von Identität und Veränderungsprozesse in der Identitätsbildung und -entwicklung von Menschen.

Wie bilden sich in modernen Gesellschaften Identitäten heraus? Idealtypisch gesprochen müssen sie entweder permanent gebildet werden – oder aber es gibt einen festen unveränderlichen Wesenskern im Menschen. Wie sieht der rechtspopulistische Identitätsbegriff aust? Und wieso ist er derzeit so erfolgreich?

Wird Identität prozesshaft konstituiert oder gibt es einen substantiellen unveränderlichen Wesenskern, der die Identität ausmacht? (© picture-alliance)

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 77 Einleitung

An das "Ende der Geschichte" und den "Sieg" des demokratischen Systems, wie vor mehr als zwei Jahrzehnten bereits verkündet wurde,[1] glaubt gegenwärtig niemand mehr. Ganz im Gegenteil scheinen die demokratischen Gesellschaften selbst zunehmend unter Druck zu geraten. Konstatiert wird eine Krise der Repräsentation durch das Erstarken des (Rechts)Populismus.[2] Der Aufstieg und Erfolg rechtspopulistischer[3] Kräfte sorgen dafür, dass Werte, Umgangs- und Lebensformen, die das demokratische Prinzip von Pluralität, Heterogenität und Toleranz bzw. Akzeptanz im Umgang miteinander vergegenwärtigen, erneut in Frage gestellt werden.[4] Rechtspopulistisches Agieren ist dabei eng mit dem Begriff der Identität verbunden. Wie definieren und nutzen Rechtspopulisten den Begriff Identität? Welche Wirkungen resultieren daraus?

Ideengeschichtliche Bandbreite

Der Begriff Identität ist relativ jung. Er findet zwar schon in einigen Lexika des frühen 19. Jahrhunderts bei der Erklärung von Wörtern wie Derselbe oder Einerley Verwendung[5], als eigenständiger Ausdruck wird er dort jedoch erst zum Ende des 19. Jahrhunderts geführt und charakterisiert als "philos [ophisches] Kunstwort", das aus dem Neulateinischen abgeleitet für "Einerleiheit"[6] oder "Wesenseinheit"[7] steht. In dieser Wortbedeutung der Gleichheit von zwei oder mehreren Dingen findet sich der Begriff jedoch schon in der antiken Philosophie in Form seines griechischen Ursprunges autos, to auton[8] sowie im theologischen Diskurs des Mittelalters im lateinischen Begriff identitas oder idem.[9]

Durch die von Rene Descartes entwickelte Erkenntnistheorie erfuhr die Identitätstheorie für das neuzeitliche Verständnis eine wesentliche Prägung. Mit seiner Definition der Substanz als etwas dauerhaft Seiendes, das in jedem Ding als Träger seiner Eigenschaften fungiert, bereitet er die Grundlage einer substantiellen Identitätskonzeption. Denn daraus leitet sich ab, dass jeder Mensch zeitlebens über einen ihm inhärenten, d.h. innewohnenden Wesenskern verfügt, in dem alle Grundzüge seiner selbst verankert seien. Die äußere Erscheinungsform, das Verhalten, sei demnach immer identisch mit dem inneren Wesenskern des Menschen.[10] Trotz zahlreicher Kritiken und alternativen Konzepten nimmt dieser "cartesiansche Substanzgedanke" innerhalb der Identitätstheorie bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts eine herausragende Position ein.[11]

Erst ab diesem Zeitpunkt etablierte sich eine alternative Vorstellung innerhalb der Wissenschaften. Ausgehend von Sigmund Freuds Konzept der Identifizierung als psychischem Mechanismus verbreitet sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit dessen Popularisierung auch die Idee einer prozesshaften Identität.[12] Für die endgültige wissenschaftliche Anerkennung sorgte dann das vom Psychoanalytiker Erik H. Erikson publizierte Werk "Kindheit und Gesellschaft" ("Childhood and Society") im Jahr 1950, in dem die Identitätsbildung als Folge eines achtstufigen Phasenmodells der psychosozialen Entwicklung entworfen wird. Ich-Identität ist bei Erikson das Gefühl, ein zusammengehöriges Ganzes zu sein. Dieses Gefühl ist nicht statisch, sondern muss durch das Ich als Prozess, der Wirklichkeit verarbeitet, permanent hergestellt werden.[13] Nach Erikson erfährt der Identitätsbegriff eine wissenschaftliche Konjunktur, die zu einer enormen Ausweitung seiner Verwendungsweisen führt. So findet man ihn charakterisiert als Synonym für den Sinn des Lebens oder den Subjektbegriff, als Äquivalent der Seele, Nation oder Kultur oder als Kollektiveinheit von Gruppierungen.[14] Die Vorstellung einer prozesshaften Konzeption von Identität etabliert sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und ist schließlich in der sogenannten Postmoderne konzeptionell um die Erkenntnis eines multiplen Charakters und der permanenten Wandelbarkeit erweitert worden.[15]

Grundsätzlich lassen sich in der ideengeschichtlichen Begriffsrekonstruktion also zwei identitätstheoretische Grundauffassungen feststellen: Substanz und Prozess. Welche von beiden Vorstellungen ist nun in unseren heutigen Gesellschaften vorzufinden?

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 78 Gegenwartsdiagnose: theoretische Konzepte von Identität

Ein prozesshaftes Verständnis der Identität scheint geeigneter zu sein, um die zeitgenössischen Gesellschaften und deren Akteure zu erklären, als es der Gegenentwurf einer substantiellen Identitätsdefinition vermag. Diese Vermutung stützen die Entwicklungen in den identitätsthematischen Forschungsbereichen der letzten Jahrzehnte. Um sich die Gründe dafür vergegenwärtigen zu können, muss zuerst einmal erläutert werden, wie Identität in einem prozesshaften Konzept konstituiert werden kann.[16]

Wenn Identität nicht eine feste, gegebene Entität sein soll, muss sie permanent gebildet werden. Weil dabei das Umfeld als Produktionsstätte der potentiellen Identitätskategorien fungiert, in dem durch Normen, Rollenmuster, Praktiken, Gesetzlichkeiten, Sprache usw. die potentiellen Identitätskategorien überhaupt erst geformt werden,[17] vollzieht sich die Herstellung der Identität im Spannungsfeld der Selbstwahrnehmung eines Individuums[18] und den sozio-kulturellen Denkweisen und Kategorien seines Umfeldes. Im Individuum selbst findet dann ein zweifacher Prozess statt: einerseits ist das die selbstständige Inkorporation aller außerhalb des Körpers getätigten Erfahrungen und Eindrücke, die im Gedächtnis als Wissensbestand gespeichert werden. Andererseits werden durch die individuelle Verarbeitung der sowohl extrinsischen Eindrücke und Zuschreibungen als auch der intrinsischen Wahrnehmungen situative Verhaltensweisen produziert. Sie werden in Abhängigkeit der sozialen Anforderungen, des Erfahrungswissens und der Selbstbilder angewandt.[19] Aufgrund der Fähigkeit zur Selbstreflexion vermag es der Mensch zudem, seine eigenen Handlungen zu beobachten und dementsprechend seine Erwartungshaltungen anzupassen sowie langfristige Selbstbilder, Wertvorstellungen und Ziele zu entwickeln.[20]

Prozesshafte Identität wird also in der Begriffstheorie als eine temporäre, vielfältige und relative Erscheinungsform verstanden, die im Verhältnis zur situativen Umwelt, den eigenen Selbstbildern und Moralvorstellungen, den sozio-kulturellen Denkweisen und Verhaltensnormen gebildet wird. Der Vorteil eines solchen Begriffsverständnisses besteht darin, dass die zeitgenössischen komplexen und vielschichtigen gesellschaftlichen Wirklichkeiten berücksichtigt und die Vielheit an individuellen Ichformen im Einzelnen erklärt werden können. Im Zentrum der Betrachtung stehen nicht stereotype und allgemeine Erklärungsmuster, die sich an zentralen Kategorien wie Nationalität, Milieu, Geschlecht usw. orientieren. Der Blick wird auf die feingliedrige, individuelle Konstellation gerichtet. Mithilfe einer prozesshaften Identitätskonzeption kann ein verständliches Erklärungsmodell entwickelt werden, das für das Spannungsfeld individueller Selbstbestimmung und struktureller Wirkmächtigkeit in der Identitätsausbildung eine hybride Lösungsmöglichkeit bietet. Denn in einem Zeitalter, in dem der Einzelne permanent mit Entscheidungssituationen konfrontiert wird,[21] erscheint die Vorstellung einer zumindest teilweisen selbstbestimmten Handlungsfähigkeit innerhalb spezifischer Denk- und Handlungsformen plausibler als Ansätze, die ein deterministisches Menschenbild vermitteln und von festen Identitätsformen ausgehen. Der Nachteil einer prozesshaft konzipierten Identität besteht in ihrer Relativität, die die Funktionalität von Identität vermindert. Wenn identitäre Erscheinungsformen im Verhältnis zur Situation, personellen Konstellation usw. variieren und vielschichtige, unterschiedliche Ichvarianten jeweils gebildet werden, dann reduzieren sich langfristige und dauerhafte Orientierungsmuster als potentielle Identitätskategorien für den Einzelnen. Zwar lassen sich auch mittel- bzw. langfristige Merkmale wie Wertvorstellungen bilden, die dem Ich als Leitlinien in seinen Selbstbildern und Verhaltensweisen dienen. Einen "sicheren" festen Platz in der Welt bzw. einen dauerhaft geltenden individuellen Lebenssinn vermitteln diese jedoch nur selten. Genau an dieser Schwachstelle von prozesshaft konzipierten Identitätsmodellen setzt der rechtspopulistische Identitätsentwurf an.

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 79 Identitätsvorstellungen im politischen Meinungsstreit: Analyse des rechtspopulistischen Identitätsbegriffes

Die Grundmaxime in rechtspopulistischen Identitätsvorstellungen[22] bildet die Annahme eines substantiellen Wesenskernes. Jeder Mensch sei durch seine nationale Zugehörigkeit bestimmt, die nicht im Verständnis der Staatszugehörigkeit definiert wird, die potentiell auch wechselbar wäre, sondern die aus der Abstammung resultiert.[23] Ein "kulturelles Erbe", "genuine Traditionen", die "historische Vergangenheit" und die Sprache kreierten einen "spezifischen Volkscharakter", der eng mit einem gewissen geographischen Lebensraum verbunden sei und der qua Geburt übertragen würde.[24] Jeder Einzelne wird in dieser Lesart also mit seiner Geburt ein Mitglied in einer schicksalsbestimmten Gemeinschaft und erhält dadurch eine spezifische, aus der Historie und Tradition gewachsene Wesenheit.[25] Der Mensch wird in dieser Perspektive auf diese Wesenheit reduziert, mögliche Unterschiede zwischen den Einzelnen nivelliert. Es wird von etwas genuin Eigenem ausgegangen, was jede Nation bzw. jedes Volk ausmacht und was nur in Form einer (Blut-) Abstammung übertragbar sei.[26]

Der Vorteil einer solchen substantiell bestimmten Identitätsvorstellung besteht in der Homogenisierung der komplexen und heterogenen Gesellschaftszustände in die Kategorien des "Eigenen" und des "Anderen". Die vielschichtigen Lebenswelten und Subkulturen, die große Anzahl an Individuen und Subkollektiven, die sich innerhalb einer Gesellschaft befinden, werden ausgeblendet und in einem einzigen nationalen-völkischen Kollektiv subsumiert. Dem Einzelnen wird somit eine überschaubare Welt suggeriert, in der sein (Lebens-)Sinn determiniert ist. Denn das "Eigene" muss erhalten und vor dem Verfall durch den Einfluss von "Fremden" sowie "Feinden" beschützt und verteidigt werden.[27] Sei es "der Multikulturalismus"[28], die "Gender-Forschung"[29], die "Betonung der Individualität"[30] oder die "Masseneinwanderung und Islamisierung"[31], Feindbilder und Abgrenzungsmöglichkeiten finden sich zuhauf. Diese dienen zusätzlich dazu, die Homogenisierung des "Eigenen" zu verstärken. Denn anhand derer lassen sich alternative Lebensweisen und Wertvorstellungen ausgrenzen, indem eine simplifizierte Welt entworfen wird, in der es nur ein "Richtiges" gibt, der Einzelne im Kollektiv aufgeht und der Rest als "Fremdes", "Feind" oder "Falsches" stigmatisiert wird.[32]

Der Identitätsbegriff fungiert im rechtspopulistischen Vokabular also häufig als Vermittler einer völkisch- nationalistischen Ideologie, in der eine klare und eindeutige Lebenswelt entworfen wird. In dieser Lebenswelt sind die individuellen Rollen und Aufgaben sowie der Lebenssinn eines Einzelnen fest bestimmt. Prinzipien der Homogenisierung, Exklusion und Simplifizierung werden – mitunter im Zusammenhang mit einem rassistischen Weltbild – unter dem Begriff der Identität verborgen. Als Legitimationsrekurs dient eine Vergangenheit, die als "pseudotraditionelle"[33] Welt selbst entworfen wird.

Literaturverzeichnis

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• Zirfas, Jörg. Identität in der Moderne. Eine Einleitung. In: ders. und Benjamin Jörissen (Hrsg.). Schlüsselwerke der Identitätsforschung. Wiesbaden 2010.

Fußnoten

1. Verwiesen wird auf das berühmte Werk von Francis Fukuyama mit seiner geschichtsphilosophischen Euphorie: Fukuyama, Francis. The end of history and the last man. New Edition. New York [zuerst 1992] 2006. 2. Siehe dazu alle Beitrage auf: http://www.bpb.de/apuz/234693/repraesentation-in-der-krise (http:// www.bpb.de/apuz/234693/repraesentation-in-der-krise) (19.01.2017, 12:10Uhr). 3. Darunter verstehe ich die politischen Kräfte, die sich in einer vereinfachenderen Darstellung der

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Gegenwart als Stimme "des Volkes" generieren, traditionelle Lebensformen als Ideal glorifizieren und permanent auf Feindbilder verweisen, die das "Eigene" bedrohten. Siehe auch: Decker, Frank/ Lewandowsky, Marcel. Rechtspopulismus: Erscheinungsformen, Ursachen und Gegenstrategien. 4. Die Ursachen für das Erstarken rechtspopulistischer Kräfte sind derweil mannigfaltig, sei es die Globalisierung, Flexibilisierung der Arbeitswelt, Digitalisierung usw., es finden sich viele Gründe. Für eine ausführlichere Darstellung siehe: Zirfas, Jörg. Identität in der Moderne. Eine Einleitung. In: ders. und Benjamin Jörissen (Hrsg.). Schlüsselwerke der Identitätsforschung. Wiesbaden 2010. S. 9-17. Hier. S. 10ff. Oder: Alkemeyer, Thomas/ Budde, Gunilla/ Freist, Dagmar. Einleitung. In: dies. (Hrsg.). Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung. Bielefeld 2013. S. 9-30. Hier. S. 11f. 5. Vgl. Adelung, Johann Christoph. Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. Wien 1811. Sp. 1466 u. 1693f. 6. Meyers Konversationslexikon. 4. Auflage. 8. Bd. Leipzig/ Wien 1885-1892. S. 875. 7. F. A. Brockhaus. 14. Auflage. 9. Bd. Leipzig/ Berlin/ Wien 1894-1896. S. 512. 8. Vgl. Zirfas, Identität in der Moderne…, a.a.O., S. 11. Zum Beispiel in Platons Theorie des Erkennens, für ausführliche Darstellungen siehe: Schmitt, Arbogast. Denken und Sein bei Platon und Descartes. Kritisches Anmerkungen zur >Überwindung< der antiken Seinsphilosophie durch die moderne Philosophie des Subjekts. Heidelberg 2011. S. 24ff. 9. Vgl. Groebner, Valentin. Ich-Plakate. Eine Geschichte des Gesichts als Aufmerksamkeitsmaschine. Frankfurt/Main 2015. S. 28ff. Der identitas-Begriff wird in der Bedeutung eines gleich-seiendes u. a. im Zuge der Fragen um die Dreieinigkeit Gottes benutzt. Vgl. ebenda. 10. Vgl. Schmitt, Denken und Sein…, a.a.O., S. 26f u. 60ff. 11. Vgl. Kaufmann, Jean-Claude. Die Erfindung des Ich. Eine Theorie der Identität. Konstanz 2005. S. 24ff. 12. Vgl. Schulte, Philipp. Identität als Experiment. Ich-Performanzen auf der Gegenwartsbühne. Frankfurt/Main 2011. S. 36f. 13. Vgl. Kaufmann, Die Erfindung…, a.a.O., S. 28ff. Sowie: Wißmann, Torsten. Raum zur Identitätskonstruktion des Eigenen. Stuttgart 2011. S. 48ff. 14. Vgl. Kaufmann, Die Erfindung…, a.a.O., S.34ff. 15. Vgl. Wißmann, Raum zur…, a.a.O., S. 45. 16. Es gibt eine Vielzahl an verschiedenen Identitätskonzepten, die auf einem prozesshaften Konstruktionsprozess basieren. So wird Identität zum Beispiel "als (kognitives) Selbstbild, als habituelle Prägung, als soziale Rolle oder Zuschreibung, als performative Leistung, als konstruierte Erzählung"(Zirfas, Identität in der Moderne…, a.a.O., S. 9) verstanden. In der folgenden Skizze geht es mir jedoch nicht darum, die unterschiedlichen prozesshaften Identitätsdefinitionen zu veranschaulichen, sondern es soll ein theoretischer Konstruktionsprozess vereinfachend dargestellt werden. Dabei entwerfe ich ein Beispiel von vielen möglichen. 17. Vgl. Butler, Judith. Das Unbehagen der Geschlechter. Gender Studies. Übers. von Katharina Menke. 17. Auflage. Frankfurt/Main [zuerst 1991] 2014. S.16f. 18. Den Individuumsbegriff gilt es dabei als ein Produktionszentrum von Identität zu verstehen, der in einem zweigliedrigem Prozess für die permanente Herstellung von Selbstbewusstsein und Selbstbildern sorgt. Siehe auch: Reckwitz, Andreas. Subjekt. 2., unver. Auflage. Bielefeld 2010. S. 17ff. 19. Vgl. Kaufmann, Die Erfindung…, a.a.O., S. 59. 20. Vgl. Butler, Judith. Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Übers. von Karin Wördemann. Frankfurt/Main 1995. S. 153ff. 21. Vgl. Abels, Heinz. Identität. Über die Entstehung des Gedankens, dass der Mensch ein Individuum ist, den nicht leicht zu verwirklichenden Anspruch auf Individualität und die Tatsache, dass Identität in Zeiten der Individualisierung von der Hand in den Mund lebt. Wiesbaden 2006. S. 242f. 22. Als Grundlage der Analyse rechtspopulistischer Identitätsvorstellungen dient das Grundsatzprogramm der AfD (im folgenden mit GAfD abgekürzt) sowie die Selbstdarstellung der Identitären Bewegung auf deren Webseite (http://www.identitaere-bewegung.de/idee-tat/ 14.12.2016, 15:25Uhr) (im folgenden mit IB abgekürzt). Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf dem Grundsatzprogramm der AfD, weil es in seiner Schriftform inklusive Seiten- und Zeilenangabe für

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dezidierte Quellenverweise geeignet ist, was bei der Webseitendarstellung der Identitären Bewegung weniger der Fall ist. 23. Oft verbunden mit dem Volksbegriff. Vgl. GAfD, S. 6, Spalte 2, Zeile 16-20, S. 47, Spalte 2, Zeile 8-11, S. 65, Spalte 1, Zeile 17-24. Sowie: IB, Unterpunkt Idee & Tat, Zeile 8-16. 24. Vgl. GAfD, S. 6, Spalte 2, Zeile 15-16; S. 47, Spalte 1, Zeile 10-28. Sowie: IB, Unterpunkt Idee & Tat, Zeile 8-11. 25. Im Grundsatzprogramm der AfD wird schlussendlich eine Auflösung des Einzelnen im ganzen Volk als Ziel nahegelegt, denn Individualität wird als Feindbild bezeichnet, "die historisch-kulturelle Identität unserer Nation" (GAfD, S. 2, Zeile 1-4) beschworen und das Volk als einheitliche Erscheinungsform dargestellt. Vgl. GAfD, S. 27, Zeile 13-15 u. S. 2, Zeile 1-4. Diese Grundtendenzen lassen zumindest eine inhaltliche Nähe zur "Völkischen Bewegung" sowie NS- Ideologen a la Alfred Rosenberg oder Alfred Bäumler erahnen. Vgl. Steizinger, Johannes. Politik versus Moral. Alfred Baeumlers Versuch einer philosophischen Interpretation des Nationalsozialismus. In: Werner Konitzer und David Palme (Hrsg.). "Arbeit", "Volk", "Gemeinschaft". Ethik und Ethiken im Nationalsozialismus. Jahrbuch 2016 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust des Fritz Bauer Institutes. Frankfurt/Main/ New York 2016. S. 29-48. 26. Vgl. GAfD, S. 59, Spalte 2, Zeile 11-13 u. S. 65, Spalte 2, Zeile 4-11. 27. Vgl. IB, Unterpunkt Idee & Tat, Zeile 4-11 u. 17-19 28. GAfD, S. 47, Spalte 1, Zeile 10-28. 29. GAfD, S. 41, Spalte 1, Zeile 7-10. 30. Ebenda. 31. IB, Unterpunkt Idee & Tat, Zeile 6. 32. Vgl. GAfD, S. 41, Spalte 1, Zeile 1-10 u. Zeile 17-19 u. S. 59, Spalte 2, Zeile 11-13. Oder: IB, Unterpunkt Idee & Tat, Zeile 4-7 u. 12-17. 33. Mit dem Begriff des Pseudotraditionalismus wird auf den von Georges Balandier beschrieben Mechanismus der Vergangenheitsmanipulation verwiesen,(Vgl. Balandier, Georges. Politische Anthropologie. 2., durchges. u. erw. Auflage. Übers. von Friedrich Griese. München [zuerst 1967] 1972. S. 187ff.), der hier angewandt wird: GAfD, S.1, Z. 21-27, S. 32 Zeile, 12-23 u. S. 33, Zeile 9-12.

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Pegida – eine Protestbewegung zwischen Ängsten und Ressentiments (II)

Von Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber 17.2.2016 Dipl.-Pol., Dipl.-Soz., Jg. 1963, ist hauptamtlich Lehrender an der Fachhochschule des Bundes in Brühl mit den Schwerpunkten Extremismus und Ideengeschichte, Lehrbeauftragter an der Universität zu Bonn mit dem Schwerpunkt Politische Theorie und Herausgeber des seit 2008 erscheinenden Jahrbuchs für Extremismus- und Terrorismusforschung (Brühl).

Der diffuse Protest der Pegida-Bewegung gegen die politische Elite hat sich weiter radikalisiert. Bis zu 25.000 Menschen konnte die Bewegung im Jahr 2015 zeitweilig in Dresden mobilisieren, bis Dezember sank die Zahl der Teilnehmer aber wieder auf 6.000. Die "Montagsspaziergänge" dienen der Artikulation von Ressentiments und dem Ausleben von Stimmungen der Teilnehmer. Armin Pfahl-Traughber meint aber, dass derartige Handlungsformen mit der Zeit ausgereizt sind und ihre Attraktivität verlieren.

Anhänger der islamkritischen Bewegung Bagida (Bayern gegen die Islamisierung des Abendlandes) nehmen am 11.01.2016 in München (Bayern) an einer Demonstration teil. Bagida ist ein regionaler Ableger der islamkritischen Pegida-Bewegung (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes). (© picture-alliance/dpa)

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 84 Die Entwicklung zwischen Aufstieg, Niedergang und Renaissance

Seit dem 20. Oktober 2014 demonstrieren in Dresden meist an Montagen die Anhänger einer Bewegung, die sich "Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" (PEGIDA) nennt. Dabei versammelten sich zeitweise um die 25.000 Demonstranten. Auf Plakaten konnte man Slogans wie "Gewaltfrei & vereint gegen Glaubenskriege auf deutschem Boden" oder "Gegen religiösen Fanatismus und jede Art von Radikalismus. Gemeinsam ohne Gewalt" lesen. Gleichwohl gingen die "Montagsspaziergänge" – so die Eigenbezeichnung von Pegida – mit fremdenfeindlichen Parolen und Stimmungen einher. Darüber hinaus richteten sich Aversionen und Hetze ebenso gegen Medien und Politik. Die folgende Darstellung und Erörterung betrachtet die Entwicklung von Pegida 2015 zwischen Aufstieg, Niedergang und Renaissance. Dabei muss auch das Problem der Verallgemeinerbarkeit hervorgehoben werden: An Demonstrationen nehmen ganz unterschiedliche Personen teil. Pauschale Aussagen stehen daher immer unter Vorbehalt.

Bedeutung und Positionen von Lutz Bachmann

Da Lutz Bachmann als Organisator aufgrund von Skandalen einen Rücktritt angeboten hatte, er aber seine Funktion beibehielt und somit eine Stärkung erfuhr, scheint er von herausragender Bedeutung zu sein. Anlässlich der Pegida-Veranstaltungen emotionalisierte Bachmann zwar mit fremdenfeindlicher Ausrichtung, unterließ aber klare Bekenntnisse zum Selbstverständnis. Er distanzierte sich auf Nachfrage stets von Ausländerfeindlichkeit und Rassismus. Der Blick auf frühere Facebook-Einträge von ihm machte indessen das Gegenteil deutlich. Bachmann hatte dort Migranten als "Dreckspack", "Gelumpe" und "Viehzeug" tituliert. Dies belegte eine Auffassung, die seine Kritiker zuvor nur vermuten konnten. Es handelte sich auch nicht um einen "Ausreißer", verschärfte Bachmann doch im Laufe des Jahres 2015 den Tonfall. Nachdem angesichts einer Anschlagsdrohung in München der dortige Hauptbahnhof in der Sylvesternacht geschlossen wurde, twitterte er "RefugISISnotWelcome" – und erklärte damit alle Flüchtlinge zu Terroristen.

Radikalisierung der Positionen von Rednern

Ganz allgemein lässt sich eine Radikalisierung der Positionen und Stimmungen auch und gerade von Bachmann konstatieren. Am 29. September 2015 erklärte er, die Asylbewerber würden "raubend, teilweise vergewaltigend, stehlend und prügelnd unsere Städte bereichern". Man könne über das nicht reden, sondern müsse "als systemkritische Bewegung wieder wie 1989 mit Verfolgungen und Verhaftungen durch das totalitäre Regime rechnen" (FAZ, 30.9. 2015). Ähnlich äußerte sich ein bekannter Gastredner: Der Buchautor Akif Pirincci hatte am 19. Oktober 2015 davon gesprochen, dass Deutschland zur "Moslemmüllhalde" werde. Die Gegner einer "pathologisch-masochistischen Willkommenskultur und Multikulti-Scheiße" würden von den Politikern unterdrückt. Denn, so mit bedauerndem Ton zu deren geplantem Umgang mit dem Volk, die "KZs sind ja leider derzeit außer Betrieb" (taz, 21.10.2015). Auch wenn sich Bachmann später von dieser Aussage distanzierte, hatte er mit der Gleichsetzung der Regierungspolitik mit einem "totalitären Regime" selbst nichts anderes gesagt.

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 85 Radikalisierung der Stimmung bei den Teilnehmern

Derartigen Aussagen auf dem Podium entsprach auch eine Radikalisierung der Stimmung bei den Teilnehmern. Insbesondere Bundeskanzlerin wurde aufgrund ihrer Flüchtlingspolitik zu einem Hass-Objekt der Pegida-Demonstranten, wofür aggressive und hasserfüllte Rufe wie "Merkel muss weg!" standen. Es gab auch Angriffe aus den Demonstrationen heraus auf Journalisten, die mit der Faust ins Gesicht geschlagen wurden. Derartige Ereignissen können nicht allen Pegida- Demonstranten zugeschrieben werden. Gleichwohl stehen sie für eine Änderung des Klimas bei den "Montagsspaziergängen". Ähnlich verhält es sich mit einem Aufruf zur Lynch-Justiz, der von einem Demonstranten auf einem selbstgebastelten Galgen formuliert wurde. Darauf stand auf Schildern neben zwei Stricken "Reserviert Siegmar (sic!) 'Das Pack' Gabriel" und "Reserviert Angela 'Mutti' Merkel". Zwar handelte es sich hier um eine Einzelaktion. Der Galgen konnte indessen ungehindert von anderen Pegida-Teilnehmern öffentlich präsentiert werden.

Radikalisierung durch Gewaltaufrufe und -taten

Und schließlich sprechen auch Gewaltaufrufe und -taten für eine Radikalisierung von Pegida. Dabei muss aber zunächst konstatiert werden, dass sich deren Führung von derartigen Handlungen öffentlich distanziert. Gleichwohl äußerte Tatjana Festerling, die für Pegida bei den Oberbürgermeister-Wahlen in Dresden 2015 immerhin 9,6 Prozent der Stimmen erhielt, in einer Rede beim Ableger Legida in Leipzig am 11. Januar 2016: "Wenn die Mehrheit der Bürger noch klar bei Verstand wäre, dann würden sie zu Mistgabeln greifen und diese volksverratenden, volksverhetzenden Eliten aus den Parlamenten, aus den Gerichten, aus den Kirchen und aus den Pressehäusern prügeln" (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. Januar 2016, S. 13). Auch wenn diese Aufforderung mehr symbolischer Natur gewesen sein sollte, so kann die Folge sehr wohl in einer Aufhetzung zu derartigen Handlungen bestehen. Gewaltakte von Pegida-Demonstranten gegen Journalisten hatten sich ohnehin gehäuft, 2015 kam es in mindestens 49 Fälle zu Schlägen oder Tritten gegen Reporter oder Kameraleute.

Entwicklung der Teilnehmerzahlen

Für eine Protestbewegung, die auf der Straße präsent sein will, sind die Teilnehmerzahlen wichtig. Es ist aber gar nicht so einfach, derartige Angaben zu ermitteln. Meist gibt es (auch bei anderen Demonstrationen) eine erhebliche Differenz zwischen den Nennungen der Polizei und der Veranstalter. Bei Pegida kam 2015 hinzu, dass zunächst eine Forschergruppe um Dieter Rucht und danach eine Studentengruppe namens "durchgezählt" die Angaben der Polizei für zu hoch einschätzte. Für bestimmte Demonstrationstage veröffentlichte dann die Polizei selbst keine Zahlen mehr. Insofern können sich die folgenden Angaben nur auf Schätzungen mal aus dem einen, mal aus dem anderen Bereich stützen. Demnach war am 12. Januar 2015 ein Höhepunkt mit 25.000 erreicht, danach sanken die Angaben an den beiden folgenden Montagen auf 17.000. Bis zum 14. September bewegten sich Teilnehmerzahlen unter 5.000, stiegen danach aber wieder an mit einem erneuten Höhepunkt am 19. Oktober mit um die 17.500, um dann wieder bis zum Dezember 2015 auf 6.000 Teilnehmer zurückzugehen.

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 86 Externe Bedingungsfaktoren für die Entwicklung

Wie erklärt sich diese Entwicklung von Aufstieg, Niedergang, Renaissance und Niedergang? Dafür können externe und interne Bedingungsfaktoren unterschieden werden. Zu den Erstgenannten gehören Ereignisse außerhalb von Pegida, also in Gesellschaft und Politik, als Rahmenbedingungen: Der erwähnte erste Höhepunkt der Teilnehmerzahlen am 12. Januar 2015 war direkt nach den islamistischen Anschlägen in Paris und dem zweiten Höhepunkt der Teilnehmerzahlen am 19. Oktober ging ein anhaltend starker Anstieg der Flüchtlingsentwicklung voraus. Demnach führten derartige Ereignisse dazu, dass die "Montagsspaziergänge" von Pegida stärkeren Zulauf erhielten. Dabei handelt es sich aber nicht um einen Automatismus, denn nach den zweiten islamistischen Anschlägen in Paris am 13. November kam es nur zu einem leichten Anstieg der Teilnehmerzahlen. Dies deutet eine Mobilisierungskrise der Protestbewegung an. Gleichwohl können dramatische Ereignisse wie die genannten Fallbeispiele durchaus zu einer erneuten Renaissance führen.

Interne Bedingungsfaktoren für die Entwicklung

Mit internen Bedingungsfaktoren sind die Aktivitäten, die von der Führung von Pegida selbst ausgehen, gemeint. Deren Agitation in Form von Parolen und Symbolen entsprach realen Ängsten und Einstellungen von Menschen, hätten sie sich doch ansonsten nicht über einen längeren Zeitraum jeden Montag an den Veranstaltungen teilgenommen. Demnach gelang es, an das Alltagsbewusstsein der Protestierenden anzuknüpfen. Dies garantierte aber nicht allein und kontinuierlich eine Präsenz auf der Straße: Bereits Anfang Februar 2015 kam es zu einem starken Einbruch der Teilnehmerzahlen, was Folge eines internen Konfliktes in der Pegida-Führung war. Ein einmaliger Anstieg auf 10.000 Anwesende gelang dann erst wieder am 13. April, hatte man doch den bekannten islamfeindlichen Politiker Geert Wilders aus den Niederlanden als Gastredner gewinnen können. Gleichwohl kam es danach erneut zu einem Rückgang der Teilnehmerzahlen, konnten doch den Anhängern von Pegida durch deren Führung keine Perspektiven mehr für die Zukunft aufgezeigt werden.

Vorwurf der "völkischen Bewegung"

Bei der Berichterstattung und Kommentierung zu Pegida kam eine Einschätzung auf, die hier aufgrund ihrer großen Beachtung einer kritischen Prüfung unterzogen werden soll. Der FAZ-Redakteur Volker Zastrow schrieb einen Artikel mit dem Titel "Die neue völkische Bewegung" (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 29. November 2015), worin für die Demonstrationen von einer gewaltgeladenen Stimmung und von einem Hass auf Andersdenkende und Fremde die Rede war. Angesichts der erwähnten Radikalisierung in Positionen von Rednern und den Stimmungen von Teilnehmern lässt sich dem zustimmen. Gleichwohl ist Formulierung "neue völkische Bewegung" ideengeschichtlich schief. Denn die Bezeichnung identifiziert Pegida mit einem historischen Vorläufer des Nationalsozialismus, dem ein biologistisch geprägter Antisemitismus und Rassismus eigen war. Eine derartige ideologische Ausrichtung lässt sich für Pegida indessen nicht nachweisen. Insofern ist diese Kategorie ebenso unpassend wie die von den "Nazis in Nadelstreifen".

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 87 Frage des rechtsextremistischen Charakters

Es stellt sich aber die Frage, inwieweit von einem rechtsextremistischen Charakter von Pegida angesichts der Entwicklung 2015 gesprochen werden kann. Damit sind Auffassungen und Handlungen gegen die Grundlagen moderner Demokratie und offener Gesellschaft im Namen ethnischer Zugehörigkeit gemeint. Betrachtet man nur die allgemeinen Forderungen von Pegida, dann kann davon direkt nicht gesprochen werden. Auch gehören keine NPD-Mitglieder oder Neonazis dem Organisationsteam an. Der Blick auf Agitationsformen und –inhalte deutet indessen auf einen gesellschaftlichen (sozialen) Rechtsextremismus: Dies belegen die fremdenfeindlichen Einstellungen, die sowohl bei den Demonstranten wie bei den Redner ausgemacht werden können. Bachmanns private Bezeichnung von Migranten als "Dreckspack" und "Viehzeug" dokumentierte seine tatsächliche Gesinnung. Darüber hinaus gehen die Beleidigungen von Politikern in eine Delegitimation des Parlamentarismus über. Denn diese sind demokratisch legitimiert, die "Wir sind das Volk"-Rufer nicht.

Frage des rechtspopulistischen Charakters

Und dann stellt sich auch die Frage, ob von einem rechtspopulistischen Charakter von Pegida gesprochen werden kann. Eine Antwort setzt eine Definition voraus: Zum Populismus gehört erstens der Bezug auf das "Volk", das als Einheit verstanden wird, zweitens der Rekurs auf das Unmittelbare, womit eine Ausblendung von Komplexität und Vermittlung erfolgt, drittens die Anlehnung an den Alltagsdiskurs, also an real existierende diffuse Einstellungen und Vorurteile, und viertens die Bildung von konfrontativen Identitäten, die in einem "Wir" gegen "die Anderen" bestehen. Bei Pegida lassen sich diese Merkmale mustergültig ausmachen: Die Aktivisten behaupten erstens, mit der Parole "Wir sind das Volk" für das ganze Volk zu sprechen. Eine nähere Beschäftigung mit dem komplexen Migrationsthema findet zweitens nicht statt. Die Agitation bei den Demonstrationen greift drittens fremdenfeindliche Ressentiments auf. Und viertens lässt sich ein "Böse-Gut"-Dualismus konstatieren, einmal von "Ausländern" und "Deutschen", dann aber auch von "Regierung" und "Volk".

Niedergang der Ableger in anderen Städten

Nachdem in Dresden Pegida einen großen Zulauf erhielt, entstanden auch in anderen Städten in Deutschland, aber auch im Ausland ähnliche Ableger. Man benannte sich häufig nach dem jeweiligen Ort, also etwa "Bogida" für Bonn oder "Dügida" für Düsseldorf. Betrachtet man vergleichend die Entwicklung in Dresden mit der in diesen Städten, so fallen folgende Besonderheiten auf: Es handelte sich bei Pegida durchaus um eine Besonderheit in der sächsischen Hauptstadt, denn nirgendwo anders (mit einer eingeschränkten Ausnahme von Leipzig) konnte ein solcher Mobilisierungserfolg erzielt werden. Darüber hinaus standen den Ablegern in den anderen Städten jeweils mehr Gegendemonstranten gegenüber. Bei "Bogida" oder "Dügida" brachen die Teilnehmerzahlen immer mehr ein. Meist kamen sie nicht über eine geringe zweistellige Zahl hinaus. Und schließlich zeigte sich: Die Redner und Teilnehmer gehörten häufig zum organisierten Rechtsextremismus, sei es zu den "Identitären" oder "Pro Deutschland", sei es zur NPD oder Neonazi-Szene.

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 88 Ableger von Pegida in anderen europäischen Ländern

Der kontinuierliche Anstieg der Demonstrationsteilnehmerzahlen von Pegida in Dresden löste nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern jeweils Ableger und Nachahmer aus. Deren Agieren beschränkte sich auf die ersten Monate des Jahres 2015, konnte doch noch nicht einmal ansatzweise eine bedeutende Anzahl von Bürgern mobilisiert werden. Es blieb bei unter 500, womit diese Projekte als gescheitert gelten können. Der größte Mobilisierungserfolg gelang noch "Pegida Österreich", beteiligten sich doch am 2. Februar in Wien 300, am 8. Februar in Linz 150 und am 21. Februar erneut in Linz 100 Personen an deren Versammlung. In Oslo waren es am 12. Januar 200, in Kopenhagen am 19. Januar 200 und in Malmö am 9. Februar 150 Personen. In Newcastle kamen am 28. Februar 300 und in Antwerpen am 2. März 200 Teilnehmer zusammen. Die Anzahl der Gegendemonstranten war in allen Fällen mindest doppelt so groß, häufig sogar zehnfach stärker. Demnach konnte man auch auf dieser Ebene keinen Erfolg verbuchen.

Gemeinsamer Aktionstag für eine "Festung Europa"

Gleichwohl bemühte sich Pegida um eine europaweite Vernetzung. Ein öffentlicher Ausdruck dieser Entwicklung sollten Versammlungen am 6. Februar 2016 in verschiedenen europäischen Städten sein. Dafür mobilisierte ein Bündnis "Fortress Europe" ("Festung Europa"), das aber nur geringe Resonanz auslöste. Zwar kamen in Dresden knapp 8.000 Personen zusammen, erwartet hatte man aber die doppelte Zahl. In Prag versammelten sich 5.000 Menschen, obwohl Tschechien von der Flüchtlingsentwicklung kaum betroffen ist. In Amsterdam, Birmingham, Bratislava, Dublin, Graz und Talinn demonstrierten jeweils nur wenige hundert Menschen. Angesichts der Bedeutung der Flüchtlingsthematik für den öffentlichen Diskurs kann hier konstatiert werden, dass das Projekt einer Europäisierung von Pegida erneut gescheitert ist. Dabei gibt es in vielen Ländern ein Einstellungspotential, das den Auffassungen der fremdenfeindlichen Protestbewegung entspricht. Dies artikuliert sich aber offenkundig mehr zugunsten einschlägiger Parteien bei der Stimmabgabe.

Prognose: Niedergang durch Perspektivlosigkeit

Wie wird sich Pegida weiterentwickeln? Als Einschätzung soll hier ein Niedergang aufgrund von Perspektivlosigkeit prognostiziert werden. Zwar dürfte es Pegida angesichts von Ereignissen wie kriminellen Delikten von Migranten oder terroristischen Morden von Islamisten gelingen, bei Demonstrationen ihre Teilnehmerzahlen stark zu erhöhen. Dies wird aber nur phasenweise und vorübergehend so sein. Denn die "Montagsspaziergänge" haben für die Anwesenden eine Funktion, die in der Artikulation ihrer Ressentiments und dem Ausleben ihrer Stimmungen besteht. Gleichwohl ist die Attraktivität derartiger Handlungsformen mit der Zeit ausgereizt. Dann erodieren Bewegungen mitunter ins Nichts, sofern kein Auffangbecken zur Organisation vorhanden ist. Die Gründung einer "Pegida-Partei" hatte Bachmann zwar angedacht, aber mangels entsprechendem Engagement nicht als Projekt umgesetzt. Diese Funktion kommt dann eher der "Alternative für Deutschland" zu, denn dorthin dürften sich die Pegida-Anhänger als Mitglieder oder Wähler wenden.

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 89 Einschätzung in der Gesamtschau: Ressentimentbewegung

Wie lässt sich Pegida in der Gesamtschau einschätzen? Zunächst handelt es sich mit Blick auf die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland um eine von vielen Protestbewegungen. Während die meisten von den politischen Positionen her links eingeschätzt werden konnten, handelt es sich hier um eine rechts orientierte. Deren Auffassungen erfuhren im Laufe des Jahres 2015 eine erneute Radikalisierung, was eine fortgesetzte Deutung von Pegida als Ressentimentbewegung im Sinne des sozialen Rechtsextremismus motiviert. Mit dem politischen Rechtsextremismus, der sich in Form der NPD oder Neonazi-Szene organisiert, bestehen bei Pegida (im Unterschied zu deren Ablegern in anderen Städten) nur geringe Schnittmengen. Daher greifen ideenhistorisch schiefe Bezeichnungen wie "Nazis" oder "Völkische" nicht. Sie deuten die Gegenwart allzu sehr im Lichte der Vergangenheit. Denn Pegida ist auch Ausdruck einer ideologisch verzerrten Wahrnehmung von Gegenwartsproblemen in den Politikfeldern "Migration" und "Repräsentation".

• Pegida – eine Protestbewegung zwischen Ängsten und Ressentiments (I)

Literatur

Geiges, Lars/Marg, Stine/Walter, Franz: Pegida. Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft, Bielefeld 2015.

Jennerjahn, Miro: Sachsen als Entstehungsort der völkisch-rassistischen Bewegung PEGIDA, in: Braun, Stephan/Geisler, Alexander/Gerster, Martin (Hrsg.), Strategien der extremen Rechten. Hintergründe – Analysen – Antworten, 2. Auflage, Wiesbaden 2015, S. 533-558.

Pfahl-Traughber, Armin: Pegida als neue Protestbewegung von "rechts", in: Backes, Uwe/Gallus, Alexander/Jesse, Eckhard (Hrsg.): Jahrbuch Extremismus & Demokratie. Bd. 27, Baden-Baden 2015, S. 154-171.

Vorländer, Hans/Herold, Maik/Schälle, Steven: Was ist Pegida und warum?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. Oktober 2015, S. 6.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber für bpb.de

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 90

Pegida – eine Protestbewegung zwischen Ängsten und Ressentiments Eine Analyse aus der Sicht der Bewegungs-, Extremismus- und Sozialforschung

Von Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber 2.2.2015 Dipl.-Pol., Dipl.-Soz., Jg. 1963, ist hauptamtlich Lehrender an der Fachhochschule des Bundes in Brühl mit den Schwerpunkten Extremismus und Ideengeschichte, Lehrbeauftragter an der Universität zu Bonn mit dem Schwerpunkt Politische Theorie und Herausgeber des seit 2008 erscheinenden Jahrbuchs für Extremismus- und Terrorismusforschung (Brühl).

In der Pegida-Bewegung gegen die "Islamisierung des Abendlandes" artikuliert sich ein diffuser Protest gegen die politische Elite. Dabei dominiert aber nicht das differenzierte Argument, sondern die emotionale Pauschalisierung. Insofern handelt es sich auch um eine Ressentimentbewegung.

Pegida - eine "Ressentimentbewegung": Anhänger des islamkritischen Pegida-Bündnisses versammeln sich am 09.02.2015 vor der Frauenkirche in Dresden. (© picture-alliance, ZB)

Seit dem 20. Oktober 2014 demonstrieren in Dresden meist an Montagen die Anhänger einer Bewegung, die sich "Patrioten Europas gegen die Islamisierung des Abendlandes" (Pegida) nennt. Dabei versammelten sich zeitweise um die 25.000 Demonstranten. Auf Plakaten konnte man Slogans wie "Gewaltfrei & vereint gegen Glaubenskriege auf deutschem Boden" oder "Gegen religiösen Fanatismus und jede Art von Radikalismus. Gemeinsam ohne Gewalt" lesen. Bei den Versammlungen

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 91 wurden aber auch Slogans wie "Lügenpresse" und "Volksverräter" zur Bezeichnung von Medien und Politik skandiert. Mittlerweile entstanden in anderen deutschen Städten einige Ableger, die sich ähnliche Bezeichnungen mit der Nennung des jeweiligen Ortes gaben. Gleichzeitig lösten diese Demonstrationen jeweils Gegen-Demonstrationen aus. Angesichts der dadurch deutlich werdenden gesellschaftlichen und politischen Relevanz soll hier eine Einschätzung von Pegida aus Sicht der Bewegungs-, Extremismus- und Sozialforschung formuliert werden.

Diffuse Positionen und Themen

Betrachtet man die Pegida-Bewegung im Lichte der Geschichte der Protestbewegungen im Nachkriegsdeutschland, so fallen einige Besonderheiten ins Auge: Es handelte sich früher meist um Bestrebungen, die wie die Friedens- und Ökologiebewegung ideologisch-politisch mehrheitlich eher "links" und weniger "rechts" orientiert waren. Auch wenn die Repräsentanten von Pegida sich als "weder links noch rechts" definieren wollen, sprechen die Anliegen und Themen eher für eine "rechte" Protestbewegung, wobei die genauere Einordnung noch einer späteren Erörterung vorbehalten bleiben soll. Darüber hinaus fällt bei der vergleichenden Betrachtung die Diffusität der Positionen und Themen auf: Während frühere Protestbewegungen konkrete Absichten wie etwa die Ablehnung des Baus von Atomkraftwerken oder der Stationierung von Mittelstreckenraketen hatten, bleibt das mit "Islamisierung" gemeinte Phänomen in der Pegida-Selbstdarstellung unklar. Es wird noch nicht einmal in den offiziellen Erklärungen der Veranstalter begründet oder erläutert.

Hohe Bedeutung individueller Akteure und Zugänge

Als weitere Besonderheit im Vergleich mit früheren Protestbewegungen fällt die hohe Bedeutung individueller Akteure und Zugänge auf: Am Beginn standen zuvor meist politische Organisationen, also bestimmte Gruppen, Parteien oder Vereine, die zu Demonstrationen oder Veranstaltungen aufriefen. Erst danach beteiligten sich in höherem Maße unorganisierte Einzelpersonen. Bei Pegida scheint dies nicht der Fall zu sein. Auch die Gründer agierten als Individuen und gehörten zuvor meist keiner politischen Organisation an. Beispielhaft dafür steht etwa der als Hauptinitiator geltende Lutz Bachmann. Selbst die Mitglieder einer Partei agierten sowohl als Initiatoren wie als Mitläufer nicht in deren Auftrag. Exemplarisch hierfür steht der Mitinitiator Siegfried Däbritz, ein ehemaliger FDP- Stadtrat, der aber nicht im Namen seiner Partei aktiv wurde. Eine Ausnahme hinsichtlich der individuellen Zugänge stellen die Angehörigen rechtsextremistischer "Kameradschaften" oder Parteien dar, welche aber in der Gesamtschau von marginaler Bedeutung sind.

Entstehung der Pegida-Bewegung

Der erwähnte Lutz Bachmann gilt als eigentlicher Gründer von Pegida, hatte er doch am 11. Oktober 2014 eine Facebook-Gruppe mit der Bezeichnung "Friedliche Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" initiiert. Als offizielle Begründung dafür wurde die Ablehnung einer Unterstützung der "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) bei ihrem Kampf gegen den "Islamischen Staat" (IS) angegeben. Daraufhin schloss sich der ebenfalls bereits erwähnte Siegfried Däbritz dem Projekt an, gelte es doch gegen "Glaubenskriege auf unseren Straßen" und die "Islamisierung unseres Landes" vorzugehen. Diese beiden Formulierungen bildeten denn auch die ersten bedeutsamen Parolen auf den Transparenten der späteren Pegida-Bewegung. Mit der Anspielung auf die "Glaubenskriege" bezog man sich auf gewalttätige Konflikte, die Anfang Oktober 2014 in verschiedenen Städten zwischen pro- jesidischen/pro-kurdischen Demonstranten und salafistischen Gegen-Demonstranten stattgefunden hatten. Mit zehn anderen Personen entstand nun das Organisationsteam der Pegida-Bewegung.

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 92 Entwicklung der Pegida-Demonstrationen 2014

Fortan rief man zu "Montagsspaziergängen", so die offizielle Formulierung für die Demonstrationen, in Dresden auf. Zunächst nahmen daran am 20. Oktober 2014 nur 350 Personen teil. Am 27. Oktober stieg die Zahl auf 500, am 3. November hatte sie sich auf 1.000 verdoppelt. Am 10. November waren es schon 1.700 und am 17. November 3.200 Teilnehmer. Parallel dazu berichtete zunächst die regionale, dann aber auch die überregionale Presse über das Pegida-Phänomen. Auch für andere Medien wurden die Demonstrationen ein bedeutendes Thema für ihre Berichterstattung. Dies beförderte den rapiden Anstieg der Teilnehmerzahl: Am 24. November kamen 5.500 und am 1. Dezember 7.500. Danach folgte gar eine fünfstellige Zahl von Demonstranten den Aufrufen: Am 8. Dezember waren es 15.000 und am 22. Dezember 17.500 Teilnehmer. Berücksichtigt man die örtliche Fixierung auf Dresden, die kalte Jahreszeit und das bevorstehende Weihnachtsfest, so kann man den Demonstrationen eine enorme Mobilisierungswirkung bescheinigen

Gemäßigte offizielle Positionen in 19 Punkten

Nachdem die Pegida-Bewegung öffentlich kritisiert wurde, versuchten sich die Initiatoren durch eine 19-Punkte-Erklärung am 10. Dezember 2014 deutlicher inhaltlich zu positionieren. Die dortigen Ausführungen enthalten in der Gesamtschau eher gemäßigte Auffassungen und teilweise konstruktive Vorschläge. Dafür steht etwa die Forderung nach "dezentraler Unterbringung für Kriegsflüchtlinge und Verfolgte anstatt in teilweise menschenunwürdigen Heimen". Dem schließen sich aber auch wieder diffuse Erklärungen wie die zu "Erhaltung und Schutz unserer christlich-jüdisch geprägten Abendlandkultur" an. Insgesamt handelt es sich bei diesen offiziellen Auffassungen aber nicht um die real vorhandenen Positionen der Pegida-Demonstranten oder -Führungsspitze. Denn die 19-Punkte- Erklärung diente erkennbar dazu, den Anschein einer gemäßigten und realistischen Auffassung in die breite Öffentlichkeit hinein zu vermitteln. Die Inhalte des Positionspapiers wurden denn auch nicht auf den Versammlungen dargestellt oder erörtert.

Hetzerische Stimmung durch die Initiatoren

Dort dürfte etwa ein Bekenntnis zur "Aufnahme von Kriegsflüchtlingen und politisch oder religiös Verfolgten" als Menschenpflicht – ein ausformulierter Bestandteil der 19 Punkte – hetzerische Kommentare und rigorose Verdammung auslösen. Denn bei den Demonstrationen herrscht häufig eine von Aversionen und Ressentiments geprägte emotionale Stimmung und kein von Reflexionen und Sorgen getragener sachlicher Ton vor. Der Pegida-Initiator Lutz Bachmann meinte etwa in einer Rede mit aggressivem Unterton, Flüchtlinge lebten in "luxuriös ausgestatteten Unterkünften", während sich arme Rentner "kein Stück Stollen" mehr zu Weihnachten leisten könnten. Darüber hinaus kann man an seiner Person auch anschaulich den Gegensatz von dem offiziell beschworenen Bild der Anständigkeit und den tatsächlich propagierten Hassbildern veranschaulichen. Denn Bachmann distanzierte sich stets bei Nachfrage von Ausländerfeindlichkeit und Rassismus. Auf Facebook- Einträgen hatte er indessen Migranten als "Dreckspack", "Gelumpe" und "Viehzeug" tituliert.

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 93 Empirische Studien zu den Demonstrierenden

Um genauere Auskunft über die Besonderheiten und Motive der Pegida-Demonstranten zu erhalten, führten Sozialwissenschaftler unter ihnen Befragungen durch: Dazu gehörte eine Forschergruppe um den Berliner Soziologen Dieter Rucht, die Ergebnisse aus Beobachtungen und Online-Interviews zusammentrug. Man verteilte dazu 3.500 Handzettel, welche aber nur von 670 Demonstranten angenommen wurden. An der Befragung selbst beteiligten sich dann nur 123 Personen. Eine weitere Studie erstellte eine Forschergruppe um den Dresdener Politologen Hans Vorländer, welche um die 400 Demonstranten bei drei Veranstaltungen befragte. 65 Prozent der für die Befragung ursprünglich angesprochenen Personen lehnten indessen eine Teilnahme ab. Vorländer sah darin kein Problem hinsichtlich einer angestrebten Repräsentativität oder möglichen Verzerrung. Diesbezüglich muss hier indessen Kritik formuliert werden: Die Annahme, wonach es zwischen den Antwortwilligen und Antwortunwilligen keine Unterschiede gibt, lässt sich nicht stützen.

Ergebnisse der Studien zu Besonderheiten

Gleichwohl verdienen die Ergebnisse der nicht-repräsentativen Studien kritische Aufmerksamkeit: Nach der Rucht-Studie handelt es sich zu vier Fünftel um Männer, welche überwiegend Angestellte oder Arbeiter waren und dem Mittelstand zuzurechnen seien. Über 20 Prozent verfügten demnach über Abitur oder Fachhochschulreife, weitere über 30 Prozent hätten ein abgeschlossenes Studium. Nach der Vorländer-Studie entstamme der "typische" Pegida-Demonstrant der Mittelschicht, sei gut ausgebildet, berufstätig, verfüge über ein für sächsische Verhältnisse leicht überdurchschnittliches Nettoeinkommen, sei 48 Jahre alt, männlich, gehöre keiner Kirche und keiner Partei an. Diese Erkenntnisse zu den sozialen Besonderheiten der Pegida-Demonstranten hinsichtlich Alter, Geschlecht und Sozialstatus entsprechen auch weitgehend den Beobachtungen, die man aus persönlichen Eindrücken gewinnen kann. Und bei der Rucht-Studie nahmen die Forscher auch Demonstrationsbeobachtungen als Bestandteile ihrer Datenbeschaffung mit auf.

Ergebnisse der Studien zur Motivation

Bezüglich der Motivation der Pegida-Demonstranten kamen die beiden Studien zu folgenden Ergebnissen: Laut der Rucht-Untersuchung handelt es sich bei diesen keineswegs nur um "besorgte Normalbürger". Vielmehr wiesen sie politische Positionen rechts von der Mitte des gegenwärtigen Meinungsspektrums auf. Bei der Selbsteinschätzung gaben 33,3 Prozent "rechts" und 1,7 Prozent "extrem rechts" an. Am kommenden Sonntag würde man zu 89 Prozent die AfD und zu 5 Prozent die NPD wählen. Bei den politischen Einstellungen gab es folgende Zustimmungswerte (in Klammern als Vergleich die Angaben für die Gesamtbevölkerung): Bejahung eines starken Führers für Deutschland 4,3 (9,2), Forderung nach einer Einschränkung des Moscheebaus 93 (42,2) oder Rede von einer übertriebenen Darstellung von NS-Verbrechen 11,4 (6,9) Prozent. Nach der Vorländer-Studie demonstrierten die Pegida-Anhänger mehr aufgrund ihrer Unzufriedenheit mit der Politik (54 Prozent) und weniger gegen die "Islamisierung des Abendlandes" (23 Prozent).

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 94 Problematik der Repräsentativität der Studien

Wie die erwähnten Angaben zu den Rückläufen bei der Befragung bereits deutlich machten, besteht ein Problem hinsichtlich der Repräsentativität der Studien. Dies räumte die Rucht-Untersuchung auch ein. Bei ähnlichen Studien im Kontext anderer Protestbewegungen lag die Rücklaufquote zwischen 35 und 52 Prozent, bei Pegida nur bei 18 Prozent. Die Forscher bekannten denn auch, dass die Stichprobe nicht repräsentativ und eher verzerrt sei. Sie gingen davon aus, dass an der Befragung eher die politisch moderateren Demonstranten teilgenommen hatten. Demgegenüber sah die Vorländer-Studie kein größeres Problem für die Repräsentativität, obwohl sich deren Ergebnisse ebenfalls nur auf eine eher geringe Rücklaufquote von 35 Prozent stützen konnte. Darüber hinaus spricht noch ein anderer Grund gegen die Repräsentativität der Daten: Bei den Pegida-Demonstranten besteht ein großer Vorbehalt gegenüber Medien und Politik. Die hier besonders stark ausgeprägten Akteure dürften eben gerade nicht zu einem Interview mit den Wissenschaftlern bereit gewesen sein.

Faktencheck zu den Islamisierungs-Behauptungen

Ein Ergebnis der vorgenannten Studien ist von besonderem Interesse: Entgegen der Namensgebung von Pegida, die sich ausdrücklich gegen die "Islamisierung" wenden will, spielt das damit gemeinte Thema offenbar keine so große Rolle für die Demonstrationsteilnehmer. Da in Dresden selbst nur 0,4 Prozent und in Sachsen nur 0,2 Prozent der Menschen gläubige Muslime sind, lässt sich für die dortige Region schwerlich von einer bedrohlichen Ausbreitung des Islam sprechen. Auch darüber hinaus passen derartige Behauptungen nicht zur sozialen Realität: Zwar lässt sich etwa gegenwärtig sehr wohl ein Anstieg von Einwanderung konstatieren, indessen kommen die gemeinten Personen gerade nicht aus muslimisch geprägten Ländern. Es gibt sogar eine stärkere Rückwanderung in die Türkei als eine stärkere Zuwanderung aus diesem Land. Der Blick auf diese beiden Gesichtspunkte ignoriert nicht die Probleme einer Einwanderungsgesellschaft, bei Pegida erscheinen sie aber in einer verzerrten und wirklichkeitsfremden Perspektive.

Momentaufnahmen von den Demonstrationen

Betrachtet man einzelne Momentaufnahmen von den Demonstrationen, dann entsteht der Eindruck von einer Gruppe von Menschen mit diffusen Ansichten und hetzerischen Stimmungen: Eine Fernsehdokumentation lies einzelne Demonstrationsteilnehmer ausführlich zu Wort kommen, wobei auch hier das Problem der Repräsentativität besteht. Darunter befand sich beispielsweise ein Mann, der zunächst in sachlichem Ton seine allgemeine Sorge um die Werte des Abendlandes zum Ausdruck brachte. Daraufhin fragte ihn der Interviewer, welche das denn konkret seien. Schließlich äußerte der Mann, dies könne er gerade auch nicht sagen. Ein anderer Befragter behauptete mit aggressivem Tonfall, Ausländer kämen als Schmarotzer nach Deutschland und würden alles bekommen. Er selbst meine das so, sei aber kein Nazi. Wiederum ein anderer Befragter erklärte mit schriller Stimme, dass die Einwanderung von Muslimen aufgrund von Befehlen aus Tel Aviv und Washington erfolge. Das habe aber nichts mit einer Rechtslastigkeit zu tun, das sei eine Tatsache.

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 95 Die "Wir sind das Volk"-Beschwörung

Bei den Demonstrationen riefen die Teilnehmer, mitunter angeregt durch "Ordner" oder "Verstärker" der Organisatoren, bestimmte Parolen, die hier nähere Aufmerksamkeit verdienen sollen: Die Aussage "Wir sind das Volk" diente den damaligen DDR-Oppositionellen zum Protest gegen die SED-Diktatur. Heutige Repräsentanten der seinerzeitigen Bürgerrechtsbewegung distanzierten sich in aller Entschiedenheit von der Vereinnahmung dieser Formulierung durch Pegida. Dort hat sie auch eine andere Bedeutung und Zielrichtung: Man beansprucht damit die Interessen und den Willen des "Volkes" zu verkörpern, ohne dafür eine wie auch immer geartete ideelle oder tatsächliche Legitimation präsentieren zu können. Alle Umfragen zum Thema belegen außerdem, dass nur eine Minderheit der Bevölkerung die Positionen von Pegida teilt. Darüber hinaus enthält die Aussage "Wir sind das Volk" einen Subtext: Die Anderen gehören nicht zum Volk. Auch Andersdenkende und nicht nur Migranten sollen ausgegrenzt werden.

"Lügenpresse"- und "Volksverräter"-Rufe

Als weitere Parolen, die man regelmäßig bei Pegida-Demonstration hören konnte, verdienen die "Lügenpresse"- und "Volksverräter"-Rufe besondere Aufmerksamkeit: Derartige Formulierungen nutzten bereits die Nationalsozialisten in ihrer "Kampfzeit" in der Weimarer Republik. Auch heutige Neonazis bedienen sich ihr häufig bei Aufmärschen. Diese historisch-politische Dimension mag den meisten Pegida-Demonstranten nicht bewusst sein, aber sie stellen auch unabhängig davon problematische Aussagen dar: Das breite Feld der etablierten Medien wird pauschal der bewussten Falschinformation bezichtigt, während man sich selbst allein im Besitz der Wahrheit wähnt. Woher die "richtigen" Informationen jeweils kommen, stellt keinen Gegenstand von kritischen Reflexionen dar. Die "Volksverräter"-Rufe diffamieren pauschal alle Politiker, die aber im Unterschied zu den Pegida- Demonstranten sehr wohl über eine demokratische Legitimation verfügen. Auch hier beansprucht man, im Interesse des angeblich "wahren Volkes" zu sprechen.

Frage des rechtsextremistischen Charakters

Angesichts solcher Aussagen stellt sich die Frage nach dem rechtsextremistischen Charakter von Pegida: Zunächst kann man konstatieren, dass die Mehrheit der Demonstranten keine "Nazis in Nadelstreifen" sind. Zwar nahmen auch NPD-Aktivisten, Neonazis und Hooligans an den Veranstaltungen in Dresden teil. Sie stellten dort aber nur eine Minderheit dar. Indessen belegt diese Erkenntnis nicht notwendigerweise die demokratische Gesinnung der Mehrheit der Pegida- Demonstranten. Es lässt sich nämlich ein politischer von einem sozialen Rechtsextremismus unterscheiden: Zum Erstgenannten gehören die organisierten Anhänger in Gruppen oder Parteien, zum sozialen Rechtsextremismus zählen die so denkenden Personen. Über das Ausmaß einschlägiger Potentiale informieren die Ergebnisse der Sozialforschung, die meist ein rechtsextremistisches Einstellungspotential von zwischen 10 und 20 Prozent der Bevölkerung konstatierten. Bislang konnte dieses von NPD und Neonazis nicht mobilisiert werden, möglicherweise ist es der Pegida-Bewegung stärker gelungen.

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 96 Entwicklung der Pegida-Demonstrationen 2015

Diese Einsicht bedingt aber kein pauschales Bild von den Demonstranten, die sich offenkundig aus unterschiedlichen Individuen mit verschiedenen Motiven zusammensetzen. Die dominierende Anti- Haltung gegenüber den Medien wie der Politik erhöhte noch die Bereitschaft zur Teilnahme an den Pegida-Versammlungen. Ein gegenteiliger Aufruf der Bundeskanzlerin Angela Merkel, der von ihr mit großer öffentlicher Beachtung anlässlich ihrer Weihnachtsansprache formuliert wurde, führte aber nicht zur Reduzierung der Teilnehmerzahl. Am 5. Januar 2015 nahmen 18.000 Personen an dem "Montagsspaziergang" teil. Einen erneuten Anstieg der Demonstrationsteilnehmer bewirkten die islamistischen Morde in Paris. Am 12. Januar beteiligten sich nach Polizeiangaben 25.000 Menschen an der Pegida-Versammlung. Die für den 19. Januar geplante Kundgebung wurde abgesagt, da es Morddrohungen gegen einen Initiator gegeben habe. Am 25. Januar – diesmal ein Sonntag – kamen dann erstmals weniger, aber noch über 17.000 Personen zusammen.

Krise und Zerwürfnisse in der Führung

Eine für den 2. Februar angekündigte Demonstration sagte die Pegida-Führung hingegen ab, da sechs Führungspersonen aus dem zwischenzeitlich gegründeten Vorstand zurückgetreten waren. Als Grund nannten die Akteure interne Konflikte, die mit der Rolle des ursprünglichen Pegida-Initiators Bachmann zusammenhingen. Dieser hatte aufgrund von Diebstahl und Drogenbesitz eine Haftstrafe erhalten, was ihn ohnehin als "Verteidiger des Abendlandes" nicht besonders glaubwürdig erscheinen ließ. Hinzu kamen die erwähnten fremdenfeindlichen und rassistischen Äußerungen, die mit einem Foto in Hitler- Pose durch die Medien bekannt wurden. Dies führte zu Bachmanns Rücktritt von allen Funktionen und zu dessen Ablösung durch Kathrin Oertel. Da der Pegida-Initiator immer noch im Hintergrund persönlichen Einfluss nahm, lösten damit einhergehende Konflikte die erwähnten personellen Veränderungen aus. Auch Oertel, die zwischenzeitlich durch einen Fernsehauftritt bundesweite Bekanntheit erlangt hatte, zählte zu den zurückgetretenen Führungspersonen.

Ableger in anderen deutschen Städten

Der kontinuierliche Anstieg der Demonstrationsteilnehmer und die große öffentliche Aufmerksamkeit für Pegida motivierten bereits im Dezember 2014 die Gründung von ähnlichen Aktionsformen und Initiativen in anderen deutschen Städten. Sie gaben sich meist gleichlautende Bezeichnungen, wobei am Beginn aber ein Bezug auf den jeweiligen Ort enthalten war. Bogida, Dügida, Kögida oder Legida stehen etwa für "Bonn", "Düsseldorf", "Köln" und "Leipzig gegen die Islamisierung des Abendlandes". Vergleicht man diese Ableger mit Pegida, so fallen folgende Besonderheiten auf: Bei den Pegida- Ablegern in anderen deutschen Städten war der Anteil von Personen aus dem organisierten Rechtsextremismus bedeutend höher, mitunter bei den Veranstaltern gar dominierend. Außerdem gab es ein Vielfaches mehr an Gegen-Demonstranten, was mit einigen Abstufungen auch für Leipzig gilt. Insofern ist das Pegida-Phänomen in einem gewissen Ausmaß ein Ost-Phänomen bzw. eine Dresdener Besonderheit, wofür die genauen Gründe noch erforscht werden müssen.

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 97 Einschätzung von Pegida als politisches Phänomen

Angesichts des Fehlens repräsentativen Datenmaterials und der Verschiedenheit der Demonstrationsteilnehmer setzen sich aktuelle Einschätzungen von Pegida einem möglichen Pauschalisierungsvorwurf aus. Gleichwohl können mit gewissen Einschränkungen einige verallgemeinerbare Bewertungen formuliert werden. Bezüglich des Charakters von Pegida als politischem Phänomen lässt sich folgendes konstatieren: Allgemein distanzierten sich die Initiatoren öffentlich von Hooligans und Neonazis. Dies haben gemäßigtere Kräfte im Rechtsextremismus wie etwa die DVU, "Pro"-Parteien oder die REP auch getan. Die Auffassungen und der Habitus der Pegida- Akteure entsprechen denn auch stark diesem politischen Bereich, der sich durchaus glaubwürdig bürgerlich und gewaltfrei gibt. Gleichwohl stehen ebenso die feindlichen Stimmungen gegen Flüchtlinge wie die rigorose Verdammung der Politik für rechtsextremistische Einstellungen. Demokratische Bürger, die für eine Änderung der Migrationspolitik eintreten, würden anders agieren und formulieren.

Einschätzung von Pegida als soziales Phänomen

Diese Auffassung schließt demnach gar nicht aus, dass einige gesellschaftliche Probleme von Pegida- Demonstranten mit einer inhaltlichen Berechtigung angesprochen wurden: Für die Klage über eine Entfremdung von Bürgern und Politik gibt es ebenso gute Gründe wie für eine Kritik an einer konzeptionslosen Migrationspolitik. Darüber hinaus bestehen in bestimmten Regionen und Schichten mehr soziale Probleme als mitunter mit Blick auf das allgemeine Wachstum der Wirtschaft zur Kenntnis genommen wird. Insofern artikuliert sich in den Pegida-Protesten ein durchaus nachvollziehbarer und verständlicher Unmut. Eine besonders problematische Dimension besteht aber darin, dass die damit einhergehenden Einstellungen und Stimmungen auf Fremde und Migranten projiziert werden. Dies geschieht noch dazu in emotionaler bis hetzerischer Art und Weise. Dazu passt die in gelegentlichen "Putin hilf"-Rufen zum Ausdruck kommende Begeisterung für den russischen Präsidenten, steht sie doch mustergültig für eine autoritäre Charakterstruktur.

Einschätzung von Pegida in der Gesamtschau

Bei der Betrachtung von Pegida in der Gesamtschau fällt zunächst auf, dass die Protestbewegung entgegen der medialen Bezeichnung als "islamkritisch" und der postulierten Selbstbezeichnung "gegen die Islamisierung" eben diesen beiden Aspekten nur geringe Aufmerksamkeit widmete. Weder findet eine kritisch-rationale Auseinandersetzung mit dem Islam statt, noch spielt eine "Islamisierung" in den Erklärungen eine größere Rolle. Für Letzteres bietet Dresden auch keinen Anlass. In den Städten, wo man von einer solchen Entwicklung wie etwa in Bonn-Bad Godesberg eher sprechen könnte, fanden derartige Proteste kaum Zulauf. Dies begründet mit die Auffassung, dass es den Demonstranten weniger um eine Islamisierung oder Migrationspolitik geht. Vielmehr artikuliert deren diffuser Protest ein Spannungsverhältnis von demonstrierenden Akteuren und politischer Elite. Dabei dominiert aber nicht das differenzierte Argument, sondern die emotionale Pauschalisierung. Insofern handelt es sich auch um eine Ressentimentbewegung.

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 98 Prognose zur Entwicklung von Pegida

Der erwähnte Rücktritt ehemaliger Führungspersonen und die Neugründung eines Bündnisses "Direkte Demokratie für Europa", das in Konkurrenz zu Pegida eigene Demonstrationen durchführen will, deuten einen Niedergang der Protestbewegung an. Aber auch ohne diese inneren Konflikte hätten sich die "Montagsspaziergänge" mit der Zeit wohl erschöpft. Denn die Initiatoren konnten bzw. können den Teilnehmern keine politische Perspektive liefern. Daher dürfte die Anzahl der Teilnehmer fortan kontinuierlich sinken, was letztendlich zur Auflösung von Pegida führen würde. Die Einstellungen der Demonstranten und die Gründe für ihr Engagement bleiben aber. Ein Großteil der Aktivisten dürfte fortan zu den AfD-Stammwählern gehören, eine Minderheit sich in der Partei aktiv beteiligen. Insofern wird das beschriebene Phänomen in anderer Form weiter existieren. Dies gilt auch und gerade für das Einstellungspotential, das sich bei den Pegida-Demonstrationen mitunter in aggressiver und hetzerischer Art und Wiese artikulierte.

• Pegida – eine Protestbewegung zwischen Ängsten und Ressentiments (II)

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 99

Sind sie das Volk? Pegida – die Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes

Von Volker Weiß 6.1.2015 Historiker und Publizist, Arbeitsschwerpunkt u.a. Geschichte und Gegenwart der extremen Rechten in Deutschland. Vorstandsmitglied im Villigster Forschungsforum zu Nationalsozialismus, Rassismus und Antisemitismus.

Es waren nur ein paar Hundert Menschen, die Ende Oktober zum ersten Mal zu einem Spaziergang "Patriotischer Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" in Dresden zusammenkamen. Innerhalb weniger Wochen wuchs Pegida hier zu einer Massenbewegung. Was genau in Dresden passiert und was Pegida ausmacht, analysiert Volker Weiß.

Teilnehmer einer Kundgebung der Anti-Islam-Bewegung Pegida halten am 12.01.2015 während der Kundgebung in Dresden (Sachsen) Plakate und Fahnen in den Händen. (© picture-alliance/dpa)

Zur Überraschung von Öffentlichkeit und Politik zogen Ende des Jahres 2014 in der sächsischen Landeshauptstadt Dresden die Montagsdemonstrationen der "Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" (Pegida) große Aufmerksamkeit auf sich. Die Umzüge sollten den Unmut "gegen Glaubenskriege auf deutschem Boden" zum Ausdruck bringen.[1] Als unmittelbaren Anlass nannte der Organisator Lutz Bachmann gegenüber der neu-rechten Wochenzeitung "Junge Freiheit" "Massenschlägereien zwischen Moslems und Jesiden in Hamburg und Celle und eine Pro- PKK-Aktion hier in Dresden".[2]

Ihrer Selbstdarstellung zufolge agiert die Bewegung unabhängig, organisiert von einem privaten

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Kreis.[3] Nach dem ersten Umzug am 20. Oktober 2014 wuchs Pegida schnell an und wurde bald außerhalb Dresdens wahrgenommen.[4] Es bildeten sich nicht nur regionale Ableger wie Legida (Leipzig), auch in Westdeutschland traten ähnliche Gruppen auf: Dügida (Düsseldorf), Bogida (Bonn), Pegida Frankfurt Rhein-Main oder Mügida (München) und Bagida (Bayern). Während sich in den westdeutschen Städten allerdings jeweils nur bis zu wenige hundert Menschen zu Veranstaltungen der Pegida-Ableger versammelten, demonstrierten kurz vor Weihnachten am 22. Dezember 2014 schon 17.500 Menschen in der sächsischen Hauptstadt Dresden. Die Zahl der Gegendemonstranten hatte zu diesem Zeitpunkt bereits ihren Zenit überschritten: vorläufiger Höhepunkt waren 9.000 Pegida- Gegner, die am 8. Dezember 2014 in Dresden zusammenkamen.[5] Außerhalb Dresdens stellten sich dagegen mehr Menschen den Versuchen entgegen, Pegida bundesweit zu verankern.[6] Dies spricht dafür, Pegida als "ein ostdeutsches Phänomen" zu betrachten.[7]

Die Mobilisierung vollzog sich sowohl vor Ort als auch bundesweit fast ausschließlich in viralen Formen, vor allem über soziale Medien.[8] Herkömmliche Öffentlichkeitsarbeit fand nicht statt, die Zusammenarbeit mit etablierten Medien wurde meist verweigert.[9] Die ablehnende Haltung gegenüber der Presse artikulierte sich auf den Pegida-Umzügen in Sprechchören der Teilnehmer ("Lügenpresse" [10]). Journalistenfragen blieben häufig unbeantwortet, Einladungen zu Talkshows und auch zu einer Diskussionsveranstaltung der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen kamen die Vertreter der Pegida nicht nach.[11] Eine Ausnahme in dieser programmatischen Gesprächsverweigerung stellt die Zusammenarbeit mit Medien des äußersten rechten politischen Spektrums dar.[12] Die Zurückhaltung gegenüber etablierten Medien nahm erst ab, als die Lokalpresse Bachmanns Vorstrafen und seine Nähe zum sächsischen Rotlichtmilieu thematisierte.[13]

Politikstil und Programmatik

Die Einordnung von Pegida wird erheblich durch ihre unscharfe Programmatik erschwert. In den ersten Wochen fehlten verbindliche Inhalte jenseits des titelgebenden Schlagworts "Islamisierung". Ein im Vorfeld der Demonstration vom 15. Dezember 2014 publiziertes, 19 Punkte umfassendes "Positionspapier" bemüht sich um positive Formulierungen. Es befürwortet die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen als "Menschenpflicht" und forderte die Aufstockung der finanziellen Mittel zur Unterbringung und Betreuung von Asylbewerbern, bot aber zugleich die klassischen Law-and-order- Stichworte zu den Themen Abschiebung und Migranten-Kriminalität.[14] Die Autoren des Papiers positionierten sich auch zu Themen wie der "sexuellen Selbstbestimmung" (Punkt 12) und "Gendermainstreaming" (Punkt 17), die in konservativen bis rechtsextremen Kreisen besonders stark abgelehnt werden.

Die breite Fächerung der Willensäußerungen von Pegida trug zusammen mit der zivilen Praxis des "Spaziergangs" offenbar maßgeblich zum Erfolg der Bewegung bei. So wurde in Form und Inhalt eine maximale Identifikationsfläche geschaffen. Die Stärke der Pegida lag daher mehr in einem aktivistischen Impuls als im Angebot einer inhaltlichen Analyse. Der Düsseldorfer Rechtsextremismus- Forscher Alexander Häusler sprach daher von einem "niedrigschwellige[n] Angebot zur Mitwirkung".[15]

Mit Verwendung der Parole "Wir sind das Volk!" und der Wahl des Montags als Tag der Demonstration hat sich Pegida bewusst in die Tradition des ostdeutschen Wendeherbstes von 1989 gestellt. Dazu gehört die demonstrative Distanz zur etablierten Politik. Ihr Sprecher Bachmann pflegt erfolgreich die Rhetorik vom einfachen Mann auf der Straße, den "die da oben" längst vergessen hätten: "Lasst sie schwätzen in ihren Talkshows, lasst sie diskutieren in ihren Politikrunden und lasst sie rätseln, was sie falsch machen. Sie werden es ohnehin nicht begreifen. Sie haben den Kontakt zur Basis schon lange verloren und ihre Wähler verraten."[16] Diese populistische Anklage wurde mitunter von stark verzerrten Darstellungen getragen. Das Gerücht einer behördlichen Umbenennung traditioneller Berliner Weihnachtsmärkte in "Wintermärkte" aus Rücksicht gegenüber Muslimen war erwiesenermaßen falsch.[17] Als vermeintliches Beispiel des drohenden Verlustes kultureller Identität verfehlte es jedoch seine Wirkung ebenso wenig wie die Behauptung, arme deutsche Rentner könnten sich keine

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Christstollen mehr leisten, während Flüchtlinge in reich ausgestatteten Unterkünften lebten.[18] Der anfänglich gemäßigte Ton der Pegida verschärfte sich vor allem angesichts wachsender öffentlicher Kritik. Auf der Demonstration vom 22. Dezember 2014 erfüllte nach Einschätzung von Werner Patzelt der Beitrag eines Redners aus Leipzig den Strafbestand der Volksverhetzung.[19] Am 5. Januar 2015, beim ersten "Spaziergang" nach der selbstverordneten Winterpause, zu dem 18.000 Pegida-Anhänger in Dresden zusammenkamen, versuchte eine Gruppe von Hooligans aus den Reihen der Pegida, eine Polizeiabsperrung zu durchbrechen.[20]

Reaktionen

Pegida erhielt von Anfang an Beifall von der extremen Rechten.[21] Der erste Umzug am 20. Oktober fand kurz vor dem Aufmarsch der "Hooligans gegen Salafisten" (HoGeSa) in Köln am 26. Oktober 2014 statt. Im Gegensatz zum demonstrativ gewaltaffinen Spektrum der Hooligans blieb Pegida betont friedlich und legte mehr Wert auf ein bürgerliches Erscheinungsbild. Die "Junge Freiheit" hatte den Aufmarsch der HoGeSa aufgrund des Erscheinungsbildes noch als "Machtdemonstration einer Subkultur" ambivalent bewertet,[22] in Pegida erkannte die äußerste Rechte jedoch schnell eine erfolgversprechende Alternative zu HoGeSa, die "zeigt, wie es geht".[23] Lokale Medien berichteten schon Ende Oktober von der Teilnahme von Hooligans an den Umzügen.[24] In ihrem Anspruch, die angebliche europäische Identität zu schützen und zu rekonstruieren, weist Pegida zudem große Schnittmengen mit der neurechten "Identitären Bewegung" auf, von der sie starken Zuspruch erhält.[25] Bei Pegida-Initiativen außerhalb Dresdens war das Engagement von Protagonisten der äußersten Rechten augenfällig.[26]

In der bürgerlichen Rechten kam die deutlichste Unterstützung für Pegida aus den Reihen der AfD. Der stellvertretende Parteichef Alexander Gauland nahm am 15. Dezember an der wöchentlichen Demonstration in Dresden teil, die sächsische AfD-Vorsitzende Frauke Petry äußerte Verständnis für die Forderungen der Demonstranten und kündigte für Januar 2015 ein Treffen mit den Pegida- Organisatoren in ihrem Landtagsbüro an.[27] Der Thüringische AfD-Landeschef Björn Höcke forderte gegenüber der nationalkonservativen Zeitschrift "Sezession" eine engere Kooperation seiner Partei mit Pegida, monierte aber in deren Abendland-Begriff den fehlenden Bezug auf die "antiken und germanischen Wurzeln".[28]

Zivilgesellschaftliche Akteure vor Ort kritisierten, Pegida vertrete "chauvinistische Positionen und ein autoritäres Demokratieverständnis". Insgesamt erzeuge die Strömung einen "Resonanzraum für Rassismus".[29] Der unabhängige "Rat für Migration" sprach von einer "falschen Problemdiagnose" der Pegida und warnte davor, eine "religiöse Minderheit zum Sündenbock für strukturelle Probleme" zu machen.[30] Nach Einschätzung der Beratungsstelle Hayat, die sich mit Islamismus und Ultranationalismus befasst, arbeitet Pegida mit einem "neu-völkische[n] Kammerton, ausgeprägte[n] Pauschalierungen, Mythen und Schlagwortpropaganda". Das Ansinnen von Pegida, gegen den islamischen Fundamentalismus zu agieren, wies sie zurück: "Völkische und abendländische Mythen können nicht die gezielte, von den Grundwerten der deutschen Demokratie ausgehende Auseinandersetzung mit freiheitsfeindlichem Islamismus und seiner militanten Fraktion ersetzen."[31]

Der Anspruch der Pegida, sich gegen den Islamismus zu positionieren, spielte ohnehin in der Debatte kaum eine Rolle. Selbst wohlwollenden Beobachtern zufolge ging es den Teilnehmerinnen und Teilnehmern "um das Asyl- und Einwanderungsrecht".[32] Diese Abwesenheit des Themas "Islamismus" ist bemerkenswert, immerhin ist die Gegnerschaft "gegen die Islamisierung des Abendlandes" namensgebend für Pegida. Doch bietet Pegida außer einer stichworthaften Ablehnung von "Parallelgesellschaften" und der "Scharia" (Punkt 16) keine Auseinandersetzung mit dem fundamentalistischen Islam. Anstelle dessen trat das allgemeine Thema der "Überfremdung". Daran zeigt sich, dass der vorgebliche Kampf der Pegida gegen den Islamismus nur dazu diente, mit einer maximal konsensfähigen Parole aufzutreten. Angesichts der aktuellen Verbrechen islamistischer Akteure im Mittleren Osten konnte dieses Agitationsmoment mehr Wirkung entfalten als nationalistische Parolen gegen "Überfremdung".

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Fazit: Pegida als rechtspopulistische Bewegung

Pegida kann nicht zur extremen Rechten neonazistischen Zuschnitts gezählt werden, die sich in Sachsen in Form der NPD und der "Kameradschaften" etabliert hat. Schon in ihrer Verwendung des Begriffs "Abendland" knüpft sie eher an die ultrakonservative "europäische Bewegung" der 1950er Jahre an. Dennoch ist es Pegida gelungen, Schlagworte der äußersten Rechten für eine breite Masse attraktiv zu machen. Mit einer zunächst vergleichsweise gemäßigten Rhetorik verankerte sie deren politische Anliegen im Diskurs der gesellschaftlichen Mitte.

Die "volkstümlich und rebellisch-autoritär inszenierte Verkündung extrem rechter Theoreme auf der Basis emotionalisierter Argumentation", wie sie bei Pegida anzutreffen war, ist das klassische Kennzeichen des Rechtspopulismus.[33] Pegida ist damit ein Indikator für eine "gestörte Beziehung zwischen Wählern und Gewählten oder, im populistischen Sprachgebrauch, zwischen ’Volk’ und ’Eliten’".[34] Gerade ihre Betonung der eigenen Durchschnittlichkeit untermauert diesen Befund, denn Populismus resultiert aus einem "Bündnis von oberen und unteren Mittelschichten, die sich von den kriselnden Volksparteien abwenden".[35] Der Begriff "Rechtspopulismus" wiederum "dient in der politologischen Forschung zur typologischen Eingrenzung jüngerer Erscheinungen auf der politischen Rechten, die sich von den ’etablierten Parteien’ abgrenzen und die Attitüde eines ’Anti-Establishment’- Protests kultivieren. Dies geht einher mit der Betonung der Interessen des ’eigenen’ nationalen – teils auch regionalen – Kollektivs, der Abgrenzung gegenüber Minderheiten, der Ablehnung von Zuwanderung sowie ’Law-and-Order’-Forderungen bei gleichzeitiger Kritik eines überbordenden Sozialstaats."[36] Alle diese Elemente treffen auf Pegida zu. Mit ihrer demagogischen Aufbereitung von Fragen kultureller Tradition, etwa mit dem Gerücht um die angeblichen "Wintermärkte", dem rebellischen Habitus der Politikferne und einer pauschalen Medienschelte, die meist in einfachen Law- and-order-Parolen mündeten, steht Pegida für die Ausbreitung des Rechtspopulismus. Für dessen Etablierung auf parlamentarischer Ebene, die in Deutschland verglichen mit anderen europäischen Ländern bislang nur schleppend vorankam,[37] könnte Pegida daher ein wichtiger Schritt sein. Der Kampf gegen den Islamismus diente dabei nur als Alibi, einen tatsächlichen Beitrag zu diesem hat Pegida nicht geleistet.

Fußnoten

1. Inschrift auf dem Fronttransparent der Veranstalter. 2. "Wir haben einen Nerv getroffen". Gespräch mit Lutz Bachmann in der "Jungen Freiheit" Nr. 51 v. 12. Dezember 2014, S. 3. 3. In Bachmanns Worten: "Zwölf Personen aus verschiedenen Ländern mit verschiedenen Religionen." JF-TV Dokumentation über Pegida in Dresden am 8.12.2014, URL: http://www. youtube.com/watch?v=FWp_io6aKoI , ab Min. 8:42. Abrufdatum 5.1.2015. 4. Stefan Locke, Die neue Wut aus dem Osten. FAZ online v. 7.12.2014, URL: http://www.faz.net/ aktuell/politik/inland/pegida-bewegung-gegen-islamisierung-des-abendlandes-13306852.html. 5. Nachdem die ersten beiden Umzüge am 20. und am 27. Oktober in einem überschaubaren Rahmen blieben, wurden bereits am 3. November 1000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer gemeldet. (Medieninformation der Polizei Dresden v. 3.11.2014, URL: http://www.polizei.sachsen.de/de/ dokumente/PDD/20141103X389.pdf.Am darauffolgenden Montag, dem 9. November, waren 1.700 Menschen auf der Straße (Medieninformation der Polizei Dresden v. 10.11.2014, URL: http:// www.polizei.sachsen.de/de/dokumente/PDD/20141110X399.pdf).Bereits am 8. Dezember erreichte die Demonstration eine Stärke von 10.000 Menschen (Medieninformation der Polizei Dresden v. 8.12.2014, Stand 21:00 h, URL: http://www.polizei.sachsen.de/de/dokumente/ PDD/20141208X437.pdf).Ein weiterer Anstieg der Teilnehmerzahl wurde am 15. Dezember mit 15.000 verzeichnet (Medieninformation der Polizei Dresden v. 15.12.2014, Stand: 21:15 h, URL: http://www.polizei.sachsen.de/de/dokumente/PDD/20141215X447.pdf).Bei der letzten Veranstaltung

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vor der "Weihnachtspause" am 22. Dezember standen in Dresden 17.500 Pegida-Befürwortern 4500 Gegendemonstranten gegenüber (Medieninformation der Polizei Sachsen v. 22.12.2014, Stand: 21:00 H, URL: http://www.polizei.sachsen.de/de/MI_2014_33591.htm).Auch im neuen Jahr konnte Pegida noch seine Teilnehmerzahlen steigern, am 5. Januar nahmen ca. 18.000 Menschen teil, denen bei verschiedenen Protestveranstaltungen rund 8.000 Menschen gegenüberstanden.(Medieninformation der Polizeidirektion Dresden v. 5.1.2014, URL: http://www. polizei.sachsen.de/de/dokumente/PDD/20150105X006.pdf).Alle hier genannten Links der Polizei Sachsen wurden am 5.1.2015 abgerufen. 6. Am 22. Dezember demonstrierten in München ca. 12.000 Menschen gegen Pegida, während deren lokaler Ableger Mügida auf 25 Personen kam. (Pressebereicht der Bayerischen Polizei vom 23.12.2014, URL: http://www.polizei.bayern.de/muenchen/news/presse/aktuell/index.html/212988). In Bonn mobilisierte Bogida am gleichen Tag 300 Teilnehmer, die Zahl der Gegendemonstranten wurde auf 3000 beziffert. (Pressemitteilung der Polizei Bonn v. 22.12.2014, 22::55 h, URL: http:// www.presseportal.de/polizeipresse/pm/7304/2912775/pol-bn-die-polizei-bonn-informiert-kundgebungen- und-demonstration-verliefen-ueberwiegend-friedlich). 7. Politikwissenschaftler Werner Patzelt im Interview der ARD am 15.12, URL: http://www. tagesschau.de/inland/pegida-135.html, ab Min 3:43.Ähnlich argumentiert auch der Beitrag "Fünf Gründe für Pegidas Erfolg in Dresden" von Christina Hebel und Ferdinand Otto v. 6.1.2015 auf Spiegel Online, URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/pegida-fuenf-gruende-fuer-den- erfolg-in-dresden-a-1011490.html. 8. Vgl. die Medienanalyse im Auftrag der Wochenzeitung "Die Zeit": https://pluragraph.de/ organisations/pegida. 9. Stefan Locke, "Putin, hilf uns!" In: FAZ v. 16.12.2014, URL: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/ noch-mehr-zulauf-fuer-pegida-in-dresden-13324123-p2.html, eine Ausnahme stete ein frühes Interview Bachmanns dar, das "Bild" am 1.12.2014 veröffentliche: "Wir hören erst auf, wenn die Asyl-Politik sich ändert". URL: http://www.bild.de/regional/dresden/demonstrationen/pegida- erfinder-im-interview-38780422.bild.html. 10. Dokumentiert bei Junge Freiheit TV, Impressionen von Pegida am 15.12.2014, URL: http://www. youtube.com/watch?v=1TX6QuKkIIY#t=146 , ab Min. 6:13. 11. Am 3. Dezember 2014 in Dresden: http://www.slpb.de/veranstaltungen/details/561/; Video der lpb Sachsen zur Veranstaltung: https://www.youtube.com/watch?v=Qt9JN6ZY6A8. 12. Die extrem rechte Jugendzeitschrift "Blaue Narzisse", die in Dresden ein Büro betreibt, berichtete bereits am 28. Oktober über die ersten Anläufe der Pegida-Bewegung. ("Dresden zeigt, wie es geht", Blaue Narzisse online v. 28. 10.2014, URL: http://www.blauenarzisse.de/index.php/ aktuelles/item/4986-dresden-zeigt-wie-es-geht). Bachmann nahm die Schlagzeile der Blauen Narzisse in seiner Auftaktrede auf der Demonstration vom 24.11.14 auf. ("Dresden zeigt, wie’s geht". In: https://www.youtube.com/watch?v=Gd3YiaTpYiU ab Min. 2:15). Er hatte zudem der "Blauen Narzisse" gleich zu Beginn der Umzüge Ende Oktober ein Interview gegeben. ("Gemeinsam gegen Islamismus", Johannes Schüller im Gespräch mit Lutz Bachmann. Blaue Narzisse online vom 31. 10.2014 URL: http://www.blauenarzisse.de/index.php/gesichtet/ item/4994-gemeinsam-gegen-islamismus ) . Die Zeitschrift bewirbt zudem bereits im Vorfeld eine Pegida-Schwerpunktausgabe. (Angekündigter Titel: "Sag einfach wofür Du bist!", "Blaue Narzisse" Nr. 17/Januar 2015). Auch die nationalkonservative Wochenzeitung Junge Freiheit widmete Pegida eine Schwerpunktausgabe mit einem ausführlichen Bachmann-Interview. ("Wir haben einen Nerv getroffen". Gespräch mit Lutz Bachmann in der "Jungen Freiheit" Nr. 51 v. 12. Dezember 2014, S. 3.) Zudem drehte sie zwei Video-Dokumentationen, die im Internet zu sehen sind: Junge Freiheit TV, Dokumentation über Pegida in Dresden am 8.12.2014, URL: http://www.youtube.com/ watch?v=FWp_io6aKoI und Junge Freiheit TV, Impressionen von Pegida am 15.12.2014, URL: http://www.youtube.com/watch?v=1TX6QuKkIIY#t=146 13. Das krumme Leben des Pegida-Chefs. In: Sächsische Zeitung vom 2.12.2014. 14. Das "Positionspapier der Pegida" wurde zuerst auf der inzwischen eingestellten Pegida- Homepage www.pegida.de publiziert, an deren Stelle nunmehr der Facebook-Auftritt von Pegida getreten ist. Hier finden sich die 19 Punkte im Post v. 18. Dezember, 18:33 h: https://www.facebook. com/PEGIDADEUTSCHLAND2014/photos/a.797841196936087.1073741828.79688505703170­

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1/798761070177433/?type=1&theater, Abrufdatum 5.1.2015. 15. "Das ist ein politisches Pulverfass". Alexander Häusler im Interview mit RP-online am 6.12.2014, URL: http://www.rp-online.de/nrw/staedte/duesseldorf/alexander-haeusler-das-ist-ein-politisches- pulverfass-aid-1.4720015. 16. Junge Freiheit TV, Impressionen von Pegida am 15.12.2014, URL: http://www.youtube.com/ watch?v=1TX6QuKkIIY#t=146 , ab Min. 3:30. 17. Bereits am 28.8.2013 beantwortete Dr. Peter Beckers vom Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg eine Anfrage zu einem angeblichen "Verbot von Weihnachtsfesten und Ramadanfesten auf öffentlichen Straßen und Plätzen" mit dem Hinweis, dass es ein solches nicht gibt. Vgl. Schriftliche Vorlage zur Beantwortung der Mu ndlichen Anfrage DS/0819/IV des Bezirksverordneten Herrn Timur Husein vom 28.08.2013 durch Herrn Dr. Peter Beckers. Eine Pressemitteilung des Bezirksamtes stellte kurz darauf nochmals unmissverständlich klar, dass sich die Übereinkunft von 2007 gegen eine Ramadanfeier für mehrere hundert Personen auf öffentlichem Straßenland richtete und keine grundsätzliche Entscheidung gegen Feste mit religiösem Hintergrund darstellte. Gerade zahlreiche Weihnachtsmärkte seien problemlos durchgeführt worden. Vgl. Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg, Pressemitteilung Nr. 88/2013 v. 3.9.2013. Eine Recherche der Berliner "tageszeitung" hat den genauen Hintergrund der Falschdarstellung durch Pegida nachvollzogen und stellt nach telefonischer Auskunft von Dr. Peter Beckers (18.12.2014) den Sachverhalt zutreffend dar: Sebastian Heise, Ein Weihnachtsmärchen. Taz v. 17.12.2014, URL: https://www. taz.de/Mythos-Winterfeste-in-Berlin/!151427/. 18. Ine Dippmann, Mit Pegida-Demonstranten auf der Straße. MDR-Reportage v. 6.12.2014, URL: http://www.mdr.de/mdr-info/pegida106.html. 19. Hinter Pegida-Protest steht Verteilungskonflikt. Werner Patzelt im Interview mit Web.de am 23.12.2014, URL: http://web.de/magazine/politik/politologe-patzelt-pegida-protest-verteilungskonflikt-30296504. 20. Stefan Locke, Polizisten müssen Demonstranten aufhalten. FAZ online v. 6.1.2015, URL: http:// www.faz.net/aktuell/politik/inland/pegida-in-dresden-polizisten-muessen-demonstranten-aufhalten-13355174. html. 21. Die sächsische NPD begrüßte Pegida bereits im November 2014 und kündigte ihre Unterstützung an. ("Wir sind das Volk" – Mit der PEGIDA den Volkswillen auf die Straße tragen. Arne Schimmer am 26. November 2014. URL: http://npd-sachsen.de/wir-sind-das-volk-mit-der-pegida-den- volkswillen-auf-die-strasse-tragen/ ) Der NPD-Politiker Arne Schimmer nahm an den Umzügen teil und begleitete sie propagandistisch unter anderem mit Bildern von mitlaufenden Burschenschaftern. (Facebook Post von Arne Schimmer v. 15. Dezember 2014 um 23:20 h, URL: https://www.facebook.com/arne.schimmer.9?fref=ts ). Die Zeitschrift "Zuerst" aus dem rechtsextremen Munier-Verlag begleitete die Demonstrationen des 22. Dezember zustimmend mit einem Live-Ticker auf ihrer Online-Präsenz. (http://zuerst.de/2014/12/22/pegida-liveticker-der- demo-montag-in-dresden-bonn-kassel-und-wuerzburg/). Mit ausführlichen zustimmenden Berichten über Pegida wartete auch der Blog "Sezession" aus dem Umfeld des Instituts für Staatspolitik auf. 22. Henning Hoffgaard, Grenzenlose Heuchelei. In: Junge Freiheit online v. 28. Oktober 2014, URL: http://jungefreiheit.de/debatte/kommentar/2014/grenzenlose-heuchelei/. 23. "Dresden zeigt, wie es geht", Blaue Narzisse online v. 28. 10.2014, URL: http://www.blauenarzisse. de/index.php/aktuelles/item/4986-dresden-zeigt-wie-es-geht. Ein weiteres Beispiel für die Übernahme des Staffelstabs durch Pegida von HoGeSa ist die Hamburger AfD-Politikerin Tatjana Festerling, die aufgrund lobender Äußerungen zum Hooligan-Aufmarsch massiv kritisiert wurde und im Anschluss intensiv für Pegida warb. (https://www.facebook.com/pages/Solidarität-mit- Tatjana-Festerling/596435163816970). 24. Alexander Schneider, Wie hältst Du’s mit den Rechten? In: Sächsische Zeitung online v. 29.10.2014 http://www.sz-online.de/nachrichten/wie-haeltst-dus-mit-den-rechten-2961624.html. 25. Vgl. u.a. den Beitrag "Warum ich zu Pegida fahre" auf dem Blog "Identitäre Generation", URL: http://www.identitaere-generation.info/warum-ich-zur-pegida-fahre/. Die Selbstbezeichnung als "patriotische Europäer" ist mit dem identitären Diskurs kompatibel. Der rechtsextreme Theoretiker Guillaume Faye, auf dessen Theorien die aus Frankreich initiierten "Identitären" wesentlich aufbauen, empfiehlt seinen Lesern, sich "schon jetzt (...) in erster Linie als Europäer" zu

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bezeichnen, denn Europa sei die "erste Schicksalsgemeinschaft, die im Laufe des 21. Jahrhunderts an die Stelle der Staatsnationen treten sollte." (Guillaume Faye, Wofür wir kämpfen. Manifest des europäischen Widerstands. Das metapolitische Hand- und Wörterbuch der kulturellen Revolution zur Neugeburt Europas. Bad Wildungen 2006, S. 117). 26. Die inzwischen eingestellte offizielle Pegida-Homepage verlinkte auf zwei Redebeiträge von Dügida aus Düsseldorf vom 8.12.2014 mit Beiträgen von Melanie Dittmer und Sebastian Nobile. Dittmer hat eine Vergangenheit als Rechtsextreme, ist Mitglied von Pro NRW und steht den Identitären nahe, sie war zudem die Initiatorin von Bogida. Nobile kommt aus der rechtspopulistischen Partei "Die Freiheit" und der dem Hooligan-Milieu entstammenden "German Defense League". Bei Bogida am 22.12.2014 sprach auch der Verschwörungstheoretiker Udo Ulfkotte und präsentierte "16 Argumente" zur Unterstützung von Pegida, die im Anschluss durch den Kopp-Verlag verbreitet wurden. (http://info.kopp-verlag.de/hintergruende/deutschland/udo- ulfkotte/16-argumente-um-fuer-pegida-auf-die-strasse-zu-gehen.html). Ulfkotte war zudem Redner am 5.1.2015 in Dresden. 27. Facebook-Post vom 16.12.2014, 10:04 h, URL: https://www.facebook.com/Dr.Frauke.Petry. 28. "Glücklich der Staat, der solche Bürger hat!". AfD-Landeschef Björn Höcke im Gespräch mit Götz Kubitschek über Pegida. Sezession online v. 19.12.2014, URL: http://www.sezession.de/47597/ gluecklich-der-staat-der-solche-buerger-hat-afd-landeschef-bjoern-hoecke-im-gespraech-ueber-die- pegida.html/2. 29. Einschätzung des Kulturbüro Sachsen v. 13.12.2014. 30. Stellungnahme des Rats für Migration e.V. zu den menschenfeindlichen Aufmärschen in Deutschland vom 22.12.2014. URL: http://www.rat-fuer- migration.de/pdfs/PM_RfM_Pegida.pdf. 31. Schriftliche Auskunft von Bernd Wagner, dem Geschäftsführer der Beratungsstelle Hayat, gegenüber dem Autor v. 10.12.2014. Auch die jüdische Gemeinde in Dresden kritisierte, den Montagsdemonstranten gehe es nicht um den Kampf gegen den Islamismus. Ein vorheriger Aufruf ihrer Gemeinde gegen Salafisten habe beispielsweise in der Stadt kaum Gehör gefunden. Dies sei ein Indiz dafür, dass dieses Thema in Dresden nicht derart zentral sei: "Im Frühsommer gab es in Dresden eine salafistische Demonstration. Die Gemeinde hatte zu einer Gegenkundgebung aufgerufen, und da kamen gerade mal 150 Leute. So sehr treibt die Gefahr des Islamismus diese Menschen um." (Gespräch von Martin Krauß mit Nora Goldenbogen, der Vorsitzenden der jüdischen gemeinde Dresden. In: Jüdische Allgemeine online v. 18.12.2014, URL: http://www. juedische-allgemeine.de/article/view/id/21029). Zudem sei ein Teil der Demonstranten von den traditionellen Aufmärschen Rechtsextremer in Dresden bekannt. Daher unterstützte die jüdische Gemeinde Dresden den Protest gegen Pegida (Aufruf "Dresden für alle" auf der Homepage der JGD, URL: http://www.jg-dresden.org/). 32. So die sächsische AfD-Vorsitzende Frauke Petry, die positiv Pegida gegenüber eingestellt ist (JF- TV Dokumentation über Pegida in Dresden am 8.12.2014, URL: http://www.youtube.com/watch? v=FWp_io6aKoI , ab Min. 12:55). In einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk merkte Petry an, dass "sich unter diesem relativ eng gefassten Titel ’Pegida’ mitnichten nur die Sorge über religiösen Extremismus versteckt, sondern im Gegenteil, dass viele Leute offensichtlich mitlaufen, weil sie weit mehr ansprechen wollen als das, das Fehlen einer geregelten Einwanderungspolitik, auch durchaus die Frage, dürfen wir uns als Deutsche überhaupt noch deutsch fühlen", Gespräch mit Frauke Petry im Deutschlandfunk am 11.12.2014, URL: http://www.deutschlandfunk.de/pegida- bewegung-politik-ist-insgesamt-hilflos.694.de.html?dram%3Aarticle_id=305816. Auch der Dresdner Politologe Werner Patzelt beurteilte im Interview der ARD am 15.12.2014 die Pegida-Basis als "Leute, die enttäuscht davon sind, dass die politische Klasse sie nicht danach fragt, ob und wie weit sie Einwanderungsland sein wollen und welche Art der Integrationspolitik vor Ort sinnvoll wäre." URL http://www.tagesschau.de/inland/pegida-135.html, dort ab Min 1:15. Lutz Bachmann selbst streifte in einem ausführlichen Gespräch mit der nationalkonservativen "Jungen Freiheit" das Thema Islamismus nur am Rande ("Wir haben einen Nerv getroffen". In: "Junge Freiheit" Nr. 51 v. 12. Dezember 2014, S. 3.), Patzelt erwähnte es im Gespräch mit der gleichen Zeitung gar nicht (http://jungefreiheit.de/debatte/interview/2014/patzelt-demonstranten-nicht-als-rechtsradikale- abtun/).

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33. Alexander Häusler, Rechtspopulismus als Stilmittel zur Modernisierung der extremen Rechten. In: derselbe (Hg.), Rechtspopulismus als "Bürgerbewegung". Kampagnen gegen Islam und Moscheebau und kommunale Gegenstrategien. Wiesbaden 2008, S. 37-52, hier S. 43. 34. Karin Priester, Populismus als Protestbewegung. In: Häusler 2008, S. 19-16, hier S. 20. 35. Karin Priester, Populismus als Protestbewegung. In: Häusler 2008, S. 19-16, hier S. 20. 36. Gideon Botsch, Die extreme Rechte in der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis heute. Darmstadt 2012, S. 90. 37. Vgl. Martin Langebach/Andreas Speit, Europas radikale Rechte. Bewegungen und Parteien auf Straßen und in Parlamenten. Zürich 2013.

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Rechtspopulistische Parteien und Strömungen

25.1.2017

Europaskepsis und Muslimfeindlichkeit verbinden eine bunte Mischung von Rechtsaußenparteien in Europa. Zum Spektrum gehören rechtsextreme Parteien genauso wie Gruppierungen, die mit populistischen Äußerungen auf sich aufmerksam machen wollen. Dieses Kapitel bietet einen stetig wachsenden Überblick.

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Dialog oder Ausgrenzung – Ist die AfD eine rechtsextreme Partei?

Von Tom Thieme 30.1.2019 Prof. Dr. Tom Thieme ist seit 1. Oktober 2017 Professor für Gesellschaftspolitische Bildung an der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH) in Rothenburg/O.L. Zuvor war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Geschäftsführenden Direktors am Institut für Politikwissenschaft der TU Chemnitz. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören neben der Extremismusforschung die Vergleichende Demokratie- und Diktatur- und Systemwechselforschung, die Parteienforschung und die Osteuropaforschung.

Wie hält es die AfD mit der Demokratie? Öffentlich wie privat dürfte diese Frage weiterhin kontrovers diskutiert werden, auch wenn mit André Poggenburg jüngst ein bekannter Vertreter des rechtsnationalen "Flügels" die Partei verlassen hat. Tom Thieme analysiert das Verhältnis der AfD zum Rechtsextremismus.

Mitglieder der AfD-Parteiführung lassen sich am 02.09.2017 vor dem Kyffhäusertreffen des " Flügels" fotografieren, von links nach rechts: Andre Poggenburg (mittlerweile ausgetreten), Björn Höcke, Andreas Kalbitz, Alexander Gauland, Jörg Meuthen und Ralf Özkara. (© picture-alliance/dpa)

Woran lässt sich die Relevanz eines gesellschaftspolitischen Themas festmachen? Zum einen wohl am Ausmaß des öffentlichen Interesses, zum zweiten an der Kontroversität des Gegenstands und drittens vor allem an den Folgewirkungen der Angelegenheit für das Gemeinwesen. Gilt dieser Maßstab für die Fragen nach der demokratischen Gesinnung und daraus folgend nach dem Umgang mit der Partei Alternative für Deutschland (AfD), liegt der Stellenwert der Problematik auf der Hand: Kaum ein innenpolitisches Thema erfährt derzeit eine solche politische, mediale und wissenschaftliche Aufmerksamkeit[1], erhitzt derart die Gemüter, umfasst so weit auseinanderliegende Standpunkte und

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 109 hat so weitreichende Konsequenzen für den politischen Wettbewerb und das Selbstverständnis der Bundesrepublik wie die Frage: Wie hält es die AfD eigentlich mit der Demokratie?

Die Einschätzungen hierzu könnten nicht verschiedener sein. So erklärte beispielsweise der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen im Sächsischen Landtag, Valentin Lippmann: "Dass die AfD eine Partei der Rassisten und Verfassungsfeinde ist, die auch vor der Forderung nach Menschenrechtsverletzungen nicht zurückschrecken, ist nichts Neues. Bezeichnend ist, in welch unverhohlener Dreistigkeit dies mittlerweile stattfindet."[2] Die AfD sieht dies naturgemäß anders. So antworten die Bundesvorsitzenden Alexander Gauland und Jörg Meuthen im Presseportal der Partei vom 11. September 2018 auf die Anfrage von Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff, die AfD solle ihr Verhältnis zum Rechtsextremismus klären: "Die AfD steht uneingeschränkt zum Grundgesetz und verteidigt die freiheitlich-demokratische Grundordnung ebenso wie das Gewaltmonopol des Staates. Die AfD distanziert sich seit jeher und in aller Klarheit von jeglicher Form des Extremismus, sei dieser links, rechts oder religiös motiviert."[3]

Die Gegensätzlichkeit der Auffassungen von Grünen und AfD mag auf der Hand liegen, handelt es sich doch um die Hauptkonkurrenten in der politischen Konfliktkonstellation um Zuwanderung und Fragen nationaler Identität. Doch selbst innerhalb der Unionsparteien gibt es grundverschiedene Positionen zur AfD, beispielsweise zwischen Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer ("hat mit einer normalen demokratischen Partei nichts zu tun"[4]) und Innenminister Horst Seehofer, der im Sommer 2018 urteilte: "Derzeit liegen die Voraussetzungen für eine Beobachtung der Partei [durch den Verfassungsschutz] als Ganzes für mich nicht vor"[5]. Zu ähnlich unterschiedlichen Einschätzungen kommen die verschiedenen Landesämter für Verfassungsschutz. Nun ließe sich einwenden: Disput ist weder eine Seltenheit im politischen Wettbewerb noch eine Krisenerscheinung der Demokratie, sind doch Streit und Konflikt ebenso Grundelemente der pluralistischen Willensbildung wie Kompromiss und Konsens. Doch so einfach ist es nicht. Denn die Anerkennung von Kontroversität und die Wahrung politischer Neutralität enden, wo die Demokratie in Frage gestellt wird. Für die Politik gilt: Mit Demokraten müssen Dialog, Verhandlungen, im Zweifelsfall auch Koalitionen möglich sein; mit (Rechts-)Extremisten verbietet sich all dies. Die Medien haben den Pluralismus des Meinungsspektrums widerzuspiegeln – nicht aber Positionen jenseits der demokratischen Grundnorm zu veröffentlichen. Lehrer und Polizisten sind zu weltanschaulicher Neutralität verpflichtet – doch gegenüber extremistischen Auffassungen und Handlungen ist eindeutig Stellung zu beziehen: erstgenannte, indem Grenzverletzungen im Unterricht klar aufzuzeigen sind; letztgenannte in Form konsequenten Vollzugshandelns, wenn Straftaten wie Volksverhetzung und Propagandadelikte begangen werden.

Bleibt der demokratische oder rechtsextremistische Charakter indes ungeklärt, besteht folgende doppelte Gefahr fort – gerade mit Blick auf die Rechtsextremismusprävention: Wer zu lasch urteilt, wertet weichgespülte Rechtsextremisten auf. Wer umgekehrt zu scharf urteilt, schließt so möglicherweise demokratische, kritikwürdige, aber eben nicht verfassungsfeindliche Positionen aus dem politischen Wettbewerb aus.

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 110 Was ist (Rechts-)Extremismus, und warum fällt die Abgrenzung zur Demokratie häufig schwer?

Wenn zu klären sein soll, ob es sich bei der AfD um eine rechtsextreme Partei handelt, muss zunächst bestimmt werden, was unter Extremismus und Rechtsextremismus zu verstehen ist. Der Theorie nach ist dies plausibel: Extremismus gilt als Oberbegriff für verschiedenartige Phänomene, die auf die Abschaffung des demokratischen Verfassungsstaates zielen.[6] Die Ausprägung des Rechtsextremismus umfasst diejenigen Strömungen, die die universelle menschliche Freiheit und Gleichheit in Frage stellen, weshalb auch von einer "Ideologie der Ungleichheit" (Wilhelm Heitmeyer) gesprochen wird. Obwohl je nach Erkenntnisinteresse und Theorietradition unterschiedliche Aspekte zur Definition herangezogen werden sowie zwischen rechtsextremen Einstellungen, Weltanschauungen und Handlungen zu unterscheiden ist, lassen sich folgende Kernelemente des Rechtsextremismus aus dem Gros der wissenschaftlichen Literatur ableiten: 1) Autoritarismus bzw. die Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur; 2) Ethnozentrismus und Antipluralismus; 3) Fremdenfeindlichkeit und Rassismus 4) Antisemitismus und Sozialdarwinismus sowie 5) Revisionismus.

In der Praxis fällt die Abgrenzung zwischen Demokratie und (Rechts-)Extremismus mitunter schwer. Warum sich das Wesen mancher Bestrebungen nicht eindeutig bestimmen lässt, hat verschiedene Gründe.[7] Hierfür ist erstens der Bedeutungsverlust der klassischen extremistischen Ideologien zu nennen. Gerade Parteien, die nicht nur die "Szene" mobilisieren wollen, sondern auf die breite Unterstützung der Bevölkerung zielen, grenzen sich bewusst von den diskreditierten Ideen des Nationalsozialismus/Faschismus ab. Daraus resultiert zweitens eine gewachsene interne Heterogenität, sind doch gerade die erfolgreichen Parteien keine straff ideologisierten Kaderorganisationen, sondern Sammlungsparteien mit extremen und gemäßigten Flügeln. Drittens wenden Extremisten Legalitätstaktiken an. Sie verschleiern ihre wahren Absichten, um Popularität über das eigene Milieu hinaus zu gewinnen oder um staatlicher Repression zu entgehen. Viertens ist die Wandlungsfähigkeit einer Organisation zu berücksichtigen – über einen bestimmten Zeitraum hinweg kann sich das rechtsextreme Potenzial abschwächen, aber auch steigern. Und fünftens bleibt das rechtsextreme Ziel – wie die angestrebten Gesellschaftsmodelle in der Zukunft tatsächlich aussähen –gegenwärtig nicht empirisch erfahr- bzw. messbar. Folglich lässt sich nur vermuten, ob eine bestimmte antidemokratische Erscheinung, wenn sie heute die Machtmittel besäße, tatsächlich "ernst macht".

Wie lässt sich das Abgrenzungsproblem lösen – und wie nicht?

Wegen der internen Heterogenität lässt sich der demokratische oder rechtsextreme Charakter der AfD wie auch der vieler anderer Parteien in Europa nicht eindeutig bestimmen, siehe der französische Rassemblement National, die italienische Lega und die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ). Sie befinden sich quasi in einer Grauzone zwischen Demokratie und Rechtsextremismus. Um die schwierige Einordnung solcher Formationen zu umschiffen, hat sich in Politik, Medien und Wissenschaft die Verwendung des (Rechts-)Populismusbegriffs etabliert: nicht eindeutig rechtsextrem, aber auch nicht einwandfrei demokratisch.[8] Populismus gilt einerseits als Stilmittel der Politik, das sich "in der Gier nach Zustimmung von Seiten des Volkes demagogischer Parolen bedient, dem Volke nach dem Mund redet, an Instinkte appelliert und einfache Lösungen propagiert"[9]. Andererseits wird dem Populismus ein eigenständiger inhaltlicher Kern zugeschrieben – nämlich der Antagonismus von Volk und Elite.[10] Demnach beanspruchen Populisten für sich, die Verteidiger des "wahren Volkswillens" zu sein, der in seiner Form als Rechtspopulismus in einer exklusiven nationalen Identität Ausdruck findet.

Mag die Definition von Populismus als Politikstil überzeugen (wie die politische Konkurrenz denunziert oder Wahlkampf geführt wird), so verschärft die Vorstellung vom Rechtspopulismus als "Rechtsextremismus-light-Variante" die zentrale Abgrenzungsfrage. Denn beide Begriffe liegen auf unterschiedlichen analytischen Ebenen. Rechtspopulismus kann in demokratischer und

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 111 extremistischer Ausprägung auftreten. Somit verwischt die Abgrenzung zwischen Demokratie und Rechtsextremismus, wird doch durch die Sammelbezeichnung des Rechtspopulismus die entscheidende Frage nach der Verfassungsmäßigkeit nicht beantwortet. Stattdessen wächst die Beliebigkeit und Vielfalt der Interpretationen, was als rechtspopulistisch zu gelten hat, wenn die harten Kriterien rechtsextremistisch oder demokratisch unberücksichtigt bleiben. Nicht anders verhält es sich bei Verwendung der Sammelkategorie "Radikale Rechte"[11], die Flügelgruppierungen ohne Klärung ihres Verhältnisses zur Demokratie summiert. Doch auch hier verschwindet die Abgrenzungsproblematik nicht, denn bei der Verwendung des Terminus Radikalismus ist ebenso zu definieren, wo eine radikal rechte Position anfängt bzw. aufhört, um Diffamierung nicht Tür und Tor zu öffnen.

Wie lässt sich das Abgrenzungsproblem stattdessen lösen? An der Grundunterscheidung Demokratie oder (Rechts-)Extremismus führt zunächst kein Weg vorbei. Zugleich erscheint es mit Blick auf die Unterschiede zwischen beispielsweise AfD und NPD sinnvoll, danach zu fragen, wie stark der Rechtsextremismus ausgeprägt ist. Die Binärlogik der Extremismustheorie (ja oder nein) lässt sich so mit der Messung unterschiedlicher rechtsextremer Intensität (mehr oder weniger) verbinden.

Zur folgenden Überprüfung des Rechtsextremismus sind drei Dimensionen zu berücksichtigen. Erstens ist die AfD hinsichtlich der rechtsextremen Kernelemente zu untersuchen: 1) Autoritarismus bzw. die Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur; 2) Ethnozentrismus und Antipluralismus; 3) Fremdenfeindlichkeit und Rassismus 4) Antisemitismus und Sozialdarwinismus sowie 5) Revisionismus. Lassen sich solche Faktoren innerhalb der Partei nachweisen, stellt sich zweitens die Frage, welchen Stellenwert diese innerhalb der AfD haben. Entscheidend ist, ob es sich um eine geächtete Außenseiterposition handelt oder eine Ansicht der Parteispitze, eine geduldete Minderheitenposition oder um die Mehrheitsmeinung. Drittens muss geklärt werden, wie die AfD mit anderen antidemokratischen Strömungen umgeht. Ist sie willens und in der Lage, sich von offen rechtsextremen Kräften wie der NPD, den "Szenen" und politisch motivierten Gewalttätern abzugrenzen?

Demokratie oder Rechtsextremismus – Wo steht die AfD?

Ideologisch-programmatische Positionen

Offene Forderungen, die Demokratie in Deutschland abzuschaffen und stattdessen ein autoritäres politisches System zu errichten, lassen sich in den offiziellen Parteidokumenten nicht nachweisen. Jedoch werden in Reden, Medienbeiträgen, Interviews sowie der Kommunikation in den sozialen Netzwerken von einzelnen Mitgliedern immer wieder unverhohlene Drohungen ausgesprochen. So erklärte der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke bei seiner Dresdner Rede am 17. Januar 2017: "Die AfD ist die letzte evolutionäre, sie ist die letzte friedliche Chance für unser Vaterland."[12] Im Umkehrschluss bedeutet dies nichts anderes als die Forderung nach einer gewaltsamen Revolution, die als Widerstandshandlung legitimiert wird, sollte es der AfD nicht gelingen, "diesen Staat, den wir erhalten wollen, vor den verbrauchten politischen Alteliten zu schützen, die ihn nur missbrauchen, um ihn abzuschaffen."[13] In einem Gesprächsband von 2018 gibt sich Höcke – anders als es der AfD- Vorsitzende Alexander Gauland tut – nicht einmal mehr die Mühe, seine Diktaturvorstellungen zu chiffrieren: "Existenzbedrohende Krisen erfordern außergewöhnliches Handeln. [...] Aber die deutsche Unbedingtheit wird der Garant dafür sein, daß wir die Sache gründlich und grundsätzlich anpacken werden. Wenn einmal die Wendezeit gekommen ist, dann machen wir Deutschen keine halben Sachen."[14] Noch weiter geht der AfD-Bundestagsabgeordnete und ehemalige Büroleiter Höckes, Jürgen Pohl, der ein angebliches Gedicht von Theodor Körner zitiert, das seit den 1990er Jahren in der neonationalsozialistischen Szene kursiert: "Noch sitzt ihr da oben, ihr feigen Gestalten. [...] Doch einst wird wieder Gerechtigkeit walten, dann richtet das Volk. Dann gnade euch Gott!"[15] Die Thüringer AfD äußert zu Pohls Auftritt auf der Landeswahlversammlung am 18. Februar 2017, dass "dessen bewegende Rede sicher noch vielen Anwesenden im Gedächtnis bleiben wird"[16]. In der Erfurter Resolution des rechtsgerichteten Flügels innerhalb der AfD wird die Partei als "Widerstandsbewegung"

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[17] definiert, worin der Politikwissenschaftler Jürgen P. Lang nichts anderes als eine Kampfansage an die freiheitlich demokratische Grundordnung sieht.[18] Der Autoritarismus bei Höcke zeige sich zudem darin, dass individuelle Freiheit für ihn kein Grundwert der Demokratie sei, sondern eine Bedrohung der "sozialen Gesellschaft"[19].

Die Fundamentalkritik am demokratischen System Deutschlands geht mit einem dezidierten ethnozentrischen Antipluralismus einher. Für große Teile der Parteiführung und -basis bedeutet Demokratie nicht Interessenvielfalt und Minderheitenschutz, sondern sie vertreten ein identitätstheoretisches Gesellschaftsverständnis, das von einer weitgehenden Interessenhomogenität ausgeht. Demnach existiert nur ein einheitlicher Volkswille, der im Wesentlichen auf der Vorstellung ethnischer Homogenität beruht. Wer sich gegen solche Positionen wendet, wird als "Volksverräter" geschmäht und als nicht dem Volk zugehörig ausgegrenzt. Zwei Beispiele unter vielen: In der Erfurter Resolution heißt es, die AfD versteht sich "als Bewegung unseres Volkes gegen die Gesellschaftsexperimente der letzten Jahrzehnte (Gender Mainstreaming, Multikulturalismus, Erziehungsbeliebigkeit), [...] als Widerstandsbewegung gegen die weitere Aushöhlung der Souveränität und der Identität Deutschlands."[20] Noch deutlicher macht , Bundesvorsitzender der Jungen Alternative von 2015 bis 2018 und vor seinem Einzug in den Bundestag 2017 Sprecher von , sein Volksverständnis: "Ich sage diesen linken Gesinnungsterroristen, diesem Parteienfilz ganz klar: Wenn wir kommen, dann wird aufgeräumt, dann wird ausgemistet, dann wird wieder Politik für das Volk und nur für das Volk gemacht – denn wir sind das Volk, liebe Freunde." [21]

Der Instrumentalisierung des Leitmotivs der Friedlichen Revolution 1989/90 "Wir sind das Volk" – damals ein Ausdruck gegen die Willkürherrschaft der SED-Diktatur – ist entgegenzuhalten: Nein, die AfD ist eben nicht Das Volk. Sie ist ein beträchtlicher Teil davon, aber bei weitem nicht die Mehrheit. Und selbst wenn die AfD die Mehrheitsmeinung vertreten würde, müssten grundlegende Rechte und Interessen der Minderheiten geschützt bleiben: das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung und Religionsausübung, auf Besitz, Unversehrtheit usw. Alles andere liefe auf die Errichtung einer Diktatur mit Privilegien für jene hinaus, die sich dem von der AfD definierten Volksbegriff zugehörig fühlen. Dass indes große Bevölkerungsteile andere Ansichten bei Fragen zur nationalen Identität und Zugehörigkeit haben als die AfD, ignorieren oder verurteilen manche Vertreter der Partei. Wer die "Altparteien" unterstützt, ist entweder Nutznießer des korrupten Systems oder zu dumm, den Verrat am Vaterland zu durchschauen – in beiden Fällen jedoch unwürdig, dem "wahren" deutschen Volk anzugehören.

Grundsätzlich ist die Frage, wie ein Staat mit Ausländern und Zuwanderern umgeht, keine von Extremismus und Demokratie, ebenso wie strenge Visaregeln oder eine rigorose Flüchtlingspolitik kein Ausdruck eines autoritären Systems sind (z. B. Australien, Italien). Die Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit der AfD jedoch kommt teilweise als unverhohlener Rassismus daher. Abfällige, chauvinistische Äußerungen über Menschen nicht-deutscher Herkunft, Ethnie und Religion sind Legion. Der AfD-Rassismus begrenzt sich zudem nicht auf Ausländer, sondern richtet sich auch gegen deutsche Staatsbürger mit Migrationshintergrund – vor allem, wenn diese einen muslimischen Hintergrund haben. Ihnen die gleichen Rechte, ihre Religionsfreiheit, ihre Existenz in Deutschland abzusprechen, läuft auf die Ablehnung der fundamentalen menschlichen Gleichheit hinaus.

Wie rechtfertigt die AfD ihren Rassismus und ihre Fremdenfeindlichkeit? Sie spricht – ähnlich der NPD – von der "Vernichtung des Deutschen Volkes", von der "Umvolkung", vom "großen Austausch" und dem "Volkstod".[22] Das deutsche Volk wird als Schicksalsgemeinschaft verstanden, das durch die Förderung von Zuwanderung und einer multikulturellen Gesellschaft vor dem Aussterben stehe. Dieses Szenario rechtfertigt zahlreichen und namhaften AfD-Politikern sämtliche rhetorischen Mittel. So bezeichnet der Bundestagsabgeordnete Flüchtlinge als "Invasoren" und "Migrassoren" sowie den früheren US-Präsident Obama als "Quotenneger". [23] Gauland sprach davon, die Integrationsbeauftrage Aydan Özoguz nach Anatolien "entsorgen" zu wollen. Besonderen Aufruhr erzeugte die von AfD-Anhängern umjubelte Aschermittwochsrede des damaligen AfD-Chefs

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 113 von Sachsen-Anhalt André Poggenburg im Februar 2018 (der im Januar 2019 nach massivem internen Druck aus der Partei ausgetreten ist). Er bezeichnete Deutschtürken als "Kümmelhändler" und "vaterlandsloses Gesindel": "Diese Kameltreiber sollen sich dorthin scheren, wo sie hingehören, weit, weit, weit hinter den Bosporus, zu ihren Lehmhütten und Vielweibern. Hier haben sie nichts zu suchen und zu melden."[24] Die ausländerfeindlichen Aussagen haben zwei zentrale Botschaften: Erstens seien aus Afrika und dem Nahen Osten stammende Menschen kulturell unterentwickelt und kriminell, weswegen zweitens das deutsche Volk in seiner Existenz elementar bedroht werde.

Antisemitismus und Sozialdarwinismus sind innerhalb der AfD dagegen keine verbreiteten Positionen. So fallen auch die Rechercheergebnisse der Wochenzeitung Die Zeit über den "latenten Antisemitismus"[25] der Partei und des ZDF-Politmagazins Frontal[26] eher knapp aus. Verwiesen wird zuvörderst auf den baden-württembergischen Landtagsabgeordneten Wolfgang Gedeon, der jedoch in der AfD selbst hochumstritten ist.[27] Laut einem Gutachten des Dresdner Politikwissenschaftlers Werner Patzelt verbreite Gedeon zwar keinen Judenhass, keinen biologisch- rassistischen Antisemitismus und leugne nicht den Holocaust, wohl aber vertrete er einen israelkritischen Antizionismus bzw. Antijudaismus: "[...] der lässt sich aber nicht vom Antisemitismus trennen"[28]. Für Björn Höcke stellen Christentum und Judentum "einen Antagonismus dar", der diese Aussage jedoch nicht als Kritik am Judentum verstanden wissen will, sondern der Versuch sei, der Verwässerung jüdischer und christlicher Identität entgegenzuwirken.[29]

Auch beim Antisemitismus ähnelt die AfD-Haltung der vieler Rechtsextremisten in Europa : Die Distanzierung vom Antisemitismus und die Bezugnahme auf eine christlich-jüdische Kultur dienen als Frontstellung gegen den Islam und die Muslime. Nicht zuletzt die am 7. Oktober 2018 gegründete Vereinigung "Juden in der AfD" richtet sich nach deren Selbstverständnis gegen "die unkontrollierte Masseneinwanderung junger Männer aus dem islamischen Kulturkreis" und eine "durch die islamische Ideologie bedingte[n], antisemitische[n] Sozialisation".[30] Auch die sozialdarwinistische Ideologie des Nationalsozialismus von der Überlegenheit der weißen Rasse und der germanischen Völker gegenüber minderwertigen "Untermenschen" lässt sich der AfD nicht nachweisen. Analog zu den Entwicklungen in anderen europäischen Staaten werden Rassismus und Ausländerfeindlichkeit heute überwiegend nicht offen biologisch, sondern kulturell begründet. Euphemistisch ist von "Ethnopluralismus" die Rede – maßgeblich geprägt durch den französischen Rechtsintellektuellen –, wonach jeder "Ethnie" oder "Rasse" ihr Existenzrecht gebilligt wird, jedoch strikt getrennt nach den traditionellen Herkunftsräumen, um die Reinheit der verschiedenen Völker zu sichern. So macht z. B. Höcke die nationale Identität an Kultur und Geschichte, nicht am "Deutschen Blut" fest: "Wir, das deutsche Volk, sind eben nicht verpflichtet, unsere materielle und kulturelle Substanz [...] im eigenen Land auf Dauer einer fremdbestimmten Migrantenmehrheit zu opfern."[31]

Im Widerspruch zur Abgrenzung von Antisemitismus und Sozialdarwinismus der AfD stehen zahlreiche Beispiele der Verharmlosung des Nationalsozialismus. Der sächsische Bundestagsabgeordnete spricht in der Diktion der NPD vom "Schuldkult"[32], der Parteivorsitzende Gauland bezeichnet die zwölf Jahre des Nationalsozialismus als "Vogelschiss der Geschichte"[33], Höcke nennt das Holocaustmahnmal in Berlin "Denkmal der Schande" und "dämliche Erinnerungspolitik" und fordert "eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad"[34]. Was die AfD nicht sagt: Was wäre denn die Alternative zur hiesigen Erinnerungskultur? Vergessen im besseren Fall, das Gedenken an die "Heldentaten" von Wehrmacht und SS im schlimmeren Fall? Zumal die Behauptung einer verengten Geschichtsbetrachtung auf die Zeit des Dritten Reiches schlicht unzutreffend ist: Deutschland, das Land der Dichter und Denker, der Wissenschaft, des Wirtschaftswunders im Westen und der friedlichen Revolution im Osten – es gibt zahlreiche positive Referenzpunkte der deutschen Geschichte. Aber: Die Verbrechen des Nationalsozialismus zählen ebenso dazu wie der von Deutschland entfesselte Zweite Weltkrieg und der einmalige Zivilisationsbruch eines industriell geplanten und durchgeführten Massenmordes an Millionen Juden. Der deutsche "Schicksalstag" des 9. Novembers bringt all diese Ambivalenzen zum Ausdruck: die Ausrufung der Novemberrevolution 1919 und der Mauerfall 1989 im positiven Sinne; der Hitler-Ludendorff-Putsch 1923 und die Reichspogromnacht 1938 im Negativen. Das ist die Realität deutscher Erinnerungskultur.

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Stellenwert rechtsextremer Positionen in der AfD

Die Frage nach der Größenordnung rechtsextremer Positionen in der AfD zeigt ein ambivalentes Bild. Einerseits ist die Mehrheit der Parteibasis als auch der Parlamentarier als demokratisch einzustufen. Nach Recherchen der ARD gehört allerdings etwa ein Viertel bis ein Drittel der Mitglieder den in Teilen rechtsextremen parteiinternen Gruppen Der Flügel und Patriotische Plattform an.[35] Gleiches gilt für Einordnungen der Bundestagsabgeordneten (etwa 20 von 93). Auch im 14-köpfigen Parteivorstand zählt die Mehrheit zum demokratischen Lager. Zugleich ist der Flügel in der Parteispitze mit (Bundesschatzmeister) und Andreas Kalbitz (AfD-Chef in Brandenburg) präsent. Dass die rechtsextremen Vertreter zwar nicht das Machtzentrum dominieren, aber mehr sind als nur Hinterbänkler, zeigt sich auch mit Blick auf die Landesverbände – vor allem im Osten Deutschlands. Die Vorsitzenden der Landesverbände Brandenburg (Kalbitz), Thüringen (Höcke), Sachsen (Jörg Urban) und Sachsen-Anhalt (bis Anfang 2018 Poggenburg, seitdem und an der Fraktionsspitze Oliver Kirchner) gehören allesamt dem völkisch-nationalen Flügel der AfD an, teilweise sind sie Mitunterzeichner der Erfurter Resolution. Zugleich suchen die Bundesparteivorsitzenden Gauland und Jörg Meuthen den Schulterschluss mit den Hardlinern, wie deren Teilnahme am Jahrestreffen des Flügels, dem Kyffhäusertreffen in Thüringen 2018, zeigt.

Im Umgang mit offen rechtsextremen Positionen folgt die AfD keiner klaren Linie: Zwar wurde Poggenburg nach seiner Aschermittwochsrede der Rücktritt nahegelegt, jedoch vertreten seine Nachfolger im Wesentlichen die gleichen Positionen. Auch kam es nicht zu den Parteiausschlüssen der umstrittenen Mitglieder Höcke, Maier und Gedeon (auch wenn die AfD im letztgenannten Fall einen neuen Versuch unternimmt) – im Gegenteil: Höcke ist Spitzenkandidat für die Landtagswahl in Thüringen im Herbst 2019. Wenn eine Distanzierung erfolgt, dann ist diese meist nicht inhaltlich, sondern taktisch motiviert. So sollen die Patriotische Plattform und die Junge Alternative aufgelöst werden, um eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz zu verhindern, nicht weil man sie für verfassungsfeindlich hält. So sagt der Landtagsabgeordnete aus Sachsen-Anhalt, Hans-Thomas Tillschneider, die Patriotische Plattform sei gegründet worden, um sich gegen die gemäßigten Strömungen von Bernd Lucke und Frauke Petry zu positionieren. Dieses Ziel sei längst erreicht: "Wir können alles, was wir sagen und tun wollen, auch auf allen Ebenen der AfD sagen und tun."[36]

Um den AfD-Kurs finden nicht zuletzt massive innerparteiliche Auseinandersetzungen statt. Das zeigte sich zunächst im Machtkampf um Parteigründer Bernd Lucke 2015, der die Entwicklung von einer eurokritischen zu einer zuwanderungsfeindlichen Partei nicht mitmachen wollte und im Machtkampf unterlag. Gleiches geschah nach der Bundestagwahl 2017 mit Frauke Petry, wobei die Auseinandersetzung hier weniger eine inhaltliche als vielmehr eine machttaktische war. Verließen mit Lucke, Petry und deren Gefolgsleuten eher gemäßigte Kräfte die Partei, räumte mit dem Austritt Poggenburgs Anfang 2019 ein Hardliner das Feld. In der Gründungserklärung seiner neuen Partei Aufbruch deutscher Patrioten (AdP) heißt es, dass sich die AfD "zu schnell dem Establishment annäherte"[37]. Das Konfliktpotenzial belegen ferner stark zerrüttete Landesverbände (Baden- Württemberg, Nordrhein-Westfalen) und die Aussagen mancher ehemaliger AfD-Politiker. Hier ist jedoch häufig unklar, ob die Austritte tatsächlich als Zeichen des Protests gegen den Kurs der Partei oder eher als Folge persönlicher Konflikte und unerfüllter Karriereambitionen zu bewerten sind. Fest steht: Die AfD prägt ein massiver interner Richtungsstreit: Völkisch-nationale Kreise bezeichnen gemäßigte Positionen als "Scheinalternative"[38], während die Alternative Mitte fordert, die "AfD sollte Höcke endlich in hohem Bogen aus der Partei werfen"[39].

Umgang mit offen rechtsextremen Kräften

Auch im Verhältnis zu eindeutig rechtsextremen Kräften offenbart die AfD keine klare Linie. So existiert einerseits eine 13-seitige Liste von Organisationen, für die eine offizielle Unvereinbarkeit mit der AfD- Mitgliedschaft gilt.[40] Hierzu zählen Parteien wie die NPD und Die Rechte, Reichsbürger- und Kameradschaftsszene, die meisten GIDA- und Pro-Bewegungen sowie die Identitäre Bewegung (IB).

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Gleiches galt seit Beginn der Demonstrationen 2015 auch für PEGIDA, allerdings wurde der Beschluss im Mai 2018 aufgehoben, was von Anhängern des Flügels ausdrücklich gelobt wurde. Ob die Annäherung ein Indiz für den Rechtsextremismus der AfD ist, wird kontrovers bewertet, sind doch Partei und Bewegung bei Fragen zu Migration und Integration aus ähnlichem Holz geschnitzt und der Charakter von PEGIDA ebenso umstritten wie der der AfD. Die Distanz war ohnehin weniger inhaltlicher Natur, sondern vielmehr der Versuch der AfD, sich vom kleinkriminellen Milieu um die Person Lutz Bachmann abzugrenzen.

Anderseits liegen gewichtige Anhaltspunkte für eine Zusammenarbeit der AfD mit rechtsextremen Personen und Organisationen vor. Dokumentiert sind große Schnittmengen zur IB, deren Anhänger als Mitarbeiter bei der AfD beschäftigt sind, die Räumlichkeiten und Infrastruktur der Partei nutzen und als Referenten bei AfD-Veranstaltungen auftreten.[41] Ähnliches gilt für ehemalige Mitglieder in Burschenschaften, der NPD-Nachwuchsorganisation Junge Nationalisten und der Kameradschaftsszene, die in der Partei aktiv sind. Zwar ist jedem Menschen ein politischer Wandlungsprozess zuzugestehen und es gilt eben nicht die verbreitete Meinung "einmal Nazi – immer Nazi". Jedoch fehlt bei vielen AfD- Mitgliedern mit rechtsextremer Vorgeschichte eine klare Distanzierung von der Vergangenheit. Bei eigenen Veranstaltungen oder in der internen Kommunikation zeigen zahlreiche Belege ein vielfach unverändertes Denken oder, dass manche Positionen aus strategischen Gründen abgemildert werden – es sich um bloße Lippenbekenntnisse zum demokratischen Verfassungsstaat handelt.

Wenn sich bei Demonstrationen der AfD auch offen rechtsextreme Personen versammeln, verweist die Partei darauf, dass sie nichts dafür könne, wenn solche Kräfte teilnähmen. Das ist jedoch allenfalls die halbe Wahrheit. Denn teilweise forciert die AfD die Zusammenarbeit selbst, wie der Schulterschluss nach dem tödlichen Messerangriff in Chemnitz mit der hiesigen Pro-Bewegung während des gemeinsamen "Trauermarsches" am 31. August 2018 zeigt. So spricht der Pro-Vorsitzende Martin Kohlmann von einem "Systemwechsel", von "Selbstverteidigung gegen Ausländer" und unterhält aktive Kontakte zur rechtsextremen Szene.[42] Laut sächsischem Verfassungsschutz sei Pro Chemnitz "tief in der rechtsextremen Szene vernetzt" und es lägen Verhaltensweisen vor, "die wesentliche Schutzgüter der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekämpfen."[43] Sich mit solchen Formationen gemein zu machen, widerspricht nicht nur den eigenen Unvereinbarkeitsregeln, sondern auch dem Selbstanspruch, eine Partei der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu sein.

Fazit – Ist die AfD rechtsextrem und welche Schlüsse folgen daraus?

Jenseits aller berechtigten Kritik und unabhängig von der inhaltlichen und personellen Heterogenität – es handelt sich bei der Alternative für Deutschland meiner Einschätzung nach mehrheitlich um eine demokratische Partei. Das gilt für Wähler, Basis und Führung gleichermaßen. Vor allem ist die Partei keine neonationalsozialistische, keine "Nazi-Partei", da sowohl die Zurückweisung des Antisemitismus als auch der Rassenlehre der Nationalsozialisten umfassend und glaubhaft erfolgt. Zugleich und im Widerspruch dazu steht eine Reihe verharmlosender Aussagen zum NS-Regime, ebenso gibt es zahlreiche Belege für rassistische und antipluralistische Positionen. Zudem sind es keine isolierten Außenseiterpositionen, sondern bis in die Parteispitze hinein verankerte oder zumindest geduldete Auffassungen. Mit dem Verweis darauf, als neue Volkspartei unterschiedliche Strömungen integrieren zu wollen, wird das Dasein rechtsextremer Haltungen verteidigt – dies sei bei anderen Parteien mit verschiedenen Flügeln nicht anders. Dabei wird jedoch der wesentliche Unterschied zur demokratischen Konkurrenz unterschlagen: dass sich ein Teil der AfD außerhalb des demokratischen Meinungsspektrums bewegt. Solange die Gesamtpartei keine eindeutige Distanzierung von derartigen Positionen und ihren Vertretern vornimmt, ist sie als "weiche" rechtsextreme Partei zu charakterisieren.

Die Folge: Da der Rechtsextremismus in der AfD nicht vollständig isoliert ist, ist die Einbindung im politischen Wettbewerb in Form von Koalitionen aus demokratietheoretischer Sicht problematisch. Umgekehrt sollte nicht jede Position der AfD per se als rechtsextrem zurückgewiesen werden, sondern geprüft werden, ob sie demokratisch ist. Sonst würde es die Ablehnung des politischen Systems unter AfD-Anhängern nur noch vergrößern, die Vorurteile der Ausgrenzung bestätigen und die

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 116 gesellschaftliche Polarisierung verstärken. Darum ist im Umgang mit der Partei und ihren Sympathisanten zu differenzieren: Die glaubhaft demokratischen Kräfte sollten durch Dialogangebote in den Willensbildungsprozess einbezogen werden, was erstens den Ausgrenzungsvorwurf widerlegen würde und zweitens manche verhärtete Front lösen könnte. Den rechtsextremen Bestrebungen in der AfD ist dagegen in aller Klarheit die Unvereinbarkeit solcher Auffassungen mit der freiheitlich demokratischen Grundordnung entgegenzuhalten. Und solange hat auch die politische Bildung – unabhängig von weltanschaulicher Neutralität – auf rechtsextremistische Grenzüberschreitungen hinzuweisen. Eine "normale" Partei kann die AfD nur sein, wenn sie Farbe zur Demokratie bekennt und ihre Doppelstrategie von bürgerlicher Protestpartei hier und rechtsextremer Antisystempartei da aufgibt.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Tom Thieme für bpb.de

Fußnoten

1. Siehe statt vieler die ARD-Dokumentation: Am Rechten Rand, Erstausstrahlung am 15. Oktober 2018, unter: https://www.daserste.de (https://www.daserste.de/information/reportage-dokumentation/ dokus/videos/am-rechten-rand-video-102.html) (01.01.2019); sowie aus wissenschaftlicher Perspektive die Einschätzungen in den deutschen Printmedien Julian Schärdel, Vom euroskeptischen Herausforderer zur rechtsextremen Gefahr? Eine Untersuchung der regionalen Berichterstattung über die AfD in neun deutschen Landtagswahlkämpfen, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 48 (2017) 1, S. 76-110. 2. Valentin Lippmann, Menschenrechtsverletzungen – wie die Forderung nach Schusswaffengebrauch an der Grenze – sind bei der AfD Programm, Pressemitteilung vom 28. Juli 2018, unter: http:// www.gruene-fraktion-sachsen.de (http://www.gruene-fraktion-sachsen.de/presse/pressemitteilungen/2018/ menschenrechtsverletzungen-wie-die-forderung-nach-schusswaffengebrauch-an-der-grenze-sind- bei-der-afd-programm/) (01.01.2019). 3. Jörg Meuthen/Alexander Gauland, Die AfD als Rechtsstaatspartei bedarf keiner Belehrungen, Stellungnahme vom 11. September 2018, unter: https://www.afd.de (https://www.afd.de/meuthen- gauland-die-afd-als-rechtsstaatspartei-bedarf-keiner-belehrungen/) (01.01.2019). 4. Michael Kretschmer, "Mit diesen Leuten haben wir nichts gemeinsam." Interview mit der Berliner Zeitung vom 11. Januar 2019, S. 2. 5. Horst Seehofer im Interview mit den Redakteuren der Funke Mediengruppe am 1. September 2018, unter: https://www.derwesten.de (https://www.derwesten.de/politik/horst-seehofer-afd-soll- sich-von-gewalt-distanzieren-id215225627.html)(Stand: 01.01.2019). Mittlerweile prüft das Bundesamt für Verfassungsschutz die Bobachtung der Gesamtpartei; was jedoch nicht den Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel bedeutet. 6. Vgl. hier und im Folgenden zur Definition und zur Diskussion um den Begriff aktuell Tom Mannewitz u. a., Was ist politischer Extremismus? Grundlagen, Erscheinungsformen und Interventionsansätze, Frankfurt a. M. 2018, S. 17-22, 40-42. 7. Vgl. im Einzelnen Tom Thieme, Populismus, Radikalismus, Semi-Extremismus, in: Uwe Backes u.a. (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus und Demokratie, Bd. 30, Baden-Baden 2018, S. 13-29, hier S. 14-18. 8. So zuletzt Everhard Holtmann, Völkische Feindbilder. Ursprünge und Erscheinungsformen des Rechtspopulismus in Deutschland, Bonn 2018. 9. Dieter Nohlen, Populismus, in: Ders./Florian Grotz (Hrsg.), Kleines Lexikon der Politik, 6. Aufl., München 2015, S. 513-525. 10. Vgl. Tim Spier, Was versteht man unter „Populismus“?, in: Bundeszentrale für politische Bildung,

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Dossier Rechtspopulismus, abrufbar unter: http://www.bpb.de (http://www.bpb.de/politik/ extremismus/rechtspopulismus/192118) (Stand: 01.01.2019). 11. So etwa Andreas Speit/Martin Langebach, Europas radikale Rechte. Bewegungen und Parteien auf Straßen und in Parlamenten, Zürich 2013. 12. Björn Höcke, Rede bei den Dresdner Gesprächen der Jungen Alternative der AfD am 17. Januar 2017, unter: https://www.youtube.com (https://www.youtube.com/watch?v=vd-66MVkMis) (Stand: 01.01.2019). 13. Ebd. 14. Björn Höcke, Nie zweimal in denselben Fluss. Björn Höcke im Gespräch mit Sebastian Hennig, Berlin 2018, S. 255-258. 15. Siehe die Recherchen von Gerald Krieghofer, unter: http://falschzitate.blogspot.com (http:// falschzitate.blogspot.com/2018/02/noch-sitzt-ihr-da-oben-ihr-feigen.html) (Stand: 01.01.2019). 16. Nadine Hoffmann, Erfolgreiche Aufstellungsversammlung der AfD Thüringen für die Landesliste zur Bundestagswahl 2017, in: AfDkompakt vom 24. Februar 2017, unter: https://afdkompakt.de (https://afdkompakt.de/2017/02/24/) (Stand: 01.01.2019). 17. Der Flügel, Die „Erfurter Resolution“ vom 15. März 2015, unter: https://www.derfluegel.de (https:// www.derfluegel.de/2015/03/14/die-erfurter-resolution-wortlaut-und-erstunterzeichner)/ (Stand: 01.01.2019). 18. Jürgen P. Lang, Biographisches Porträt: Björn Höcke, in: Uwe Backes u. a. (Anm. 7), S. 191-207, hier S. 201. 19. Björn Höcke, zitiert nach ebd. 20. Erfurter Resolution (Anm. 17). 21. Markus Frohnmaier auf einer Demonstration der AfD in Erfurt am 28. Oktober 2015, unter: https:// www.youtube.com (https://www.youtube.com/watch?v=6znCu1VMr5Q) (Stand: 01.01.2019). 22. Vgl. hierzu im Einzelnen Christoph Kopke, Verschwörungsmythen und Feindbilder in der AfD und in der neuen Protestbewegung von rechts, in: Neue Kriminalpolitik 29 (2017) 1, S. 49-61, hier S. 56 f. 23. Zitiert nach Rudiger Soldt, Ein Beamter mit geringer Neigung zur Mäßigung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. August 2018, S. 4. 24. André Poggenburg, Rede zum politischen Aschermittwoch der AfD am 14. Februar 2018, unter: https://www.youtube.com (https://www.youtube.com/watch?v=lozZij_x6qw) (Stand: 01.01.2019). 25. Tilmann Steffen, Juden und die AfD, geht das zusammen, in: Die Zeit-Online vom 7. Oktober 2018, unter: https://www.zeit.de (https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-10/antisemitismus-juden- muslime-islamophobie-widerspruch-afd) (Stand: 01.01.2019). 26. Frontal 21, Die AfD und der Antisemitismus, Sendung vom 20. November 2018, unter: https:// www.youtube.com (https://www.youtube.com/watch?v=RH8SrqWH5b8) (Stand: 01.01.2019). 27. Der Ausschluss Gedeons aus der AfD-Fraktion im Landtag von Baden-Württemberg wegen des Vorwurfs des Antisemitismus führte 2016 beinahe zur Spaltung des Landesverbandes. Seitdem ist Gedeon Einzelabgeordneter. Ein Parteiausschlussverfahren gegen ihn wurde 2017 von einem Parteischiedsgericht aus Mangel an Beweisen zurückgewiesen. Einen neuerlichen Versuch leitete der AfD-Parteivorstand im Herbst 2018 ein. Vgl. Tilmann Steffen, AfD-Spitze will Holocaustleugner aus der Partei werfen, in: Die Zeit-Online, unter https://www.zeit.de (https://www.zeit.de/politik/ deutschland/2018-10/wolfgang-gedeon-afd-holocaustleugner-ausschlussverfahren) (Stand: 01.01.2019). 28. Werner Patzelt, Gedeon und der Antisemitismus. Gutachten vom 5. Juli 2016, unter: https:// wjpatzelt.de (https://wjpatzelt.de/2016/07/05/gedeon-und-der-antisemitismus-gutachten/) (Stand: 01.01.2019). 29. Björn Höcke zitiert nach Götz Kubitschek, „Christentum und Judentum stellen einen Antagonismus dar.“ – ein Fundstück, in: Sezession vom 19. Dezember 2015, unter: https:// sezession.de (https://sezession.de/52624/christentum-und-judentum-stellen-einen-antagonismus- dar-ein-fundstueck)(01.01.2019). 30. Grundsatzerklärung der Bundesvereinigung Juden in der Alternative für Deutschland, unter: http:// www.j-afd.org (http://www.j-afd.org/grundsatzerklaerung) (Stand: 01.01.2019). 31. Björn Höcke, Rede am 22. Oktober 2015, unter: https://www.youtube.com (https://www.youtube. com/watch?v=dKNJBWScB5o) (Stand: 01.01.2019).

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32. Jens Maier, Rede bei den Dresdner Gesprächen der Jungen Alternative der AfD am 17. Januar 2017, unter: https://www.youtube.com (https://www.youtube.com/watch?v=HnDXa8vIeXA) (Stand: 01.01.2019). 33. Alexander Gauland, Rede beim Bundeskongress der Jungen Alternative Thüringen am 4. Juni 2018, unter: https://www.youtube.com (https://www.youtube.com/watch?v=akvKeLuPYec) (Stand: 01.01.2019) 34. Björn Höcke (Anm. 12). 35. Vgl. hier und im Folgenden die ARD-Dokumentation Am Rechten Rand (Anm. 1). 36. Hans-Thomas Tillschneider zitiert Melanie Amann, Auflösung der „Patriotischen Plattform“, in: Der Spiegel vom 22. September 2018, S. 23. 37. Erklärung zur Gründung der AdP, unter: https://www.facebook.com (https://www.facebook.com/ AdP.Mitteldeutschland/) (Stand: 01.01.2019). 38. Hans-Thomas Tillschneider (Anm. 36). 39. Alternative Mitte, AfD sollte Höcke endlich in hohem Bogen aus der Partei werfen. Pressmitteilung vom 14. Oktober 2018, unter: https://www.mitte-der-alternative.de (https://www.mitte-der- alternative.de/2018/10/) (Stand: 01.01.2019). 40. Unvereinbarkeitsliste für AfD-Mitgliedschaft vom 31. Oktober 2018, unter: https://www.afd.de (https://www.afd.de/unvereinbar/) (Stand: 01.01.2019). 41. Vgl. ausführlich die Recherchen der ARD-Dokumentation Am Rechten Rand (Anm. 1). 42. Vgl. Anwaltskammer Sachsen mit Verfahren gegen Pro Chemnitz-Chef Kohlmann, in: Freie Presse vom 10. Oktober 2018, S. 2. 43. Thilo Alexe, Verfassungsschutz nimmt „Pro Chemnitz“ ins Visier, in: Sächsische Zeitung vom 10. Januar 2019, S. 1.

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Die AfD: Werdegang und Wesensmerkmale einer Rechtsaußenpartei

Von Alexander Häusler 25.6.2018 Alexander Häusler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Forschungsschwerpunktes Rechtsextremismus/Neonazismus der Hochschule Düsseldorf (www.forena.de)

Seit Gründung der "Alternative für Deutschland" (AfD) im Jahr 2013 wird über ihre politische Verortung gestritten. Die zunächst mehrheitlich national- und wirtschaftsliberal ausgerichtete Rechtsaußenpartei hat in den vergangenen Jahren mehrere Metamorphosen vollzogen. Mittlerweile lassen sich nach Alexander Häusler in der Partei deutliche Merkmale eines "völkisch-autoritären Populismus" erkennen.

23.06.2018, Sachsen-Anhalt, Burgscheidungen: Eine Teilnehmerin des Treffens des rechtsnationalen "Flügels" der AfD wartet mit AfD-Schirm und Beutel mit dem Portraitbild von Björn Höcke, AfD-Fraktionsvorsitzender im Thüringer Landtag, vor dem Schloss in Burgscheidungen auf Einlass. (© picture-alliance/dpa)

Die Partei "Alternative für Deutschland" (AfD) hat seit ihrer Gründung im Februar 2013 in der Öffentlichkeit zu erheblichen Debatten hinsichtlich ihrer politischen Verortung gesorgt. Strittig war zur Zeit ihrer Gründungsphase, ob diese rechts der Unionsparteien stehende Partei mehrheitlich dem Nationalliberalismus, dem Konservatismus, dem Rechtspopulismus oder gar dem Rechtsextremismus zuzuordnen sei. Einhergehend mit ihrem Einzug in den Deutschen Bundestag 2017 als drittstärkste Fraktion hat sich eine deutliche Verschiebung der politisch-parlamentarischen Repräsentationsbreite der AfD nach Rechtsaußen vollzogen.

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Die Schwierigkeit einer eindeutigen politischen Charakterisierung dieser Partei aus Sicht der Politik- und Parteienforschung ist bislang dem Umstand geschuldet, dass die AfD einerseits unterschiedliche politische Milieus und Strömungen repräsentiert und dass sie sich andererseits im Laufe ihres bislang fünfjährigen Werdegangs stark verändert und radikalisiert hat.

Politischer Werdegang: Phasen rechter Radikalisierung

Wichtig für die öffentliche Wirkung der AfD und Voraussetzung für ihre ersten Wahlerfolge war, dass ihr zentraler politischer Ursprung nicht im Rechtsextremismus – im Unterschied etwa zu der NPD oder den sog. Pro-Parteien – zu verorten gewesen ist. Entstanden als zunächst mehrheitlich national- und wirtschaftsliberal ausgerichtete Rechtsaußenpartei[1] mit teils rechtspopulistischer Rhetorik beherbergte die AfD zugleich ein nationalkonservatives Milieu, das sich im Laufe ihres politischen Werdegangs immer stärker mit dem ebenfalls seit Beginn schon mitwirkenden, jedoch anfangs nicht öffentlich bedeutungsvollen radikal rechten Milieu[2] verband.

Die AfD hat im Laufe ihres politischen Werdegangs mehrere Metamorphosen durchlaufen, die als verschiedene Stufen einer stetig anwachsenden rechten Radikalisierung beschrieben werden können.[3] Da dieser Entwicklungsprozess zugleich zu einer Veränderung der öffentlichen und wissenschaftlichen Wahrnehmung und Einschätzung dieser Partei geführt hat, werden sie folgend in sieben Phasen zeitchronologischer Entwicklung der Partei beschrieben.

In ihrer Ursprungphase besetzte die AfD zunächst öffentlichkeitswirksam das Euro-Thema: Mit ihrer Namenswahl setzte sich die AfD dem damaligen Credo von Bundeskanzlerin Merkel, die Rettung des Euro sei alternativlos, öffentlichkeitswirksam entgegen. In diesem ersten Entwicklungsstadium waren die Euro-Krise und die Sarrazin-Debatte günstige Voraussetzungen für die Erfolge der AfD. Der SPD- Politiker und frühere Finanzsenator des Landes Berlin Thilo Sarrazin kann hierbei als publizistisch- medialer Stichwortgeber der AfD-Themen gesehen werden. So verdeutlichen exemplarisch die Lobhuldigungen seiner Thesen durch den damaligen Parteivorsitzenden Bernd Lucke im rechten Querfrontmagazin Compact (9/2013) die von Beginn an ebenfalls vorhandene nationalistisch- einwanderungsfeindliche Stoßrichtung der AfD. Zugleich hatte die AfD schon in ihrer Gründungsphase enge Verbindungen zur politischen Strömung der sogenannten Neuen Rechten über die Wochenzeitung Junge Freiheit (JF), welche die Partei von Beginn an publizistisch unterstützte, sowie über das neurechte Institut für Staatspolitik (IfS) und das Compact-Magazin (Gebhardt 2018).

Das zweite Entwicklungsstadium der AfD ist gekennzeichnet von einem deutlichen Machtzugewinn des zusammenwachsenden nationalkonservativ-neurechten Flügels der Partei. Zutage trat dies mit den ersten ostdeutschen AfD-Wahlerfolgen im Jahr 2014 in Sachsen, Thüringen und Brandenburg: Die Ost-AfD formierte sich zunehmend als rechtsnationaler Widerpart zum westdeutsch-neoliberal geprägten Lucke-Flügel. Ausschlaggebend für das dritte Entwicklungsstadium waren zunächst die PEGIDA-Proteste in Dresden ab Herbst 2014, die zu verschärften Konflikten des "Flügels" mit dem damaligen Führungskurs der Partei führten. Zu dieser Zeit forderten Lucke und das damalige AfD-Bundesvorstandsmitglied Hans- Olaf Henkel einen pro-atlantischen Kurs der Partei, eine Abkehr vom rechten Kampagnenthema "Islamisierung" und eine entsprechende politische Trennungslinie zu den PEGIDA-Protesten und deren Akteuren. Dagegen formierte sich unter Thüringens Landesvorsitzendem Björn Höcke und André Poggenburg, dem damaligen Landesvorsitzenden Sachsen-Anhalts, ein rechter Oppositionszusammenschluss unter der Bezeichnung "Der Flügel": Mit der aus diesem Kreis initiierten "Erfurter Resolution" leiteten die völkisch-nationalistisch orientierten Parteikräfte einen ersten Kurs- und Führungswechsel in der AfD ein.

Das vierte Entwicklungsstadium der AfD begann mit dem Machtwechsel der Führungsspitze: Auf dem Essener Bundesparteitag im Juli 2015 unterlag Lucke der sächsischen AfD-Landesvorsitzenden Frauke Petry im Ringen um die Parteiführung. Petry erlangte ihren Sieg über Lucke mit Unterstützung

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 121 des rechten "Flügels". Resultat dieses Führungswechsels war der Parteiaustritt Luckes und die Abspaltung des wirtschaftsliberalen, pro-atlantischen Flügels von der AfD. Mit der darauf folgenden Gründung der Organisation "Allianz für Fortschritt und Aufbruch" (Alfa, im Herbst 2016 umbenannt in "Liberal-konservative Reformer", LKR) beschritt der vormals medial omnipräsente Lucke den Weg in die politische Bedeutungslosigkeit. Hingegen verkündete der damalige NRW-AfD-Vorsitzende Markus Pretzell[4] beim Essener Parteitag, die AfD sei nun nicht nur eine Anti-Euro-Partei, sondern zugleich auch eine "Pegida-Partei" (Steiner 2015).

Das fünfte Entwicklungsstadium der AfD war geprägt von der Flüchtlingsdebatte, die ab Spätsommer 2015 stark den öffentlichen Diskurs dominierte. War die AfD nach dem Abgang Luckes kurzzeitig in Wahlumfragen noch bis unter 5% Zustimmung gerutscht, so änderte sich dies schlagartig mit ihrem rechtspopulistischen Schwenk auf das Flüchtlingsthema. Mit ihrer sogenannten Herbstoffensive 2015 leitete die AfD ihren entsprechend untermauerten "Angriff " auf die Asylpolitik der Regierung in nationalistischer Stoßrichtung ein: So bezeichnete die damalige AfD-Vorsitzende Petry auf der zentralen Demonstration in Berlin im Rahmen der AfD-Herbstoffensive die Aslypolitik von Bundeskanzlerin Merkel als "Politik gegen das eigene Volk" (Petry 2015). Die Aufnahme von Flüchtlingen wurde aus Parteikreisen wiederkehrend als Landnahme beschrieben. Die Mobilisierung gegen Flüchtlinge und Einwanderung leitete zugleich die aktive "Bewegungsphase" der Partei ein. In einem Vortrag beim neurechten Institut für Staatspolitik definierte Höcke im November 2015 die AfD als "fundamentaloppositionelle Bewegungspartei" (Kanal Schnellroda 2015).

Ihr sechstes Entwicklungsstadium erreichte die Partei durch die zunehmende Inanspruchnahme völkisch-nationalistischen Vokabulars. In Sachsen-Anhalt sorgte der dortige damalige Landesvorsitzende André Poggenburg durch einen Weihnachtsgruß seines Landesverbandes für Aufmerksamkeit, in dem er anregte, über die "Verantwortung für die Volksgemeinschaft" nachzudenken. Auf die öffentliche Kritik darauf bekundete er in einem Schreiben auf der Internetseite seiner Partei, es sollten wohl "einige völlig unproblematische und sogar äußerst positive Begriffe nicht benutzt werden". Und weiter: "Das lassen wir uns nicht gefallen, denn wirkliche Freiheit fängt bei der Freiheit der Sprache an!" (AfD Sachsen-Anhalt 2015). Im Landtag Sachsen-Anhalt forderte Poggenburg zudem,"linksextreme Lumpen" sollten von "deutschen Hochschulen verbannt" und "statt eines Studiumsplatzes lieber praktischer Arbeit zugeführt werden". Laut dem AfD-Landesvorsitzenden solle alles getan werden, "um diese Wucherung am deutschen Volkskörper endlich loszuwerden". (Poggenburg 2016) Zwar regte sich in Teilen der Partei Widerstand gegen solche Wortwahl aus dem Rechtsaußenflügel der AfD. Allerdings sprach sich auch die damalige AfD-Vorsitzende Petry in einem Interview gegen die "Ächtung des Begriffs ‚völkisch‘" aus, den sie stattdessen "wieder positiv besetzen" wolle (Petry 2016). Der Historiker Michael Wildt deutete den Zweck solcher politischen Vorstöße darin, "ein völkisches Vokabular öffentlich ‚sagbar‘ werden zu lassen, das bislang als Sprache des Dritten Reiches gebrandmarkt war" (Wildt 2017: 117f.) Die berüchtigte Höcke-Rede Mitte Januar 2017 in Dresden auf Einladung des dortigen Jugendverbandes der AfD bekräftigte nachträglich die Richtigkeit dieser Deutung. Höcke bezeichnete dort das Berliner Holocaust-Denkmal als "Denkmal der Schande" und forderte eine "Erinnerungswende um 180 Grad" (Höcke 2017 ). Zentrale Merkmale des siebten Entwicklungsstadiums der AfD sind ihr Einzug in den Deutschen Bundestag sowie ein erneuter Führungswechsel . Schon vor dieser Wahl verschoben sich die innerparteilichen Kräfteverhältnisse: Bei der Erstellung des Bundestagswahlprogramms 2017 erlitt die Vorsitzende Petry mit ihrem Versuch, auf dem Bundesparteitag in Köln den von ihr so deklarierten realpolitischen Kurs durchzusetzen, eine deutliche Niederlage. Zum Spitzenduo für den Wahlkampf wurden Alexander Gauland und Alice Weidel gewählt. Nachdem der Partei der Einzug in den Bundestag am 24.09.2017 mit 12,6% Wählerzustimmung gelungen war, kam es kurz danach zu einem weiteren innerparteilichen Machtwechsel – dem Austritt der vormaligen Vorsitzenden Petry aus der Partei und der zweiten Gründung einer AfD-Nachfolgepartei unter dem Label "Die Blauen ".

Mit ihrem Einzug in den Bundestag geht eine Zäsur in der bundesdeutschen Demokratie und Parlamentsgeschichte einher: Seit dem Einzug der "Deutschen Partei" in den Bundestag 1949 ist erstmals wieder eine Rechtsaußenpartei im Bundesparlament vertreten. Mit ihrer neuen Rolle als

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 122 stärkste Oppositionspartei gegenüber einer großen Regierungskoalition im Bundestag hat die AfD ein politisches Alleinstellungsmerkmal erreicht: Ein derartiger Wahlerfolg war bislang in der deutschen Nachkriegsgeschichte allen anderen Rechtsaußenparteien versagt geblieben.

Politische Strategie und Öffentlichkeitsarbeit

Ihre Aufmerksamkeit erzielt die AfD mittels einer skandalorientierten Öffentlichkeitspolitik. Hinter den rechtspopulistischen Äußerungen und Inszenierungen einzelner AfD-Funktionsträger lässt sich ein wiederkehrendes Muster erkennen, das als Wechselspiel zwischen rechten Thesen und Dementi beschrieben werden kann.

Dieses rechtspopulistische Muster öffentlicher Inszenierung beginnt regelmäßig mit einer gezielten provokativen – zumeist diskriminierenden – Äußerung mit dem Ziel, Empörung und damit auch öffentliche Aufmerksamkeit zu erzielen. Daraufhin erfolgt die ritualisierte Behauptung von böswilligen Fehlinterpretationen und die Anprangerung von angeblich vorherrschender fehlender Meinungsfreiheit: Durch die dann folgende Einnahme eines Opferstatus ("Wir werden mit unserer Meinung ausgegrenzt") wird einerseits der innere Zusammenhalt gestärkt und anderseits die Grenze des Sagbaren immer weiter nach rechts verschoben. In ihrem Grundsatzprogramm behauptet die AfD, "Berufspolitiker" würden hierzulande in illegitimer Weise die politische Meinung steuern: "Es handelt sich um ein politisches Kartell, das die Schalthebel der staatlichen Macht, soweit diese nicht an die EU übertragen worden ist, die gesamte politische Bildung und große Teile der Versorgung der Bevölkerung mit politischen Informationen in Händen hat. Nur das Staatsvolk der Bundesrepublik Deutschland kann diesen illegitimen Zustand beenden." (AfD-Grundsatzprogramm 2016: 15)

Inszenierung der AfD als Anwalt des Volkes

In diesen Zuschreibungen wird das Muster rechtspopulistischer Skandalisierung deutlich: "Das Volk" werde von den "Berufspolitikern" politisch indoktriniert und gegängelt und nur die AfD als angeblicher Anwalt des Volkes könne diesen "illegitimen Zustand" beenden und dem Volk zu seinem Recht verhelfen. Das Recht auf Meinungsfreiheit wird hierbei instrumentalisiert zur Verkündung ausgrenzender und diskriminierender Äußerungen und Forderungen, die als skandalisierungsträchtig und öffentlichkeitswirksam erscheinen. Wiederkehrend instrumentalisiert die AfD gesellschaftliche Probleme und Konfliktsituationen für zielgerichtete Kampagnen gegen Minderheiten – so etwa die Flüchtlingsdebatte ab 2015 für die sog. "Herbstoffensive " gegen die Aufnahme von Geflüchteten.

In diesem Zusammenhang wertete der Fraktionsvorsitzende Alexander Gauland die Flüchtlingskrise in zynischer Manier als "Geschenk" für seine Partei. "Man kann diese Krise ein Geschenk für uns nennen", sagte Gauland. "Sie war sehr hilfreich." (Gauland 2015) Der Anlass zur Instrumentalisierung gesellschaftlicher Problemlagen kann durchaus variabel sein. Dies lässt sich anhand einer an die Öffentlichkeit geratenen Mail der stellvertretenden AfD-Fraktionsvorsitzenden veranschaulichen, in der sie Vorstandskollegen inhaltliche Empfehlungen für die Erstellung eines Grundsatzprogramms gab. Darin schreibt von Storch, dass "der Islam das brisanteste Thema des Programms überhaupt" und für die "Außenkommunikation" am besten geeignet sei. "Asyl und Euro sind verbraucht, bringen nichts Neues", so Storch weiter. "Die Presse wird sich auf unsere Ablehnung des politischen Islams stürzen wie auf kein zweites Thema des Programms." (Grill 2016) Auch die politische Instrumentalisierung von Gewaltverbrechen an Minderjährigen gehört zum Repertoire von manchen AfD-Politiker : So vollzog der AfD-Bundestagsabgeordnete Thomas Seitz am 8. Juni 2018 ohne vorherige Absprache eigenständig am Rednerpult des Bundestages eine Schweigeminute für ein minderjähriges weibliches Gewaltopfer, das von einem Gewalttäter mit Flüchtlingsstatus vergewaltigt und ermordet worden war.[5] Einen Tag später verkündete die AfD in ihrer Onlinezeitung: "Die Bundesregierung trägt die Verantwortung für den Tod eines weiteren jungen Mädchens. Der Mörder der 14-jährigen Susanna ist mit seiner Familie nach der Grenzöffnung in unser Land gekommen." (AfD kompakt 2018)

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Zielgruppenansprache im AfD-Strategiepapier

Um ihre Skandalisierungsmethode zielgerichtet auf potenzielle Wählergruppen anwenden zu können, hat die AfD ein sog. Strategiepapier erstellt. In diesem 33-seitigen Papier, das Ende 2016 den Bundesvorstand beschäftigte und das Anfang 2017 öffentlich bekannt wurde, definierte die AfD die Zielgruppen ihres Wahlkampfs und erörterte ihre Wahlkampfstrategie (AfD-Strategiepapier 2016). Ansprechen will die AfD:

1. "Wähler aus allen sozialen Schichten, Altersgruppen und Teilen Deutschlands, die weitere Euro-, Rettungspakete' ablehnen, erkennen, dass der EURO der europäischen Idee und den Europäern auf vielen Ebenen erheblichen Schaden zufügt, keinen europäischen Superstaat wollen und von Politikern Mut zu Deutschland und den Vorrang für deutsche Interessen fordern."

2. "Bürgerliche Wähler mit liberal-konservativer Werteorientierung" – darunter auch "leistungsorientierte Arbeitnehmer" –, die einem "rot-grün dominierten Zeitgeist der Beliebigkeit und der Multikulti-Ideologie kritisch bis ablehnend" gegenüberstünden. Sie würden den "Altparteien" nicht mehr zutrauen, "für die Sorgen der Bürger bei Themen wie unkontrollierte Zuwanderung, Kriminalitätsbekämpfung, Steuerabzocke, Bildungsmisere, Ausbeutung der Familien, soziale Gerechtigkeit, Vernachlässigung des öffentlichen Raums und Genderwahn Lösungen zu finden".

3. "Protestwähler", die "mit der Verengung der politischen Debatte auf wenige Themen, mit politisch korrekten Meinungsäußerungen in den Medien sowie ganz allgemein mit Inhalt und Stil der politischen Debatte unzufrieden sind und sich gegen die Selbstbedienungsmentalität der Altpartien wenden".

4. (Bisherige) Nichtwähler, die – obwohl politisch interessiert – "unter den Altparteien nirgendwo ein akzeptables Angebot" fänden.

5. "Bürger mit unterdurchschnittlichen Einkommen (,kleine Leute') in sog. ,prekären Stadtteilen', die sich dem dortigen Trend zur Ausnutzung von staatlichen Transferleistungen und zur Verwahrlosung entgegenstellen, sich zu konservativen Werten wie Leistungsbereitschaft, Ordnung, Sicherheit und Patriotismus bekennen, sich von den Altparteien nicht ernst genommen und außerdem als Verlierer der Globalisierung fühlen. In dieser Gruppe finden sich viele Arbeiter und Arbeitslose."

Diese fünf Zielgruppen stünden im Mittelpunkt der Tätigkeit, heißt es in dem Papier. Programme, Aktivitäten und Öffentlichkeitsarbeit würden so ausgerichtet, dass sie mindestens eine der fünf Gruppen ansprächen. "Die Reaktionen und Befindlichkeiten anderer Teile der Gesellschaft sind für die AfD demgegenüber von untergeordneter Bedeutung. Sie sind eher Zielscheiben als Zielgruppen der AfD."

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 124 Politische Wesensmerkmale: Rechtspopulismus, Autoritarismus, völkischer Nationalismus

Hinsichtlich ihrer Agitationsform wird die AfD in der Politikwissenschaft mehrheitlich als rechtspopulistisch bezeichnet (Decker 2016). Nach Ruth Wodak instrumentalisieren alle rechtspopulistischen Parteien "eine Art von ethnischer, religiöser, sprachlicher, politischer Minderheit als Sündenbock für die meisten – wenn nicht alle – aktuellen Sorgen und Probleme. Sie stellen die jeweilige Gruppe als gefährlich dar, die Bedrohung ‚für uns‘, für ‚unsere‘ Nation. Dieses Phänomen manifestiert sich als ‚Politik mit der Angst‘." Ebenso zeichnen sich rechtspopulistische Appelle dadurch aus, dass sie sich an den gesunden Menschenverstand" richteten als Gegensatz zum "Intellektualismus und eine "Rückkehr zu vormodernistischem Denken, also vor der Aufklärung" wünschen. (Wodak 2016: 18) Der bekundete Alleinvertretungsanspruch rechtspopulistischer Rhetoriken als "Sprecher des Volkes" kennzeichnet laut Jan-Werner Müller (2016: 18) zugleich deren "antidemokratische" Stoßrichtung. Diese Merkmale treffen auch auf die AfD zu: Schon von Beginn an füllte die Partei ihre Kampagnen gegen eine angebliche "Entmündigung des deutschen Volkes" mit rechtspopulistischer Stoßrichtung. Auf dem AfD-Gründungsparteitag am 14. April 2013 erklärte das Gründungsmitglied Konrad Adam: "Wenn unsere Volksvertreter ihre Aufgabe darin sehen, das Volk zu entmündigen, sollten wir selbstbewusst genug sein, den Vorwurf des Populismus als Auszeichnung zu betrachten" (Adam 2013). Solche populistischen Inszenierungen gehen in der Partei zunehmend einher mit im vulgären Sprachduktus formulierten ‚Säuberungsphantasien‘ und Kampfansagen an politische Gegner: So prangerte der AfD-Bundes-Co-Vorsitzende Jörg Meuthen auf dem AfD-Bundesparteitag im April 2016 in Stuttgart in populistischer Manier an, er könne sich aufgrund der Zuwanderung nicht mehr sicher auf die Straße trauen und leitete daraus die Forderung nach einem "Deutschland weg vom links-rot- grün versifften 68er-Deutschland" ab (Meuthen 2016)[6]. Der Bundestagsabgeordnete , kulturpolitischer Sprecher der AfD, bekundete ähnlich lautend als sein vorrangiges Ziel, "die Entsiffung des Kulturbetriebs in Angriff zu nehmen" (Jongen 2018).

Zugleich erfahren rechtspopulistische Agitation und autoritaristische Mobilisierung in vielen AfD- Verlautbarungen und Statements einzelner Parteifunktionäre eine Symbiose. Dies illustriert ein Bekenntnis des AfD-Landesvorsitzenden von Baden-Württemberg, Uwe Junge, auf seinem Twitter- Account: "Der Tag wird kommen, an dem wir alle Ignoranten, Unterstützer, Beschwichtiger, Befürworter und Aktivisten der Willkommenskultur im Namen der unschuldigen Opfer zur Rechenschaft ziehen werden! Dafür lebe und arbeite ich. So wahr mir Gott helfe!" (Junge 2017) In der Propaganda der AfD wird ein solcher autoritärer Populismus wiederkehrend angereichert mit völkisch-nationalistischen Positionen: So postete der AfD-Politiker Thorsten Weiß, Mitglied im Berliner Abgeordnetenhauses, auf seiner Facebookseite in Bezug auf die prognostizierte Zunahme von Staatsbürgern mit Migrationshintergrund: "Die Regierung plant den Volkstod!" (Weiß 2018). Als politische Stoßrichtung formulierte der frühere AfD-Landesvorsitzende Sachsen-Anhalts Poggenburg: "Wir haben jetzt die wirklich historische Chance, eine echte deutschnationale Partei felsenfest im Parlament zu verankern." (Poggenburg 2016)[7] AfD-Politikerinnen und Politiker betreiben völkisch-nationalistische Mobilisierung gegen Minderheiten auch auf der Straße: So untermauerte Thüringens AfD-Vorsitzender Höcke seinen Aufruf zur Teilnahme an einer AfD-Demonstration am 28.01.2018 gegen den Bau einer Moschee mit den Worten: "Zeigen wir Deutschland, zeigen wir Europa, dass wir alle in Erfurt, der zweiten Hauptstadt der Mutbürger in diesem Lande – die Nummer Eins ist natürlich Dresden (…) – dass wir uns auch in Erfurt unser Land nicht rauben lassen, sondern es uns zurückholen!" Wie dies zu bewerkstelligen sei, erläuterte er so: "Diese Republik und das sie beherrschende medial-politische Establishment sind zu einem politischen Augias-Stall geworden. Wir, liebe Freunde, müssen diesen Augias-Stall ausmisten! Dieses Land braucht eine politische Grundreinigung!" (Höcke 2018).

Außerdem öffnet sich die AfD zunehmend für die Zusammenarbeit mit radikal rechten Strömungen und Parteien. Internationale Kontakte bestehen zur rechtsradikalen ENF-Fraktion im Europaparlament und in besonderem Maße zur FPÖ in Österreich, mit der die AfD im Februar 2016 eine "Blaue Allianz" beschlossen hat (AfD Bayern 2016). Die sog. Neue Rechte sieht hingegen in der AfD ein Handlungsfeld zur realpolitischen Umsetzung ihrer politischen Vorstellungen. So erklärte der neurechte Vordenker Karlheinz Weißmann in der Wochenzeitung Junge Freiheit: "Das nächste Ziel der Alternative für

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Deutschland ist die Organisation als ‚Volkspartei neuen Typs‘. In die müssen die Hauptströmungen – Volkskonservative, Hayekianer, Deutschradikale, Sozialpatrioten – eingeschmolzen werden." (Weißmann 2018) Umgekehrt suchen die radikal rechten Kräfte in der AfD wiederum selbst das Bündnis zu rechtsextremen Bewegungen. So erklärte der Vorstand der Patriotischen Plattform in der AfD schon in Bezug auf die rechtsextreme "Identitäre Bewegung Deutschland" (IBD): "Wir wünschen uns eine engere Zusammenarbeit zwischen Identitärer Bewegung und AfD, denn auch die AfD ist eine identitäre Bewegung, und auch die Identitäre Bewegung ist eine Alternative für Deutschland" (Patriotische Plattform 2016). Zwar existierte bislang formal ein Abgrenzungsbeschluss der AfD zu offen rechtsextremen Gruppierungen, doch in der Realität zeigen sich deutliche Entwicklungen hin zum Gegenteil. Ein organisatorisches Beispiel hierfür ist die Initiative "Ein Prozent für unser Land" (Herkenhoff 2016), deren Organisatorenkreis von AfD-Politikern[8] über neurechte Kreise bis zur rechtsextremen IBD reicht.[9]

Solche Entwicklungen haben die Partei aus Sicht der Politikwissenschaft deutlich in die Nähe des Rechtsextremismus gerückt. Der Politikwissenschaftler Rudolf Korte bezeichnet den Sprachduktus von Höcke als "rechtsextrem völkisch". Der Politiker verbreite "völkisches Gedankengut, wie es das in Deutschland schon mal in den 1920er- und 1930er-Jahren gegeben habe" (Korte 2015). Der Berliner Politikwissenschaftler Gero Neugebauer deutet Höcke mit seinen Aussagen als Vertreter eines völkischen Nationalismus, "also eindeutig rechtsextremistisch" (Neugebauer 2015). Laut dem Politikwissenschaftler Oskar Niedermayer lässt sich die AfD kennzeichnen "als nationalkonservative Partei mit Brücken zum Rechtsextremismus hin" (Niedermayer 2017 ). Claus Leggewie erkennt bei der AfD unter dem Bundesparteivorsitzenden Gauland und dem Vorsitzenden der thüringischen AfD Höcke gar Züge eines völkisch-autoritären "National-Sozialismus" (Leggewie 2017: 22). Hinsichtlich einiger Meinungsäußerungen des AfD-Spitzenpersonals kommt der Politikwissenschaftler Armin Pfahl- Traughber zu der Einschätzung, dass die AfD "als eine (rechts-)extremistische Partei, zwar mit eher niedrigem Intensitätsgrad, aber eben als sehr wohl extremistisch" zu verorten sei (Pfahl-Traughber 2018)[10]. In der Summe lassen sich in der Partei deutliche Merkmale eines "völkisch-autoritären Populismus" (Häusler 2018) feststellen, welche die Partei zunehmend auch zu einem parteipolitischen Kulminationspunkt rassistischer und extrem rechter Bewegungen und einem neuen Sammelbecken von früheren Anhängern erfolgloser Rechtsaußenparteien werden lassen.[11] Dadurch rückt die AfD zunehmend in den kritischen Blick der Rechtsextremismusforschung .

Literatur

Adam, Konrad (2013): Rede im Wortlaut. http://afd-opf.de/konrad-adam-auf-dem-gruendungsparteitag- in-berlin/ (05.08.2013)

AfD Bayern (2016): Die Blaue Allianz | Startschuss der Zusammenarbeit von AfD und FPÖ. (https:// www.afdbayern.de/die-blaue-allianz-startschuss-der-zusammenarbeit-von-afd-und-fpoe/) (28.03.2018)

AfD Grundsatzprogramm (2016) (https://www.afd.de/grundsatzprogramm/) (20.05.2018)

AfD kompakt (2018): Bundesregierung für Tod der 14-jährigen Susanna verantwortlich (https:// afdkompakt.de/2018/06/07/bundesregierung-fuer-tod-der-14-jaehrigen-susanna-verantwortlich/) (07.06.2018)

AfD Sachsen-Anhalt (2015): Liebe Bürger und Mitstreiter, v. 24.12.2015 (https://www.facebook.com/ SachsenAnhalt.AfD/photos/a.384418898339525.1073741828.363842953730453/898617830252960/? type=3) (17.12.2017)

AfD Strategiepapier (2016): Alternative für Deutschland: "Demokratie wieder herstellen - Dem Volk die Staatsgewalt zurückgeben - AfD-Manifest 2017 – Die Strategie der AfD für das Wahljahr 2017", v. 22.12.2016 (http://www.weser-kurier.de/cms_media/module_ob/2/1389_1_AfD-Strategie-2017_58a5b0701d8dd. pdf) (04.04.2017)

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Decker, Frank (2016): Die "Alternative für Deutschland" aus vergleichender Sicht der Parteienforschung, in: Häusler, Alexander (Hrsg.): Die Alternative für Deutschland. Programmatik, Entwicklung und politische Verortung, Wiesbaden

Gauland, Alexander (2015): In: Umfragehoch: AfD-Vize Gauland sieht Flüchtlingskrise als Geschenk (http://www.spiegel.de/politik/deutschland/afd-alexander-gauland-sieht-fluechtlingskrise-als-geschenk- a-1067356.html) (12.12.2015)

Gebhardt, Richard (2018): "Mut zur Wahrheit"? Compact, Sezession und Junge Freiheit – das publizistische Netzwerk der AfD, in: Häusler, Alexander Hrsg.): Völkisch-autoritärer Populismus. Der Rechtsruck in Deutschland und die AfD, Hamburg, S. 109-116

Grill, Markus (2016): Anti-Islam-Kurs. Exklusiv: Email von Beatrix von Storch und das geplante Grundsatzprogramm 11.03.2016 (https://correctiv.org/blog/2016/03/11/afd-hat-neues-knall-thema/) (20.03.2016)

Häusler, Alexander (2018): Völkisch-autoritärer Populismus. Der Rechtsruck in Deutschland und die AfD. Hamburg.

Herkenhoff, Anna-Lena (2016): Neurechte Netzwerke und die Initiative "Ein Prozent für unser Land", in: Alexander Häusler (Hrsg.): Neue soziale Bewegung von rechts? Zukunftsängste, Abstieg der Mitte, Ressentiments. Hamburg: 73-83.

Höcke, Björn (2017): Dresdener Rede v. 17.01.2017. (https://www.youtube.com/watch?v= WWwy4cYRFls) (05.02.2018)

Höcke, Björn (2018): Rede auf AFD Bürgerversammlung in Lutherstadt Eisleben v. 20 01 2018. (https:// www.youtube.com/watch?v=LcuaAFQkYaA&app=desktop) ( 05.02.02018)

Identitäre Bewegung Sachsen (2016): Facebookmeldung v. 05.03.2016. (https://www.facebook.com/ IBSachsen/posts/942452069200996) (27.03.2018)

Jongen, Marc (2018): Facebookmeldung v. 23.01.2018. (https://de-de.facebook.com/Dr.MarcJongen/) (25.01.2018)

Junge, Uwe (2017): Meldung auf Twitteraccount v. 29.12.2017. (https://twitter.com/uwe_junge_mdl/ status/946869602553925634?lang=de) (05.02.2018)

Kanal Schnellroda (2015): Asyl Eine politische Bestandsaufnahme – Höcke beim IfS (https://www. youtube.com/watch?v=ezTw3ORSqlQ) (25.03.2018)

Korte, Karl-Rudolf (2015): "Es ist eine Gratwanderung, ob die AfD es schafft". Interview. In: Deutschlandfunk v. 22.10.2015.

Leggewie, Claus (2017): Europa zuerst! Eine Unabhängigkeitserklärung. Berlin.

Meuthen, Jörg (2016): Rede auf dem AfD Parteitag in Stuttgart v. 30.04.2016. (https://www.youtube. com/watch?v=RqGEClcH8_0) (20.12.2017)

Müller, Jan-Werner (2016): Was ist Populismus? Ein Essay. Berlin.

Neugebauer, Gero (2015): "Neues Sprachrohr der Rechten". AfD bald im Fadenkreuz des Verfassungsschutzes? Gero Neugebauer im Gespräch. In: Handelsblatt online v. 20.10.2015. (http:// www.handelsblatt.com/politik/deutschland/neues-sprachrohr-der-rechten-experte-sieht-hoecke-als-vertreter-

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 127 eines-voelkischen-nationalismus/12479592-3.html) (02.02.2018)

Niedermayer, Oskar (2017): Debatte: Ist die Alternative für Deutschland eine rechtspopulistische Partei? (http://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtspopulismus/240956/debatte-alternative-fuer-deutschland) (25.03.2018)

Patriotische Plattform (2016): Wir sind identitär". (http://patriotische-plattform.de/blog/2016/06/14/wir- sind-identitaer/) (14.06.2016)

Petry, Frauke (2015): Rede auf AfD-Demonstration in Berlin am 7.11.2015. (https://www.youtube.com/ watch?time_continue=1365&v=tip9ljzXdXg) (20.5.2018)

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Pfahl-Traughber, Armin (2018): Ist die AfD (rechts-)extremistisch? in: Blick nach rechts v. 23.03.2018. (https://www.bnr.de/artikel/hintergrund/ist-die-afd-rechts-extremistisch) (12.05.2018)

Poggenburg, André (2015): Liebe Bürger und Mitstreiter, v. 24.12.2015. (https://www.facebook.com/ SachsenAnhalt.AfD/photos/a.384418898339525.1073741828.363842953730453/898617830252960/? type=3) (27.2.2016)

Poggenburg, André (2016): Die AfD ist einfach nicht mehr aufzuhalten! AfD-Landtags-TV v. 27.1.2016. (https://www.youtube.com/watch?v=YYwTWkiZYgs&feature=youtube) (28.1.2016)

Poggenburg, André (2017): Rede im Landtag Sachsen-Anhalt v. 03.02.2017. (https://www.youtube. com/watch?v=30F_iOUiBno) (06.02.2018)

Schäuble, Wolfgang (2018): phönix vor Ort v. 14.06.2018. (https://www.youtube.com/watch?v= wi0_ROpAgBc) (15.06.2018)

Spier, Tim (2016): Die Wahl von Rechtsaußenparteien in Deutschland, in: Fabian Virchow/Martin Langebach/Alexander Häusler (Hrsg.): Handbuch Rechtsextremismus, Wiesbaden.

Steiner, Thomas (2015): Die AfD stellt sich neu auf: "Wir sind die Pegida-Partei", Badische Zeitung v. 06.07.2015.

Weidel, Alice (2018): JF online v. 06.02.2018. (https://jungefreiheit.de/politik/deutschland/2018/ cottbusser-buerger-werden-im-stich-gelassen/) (07.02.018)

Weiß, Thorsten (2018): facebook-Eintrag v. 02.02.2018. https://de-de.facebook.com/ThorstenWeissafd/ (05.02.2018)

Weißmann, Karlheinz (2018): Disziplin ist gefordert, in: Junge Freiheit v. 16.03.2017

Wildt Michael (2017): Volk, Volksgemeinschaft, AfD. Hamburg.

Wodak, Ruth (2016): Politik mit der Angst. Zur Wirkung rechtspopulistischer Diskurse. Wien.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Alexander Häusler für bpb.de

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Fußnoten

1. Ich verwende den Begriff der Rechtsaußenpartei in Anlehnung an die Forschungen von Tim Spier zur spektrumsübergreifenden Charakterisierung derjenigen Parteien, "die sich rechts der etablierten konservativen und liberalen Parteien verorten, ohne dass damit ein Werturteil über den Grad ihrer ideologischen Radikalität oder gar ihre System- oder Demokratiefeindlichkeit gefällt würde".(Spier 2016: 259) 2. Hiermit sind sowohl politische Akteure innerhalb der AfD gemeint, die später maßgeblich an der Gründung der Gruppierungen "Patriotische Plattform" und "Der Flügel" innerhalb der AfD beteiligt gewesen sind, sowie zudem ehemalige Aktivisten aus früheren Rechtsaußenparteien wie dem " Bund freier Bürger" (BFB) und der Parteien "Die Republikaner" und "Die Freiheit". 3. Der vorliegende Text veranschaulicht in komprimierter und aktualisierter Form meine Forschungsergebnisse und bereits veröffentlichten Ausführungen zur AfD. 4. Pretzell verließ gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Frauke Petry nach der Bundestagswahl 2017 die AfD und gründete die bislang bedeutungslose AfD-Abspaltung "Die Blauen". 5. Auf diese politische Inszenierung erfolgte eine Maßregelung von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (Schäuble 2018). 6. Das Schlagwort "rot-grün versifftes 68er Deutschland" hat die AfD von dem Skandalautor Akif Pirinçci übernommen, der wegen seiner vulgären und rechten Ausfälle während einer Pegida- Demonstration sogar von den dortigen ebenfalls deutlich rechtsgerichteten Veranstaltern Redeverbot erteilt bekommen hatte. 7. Die letzte Partei in Deutschland, die die Bezeichnung deutschnational im Namen führte, war die Ende November 1918 in der Weimarer Republik gegründete Deutschnationale Volkspartei (DNVP), Steilbügelhalter für die NSDAP. 8. Hierzu zählt der AfD-Landtagsabgeordnete Sachsen-Anhalts, Hans-Thomas Tillschneider. 9. Für "EinProzent" tritt Philip Stein öffentlich in Erscheinung, für die IB in Deutschland und Österreich u.a. Martin Sellner. Zur Zusammenarbeit meldete die Identitäre Bewegung Sachsen auf ihrem Facebook Account: "Philip Stein und Martin Sellner arbeiten derzeit an der EinProzent-Kampagne 'Merkel auf die Finger schauen', die eine flächendeckende Wahlbeobachtung der Landtagswahlen am 13. März in Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz sicherstellen wird." (Identitäre Bewegung Sachsen 2016) 10. Pfahl-Traughber bezieht sich hier konkret auf vier Äußerungen: Erstens die Äußerungen von Alexander Gauland, der die Auffassungen zur deutschen Leitkultur der damaligen Integrationsbeauftragten der Bundesregierung Aydan Aydan Özoğuz mit den Worten kommentierte: "Das sagt eine Deutsch-Türkin. Ladet sie mal ins Eichsfeld ein, und sagt ihr dann, was spezifisch deutsche Kultur ist. Danach kommt sie hier nie wieder her, und wir werden sie dann auch, Gott sei Dank, in Anatolien entsorgen können". Der Politikwissenschaftler deutet diese Äußerung als Eingriff in die Grundrechte einer deutschen Staatsbürgerin. Zweitens die Bekundung der stellvertretenden AfD-Bundes- und Fraktionsvorsitzenden Beatrix von Storch zum Ausscheiden der Fußballnationalmannschaft bei den Europameisterschaften 2015. Hierzu twitterte sie: " Vielleicht sollte nächstens mal dann wieder die deutsche NATIONALMANNNSCHAFT spielen? " Diese Äußerung stelle die Staatsbürgerschaft von deutschen Fußballprofis mit Migrationshintergrund infrage und weise sogar eine Gemeinsamkeit mit der rechtsextremen NPD auf, welche ebenfalls mit Fußballbezug derartige Positionen propagierte. Drittens die Dresdener Rede des Thüringer Fraktions- und Landesvorsitzenden Björn Höcke, in der er 2017 das Holocaust- Denkmal in Berlin mit einer offenbar bewusst doppeldeutigen Formulierung als "Denkmal der Schande" bezeichnet hatte. Zudem bekundete Höcke in dieser Rede: "Die AfD ist die letzte evolutionäre, sie ist die letzte friedliche Chance für unser Vaterland." Diese Formulierung impliziere indirekt Vorstellungen von einem gewalttätigen Wandel, sollte sich die Forderung nach einem evolutionären Wandel nicht erfüllen. Viertens, so Pfahl-Traughber, der offenkundige Versuch eines AfD-Politikers, in Ausübung des Richteramtes die Wissenschaftsfreiheit einzuschränken. So gab der damalige Richter am Landgericht Dresden und heutige AfD-Bundestagsabgeordnete Jens Maier der rechtsextremen NPD 2016 in deren Klageverfahren Recht gegen den

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Politikwissenschaftler Steffen Kailitz, der ihr die Absicht einer millionenfachen Vertreibung von Menschen mit Migrationshintergrund vorgeworfen hatte. Für diese Einschätzung lassen sich einfach Belege benennen: Die NPD plädiert für ein rein ethnisches Staatsbürgerschaftsverständnis, welches das "Deutsch-sein" allen Bürgern mit Migrationshintergrund abspricht. Gleichzeitig plädiert die Partei für ein "Ausländerrückführungsgesetz", es würde letztendlich für all diese Menschen in einer Vertreibung münden. Später hob das Gericht dieses Urteil wieder auf. Maiers Entscheidung richtete sich laut Einschätzung von Pfahl-Traughber gegen Kailitz ‘ Wissenschaftsfreiheit. (Alle Zitate s. Pfahl-Traughber 2018) 11. So haben die Rechtsaußenparteien pro Deutschland (Ende 2017) und pro Köln (Anfang 2018) ihre Auflösung verkündet und zur Unterstützung der AfD aufgerufen. Dasselbe hat die rechtspopulistische Partei Die Freiheit schon Ende des Jahres 2016 vollzogen.

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Karte der rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien in Europa

Von Britta Schellenberg 15.2.2017 Britta Schellenberg ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am "Centrum für Angewandte Politikforschung" C.A.P. der Ludwig-Maximilians- Universität München. Sie ist zuständig für das Projekt "Erfolgreiche Strategien gegen den Rechtsextremismus". www.cap.uni-muenchen.de

Europaskepsis und Muslimfeindlichkeit verbinden eine bunte Mischung von Rechtsaußenparteien in Europa. Zum Spektrum gehören rechtsextreme Parteien genauso wie Gruppierungen, die mit populistischen Äußerungen auf sich aufmerksam machen wollen. Britta Schellenberg bietet einen Überblick.

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Wer wählt warum die AfD? Eine Analyse der Daten zu den Landtagswahlen 2017

Von Armin Pfahl-Traughber 8.6.2017 Dr. phil., geb. 1963; Professor an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Willy-Brandt-Straße 1, 50321 Brühl. armin. [email protected]

Für alle drei Landtagswahlen des Jahres 2017 stimmt die frühere Erkenntnis nicht mehr, dass Rechtsaußenparteien vor allem von jüngeren Wählern gewählt werden. Armin Pfahl-Traughber analysiert, wer der AfD im Saarland, in Schleswig-Holstein und in NRW seine Stimme gab.

AfD-T-Shirts werden am 29.11.2015 beim Bundesparteitag der Alternative für Deutschland (AfD) in der Niedersachsenhalle in Hannover (Niedersachsen) zum Verkauf angeboten. (© picture-alliance/dpa)

Wer wählt warum die AfD? Eine Antwort auf die Frage gibt der Blick auf die Daten zu den Landtagswahlen 2017 (Quelle: infratest dimap). Dabei konnte die Partei jeweils Ergebnisse von über fünf Prozent verbuchen. Am 26. März waren es 6,2 Prozent der Stimmen (32.935 Wähler) im Saarland, am 7. Mai 5,9 Prozent der Zweitstimmen (86.275 Wähler) in Schleswig-Holstein und am 14. Mai 7,4 Prozent der Zweitstimmen (624.552 Wähler) in Nordrhein-Westfalen. Durch die vergleichende Betrachtung der drei Wahlen lässt sich ein aktuelles Sozialprofil der Wählerschaft ermitteln. Allerdings gilt dies nur eingeschränkt für die westlichen Länder und den gegenwärtigen Zeitpunkt. Denn 2016 konnte die AfD noch bedeutend höhere Gewinne von regelmäßig über 10 Prozent und in Ostdeutschland von über 20 Prozent verbuchen. In Mecklenburg-Vorpommern waren es 20,8 und in Sachsen-Anhalt 24,3 Prozent, aber auch in Baden-Württemberg 15,1, in Berlin 14,2 und in Rheinland-

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Pfalz 12,6 Prozent der Stimmen. Demnach beziehen sich die Angaben auf eine Phase des Wählerrückgangs.

Als erstes sei der Blick auf das Geschlechterverhältnis geworfen, wobei ein einheitliches Bild besteht: Die Frauen sind unter-, die Männer überrepräsentiert. Das Verhältnis war im Saarland fünf zu acht, in Schleswig-Holstein vier zu sieben und in Nordrhein-Westfalen fünf zu neun. Dabei handelt es sich um eine Besonderheit von "Rechtsparteien" – bei allen anderen Parteien ist das Geschlechterverhältnis ausgeglichener. Bezogen auf das Alter fällt demgegenüber auf, dass die früher bestehende Erkenntnis: "Je jünger, desto höhere Anteile von Wählerstimmen für Rechtsaußenparteien" nicht mehr stimmt. Bei allen drei Landtagswahlen des Jahres 2017 war die Gruppe der 25- bis 34-Jährigen und der 35- bis 44 Jährigen am stärksten bei den Wählern präsent: im Saarland mit sieben bzw. sechs, in Schleswig-Holstein mit neun bzw. sieben und in Nordrhein-Westfalen mit zehn bzw. neun Prozent. Die bis 24-Jährigen und die über 60-Jährigen stimmten demgegenüber nur unterdurchschnittlich für die AfD: im Saarland sechs bzw. vier, in Schleswig-Holstein fünf bzw. vier und in Nordrhein-Westfalen sechs bzw. fünf Prozent.

Was die Bildungsabschlüsse betrifft, so kann schon länger nicht mehr davon gesprochen werden, dass bei den Wählern von "Rechtsparteien" niedrige Bildung automatisch mit höherer Wahlzustimmung korreliert. Meist sind die mittel Gebildeten die größte, dafür aber die höher Gebildeten die niedrigste Wählergruppe. Dies macht auch der Blick auf die Ergebnisse der genannten Landtagswahlen deutlich. Eine Ausnahme ist dabei das Saarland, wo vier Prozent mit hoher, sieben Prozent mit mittlerer und acht Prozent mit niedriger Schulbildung für die AfD votierten. In Schleswig-Holstein stimmten fünf Prozent der hoch und jeweils sechs Prozent der mittel und niedrig Gebildeten und in Nordrhein- Westfalen sechs Prozent der hoch, neun Prozent der mittel und sieben Prozent der niedrig Gebildeten für die Partei. Die Daten liegen hier dichter zusammen als bei früheren Wahlen. Auch ist der Abstand der höher Gebildeten keineswegs mehr so groß zu den mittel und niedrig Gebildeten. Hier deutet sich eine Annäherung an, die Ansätze zu einer "Normalisierung" des Wählerverhaltens vermuten lässt.

Interessant sind auch die Angaben zur Berufstätigkeit. Die beiden größten Wählergruppen der AfD sind die Arbeiter und die Arbeitslosen: Im Saarland waren es neun bzw. sieben, in Schleswig-Holstein acht bzw. neun und in Nordrhein-Westfalen 17 bzw. zwölf Prozent der Stimmen. Damit einhergehende Besonderheiten sind offenkundig, dürfen aber nicht zu monokausalen Deutungen führen: Denn weit über achtzig Prozent der Arbeiter und Arbeitslosen wählten demnach nicht die AfD. Angesichts der Angaben zum Alter kann nicht verwundern, dass Rentner unterdurchschnittlich für die Partei votierten. Gleiches gilt für Beamte. Diese wählten die Partei im Saarland mit sechs bzw. fünf, in Schleswig Holstein mit fünf bzw. vier und in Nordrhein-Westfalen mit drei bzw. fünf Prozent. Im Durchschnitt lagen die Angestellten und Selbstständigen im Saarland mit sechs bzw. sieben, in Schleswig-Holstein mit sieben bzw. sechs, aber nicht in Nordrhein-Westfalen mit acht bzw. vier Prozent.

Bezüglich der konfessionellen Bindung gilt für "Rechtsaußenparteien", dass sie eher von Konfessionslosen gewählt werden. Bei den konfessionsgebundenen Wählern sind Katholiken und Protestanten gleichrangig vertreten. Dies war bei den Landtagswahlen 2017 nicht immer der Fall: im Saarland aber durchaus, wo 5,2 Prozent der katholischen und 4,9 Prozent der evangelischen Wähler, aber 8,5 Prozent der Konfessionslosen für die Partei votierten. In Schleswig-Holstein verhielt es sich indessen so, dass 8,4 Prozent der Katholiken, 5,1 Prozent der Protestanten und 7,9 Prozent der Konfessionslosen ihr Kreuz bei der AfD machten. In Nordrhein-Westfalen stimmten 6,1 Prozent der Katholiken, aber 8,7 Prozent der Protestanten und 9,4 Prozent der Konfessionslosen für die Partei. Der bedeutende Anteil unter den Konfessionslosen ist somit keine ostdeutsche Besonderheit. Ein anderer interessanter Aspekt bezieht sich auf Gewerkschaftsmitglieder. Diese wählten immer leicht stärker AfD als Nicht-Gewerkschaftsmitglieder: im Saarland 6,7 zu 6,1 Prozent, in Schleswig-Holstein 5,4 zu 5,3 Prozent und in Nordrhein-Westfalen 8,6 zu 7,1 Prozent.

Beachtenswert ist auch die 'politische' Herkunft der Wählerschaft: Der größte Anteil kam im Saarland mit 8.000 von früheren Nichtwählern. Auch jeweils 4.000 ehemalige Anhänger der CDU und der Partei "

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Die Linke" stimmten für die AfD. Die SPD verlor 3.000 Wähler an sie. Von der "Grünen"-Wählerschaft hingegen wechselten nur wenige zu der Partei. In Schleswig-Holstein wählten 11.000 ehemalige Nichtwähler die AfD. 45.000 hatten zuvor andere Kleinparteien gewählt. Hier dürfte es sich hauptsächlich um frühere "Piraten"-Stimmen gehandelt haben, hat diese Partei doch erheblich an Wählerstimmen verloren. Ansonsten erhielt die AfD in Schleswig-Holstein 11.000 Wähler von der CDU, 5.000 von der SPD, 3.000 von der SPD und 1.000 von den "Grünen". In Nordrhein-Westfalen kamen 120.000 von früheren Nichtwählern und 300.000 von anderen Kleinparteien, wobei es sich ebenfalls um frühere "Piraten"-Wähler gehandelt haben dürfte. Ansonsten erhielt die AfD 60.000 Wähler von der SPD, 50.000 von der CDU, 30.000 von der FDP und jeweils 10.000 von den "Grünen" und "Die Linke".

Beachtenswert für die Analyse der Motive, nach denen die Wähler sich für die AfD entschieden haben, sind auch diverse Selbsteinschätzungen der Wähler. Im Saarland meinten 42 Prozent der Parteianhänger, sie hätten in ihrem Leben weniger als ihnen zustünde (Alle: 23 Prozent). Hinsichtlich der eigenen wirtschaftlichen Lage gehörten in Schleswig-Holstein fünf Prozent zu den Zufriedenen und neun Prozent zu den Unzufriedenen, in Nordrhein-Westfalen sechs Prozent zu den Zufriedenen und vier Prozent zu den Unzufriedenen. Es lassen sich also hier Auffälligkeiten feststellen. Derart negative Eindrücke und Gefühle führen offenkundig stärker zu einer Wahl der AfD. Indessen gilt für die erstgenannte Angabe, also die eigene wirtschaftliche Situation, dass sie doch unter der Hälfte liegt und die Unterschiede von den Unzufriedenen und Zufriedenen keineswegs besonders hoch sind. Allein daraus lässt sich demnach keine Entscheidung zugunsten der Partei bei den Wählern herleiten. Es muss noch andere Gesichtspunkte geben, die bislang noch nicht genügend Interesse gefunden haben.

Dazu gehören in erster Linie die politischen und sozialen Einstellungen: Diverse Studien haben deutlich gemacht, dass die AfD-Wähler in vielen Fragen weit rechts von der Durchschnittsmeinung in der Gesellschaft stehen. So haben etwa die Befragungen zu "Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit", die sicherlich hinsichtlich mancher Items kritisch gesehen werden müssen, in der Gesamtschau in diesem Wählerbereich gezeigt, dass hierzu die höchsten Zustimmungswerte auszumachen waren. Einschlägige Einstellungen kann die Partei dann gut mobilisieren, wenn bestimmte Themen die öffentliche Wahrnehmung dominieren. Dazu gehört allen voran aktuell die " Flüchtlingsfrage". Bei den Abstimmungen im Saarland und Schleswig-Holstein spielte sie nur eine geringe, bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen eine größere Rolle. Entsprechend verhielt es sich auch bei den Wahlergebnissen. Bislang ist die Forschung allerdings Zusammenhang von " Einstellungen" und "Protestverhalten" mit einer Wahlentscheidung für die AfD noch nicht genauer nachgegangen.

Abschließend soll hier noch eingeschätzt werden, was die vorstehenden Erkenntnisse für die Perspektiven der Partei bedeuten. Es lässt sich zunächst ein Rückgang der Zustimmungswerte konstatieren. Die AfD konnte ihren Höhenflug aus dem Vorjahr nicht fortsetzen und sich auch nicht auf einer Ebene von über 10 Prozent der Stimmen stabilisieren. Gleichwohl gelang es ihr, jeweils eindeutig mit mehr als fünf Prozent in die Landtage einzuziehen. Dies geschah auch während eines Bedeutungsverlustes "ihres" hauptsächlichen "Migrations"-Themas in der öffentlichen Wahrnehmung. Auch führten die absonderlich bis heftig zu bezeichnenden innerparteilichen Konflikte nicht zu einem erkennbaren Rückgang der Wählerstimmen. Damit spricht einiges für eine Etablierung als Wahlpartei, die bundesweit gegenwärtig wie längerfristig mit zwischen fünf und zehn Prozent der Stimmen rechnen kann. Die Anteile in den östlichen Bundesländern sind dabei erkennbar höher als in den westlichen Bundesländern. Gerade auch ihr Bestehen in den westlichen Bundesländern spricht aber für eine Stabilisierung.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Armin Pfahl-Traughber für bpb.de

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Der Front National – eine feste politische Größe in Frankreich

Von Dr. Ronja Kempin 30.3.2017 Ronja Kempin, geb. 1974, ist Mitglied der Forschungsgruppe EU/Europa bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. 2007 promovierte sie über Frankreichs Sicherheitspolitik. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte sind die Rolle des Front National und des Populismus in Frankreich und deutsch-französische Beziehungen in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Über Jahrzehnte blieb die französische Rechtsaußen-Partei Front-National eine Randerscheinung. Seit einigen Jahren aber befindet sich der Front National auf Erfolgskurs. " Populistisch und stolz darauf" versuchte die Partei, ihre rechtsextreme Gesinnung zu verharmlosen. Marine Le Pen, Tochter der Parteigründers und aktuelle Vorsitzende, galt als aussichtsreiche Kandidatin der Präsidentschaftswahlen im April 2017.

Marine Le Pen, Vorsitzende der französischen Partei Front National, bei einer Parteiveranstaltung im August 2016 in Südfrankreich. Ihr Slogan für die Präsidentschaftswahlen lautet "Au nom du peuple", "Im Namen des Volkes". (© picture-alliance/AP)

Im politischen System Frankreichs ist Raum für eine Rechtsaußen-Partei. Diese Erkenntnis führte Jean-Marie Le Pen im Oktober 1972 zur Gründung des Front National (FN). Beinahe 30 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der deutschen Besetzung hatten etwa 25% der Wahlberechtigten des Landes angegeben, nationalistisch eingestellt zu sein. In den ersten zehn Jahren seines Bestehens gelang es dem FN gleichwohl nicht, diesen Personenkreis für sich zu gewinnen. Bei Wahlen konnte er nicht einmal 1% der Stimmen auf sich vereinen (s. Schaubild). Interne

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Streitigkeiten um Kurs und Kompetenzen lähmten die Partei. [1] Erst die Wahl des Sozialisten François Mitterrand 1981 zum Präsidenten der Republik begünstigte den Aufstieg des FN. Mitterands Wirtschaftspolitik ließ neue Industrieregionen entstehen, in denen der FN bei Wahlen bis ins Jahr 2002 über 10% der Stimmen auf sich vereinen konnte. Die neuen Industriezentren waren vielerorts durch Einwanderung, Bevölkerungszuwachs und sozialen Spannungen geprägt.[2]

In den 1990er Jahren griff der FN eine Formulierung des französischen Rechtsextremismusforschers Pierre-André Taguieff auf, der die Partei als "nationalpopulistisch" gekennzeichnet hatte. "Populistisch und stolz darauf" [3] versuchte die Partei seither, ihre rechtsextreme Gesinnung zu verharmlosen und zu banalisieren. Das Erfolgsrezept, das der FN anderen rechtsextremen Parteien in Europa ins Stammbuch schrieb, beruhte auf "ethno-nationalistischer Fremdenfeindlichkeit und der Vermischung von Anti-System und Anti-Establishment-Rhetorik". [4] Gut zehn Jahre lang kam dieser Modernisierungsschub dem FN zugute. Zu Beginn des Millenniums drohte der FN jedoch in der Bedeutungslosigkeit zu versinken: 2004 rutschte die Partei bei Wahlen erstmals unter 10%. Mit einem Ergebnis 4,3% beziehungsweise 6,3% der abgegebenen Stimmen endeten die Parlamentswahlen 2007 und die Präsidentschaftswahlen 2009 für den FN im Desaster. 2011 übergab Jean-Marie Le Pen, der den FN vier Jahrzehnte geführt hatte, die Partei an seine Tochter Marine.

Eine Partei auf Erfolgskurs

Seither befindet sich die Partei auf Erfolgskurs. Im Mai 2014 erzielte der FN bei den Europawahlen das beste Resultat aller französischen Parteien (24,9%). Bei den Regionalwahlen vom Dezember 2015 votierten durchschnittlich 28% der Französinnen und Franzosen für die Partei. Die Demoskopen sind sich einig, dass Parteichefin Marine Le Pen in die Stichwahl um das Präsidentenamt einziehen wird und sogar Chancen auf den Wahlsieg hat. Zudem dürfte sie dem FN auch bei den Parlamentswahlen einige Abgeordnetenmandate sichern. Deutlich umfangreicher und zielstrebiger als ihr Vater hat Marine Le Pen den Wandlungsprozess des FN von einer rechtsextremen zu einer rechtspopulistischen Partei vorangetrieben.

[An dieser Stelle befindet sich ein eingebettetes Objekt, das wir in der PDF-/EPUB-Version nicht ausspielen können. Das Objekt können Sie sich in der Online-Version des Beitrags anschauen: http:// www.bpb.de/politik/extremismus/rechtspopulismus/245672/der-front-national-eine-feste-politische-groesse- in-frankreich]

Warum jedoch wollen so viele Französinnen und Franzosen einer fremdenfeindlichen, antimuslimisch und antieuropäisch argumentierenden Partei und ihrer Vorsitzenden ihre Stimme geben, welche die Einwanderung drastisch beschränken, vermehrt Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung abschieben, bestimmte Banken nationalisieren, das Prinzip der "nationalen Priorität" u.a. durch den Vorrang von Franzosen bei Sozialwohnungen verankern, eine größere Unabhängigkeit gegenüber internationalen Organisationen erreichen und Einfuhrzölle zum Schutz der heimischen Landwirtschaft und Industrie erheben will? Warum dominiert in Frankreich eine Partei die politischen Diskussionen, die das Schengener Abkommen kündigen, ein Referendum über den Austritt des Landes aus dem Euro wie der EU durchführen und ein "Europa der Nationalstaaten" schaffen will?

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 137 Entdiabolisierung und inhaltliche Neuausrichtung

Im Unterschied zu ihrem Vater möchte die gegenwärtige Vorsitzende des Front National die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung Frankreichs nicht aus einer Systemopposition destabilisieren. Ihr Ziel besteht vielmehr darin, es von innen heraus zu verändern. Um die dazu notwendige politische Macht zu erlangen, beschränkt sie sich nicht länger auf das vom Vater meisterhaft genutzte Instrument der gezielten Provokation. Vielmehr zeichnet sie das Bild einer gemäßigten, modernen Rechten mit gewöhnlichen Parteistrukturen – präsentiert ihr Programm als frei von Antisemitismus und Rassismus, den Werten und Normen der französischen Republik verpflichtet. [5] So hat Marine Le Pen unmittelbar nach der Übernahme des Parteivorsitzes begonnen, den FN zu " entdiabolisieren". Konsequent kehrt sie den antisemitischen und rassistischen Äußerungen ihres Vaters, der die Gaskammern der Konzentrationslager wiederholt als "Detail der Geschichte des Zweites Weltkriegs" bezeichnet hatte, den Rücken. Jedwede Huldigung des faschistisch anmutenden Vichy- Regimes, jeden Ruf nach Wiedereinführung des französischen Kolonialsystems in Algerien und auch die Debatte über die Rolle ihres Vaters im Algerienkrieg hat Marine Le Pen aus dem Diskurs der Partei entfernt. Ihr Ziel ist es, den FN zu einer modernen Partei zu machen, die in die Zukunft schaut, nicht die Vergangenheit verherrlicht. Dafür hat sie auch den Kader der Partei runderneuert. Auf die alten Rechtsextremen folgten junge, mehrheitlich aus dem eigenen Parteinachwuchs stammende Mitglieder, die in vielen Fällen hervorragend ausgebildet sind und moderne Lebensformen vertreten. Auch das Image einer homophoben rechtsextremen Partei sollte so gebrochen werden. So wirbt einer ihrer engsten Vertrauten, der homosexuelle FN-Politiker Florian Philippot, für den FN als "moderne", "junge " Partei, der "sexuelle Präferenzen und Praktiken" egal sind. Das Internet hat Marine Le Pen nach antisemitischen, rassistischen, NS-verherrlichenden, homophoben oder die Kolonialgeschichte Frankreichs verharmlosenden Äußerungen von Parteimitgliedern durchsuchen und diese aus der Partei ausschließen lassen. Im August 2015 gipfelte dieses Vorgehen im Parteiausschluss ihres Vaters. [6]

Unter Marine Le Pen ist auch der Diskurs der Partei erheblich verändert worden. Den explizit diskriminierenden und xenophoben Äußerungen ihres Vaters lässt Marine Le Pen ein Vokabular folgen, das sich zu den Grundwerten Frankreichs – ihrem Verständnis von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – bekennt und den Eindruck vermitteln soll, der FN sei Schutzpatron aller Franzosen. Im "Namen des Volkes", wie ihr Slogan für die Präsidentschaftswahlen 2017 lautete, verteidigt Marine Le Pen die Identität, die Werte und die Souveränität des Landes gegen den Islam, gegen korrupte Politiker, gegen die Macht Brüssels und gegen eine vermeintlich ausufernde Globalisierung. Die Themen der Partei hat sie systematisch erweitert. Die einstige auf das Thema Immigration reduzierte Randpartei befasst sich mittlerweile mehrheitlich mit wirtschaftlichen und sozialen Themen und Fragestellungen. Ihnen sind 40% der Äußerungen Marine Le Pens gewidmet. [7] Dieser neue Fokus macht es der Parteivorsitzenden möglich, über ein Thema zu sprechen, das aufgrund der aktuellen wirtschaftlichen Schieflage Frankreichs für die Bevölkerung besonders wichtig ist. Seit Jahren sinkt die Arbeitslosigkeit in Frankreich nicht unter 10%. Ein Viertel der 18-24-jährigen sucht in Frankreich Arbeit. Zum anderen ermöglicht der Fokus auf wirtschaftliche Fragen, über die besonderen Vorteile eines starken Staates zu sprechen. Frankreich, so Marine Le Pen, habe die Kontrolle über die eigene Wirtschaft verloren. Ausländische Finanzinteressen bestimmten die nationale Ökonomie, die zudem unter einer massiven Zuwanderung billiger Arbeitskräfte leide. Diesen Missständen könne allein der französische Staat entgegenwirken. Nur er könne die wirtschaftliche Genesung des Landes bewirken und prekäre Bevölkerungsgruppen schützen. Über solche Aussagen spricht Marine Le Pen schließlich eine gewichtige Wählerschicht ihrer Partei an: Die am stärkstem um ihre Arbeitsplätze fürchtenden Arbeiterinnen und Arbeiter sowie die kleineren Angestellten im öffentlichen Dienst, die den FN heute zu über 40% (Arbeiterschaft) und zu über 30% (Angestellte im öffentlichen Dienst) wählen. [8]

Die Vorsitzende hat den FN verändert: In Frankreich wird die Partei immer weniger als rechtsextrem eingestuft. Dabei tragen nicht alle FN-Anhänger den Kurs Marine Le Pens mit. Eine Analyse von über 630 Twitter-Accounts von FN-Mitgliedern etwa zeigt, dass an der Parteibasis weiterhin die Themen Einwanderung und Islam dominieren, während Wirtschafts- oder Europapolitik kaum Erwähnung finden.[9] Auch die rhetorische Mäßigung der Parteivorsitzenden findet hier keinen Niederschlag, was

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 138 zahlreiche antisemitische, rassistische, homophobe, islamophobe und den NS verherrlichende Äußerungen belegen. Die Mehrheitsgesellschaft sieht den FN gleichwohl als populistische Partei an. Sie hält dem FN zugute, Antworten auf gesellschaftliche Fragen zu geben.

Bruchlinien der französischen Gesellschaft als Stärke des FN

Nicht allein der FN hat sich gewandelt. Auch die französische Gesellschaft hat in den zurückliegenden Jahren Veränderungen erfahren. [10] Neue Konflikte haben sich aufgetan. Eine Konfliktlinie bezeichnet einen "dauerhaften Konflikt, der in der Sozialstruktur verankert ist und im Parteiensystem seinen Ausdruck findet." [11] Parteien fungieren in solchen Konfliktlagen als Bündnisse über gemeinsame Politikinhalte und Werteverpflichtungen. Verändern sich Konfliktlinien und die ihnen zugrundeliegenden Wertevorstellungen, entsteht Raum für eine neue politische Kraft. Die klassischen vier Konfliktlinien, mit denen seit Ende der 1960er Jahren der Wandel europäischer Parteiensysteme erklärt wird, sind die Gegensatzpaare Staat-Kirche, Stadt-Land, Arbeit-Kapital sowie Zentrum-Peripherie. [12] Besser als die übrigen Parteien des Landes scheint Marine Le Pen erkannt zu haben, dass in der Gesellschaft Veränderungen aufgetreten sind, die neue Wählerinteressen haben entstehen lassen, welche von den etablierten Parteien des Landes nicht ausreichend adressiert werden. Seit einigen Jahren tut sich in Frankreich ein Spannungsverhältnis zwischen Staat und Kirche auf. Dies ist überraschend, sind Kirche und Staat in Frankreich doch seit 1905 rechtlich voneinander getrennt. Religion gilt in der französischen Gesellschaft als Privatsache. Sie darf keinen (patei-) politischen Ausdruck finden. Doch klagen weite Bevölkerungsteile darüber, verunsichert zu sein, weil der Islam in Frankreich immer sichtbarer werde. Für 84% der Franzosen ist die Laizität das wichtigste Element der eigenen Identität. [13] Sie werfen dem Staat vor, diese nicht länger ausreichend zu schützen. Das Schutzbedürfnis gegen den Islam ist besonders stark bei den französischen Katholiken ausgeprägt. Im Dezember 2015 stimmten anlässlich der Regionalwahlen im landesweiten Schnitt 25% der praktizierenden und 34% der nicht-praktizierenden Katholiken für den FN. Die Partei fordert etwa strengere Auflagen für den Bau von Moscheen, die getreue Anwendung des Prinzips der Laizität, das einhergeht etwa mit dem Verbot, Kultstätten durch öffentliche Gelder zu unterstützen sowie die Begrenzung der Einwanderung von 200.000 auf 10.000 Migranten pro Jahr.

Im Gegensatz von städtischen und ländlichen Interessen macht sich der FN zum Fürsprecher des ländlichen Raumes, insbesondere aber des vorstädtischen Raumes, der in Frankreich seit Jahren beachtlich wächst. Der Angst der Bewohner der französischen Vorstädte vor einem sozialen Abstieg, die in ähnlicher Weise auch durch einen zunehmenden Mangel an Infrastruktur und Daseinsvorsorge in den Dörfern befeuert wird, setzt der FN das Versprechen entgegen, Strukturprogramme aufzulegen und einen flächendeckenden öffentlichen Dienst zu erhalten. 30% der Wählerinnen und Wähler dieses Raumes geben dem FN im Dezember 2015 für diese Programmpunkte ihre Stimme. [14]

Mit der Forderung nach einem starken öffentlichen Dienst bedient der FN auch Veränderungen im Spannungsverhältnis zwischen Arbeit und Kapital. Alle Gutachten, die Frankreich zur Reform seines Wirtschafts- und Sozialmodells erhält, fordern den Abbau öffentlicher Stellen und eine Liberalisierung öffentlicher Dienstleistungen. Um die 5,6 Millionen Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst dennoch zu erhalten, will der FN die Globalisierung zurückdrängen und die Macht der EU-Institutionen einschränken – Forderungen, an der sich insbesondere kleinere und mittlere Angestellte aufrichten. Die als "durchlässige[s] Europa" und als "Europa der Arbeitslosigkeit" bezeichnete EU sei ein "totalitäres System", ein "wirtschaftliches und soziales Desaster" für Frankreich: "Rezession, Standortverlagerungen, Missachtung der Völker, Preisexplosion seit Einführung des Euro, Zerstörung unserer Landwirtschaft und unseres öffentlichen Dienstes, Massenimmigration, Zerstörung unserer nationalen Identität".[15] Ein starker Staat solle schließlich auch die Wirtschaft des Landes wieder ankurbeln und Industriearbeitsplätze, die in den vergangenen Jahren massenhaft verlorengegangen sind, zurückbringen. Über 40% der französischen Arbeiter trauten dem FN in den Regionalwahlen 2015 zu, ihre prekäre Situation zu verbessern.

Dass die Angebote Marine Le Pens verfangen, obgleich der rechtsextreme Markenkern der Partei in

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 139 ihnen immer wieder durchscheint, liegt schließlich auch an einem Vertrauensverlust in die politische Klasse und die Institutionen des Landes. Im Frühjahr 2016 gaben über 80% der Bevölkerung in einer Umfrage an, der Politik in ihrem Land mit Misstrauen zu begegnen und den etablierten Parteien den Rücken zu kehren. [16] Ihnen will Marine Le Pen nach eigenen Aussagen ihre Stimme zurückgeben. Die Angriffe, die der FN gegen die "beschlagnahmte Politik" setzt, scheinen zu wirken: Bei den Präsidentschaftswahlen 2012 etwa erhielt Marine Le Pen 35% der Stimmen aus dem Lager jener, die sich "gar nicht" für Politik interessieren. Darüber hinaus kann der FN jene Wählerinnen und Wähler für sich gewinnen, die ihre angestammte politische Heimat aufgegeben haben. Der Stimmenzuwachs, den der FN zwischen 2012 und 2015 verzeichnen konnte, kam zu 60% von ehemaligen Anhängern der konservativen Partei Les Républicains (LR, Deutsch: Die Republikaner)sowie von den Parteien des Zentrums. Ein Viertel der Neu-Wählerinnen und Wähler des Front National stammt aus der Wählerklientel der Parti socialiste (PS, Deutsch: Sozialistische Partei).

Die Schwäche der Anderen als Stärke des FN

Frankreichs Bevölkerung verlangt heute nach mehr ökonomischer, sozialer und physischer Sicherheit und möchte das Verhältnis Frankreichs zum Islam geklärt wissen. Seit 2014 geben über ein Viertel der Wählerinnen und Wähler des Landes dem FN bei Wahlen ihre Stimme. Sie sind der Ansicht, der FN könne diese Bedürfnisse erfolgreich bedienen. Wollen sie den Vormarsch des FN stoppen, müssten die etablierten Parteien Frankreichs ebenfalls auf diese Veränderungen reagieren. Gelingt es ihnen nicht alsbald, sich personell zu erneuern und mit ihrer Themenwahl und den damit verbundenen inhaltlichen Politikangeboten neben der gesellschaftlichen Mitte auch wieder (vermeintliche) Randgruppen anzusprechen, droht der FN in Frankreich auf absehbare Zeit die stimmenstärkste Partei zu bleiben. Einer "Marine Présidente" steht bislang die bipolare Struktur des Parteiensystems der V. Republik entgegen, in der Koalitionsbildungen nur innerhalb der beiden Lager stattfinden, nicht lagerübergreifend. Das Fehlen eines Koalitionspartners hat es der Partei verwehrt, unter Beweis zu stellen, ob und wie sie politische Verantwortung ausführen wird. Für die Wählerinnen und Wähler in Frankreich bleibt ebenso wie für die politischen Verantwortungsträger in Europa offen, wohin Marine Le Pen das Land politisch steuern würde.

Fußnoten

1. Grégoire Kauffmann, »Les origines du Front national«, in: Pouvoirs, 157 (April 2016) 2, S. 5-15. 2. Pascal Perrineau, La France au Front. Essai sur l’avenir du Front National, Paris: Fayard, 2014, S. 19f. 3. Zitiert nach Nonna Meyer, »Votes populaires, votes populistes«, in: Hèrmes, 42/2005, S. 161 – 166, hier S. 161. 4. Karin Priester, »Fließende Grenzen zwischen Rechtsextremismus und Rechtspopulismus in Europa?«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 44/2010, S. 33-39, hier S. 33. 5. Alexandre Dézé, Le "nouveau" Front National en question, Paris: Éditions Fondation Jean Jaurès, 2015, S. 34. 6. Nikos Tzermias, »Familienkrach ohne Ende, Parteiausschluss von Front-national-Gründer Le Pen«, in: Neue Zürcher Zeitung, 21.8.2015, (Zugriff am 1.11.2016). 7. Zum "neuen" Diskurs der Partei vgl. insbesondere Cécile Alduy, »Mots, mythes, médias. Mutations et invariants du discours frontiste«, in: Sylvain Crépon, Alexandre Dézé, Nonna Mayer (Hg.), Les faux-semblants du Front national. Sociologie d’un parti politique, Paris: Presses de la Fondation nationale ds sciences politiques, 2015, S. 247-268. 8. Zur Wählerschaft des FN vgl. Pascal Perrineau, »Montée en puissance et recompositions de l'électorat frontiste«, in: Pouvoirs, 157 (April 2016) 2, S. 62-73; Pascal Perrineau, »La dynamique du Front national«, in: L’enquête électorale francaise: Comprendre 2017, Sciences Po, Cevipof, La Note / #2 / vague 1, Dezember 2015, http://www.enef.fr/app/download/12760649325/

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LA_NOTE_%232_vague1.pdf?t=1449846374 (http://www.enef.fr/app/download/12760649325/ LA_NOTE_%232_vague1.pdf?t=1449846374), S. 2. 9. Cécile Alduy, «Nouveau discours, nouveaux succès», in: Pouvoirs, 157 (April 2016) 2, S. 17-29, hier S. 23f. 10. Zu den nachfolgenden Ausführungen vgl. insbesondere Ronja Kempin, Der Front National. Erfolg und Perspektiven der "stärksten Partei Frankreichs", SWP-Studie, März 2017, S. 20ff. 11. Franz Urban Pappi, hier zitiert aus Oskar W. Gabriel, Bettina Westle, Wählerverhalten in der Demokratie, Eine Einführung, Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaften 2012, S. 49. 12. Rüdiger Schmitt-Beck, »Seymour M. Lipset/Stein Rokkan (Hrsg.), Party Systems and Voter Alignments: Cross-National Perspectives«, in: Steffen Kailitz, Schlüsselwerke der Politikwissenschaft, 2007, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 251-255, hier S. 252. 13. Je'ro^me Fourquet, Jean-Philippe Dubrulle, »Les Français et la laicité«, in: Ifop, Departement Opinion et Stratégies d’Entreprises, November 2015, S. 10f, http://www.ifop.fr/media/poll/3232-1- study_file.pdf (http://www.ifop.fr/media/poll/3232-1-study_file.pdf)(Zugriff am 26.1.2017). 14. Vgl hier Ifop (Hg.), » L’influence de l’isolement et de l’absence de services et commerces de proximité sur le vote FN en milieu rural.«, in: ifop focus 135, http://www.ifop.com/media/ pressdocument/896-1-document_file.pdf (http://www.ifop.com/media/pressdocument/896-1- document_file.pdf)(Zugriff am 30.12.2016) ; France Info, Régionales 2015. Qui sont les électeurs du FN?, undatiert, http://www.francetvinfo.fr/politique/front-national/regionales-2015-qui-sont-les- electeurs-du-fn_1227747.html (http://www.francetvinfo.fr/politique/front-national/regionales-2015- qui-sont-les-electeurs-du-fn_1227747.html). 15. Euromanifest 2009 des FN, zitiert nach Emmanuelle Reungoat, »Le Front National et l’Union Européenne, La Radicalisation comme Continuité«, in: Sylvain Crépon, Alexandre Dézé, Nonna Mayer (Hg.), Les faux-semblants du Front national. Sociologie d’un parti politique, Paris: Presses de Sciences Po, 2015, S. 225-246, hier S. 232. 16. Europäische Kommission, Standard-Eurobarometer 85, Frühjahr 2016, Anlage, Die öffentliche Meinung in der europäischen Union, S. T 41f, http://ec.europa.eu/COMMFrontOffice/ PublicOpinion/index.cfm/ Survey/getSurveyDetail/instruments/STANDARD/surveyKy/2130 (http://ec.europa.eu/COMMFrontOffice/ PublicOpinion/index.cfm/Survey/getSurveyDetail/instruments/STANDARD/surveyKy/2130)

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Debatte: Ist die Alternative für Deutschland eine rechtspopulistische Partei?

Von Alexander Häusler, Oskar Niedermayer 17.1.2017 Alexander Häusler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Forschungsschwerpunktes Rechtsextremismus/Neonazismus der Hochschule Düsseldorf (www.forena.de)

Prof. Dr. Oskar Niedermayer ist emeritierter Professor und ehemaliger Leiter des Otto-Stammer-Zentrums an der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Parteien, Wahlen und Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland.

Wenn Rechtspopulismus als Form einer politischen Ansprache verstanden wird, der sich sowohl nationalkonservative wie rechtsradikale Parteien bedienen, dann, so der Sozialwissenschaftler Alexander Häusler, sei die AfD rechtspopulistisch. Politikwissenschaftler Oskar Niedermayer dagegen meint, dass "rechtspopulistisch" in Bezug auf die AfD die inhaltliche Bandbreite der Partei nicht widerspiegle und Brücken zum Rechtsextremismus verharmlose.

Der Sprecher der Partei Alternative für Deutschland (AfD), Björn Höcke, freut sich am 22.10.2016 beim Landesparteitages Thüringen in Arnstadt (Thüringen) über seine Wiederwahl als Sprecher. (© picture-alliance/dpa)

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 142 Alexander Häusler | Pro

Seit den ersten Wahlerfolgen der Partei "Alternative für Deutschland" (AfD) wird darüber debattiert, wo diese Partei politisch auf dem rechten Feld zu verorten sei: Ist sie rechtspopulistisch oder nationalliberal bzw. nationalkonservativ oder rechtsradikal oder gar rechtsextrem? Die Einordnung ist deshalb nicht einfach, weil es sich bei der AfD um eine Partei im Wandel, sozusagen um ein 'politisches Chamäleon' handelt: Entstanden als rechte Anti-Euro-Partei, vollzog die Partei im Laufe ihres kurzen Werdegangs einen Wandel in Richtung hin zu einer radikal rechts orientierten Anti-Establishment- Partei. Dieser Wandel hat viel mit dem innerparteilichen Führungswechsel zu tun. Schon in ihrer Gründungszeit bestand die AfD aus drei unterschiedlichen rechtsorientierten politischen Milieus: einem nationalliberalen, einem nationalkonservativen und einem radikal rechts orientierten Milieu mit offener Flanke zu rechtsextremen Strömungen.

Nach der Abwahl von Bundessprecher Bernd Lucke und dessen Gründung der erfolglosen AfD- Nachfolgepartei ALFA fokussierte sich die AfD propagandistisch stärker auf das Einwanderungsthema und positionierte sich deutlicher radikal rechts. Dies lässt sich auch anhand ihrer veränderten Positionierung im Europaparlament veranschaulichen: So war die AfD nach ihrem erfolgreichen Einzug in das Europaparlament 2014 zunächst der Fraktion der europaskeptischen Konservativen und Reformisten (ECR-Fraktion) unter Führung der britischen Tories beigetreten. Zu radikal rechten Kräften wie der französischen Front National (FN) und der österreichischen FPÖ bekundete die AfD- Parteispitze zu jener Zeit noch mehrheitlich Abstand. Dies änderte sich grundlegend nach der Abwahl von Lucke: Während die AfD-Abspaltung Alfa unter Führung von Lucke derzeit noch im Europaparlament Mitglied in der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) ist, traten die verbliebenen AfD-Parlamentarier Beatrix von Storch und Marcus Pretzell ihren Weg nach Rechtsaußen an: Von Storch trat über zur rechtspopulistischen EFFD-Fraktion unter Führung der britischen UKIP und Prezell zur radikal rechten ENF-Fraktion. Neben der FPÖ sind in der ENF-Fraktion u.a. der rechtsextreme Front National sowie die rassistische Lega Nord aus Italien aktiv. Das bedeutet: Die AfD schwenkte um von einer ursprünglich euroskeptisch/pro-atlantisch ausgerichteten Positionierung hinüber in das radikal rechte antieuropäische Lager. Führende Funktionäre beschreiben ihre Partei nun wahlweise als eine "Pegida-Partei" oder eine "fundamental- oppositionelle Bewegungspartei".

Trotz dieses Wandels ist die AfD grundsätzlich eine rechtspopulistische Partei. Auf dem Gründungsparteitag der AfD am 14. April 2013 hielt ihr früherer Bundesprecher Konrad Adam eine Rede, in der er zum Populismus Stellung bezog: "Wenn unsere Volksvertreter ihre Aufgabe darin sehen, das Volk zu entmündigen, sollten wir selbstbewusst genug sein, den Vorwurf des Populismus als Auszeichnung zu betrachten", erklärte er unter großem Zuspruch seiner Zuhörerschaft. Zwar inszenierte sich die AfD von Beginn an als einzigartige Partei in Kontrast zu den "Alt-Parteien" (im AfD- Jargon) – real stellt sie hingegen ein Konglomerat aus zumeist ehemaligen Parteigängern der CDU, CSU, FDP sowie ehemaligen Mitwirkenden aus rechtspopulistische Parteien wie dem Bund freier Bürger (BFB), der Partei Die Freiheit (DF), den Republikanern (REP) und der Schill-Partei dar. Vom BFB kopierte die AfD die Anti-Euro-Rhetorik, von der DF deren muslimfeindlichen Kampagnenstil und von den REP deren fremdenfeindlichen Populismus. Zugleich dienen der Partei erfolgreiche rechtspopulistische Parteien in unseren Nachbarländern wie die FPÖ oder die SVP als Vorbilder.

Was ist Rechtspopulismus?

Unter Rechtspopulismus ist eine spezifische Form von Inszenierung bzw. politischem Stil zu verstehen. Der konstruierte Gegensatz zwischen Volk und Elite kann als dessen "Basiserzählung" verstanden werden. Dabei wird "das Volk" als ethnisch homogenisierter Begriff für die unterschiedlichen Partikularinteressen angestammter Bevölkerungsteile in Kontrast zu der "politischen Klasse" gesetzt, welche angeblich "volksfeindliche" Ziele verfolge. Den bewusst gewählten Außenseiterstatus rechtspopulistischer Parteien (als selbstinszenierte "Anwälte des Volkes" gegen "die Elite") versinnbildlicht eine Wahlkampfparole des verstorbenen Rechtspopulisten Jörg Haider: "Sie sind gegen ihn, weil er für euch ist." In leicht abgewandelter Form ging die AfD im Herbst 2016 mit dieser Parole

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 143 in Niedersachsen in den Kommunalwahlkampf.

Die rechtspopulistische Ansprache beinhaltet zugleich ein Zugehörigkeitsangebot ("Wir"-Konstruktion) wie ein personalisiertes Feindbildangebot ("Die Anderen"). Als Feindbilder dienen in der rechtspopulistischen Ansprache wahlweise u.a. Zuwanderer, Asylsuchende, Muslime, emanzipatorische Bewegungen oder das sog. "Establishment". Dies bedeutet: Sowohl Parteien extrem/radikal rechten Ursprungs wie etwa der FN und die FPÖ als auch Parteien wirtschaftsliberalen und konservativen Ursprungs wie die PVV und die SVP können zur rechtspopulistischen Parteienfamilie gezählt werden, weil sie strukturähnliche Merkmale ihrer Agitation und Feindbildsetzungen aufweisen und sich politisch aufeinander beziehen. Auch Donald Trump, das neue agitatorische Vorbild für Europas Rechtspopulisten, hat mit einem solchen politischen Stil Wahlkampf betrieben.

Dies zeigt, dass die Kategorisierung "rechtspopulistisch" allein zur politischen Verortung einer Partei nicht ausreicht, denn sowohl nationalkonservative wie auch radikal rechte Parteien können sich rechtspopulistisch inszenieren. Allerdings hilft der Begriff des Rechtspopulismus zur Beschreibung und zum Verständnis verbindender Merkmale und Wirkungen unterschiedlicher rechter Parteien und Strömungen.

Bezogen auf die AfD bedeutet das: Ihre rechtspopulistische Inszenierungsform stellt die verbindende Klammer dar zwischen ihren nationalkonservativen, nationalliberalen und ihren innerparteilich immer stärker werdenden radikal rechten Strömungen. Ohne ihre rechtspopulistischen Inszenierungen sind ihre Wahlerfolge nicht zu erklären.

Oskar Niedermayer | Contra

Die AfD sollte nicht als rechtspopulistische Partei bezeichnet werden. Dafür gibt es vier Gründe: Erstens ist aus dem Begriff "rechtspopulistisch" ein inflationär gebrauchter politischer Kampfbegriff im Parteienwettbewerb geworden. So werden z.B. Horst Seehofer und die CSU wegen ihrer Haltung zum Flüchtlingsthema von einigen in die rechtspopulistische Ecke gestellt, obwohl auf sie das zentrale Element jeder Populismusdefinition – die Anti-Establishment-Orientierung, d.h. die Opposition gegen die politischen und gesellschaftlichen Eliten – gerade nicht zutrifft. Zweitens gibt es trotz unbestreitbarer Fortschritte in der theoretischen Diskussion um das Konzept des Rechtspopulismus in der Wissenschaft immer noch keine einheitliche, allgemein geteilte Auffassung darüber, welche Definitionsbestandteile zwingend zu diesem Konzept gehören. Zudem treten bei seiner Anwendung Operationalisierungsschwierigkeiten auf, d.h. Unklarheiten und Interpretationsspielräume in der Zuordnung bestimmter Parteien zu einer solchen Parteifamilie, die auch in international vergleichenden Studien zu unterschiedlichen Listen von rechtspopulistischen Parteien führen. Drittens enthalten moderne Rechtspopulismuskonzepte immer zwei Komponenten: eine ideologieunabhängige Komponente, die beschreibt, was unter Populismus zu verstehen ist, und eine ideologische Komponente, die verdeutlicht, was am Rechtspopulismus rechts ist.

Was ist Populismus?

Unter Populismus wird meist eine Anti-Establishment-Orientierung und Volkszentrierung verstanden. " Rechts" ist dieser Populismus dann, wenn die Abgrenzung gegenüber bzw. Ausgrenzung von bestimmten Gruppen, z.B. ethnischen Minderheiten oder Flüchtlingen, die als Bedrohung des Gemeinwesens empfunden werden, hinzukommt. Geht man nur nach diesem Kriterium, dann können Parteien, deren ideologische Orientierung von nationalkonservativ bis rechtsextremistisch reicht, der rechtspopulistischen Parteienfamilie zugerechnet werden, wodurch die sinnvolle Grenzziehung zwischen nicht extremistischen und extremistischen Parteien aufgehoben wird. Führt man aber ein Zusatzkriterium zur Abgrenzung von extremistischen Parteien ein, wie es diejenigen Autoren tun, die eine offene Feindschaft gegenüber dem demokratischen Staat als "Schwelle" zum Rechtsextremismus definieren, dann stellt sich die Frage, welchen Erkenntnisgewinn das Rechtspopulismuskonzept gegenüber einer nur auf die ideologische Orientierung der Parteien abstellenden Klassifizierung noch

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 144 liefert. Kommt dann noch in der Diskussion ein mit unterschiedlichen Bedeutungsinhalten versehener Begriff des Rechtsradikalismus hinzu, ist die Begriffsverwirrung bei der Einordnung rechter Parteien komplett.

Viertens, und das ist der wichtigste Grund, macht die Bezeichnung "rechtspopulistisch" die Bandbreite von inhaltlichen Positionen nicht deutlich, die von der AfD und ihren Akteuren vertreten werden. Diese Bandbreite kann man nur adäquat erfassen, wenn man die AfD auf den beiden zentralen Konfliktlinien verortet, die den deutschen Parteienwettbewerb prägen: dem wirtschaftspolitischen Sozialstaatskonflikt zwischen marktfreiheitlichen, an Leistungsgerechtigkeit ausgerichteten und staatsinterventionistischen, an sozialer Gerechtigkeit im Sinne von Verteilungsgerechtigkeit ausgerichteten Wertvorstellungen zur Rolle des Staates im wirtschaftlichen Wettbewerb und dem gesellschaftspolitischen Konflikt zwischen progressiv-libertären und konservativ-autoritären Wertorientierungen in Bezug auf die Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens.

Die Position der AfD im Sozialstaatskonflikt kann als marktliberal mit spezifischer sozialer Komponente gekennzeichnet werden. In ihrem Anfang Juni 2016 beschlossenen Grundsatzprogramm wird ihre wirtschaftspolitische Position mit der generellen Maxime "je mehr Wettbewerb und je geringer die Staatsquote, desto besser für alle" beschrieben. Sie vertritt aber auch eine neue Konzeption von sozialer Gerechtigkeit, die im Gegensatz zu der traditionellen, mit dem Fokus auf "unten vs. oben" in Verteilungsfragen allein auf den Sozialstaatskonflikt bezogenen Konzeption durch den Fokus auf " drinnen vs. draußen", also Einheimische vs. Flüchtlinge, die ökonomische mit der gesellschaftspolitischen Konfliktlinie verbindet.

Im gesellschaftspolitischen Bereich kann die AfD als nationalkonservative Partei mit Brücken zum Rechtsextremismus hin gekennzeichnet werden, wobei das u.a. durch rassistische und antisemitische Haltungen gekennzeichnete rechtsextremistische Einstellungsmuster den äußersten "rechten" Rand der gesellschaftspolitischen Konfliktlinie bildet. Programmatisch zeigt sich der Primat des Nationalen schon in der Präambel des Grundsatzprogramms – wir wollen "Deutsche sein und bleiben" – und setzt sich in der Position zur EU fort, die man "zu einer Wirtschafts- und Interessengemeinschaft souveräner, lose verbundener Einzelstaaten" zurückführen will. Konservative Wertvorstellungen durchziehen die gesellschaftspolitischen Positionen und werden etwa an der Law-and-Order-Orientierung im Bereich der inneren Sicherheit sowie im Familien- und Frauenbild deutlich.

Die Brücken zum Rechtsextremismus zeigen sich in den Positionen zur deutschen Kultur, Sprache und Identität, zum Islam und zur Flüchtlingspolitik, deren Tenor zum Teil als völkisch-nationalistisch und fremdenfeindlich mit rassistischen Untertönen gewertet werden kann. Verstärkt werden diese Brücken durch das Agieren von Vertretern des äußersten rechten Rands der Partei. Zu nennen sind hier z.B. Björn Höckes eindeutig als rassistisch einzustufende Äußerungen über das Fortpflanzungsverhalten von Afrikanern und Europäern, die antisemitischen Schriften des baden- württembergischen Abgeordneten Wolfgang Gedeon oder die Verbindungen einiger AfD-Funktionäre zu als rechtsextremistisch eingestuften Organisationen und Gruppen wie z.B. der Identitären Bewegung.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autoren: Alexander Häusler, Oskar Niedermayer für bpb.de

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Der Aufstieg der Rechtspopulisten in den USA

Von Heike Buchter 9.1.2017 Heike Buchter arbeitet seit mehr als 15 Jahren als Journalistin in den USA. Sie berichtete über die Folgen der Terroranschläge vom 11. September, die Finanzkrise und zuletzt die Wahl von Donald Trump. Seit 2008 ist sie Korrespondentin für die Wochenzeitung "Die Zeit".

Der Wahl Donald Trumps zum 5. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gingen Jahrzehnte der Krise vor allem der weißen Mittelschicht voran. Die rechtspopulistisch ausgelegte Tea-Party-Bewegung machte sich diese Krise zunutze – und wurde schließlich von Donald Trump gekapert.

Der designierte US-Präsident Donald Trump spricht im Dezember 2016 vor Anhängern im Crown Coliseum in North Carolina. (© picture-alliance, picture alliance/ZUMA Press)

Als Donald Trump (http://www.bpb.de/internationales/amerika/usa/235652/donald-trump) im Juni 2015 die goldene Rolltreppe der New Yorker Trump Towers hinunterfuhr, um im Blitzlichtgewitter seine Präsidentschaftsbewerbung offiziell anzukündigen, schien es ein weiterer Einfall des Immobilienvermarkters und Reality-TV-Stars zu sein, um seinen Namen bekannt zu machen. Bei seinen frühen Wahlkampfreden belustigten sich die politischen Beobachter darüber, dass Trump statt Reformpläne seine Steaks anpries. Bis er in den Umfragen an seinen scheinbar gewichtigeren Konkurrenten vorbeizog. Es war vor allem ein Motiv, mit dem Trump die Basis der republikanischen Partei für sich begeisterte: Sein Versprechen, eine Mauer nach Mexiko zu bauen. Der Einfall schien Parteioberen und vielen Medienvertretern nur Hohn und Spott wert. Doch Trump traf einen Nerv. Der routinierte TV-Mann, dessen hauptsächliche Einnahmequelle seine Bekanntheit als "Marke" ist,

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 146 erkannte schnell, wie er offene Feindseligkeit gegenüber Immigranten und Muslimen für sich nutzen konnte.

Trump verspricht, was sich vor allem viele Wähler der "Working Class", der Arbeiter-Mittelschicht in den USA schon lange wünschen. Seit Jahren kämpfen sie mit schrumpfenden Einkommen und trüberen Zukunftsaussichten. Das mittlere Einkommen der Bevölkerung in mehrheitlich von Weißen besiedelten ländlichen Regionen liegt laut der US-Zensus-Behörde vier Prozent unter dem der Städter, 13 Prozent leben unterhalb der Armutsgrenze, die in den USA offiziell bei 22.000 Dollar Jahreseinkommen liegt.[1] Laut einer Umfrage des Sozialforschungsinstituts Pew Research Center nach der Wahl ging ein Drittel der Befragten in ländlichen Gebieten davon aus, dass es ihren Kindern einmal finanziell schlechter gehen wird als ihnen selbst. Ein großer Teil fürchtet, von Einwanderern überholt und an den Rand gedrängt zu werden. So gaben 65 Prozent der befragten Weißen in ländlichen Regionen an, dass amerikanische Arbeitnehmer unter der wachsenden Zahl der Immigranten leiden.[2]

Trump hat sich zu ihrem Sprachrohr gemacht. "Wir müssen uns unser Land zurückholen", sagt er immer wieder. Was er und seine Anhänger meinen, beschrieb der konservative Essayist Joseph Epstein im Juni 2016 im Wall Street Journal. Sie sähen ein Amerika, das ihnen zunehmend fremd sei. Er beschreibt eine Trump-Wählerin, eine "vernünftig wirkende Frau aus der Mittelschicht", die sich in den Medien nicht mehr wiederfinde. Dort, so Epstein, präsentiere sich ihr eine Montage aus Szenen wie " Demonstranten der Schwarzenbewegung Black Lives Matter, die die jüngste Zielscheibe ihre Zornes einschüchtern, ein küssendes lesbisches Pärchen bei seiner Hochzeit, eine junge Mutter, die um ihre Tochter trauert, dem unschuldigen Opfer eines Schusswechsels unter Gangmitgliedern, Diskussionen über die Toilettennutzung von Männern, die sich als Frauen identifizieren und verweichlichte College- Studenten, die sich über vermeintliche psychologische Verwundungen durch Mitstudenten oder Professoren ausweinen." Epstein sieht im Aufstieg Trumps eine Folge der jüngsten Schlacht in den " Culture Wars".

Seit den 1920er Jahren bricht dieser Konflikt zwischen den Vertretern der ländlich-traditionellen Werte und den Verfechtern von liberal-städtischen Ideen immer wieder aus. Der soziale Wandel beängstigt viele Amerikaner. In einer Untersuchung des Institute for Advanced Studies in Culture, dem Kulturforschungszentrum der University of Virginia, die im Oktober 2016 veröffentlicht wurde, gaben 58 Prozent der Befragten an, der überkommende Lebensstil der Amerikaner, der "American Way of Life", verschwinde immer schneller.[3] Bei einer Befragung des liberalen Brookingsinstituts ebenfalls im Jahr 2016 stimmten 50 Prozent der Aussage zu, die amerikanische Kultur habe sich seit den 1950er Jahren mehrheitlich verschlechtert.[4]

Ein älteres Ehepaar in Iowa, das sich aus religiösen Gründen geweigert hatte, eine private Kapelle für eine Hochzeit von Homosexuellen zu vermieten, wurde von diesen daraufhin wegen Diskriminierung verklagt. Als der Fall bekannt wurde, wurde das Ehepaar wegen seiner Weigerung von Familie und Freunden als "religiöse Eiferer" gemieden. Schließlich mussten sie das Gebäude verkaufen. Die öffentliche Meinung sei so schnell gekippt, sagte die Frau der New York Times: "Plötzlich waren wir die Minderheit. Es macht uns Angst." Aus Sicht Epsteins und anderer Konservativer haben die Liberalen mit ihrem Ideal einer multikulturellen Gesellschaft und ihrer Political Correctness den jüngsten " Kulturkrieg" klar für sich entschieden. Und die "Trumpkins", wie er sie nennt, stellen die wütenden Verlierer dar, die nun Revanche verlangen.

Aber Trump spricht vor allem all diejenigen an, die sich von der Globalisierung und der Digitalisierung verunsichert und abgehängt fühlen. Tatsächlich gewann Trump mit die meisten Stimmen im Rust Belt im Nordosten der USA, etwa in Indiana, Ohio und Pennsylvania. Die Region war einst die Heimat der Massenfertigung – Textil, Schuhe, Möbel und zuletzt Elektronik - die über die vergangenen Jahrzehnte in Billiglohnländer abwanderten. Viele Rust Belt-Bewohner – überwiegend Weiße – sahen, wie immer mehr Produkte in den Regalen in ihrem lokalen Wal-Mart aus dem Fernen Osten kamen. Gleichzeitig verschwanden ihre Arbeitsplätze, die bis dahin auch dank starker Gewerkschaften eine gute soziale Absicherung geboten hatten. Seit 1990 sind im verarbeitenden Gewerbe laut dem US-

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Wirtschaftsministerium mehr als sechs Millionen Stellen abgebaut worden. In den am stärksten betroffenen Regionen und Branchen begann der Abstieg zeitgleich mit dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (NAFTA) (http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/das-europalexikon/177147/ nafta-north-american-free-trade-area). Laut einer Studie des US-amerikanischen Economic Policy Institutes aus dem Jahr 2013 hat das Abkommen knapp 700.000 Jobs vernichtet. Der Studie zufolge sind, seit China 2001 in die Welthandelsorganisation eintrat, insgesamt 3,2 Millionen Arbeitsplätze in den USA beseitigt oder verlagert worden, davon allein 2,4 Millionen Jobs in der Industrieproduktion, vor allem in der US-Elektronik- und Computerbranche.[5] Unternehmensvertreter machen allerdings weniger den Freihandel dafür verantwortlich, als vielmehr Faktoren wie die Automatisierung und den technischen Wandel. Sie verweisen darauf, dass die US-Industrieproduktion 2015 auf 1,91 Billionen Dollar (Commerce Department, inflationsbereinigt in Dollar 2009) angestiegen ist und damit fast den Rekord von 2007, dem Jahr vor der Rezession, erreicht hat. Eine Studie des Ball State University's Center for Business and Economic Research kam 2015 zu dem Schluß, dass nur 13,4 Prozent aller verlorenen Arbeitsplätze einer Verlagerung in Billiglohnländer zum Opfer fielen. Die große Mehrheit sei auf eine höhere Produktivität zurückzuführen.[6] Und dennoch: In der Wahrnehmung der Betroffenen verbanden sich der Verlust ihrer Arbeitsplätze mit den von den Gewerkschaften vergebens bekämpften Freihandelsabkommen (http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/lexikon-der-wirtschaft/19333/ freihandel) und der zur gleichen Zeit stattfindenden Zunahme der Immigranten.

Viele Gebiete, in denen Trump hohe Zustimmung genießt, sind auch Gegenden, in denen der Drogenmissbrauch epidemisch ist, Depressionen verbreitet sind und Selbstmordraten steigen. Entgegen dem jahrzehntelangen Trend in den Industrieländern ist die Lebenserwartung in den USA das erste Mal gesunken.[7] Bei weißen Frauen, die in ländlichen Gebieten wohnen, ist die Sterblichkeitsrate um 30 Prozent gestiegen. Eine ähnliche dramatische Entwicklung war zuletzt in Osteuropa und Russland zu beobachten – nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Früher reichte ein High-School-Diplom, um in der Industrie einen ordentlichen Job finden zu können. Ein Job mit einem Einkommen, mit dem sich ein Haus finanzieren ließ und man die Kinder komfortabel großziehen konnte. Heute braucht, wer nicht dauerhaft zum Mindestlohn im Einzelhandel oder im Fast-Food- Gewerbe angestellt werden will, in der Regel vier Jahre College-Ausbildung. Es ist kein Zufall, dass laut einer Auswertung der New York Times bei der Präsidentschaftswahl 2016 63 Prozent der weißen Männer für Trump stimmten (und 52 Prozent der weißen Frauen) sowie 67 Prozent der weißen Wähler ohne College-Abschluss. Trump hat ihrem Zorn eine Richtung gegeben: Einwanderer. "Sie nehmen uns unsere Jobs, unsere Industriearbeitsplätze, unser Geld, sie machen uns alle", behauptete er in seinen Reden. Trumps Kritiker sehen darin die Suche nach einem politischen Sündenbock. Doch Michael Lind, Mitgründer des Washingtoner Think Tank New America, hält die Position aus Sicht von Trump und seinen Anhängern für nachvollziehbar. "Wenn ich ein amerikanischer oder europäischer Populist bin, der nicht daran glaubt, dass eine wohlmeinende Regierung ihm ein Mittelschichteinkommen verschaffen wird – sei es durch Steuersubventionen oder Transferleistungen – , dann ergeben Einwanderungsbeschränkung und Protektionismus durchaus Sinn."

In der Angst der Trump-Anhänger vor Überfremdung und insbesondere vor muslimischer Zuwanderung finden sich Parallelen zu Pegida und dem französischen Front National um Marine Le Pen. Die Haltung " der" Amerikaner zur Immigration unterscheidet sich allerdings vom Stimmungsbild in vielen europäischen Staaten. Das liegt an der historischen Entstehungsgeschichte zunächst als Kolonie britischer Einwanderer. "Wir sind eine Nation von Immigranten" ist ein Satz, der sich in politischen Reden, in Schulbüchern und auf der offiziellen Webseite der amerikanischen Botschaften findet. Mit diesem Satz begründete Präsident Obama etwa seine Entscheidung, den Kinder von Einwanderern, die von ihren Eltern über die Grenze geschmuggelt wurden, eine Bleiberecht zu geben.[8] Im Laufe der US-Geschichte gab es allerdings immer wieder Phasen, in der neue Einwanderergruppen wie etwa die Iren und Chinesen zunächst abgelehnt und eingeschränkt wurden. Fragt man Trump Anhänger nach ihren Ansichten zur Immigration, dann verweisen sie oft darauf, dass illegale Einwanderer die öffentliche Sicherheit gefährdeten. Bei einer Umfrage des Pew Research Center erklärten überzeugte Trump-Anhänger, illegale Einwanderer seien für schwere Straftaten verantwortlich.[9] Trumps Tiraden gegen angebliche kriminelle Mexikaner bestärken sie in ihrer Meinung.

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Auch die Medien haben Ressentiments geschürt

Geschürt wurden diese Ressentiments in den USA auch durch reaktionäre Talk-Radios. 1987 wurde die Vorschrift aufgehoben, nach der Radiosender stets beiden politischen Seiten Sendezeit einräumen mussten. Das machte Talk-Formate erfolgreich, die eine Mischung aus Entertainment und radikal konservativen Kommentaren boten. Rush Limbaugh etwa erreicht wöchentlich 13 Millionen Hörer, es ist laut dem Branchenjournal Talkers Magazin das meist gehörte Programm der USA. Angeregt davon kamen der Zeitungszar Rupert Murdoch und der Fernsehmann Roger Ailes – der frühere Medienberater von Richard Nixon, Ronald Reagan und George H. W. Bush – Anfang der 1990er Jahre darauf, ein ähnliches Format fürs Fernsehen zu entwickeln. So entstand Fox News: eine Mischung aus aktuellen Berichten, meist präsentiert von attraktiven jungen Frauen, und extrem konservativen pauschalisierenden Kommentaren. Die Einschaltquoten gaben Ailes und Murdoch schnell recht: Bereits 2002 überholte Fox News den etablierten Konkurrenten CNN.

Der Sender veränderte auch die politische Diskussion. Als Reaktion auf Fox positionierte sich etwa der Kabelsender MSNBC im linken Flügel des Spektrums. Politiker traten zunehmend in Medien auf, die ihnen freundlich gesinnt waren. Das trug dazu bei, dass sich die Fronten zwischen den Parteien verhärteten. Jeder Kompromiss in Washington wurde von Fox und den anderen Meinungssendern als Niederlage gegeißelt. Fox wurde zum Königsmacher für Politiker der republikanischen Partei.

Es waren die Finanzkrise und die Wahl Barack Obamas, die 2009 schließlich zur einer offenen rechtspopulistischen Revolte führte. Obama (http://www.bpb.de/internationales/amerika/usa/10722/ schwarzes-amerika) repräsentierte alles, was die Verlierer des neuen Amerika verachten: Ein schwarzer Harvard-Professor, Sohn eines Afrikaners, der an die gestaltende und umverteilende Rolle der Regierung glaubt. Früh sah sich Obama Attacken ausgesetzt, die ihn als "unamerikanisch " disqualifizieren sollten. Ein politischer Rivale in Chicago zweifelte 2004 öffentlich daran, dass Obama tatsächlich in den USA geboren worden sei. Obama versuchte, das Gerücht durch die Veröffentlichung seiner Geburtsurkunde auszuräumen. Trump, der schon vor seinem Antritt 2015 immer wieder behauptete, mit dem Gedanken einer Präsidentschaftskandidatur gespielt hatte, griff den Vorwurf vor Obamas Wiederwahl 2012 (http://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/147723/us- praesidentschaftswahl-07-11-2012) wieder auf. Da der Präsident der USA im Land geboren sein muss, kamen die Zweifel am Geburtsort Obamas Zweifeln an seiner Legitimität gleich.

Die Gründung der Tea Party

Es fehlte nur ein Zündfunke, um aus dem angestauten Frust eine neue Bewegung zu machen. Am 19. Februar 2009, auf dem Höhepunkt der Finanzkrise, rief der Börsenreporter Rick Santelli während seiner Sendung zu einer neuen "Tea Party" auf – so wie einst die amerikanischen Rebellen der englischen Kolonialmacht die Steuern und Gefolgschaft verweigerten, so sollten "Patrioten" sich nun der Obama-Regierung verweigern. Anlass war die Ankündigung der Regierung gewesen, Hausbesitzern mit niedrigem Einkommen, die ihre Hypotheken nicht mehr bezahlen konnten, ihre Schulden zu erlassen. Das Programm bestätigte die Ängste vieler Angehöriger der weißen Mittelschicht, die durch die Rezession bereits verunsichert waren, dass der neue Präsident eine großangelegte Umverteilung plante. Viele Amerikaner gaben der staatlichen Förderung von Hauseigentum bei Minderheiten die Hauptschuld an der geplatzten Kreditblase. Der Staat habe aus Gründen der politischen Korrektheit Schwarzen und Latinos Kredite ermöglicht, die diese dann nicht bedienen wollten oder konnten – und nun sollte genau diesen Hausbesitzern auf Kosten der Allgemeinheit geholfen werden, so Santelli. Seinem Aufruf folgten Tea-Party-Aktionen im ganzen Land, vielerorts bildeten sich Gruppen. Es war der Beginn der Tea-Party-Bewegung.

Mit seiner Gesundheitsreform befeuerte Obama die Revolte. Tea-Party-Anhänger sahen in Obamacare, wie sie es verächtlich nannten (erst später übernahm Obama den Begriff selbst), eine Wiederholung des Schuldenerlasses – nur in einer nie dagewesenen Dimension. Obamas

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Gesundheitsreform zielte darauf ab, Millionen bisher unversicherter Menschen den Zugang zur Krankenversicherung zu verschaffen. Ein großer Anteil der Unversicherten sind Immigranten oder gehören Minderheiten an. Ein häufiger Kritikpunkt war der Verstoß gegen das Prinzip des freien Marktes, sowie das Maß an staatlicher Kontrolle, zum Beispiel auch die Strafe für Unversicherte, die häufig als „sozialistisch“ verunglimpft wurde. Was Teile der "Working Class" auch störte, ist ihre Annahme, dass ihre Beiträge dazu dienen, die Absicherung für Menschen zu bezahlen, die – aus ihrer Sicht – selbst nichts oder zu wenig dazu beitragen. Somit brachte auch die Solidarität, zu der sie der – schwarze – Präsident Obama mit seiner Reform verpflichtete, sowohl die republikanische Basis als auch viele Demokraten gegen Obamacare auf. Die Soziologinnen Theda Skocpol und Vanessa Williamson beschäftigten sich 2011 in einem Buch mit dem Aufstieg der Tea Party. Sie stellten fest, dass deren Anhänger, trotz der Kritik an Obamacare, oft gleich mehrfach selbst von staatlichen Programmen profitierten – etwa von der staatlichen Rente Social Security sowie von Medicare, der staatlichen Gesundheitskasse für Rentner. "Sie sind vollkommen überzeugt, dass sie sich diese Leistungen mit harter Arbeit verdient haben", beschreibt Skocpol deren Argumente.

"Unterwanderung" der Republikaner

Anders als vergleichbare rechtspopulistische Bewegungen in Europa schaffte es die Tea Party, rasch zu einer der einflussreichsten politischen Kräfte des Landes zu werden. Der Preis war jedoch ihre Vereinnahmung durch vermögende konservative Sponsoren. Vor allem waren es die Brüder Charles und David Koch, die zusammen 84 Milliarden Dollar schweren Erben eines Öl- und Chemieimperiums, die den Tea-Party-Anhängern halfen, den Marsch durch die Institutionen anzutreten. Ihre politischen Ziele – ein radikal libertäres Amerika, weitgehend frei von staatlichem Einfluss und Regulierung – verfolgen die Brüder seit mehr als drei Jahrzehnten. Sie bauten ein Netz von Institutionen auf, die ihre Ideologie verbreiten sollen. Dazu gehörte etwa das Cato Institute, die prominenteste wirtschaftsliberale Denkfabrik, die Charles Koch mitgründete. Die großzügige Unterstützung der Familie hat auch die erzkonservative Heritage Foundation genossen. In den 1980er Jahren stifteten die Kochs Millionen als Starthilfe für das Mercatus Center, das nach eigenen Angaben die Brücke zwischen akademischen Ideen der freien Marktwirtschaft und realer Anwendung schlagen soll. Die durchschlagendste Initiative der Kochs war jedoch die Americans for Prosperity Foundation, bei deren Schwester-Organisation Americans for Prosperity (AFP) die frühen Anführer der Tea Party tatkräftige Hilfe beim Aufbau ihrer Bewegung erhielten. Für die Kochs bot die Tea-Party-Bewegung, die Santelli angestoßen hatte, eine willkommene Gelegenheit, ihre bis dahin vorwiegend auf das Washingtoner Establishment abzielenden Aktivitäten mit einer Volksbewegung zu verbinden. David Koch stritt zunächst ab, die Tea Party direkt zu finanzieren. Doch bei einer Veranstaltung der Americans for Prosperity erklärte er: "Vor fünf Jahren gaben mein Bruder Charles und ich Startkapital für Americans for Prosperity, und es hat meine wildesten Träume übertroffen, wie AFP zu dieser enormen Organisation angewachsen ist– Hunderttausende Amerikaner aus allen Schichten, die aufstehen und für die ökonomische Freiheit kämpfen, die unsere Gesellschaft zu einer der reichsten der Geschichte gemacht hat." Seine Rede wurde von einem Dokumentarfilmer eingefangen, der sich bei der Veranstaltung eingeschlichen hatte.

Die einzigartige Zangenbewegung aus Tea-Party-Aktivisten, die lokale Wahlen beeinflussen konnten, und Tea-Party-Sponsoren, die Wahlkampagnen für Wunschkandidaten finanzierten, unterschied laut der Harvard-Soziologie-Professorin Skocpol die Bewegung von früheren populistischen Revolten der Parteibasis. Was die Tea Party von vergleichbaren Gruppen in Europa trennt: Statt eine neue Partei zu gründen, sahen sie ihre Chance im Zweiparteiensystem der USA darin, die republikanische Partei zu "unterwandern". Die Tea-Party-Abgeordneten – offiziell Teil der Republikaner – waren es vor allem, die Obamas spätere Initiativen wie etwa die Einwanderungsreform scheitern ließen. Ihre radikale Verweigerungshaltung führte zur Haushaltssperre 2013, die Washington für zwei Wochen lahmlegte und die bis dahin exzellente Kreditbewertung der USA erschütterte.

Doch die Finanziers haben sich bei ihrer Übernahme der Tea Party verkalkuliert. Das wurde spätestens klar, als die Mehrheit der Tea-Party-Anhänger 2015 begann, Trumps Kandidatur zu unterstützen. Eine These ist: Es ging ihnen vermutlich nicht um die freie Marktwirtschaft und die Reduzierung der Rolle

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 150 des Staates. Es ging ihnen um Jobs und Chancen für sich selbst und nicht zuletzt darum, sich Gehör in Washington zu verschaffen. Die Kochs zeigten sich offen enttäuscht vom Aufstieg Trumps. "Es geht nur noch um Persönlichkeitskult, nach dem Motto: Deine Mutter hat faule Eier gegessen", klagte Charles Koch gegenüber Reportern des Wall Street Journal im Oktober 2015. In der TV-Sendung " Morning Joe", in der er erstmals gemeinsam mit seinem Bruder David ein Interview gab, erklärte er, er sei "seit geraumer Zeit enttäuscht" von der republikanischen Partei. Ihre geduldige Vorarbeit, mit der sie die Partei in die von ihnen bevorzugte Ausrichtung gedrängt hatten, hatte stattdessen den Boden für einen Kandidaten bereitet, den sie nicht unter Kontrolle haben. Schlimmer noch, der entgegengesetzte Interessen verfolgt. So hat Donald Trump eine protektionistische Politik versprochen. An einer Abschottung Amerikas können die Kochs mit ihrem internationalen Konzern kein Interesse haben. Während die Kochs gerne mehr Latinos für ihre Sache gewinnen wollen, bezeichnete Trump mexikanische Immigranten als Vergewaltiger und Kriminelle. Und während das Ideal der Kochs der Nachtwächterstaat ist, lehnen die meisten Tea-Party-Anhänger und Trump-Wähler eine Kürzung oder gar Abschaffung der staatlichen Renten- und Gesundheitsversicherung ab. Der Unterschied liegt darin, dass die meisten Tea-Party-Anhänger und Trump-Wähler selbst Beiträge in die staatlichen Sozialversicherungssysteme eingezahlt haben. Natürlich erwarten sie im Gegenzug für ihre Zahlungen eine Leistung des Staates – zum Beispiel die Absicherung im Alter. Obamacare allerdings halten sie für ungerecht, weil sich das System aus Steuergeldern finanziert und davon auch Menschen profitieren, die finanziell nichts zu den Leistungen beitragen.

Amerika hat immer wieder Wellen des Populismus erlebt, sowohl vom linken als auch vom rechten politischen Spektrum ausgehend. Ende des neunzehnten Jahrhunderts etwa rebellierten die Farmer. Der Aufstand, der sich vor allem gegen Wall-Street-Banker und Immigranten wandte, hatte überwiegend ökonomische Gründe – die Landbevölkerung fühlte sich abgehängt von der Industrialisierung. Aber es war auch eine kulturelle Abwehr gegen den wachsenden Einfluss der Metropolen und eine Sehnsucht nach der angeblich sozial gleicheren Ära der Gründerväter, den frühen Tagen der Republik. Auch der Demokrat Huey Long, Gouverneur von Louisiana von 1928 bis 1932, agitierte gegen die Banker und Kapitalisten und verlangte eine Umverteilung der Vermögen zugunsten der Armen. George Wallace, Gouverneur von Alabama für die Demokraten, kämpfte im Namen der weißen Mehrheit gegen die Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre. Pat Buchanan, Präsidentschaftsbewerber im Jahr 1992, kommt Trump mit seiner Ablehnung der Immigranten und isolationistischen Tendenzen am nächsten, wobei Trump keine durchgängige konservative Ideologie erkennen läßt. Wohl gerade deshalb konnte er mit seinen Versprechen eine weit breitere Basis von Unterstützern anziehen, als es die Tea Party je konnte. Donald Trump, der stets stolz seine Erfolge preist, kann einen weiteren dazu zählen. Er hat erreicht, was vor ihm kein amerikanischer Politiker geschafft hat: Eine breite, mehrheitsfähige, rechtspopulistische Bewegung in den USA. Die hat ihn im November 2016 zu ihrem Präsidenten gewählt. Und sie wird nicht so schnell wieder aus Washington verschwinden.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Heike Buchter für bpb.de

Fußnoten

1. http://blogs.census.gov/2016/12/08/a-comparison-of-rural-and-urban-america-household-income- and-poverty/ 2. http://www.pewresearch.org/fact-tank/2016/11/17/behind-trumps-win-in-rural-white-america-women- joined-men-in-backing-him/# 3. http://www.iasc-culture.org/survey_archives/VanishingCenter.pdf

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4. http://www.prri.org/research/prri-brookings-immigration-report/ 5. http://www.epi.org/publication/china-trade-outsourcing-and-jobs/ 6. http://conexus.cberdata.org/files/MfgReality.pdf 7. http://www.npr.org/sections/health-shots/2016/12/08/504667607/life-expectancy-in-u-s-drops-for- first-time-in-decades-report-finds 8. “My fellow Americans, we are and always will be a nation of immigrants.“ https://www.whitehouse. gov/the-press-office/2014/11/20/remarks-president-address-nation-immigration 9. http://www.pewresearch.org/fact-tank/2016/08/25/5-facts-about-trump-supporters-views-of-immigration/

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Die Lega Nord in Italien

Von Jan-Christoph Kitzler 18.1.2017 Jan-Christoph Kitzler ist Journalist und arbeitet derzeit als Korrespondent im ARD-Hörfunkstudio in Rom. Von dort berichtet er über politische, gesellschaftliche und kulturelle Themen aus Italien und dem Vatikan.

Die Lega Nord ist eine etablierte Größe in der italienischen Parteienlandschaft. Auch andere populistische Parteien in Italien sind auf dem Vormarsch.

Der Parteisekretär der Lega Nord, Matteo Salvini während eines Protestes gegen Premierminister Renzi in Florenz, Italien. (© picture-alliance, picture alliance / AA)

Matteo Salvini, der amtierende Parteisekretär der Lega Nord, hat einen Sinn für plakative Botschaften. Regelmäßig tritt er zum Beispiel mit bedruckten Pullovern oder T-Shirts auf, die ein politisches Statement sein sollen. Neulich stand auf einem: "Sono un Populista", zu deutsch: "Ich bin ein Populist ".

Ein Problem mit dieser Bezeichnung hat er ganz offensichtlich nicht. Und die Argumente, die Salvini vorbringt, wenn man ihn darauf anspricht, sind von Populisten in ganz Europa und auf der ganzen Welt bekannt: Wer auf der Seite "des Volkes" stehe, wer dafür sorge, dass aus der Meinung "des Volkes" Politik wird, der könne ja nicht wirklich etwas falsch machen.

Doch die Lega Nord unter ihrem politischen Führer Matteo Salvini nimmt nicht einfach, wie behauptet, Stimmungen aus der Bevölkerung auf, sondern schürt aktiv Ängste, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und versucht, aus der massiven Verstärkung anti-europäischer und

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 153 fremdenfeindlicher Ressentiments innenpolitisches Kapital zu schlagen.

Unter den populistischen Bewegungen und Parteien in Europa ist die Lega Nord eine etablierte Größe. 1989 gegründet, ist sie aber auch innerhalb der sehr volatilen Parteienlandschaft Italiens eine Konstante. Sie startete auf nationaler Ebene 1992 mit mehr als acht Prozent der Stimmen für Senat und Abgeordnetenkammer (was 27 Senatoren bzw. 59 Abgeordneten entsprach[1]), hatte vier Jahre später einen Höhepunkt mit mehr als zehn Prozent in beiden Kammern (31 bzw. 67 Sitze), und konnte bei der letzten Wahl jeweils mehr als vier Prozent der Stimmen für sich gewinnen (16 bzw. 20 Sitze). Angesichts Neugründung, Auflösung, Umbenennung, Verschmelzung bzw. erneuter Entflechtung anderer politischer Gruppierungen, ist die Lega Nord zurzeit die älteste im italienischen Parlament vertretene Partei. Dies darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Partei in ihrer fast 30-jährigen Geschichte gewandelt hat, vor allem in den letzten Jahren: Gegründet wurde sie als Partei, die die Abspaltung des Nordens, der fiktiven Region "Padanien", vom Rest Italiens auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Teil der Folklore der ersten Jahre waren Pilgerfahrten zur Quelle des Po unterhalb des Monte Viso im Piemont. In italienischen Medien wird die Lega immer noch oft als "Partito del Caroccio" bezeichnet. Der Caroccio, ein großer Wagen, war im Mittelalter Symbol der kommunalen Unabhängigkeit in Oberitalien. Zur Symbolik gehörte auch ein Ritter mit erhobenem Schwert, der an den Sieg der Lombardischen Liga gegen Friedrich Barbarossa im 12. Jahrhundert erinnern – und damit gegen jede Art der Fremdbestimmung stehen sollte.

Rom galt in der Rhetorik der Lega als "Roma Ladrona", als Räuberin, als Ort, an dem nicht nur benachteiligende Entscheidungen aus der Ferne getroffen werden, sondern wo, wie überhaupt in ganz Süditalien, das Geld der ehrlich arbeitenden Bevölkerung des Nordens verschwendet wird. Politische und vor allem auch fiskalische Unabhängigkeit war ein großes Ziel der Lega als Abspaltungsbewegung. Damit hat die Lega in Norditalien bis heute ein beträchtliches Mobilisierungspotential. Die Zahl der eingeschriebenen Mitglieder hat zwar über die Jahre stark geschwankt, lag aber stets über 100.000.

Nur auf den ersten Blick muss verwundern, dass in diesen Jahren führende Vertreter der Lega Nord, unter anderem die lange aktive Gründungsfigur Umberto Bossi, das Kunststück fertigbrachten, einerseits weiterhin gegen Rom, die dortige Verwaltung und die vermeintliche Fremdbestimmung durch Italien zu hetzen und andererseits lange Jahre an der Regierung Italiens von Rom aus beteiligt zu sein.

Wie die Lega Nord im Parlament arbeitet

Nach dem Zusammenbruch des traditionellen italienischen Parteiensystems in den frühen 1990er Jahren infolge eines gigantischen Korruptionsskandals war die Lega insgesamt rund acht Jahre lang Teil von Regierungskoalitionen, die die Machtbasis für Silvio Berlusconi bildeten. Das Bündnis mit Berlusconi bestand kurze Zeit bereits Mitte der 1990er Jahre und dann recht stabil seit 2001. Die Lega lieferte mit Wahlergebnissen von landesweit zwischen vier und zehn Prozent einen wichtigen Beitrag zur parlamentarischen Mehrheit. Dreimal war sie so an der Regierung beteiligt. Teil des Deals war der Machterhalt für die Gewinner-Parteien in Rom einerseits und andererseits freie Bahn für die Kandidaten der Lega in Regionen und Kommunen Norditaliens. Wahlabsprachen sorgten dafür, dass Berlusconis Forza Italia (die zeitweise "Popolo della Libertà" / "Volk der Freiheit" hieß) für den Preis stabiler Verhältnisse in Rom sich auf kommunaler und regionaler Ebene zurückzog und keine eigenen Kandidaten aufstellte. Davon profitiert die Lega bis heute und stellt in wichtigen Regionen wie Venetien und der Lombardei den Regierungschef und stellte in größeren Städten wie Verona und Padua die Bürgermeister.

Seit Ende 2011 ist die Lega Nord reine Oppositionspartei. Im italienischen Parlament macht sie vor allem durch regelmäßige Ausfälligkeiten im Plenum und destruktive Aktionen von sich reden. Einen zweifelhaften Kultstatus hat sich beispielsweise Roberto Calderoli erworben, derzeit Senator, aber zu Berlusconis Regierungszeiten auch zwei Mal Minister, unter anderem zuständig für Reformen. Schon mehrfach hat Calderoli seine zahlreichen Änderungsanträge zu Gesetzesvorhaben medienwirksam mit der Sackkarre ins italienische Parlament gefahren. Zu der vom früheren Premierminister Matteo

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Renzi im Jahr 2015 auf den Weg gebrachten Verfassungsreform zur Beschränkung der Befugnisse der zweiten Kammer brachte er rund 82 Millionen Gesetzesänderungen ein, die er mit einem Computerprogramm erstellen ließ. Sein Ziel: Durch schiere Masse den Gesetzgebungsbetrieb lahmlegen. Ein extremes Beispiel, das aber ganz grundsätzlich zeigt, wie die Lega Nord im italienischen Parlament arbeitet.

Die Lega Nord musste sich schon allein deshalb strategisch neu positionieren, weil die politische Großwetterlage in Italien eine andere geworden ist. Silvio Berlusconis Forza Italia scheint derzeit aus gleich mehreren Gründen nicht mehrheitsfähig. Berlusconis politischer Stern sinkt spätestens seit seiner rechtskräftigen Verurteilung wegen Steuerhinterziehung im Sommer 2013 und dem daraus folgenden Verlust seines politischen Mandats. Seit einiger Zeit schon zeigen sich Spannungen zwischen den einstigen Verbündeten, beispielsweise an der zunehmenden Schwierigkeit, sich bei Bürgermeisterwahlen in wichtigen Städten auf gemeinsame Kandidaten zu einigen – so bei der Bürgermeisterwahl in Rom im Sommer 2016.

Umorientierung auf ganz Italien

Matteo Salvini und die Parteispitze der Lega Nord haben auf die Schwäche der Berlusconi-Partei reagiert: Schon seit einiger Zeit wird innerhalb der Lega Nord der Anspruch formuliert, die führende Kraft im Mitte-Rechts-Lager zu sein. Das kann natürlich nur funktionieren, wenn die Lega in ganz Italien wählbar ist. Deshalb machen Salvini und seine Mitstreiter seit Anfang 2015 immer wieder Wahlkampf im Süden Italiens, was bis dato undenkbar war.

Damit das funktioniert, musste das Parteiprofil angepasst werden: Die Abspaltungsrhetorik trat in den Hintergrund, während der populistische Protest gegen "die da in Rom" verstärkt wurde, die Lega wandelte sich so von der "Anti-Zentralstaat Italien-Partei" zur Antisystempartei. Eine Strategie, die auf den ersten Blick Sinn ergibt: Der Frust gegen die Regierung in Rom ist auch in weiten Teilen Süditaliens verbreitet, wenn auch aus ganz anderen Motiven als im Norden: Während eine nicht geringe Zahl an Bürgern im Norden sich vom Staat lösen will und vor allem auf fiskalische Autonomie setzt, die dafür sorgen soll, dass im Norden erwirtschaftete Steuern auch im Norden investiert werden, beklagen viele Süditaliener die Abwesenheit des Staates. Römisches Regierungsversagen zeigt sich in den Augen vieler Menschen hier nicht so sehr im sinnlosen Verbrennen öffentlicher Gelder, sondern an mangelnder oder maroder Infrastruktur, unterentwickelter Wirtschaftsförderung, am schlechten Zustand vieler Bildungseinrichtungen und letztendlich auch am Raum, den hier die unterschiedlichen Formen der Mafia einnehmen können.

Die Lega Nord versucht den Spagat, beide Protestmotivationen populistisch zu verstärken und in Wählerstimmen umzumünzen. Ob der Partei mit dem Wort Nord im Namen dies ausgerechnet im Süden gelingt, den Parteivertreter über Jahre als eine Art Bad Bank Italiens bezeichnet haben, ist zweifelhaft. Auch deshalb ist die Partei im Süden zunächst unter dem Listennamen "Noi con Salvini " angetreten, also ohne den Nord-Bezug im Namen. Es dürfte, wenn überhaupt, noch Jahre dauern, bis die Neuausrichtung der Lega Nord dazu führt, dass sie landesweit mehrheitsfähig ist. Zurzeit scheint es nicht, als könne die Lega Nord das Vakuum auffüllen, das nach dem Rückzug Berlusconis im rechten Lager entstanden ist.

Die Einordnung der Lega Nord als rechtspopulistische Partei liegt aus mehreren Gründen auf der Hand:

• Schon den Begriff "Partei" (Partito) verwenden Vertreter der Lega äußerst ungern. Lieber wählt man "Bewegung" (Movimento). Das suggeriert eine breitere Unterstützung einer Masse des Volkes. "Partei" ist eher mit dem etablierten politischen System konnotiert, das es zu bekämpfen gilt.

• Von völkischer Rhetorik, dem Rückgriff auf einen vermeintlichen Volkskörper, machen Vertreter

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der Partei häufig Gebrauch. Etwa in sozialen Netzwerken, in denen Matteo Salvini sehr aktiv ist [2]. In seinen Twitter-Nachrichten und Facebook-Posts gilt das Motto: "Italiener zuerst." Der Hashtag #primagliitaliani wird dort häufig verwendet, sei es im Zusammenhang mit der Erdbebenkatastrophe in Mittelitalien 2016, oder beim Thema Flucht nach Europa. Migranten werden in Salvinis Posts und Tweets in der übergroßen Mehrzahl als Wirtschaftsflüchtlinge beschrieben, die sich den Asylstatus unberechtigterweise erschleichen wollen[3]. Es gibt auch mitfühlende Äußerungen, doch als Subtext kann interpretiert werden: Das sei die Ausnahme, die Zahl der Menschen in Not, um die sich Europa wirklich kümmern müsse, sei verschwindend gering. Die Politik hingegen vernachlässige die Italiener, Flüchtlinge seien im Vergleich zu Einheimischen sogar häufig besser gestellt, so die völkische Propaganda der Lega, die in den Kommentarspalten regen Widerhall findet.

• In diesem Sinne ist auch Abgrenzung ein rechtspopulistisches Merkmal der Lega Nord. Diese Abgrenzung spricht aus der Warnung vor der fortschreitenden Islamisierung und "Afrikanisierung " Italiens, mit denen Krankheiten und Terror in das Land kämen, die die Kultur des Landes zerstörten und eine Gefahr für die öffentliche Ordnung seien. Dabei bringt die Lega bewusst falsche Zahlen über die Ursachen der Migration nach Europa oder über die Versorgung von Migranten in Umlauf. Zum Beispiel in diesem Tweet vom 12. November 2016: "Unsere Jungen wandern ins Ausland aus, um Arbeit zu finden, wir importieren ILLEGALE, um sie in ihre Wohnungen zu schicken."

• Die Lega Nord wurde unter der Führung von Matteo Salvini immer weiter am rechten Rand positioniert. Während sich die Partei schon seit Anfang der 1990er Jahre an einer Umdeutung und Aufwertung der faschistischen Vergangenheit Italiens beteiligte[4], ist die Rhetorik der Partei inzwischen offen fremdenfeindlich.

• Auch die Stilisierung als Law-&-Order-Partei passt in das rechtspopulistische Schema. Immer wieder hat Matteo Salvini zum Beispiel die Kastration für Sexualstraftäter und mehr Härte im Umgang mit Migranten gefordert. Um die Stimmung gegen Geflüchtete zu verstärken, twittert Salvini Fälle wie diesen: "Erst verlangt er 'politisches Asyl', dann BELÄSTIGT er ein achtjähriges Kind." (15. November 2016)

• Wie bei vielen rechtspopulistischen Gruppierungen in Europa gehört eine explizite Anti-Europa- Politik zur Ausrichtung der Lega Nord. Unter Matteo Salvini hat sich diese Parteilinie noch weiter verschärft. Die Tatsache, dass er seit 2004 Abgeordneter im Europäischen Parlament ist (Parteichef ist er erst seit Ende 2013), ist für ihn kein Widerspruch. Den Euro hat er als "kriminelle Währung" bezeichnet. Er hofft darauf, die nächste Parlamentswahl zu einer Abstimmung über den Verbleib Italiens im Euro zu stilisieren, die Brexit-Entscheidung der Briten gibt seinem Kurs Rückenwind, und natürlich auch das Verfassungsreferendum vom 4. Dezember 2016, bei dem die Regierung mit ihren Vorschlägen sehr deutlich scheiterte und nach dem Ministerpräsident Matteo Renzi seinen Rücktritt erklärte. Seitdem fordert die Lega Nord schnellstmögliche Neuwahlen, deutlich vor dem Ende der Legislaturperiode im Frühjahr 2018.

Mit anderen antieuropäischen, rechtspopulistischen Bewegungen in Europa will die Lega an einem Strang ziehen, sitzt gemeinsam mit ihnen in der Fraktion "Europa der Nationen und der Freiheit" (ENF) der Rechtspopulisten im Europaparlament. Dort wettert man unter anderem gegen die Islamisierung Europas. Marine Le Pen vom französischen Front National, die um die Französische Präsidentschaft kämpft, gilt als Vorbild für eine Machtoption in Italien.

Wie auch der Front National und viele andere rechtspopulistische Bewegungen in Europa fährt die Lega Nord einen Putin-freundlichen Kurs[5]. Gemeinsam haben mehrere der rechtspopulistischen Gruppierungen schon an Treffen in Russland teilgenommen, es gibt Berichte, die sich auf Geheimdienstkreise berufen, nach denen die russische Regierung die Lega Nord finanziell unterstützt

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[6]. Auch wenn eine finanzielle Unterstützung aus Moskau für den französischen Front National bestätigt ist: Führende Vertreter haben das für die Lega Nord bislang zurückgewiesen.

Populistische Konkurrenz

Im Unterschied zur Lage in Frankreich ist eine Machtübernahme Salvinis und seiner Lega Nord in Italien aber vorerst nicht zu erwarten. Das liegt an der unklaren politischen Zukunft Italiens, zum Beispiel an der Frage, wie lange die jetzige Übergangsregierung im Amt bleibt, wann es Neuwahlen gibt. Es ist aber auch unklar, aus welchem Wählerpotential die Lega Nord zurzeit schöpfen kann, nicht nur wegen des bereits angesprochenen Zustands des Mitte-Rechts-Lagers. Es gibt noch einen weiteren Grund: Die Lega Nord hat nämlich bei ihrem populistischen Stimmenfang einen starken Konkurrenten: die Fünf-Sterne-Bewegung, MoVimento 5 Stelle. Diese Protestbewegung hat es, als sie das erste Mal bei einer landesweiten Wahl im Februar 2013 antrat, mit 25,56 Prozent der Stimmen auf Anhieb geschafft, stärkste Einzelpartei im italienischen Abgeordnetenhaus zu werden. In Sachen Populismus stehen die Fünf Sterne der Lega Nord in nichts nach, sie sind jedoch politisch schwerer einzuordnen und werden sowohl von Wählern des rechten wie auch linken Lagers gewählt. Ihre EU- und Eurofeindlichen Töne mischen sich mit der eher linken Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen. Auch explizit fremdenfeindliche Töne gehörten schon zum Repertoire einiger Vertreter der Fünf Sterne.

Gleichzeitig haben die Fünf Sterne durch zahlreiche öffentlichen Kundgebungen eine erhebliche Mobilisationskraft entwickelt, die oft von den Performances des gelernten Komikers Beppe Grillo geprägt sind und dadurch einen gewissen Unterhaltungscharakter haben. Das und die moderne webbasierte Aufstellung und Partizipationskultur der Partei, beispielsweise über den Blog Beppe Grillos und Online-Abstimmungsplattformen, trägt dazu bei, dass die Fünf Sterne vor allem für junge Protestwähler attraktiv sind. Vor allem im Anti-Europa-Protest schwimmen Fünf Sterne, wenn auch mit anderen Akzentuierungen, auf der gleichen Welle wie die Lega Nord. Während die Lega den Euro abschaffen und die italienische Lira wieder einführen will, gibt es unter den Fünf Sternen beispielsweise Sympathisanten für eine Parallelwährung.

Protest gegen "das System", die vorgeblich etablierte Politik und Stimmenfang in für populistische Töne empfänglichen Wählergruppen sind also kein Alleinstellungsmerkmal der Lega Nord. Geht man davon aus, dass der Teil der Wählerschaft, der für diese Töne empfänglich ist, begrenzt ist, heißt das, dass Lega und Fünf Sterne zum Teil in denselben Gewässern fischen und ihr Wählerpotenzial nicht voll ausschöpfen können. Die Fünf Sterne sind bisher erfolgreicher, während die Lega Nord bei einer landesweiten Wahl vermutlich nur mit Mühe ein zweistelliges Ergebnis einfahren könnte, glaubt man den Umfragen[7].

Als rechtspopulistische Partei wird die Lega Nord der politischen Landschaft in Italien sicher auch in den kommenden Jahren erhalten bleiben. Das italienische Parteiensystem ist überaus wandelbar und kann sich auch in den kommenden Monaten wieder stark verändern. Die Lega Nord hat es geschafft, anti-europäische und fremdendfeindliche Stimmungen in Italien vor allem im Zusammenhang mit der Migration nach Europa zu verstärken. Das ist gefährlich für die italienische Gesellschaft – und für Europa.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Jan-Christoph Kitzler für bpb.de

Fußnoten

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1. Diese Zahlen sind mit einer gewissen Vorsicht zu genießen und spiegeln nur das Wahlergebnis wider, nicht aber die tatsächliche Größe der Fraktion für die gesamte Zeit der Legislaturperiode. Sämtliche politische Gruppierungen im Italienischen Parlament sind von Fraktionswechseln ihrer Abgeordneten in großem Ausmaß betroffen. In der laufenden Legislaturperiode XVII. hat z.B. bereits mehr als ein Viertel aller Abgeordneten die Seiten gewechselt. Im Detail für das Abgeordnetenhaus unter http://parlamento17.openpolis.it/i-gruppi-in-parlamento/camera, für den Senat unter http://parlamento17.openpolis.it/i-gruppi-in-parlamento/senato. 2. Matteo Salvini prägt als unumstrittene Führungsfigur der Lega Nord („Il Leader“) auch die programmatische Ausrichtung der Partei. In den Parteiprogrammen, die in der Regel zu Wahlterminen veröffentlicht werden, klingt das wesentlich weniger polemisch, wenn sich die Lega zur Parlamentswahl 2013 u.a. für einen effektiven Kampf gegen klandestine Einwanderung einsetzt: http://www.leganord.org/phocadownload/elezioni/politiche/Programma%20Politiche% 202013.pdf, S. 10 3. Beispiele dafür gibt es zuhauf, z.B. https://twitter.com/matteosalvinimi/status/818734035325349888. Eindrucksvoll auch dieses Beispiel vom September 2016: Matteo Salvini rechnet vor, dass nur fünf Prozent aller Migranten, die in Italien ankommen, richtige Flüchtlinge seien. https://www. youtube.com/watch?v=S4K1p_FgV2Q 4. Vgl. Aram Mattioli, „Viva Mussolini“. Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis, Paderborn 2010. 5. https://twitter.com/matteosalvinimi/status/817696131878686720 6. http://www.telegraph.co.uk/news/worldnews/europe/russia/12103602/America-to-investigate-Russian- meddling-in-EU.html 7. http://www.termometropolitico.it/sondaggi-politici-elettorali

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Rechtspopulismus in den Niederlanden

Von Kerstin Schweighöfer 16.3.2017 Kerstin Schweighöfer hat Romanistik, Politologie und Kunstgeschichte studiert und die Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg absolviert. Seit mehr als 25 Jahren lebt sie in den Niederlanden und berichtet von dort für eine ganze Reihe von Medien als Auslandskorrespondentin.

Die Niederlande sind seit mehr als anderthalb Jahrzehnten mit rechtspopulistischen Parteien konfrontiert – erst mit Pim Fortuyns LPF, dann mit Geert Wilders "Partei für die Freiheit". Kerstin Schweighöfer berichtet, wie die Rechtspopulisten Konsens und Toleranz unterwandern und aushöhlen.

Der niederländische rechtspopulistische Politiker Geert Wilders zeigt ein Bild, das er von Fotografen gemacht hat, als er sich im Frühjahr 2016 vor Gericht wegen diskriminierender Äußerungen verantworten musste. (© picture- alliance/AP)

Den Haag, anno 2018. Die Niederlande sind aus der EU ausgetreten und haben ihre Grenzen hermetisch geschlossen. Muslimen wird der Zutritt verwehrt. Der Bau von Moscheen ist verboten, ebenso der Koran. Die Polizei hat Razzien durchgeführt, um das Buch in allen muslimischen Haushalten aufzuspüren und zu entfernen. Wer unbedingt ein Kopftuch tragen will, muss dafür eine kopvoddentax zahlen, eine "Schädelfetzensteuer". Aus den weitaus meisten Asylbewerberheimen sind Haftanstalten geworden, in denen männliche Flüchtlinge und Immigranten einsitzen, denen vor dem Schließen der Grenzen noch die Einreise gelungen war. Die rechtspopulistische Regierung in Den Haag will die Mütter und Töchter des Landes vor muslimischen Testosteronbomben schützen und einen angeblich drohenden "Sex-Jihad" verhindern.

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So hätten die Niederlande zukünftig aussehen können, wäre die ebenso europa- wie islamfeindliche " Partei für die Freiheit" PVV (Partij voor de Vrijheid) von Geert Wilders bei der Wahl im März 2017 an die Macht gekommen. Denn diese Forderungen hatte er im niederländischen Parlament immer wieder gestellt; sie finden sich auch im Parteiprogramm der PVV.

Der 53 Jahre alte Rechtspopulist mischt seit mehr als zehn Jahren die niederländische Politik auf. Bei den Wahlen 2012 erlangte die PVV in der stark zersplitterten niederländischen Parteienlandschaft 15 der 150 Mandate und landete zusammen mit den Sozialisten auf Platz drei. Fünf Jahre später sah sich Wilders schon als der nächste Ministerpräsident des Landes: In Umfragen wie etwa dem niederländischen Politbarometer lag seine Partei monatelang ganz vorne und wurde erst kurz vor der Wahl mit wenigen Prozentpunkten von der Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD) auf Platz zwei verdrängt. Die rechtsliberale VVD von Premier Mark Rutte, die seit 2012 zusammen mit den Sozialdemokraten am Ruder sind, ist nach der Wahl am 15. März 2017 mit 33 Sitzen deutlich die stärkste Kraft im Parlament, doch auch die rechtspopulistische PVV hat fünf Sitze dazugewonnen und verfügt nun über 20 Sitze. "Die PVV profitiert von der Flüchtlingskrise", sagt Politologin Sarah de Lange von der Universität von Amsterdam, die sich auf rechtspopulistische Parteien in Westeuropa spezialisiert hat. "Wilders weiß wie kein anderer die allgemeine Verunsicherung zu nutzen, und bietet den Wählern ein parlamentarisches Ventil für ihre Ängste vor Überfremdung."

"Ein Händler in Sachen Angst"

Wilders hat keine Scheu, in der lange Zeit von Konsens und Toleranz geprägten niederländischen Gesellschaft zu polarisieren. Was den aus der Grenzstadt Venlo stammenden Politiker von manch anderem Rechtspopulisten in Europa unterscheidet: Wilders gibt sich als ausgesprochener Freund Israels und setzt sich offensiv für die Rechte Homosexueller ein – beide Themen sind geeignet, sich nach ganz rechts abzugrenzen und als Verteidiger liberaler Werte zu inszenieren. Kontakte mit rechtsextremen Kreisen und damit braune Flecken auf seinem Image versucht er zu vermeiden. Mit markigen Sprüchen bezieht er Stellung. Gegen Europa. Gegen den Islam. Gegen die Einwanderungspolitik. Immer wieder legt er dabei den Finger auf wunde Punkte, also weist auf tatsächlich existierende Probleme im Land hin. Allerdings ohne Lösungen anzubieten. "Ein Händler in Sachen Angst" hat ihn der niederländische Schriftsteller Geert Mak bereits 2005 in seinem Pamphlet " Gedoemd tot kwetsbaarheid"[1] genannt.

Der Preis, den Wilders privat dafür bezahlt, ist hoch: Aufgrund der vielen Morddrohungen, die er erhält, wird er rund um die Uhr von Sicherheitskräften bewacht. 2004 hatte die Kritik am Islam einen anderen Niederländer bereits das Leben gekostet: den Amsterdamer Regisseur Theo van Gogh, der von einem Islamisten ermordet wurde. Seine eigene Freiheit hat Wilders längst verloren.

Umso unerbittlicher ist sein Kampf gegen den Islam: Unermüdlich warnt der rechtspopulistische Politiker vor einem "Asyl-Tsunami", der angeblich zu einer vollständigen Islamisierung der niederländischen Gesellschaft führen würde. Vor diesem "Untergang" will er sein Land bewahren: " Wir stehen vor der größten Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg", so Wilders im niederländischen Fernsehen im Herbst 2015. "Die niederländischen Straßen müssen wieder sicher und dieser Tsunami gestoppt werden. Wir können es uns nicht leisten, auf Brüssel zu warten, dort herrscht Beschlusslosigkeit, unsere Außengrenzen stehen wagenweit offen."

Damit spricht er gut einer Million Wählern aus dem Herzen. "Von den etablierten Parteien fühlen sie sich wie in so vielen westeuropäischen Ländern im Stich gelassen", sagt Politologin de Lange. Hinzu komme, dass die ideologischen Grenzen zwischen den Volksparteien verwischt seien: So waren Sozialdemokraten und Rechtsliberale, die in Den Haag seit 2012 ein Kabinett bilden, einst natürliche Gegner: "Das schafft den Eindruck einer einheitlichen politischen Elite", erklärt Sarah de Lange. "Der Wähler bekommt das Gefühl, dass sowieso niemand mehr auf ihn hört, und es völlig egal ist, wem er seine Stimme gibt." Nur an den Flanken – links bei den Sozialisten, rechts bei der PVV – mache es

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 160 noch einen wirklichen Unterschied.

Teunis den Hertog gibt seine Stimme deshalb Geert Wilders. Der 33-Jährige wohnt mit Frau und zwei kleinen Kindern in einem schmucken Backsteinhäuschen am Stadtrand von Montfoort, mitten in den Poldern bei Utrecht. Er konnte es kaufen, denn als selbständiger Polier auf dem Bau verdient er ganz gut. "Es heißt immer, PVV-Wähler seien sozial schwach und würden mit Zigarette und dickem Bauch und zehn Bierkästen in ihrer Mietwohnung den ganzen Tag vor der Glotze hängen", klagt den Hertog. " Dabei bin ich der beste Beweis dafür, dass das nicht stimmt." Die Familie lebt in einem Postkartenidyll mit Deichen, Kühen und Windmühlen. Niederländischer geht es nicht. Und das soll auch so bleiben. Wilders werde "dafür sorgen, dass ich mir um die Zukunft meiner Kinder keine Sorgen mehr machen muss", sagt den Hertog. "Die Muslime wollen unsere Gesellschaft verändern. Es gibt zu viele. Wilders wird das zu verhindern wissen."

Den Hertog ist seit der Gründung der PVV 2006 ein ebenso treuer wie überzeugter Wilders-Wähler. Zuvor hatte er seine Stimme der LPF gegeben, der "Liste Pim Fortuyn", benannt nach dem ebenso exzentrischen wie schillernden niederländischen Politiker, der 2002 von einem linksradikalen Tierschutzaktivisten erschossen worden war. Als Motiv gab dieser während seines Prozesses an, in Fortuyn eine wachsende Gefahr für die Gesellschaft gesehen zu haben.

Der Vorläufer der heutigen niederländischen Rechtspopulismus: Pim Fortuyn

Pim Fortuyn hatte um die Jahrtausendwende für den Einzug des Rechtspopulismus hinter den Deichen gesorgt. Der 54-jährige Soziologieprofessor prangerte als erster die Schattenseiten der bis dahin vergleichsweise liberalen niederländischen Einwanderungspolitik an, die in ganz Europa für vorbildlich galt, und koppelte diese an den Islam – für ihn eine "rückständige Kultur". Sein timing – kurz nach den Terroranschlägen in den USA am 11. September 2001 – war perfekt. Das Auftreten des Politikers, der sich oft in italienischen Maßanzügen zusammen mit zwei Schoßhündchen in seinem Bentley zeigte, wurde von Beobachtern als sorgsam inszeniertes Auftreten beschrieben, das sich für "schillernde " Reportagen eigne.

Fortuyn plädierte für einen vorläufigen Zuwanderungsstopp. Erst einmal müssten die 1,7 Millionen Immigranten, die sich bereits in den Niederlanden befänden, anständig integriert werden. Denn, so Fortuyn: "Bei laufendem Wasserhahn lässt es sich schlecht aufwischen." Zu jenem Zeitpunkt (und seit 1994) regierte in den Niederlanden das so genannte "lila Kabinett" aus Sozialdemokraten, Rechts- und Linksliberalen. "Erstmals waren Kontrahenten vereint, die bis dahin als unvereinbar gegolten hatten", erklärt der Groninger Politologieprofessor Gerrit Voerman. "Damals entstand in Teilen der Gesellschaft das Gefühl, dass in Den Haag alle unter einer Decke steckten. Außerdem überhörte diese Regierung geflissentlich alle Klagen über Probleme mit der Einwanderung. Auf diese Weise bildete sich die für den Populismus so typische Kluft zwischen Volk und Elite."

"Integration unter Beibehaltung der eigenen Kultur" lautete damals das Motto der niederländischen Einwanderungspolitik. Zwang wurde vermieden; an die Einwanderer wurden kaum Forderungen gestellt, sie brauchten kein Nederlands zu lernen, die Teilnahme an Einbürgerungskursen war freiwillig. Die meisten Einwanderer landeten in alten Großstadtvierteln, die aufgrund von hoher Arbeitslosigkeit, Armut und Kriminalität ohnehin schon unter Druck standen. Vor allem in diesen Vierteln wuchs der Unmut. Auch in Rotterdam: Im Rathaus am Coolsingel saßen seit 50 Jahren unangefochten die Sozialdemokraten am Ruder, selbstgefällig waren sie geworden und gleichgültig, so warfen ihnen viele Bürger vor. Bis Pim Fortuyn bei den Kommunalwahlen 2002 ein politisches Erdbeben verursachte: Aus dem Stand heraus eroberte seine Lokalpartei "Leefbaar Rotterdam" – "Lebenswertes Rotterdam " – 17 der 45 Sitze im Gemeinderat, jeder dritte Rotterdamer gab ihr seine Stimme.

Die Volksparteien wussten fortan nicht, wie sie mit dem exzentrischen shootingstar am Polithimmel umgehen sollten, der einerseits den Islam kritisierte, andererseits aber ganz offen verkündete, nichts

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 161 gegen Muslime zu haben: "Ich gehe sogar mit ihnen ins Bett!" Der obendrein zum Marsch auf Den Haag geblasen hatte: Mit der “Liste Pim Fortuyn”, kurz LPF, wollte sich Fortuyn den Parlamentswahlen vom 5. Mai 2002 stellen. Die etablierten Parteien mühten sich, Fortuyn als Rechtsextremen zu dämonisieren und ansonsten zu ignorieren, offenbarten damit aber nur ihre Hilfslosigkeit. "Dabei war er allerhöchstens ein populistischer Rechtsexzentriker, der längst fällige Tabus brach", sagt Professor Gerrit Voerman. Anno 2016 haben die Niederländer das Fortuyn-Bild längst korrigiert, wenn nicht romantisiert. "Er war ein rechtspopulistischer Liberaler, der liberale Prinzipien wie die Religionsfreiheit hochgehalten hat", sagt Sarah de Lange. "Wilders ist da weitaus extremer." Die Freiheit, die er für sich selbst beanspruche, gestehe er anderen nicht zu: "Wilders will den Islam bannen, Moscheen und den Koran verbieten. So weit wäre Fortuyn nie gegangen. Er plädierte auf eine Art von 'Islam light'."

Der Niedergang der LPF jedoch begann mit dem Mord an Fortuyn. Neun Tage vor den Wahlen 2002 wurde er auf einem Parkplatz in Hilversum von einem politisch links motivierten militanten Tierschützer niedergeschossen und starb kurz darauf im Krankenhaus. Er hinterließ eine Partei, die bei den Wahlen 2002 zwar auf Anhieb sensationelle 17 Prozent erreichte und zusammen mit Christdemokraten und Rechtsliberalen eine Regierungskoalition bildete. Innerlich jedoch war die LPF so zerrissen, dass sie sich 2007 auflöste.

Der Aufstieg von Geert Wilders begann nach zwei politischen Attentaten

Wilders hatte seine PVV zu diesem Zeitpunkt bereits gegründet. Er selbst sieht sich als rechtmäßiger Erbe Fortuyns. Seine politische Karriere begann Ende der 1990er Jahre bei den Rechtsliberalen des jetzigen Premierministers Mark Rutte. Doch wegen seiner extremen Auffassungen hatte er sich im Streit von ihr getrennt. Zunächst schien Wilders politisch erledigt, doch dann verschaffte ihm der Mord an dem islamkritischen Regisseur Theo van Gogh, der 2004 von einem Islamisten mitten in Amsterdam ermordet worden war, einen unverhofften Popularitätsschub.

Dieser zweite politische Mord innerhalb nur zweier Jahre hob die niederländische Gesellschaft regelrecht aus den Angeln. Die Angst vor islamistischem Terror löste einen Rechtsruck aus, der später kam als in Nachbarländern wie etwa Dänemark, aber um einiges stärker ausfiel: In den darauffolgenden Jahren wurden die Niederlande zu einem der Länder mit den strengsten Immigrations- und Integrationsgesetzen Europas. Die Kluft, die sich seit den New Yorker Terroranschlägen auch hier zwischen Alteingesessenen und Immigranten wurde noch größer.

Auch das Recht auf Meinungsfreiheit wurde in Medien, Politik und in der Bevölkerung seitdem größer als je zuvor geschrieben: Fortuyn und van Gogh waren für ihre Meinungsäußerungen ermordet worden – ausgerechnet in einem Land, zu dessen Selbstverständnis es bis dahin gehört hatte, dass immer der Konsens und Kompromiss gesucht werde. "Im Namen der Meinungsfreiheit kann man sich bei uns seitdem sehr viel mehr herausnehmen als vor diesen beiden Attentaten", so Sarah de Lange.

Geert Wilders profitiert davon bis heute. Bei den Parlamentswahlen 2006 eroberte seine soeben erst gegründete PVV aus dem Stand heraus neun der 150 Abgeordnetensitze. Dabei ist sie noch nicht einmal eine richtige Partei, hat sie doch nur ein einziges Mitglied: Geert Wilders. In Deutschland würde die PVV nicht zu Wahlen zugelassen, die niederländischen Gesetze sind da flexibler. Auf diese Weise will Wilders alles fest im Griff und seine Fraktion in Schach halten, um zu vermeiden, dass es der PVV so ergeht wie einst Fortuyns LPF. La PVV, c’est moi. Er muss auf staatliche Zuschüsse verzichten. Wie er sich und die PVV finanziert, ist nicht transparent.

Über die Grenzen der Niederlande hinaus für Aufsehen und Unruhe sorgte Wilders erstmals 2008 mit seinem lange im Voraus angekündigten Anti-Islamfilm Fitna. Der nächste Paukenschlag folgte 2009 bei den Europawahlen: Die PVV wurde nach den Christdemokraten mit 17 Prozent zweitstärkste Partei und zog mit fünf Abgeordneten ins Europaparlament ein. Auch auf nationaler Ebene ein Jahr später, bei den Parlamentswahlen 2010, feierte die PVV Erfolge: Aus den neun Abgeordnetensitzen wurden

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24. Die Partei konnte sensationell als drittstärkste Kraft nach Rechtsliberalen und Sozialdemokraten ins Parlament einziehen – noch vor den Christdemokraten. Und wieder demonstrierten die etablierten Parteien Hilflosigkeit. Woran sich bis heute nichts geändert hat: Anstatt Wilders inhaltlich Paroli zu bieten und Stellung zu beziehen, üben sie sich im Spagat, aus Angst noch mehr Wähler an seine PVV zu verlieren. So bekennt sich die rechtsliberale VVD-Partei nicht mehr vollmundig zu Europa, sondern setzt auf den Slogan: "Europa waar nodig en nationaal waar mogelijk", zu Deutsch: "Europa, wenn nötig und national, wo möglich." Und bei einer Lesung im September 2016 betonte VVD-Gesundheitsministerin Edith Schippers, die niederländische Kultur sei " um Einiges besser als alle anderen".

"Sie versuchen sich als Wilders-light-Ausgabe", sagt Sarah de Lange. "Aber der Wähler fällt darauf nicht rein, der kennt den Unterschied zwischen Original und Imitation." Auch den Medien gelingt nur in Ausnahmefällen ein kritischer und distanzierter Umgang mit Wilders. Nach dem Aufstieg Fortuyns hatten die Journalisten das Gefühl, etwas übersehen zu haben – das Unbehagen und der Unmut der Wähler wie etwa in Rotterdam war ihnen völlig entgangen. Folge: Der Vox Populi wird in Zeitungen, Nachrichtensendungen oder TV-Debatten heute sehr viel mehr Raum gegeben; waren es früher die Experten, die zuerst zu Wort kamen, ist es nun in vielen Fällen der empörte oder zumindest beunruhigte Bürger. "Wilders gegenüber sind die Medien weniger kritisch und weniger auf der Hut als es etwa in Deutschland gegenüber Rechtspopulisten üblich ist", findet Politologin de Lange.

Umso mehr ist Wilders selbst auf der Hut: Er meidet die Debatte. Talkshows und anderen Auftritten im Fernsehen mit seinen politischen Konkurrenten bleibt er fern und damit unangreifbar. Er hat sich auf Kurzmeldungen per Twitter spezialisiert, wo er provoziert und polarisiert. Gleichwohl haben die niederländischen Rechtspopulisten in den vergangenen Jahren einige Niederlagen einstecken müssen. Zunächst schien ihr Aufstieg unaufhaltsam: Nach dem großen Wahlerfolg 2010 wurde Wilders erstmals Verantwortung übertragen – wenn auch nur indirekt: Er duldete eine Minderheitsregierung. Die jedoch ließ er nur zwei Jahre später, 2012, mitten in einer schweren Wirtschaftskrise, platzen. Damit erwies er sich in den Augen vieler Wähler als unfähig, Regierungsverantwortung zu tragen. Sowohl bei den Kommunalwahlen als auch bei den vorgezogenen Parlamentswahlen, für die er 2012 selbst gesorgt hatte, sanken die Wahlergebnisse. Im Abgeordnetenhaus blieb die PVV zwar drittstärkste Kraft – verlor aber neun ihrer 24 Sitze. Nun, 2017, hat sie wieder fünf Sitze dazugewonnen und liegt bei 20 Sitzen – und ist zweitstärkste Kraft hinter einem rechtsliberalen Wahlgewinner, während die sozialdemokratische PvdA (Deutsch: Partei der Arbeit) drei Viertel ihrer Sitze verloren hat und nur noch über neun Sitze verfügt.

Auf europäischer Ebene konnte Wilders Erfolge feiern und Bündnispartner finden: Zusammen mit sechs anderen europafeindlichen Parteien, darunter dem Front National von Marine LePen, ist es ihm gelungen, im europäischen Parlament eine eigene Fraktion zu gründen (http://www.bpb.de/politik/ extremismus/rechtsextremismus/184129/die-extreme-rechte-im-europaparlament-bilanz-und-ausblick). Im Sommer 2015 präsentierte er sie erstmals und sprach von "einem Befreiungstag für Europa – von Europa!"

Dazu allerdings musste Wilders seine Distanz zum Front National aufgeben – und das haben ihm nicht alle Wähler und auch nicht alle PVV-Fraktionsmitglieder gedankt. Ein gutes Dutzend Abgeordnete, Gemeinderäte und Europarlamentarier haben Wilders inzwischen den Rücken gekehrt – teils wegen seines autoritären Führungsstils, teils weil sie nichts mit umstrittenen Parteien wie dem Front National oder der FPÖ zu tun haben möchten. Ein ehemaliger PVV-Gemeinderat-Abgeordneter in Den Haag, Paul ter Linden, fasste das Unbehagen in die Worte und begründete seinen Austritt in den niederländischen Medien damit, er wolle "nicht in einem Atemzug mit Rassisten, Antisemiten und Homohassern" genannt werden.

Zu weiteren Austritten und einer Welle von Strafanzeigen wegen Diskriminierung von empörten Bürgern hat Wilders' Auftritt nach den Kommunalwahlen im März 2014 geführt: In einem vollbesetzten Saal fragte er seine Anhänger, ob sie sich mehr oder weniger Marokkaner in den Niederlanden wünschen. "

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Weniger!" brüllte der Saal. "Weniger, weniger, weniger!" Worauf Wilders versprach: "Dann werde ich dafür sorgen!" Auch für so manchen Wähler schien Wilders damit den Bogen überspannt zu haben: Die Europawahlen 2014 jedenfalls verliefen für die PVV enttäuschend. Im Unterschied zu vielen anderen europa- und immigrationsfeindlichen Parteien innerhalb der EU konnte die PVV nicht zulegen.

Außerdem musste sich Wilders aufgrund der Äußerungen in der Wahlnacht 2014 erneut vor Gericht verantworten: Im Dezember 2016 wurde er der Gruppenbeleidigung und der Anstiftung zur Diskriminierung für schuldig befunden, blieb aber straffrei. In einem ersten Prozess 2011 war er von ähnlichen Vorwürfen freigesprochen worden. Er sorgte wie erwartet für Schlagzeilen, beherrschte Debatten und Talkshows und spaltete die niederländische Gesellschaft: Für die einen macht der Schuldspruch Wilders zu einem Märtyrer, während andere begrüßten, dass ein Richter endlich klare Grenzen setzte, wo Meinungsfreiheit aufhört und Diskriminierung anfängt. Und damit die zentrale Frage beantwortete – nämlich, wieviel sich ein Politiker herausnehmen darf. Obwohl die PVV in den Umfragen wochenlang ganz vorne lag und sich wenige Tage vor der Wahl ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit der rechtsliberalen Regierungspartei von Premier Mark Rutte geliefert hatte, wurde sie mit deutlichem Abstand zur rechtsliberalen VVD eben doch nur zweitstärkste Kraft. Ende Januar schloss auch Premier Rutte eine Koalition mit der PVV noch aus. Die niederländische Parteienlandschaft ist seit dem Aufstieg der Rechtspopulisten zersplitterter denn je, mit einer ausgehöhlten Mitte.

Fußnoten

1. Deutscher Titel: Der Mord an Theo van Gogh. Geschichte einer moralischen Panik

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Die UKIP - Ein fruchtbarer Boden für die radikale Rechte in Großbritannien

Von Vidhya Ramalingam 7.2.2017 Vidhya Ramalingam arbeitet für die Organisation "Moonshot CVE - Countering Violent Extremism through Data Driven Innovation", die sie gemeinsam mit Ross Frenett gründete. Zu ihren Veröffentlichungen zählt "Old Threat, New Approach: Tackling the Far Right Across Europe" (ISD 2014).

Großbritannien ist schon lange ein fruchtbarer Boden für Bewegungen, die auf weit verbreiteter Fremdenfeindlichkeit, EU- Skepsis und Unzufriedenheit mit den etablierten politischen Institutionen gedeihen, sagt Vidhya Ramalingam. Sie analysiert, wie die EU-skeptische und rechtspopulistische Partei UKIP Wähler und Wählerinnen mobilisierte, für den Austritt Großbritanniens aus der EU zu stimmen.

Nigel Farage (l) posiert kurz vor dem Referendum über die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens für ein Foto mit einem UKIP-Unterstützer in Ramsgate, England. (© picture-alliance/dpa)

Am 23. Juni 2016 haben die Briten sich für den Ausstieg aus der Europäischen Union entschieden und ihr Land, politisch betrachtet, auf unbetretenen Boden geführt. Für die britische Politik beginnt damit eine neue Ära. Das Ergebnis des Referendums kam zwar für viele als Schock, eine Überraschung war es jedoch nicht. Dem Brexit vorangegangen waren über viele Jahre wachsender Euroskeptizismus und Populismus und zunehmende Ablehnung von Einwanderung in bestimmten Bevölkerungsteilen, die von der United Kingdom Independence Party (UKIP) angefeuert wurden. Obwohl die Brexit- Kampagne vom damaligen Justizminister Michael Gove und dem ehemaligen Bürgermeister von

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London, Boris Johnson, angeführt wurde, fand der ehemalige charismatische UKIP-Vorsitzende Nigel Farage den Kern seiner politischen Agenda im Zentrum dieser Debatte. Und er spielte eine wichtige Rolle bei der Verbreitung und Verstärkung von UKIPs Kernbotschaft.

UKIP, die EU-skeptische und populistische Partei, führte die Wählermobilisierung an, der das politische System Großbritanniens im Mai 2014 erschütterte und Geschichte schrieb, als die Partei – nach mehr als einem Jahrhundert – als erste anstelle von Labour und den Konservativen als Sieger aus einer Wahl in Großbritannien hervorging. Die Partei errang 24 der 73 britischen Sitze im Europäischen Parlament. Die UKIP wurde 1993 von Mitgliedern der Anti-Federalist League gegründet. Über weite Teile ihrer Geschichte wurde die UKIP nur einmal alle fünf Jahre – während der Wahlen zum Europaparlament – bedeutsam, wenn ihre Anti-EU-Kampagne in den Blickpunkt der Wähler rückte. Seit 1997 jedoch gewann die Partei langsam, aber sicher an Dynamik, und es war ihr in den vergangenen Jahren gelungen, den Übergang von einer monothematischen Interessengruppe zu einer breiten, radikal-rechtspopulistischen Partei mit einem ernst zu nehmenden politischen Angebot bei britischen Wahlen zu vollziehen. Kennzeichnend für diese Entwicklung sind Rekordergebnisse bei Nachwahlen zum Parlament, eine Welle von Siegen bei den Kommunalwahlen 2013 und schließlich bei den Europawahlen 2014. Mit ihrem damaligen Vorsitzenden Nigel Farage, der bei Themen wie EU-Skepsis, Populismus und Widerstand gegen Zuwanderung die Richtung bestimmte, fand sich die Partei mit einem Mal im Fokus der politischen Debatte wieder.

Das ist nichts Neues. Großbritannien ist schon lange ein fruchtbarer Boden für Bewegungen, die auf weit verbreiteter Fremdenfeindlichkeit, EU- Skepsis und Unzufriedenheit mit den etablierten politischen Institutionen gedeihen. Teile der britischen Bevölkerung waren immer schon überaus EU-skeptisch, wie auch schon das Referendum aus dem Jahr 1975 zeigte, bei dem sich immerhin ein Drittel der Wahlberechtigten für einen Austritt aus dem EU-Vorläufer "Europäische Wirtschaftsgemeinschaft " aussprach. Bestärkt wird diese Einstellung teilweise durch eine extrem EU-skeptische Medienlandschaft in Großbritannien, in der viele bedeutende Tageszeitungen eine durchweg EU- feindliche Haltung einnehmen. Seit den 1960er-Jahren herrscht bei einer mehr oder weniger großen Mehrheit der britischen Bevölkerung Widerwillen gegen Zuwanderung. Das Migration Observatory (der Universität Oxford) hat in Untersuchungen festgestellt, dass die Frage der Zuwanderung in den vergangenen 15 Jahren zu einem der meistdiskutierten Themen in Großbritannien wurde.[1] Die Nachfrage/das Verlangen nach solchen Parteien hat also immer schon bestanden. Obgleich die UKIP keine extremistische Partei ist, teilt sie doch nicht nur die politischen Vorschläge/Forderungen, sondern auch das gleiche Wählerspektrum mit Großbritanniens EU-skeptischen und zuwanderungsfeindlichen Rechtsaußen-Parteien.

Allerdings galt Großbritanniens äußerste Rechte vor dem Erscheinen der UKIP als politisch gescheitert und unbedeutend. Sie war weniger gut organisiert und bei den Wählern weniger erfolgreich als ähnliche Organisationen in Europa. Unter Forschern herrscht weitgehend Konsens, dass die Misserfolge der äußersten Rechten viel mit der Aufstellung der Parteien und Bewegungen selbst zu tun haben (d. h. aufgrund von Führungsversagen, strategischen Fehlern, der Unfähigkeit, eine innere Einheit zu wahren, und dem Unvermögen, sich ihrer extremistischen Vergangenheit zu entledigen). Trotz der lokalen Erfolge, die die British National Party (BNP) im Lauf der Jahre an Orten wie Burnley, Dudley und in den Londoner Stadtteilen Barking und Dagenham feiern konnte, und ungeachtet der beiden Sitze im Europaparlament, die sie im Jahr 2009 errang, ist die Partei heute in sich zusammengefallen und wird in den kommenden Jahren wohl kaum noch eine Rolle in der britischen Politik spielen.

In der Folge des Unvermögens der BNP, sich das fruchtbare Umfeld für eine Rechtsaußen-Politik zunutze zu machen, ist eine neue Form von rechtsradikaler Politik entstanden, die die etablierten politischen Parteien in der jüngsten Britischen Geschichte erfolgreich herausfordert. Zwar ist die UKIP keine rechtsextremistische Partei, doch es gibt auffällige Überschneidungen bei den politischen Vorschlägen/Forderungen: Rufe nach einem Ende der "unkontrollierten/regulierten Zuwanderung", die Abschaffung von Sozialleistungen für Zuwanderer, und sogar Forderungen einiger Parteivertreter, alle Zuwanderer abzuschieben.[2] Allerdings unterscheidet sich die UKIP von den britischen

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Rechtsextremen in ihrer wohlwollenden Sicht auf den freien Weltmarkt und ihren liberalen Anschauungen. Sie präsentiert sich als nicht-rassistisch, aber "bürgerlich-nationalistisch".[3] Sie hat ihre Wurzeln eher in der britischen EU-Skepsis als in einer antidemokratischen oder rechtsextremen Tradition. Trotz dieser Unterschiede gibt es unübersehbare Übereinstimmungen/Überschneidungen bei der Unterstützerbasis. Die Unterstützer und Führer der UKIP vertreten Einstellungen, mit denen man gewöhnlich die BNP verbunden hat.[4]

Die Ergebnisse des EU-Referendums haben auf eine Reihe wichtiger Differenzen in der britischen Gesellschaft aufmerksam gemacht: auf unterschiedliche Werte, Unterschiede zwischen Land- und Stadtbewohnern, zwischen gut Ausgebildeten und weniger Gebildeten, zwischen Gewinnern und Verlierern der Globalisierung und auf Generationskonflikte zwischen Alt und Jung.

Die Merkmale der UKIP-Unterstützer

Britische Forscher haben UKIP-Unterstützer einmal in zwei Arten eingeteilt: strategische Wähler und Stammwähler. Als strategische Wähler galten jene, die sich der UKIP nur während der Europawahlen zuwenden, größtenteils desillusionierte Konservative, die die Partei als antieuropäische Plattform unterstützen.[5] Stammwähler unterstützten die UKIP durch alle Wahlen hindurch; sie entstammen meist der unzufriedenen Arbeiterschaft. Diese Wähler ähneln eher den Unterstützern der BNP und anderen europäischen rechtsradikalen Parteien. Allerdings zeigen die Referendum-Ergebnisse, dass es mehr als nur diese strategischen und die Stammwähler von UKIP bedurfte, um mit dem Votum für einen EU-Austritt zu enden: Zu den wichtigsten Charakteristika der UKIP- und Brexit-Anhänger gehören:

• Ähnlich wie bei der BNP waren die UKIP-Unterstützer immer schon überwiegend männlich (57 Prozent) und gehören älteren Jahrgängen an. Oft fühlen sich Männer im mittleren oder fortgeschrittenen Alter zur UKIP hingezogen. 57 Prozent der UKIP-Wähler sind älter als 54 Jahre, während nur knapp über 10 Prozent jünger als 35 Jahre sind.[6] Eine entscheidende Größe im Brexit-Referendum war das Alter der Wähler – Brexit-Befürworter waren in überwältigendem Ausmaß ältere Wähler. Über 65-Jährige haben wesentlich öfter für "Leave" gestimmt (61 Prozent) als für den Verbleib (39 Prozent).[7] UKIP selbst hat sich stets um die Unterstützung von jungen Menschen und Frauen bemüht.

• Die UKIP-Wähler waren in der Regel weniger gebildet als Wähler anderer Parteien. 55 Prozent der UKIP-Wähler haben die Schule verlassen, bevor sie das 17. Lebensjahr erreichten; nur 24 Prozent haben eine Hochschule besucht. Auch das ähnelt dem Profil der BNP-Unterstützer, von denen 62 Prozent die Schule vor Erreichen des 17. Lebensjahres verlassen haben, und weniger als 20 Prozent eine Hochschule besucht haben.[8] Auch die Brexit-Befürworter waren meist weniger gebildet. 66 Prozent der Wähler, die lediglich eine weiterführende Schule besucht haben, stimmten für "Leave" im Vergleich zu 29 Prozent mit einem Universitätsabschluss.[9]

• UKIP-Wähler haben in der Vergangenheit ein breites Parteienspektrum gewählt. Unter ihnen befinden sich desillusionierte und EU-skeptische Konservative der Mittelschicht, die Thatcher unterstützten und heute von den Kompromissen der Koalitionsregierung enttäuscht sind, bis hin zu Wählern aus der Arbeiterschicht, von denen viele einst hinter Labour standen.[10] Die Brexit- Befürworter stammen ebenfalls aus vielen unterschiedlichen politischen Lagern mit einem großen Anteil von Konservativen (57 Prozent für den Austritt), Labour-Unterstützern (31 Prozent für den Austritt), den Liberal Democrats (27 Prozent für den Austritt) und, nicht überraschend, UKIP- Anhänger (93 Prozent für den Austritt).[11]

So wie UKIP-Unterstützer meist Personen sind, von denen man sagen kann, dass die positiven wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen an ihnen vorbeigegangen sind, zeigt die

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Zusammensetzung der Brexit-Unterstützer ähnliche große Brüche in der britischen Gesellschaft. In diesem Sinne ist die Unterstützung für den Brexit und die UKIP nicht einfach eine Protestwahl infolge politischer Desillusionierung, sondern sie gibt eine sehr reale und neue Gruppe innerhalb der Wählerschaft zu erkennen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten in zunehmendem Maße aufgrund unterschiedlicher sozialer und wirtschaftlicher Erfahrungen der britischen Öffentlichkeit herausgebildet hat. Diesen Menschen fehlt die Befähigung zur gesellschaftlichen Mobilität in einer Zeit, in der die öffentlichen Ausgaben gekürzt werden, die Einkommen sinken und die soziale Ungleichheit zunimmt.

Faktoren für die Brexit-Unterstützung: Mehr als EU-Skepsis

EU-skeptische Denkweisen haben sich überall in Großbritannien gefunden, und laut Umfragen von Eurobarometer in konstant höherem Maße als in jedem anderen EU-Mitgliedstaat. Wie die letzten 16 von 20 Eurobarometer-Befragungen ergaben, haben die Befragten aus Großbritannien unter allen Mitgliedstaaten das geringste Vertrauen in die EU gehabt.[12] Forscher und Wissenschaftler haben verschiedene Gründe für diese hochgradig EU-feindliche Stimmung verantwortlich gemacht – von Großbritanniens Geografie als Insel bis hin zu wirtschaftlichen Bedingungen.

Die konservative Regierung versprach 2010, die Einwanderung auf zehntausend Personen zu beschränken, verfehlte dieses Ziel jedoch Jahr für Jahr um Hunderttausende. Daraufhin sprachen sowohl Euroskeptiker und Politiker, die ohnehin gegen Einwanderer waren, als auch die Medien verstärkt von "Masseneinwanderung", um das Gefühl, man habe es mit unkontrollierter Einwanderung zu tun, einzufangen. Diese "Masseneinwanderung" besonders aus ärmeren EU-Ländern war es, die den Ruf nach dem Brexit befeuert hat, und zwar nicht nur von der UKIP und ihren Verfechtern, sondern auch von Politikern der Mitte. Die weit verbreitete Überzeugung, dass nur der Austritt aus der EU eine tragfähige Lösung für die Eindämmung der Einwanderung sein könnte, wurzelte im Versagen der meisten britischen Politiker, entweder gute Argumente für die Freizügigkeit zu finden oder – vor dem Hintergrund, dass Einwanderung nach EU-Recht nicht verhindert werden kann – auf der anderen Seite realistische Möglichkeiten zur nationalen Einwanderungskontrolle anzubieten. So konnten UKIP und die Brexit-Befürworter die Wähler überzeugen, dass Einwanderungskontrolle nur durch das Verlassen der EU möglich wäre; entsprechend stimmten sie ab.

Europa ist inzwischen zum Synonym für zahlreiche andere wahrgenommene Probleme in der britischen Gesellschaft sowie für gefühlte Bedrohungen der Nation geworden. Dazu gehörten die gefühlte Bedrohung durch Zuwanderung oder der Verlust der kulturellen Identität. Europa wurde als Grund für Großbritanniens Zuwanderungsprobleme gesehen, und es herrschte die Überzeugung, dass Großbritannien Spielball der Launen von Eurokraten sei, die die nationalen Identitäten vernichten und Europa einebnen und gleichmachen wollten.

Starrköpfige und realitätsferne Eliten und "Experten"

In Großbritannien werden, wie in vielen europäischen Ländern, zunehmende Ressentiments gegen politische und gesellschaftliche Eliten wahrgenommen. Da die Brexit-Befürworter, UKIP-Unterstützer und die radikale Rechte überwiegend der oben angesprochenen neuen Wählergruppe von Personen entstammen, in der viele vom wirtschaftlichen Fortschritt "abgehängt" worden sind, überrascht es kaum, dass Umfragen und Äußerungen unter diesen Unterstützern verdeutlichen, dass diese sich auch von einem politischen System übergangen fühlen, das durch eine Elite regiert wird, die hauptsächlich in Oxford und Cambridge studiert hat und jeglichen Bezug zur britischen Arbeiterschaft verloren hat.[13]

Im Vorfeld des EU-Referendums warnten die Bank von England, das Finanzministerium und der Internationale Währungsfonds die britische Bevölkerung vor den wirtschaftlichen Folgen des Austritts aus der EU.[14] Unterstützer einer radikalen Rechten sind gegenüber Mainstream-Politikern, Experten und öffentlichen Institutionen historisch überdurchschnittlich misstrauisch. Nigel Farage erklärte einmal in einem Interview: "Das sagen die Medien. Davon sind sie besessen, und davon können sie sich nicht

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 168 lösen. Aber die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Die Entscheidung, für die UKIP zu stimmen, hat inzwischen sehr viel mit der Zugehörigkeit zu sozialen Schichten zu tun."[15] Auch hier sind diese Empfindungen nicht auf die UKIP beschränkt. Eine jüngste YouGov-Umfrage zeigt, dass 66 Prozent der Briten dazu neigen würden, eine politische Partei zu unterstützen, die "versprechen würde, sich den politischen und geschäftlichen Eliten entgegenzustellen".[16] Die UKIP hat eine populistische Denkweise gefördert, die ein klares Bild von einer Teilung zwischen den einfachen Menschen und der politischen Klasse zeichnet, die "korrupt, selbstzufrieden und realitätsfern ist". Diese Denkweise hat sich im EU-Referendum durchgesetzt.

Die Rolle von UKIP beim Brexit

Es gibt Stimmen, die sagen, dass der Ausgang des Referendums im Juni 2016 vor allem auf UKIP zurückzuführen sein, die argumentieren, dass "UKIP die politische Landschaft für immer"[17] verändert habe. Trotz der führenden Rolle, die UKIP in der Stimmungsmache für einen EU-Austritt gespielt hat, darf man doch nicht vergessen, dass die UKIP nur einen von fünf Wählern anspricht, die extrem EU- skeptisch sind, und nur die Hälfte der britischen Wählerschaft, die ausdrücklich gegen eine EU- Mitgliedschaft Großbritanniens ist.[18] Die UKIP tut sich nach wie vor schwer damit, für junge Menschen, Frauen und ethnische Minderheiten attraktiv zu sein.

UKIP hat ihren Aufstieg sicherlich der erfolgreichen Verknüpfung zweier politischer Schwerpunkte zu verdanken: Sie bietet eine Anti-Zuwanderungs-Plattform, die vordergründig nicht rassistisch ist,[19] und sie hat den idealen Zeitpunkt gefunden, EU-Skepsis und Stimmung gegen das Establishment für sich zu nutzen. Im Gegensatz zu anderen rechtsradikalen (und rechtsextremen) Kräften, die sich zuvor in der britischen Politik versucht haben, genießt die UKIP eine öffentliche Legitimität – sowohl durch ihre legitimen demokratischen Ursprünge als auch durch starke Verbündete in Politik und Medien (darunter einige Überläufer aus dem konservativen Lager). Die UKIP profitierte auch lange von ihrer charismatischen Führerfigur Nigel Farage, der im Juli 2016 seinen Rücktritt angekündigt hatte; seit dem 28. November 2016 ist der Europaabgeordnete Paul Nuttall Vorsitzender der Partei. Der Zuwachs aber der EU-Skepsis in Großbritannien, die im Brexit kulminierte, fand unter einer der EU-skeptischsten und zuwanderungssensibelsten Regierungen in der jüngeren britischen Geschichte statt. Man kann nicht behaupten, dass die etablierten politischen Parteien sich nicht der Problematik der Zuwanderung angenommen hätten oder sich weigerten, die öffentliche Ablehnung der Europäischen Union zur Kenntnis zu nehmen. Auch war UKIP nicht die einzige öffentliche Stimme zu diesen Belangen. Es war nicht schlicht nur der Erfolg der UKIP, der die politische Debatte in Großbritannien verschoben hat, der im Brexit kulminierte; EU-Skepsis und Anti-Zuwanderungs-Politik waren längst schon auf dem Vormarsch.

Jedoch haben der Erfolg der UKIP und der Brexit selbst die Ankunft einer neuer Wählergruppe signalisiert, die nicht nur vom wirtschaftlichen und sozialen Erfolg "abgehängt" wurde, sondern auch von einer politischen Elite, die keinen Bezug zu ihr hat und sich nicht um ihre Interessen kümmert. Die Art und Weise, wie die anderen großen Parteien ihren Modus Operandi ändern, um der Bedeutung dieses Teils der Wählerschaft gerecht zu werden, wird nicht nur die Zukunft dieser Parteien, sondern auch die der radikalen Rechten in Großbritannien bestimmen.

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 169 Was kommt nach dem Brexit?

Großbritannien wird die Europäische Union verlassen, und es wird zweifellos monate- und jahrelange Debatten in Großbritanniens und ebenso Verhandlungen im Ausland darüber geben, was der Brexit für das Land bedeutet. Die Zuwanderung wird dabei im Vordergrund der Verhandlungen über den EU- Austritt stehen.

Das Ergebnis des Referendums hat die Lage in Großbritannien für Migranten aus Europa verschärft. Viele sind seitdem Diskriminierung und Repressalien ausgesetzt. Osteuropäischen Einwanderern schlägt eine Welle des Hasses entgegen, und die Ungewissheit über den zukünftigen Status Großbritanniens in der EU wird auch ihre Zukunft im Land weiter beeinflussen. Es wird eine kritische Herausforderung für Großbritannien nach dem Brexit sein, den nationalen Diskurs über Einwanderung und die britische Identität zu vertiefen und dabei sicherzustellen, dass unterschiedliche politische Strategien die Gesellschaft nicht weiter spalten.

Die Generationenkonflikt, der sich bei den EU-Skeptikern zeigt, das kulturelle Unbehagen und die Anti- Einwanderungsstimmung in Großbritannien bedeuten auch, dass in den kommenden Jahren darum gerungen werden wird, wer die Zukunft der britischen Politik entscheidet: die Alten oder die Jungen. Die Jungen in Großbritannien sorgen sich weniger um Einwanderung und Europa, sie sehen mit mehr Vertrauen in die Zukunft und gehen gelassener mit ihrer britischen Identität um. Auch wenn Großbritannien die Europäische Union verlassen wird, wird seine Zukunft auf viele Jahre in den Händen einer Generation liegen, die nicht vor Europa, der Vielfalt oder der Globalisierung davonläuft, sondern sich darauf zubewegt.

Fußnoten

1. Blinder, Scott (2012). UK Public Opinion toward Immigration: Overall Attitudes and Level of Concern. The Migration Observatory at University of Oxford. 23. Februar 2012 [Im Internet abrufbar: http://migrationobservatory.ox.ac.uk/briefings/uk-public-opinion-toward-immigration-overall-attitudes- and-level-concern] 2. Goodwin, Matthew and Jocelyn Evans. (2012) From voting to violence? Far right extremism in Britain. Hope not Hate and YouGov. London, Großbritannien. Zu weiteren Informationen über UKIP-Parteivertreter, die eine Abschiebung aller Zuwanderer fordern, siehe diesen Nachrichtenartikel im Guardian vom 08. Dezember 2013: http://www.theguardian.com/ politics/2013/dec/08/ukip-victoria-ayling-immigration-nigel-farage. Siehe auch das Originalvideo hier: http://www.dailymail.co.uk/news/article-2520012/Send-home-In-shocking-video-UKIP-councillor- key-Farage-ally-launches-astonishing-racist-rant--tells-MoS-I-stand-word.html 3. Empowering the People: UKIP Manifesto. April 2010. Seite 13. [Im Internet abrufbar: http://www. politicsresources.net/area/uk/ge10/man/parties/UKIPManifesto2010.pdf]. 4. Ebd. 5. Ford, Robert, Goodwin, Matthew and David Cutts. Strategic Eurosceptics and Polite Xenophobes. [Im Internet abrufbar: https://nottingham.ac.uk/news/documents/pdf]. 6. Ford, Robert and Matthew Goodwin (2014). Revolt on : Explaining Support for the Radical Right in Britain. Routledge, London, Großbritannien. 7. https://d25d2506sfb94s.cloudfront.net/cumulus_uploads/document/oxmidrr5wh/EUFinalCall_Reweighted. pdf 8. Ebd. 9. https://d25d2506sfb94s.cloudfront.net/cumulus_uploads/document/oxmidrr5wh/EUFinalCall_Reweighted. pdf 10. Ebd. 11. https://d25d2506sfb94s.cloudfront.net/cumulus_uploads/document/oxmidrr5wh/EUFinalCall_Reweighted. pdf 12. http://www.telegraph.co.uk/news/worldnews/europe/eu/10586961/Trust-in-EU-at-an-all-time-low-

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 170

latest-figures-show.html 13. Ford, Robert and Matthew Goodwin (2014). Revolt on the Right: Explaining Support for the Radical Right in Britain. Routledge, London, Großbritannien. 14. http://www.britishfuture.org/wp-content/uploads/2016/08/Disbanding-the-tribes-report.27-July-2016. pdf 15. The Guardian, 5. März 2014. [Im Internet abrufbar: http://www.theguardian.com/ commentisfree/2014/mar/05/left-behind-voters-only-ukip-understands] 16. Extremis Project (2012). Europe at the extremes? Public concerns and the generational divide. Extremis Project. [Im Internet abrufbar: http://extremisproject.org/2012/09/europe-at-the- extremes-public-concerns-and-the-generational-divide/] 17. https://www.theguardian.com/politics/2016/jun/25/left-behind-eu-referendum-vote-ukip-revolt-brexit 18. Die Untersuchungsergebnisse ergaben verschiedene Untergruppen in der Bevölkerung, die sich als "sehr EU-skeptisch" bzeichneten und solche, die grundlegend die "EU-Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU ablehnen". Weitere Informationen bei: Ford, Robert and Matthew Goodwin (2014). Revolt on the Right: Explaining Support for the Radical Right in Britain. Routledge, London, Großbritannien. 19. Die UKIP unterscheidet ihre Anti-Zuwanderungs-Politik von zuwanderungsfeindlichen Vorgängern wie der BNP durch die Schaffung einer zuwanderungspolitischen Plattform, die nicht auf Rasse oder ethnischer Herkunft oder auch nur auf der Wahrung britischer Werte, sondern auf dem sozioökonomischen Beitrag der Migranten basiert. Die Ecksteine ihrer Zuwanderungspolitik sind die Wiedererlangung der Kontrolle über die Grenzen durch Austritt aus der EU, die Abschaffung staatlicher Transferleistungen für neue Migranten, und finanzielle Auflagen für Zuwanderer und Touristen, die in Großbritannien einreisen. Weitere Informationen finden Sie hier: http://www.ukip. org/issues. Die Partei distanziert sich ausdrücklich vom Rassismus, wie öffentliche Aussagen von Nigel Farage belegen. Siehe Medienbeispiel hier: http://www.bbc.co.uk/news/uk-politics-27315328

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FPÖ: Von der Alt-Nazi-Partei zum Prototyp des europäischen Rechtspopulismus

Von Anton Pelinka 6.1.2017 Anton Pelinka ist Professor für Nationalism Studies and Political Science an der Central European University, Budapest. Von 1975 bis 2006 war er Prof. für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck. Er hat unter anderem zum politischen System Österreichs gearbeitet (zuletzt: "Die gescheiterte Republik. Kultur und Politik in Österreich, 1918 - 1938", erscheint 2017, Böhlau, Wien).

Die Freiheitliche Partei Österreichs hat eine lange Geschichte hinter sich. Gegründet als Partei ehemaliger Nationalsozialisten wechselte sie mehrfach den Kurs. Heute gilt sie als Prototyp des Rechtspopulismus in Europa.

Bundesparteiobmann der FPÖ Heinz-Christian Strache bei einer Rede am 14. Januar 2017 in Salzburg. Im Hintergrund der Slogan "Österreichs stärkste Kraft". (© picture-alliance)

Die 1956 gegründete Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) war eine Gründung von ehemaligen Nationalsozialisten für ehemalige Nationalsozialisten. Zwar waren kurz davor die "Schwerbelasteten " unter den ehemaligen Parteimitgliedern der NSDAP, die bei den österreichischen Nationalratswahlen 1945, 1949 und 1953 vom Wahlrecht noch ausgeschlossen waren; doch nachdem sie ihr Wahlrecht erhalten hatten, gründeten sie in der Nachfolge des vor allem "minderbelastete" ehemalige Nationalsozialisten vertretenden "Verbands der Unabhängigen" (VDU) eine Partei, die bei den Nationalratswahlen 1956 etwa 4,5 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte.

Die FPÖ stand in der Kontinuität des "deutschnationalen Lagers" Österreichs und speziell der

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österreichischen NSDAP, die vor 1938 die meisten der Anhänger der anderen Parteien dieses Lagers aufgesogen hatte. Erster Bundesobmann (Bundesvorsitzender) der FPÖ wurde Anton Reinthaller, der im März 1938 dem "Anschlusskabinett" Seyß-Inquart angehört hatte, das der Besetzung Österreichs und dessen Eingliederung in das Deutsche Reich den Mantel von Legitimität verliehen hatte. Reinthaller war die folgenden Jahre Staatssekretär der Reichsregierung Adolf Hitlers und wurde mit dem Ehrenrang eines SS-Generals ausgezeichnet. Reinthallers Nachfolger als FPÖ-Obmann wurde 1958 Friedrich Peter, der im Krieg einer aktiv an Kriegsverbrechen beteiligten SS-Einheit als Offizier angehört hatte.

Die FPÖ war eine Repräsentantin jenes Segments der österreichischen Gesellschaft, das sich mit dem Nationalsozialismus entweder identifizierte oder sich von ihm nicht wirklich zu distanzieren vermochte. Bei Wahlen wuchs sie bis in die 1980er Jahre selten signifikant über fünf Prozent hinaus. Die FPÖ war in allen öffentlichen Auseinandersetzungen – wie etwa um die Freisprüche von mutmaßlich an Massenmorden beteiligten SS-Offizieren durch österreichische Gerichte oder um einen den Nationalsozialismus relativierenden Hochschullehrer (Taras Borodajkewycz, 1965) – immer auf der Seite der Exponenten des Rechtsextremismus, ohne allerdings einen "Alleinvertretungsanspruch" für solche Positionen erheben zu können. Bis 1983 blieb die FPÖ dennoch parlamentarisch isoliert.

Neudefinition in den 1980er Jahren

Erst nach der Nationalratswahl 1983 gelang es ihr, in einer Koalition mit der sozialdemokratischen SPÖ, aus ihrer politischen Isolation auszubrechen. In dieser Phase versuchte auch die FPÖ, sich von ihren rechtsextremen Wurzeln zu emanzipieren. Sie wurde 1978 in die Liberale Internationale aufgenommen und sah ihr Vorbild (neben anderen europäischen) Parteien in der (west-)deutschen FDP. Die FPÖ versuchte diesen Wandel vor allem durch einen Generationenwechsel an der Parteispitze zu unterstreichen: Die Repräsentanten rund um den seit 1980 eingesetzten FPÖ- Parteiobmann Norbert Steger waren allein schon altersbedingt nicht mehr in eine persönliche Verbindung mit der NSDAP zu stellen. Allerdings vermied es die FPÖ auch in dieser Phase, sich kritisch mit den eigenen Wurzeln auseinander zu setzen.

Als dieser Versuch einer Neudefinition zunächst auch nicht zu einem signifikanten Zuwachs bei Wahlen beitrug, änderte die FPÖ 1986 ihre Strategie: Unter ihrem neuen Obmann Jörg Haider fokussierte sie sich nicht primär darauf, im bestehenden politischen System akzeptiert zu werden; sie setzte auf Opposition zum System insgesamt. Sie wurde zum Prototyp dessen, was bald in Europa als " Rechtspopulismus" gelten sollte. Dabei nutzte die Partei zunehmend eine fremdenfeindliche Rhetorik, die oft als rassistisch empfunden wurde. In dieser Phase ihres Aufstiegs scheute sich die FPÖ auch nicht, immer wieder den Nationalsozialismus zu relativieren.[1] Dies alles war eine Strategie rechtsextremer Zweideutigkeiten, die sich antielitär gebärdete – weshalb der FPÖ 1993 der Ausschluss aus der Liberalen Internationale drohte, dem die Partei durch einen Austritt 1993 zuvor kam, sie aber gleichzeitig von einer Kleinpartei zu einer Partei mittleren Größe wachsen ließ.

Fremdenfeindliche Profilierung unter Haider

Während die FPÖ in der kurzen, "liberalen" Phase unter Steger es möglichst unterließ, sich öffentlich bei Auftritten rechtsextremer Aktivisten zu zeigen, nahm die Partei unter Haider zwar schrittweise Abschied von einer traditionellen deutschnationalen Programmatik, aber provozierte nun wieder mehr – immer mit Blickrichtung auf ein Medienecho – bei Anlässen, die rechtsextreme Signale ausschickten, wie der Teilnahme dem eindeutig von SS-Traditionsverbänden dominierten Gedenken für Gefallene etwa am Ulrichsberg in Kärnten. Bei diesem und anderen Anlässen blieb die FPÖ freilich nicht allein, auch aus der ÖVP und der SPÖ kamen Signale, das Wählerreservoir der "Ehemaligen" nicht der FPÖ zu überlassen. Doch stärker als die Fortführung einer eindeutig rechtsextremen Traditionslinie traten bei der FPÖ nun Themen in den Vordergrund, die sich – ohne Bezug zur NS-Vergangenheit – als Protest gegen die "politische Klasse" der "Altparteien" SPÖ und ÖVP instrumentieren ließen. Diese Profilierung betraf vor allem die Nutzung vorhandener fremdenfeindlicher Ressentiments und machte – im Vorfeld von Österreichs Beitritt zur Europäischen Union 1994 – die FPÖ zur entschiedenen Stimme

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 173 gegen jede Öffnung der Grenzen Österreichs.

Diese partielle Verschiebung ihres Erscheinungsbildes von rechtsextrem zu rechtspopulistisch verhinderte jedoch nicht eine Isolierung der Partei in Europa. Als die FPÖ mit der ÖVP Anfang 2000 eine Koalitionsregierung bildete, war die Regierungsbeteiligung der Freiheitlichen der Grund für einen bilateralen diplomatischen Boykott aller anderen EU-Mitgliedstaaten; ein Boykott, dem sich auch weitere, nicht der EU angehörende Staaten anschlossen. Die Ambivalenz der FPÖ zwischen postnazistischer Apologetik und antieuropäischer Rhetorik hatte an ihrer Außenseiterposition nichts geändert. Sie blieb für die anderen europäischen Demokratien eine Partei außerhalb des akzeptablen " Mainstreams" der demokratischen Parteienvielfalt. Haider selbst hatte – bevor er 2008 bei einem Autounfall verstarb – noch versucht, seine eigene politische Akzeptanz zu verbessern: Er gründete 2004 eine neue Partei, das BZÖ (Bündnis Zukunft Österreichs), das sich von der "alten" FPÖ im Wesentlichen dadurch unterschied, dass es sich ohne wesentliche Bedingungen für eine Fortsetzung der Regierungsallianz mit der ÖVP einsetzte. Nach Haiders Tod verschwand das BZÖ rasch von der politischen Bildfläche, die FPÖ hatte ihre faktische Monopolstellung auf der äußersten Rechten des österreichischen Parteienspektrums gesichert.

Nach dem Ende der "Ära Haider" versuchte die FPÖ, sich vermehrt von der Belastung durch die NS- Wurzeln freizuspielen und sich gesamteuropäisch zu positionieren. Insbesondere durch Bündnisse mit anderen Parteien, die zwar mit der FPÖ nationalistische Positionen teilten, die aber – auch wegen ihrer unterschiedlichen nationalen Verankerung – nicht mit dem Nationalsozialismus verbunden waren, wie z.B. der französische Front National (FN) oder die niederländische Freiheitspartei (PVV).

Aufstieg als rechtspopulistische Partei

Die "neue", rechtspopulistische FPÖ wuchs zu einer Partei heran, die innerhalb weniger Jahre ihre Stimmenanteile bei Nationalratswahlen vervielfachen konnte. Sie gewann Zustimmung auf Kosten der traditionell dominierenden Parteien der rechten und der linken Mitte. Inzwischen ist die FPÖ, neben dem Front National in Frankreich und der niederländischen Freiheitspartei (PVV), zu einer der erfolgreichsten Parteien der auch als Fraktion im Europäischen Parlament organisierten äußersten Rechten Europas geworden.

Der Hintergrund ihres Erfolgskurses war weniger die Attraktivität der FPÖ selbst, sondern eher die deutlich abnehmende Fähigkeit der christdemokratisch-konservativen ÖVP und der sozialdemokratischen SPÖ, die traditionellen Loyalitäten innerhalb ihres jeweiligen Lagers auf eine junge Generation von Wählern und Wählerinnen zu übertragen. Der Auszug der Jungen aus den beiden traditionellen Großparteien begründete auch den Aufstieg der Grünen, die sich als Partei besonders deutlich und prinzipiell von der FPÖ abgrenzten – und eben die Erfolge der partiell neu formierten Freiheitlichen Partei. Diese Entwicklung zeigt eine zunehmende Polarisierung des Parteiensystems an: Nutznießer des wachsenden Abstandes der Jüngeren von den Parteien der Mitte sind die beiden am weitesten voneinander entfernten Parteien. So betonen die FPÖ und die Grünen auch bei allen möglichen Anlässen, dass sie einander wechselseitig als Bündnispartner prinzipiell ausschließen.

Die rechtspopulistische FPÖ hat sich in vielem, aber nicht in allem von ihren post-nationalsozialistischen Anfängen abgekoppelt:

• Inhaltlich hat sie sich entschieden vom traditionellen Deutschnationalismus österreichischer Prägung losgesagt. Statt eine verdeckte Nostalgie in Richtung "Anschluss" (an Deutschland) zu pflegen, ist die FPÖ zu einer betont österreichisch-patriotischen Partei geworden.

• Strukturell hat sie sich erfolgreich von einer bürgerlich-bäuerlichen Milieupartei (in der Tradition des "Landbundes" und der "Großdeutschen Volkspartei" der Jahre vor 1938) zu einer Volkspartei

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gewandelt, die in den letzten zwei Jahrzehnten insbesondere weite Teile der – vor allem männlichen – Arbeiterschaft gewinnen konnte. Die FPÖ ist jedenfalls in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts zur stärksten Arbeiterpartei Österreichs geworden[2][3].

• Die FPÖ wird – wie die anderen rechtspopulistischen Parteien (West)Europas auch – vor allem von "Modernisierungsverlierern" gewählt, die sich nicht abfinden wollen mit der Zuwanderung, für die Globalisierung und Europäisierung schuldig gemacht werden. Alle vergleichenden Analysen des Wahlverhaltens der letzten Jahre belegen die überproportionale Präsenz dieser von Abstiegsängsten bestimmten Teile der (west)europäischen Gesellschaften in der Wählerschaft rechtspopulistischer Parteien[4].

Nicht verändert hat sich der elitäre Kern der FPÖ: Die meisten Personen in der Führung der FPÖ kommen aus dem traditionellen deutschnationalen Milieu der schlagenden Studentenverbindungen (Burschenschaften, Corps) und des (Österreichischen) Turnerbundes. Nicht verändert hat sich auch, dass sich trotz der partiellen "ideologischen" Neuaufstellung der Partei als Verteidigerin von Demokratie und Rechtsstaat (des "Abendlandes") gewaltbereite Rechtsextreme immer wieder im Dunstkreis der FPÖ bemerkbar machen. Die FPÖ wird vom offenen Rechtsextremismus offenbar als Chance wahrgenommen, sich an das politische System andocken zu können. Sobald aber diese immer wieder auftretenden Verbindungen zu Personen mit rechtsextremen, etwa den Nationalsozialismus verherrlichenden oder fremdenfeindliche Gewalt propagierenden Tendenzen öffentlich bekannt werden, distanziert sich die FPÖ davon.

Da bedingt durch den Generationenwandel Wählerinnen und Wählern mit persönlichen Bezügen zum NS-Staat keine Bedeutung mehr zukommt, hat sich die FPÖ-Spitze demonstrativ auch von einer NS- Apologetik freigemacht. Beispiele dafür sind die Besuche des Parteiobmanns Heinz Christian Strache und des freiheitlichen Präsidentschaftskandidaten Norbert Hofer – beide durch ihre Mitgliedschaft in Burschenschaften aus dem deutschnationalen Kernmilieu der Partei ausgewiesen – in der Holocaust- Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem.

Die FPÖ hat offenkundig kein Interesse, als rechtsextrem im traditionellen (nationalsozialistischen, faschistischen) Sinne wahrgenommen zu werden. Sie hat aber auch kein Interesse, sich klar nach rechtsaußen abzugrenzen und aus der Grauzone wegzubewegen, die allein schon durch die Rekrutierungsbasis der Parteispitze gegeben ist. Ein Beispiel dafür ist der einmal im Jahr in Wien organisierte "Akademikerball", den die Führung der FPÖ als Veranstaltung des harten Kernes des traditionellen deutschnationalen Milieus (dem Dachverband schlagender Verbindungen) organisiert. Diese Veranstaltung war regelmäßig Treffpunkt des europäischen Rechtsextremismus/ Rechtspopulismus – und ebenso zu einem Treffpunkt europäischer Linksextremisten, die gegen den " Akademikerball" partiell unter Anwendung von Gewalt "gegen Sachen" demonstrieren (siehe Berichterstattung in "Der Standard", 30. Jänner 2016). Ein anderes Beispiel sind die Veranstaltungen, die jährlich am 8. Mai – dem Tag der Kapitulation des nationalsozialistischen Deutschland – von Repräsentanten des deutschnationalen Milieus und der FPÖ abgehalten werden: als eine Art Trauerfeier, die offiziell nicht der Niederlage der deutschen Wehrmacht (eine Niederlage, die ja auch die Befreiung Österreichs bedeutete), sondern undifferenziert allen Kriegstoten in Ländern (und damit auch umgekommenen Tätern) gewidmet ist.

Die Wählerstruktur der Partei hat sich in den letzten Jahrzehnten verschoben: Die FPÖ-Wählerschaft weist sie als eine mehr Wähler als Wählerinnen ansprechende Allerwelts- und Volkspartei auf, die vor allem gesellschaftliche Schichten ohne höhere Bildung anspricht.

Den vorläufigen Höhepunkt der Wahlerfolge der FPÖ erreichte sie, als ihr Kandidat Norbert Hofer im ersten Wahlgang der Direktwahl des österreichischen Bundespräsidenten am 24. April 2016 mit 35,1 Prozent die relative Stimmenmehrheit erreichte und in die Stichwahl kam, in der Hofer – Ausdruck des radikalen Bedeutungsverlustes von SPÖ und ÖVP – auf den Grünen Alexander Van der Bellen traf;

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 175 die Stichwahl, die Hofer zwar knapp verlor, die aber wegen der vom Verfassungsgerichtshof festgestellten Mängel wiederholt werden musste, und die Van der Bellen im zweiten Durchgang mit deutlicheren 53,8 Prozent gewann.

Die FPÖ hat die Gesamtlinie des westeuropäischen Rechtspopulismus wesentlich mitgeprägt: Sie steht für die Verteidigung einer nationalen Identität, die in ihrem Fall nicht mehr oder zumindest nicht mehr vordergründig die deutschnationale Identität in Form einer betonten Zugehörigkeit Österreichs zum "deutschen Volk" ist. Sie sieht diese Identität durch den transnationalen Charakter der Europäischen Union gefährdet und widerspricht grundsätzlich Tendenzen, die europäische Integration zu vertiefen; und sie versucht, vor allem wirtschaftlicher, kultureller und politischer Globalisierung und der damit verbundenen Migration entgegenzutreten. Beispiele dafür waren die entschiedene Opposition der FPÖ gegen den Beitritt Österreichs zur Europäischen Währungsunion ("Eurozone") und (in diesem Punkt in einer charakteristischen Übereinstimmung mit wesentlichen Kräften der politischen Linken) gegen den Abschluss von Freihandelsabkommen wie CETA und TTIP. Dabei nutzt die FPÖ soziale Medien, um vage Theorien zu verbreiten, die sich gegen vermeintliche Verschwörungszentralen richten, die vorgeblich auch die Politik der traditionellen politischen Eliten bestimmen.

Dass die FPÖ im Europäischen Parlament mit dem französischen Front National, dem belgisch- flämischen Vlaams Belang, der niederländischen PVV (Partij voor de Vrijheid), der italienischen Lega Nord u.a. eine Fraktion bildet, zeigt die europäische Dimension der politischen Positionen der FPÖ. Im Widerspruch zum Gedanken der europäischen Integration, aus der Vielfalt der Nationalstaaten eine friedliche Einheit zu schaffen, wirkt die FPÖ im Bündnis mit anderen, politisch weit rechts stehenden Parteien gegen eine solche Vertiefung Europas. Der Anti-Europäismus à la FPÖ ist repräsentativ für eine signifikante Gruppe europäischer Parteien.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Anton Pelinka für bpb.de

Fußnoten

1. Vgl.: (Anton Pelinka, Ruth Wodak (eds.), The Haider Phenomenon in Austria. New Brunswick, London 2002) 2. 3.Vgl.: David M. Wineroither, Herbert Kitschelt, Die Entwicklung des Parteienwettbewerbs in Österreich im internationalen Vergleich. In: Ludger Helms, David M.Wineroither (Hrsg.), Die österreichische Demokratie im internationalen Vergleich, Baden-Baden 2012, S. 211

4. Z.B. Ruth Wodak, Majid KhosraviNik, Brigitte Mral, eds., Right-Wing Populism in Europe. Politics and Discourse, London 2013

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Rechtspopulismus in Polen: Kaczyńskis Kampf gegen angebliche postkommunistische Eliten

Von Ulrich Krökel 6.1.2017 Ulrich Krökel ist Journalist mit dem Themenschwerpunkt Osteuropa. Seit 2010 arbeitet er als Korrespondent in Warschau für verschiedene deutschsprachige Print- und Onlinemedien, u.a. Berliner Zeitung, ZEIT und Spiegel online. Er berichtet vor allem über Ereignisse aus Polen, aber auch aus der Ukraine, Belarus, Ungarn und dem Baltikum. Daneben arbeitet und engagiert er sich für das Netzwerk für Osteuropa-Journalisten n-ost.

Seit die nationalkonservative PiS im seit Oktober 2015 in beiden Kammern des polnischen Parlaments die absolute Mehrheit gewonnen hat, versucht die Regierung, die polnische Gesellschaft tiefgreifend umzubauen. Ulrich Krökel erklärt, wie rechtspopulistisch die PiS inzwischen ist und beleuchtet dabei auch die Rolle des Parteipatriarchen Jarosław Kaczyński.

Jaroslaw Kaczynski, Vorsitzender der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), spricht bei einer Gedenkzeremonie in Warschau im Dezember 2015. (© picture-alliance/AP)

Jarosław Kaczyński hat im Sommer 2016 ein Buch vorgelegt, das als Autobiografie in den Handel kam. In Wirklichkeit erzählt es weniger die Geschichte eines Lebens als vielmehr vom erfolgreichen Kampf eines politischen Führers. Das Cover zeigt Kaczyński in Victory-Pose. Keine Frage: Der langjährige Vorsitzende der Partei Prawo i Sprawiedliwość (PiS, dt. Recht und Gerechtigkeit) wähnt sich nach dem Doppelsieg bei den Präsidenten- und Parlamentswahlen 2015 am Ziel. "Mission erfüllt ", verkündete er direkt nach dem Triumph, wobei er sich imaginär an seinen toten Zwillingsbruder Lech

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 177 wandte, den ehemaligen Präsidenten, der 2010 bei einem Flugzeugabsturz im russischen Smolensk ums Leben kam.

Die Kaczyński-Zwillinge haben die PiS 2001 gegründet. Heute ist sie eine Kaderpartei autoritären Typs, die von einer Vertikale der Macht durchzogen ist. An der Spitze steht der gleichsam unantastbare Vorsitzende Kaczyński. Kritiker wie der Warschauer Soziologe Aleksander Smolar oder die abgewählte Ministerpräsidentin Ewa Kopacz zeichnen das Bild eines Strippenziehers, der die PiS-Puppen auf der politischen Bühne tanzen lässt wie Marionetten. Tatsächlich hat der 67-Jährige kein Regierungsamt inne. Statt sich persönlich zu exponieren, nominierte Kaczyński Vertraute wie Andrzej Duda als Staatsoberhaupt und Beata Szydło als Premierministerin.

In dieser Konstellation kann die PiS seit dem Herbst 2015 "durchregieren". Sie verfügt über absolute Mehrheiten in Sejm und Senat, den beiden Kammern des polnischen Parlaments, und braucht kein Veto des Präsidenten zu fürchten. Die PiS nutzte diese Macht, um einen von Kaczyński entworfenen Masterplan[1] ohne Zögern umzusetzen. Noch vor dem Jahreswechsel peitschte die Fraktion mehrere Eilgesetze durch das Parlament und hebelte auf diese Weise die Unabhängigkeit der staatlichen öffentlich-rechtlichen Medien und die Arbeitsfähigkeit des Verfassungsgerichts aus. (http://www.bpb. de/216737/analyse-von-kaczyskis-gnaden-die-neue-nationalkonservative-regierung) Schon im Januar 2016, keine zwei Monate nach Amtsantritt der PiS-Regierung, leitete die EU-Kommission ein Rechtsstaatsverfahren gegen Polen ein.

Das Programm der PiS

Was aber will die PiS, außer einer gefestigten Machtposition, erreichen? Welches Programm verfolgt Kaczyński, dessen Namen politische Beobachter inzwischen in einem Atemzug mit Rechtspopulisten wie dem Ungarn Viktor Orbán, Geert Wilders in den Niederlanden, Marine Le Pen in Frankreich oder sogar US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump nennen?[2] Polnische Experten beschreiben die PiS seltener mit dem Begriff des Populismus als vielmehr mit Attributen wie "erzkonservativ, nationalistisch, katholisch-fundamentalistisch" oder auch "rechtssozialistisch".

Wer den Triumphzug der PiS im Wahljahr 2015, ihren ideologischen Kern, ihren spezifisch polnischen Rechtspopulismus und ihr Regierungshandeln verstehen will, muss einen Schritt zurücktreten. Kaczyńskis erwähnte Autobiografie trägt den sperrigen Titel "Einigung gegen die Monomacht. Aus der Geschichte der PC". Dabei steht PC für Einigung Zentrum, eine der vielen Parteien in der Frühphase des postkommunistischen Polens. PC-Gründer war Jarosław Kaczyński, und der Begriff "Monomacht " verweist intuitiv auf die Kommunistische Partei des Kriegsrechtsgenerals Wojciech Jaruzelski, die in Polen vor 1989 diktatorisch regierte.

Kaczyński versteht unter Monomacht aber deutlich mehr als nur die langjährige Einparteienregierung der KP. Aus seiner Sicht, das führt der PiS-Chef (nicht zum ersten Mal) in seinem Buch aus, hätten die Kommunisten ihre Alleinherrschaft keineswegs am Runden Tisch auf- und die Macht an das polnische Volk abgegeben. Stattdessen hätten sie 1989 mit einer von Lech Wałęsa (http://www.bpb. de/internationales/europa/polen/40660/vorreiter-des-umbruchs-im-ostblock) angeführten Fraktion der Solidarność-Opposition einen zutiefst faulen Kompromisshandel geschlossen, der sich vereinfacht auf die Formel Machterhalt durch Machtübergabe bringen ließe. Kaczyński zufolge kehrten die Kommunisten, geleitet von Wałęsa, als alte-neue Elite durch die Hintertür an die Schalthebel von Staat, Wirtschaft, Medien und Gesellschaft zurück.

Diese angebliche "Seilschaft" (Układ) aus korrumpierten Wałęsa-Leuten, gewendeten KP-Führern und Roten Direktoren habe das postkommunistische Polen ein Vierteljahrhundert lang beherrscht – und zwar zu Lasten des "einfachen Volkes", zu Lasten der "kleinen Leute", die ohne echte Aufstiegschancen geblieben seien, die außerhalb der aufblühenden Städte lebten und sich abgehängt fühlten oder abgehängt seien. So jedenfalls sieht es der einstige Solidarność-Sekretär Kaczyński, und es ist dieses Geschichts- und Politikverständnis, aus dem der antielitäre Populismus und nationalistische

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Paternalismus der PiS in der Gegenwart resultiert.

Auf der einen Seite "Polen", auf der anderen "Verräter"

Präsident Duda, Premierministerin Szydło und die PiS-Fraktion im Sejm sind unter Kaczyńskis Führung angetreten, um die angebliche Monomacht der postkommunistischen Eliten endgültig zu brechen und das polnische Volk in diesem Sinne ein zweites Mal nach 1989 zu befreien. Nicht zufällig lautet eine der wichtigsten Parolen der PiS-Populisten: "Tu jest Polska!" ("Hier, wo wir sind, ist Polen"). Im Umkehrschluss heißt das: Wo die PiS nicht ist, ist nicht Polen – wer nicht zur Partei steht, gehört nicht zum Volk. Explizit bezeichnete Kaczyński nach dem PiS-Wahlsieg die Regierungsgegner und die Vertreter der angeblichen Eliten als "die schlechteste Sorte von Polen" und fügte hinzu: "Diese Leute tragen den Verrat in ihren Genen."[3] Gemeint ist nicht zuletzt der Verrat nach 1989.

Warum dieser stark historisch unterfütterte Politikansatz ein Vierteljahrhundert nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems in Polen so erfolgreich ist, zeigte der Wahlkampf 2015. Die seit 2007 regierende liberal-konservative Bürgerplattform (PO) des heutigen EU-Ratspräsidenten Donald Tusk schien alle Trümpfe in der Hand zu halten. Regierungschefin Kopacz und Präsident Bronisław Komorowski, beide Tusk-Freunde und langjährige PO-Führer, waren im Land keineswegs unbeliebt, und die Wirtschaft befand sich seit dem EU-Beitritt 2004 im Daueraufschwung. Zu Jahresbeginn 2015 signalisierten Umfragen der PO ungefährdete Wahlerfolge.

In dieser Situation aber schottete sich die regierende Elite tatsächlich immer stärker von der Bevölkerung ab. Komorowski hielt es vor der Präsidentenwahl im Mai lange nicht für nötig, gegen den jungen "Kaczyński-Apparatschik" Duda zum TV-Duell anzutreten und sich dabei vor allem auch den Zuschauern zu präsentieren, den Menschen draußen im Land. Die Entfremdung zwischen "denen da oben" und "uns hier unten" wurde schlagartig sichtbar: Plötzlich strahlte sogar der bodenständige Komorowski jene Arroganz der elitären Macht aus.

So waren im Sommer zuvor, 2014, illegale Tonbandaufnahmen von PO-Spitzenpolitikern aufgetaucht, die in Warschauer Nobelrestaurants Intrigen spannen, Personalpolitik auf dem Rücken Dritter betrieben oder, wie Außenminister Radosław Sikorski, in unflätiger Sprache über Bündnispartner herzogen und eine "sklavenhafte Negermentalität" der Polen beklagten. Hinzu kam Tusks überstürzt wirkender Abgang von der Warschauer Bühne, ebenfalls 2014: Der Premier verabschiedete sich als Ratspräsident nach Brüssel und schien dadurch sein Desinteresse am Schicksal Polens zu dokumentieren.

Feindbild Brüssel

"Die da in Brüssel" sind seit jeher ein zweites Feindbild der PiS-Nationalisten um Kaczyński. Zwar wissen die meisten seiner Parteifreunde sehr gut, wie viel ihr Land ökonomisch, aber auch politisch der Westintegration zu verdanken hat. Einem "Polexit", einem Ausstieg Polens aus der EU nach britischem Brexit-Vorbild, hat Kaczyński eine klare Absage erteilt. Zugleich aber schürt die PiS immer wieder die Skepsis in der eigenen Bevölkerung gegenüber einer vermeintlichen Fremdbestimmung durch ferne Brüsseler Eliten, die womöglich, so suggerieren PiS-Politiker, aus Berlin gesteuert sein könnten, wobei historisch verständliche Ängste vor einer deutschen Dominanz in Europa aktiviert werden.[4]

In der Flüchtlingspolitik hat sich die PiS nicht zufällig von Anfang an gegen EU-Quoten und vor allem gegen den deutschen Ansatz einer Willkommenskultur positioniert. Kaczyński heizte im Wahlkampf 2015 die in Polen verbreiteten Ängste vor vermeintlichen Fremden an, insbesondere vor Muslimen. Zwei Drittel der Bürger bekennen in Umfragen ihren Unwillen, Flüchtlinge aus dem Nahen Osten oder Nordafrika aufzunehmen.[5] Kaczyński warnte zudem, Migranten könnten "alle Arten von Parasiten und Bakterien" einschleppen.[6]

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Allerdings ist die Flüchtlingspolitik in Polen, anders als im direkt betroffenen Ungarn, eher ein Randthema des politischen Diskurses. Die PiS setzte 2015 vor allem auf ein paternalistisches Programm, in dem sie den "kleinen Leuten" größere Stücke vom ökonomischen Kuchen des Dauerbooms versprach. Zehn Milliarden Euro zusätzlich will die PiS in der laufenden Legislaturperiode für ein neues Kindergeld und andere Sozialausgaben investieren, darunter die Rücknahme der Rente mit 67. Das kommt gut an in dem sozial gespaltenen Wirtschaftswunderland, in dem, ungeachtet aller Erfolge, in breiten Bevölkerungskreisen ein diffuses Gefühl des Zukurzgekommenseins vorherrscht.

Der Stettiner Soziologe Waldemar Urbanik erläutert hierzu: "Die Polen haben angefangen, Vergleiche anzustellen. Mehr als zehn Jahre nach dem EU-Beitritt verdienen sie im Durchschnitt noch immer nur ein Viertel dessen, was die Menschen in Westeuropa bekommen." Der Maßstab sei nicht mehr die untergegangene Volksrepublik, sondern das benachbarte Deutschland – ausgerechnet jenes Land, das viele Polen trotz deutlich gestiegener Sympathiewerte[7] noch immer misstrauisch beäugen.

Eine zweite Chance zur "Reinigung" der polnischen Gesellschaft

All dies zusammengenommen ebnete der PiS 2015 den Weg für ihren Durchmarsch an die Macht. Die Mehrheit der Wähler schien vergessen oder verdrängt zu haben, dass die PiS als stärkste Kraft einer rechtsnationalen Koalitionsregierung zwischen 2005 und 2007 bereits einmal regiert und das junge EU-Mitglied Polen zu einem Außenseiter in Europa gemacht hatte. So wollte Kaczyński, damals noch gemeinsam mit seinem Bruder Lech als Präsident, im Streit um eine EU-Verfassung das sogenannte Quadratwurzelprinzip[8] bei der Stimmgewichtung durchsetzen – und hatte 25 von 27 Mitgliedsstaaten gegen sich.

Dramatischer war aber die Entwicklung im Innern. Die Kaczyński-Zwillinge starteten schon vor zehn Jahren einen Frontalangriff auf die angebliche Układ-Elite. Damals wollten sie die gesamte Gesellschaft einer antikommunistischen Lustration[9] unterziehen, einer Reinigung, und die Menschen zu diesem Zweck bis hinein ins Privatleben durchleuchten, um auf diesem Fundament eine Vierte Republik aufzubauen, einen nationalkonservativen Staat der katholischen Polen.

Die aufgeschreckten Bürger setzten dieser Revolution von oben in der Neuwahl 2007 ein schnelles Ende. 2015 aber gaben sie der PiS, die sich im Wahlkampf rhetorisch von der Idee einer Vierten Republik verabschiedet hatte, eine zweite Chance. Nach der Regierungsübernahme aber kehrte Kaczyński schnell zu alten Forderungen und Drohungen zurück: "Wir werden den Staat von diesen alten Seilschaften säubern", verkündete er 2006 wie 2016.

Der 67-Jährige und seine Gefolgsleute machen auch kein Geheimnis daraus, auf welcher Grundlage dies geschehen soll. Die zentrale Leitlinie formulierte der erzkonservative Sejm-Abgeordnete Kornel Morawiecki kurz nach Regierungsantritt der PiS. Der ehemalige Solidarność-Kämpfer erklärte: "Das Wohl und der Wille des Volkes stehen über dem Recht."

PiS-Kritiker wie der liberale polnische EU-Abgeordnete Jozef Pinior sahen "in dieser Interpretation des Rechts eine Nähe zu faschistischem Gedankengut"[10]. Wie aber ist vor diesem Hintergrund der ideologische Kern der PiS zu bewerten: als nationalistisch, erzkonservativ, rechtspopulistisch oder schon als neofaschistisch? Strebt Kaczyński eine autokratische oder sogar eine diktatorische Herrschaft an?

Das linksliberale Magazin "Newsweek Polska" (https://www.eurotopics.net/de/148735/newsweek- polska) präsentierte nach dem doppelte Wahlsieg der PiS im Herbst auf dem Titel ein Schwarz-Weiß- Porträt von Kaczyński, auf dessen Kopf eine goldene Krone prangte, halb übermalt von dem Schriftzug: "Haupt des Staates". Kaczyński verfüge über eine fast absolute Macht, wie einst der französische Sonnenkönig Ludwig XIV., von dem der Ausspruch stammt: "Der Staat bin ich." Der linke Ex-Präsident Alexander Kwaśniewski bemühte in einem Interview mit dem Fernsehsender TVP ein anderes Bild: "Kaczyński will die Rolle eines (nationalen) Führers ausfüllen", erklärte er und spielte

bpb.de Dossier: Rechtspopulismus (Erstellt am 20.05.2021) 180 mit dem polnischen Begriff "Lider", der weniger auf Adolf Hitler verweisen sollte als auf Viktor Orbán in Ungarn oder Wladimir Putin in Russland.

Auf den Spuren der autoritären Zwischenkriegsregierung Piłsudski

Es gibt aber noch eine andere, eher historisch argumentierende Sicht auf Kaczyński, die dessen Weltverständnis möglicherweise näher kommt. Ein langjähriger Weggefährte des PiS-Chefs, der erzkonservative ehemalige Familienminister Roman Giertych, schrieb Ende 2015 auf seiner Facebook- Seite, Kaczyński wolle in die Fußstapfen des Marschalls Józef Piłsudski (http://www.bpb.de/ internationales/europa/polen/40655/1918-1945) treten, der Polen von 1926 bis 1935 quasi-diktatorisch regierte. "Kaczyński hat die Manie, ein zweiter Piłsudski zu sein und dessen Vermächtnis erfüllen zu müssen", erläuterte Giertych.

Tatsächlich hat die PiS ihre aktuelle Politik unter die Überschriften der "Sanierung des Staates" und der "Genesung der Gesellschaft" gestellt. Genau dies war der Kern von Piłsudskis Ideologie, dessen Bewegung sich "Sanacja" (Heilung) nannte und sich die Gesundung der Nation auf die Fahnen geschrieben hatte. Andere intime Kaczyński-Kenner wie die Soziologin und langjährige PiS- Vordenkerin Jadwiga Staniszkis halten den 67-Jährigen allerdings für "extrem intelligent" und damit auch für klug genug, die Grenzen des autoritären Regierens in einem Land zu erkennen, das in die EU eingebunden ist und dies auch bleiben will.

Unter dem Strich orientiert sich die "Sanierungspolitik" der PiS an erzkonservativen, teils katholisch- fundamentalistischen Werten im Innern und einem EU-skeptischen, vor allem aber interessengelenkten Nationalismus in der Außenpolitik. Anliegen von Liberalen, Linken und Ausländern haben in diesem Polen keinen oder nur einen marginalen Platz. PiS-Außenminister Witold Waszczykowski brachte es auf die Formel: "Die Welt muss sich nicht nur in eine Richtung bewegen, hin zu einem Mix von Kulturen und Rassen, zu einer Welt aus Radfahrern und Vegetariern, die nur noch auf erneuerbare Energien setzen und gegen jede Form der Religion kämpfen."

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Ulrich Krökel für bpb.de

Fußnoten

1. Kaczyński verkündete schon im Wahlkampf wiederholt: „Wir haben einen großen Plan“ (http:// www.tvp.info/22319195/kaczynski-mamy-wielki-plan). 2. Siehe z.B. die Überblicksdarstellungen auf http://www.tagesspiegel.de/politik/nach-front-national- sieg-in-frankreich-die-rechtspopulisten-treiben-europa-vor-sich-her/12691392.html und http:// www.pri.org/stories/2016-02-26/five-european-leaders-most-likely-be-donald-trump-s-soulmate 3. Jarosław Kaczyński am 11.12.2015 in TV Republika: https://www.youtube.com/watch?v= SKFgVD2KGXw (Minute 1:20 ff.) 4. Ein typisches Beispiel sind die Aussagen des heutigen PiS-Außenministers Witold Waszczykowski, der im Wahlkampf 2015 in einem Radio-Interview sagte: „Die Deutschen haben angesichts von [US-Präsident] Obamas Schwäche Blut geleckt. Sie arbeiten auf die Übernahme der Dominanz in Europa von den Amerikanern hin. Dieses ehrgeizige Spiel von Frau Merkel ist sehr gefährlich.“ 5. http://www.polskieradio.pl/5/3/Artykul/1647773,Sondaz-66-proc-Polakow-przeciwnych-przyjmowaniu- uchodzcow 6. http://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/wahlkampf-in-polen-jaroslaw-kaczynski-ueber- fluechtlinge-13856938.html 7. Einer Umfrage aus dem Jahr zufolge erklären 39 Prozent der befragten Polen ihre Sympathie für

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Deutschland. Knapp 20 Jahre zuvor waren es nur 23 Prozent. Vgl. http://www.rp-online.de/ panorama/wissen/frueher-feinde-heute-freunde-aid-1.4485818 8. Zum Quadratwurzelprinzip siehe http://www.zeit.de/2007/26/Quadratwurzel 9. Vgl. Polen-Analysen Nr. 17 vom 17.7.2007: http://www.laender-analysen.de/polen/archiv.php oder auch http://www.dw.com/de/lustration-in-polen-aufkl%C3%A4rung-oder-hexenjagd/a-2440806 10. http://www.tokfm.pl/Tokfm/1,103454,19271503,nad-prawem-dobro-narodu-pinior-o-slowach-morawieckiego- to.html

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Wie Marine Le Pen den Front National modernisierte

Von Bernard Schmid 12.5.2014 Bernard Schmid lebt seit 15 Jahren in Paris und arbeitet dort als Jurist in einer NGO zur Rassismusbekämpfung sowie als freier Journalist. Zu seinen Themenschwerpunkten gehören Gewerkschaften und soziale Bewegungen in Frankreich, die französische extreme Rechte, Nordafrika. Er ist Autor mehrerer Bücher, darunter "Distanzieren, leugnen, drohen – Die europäische extreme Rechte nach Oslo" (Edition assemblage). Seine neuste Publikation ist "Frankreich in Afrika. Eine Neokolonialmacht in Europa im 21. Jahrhundert" (Unrast Verlag).

Der Front National in Frankreich ist auf dem Vormarsch. Bei den Kommunalwahlen Ende März 2014 konnte die rechtsextreme Partei um Marine Le Pen deutlich zugewinnen. Im Vorfeld der Europaparlamentswahlen von Ende Mai sagen die Umfragen ihr landesweit gar 20 bis 24 Prozent der Stimmen und einen Platz als stärkste oder zweitstärkste Partei vorher. Marine Le Pen, die im Januar 2011 den Parteivorsitz von ihrem Vater übernommen hat, gilt als Modernisiererin der Partei. Aber sind ihre Reformen wirklich alle so neu?

Der junge Mann versteht die Aufregung zuerst gar nicht. In aller Unschuld hatte er einige Fotos auf seiner Facebook-Seite veröffentlicht, "zu Ehren für meinen italienischen Großvater". Die Aufnahmen zeigen den faschistischen Duce, Benito Mussolini, in den frühen 1940er Jahren. Wiederum in Andenken an den Opa, der seinerzeit das Schwarzhemd trug, heißt es auf der Webseite: "Faschist zu sein, ist kein Verbrechen." Dass man sich darüber in der Öffentlichkeit empören könnte, bekommt Joseph Vitrani scheinbar erst mit, als die Regionalzeitung Le Progrès über die Angelegenheit berichtet. Zwei Tage später kann diese das Verschwinden der Fotos von der Facebook-Seite vermelden.[1]

Als der 33-Jährige diese Worte schrieb, war er Kandidat. Als Bewerber zu den französischen Rathauswahlen vom 23. zum 30. März 2014 stand er auf dem 36. Listenplatz - von insgesamt 39 - in Roanne, einer Stadt ungefähr auf halbem Wege zwischen Lyon und Clermont-Ferrand. Dort trat er für den Front National (FN), die von Marine Le Pen angeführte Partei, zur Kommunalwahl an.

Dieser Affäre bildete nur einen der Skandale, den Kandidaten des FN vor den französischen Kommunalwahlen vom März 2014 verursachten. Es begann mit der Veröffentlichung eines brennenden Davidsterns durch einen Kandidaten namens François Chatelain auf seiner Facebook-Seite; er wurde am 3. September 2013 aus dem FN ausgeschlossen. Eine Spitzenkandidatin der Partei in Rethel in den Ardennen bezeichnete die schwarze Justizministerin Christiane Taubira im Oktober als " Affenweibchen" und "Wilde". Auch sie musste den FN verlassen.

Nichtsdestoweniger schadeten die diversen "PR-Unfälle" der rechtsextremen Partei auf Dauer kaum. Zur Kommunalwahl trat der Front National schließlich in knapp 600 Kommunen mit mehr als 1.000 Einwohnern zur Wahl an. Landesweit kam die Partei auf rund sechs Prozent der Stimmen. Doch in jenen Kommunen, wo der FN tatsächlich gewählt werden konnte, erzielte er im Durchschnitt 14,8 Prozent der Stimmen.[2]

Zurück zu Vitrani. Nach dem Bekanntwerden der Affäre um die Mussolini-Fotos kündigte die Bezirksvorsitzende der rechtsextremen Partei, Sophie Robert, ein Ausschlussverfahren gegen Vitrani an. Darüber hinaus hatte der Kandidat entgegen der offiziellen Strategie der dédiabolisation (ungefähr: Entteufelung, Entdämonisierung) gehandelt, die Marine Le Pen seit ihrem Antritt als Parteivorsitzende verkündet hatte. Bei weitem nicht alle Parteimitglieder und -funktionäre allerdings folgen diese Linie.

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Ihr eigener Vater, Jean-Marie Le Pen, der den Vorsitz der Partei seit ihrer Gründung am 5. Oktober 1972 bis Anfang 2011 innehatte, kommentierte dazu etwa: "Un FN gentil, ça n’intéresse personne" (" Ein netter FN interessiert niemanden"). Unter Marine Le Pen allerdings wurde die dédiabolisation offizieller Kurs der Partei.

Bezüge zum historischen Faschismus

Dass Joseph Vitrani mit seinen – gar zu offen ausgebreiteten – historischen Referenzen derart aneckte, verwundert aber durchaus. Denn als der französische Front National im Oktober 1972 in einem Veranstaltungssaal in Paris lanciert wurde, stand die italienische neofaschistische Partei MSI (Movimento sociale italiano) Pate. Ohne die aktive Beihilfe der bereits im Dezember 1946 entstandenen und parlamentarisch verankerten MSI wäre die Gründung des FN, der damals eine Reihe zerstreuter und zersplitterter Gruppen sammeln und bündeln sollte, niemals so erfolgreich verlaufen. Die italienischen Neofaschisten verfügten über Geld, das der zu jenem Zeitpunkt schwachen extremen Rechten in Frankreich fehlte. In der offiziellen Parteidruckerei des MSI wurden zur Gründung der französischen Bruderpartei bergeweise Plakate gedruckt[3].

Der Front National übernahm damals auch das Parteisymbol des MSI – eine züngelnde Flamme in den drei Nationalfarben: Aus dem italienischen Grün-Weiß-Rot wurden die Farben der Trikolore blau- weiß-rot. Bis heute ist die flamme bleu-blanc-rouge das markante Erkennungszeichen, das alle Plakate des Front National ziert. Im italienischen Kontext der Nachkriegszeit, in der die dortigen Neofaschisten ihre eigene Partei aufbauten, stand das Flammenzeichen übrigens für eine sehr bestimmte Idee. Es symbolisierte die Seele von Benito Mussolini, welche aus dem Sarg gen Himmel aufsteigt[4].

Dass der FN eine vollständige und tatsächliche "Entfaschisierung" durchlaufen hätte, lässt sich also kaum ernsthaft behaupten. Nichtsdestoweniger hat die Partei unter Marine Le Pen ein anderes Verhältnis zur Vergangenheit, zum historischen Faschismus und zum Nazismus aufgebaut als es zu Zeiten ihres Vaters und Vorgängers Jean-Marie Le Pen galt.

Neues Verhältnis zum Antisemitismus und zur Homosexualität

Der symbolisch stärkste Bruch Marine Le Pens mit der Politik ihres Vaters bestand zunächst einmal darin, dass sie antisemitisch konnotierte Wortspiele sowie sämtliche Anspielungen auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs und auf den historischen Faschismus unterließ. Dazu erklärte sie in einem Statement im Wochenmagazin Le Point, das sie selbst als abschließend betrachtete, am 3. Februar 2011: "Die nationalsozialistischen Lager waren der Gipfel der Barbarei." Diese relativ banale Erklärung wurde von Teilen der Presse wie eine Sensation behandelt. Im Vergleich zu früheren Aussprüchen ihres Vaters erschien Marine Le Pens Aussage von einer derartigen Klarheit, dass manche Beobachter überrascht waren.

Ähnlich brach Marine Le Pen mit der traditionell in der extremen Rechten stark verankerten Homophobie, was anlässlich der Massendemonstrationen gegen die Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare (seit Ende 2012 angekündigt und durch ein am 18. Mai 2013 in Kraft getretenes Gesetz vollzogen) zutage trat. Mehrfach demonstrierten zwischen dem 17. November 2012 und dem 2. Februar 2014 hunderttausende Franzosen gegen die "Ehe für alle", wie der Titel der gesetzlichen Reform lautete. Die Haltung des Front National zu den Demonstrationen aber war gespalten. Vor allem Parteichefin Marine Le Pen gab sich reserviert: Zum Einen war sie überzeugt, dass es in Wirklichkeit eher "die wirtschaftlichen und sozialen Themen" seien, die die französische Gesellschaft im Allgemeinen und die Wählerschaft ihrer Partei im Besonderen berührten. So genannte "weiche" oder "postmaterielle " Themen wie die Debatte um die Homo-Ehe seien nur Ablenkungen, mit denen die etablierten Parteien (ob für oder gegen die Einführung der Homosexuellenehe) die Aufmerksamkeit von der wirtschaftlichen Misere ablenkten. Zum Anderen wollte Marine Le Pen anfänglich aber auch vermeiden, ihre Partei in der öffentlichen Wahrnehmung in die superreaktionäre Mief-Ecke zu stellen. Da sie sich seit ihrem Antritt als Parteivorsitzende verstärkt um neue Wählerschichten – Frauen, jüngere Generationen,

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Leute mit höherem Bildungsgrad – bemüht hatte, die bislang dem FN eher fern standen, und da sie darüber hinaus zu Anfang nicht vom Erfolg der Demonstrationen überzeugt war, blieb sie auf Abstand.

Diese Haltung war wohl auch vom Erfolgsmodell der niederländischen Rechtsaußenparteien beeinflusst. Diese setzte erst in den Jahren 2001 und 2002 unter Pim Fortuyn, später – ab 2006 – unter Geert Wilders darauf, Frauen- oder Homosexuellenrechte nicht zu attackieren, sondern sich im Gegenteil als deren "Verteidigern" darzustellen. Als Hauptfeinde der individuellen Rechte von emanzipierten Frauen oder Homosexuellen wurden dagegen die muslimischen Einwanderer stilisiert. Zwar kopierte Marine Le Pen die Strategie Fortuyns oder Wilders' nicht komplett, doch unternahm sie mit ihrer Absage an die Demonstrationen gegen die Homo-Ehe den Versuch, unterschiedliche Kräfte gegen einen gemeinsamen (muslimischen) Hauptfeind zu bündeln. Darunter solche, die der extremen Rechten bislang fern standen.

Le Pens Haltung zur "Ehe für alle" war in der Partei jedoch stark umstritten. Ihr Vater Jean-Marie Le Pen erklärte seine Unterstützung für die Proteste, ohne freilich persönlich zu erscheinen – was auch mit seinem hohen Alter zusammenhängen könnte. Ihre Nichte Marion-Maréchal Le Pen, die 23 Jahre junge Abgeordnete in der Nationalversammlung, sowie deren parteiloser, aber ebenfalls für den FN gewählter Parlamentskollege Gilbert Collard nahmen allerdings persönlich an den Demonstrationen teil. Auch viele Parteifunktionäre und -mitglieder beteiligten sich daran.

Sozialer und wirtschaftlicher Diskurs

Marine Le Pen gilt auch auf einem weiteren Feld als Modernisiererin des Front National: Sie steht – in diesem Falle eher vermeintlich als tatsächlich – für Neuerungen im sozialen Diskurs. Allerdings ist nichts falscher als die Annahme, dass der Front National unter Marine Le Pen eine neue "soziale Sensibilität" zeige. Die "national-soziale" Wende der rechtsextremen Partei, weg vom klar wirtschaftsliberalen Diskurs der 1980er Jahre, datiert aus dem Zeitraum um 1990. Als die Berliner Mauer fiel und der sowjetische Block implodierte, setzten führende Parteistrategen darauf, die vermeintliche Erbmasse des "toten Marxismus" zu übernehmen, die soziale Frage zu okkupieren und sich selbst zur "einzigen radikalen Opposition" aufzuschwingen.

Marine Le Pen übernimmt im Grunde nur die damals erprobten "sozialen" Versatzstücke in den Diskurs und die Programmatik der Partei und verknüpft sie systematisch mit dem Prinzip der "préférence nationale" (ungefähr: "Inländerbevorzugung"): Soziale Versprechen richten sich nur an Franzosen, es soll auch keinesfalls zwischen Arbeit und Kapital umverteilt werden, sondern ausschließlich zwischen Franzosen und Ausländern. Das bedeutet unter anderem, dass für Immigranten getrennte Sozialkassen eingerichtet werden und soziale Leistungen wie etwa Kindergeld und Sozialhilfe ausschließlich an Inländer (nationaux) gezahlt werden sollen.

Zum Kern des rechtsextremen "Sozial"diskurses gehört auch die Vorstellung, dass fast jede soziale Problematik – Arbeitslosigkeit, Druck auf die Löhne, Verarmung – aus der "Globalisierung" resultiert. Während etwa keynesianische oder marxistische Ökonomen und andere Wirtschaftstheoretiker ab den frühen 1990er Jahren auch in Frankreich zunehmend von der "mondialisation" - der Globalisierung - sprachen, wandelte der FN den Begriff damals in "mondialisme" ab. Durch die Endung -ismus als Ideologie gekennzeichnet, diente der Begriff den Rechtsextremen dazu, einen vermeintlichen gezielten Angriff "auf die Nationen" zu charakterisieren: Es existiere eine Art Komplott, das unter anderem zum Gegenstand habe, die Warenproduktion aus Frankreich oder anderen europäischen Ländern abwandern zu lassen, um die entsprechenden Nationen zu schwächen. Zum "mondialisme", also sinngemäß zur "Eine-Welt-Ideologie", wurden auch der Antirassismus, die Universalität der Menschenrechte (abschätzig als "droitdelhommisme" bezeichnet, von droits de l’homme für " Menschenrechte"), der Internationalismus und "antinationale Lobbygruppen" gezählt. Im Munde von Jean-Marie Le Pen ähnelte die Definiton des "mondialisme" stark einer leicht modernisierten Version der "jüdischen und freimaurerischen Weltverschwörung".

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Marine Le Pen hat mehr oder weniger viel Wasser in den Wein dieser Ideologie gegossen. Auch sie stellt Globalisierung, Produktionsverlagerungen, "ungeschützte Grenzen" und "ungebremsten Freihandel" als Kernpunkt jeglicher sozialen Problematik dar – die aktuelle Entwicklung sei gleichermaßen eine Attacke gegen die Nationen wie gegen die abhängig Beschäftigten. So weit nichts Neues. Allerdings versucht Marine Le Pen das von ihr vorgeblich angeprangerte Übel zu objektivieren. Im scheinbaren Gleichklang mit keynesianischen Ökonomen und Kritikern der "neoliberalen Globalisierung" (etwa Jacques Sapir, den sie gerne und häufig zitiert) oder mit Umweltschützern, die den Ressourcenverbrauch durch das Anwachsen internationaler Transporte kritisieren, spricht sie von der "mondialisation". Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass der Kern der Globalisierungskritik gleich geblieben ist: Auch die "mondialisation" wird von der extremen Rechten sowohl für die Produktionsverlagerung ins Ausland als auch für den Zuzug von Migranten ins Inland verantwortlich gemacht. Beides müsse man einhegen und tunlichst rückgängig machen, um das vermeintlich idyllische Näheverhältnis der Bevölkerung (in ihrem je eigenen angestammten Kulturkreis) und der Produktion (am besten an Ort und Stelle) wieder herzustellen. Das ist nach wie vor das Kernanliegen des Front National auch unter Marine Le Pen. Verpackt wird das Ganze nunmehr jedoch in ein diskursives "Gesamtpaket", das gespickt ist von Zitaten aus dem Kontext gewerkschaftlicher Argumentationen, von Attac-Publikationen oder ökologischen Kritiken am globalisierten Neoliberalismus.

Der Front National und die Europapolitik

Aus Frankreich wird im Mai dieses Jahres die "dienstälteste" Vertretung der extremen Rechten ins Europäische Parlament einziehen. Tatsächlich sitzt der FN seit der Wahl vom 17. Juni 1984 ohne Unterbrechung im Europaparlament. Insofern war er früher dort vertreten als andere, einflussreiche rechtsextreme Parteien in der EU: Österreich gehörte der damaligen Europäischen Gemeinschaft im Jahr 1984 noch nicht an, die osteuropäischen Staaten ebenfalls nicht. In Italien existierte die – 1989 gegründete - Lega Nord noch nicht; die Neofaschisten vom Movimento Sociale Italiano (MSI) wiederum waren zwar schon vor dem FN als Wahlpartei erfolgreich, aber bestehen heute nicht mehr in ihrer damaligen Form. Ihre Erben sind auf mehrere Gruppierungen verteilt.

Aktuell sagen die Umfragen dem Front National einen triumphalen Wiedereinzug ins Europäische Parlament voraus. Manche Demoskopen gehen davon aus, dass der Front National bei der Wahl zur stärksten oder zweitstärksten Partei in Frankreich werden könnte. Eine im Februar 2014 veröffentlichte Umfrage zeigte, dass die Zustimmung zu "den Ideen des FN" mit 34 Prozent in der Gesellschaft insgesamt und 44 Prozent in der Wählerschaft der bürgerlich-konservativen Rechten neue Rekordhöhen erreicht hat. Allerdings zählt dder Austritt aus der Gemeinschaftswährung Euro eher zu den weniger populären Forderungen und findet über den harten Kern der FN-Wählerschaft hinaus kaum Anklang. (Lediglich 29 Prozent der Befragten wollen den Euro verlassen, 64 Prozent dagegen lieber nicht.) Weil ein Austritt aus der Währungsunion von den ökonomischen Eliten des Landes abgelehnt wird, laviert die Parteiführung in dieser Frage bereits seit 2012. Mal sollen die Franzosen in einer Volksabstimmung zur Euro-Frage Stellung nehmen. Mal soll es gar eine Konferenz aller beteiligten Länder und eine gemeinsam koordinierte, kontrollierte Auflösung der Euro-Zone geben.

Ist Marine Le Pen also tatsächlich die große Modernisiererin? Als Quintessenz lässt sich festhalten, dass beileibe nicht alles neu ist, was durch die Medien als solches dargestellt wird. Allerdings hat sich das Auftreten und die Positionierung des Front National sehr wohl verändert. Dabei mischen sich die Auswirkungen eines Generationswechsels, strategische Entscheidungen zugunsten mancher Neupositionierungen sowie die allgemeine wirtschaftliche und soziale Situation. Denn im Kontext der seit 2008 andauernden Krise findet ein protektionistisch klingender Diskurs leichter Anklang als ein offen wirtschaftsliberaler – jedenfalls bei einer Partei, die aus einer langjährigen Oppositionsrolle heraus als "Protestkraft" auftritt.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Bernard Schmid für bpb.de

Fußnoten

1. Le Progrès (Lyon), 11. März und 13. März 2014. 2. Die Rathauswahlen sind für kleinere und mittlere Parteien eine relativ schwierige Aufgabe in Frankreich. Die Parteien dürfen nur "vollständige" Listen einreichen, die ebenso viele Namen aufweisen wie das jeweilige Kommunalparlament Sitze enthält. In aller Regel können kleine und mittlere Parteien in der Fläche gar nicht so viele Kandidaten benennen. Deswegen ist das theoretische Gesamtergebnis des FN (landesweit rund sechs Prozent) auch nichtssagend. Aussagekräftiger ist der Hinweis, dass die Listen des FN dort, wo sie tatsächlich antraten, im Durchschnitt 14,8 Prozent der Stimmen erhielten. 3. Vgl. dazu beispielsweise Alexandre Dézé: Le Front national: à la conquête du pouvoir?, Paris 2012, Seite 48, mit Abbildungen, die einen graphischen Vergleichen zwischen damaligen Plakaten des MSI und des FN ermöglichen. 4. An die Herkunft der dreifarbigen Flamme erinnerte an dieser Stelle auch eine Webseite von faschistischen Nostalgikern, denen der offizielle Kurs des FN "zu weich" ist: http://la-flamme. fr/2012/05/les-nationalistes-du-fn-avaient-raison-la-flamme-revient/ (http://la-flamme.fr/2012/05/ les-nationalistes-du-fn-avaient-raison-la-flamme-revient/)

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30.1.2019

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