Titel Der charmante Verbrecher war der mächtigste Minister und zeitweise engste Vertraute Adolf Hitlers. Nach seiner Haftentlassung 1966 präsentierte er sich als der gute Nazi – und wurde zur Symbolfigur für Millionen Mitläufer. Nun haben Historiker die wahre Geschichte recherchiert. Von Klaus Wiegrefe JAD WASHEM JAD WALTER FRENTZ COLLECTION, FRENTZ COLLECTION, WALTER Selektion von Juden in Auschwitz (1944): Einblicke in den Arkanbereich des Regimes

ls britische Posten um Mitternacht er Gefängnis voll geschrieben und nach mächtigster Minister den Diktator als „Ver- des 1. Oktober 1966 die Tore des draußen schmuggeln lassen. Nach seiner brecher“ bezeichnete und sich ohne das Aalliierten Gefängnisses in Berlin- Freilassung schrieb er mit Hilfe der Notizen verbreitete Selbstmitleid zur „Verantwor- Spandau öffneten, wurde Albert Speer von Bücher, die zu Millionenbestsellern wur- tung“ am Holocaust bekannte. gleißendem Scheinwerferlicht geblendet. den. Die „Erinnerungen“ von 1969 und die Aber Speer bediente auch – und vor al- Über hundert Journalisten und Tausende „Spandauer Tagebücher“ von 1975 zählen lem – die Apologeten des Nationalsozialis- Schaulustige begrüßten Hitlers einstigen bis heute zu den meistverkauften Werken mus. Denn allen Schuldbekenntnissen zum Stararchitekten und späteren Rüstungs- der deutschen Sprache. Fast ununterbro- Trotz wollte der ehemalige Intimus des minister wie einen Popstar. Nur mühsam chen klingelte bei Speers in Heidelberg das Führers („Wenn Hitler überhaupt Freunde bahnte sich die schwarze Mercedes- Telefon: Reporter, Historiker oder Inter- gehabt hätte, wäre ich bestimmt einer sei- Limousine mit Speer, seiner Frau und essierte, die über die Vergangenheit spre- ner engen Freunde gewesen“) an seiner seinem Anwalt den Weg durch die Menge, chen wollten, riefen an oder schickten persönlichen Integrität keine Zweifel zu- in der Volksfeststimmung herrschte. Und Briefe, wie die Speer-Biografin Gitta Se- lassen. Ein unpolitischer Fachmann – das das war nur der Anfang. reny bei ihren Besuchen miterlebte. Im war das Bild, das Speer schon 1945 in Zu 20 Jahren Haft hatte das alliierte Tri- Restaurant grüßten wildfremde Menschen Nürnberg von sich gezeichnet hatte. Und bunal in Nürnberg Speer wegen Kriegs- vom Nachbartisch. Hunderttausende schal- da die alliierten Ankläger sich nicht aus- verbrechen und Verbrechen gegen die teten die Fernseher ein, wenn Speer vor reichend vorbereitet hatten, entging er Menschlichkeit verurteilt. Nach seiner der Kamera Rede und Antwort stand. knapp einem Todesurteil. Dem SPIEGEL Freilassung wurde der großgewachsene, Das Interesse galt nicht nur dem Insider erklärte er nach seiner Freilassung, er habe schlanke und gutaussehende Mann zu ei- der Nazi-Führung, der nüchtern und intel- von dem, was in den Konzentrationslagern ner geachteten und umworbenen Größe ligent Einblicke in den Arkanbereich des geschah, „nur eine vage Ahnung“ gehabt, der westdeutschen Gesellschaft. Er war der Regimes gewährte. Nach Jahrzehnten des und dabei blieb es. liebste Ex-Nazi der Bundesbürger. öffentlichen Schweigens der Tätergenera- Es war diese Haltung, die Speer zum Hunderte und Aberhunderte von Kassi- tion empfanden es Schüler und Studenten wohl wichtigsten Exkulpator des Dritten bern hatte der Häftling Nr. 5 im Spandau- damals geradezu als befreiend, dass Hitlers Reiches in den Nachkriegsjahrzehnten

74 der spiegel 18/2005 Diktator Hitler, Minister Speer (r.) bei einer Waffenvorführung in Rügenwalde (1943): Mehr als nur Sympathie werden ließ: Wenn schon die zeitweilige grer, sympathischer und kultivierter Zeit- zumal Speer mit Siedler und insbesondere Nummer zwei des Regimes vom Holocaust genosse? dem späteren „FAZ“-Herausgeber Joachim nichts gewusst habe, wie hätten dann die Speer erschien vielen als der „Engel, der Fest einflussreiche und wortgewaltige Mit- Volksgenossen informiert gewesen sein aus der Hölle kam“, erklärt sein Verleger streiter zur Seite standen. können? Und bewies nicht zudem der Wolf Jobst Siedler den sensationellen Er- Fest hatte sich bereits Anfang der sech- charmante und gewinnende Speer, dass folg der Rechtfertigungsbücher, welche die ziger Jahre ein Bild von Speer gemacht, das man beides sein konnte: loyaler Mitarbei- Saga vom „feinsinnigen Schuldig-Unschul- sich nicht allzu sehr von dessen Selbststili- ter, ja sogar Freund Hitlers fast bis zum digen“ (Alexander Mitscherlich) in die sierungen in Nürnberg unterschied. Der Schluss – und zugleich ein scheinbar inte- Welt trugen. Der Rüstungsminister wurde brillante Publizist sah in der einstigen NS- zur Galionsfigur jener oft erzählten Spitzenkraft den „spezialistisch verengten Geschichte vom idealistischen und Menschen“, wie er in jedem politischen tüchtigen Deutschen, der von Hitler System zu finden sei. Als Fest 1966 Speer verführt worden war. Der einstige beim Schreiben der Erinnerungen zur Adlatus nahm sich in dieser Per- Hand ging, fühlte sich der Freigelassene spektive nur als ein prominentes von seinem Ghostwriter in „meiner unter zahlreichen selbsterklärten grundsätzlichen Auffassung von Hitler, sei- Opfern des Führers aus. nem System und von meiner eigenen Be- Zwar äußerten Historiker schon teiligung bestätigt und verstärkt“. bald begründete Zweifel an der Dar- Fest stützte sich anschließend seinerseits stellung des Erfolgsautors. Doch ge- beim Verfassen seiner zahlreichen Best- gen den sich verfestigenden Mythos seller – insbesondere der Hitler-Biografie –

STEFAN FALKE / WDR FALKE STEFAN vermochten sie nicht anzukommen, maßgeblich auf Speers Darstellungen. Noch im Kino-Welterfolg „Der Untergang“ Darsteller Moretti, Koch* „Engel aus der Hölle“ * In Heinrich Breloers Film „Speer und Er“.

der spiegel 18/2005 75 Titel HUGO JAEGER / TIME LIFE PICTURES / GETTY IMAGES PICTURES / TIME LIFE HUGO JAEGER Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg (1938): Chefdekorateur des Dritten Reiches vom vergangenen Jahr, der auf einem der geht auf Speers Anstoß zurück. Wäre schon Nationalsozialisten Anfang der dreißiger Festschen Bücher basiert, kam Speer als beim Nürnberger Prozess bekannt gewesen, Jahre begeistert unterstützte. Der Sohn aus Edel-Nazi daher: ein Gentleman unter was man heute weiß, hätten ihn die alliier- gutbürgerlichem Heidelberger Hause stu- Lumpen und Mördern. ten Richter zum Tode verurteilt. dierte damals an der TH-Berlin; bei den Es wird voraussichtlich das letzte Mal ge- Wahrlich blendend verstand Speer sich Asta-Wahlen 1930 votierten zwei Drittel wesen sein, dass Hitlers Helfer in solcher sowohl bei öffentlichen Auftritten als auch im der angehenden Akademiker für den NS- Weise dem Publikum präsentiert wird. Denn Zwiegespräch auf die Kunst der Täuschung. Studentenbund. am kommenden Montag tritt der preisge- Die breiteste Wirkung erzielte er mit seinen Auch Speer verachtet die Weimarer krönte Filmemacher Heinrich Breloer mit Schriften. Wie wohl kaum ein zeitgenössi- Republik. Massenarbeitslosigkeit, außen- dem dreiteiligen Doku-Drama „Speer und scher Memoirenschreiber von Rang ließ er politische Ohnmacht, Armut – was er sieht, Er“ und einer Buchdokumentation zur Ge- entscheidende Abschnitte seiner Lebensge- lässt ihn glauben, in einer „Periode des gendarstellung an (siehe Seite 87)*. Breloer Verfalls“ zu leben. Eine „ro- hat zusammengetragen, was Wissenschaftler mantische Protesthaltung in den letzten Jahren über Speer herausge- „Er hat uns allen eine Nase gedreht“, gegen die Zivilisation“ sei funden haben. Das Bild ist vernichtend. gesteht der Publizist Joachim Fest. ihm eigen gewesen, so Denn der angeblich ungewollt in die Ver- Speer, und sie ebnet ihm brechen des Regimes Verstrickte trieb per- schichte aus, belog jene, die ihm Fragen stell- wohl auch den Weg zu den National- sönlich den Holocaust voran. Er bewilligte ten, verdrehte durch raffinierte Kürzungen sozialisten. Materialien für den Ausbau von Auschwitz, den Inhalt von Dokumenten in ihr Gegen- Im Dezember 1930 lässt er sich von bereicherte sich an arisiertem Vermögen, teil. Inzwischen hat auch Fest eingeräumt, Kommilitonen zum Besuch eines Hitler- denunzierte Konkurrenten und unterstütz- von Speer manipuliert worden zu sein**: Auftritts in Neukölln überreden. Anfang te Terrormaßnahmen gegen Zwangsarbei- „Er hat uns allen eine Nase gedreht.“ 1931 tritt er der NSDAP als Mitglied Nr. ter. Die Gründung von zwei KZ, in denen In glaubhaft wirkender Reue stiftete Speer 474481 bei. Um den politisch liberal ein- mehrere zehntausend Menschen umkamen, einen beträchtlichen Teil seiner Tantiemen gestellten Vater nicht zu verprellen, ver- jüdischen Einrichtungen. Weil sich solche Zü- heimlicht Speer seinen Schritt. Jahre spä- * Heinrich Breloer: „Unterwegs zur Familie Speer. Be- ge in seiner Person mit größter Abgebrüht- ter stellt er fest, dass auch seine Mutter gegnungen, Gespräche, Interviews“. Propyläen, Berlin; heit mischen, rätseln viele Betrachter bis heu- eingetreten ist – und es gleichfalls vor dem 608 Seiten; 24,95 Euro. te über den wahren Kern dieses Mannes. Vater verborgen hat. ** Joachim Fest: „Die unbeantwortbaren Fragen. Notizen über Gespräche mit Albert Speer zwischen Ende 1966 und Der 1905 geborene Speer zählte zu jener Das Engagement des neuen Parteige- 1981“. Rowohlt Verlag, Reinbek; 270 Seiten; 19,90 Euro. Studentengeneration, die den Aufstieg der nossen ist zunächst begrenzt. Mit seinem

76 der spiegel 18/2005 ULLSTEIN BILDERDIENST (L.); WOLFGANG KUMM / DPA (R.) KUMM / DPA (L.); WOLFGANG BILDERDIENST ULLSTEIN Rüstungsminister Speer, Modell der „Großen Halle“ mit Brandenburger Tor: Siebzehnmal größer als der Petersdom in Rom schicken Sportwagen erledigt er gelegent- sen ein, und schon bald zählt Speer zum Die Inszenierung der Reichsparteitage, lich Kurierfahrten für das Nationalsozia- engeren Kreis um den Diktator. Er habe die Massenfeiern mit ihren Fahnenwänden listische Kraftfahrerkorps (NSKK), eine im jemanden gesucht, dem er seine Baupläne und Aufmarschfeldern – Speer ist aus der Volk schlecht beleumundete paramilitä- anvertrauen könne und der „auch nach NS-Propaganda schon nach kurzer Zeit rische Truppe („NSKK = Nur saufen, kei- meinem Tode mit der von mir verliehenen nicht mehr wegzudenken. Er lässt mit Flak- ne Kämpfer“). Immerhin verschafft die Autorität weitermachen kann“, erklärt Hit- scheinwerfern acht bis zehn Kilometer Partei dem 26-Jährigen, der von einer ler seine Zuneigung. hohe Lichtdome am dunklen Himmel er- großen Architektenkarriere träumt, aber Manche Zeitgenossen hingegen glaub- strahlen; „Kathedralen aus Eis“ nennt der dem Vater auf der Tasche liegt, einige ten, dass Hitler für den Architekten mehr sichtlich beeindruckte britische Botschafter Aufträge. empfand als nur Sympathie. Kam Speer zu Sir Neville Henderson das Spektakel. Er freundet sich mit Karl Hanke an, dem Besuch, „war Hitler begeistert, als ob eine 1936 vertraut Hitler seinem Günstling späteren Gauleiter von Niederschlesien. Geliebte käme“, erinnerte sich später ein den „größten Bauauftrag von allen“ an: Der Schützling von Propagandaminister Mitarbeiter des Diktators, „und dann fingen den Umbau zur Welthauptstadt sorgt im Frühjahr 1933 sie beide an zu zeichnen und Pläne zu ma- „Germania“. Er drückt dem juvenilen Bau- dafür, dass Speer die Ministerwohnung chen, und Modelle wurden aufgestellt“. meister eine Briefkarte mit eigenen Skiz- ausbauen darf – und damit Hitlers Auf- Speer ist bereits seit fünf Jahren verhei- zen aus den zwanziger Jahren in die merksamkeit erringt, weil er so schnell fer- ratet, als er Hitler erstmals persönlich trifft; Hand – so will er es haben: einen Tri- tig wird. später bezieht er mit seiner vielköpfigen umphbogen für die Toten des Ersten Welt- Die Nationalsozialisten haben nun die Familie ein Haus in der Nähe von Hitlers kriegs, doppelt so hoch wie der Arc de Macht, und das soll sich auch in den Bau- Berghof bei Berchtesgaden. Oft lässt ihn Triomphe, eine „Große Halle“ für 180000 ten widerspiegeln. Reichskanzler Hitler der Führer spät in der Nacht kommen; Volksgenossen, siebzehnmal größer als will als Erstes sein Dienstdomizil in der niemand darf stören, wenn die beiden sich der Petersdom in Rom, dazwischen eine Wilhelmstraße neu gestalten. Speer soll über den Zeichentisch beugen. Prachtstraße deutlich breiter als die dem beauftragten Münchner Architekten Der Diktator stellt dem ehrgeizigen Champs-Élysées. Hitler spricht von „ge- zur Hand gehen. Speer „Aufträge und Möglichkeiten wie bautem Nationalsozialismus“. Hitler hatte einst davon geträumt, Ar- noch keinem Architekten seit Menschen- Der Planer, der sich schon als „zweiter chitekt zu werden; fast jeden Tag besucht gedenken“ in Aussicht. Rasch steigt die- Schinkel“ sieht, wird „Generalbauinspek- er nun die Baustelle, die Speer beaufsich- ser zum „Chefdekorateur“ der bombas- tor für die Reichshauptstadt“ im Range ei- tigt. Nach einigen Wochen lädt der Regie- tischen Selbstdarstellung Nazi-Deutsch- nes Staatssekretärs, einzig dem NSDAP- rungschef den 16 Jahre Jüngeren zum Es- lands auf. Chef verantwortlich. Hitler lässt ihn mit

der spiegel 18/2005 77 Ehrungen überhäufen: Speer erhält das goldene Parteiabzeichen, wird preußischer Staatsrat, Senator der Reichskulturkammer, Professor. Er residiert in einem prächtigen Ge- bäude am Pariser Platz 4; dort ent- wirft er den Generalplan für den Umbau Berlins. Er entwickelt spätestens jetzt auch jene Härte, die seinen Auf- stieg bis fast an die Spitze des Re- gimes ermöglicht. Als der Berliner Oberbürgermeister Julius Lippert, ein Spezi von Goebbels, sich gegen Speers Vorhaben wehrt, schwärzt ihn der Architekt beim Führer an. Der Diktator schimpft über den „Versager, Nichtskönner“ und setzt den Oberbürgermeister ab; Speer übergibt seine Korrespondenz mit Lippert dem Reichsführer SS, Hein- rich Himmler, „zur vertraulichen

Kenntnisnahme“. VERLAG SÜDDEUTSCHER Speers erster Großbau wird die Verfolgte Juden in Berlin (1941): Für KZ-Opfer zeigt Speer kein Mitgefühl gigantische 421 Meter lange und 402 Meter breite Neue Reichskanzlei an der den Bau ein Jahr früher als geplant fertig Wirtschaftsimperium träumt und in Voßstraße, die Hitler zu Begeisterungs- zu stellen. großem Stil jene rund 20000 KZ-Häftlin- stürmen hinreißt. Besonders gefällt dem Bis zu diesem Punkt kennt Speer die ge ausbeuten will, die damals schon ein- gebürtigen Österreicher die rund 300 Me- Untaten des Regimes nur aus der An- gesperrt sind, bekommt für seine Unter- ter lange Raumflucht vom Eingang bis zum schauung. Als er etwa 1934 das Palais Bor- nehmen keine Kredite und benötigt Ver- Empfangssaal. Ausländische Diplomaten sig für die SA-Führung umbauen soll, fin- bündete. würden auf dem Weg „schon etwas abbe- det er in einem Büro die Blutlache des kon- Da trifft es sich gut, dass die Baustoff- kommen von der Macht und Größe des servativen Beamten Herbert von Bose vor. industrie nicht jene Mengen liefern kann, Deutschen Reiches“. Die Nazis haben den Missliebigen kurz die Speer für seinen architektonischen Nach der Übergabe des Nazi-Palasts zuvor erschossen. Speer meidet den Raum, Größenwahn anfordert. Mit einem hohen zum vereinbarten Termin am 9. Januar ansonsten hat ihn der Mord, wie er später Millionenbetrag ermöglicht der Baumeis- 1939 preist der Diktator seinen neuen Star schreibt, „nicht weiter berührt“. ter, dem der Führer unbegrenzte Mittel für dessen Organisationstalent. In nur Doch im Frühjahr 1938 betritt er jenen zugesagt hat, der SS „den wirtschaftlichen zwölf Monaten (Hitler: „deutsches Tem- Weg, der ihn zum Verbrecher werden lässt. Großeinstieg“ (Historiker Hermann Kaien- po“) habe Speer die Baupläne entworfen, Und wie bei so vielen Deutschen steht am burg). die alten Häuser abgerissen, die neue Anfang der Blick auf den eigenen Vorteil Himmler lässt in der Nähe der Konzen- Kanzlei erstellt und innen eingerichtet. und das eigene Fortkommen. trationslager Buchenwald und Sachsen- Wohl wenig trägt so viel zu Speers Ruhm Er tut sich das erste Mal mit SS-Chef hausen teilweise riesige Zie- Straße des 17. Juni als Organisationsgenie bei wie diese Pro- Himmler zusammen. Der Totenkopforden gelwerke errichten; pagandamär, die der Führer-Freund auch ist noch nicht die beinahe allmächtige Ter- nach dem Krieg noch verbreitet. rororganisation, als die ihn heute alle ken- Tiergarten Inzwischen haben Historiker die Bau- nen. Der 37-jährige Himmler, Invalidenstr geschichte rekonstruiert: mit den Planun- der von einem aße gen ist schon 1934 begonnen worden, die verschiedene Ministerien Abrissarbeiten waren bereits fast be- endet, als Hitler Order gibt, aße Friedrichstr Triumphbogen Unter den Linden

Südbahnhof Kino

West Nord Süd Ost Flughafen Tempelhof Titel

andere Lager – etwa in Mauthausen oder katastrophalen Arbeitsbedingungen in un- Speers ausgewertet. Danach ist Speer zum Flossenbürg – werden bei Steinbrüchen ge- terirdischen Raketenfabriken krepieren. Multimillionär aufgestiegen*. gründet, in denen sich dann Tausende für Der Erfinder des „Volkswagens“, Ferdi- Das private Architektenbüro Speer ver- Speers „Germania“-Pläne zu Tode schuf- nand Porsche, ist Herr über einen Indu- mag zeitweise kaum noch die vom General- ten. Himmler zahlt die Kredite mit Bau- striekomplex, in dem Kriegsgefangene und bauinspektor Speer erteilten staatlichen Auf- materialien ab. Die KZ in Natzweiler-Strut- Zwangsarbeiter zu Tausenden sterben. Der träge zu bewältigen. Zudem profitiert der hof im Elsass und in Groß-Rosen in Schle- Industrielle Alfried Krupp beutet mindes- Multifunktionär von exklusiven Steuererlas- sien gehen sogar direkt auf Anstöße Speers tens 100000 Menschen aus, welche von den sen. Als Speer ein Gut im Oderbruch kauft, zurück, der den dort vorhandenen Granit Nationalsozialisten zur Arbeit gezwungen schenkt ihm Reichsmarschall Hermann nutzen will. Göring ein angrenzendes Der NS-Chefarchitekt ist kein Sadist, der 100 Hektar großes Waldgelän- am Leiden anderer Menschen Freude „Ein typischer Repräsentant de. Der Hamburger NS-Ex- hat. Ihn treibt auch kein mörderischer der korrupten Führungskamarilla.“ perte Frank Bajohr hält den Judenhass an wie Himmler oder Hitler; Nazi mit dem Saubermann- frei von Vorurteilen ist er allerdings auch werden. Der Hamburger Historiker Mi- image für einen „typischen Repräsentanten nicht. An seine Tochter Hilde Schramm chael Wildt sieht in Speer einen Re- der korrupten Führungskamarilla“. schreibt er nach dem Krieg in klassisch an- präsentanten einer Elite, „der jegliche Em- Obwohl Speer befürchtet, dass mit ei- tisemitischer Diktion, er habe eigentlich pathie fehlte“ (siehe Seite 82). nem Weltkrieg seine Ausbaupläne für Ber- nichts gegen Juden gehabt, nur so, wie „je- Als sich Speer 1938 die Möglichkeit bie- lin hinfällig werden, zählt er 1939 zu den der von uns so etwas wie ein unangeneh- tet, von einer jüdischen Familie ein Grund- Kriegsbefürwortern in der Entourage Hit- mes Gefühl manchmal im Umgang mit stück in exquisiter Lage für einen Spott- lers, wie er in seinen „Erinnerungen“ ein- ihnen hat“. preis zu kaufen, nutzt er die Gelegenheit räumt. Hitler erscheint ihm wie ein „Held Für die KZ-Opfer zeigt er kein Mit- und streicht beim Weiterverkauf der Im- der antiken Sage, der ohne zu zögern, im gefühl. Sein Bruder Hermann berich- mobilie an die Staatskasse einen Arisie- Bewusstsein der Stärke, die abenteuerlichs- tet, Albert Speer habe den Einsatz rungsgewinn von 240000 Reichsmark, un- ten Unternehmungen einging und souve- jüdischer Häftlinge in den Ziegeleien „ganz gefähr 2,5 Millionen Euro, ein. Beschwer- rän bestand“. Tatsächlich reiht der Dikta- gemütlich“ mit den Worten kommen- den der früheren Eigentümer weist er mit tor in seinen Feldzügen 1939/40 gegen tiert: „Die Judde haben ja schon in der dem Hinweis zurück, dass die Vorbesitzer Polen, Norwegen, Frankreich Sieg an ägyptischen Gefangenschaft Ziegel gestri- „alle Juden oder jüdisch versippet sind“ chen!“ und sich zudem von einem „jüdischen An- * Dietmar Arnold: „Neue Reichskanzlei und ‚Führerbun- Es ist diese Rücksichtslosigkeit, die walt“ vertreten ließen. ker‘, Legenden und Wirklichkeit“. Ch. Links Verlag, Ber- Speer mit vielen der jungen aufstrebenden Auch sonst lohnt sich für Speer die Nähe lin; 190 Seiten; 29,90 Euro. Ingenieure und Manager teilt und ihn zum zum Führer. Dietmar Arnold vom Verein Prototyp einer ganzen Generation von Berliner Unterwelten hat nun erstmals die Technokraten werden ließ: Der Raketen- im Bundesarchiv liegenden Rathaus Nordbahnhof forscher Wernher von Braun nimmt für Abrechnungen seinen Traum vom Flug auf den Mond in Kauf, dass Tausende Zwangsarbei- ter an den Folgen der „Führer“-Bau

Siegessäule Spree Großes Becken

StrStraße des 17. Juni aße des 17. Juni Oberkommando des Heeres TiergTiergartenarten InvInvalidenstraße Große Halle alidenstr aße

aße Reichstagsgebäude FriedrichstrFriedrichstraße Potsdamer Spree Platz Brandenburger Tor Unter den Linden

Neue Reichskanzlei Haus des Frem- Reichsluftfahrt- Unternehmen denverkehrs ministerium Größenwahn BERLIN Die geplanten Bauten der Nord-Süd-Achse von Panorama- „Germania“ auf dem heutigen La n ausschnitt Berliner Stadtgrundriss d w e hr Tempelhof Während des „Dritten Reichs“ ka Quelle: www.panorama-berlin.de, na realisierte Bauten CAD-Modell: Stefan Walter l 79 Titel

Sieg. Als der sogenannte Erzfeind geschla- weil nicht bekannt war, wie sehr der Immobilien in Berlin zusichern, wie kürz- gen ist, erfüllt sich der Führer einen „lei- Holocaust arbeitsteilig organisiert war. lich die Wissenschaftlerin Susanne Willems denschaftlichen Wunsch“: Er besucht Paris, Neben Hitler ergriffen oft auch unter- herausgefunden hat. und Speer darf dabei sein. Am 28. Juni geordnete Instanzen die Initiative. Eine Am Pariser Platz wird eine „Hauptab- 1940 landet die kleine Delegation frühmor- dieser Instanzen war Speers General- teilung Umsiedlung“ eingerichtet. Speers gens auf dem Flughafen Le Bourget. In bauinspektion. Beamte führen eine Kartei der Wohnun- Mercedes-Limousinen fahren Hitler und Die Behörde steht im Sommer 1938 erst- gen, in denen jüdische Deutsche wohnen, seine Entourage durch die noch leeren mals vor der Frage, wo man jene Zehn- und entwerfen Pläne für „judenreine“ Straßen zur Oper. Später, im Invaliden- tausende Berliner unterbringen kann, de- Stadtbezirke. Die Opfer werden „ge- dom, verweilt der Reichskanzler lange ren Wohnquartiere für den Germania-Aus- schachtelt“ – so nennen es die Bürokraten, gesenkten Hauptes vor dem Sarkophag bau abgerissen werden sollen. Noch vor wenn sie die Vertriebenen in die Wohnun- Napoleons. Hinterher sagt er zu seinem der sogenannten Reichskristallnacht am 9. gen anderer jüdischer Mieter zwangsein- Fotografen: „Das war der größte und November 1938 schlägt Speer vor, zunächst quartieren. Müssen die geräumten Unter- schönste Augenblick meines Lebens!“ einmal 2500 Wohnungen „durch zwangs- künfte instand gesetzt werden, lässt sich Nach dem Zusammenbruch des Dritten weise Ausmietung von Juden freizuma- Speer die Kosten zur Hälfte von der Jüdi- Reiches konnten viele Deutsche ihre Rol- chen“. Nach dem Pogrom lässt er sich schen Kultusvereinigung Berlin erstatten. le bei der Verfolgung von Juden verbergen, schriftlich den ersten Zugriff auf arisierte Der Behördenchef zeigt an der „Entju- dung“ auch persönliches Interesse. „Was macht die Aktion der Räumung der tau- send Judenwohnungen? Besonders Räu- mung Lichtenstein-Allee?“, erkundigt er sich am 27. November 1940 vom Obersalz- berg aus. Speer sucht (und findet) in der Lichtenstein-Allee Gebäude für sein pri- vates Architektenbüro. Mit welcher Rücksichtslosigkeit er schon vor Beginn des Holocaust vorging, hat der Adjutant von Generalfeldmarschall Erwin Rommel, Melchior Baron von Schlippen- bach, dem Filmemacher Breloer erzählt. Der Offizier suchte damals eine Wohnung und sprach daher – von Rommel vermittelt – bei Speer vor. Fünf Wohnungen durfte sich der Baron ansehen, in einer traf er noch eine jüdische Familie an. Als er einem Beamten Speers gegenüber anmerkte, dass es sich wohl um einen Irrtum handeln müs- se, verneinte dies der Mann. Wenn der Ad- jutant die Wohnung haben wolle, würde er die Familie noch in der gleichen Nacht ab- holen lassen. Der Adlige lehnte ab. Hitler hat bei Kriegsbeginn noch nicht

HUGO JAEGER / TIME LIFE PICTURES / GETTY IMAGES PICTURES / TIME LIFE HUGO JAEGER endgültig über das Schicksal der Juden in Hitler im Hof der Neuen Reichskanzlei (1939): „Größter Bauauftrag von allen“ seinem Machtbereich entschieden, aber überall drängen seine Funktionäre, sie ab- zuschieben. Propagandachef Goebbels, der Berlin „judenfrei“ machen will, kann auf Speers Unterstützung zählen. Speer lässt die einzelnen Schritte in einer Chronik genau dokumentieren. Eintrag vom April 1941: „Seit Jahresbeginn war in verstärktem Maße mit der Räumung der Abrissbereiche und Umsiedlung … in Ju- denwohnungen begonnen worden. Die … Judenwohnungen wurden geräumt und die jüdischen Mieter in jüdischen Wohnraum jüdischen Grundbesitzes geschachtelt.“ Eintrag vom August 1941: „Gemäß Speer- Anordnung wird eine weitere Aktion zur Räumung von rund fünftausend Juden- wohnungen gestartet. Der vorhandene Ap- parat wird entsprechend vergrößert.“ Und Speer macht auch dann weiter, als im Herbst 1941 die Opfer nicht mehr „ge- schachtelt“, sondern nach Riga, Minsk oder Kaunas transportiert und dort erschossen werden. Die Gestapo nutzt für die Aus-

BPK wahl der Opfer die von Speer-Mitarbeitern Verladung von Sturmgeschützen (1943): „Deutsches Rüstungswunder“ angelegte Kartei.

80 der spiegel 18/2005 HUBMANN NS-Funktionär Speer, KZ-Insassen*: Alle Bauvorhaben in den KZ genehmigt

Weiß Hitler-Intimus Speer, was im Osten gegen und sagt dann: „Herr Speer, ich er- tern, weil zu viele der geschundenen geschieht? nenne Sie zum Nachfolger von Minister Zwangsarbeiter vor Entkräftung sterben. Nach seiner Entlassung erklärte er 1966, Dr. Todt in allen seinen Ämtern.“ Speer Speer wiederum will vor allem Baustoffe sein alter Spezi Karl Hanke sei einmal er- windet sich ein wenig, doch die Macht ist einsparen. Um sich ein Bild zu machen, regt zu ihm gekommen und habe ihn ge- wie eine Droge für ihn. Er sei eben „un- beauftragt der Scharfmacher zwei Mitar- warnt „nie zur Besichtigung eines Kon- geheuer ehrgeizig und wahrscheinlich auch beiter, die Konzentrationslager im damali- zentrationslagers in Oberschlesien“ zu ge- sehr machthungrig“ gewesen, deutete er gen Reichsgebiet – also auch in Auschwitz hen – gemeint war Auschwitz. Mehr sei später sein Verhalten. – zu inspizieren. nicht gewesen. Speer ist als Todts Nachfolger nicht nur Anschließend lässt er sich „eingehend Lebensnah war diese Schilderung nicht. für die Rüstung und eine Reihe anderer Bericht erstatten“ – und ist zufrieden. Hanke und Speer kannten und duzten sich Wirtschaftsbereiche zuständig, sondern Großzügig genehmigt er der SS einige tau- seit über einem Jahrzehnt, und dennoch übernimmt auch die Position des „Gene- send Tonnen Eisen zur Verbesserung der wollte Speer den Freund nicht nach dem ralbevollmächtigten für die Regelung der Wasserversorgung in Auschwitz. Himmler „Warum“ gefragt haben? Bauwirtschaft“, ein unverfänglicher Titel schreibt ihm, er fühle sich „in der Über- Doch den Speer-Kritikern fehlte es in für eine mörderische Aufgabe. Denn Speer zeugung bestärkt, dass es doch noch Ge- den sechziger Jahren an Belegen für den ist damit für Baustoffe zuständig, und die rechtigkeit gibt“. Verdacht. Inzwischen ist die Indizienlage SS braucht seine Zustimmung, wenn sie in Viele Unterlagen zu den Konzentrations- erdrückend, und seine Biografin Sereny den Konzentrationslagern bauen will. Wie lagern sind von den Nazis vernichtet worden hat denn auch von der „Lebenslüge“ des oder verloren gegangen. So NS-Funktionärs gesprochen. Die Nach- musste lange Zeit die Frage weise führen in die Zeit nach dem 8. Fe- Speer beschwert sich über die „mehr als offen bleiben, ob Speer und bruar 1942. großzügige“ Unterbringung der Häftlinge. seine Mitarbeiter Stahl und An diesem Tag stürzt Hitlers mächtiger Steine für den Bau der Gas- Rüstungsminister ab, als er vom die Akten zeigen, nimmt er seine Auf- kammern in Auschwitz oder Sachsenhausen Führerhauptquartier Wolfschanze in Ost- sichtspflicht sehr genau. bewilligten. Ein Zufallsfund österreichischer preußen nach Berlin fliegen will. Speer hat Nach einem Besuch im Konzentrations- Wissenschaftler um Bertrand Perz im Mi- ursprünglich die Absicht, Todt zu beglei- lager Mauthausen etwa beschwert er sich litärhistorischen Archiv in Prag hat vor ei- ten, doch am Vorabend brütet er wieder Anfang 1943 bei Himmler über die „mehr nigen Jahren Klarheit gebracht. einmal mit seinem Idol bis in den frühen als großzügige“ Unterbringung der Häftlin- Das Dokument – eine detaillierte Kos- Morgen über Bauplänen und sagt den Flug ge und fordert eine Rückkehr zur „Primitiv- tenaufstellung – stammt aus dem Herbst schließlich ab, weil er ausschlafen will. bauweise“. Empört notiert Himmlers Wirt- 1942 und betrifft Auschwitz. Die SS hatte Der Führer lässt Speer sofort zu sich schaftschef Oswald Pohl, dies sei doch „ein sich kurz zuvor von Speer Baumaterialien rufen, als er von Todts Unfall erfährt. Ste- recht starkes Stück“, schließlich seien in den im Wert von 13,7 Millionen Reichsmark für hend empfängt er den Architekten, nimmt Konzentrationslagern „alle Bauvorhaben bis „die Aufstellung von rund 300 Baracken dessen Beileidsbekundungen formell ent- ins Einzelne“ von Speer genehmigt worden. mit den erforderlichen Versorgungs- und SS-Chef Himmler fürchtet, sein Traum Ergänzungsanlagen“ genehmigen lassen. * In den Reichswerken „Hermann Göring“ in Linz 1944. eines Wirtschaftsimperiums könne schei- Aus dem Finanzpapier lässt sich nun er-

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„Männer ohne Grenzen“ Michael Wildt, 51, Historiker am Hamburger Institut für Sozialforschung, über die junge Elite des Nationalsozialismus

ren, dass er in die NSDAP eingetreten ist. Spiegelt sich im Aufstieg Hitlers auch ein Stück Generationenkonflikt wider – hier die jungen Totalitären, auch bei der KPD, dort die alten Demokraten? Wildt: Dieser Impuls gegen die ältere Ge- neration ist ein wichtiges Moment. Die NSDAP hat sich in der ganzen Zeit ihres Aufstiegs als junge Partei präsentiert und FRANK SCHUMANN / DER SPIEGEL SCHUMANN FRANK gegen die „Gerontokraten des Weimarer KARL HÖFFKES / AURIS Wildt Systems“ Propaganda gemacht. Vor al- Hitlerjugendtreffen an der Ostsee: „Realität lem an den Universitäten kam das gut an. SPIEGEL: Professor Wildt, Albert Speer wird Das Versprechen der NSDAP, die struk- halb nenne ich sie die Generation des mit 37 Jahren der mächtigste Minister, turellen Blockaden aufzubrechen, wirkte Unbedingten. mit 35 Jahren Chef der äußerst attraktiv. SPIEGEL: Die Faszination Speers wird oft Deutschen Polizei, mit SPIEGEL: Die Radikalisierung an den Uni- darauf zurückgeführt, dass er als Intellek- 30 Jahren Chef der preußischen Gestapo – versitäten war das eine, aber damit hörte tueller aus der Entourage Hitlers heraus- war das NS-Regime ungewöhnlich jung? es ja nicht auf. Himmler war studierter ragte, in der ansonsten soziale Außenseiter Wildt: Ja. Hitler, Jahrgang 1889, war einer Agrarwissenschaftler, Speer Architekt. und gestrandete Existenzen den Ton anga- der Ältesten in der NS-Führung, darunter Was bringt intelligente Leute mit akade- ben. War Speer wirklich ein Einzelfall? gab es eine junge Funktionselite, die vor mischem Abschluss dazu, sich in Hitlers Wildt: Im Gegenteil, es gab sehr viele jun- allem den Jahrgängen 1900 bis 1910 an- mörderischen Dienst zu stellen? ge Akademiker wie Speer in den NS- gehörte. Wildt: Diese Akademiker verstanden sich Führungsgremien. Diese Generation trug SPIEGEL: Was machte die Faszination des nicht als Stubengelehrte. Sie orientierten ja das System. Nehmen Sie das Reichs- Nationalsozialismus für diese Genera- ihre Arbeit an der Tat, am Erfolg. In der sicherheitshauptamt, die Terrorzentrale tion aus? Überlegenheit des Stärkeren erwies sich des NS-Regimes. Dort gehörten drei Vier- Wildt: Sie war gebannt von den Möglich- die Richtigkeit einer Theorie. Der Wille, tel der Führungsschicht den Jahrgängen keiten, die ihr geboten wurden. Es gab ja die Entschiedenheit zählte, nicht die 1900 und jünger an, zwei Drittel hatten sehr viele Akademiker unter ihnen, ohne Frage, was gut oder böse ist. Weder ak- studiert, die Hälfte davon mit Promotion. Aussichten auf einen Job. Von den rund zeptierten sie ein liberales, von der Frei- Im Sicherheitspolizei- und SD-Apparat 13000 Referendaren und Assessoren im heit des Individuums geprägtes Weltbild, insgesamt waren die Zahlen ähnlich. juristischen Bereich zum Beispiel fanden noch ein christliches, wonach der Mensch SPIEGEL: Einer von ihnen war der Volks- 1931 nur 980 eine Anstellung. Da eröffne- ein Geschöpf Gottes und deshalb un- wirt Otto Ohlendorf. Die alliierten Rich- te der Nationalsozialismus nicht nur die antastbar und gleich ist. Diese jungen ter in Nürnberg zeigten sich fassungslos, Aussicht auf einen Arbeitsplatz, sondern Männer hatten keine inneren Wider- wie ungerührt er zugab, als Einsatzgrup- auch auf Verwirklichung der eigenen Welt- lager, keine normativen Grenzen mehr. penleiter in der Sowjetunion für die Er- entwürfe. Recht war, was dem Volke nutzte. Des- mordung von 90000 Menschen verant- SPIEGEL: Nicht alle Angehörigen dieser Generation erlagen dem NS-Regime. Klaus Mann etwa, der 1906 geboren wur- de, oder Sebastian Haffner, der 1907 zur Welt kam, blieben scharf auf Distanz. Wer war anfällig und wer nicht? Wildt: Bei Klaus Mann gab es geradezu ei- nen ästhetischen Widerwillen gegen die Nationalsozialisten. Er erzählte eine Epi- sode, wie er Hitler in einem Münchner Café beim Verzehr von Erdbeertörtchen sah, und diesen Anblick nicht ertragen konnte. Haffner hielt dank seiner klugen, genauen Beobachtungsgabe Abstand. Aber das waren Ausnahmen. Die Grund- stimmung an den Hochschulen war schon in den zwanziger Jahren völkisch und antisemitisch.

SPIEGEL: Speer hat sich nicht getraut, sei- (R.) (L.); BFZ PICTUREPOINT STUTTGART TOPHAM nen liberalen Vater darüber zu informie- Gestapo-Chef Heydrich, SS-Führer Himmler: „Dieser Elite fehlte jegliche Empathie“

82 der spiegel 18/2005 kennen, wofür die Dinge auch gedacht waren: die „Durchführung der Sonderbe- handlung“ – so bezeichneten die Nazis in ihrer Tarnsprache die Ermordung von Ju- den und anderen NS-Opfern. Die Kosten für den Bau der Krematorien I bis IV sowie einiger Keller, welche die SS als Gaskam- mern nutzte, wurden genau aufgeführt. Zwar gibt es keinen Beweis, dass Speer diese Berechnung gesehen hat. Anderer- seits hatte er sein Ministerium im Griff, und es ist kaum anzunehmen, dass er sich nicht weiter darum gekümmert hat, was mit der von ihm abgesegneten, erheblichen Summe geschah. Dass viel mehr Deutsche vom Holocaust gewusst haben, als es zunächst den An- schein hatte, ist inzwischen unbestritten. Dennoch nahmen viele Speer die Beteue- rungen seiner Unwissenheit auch dann hat Weltanschauungstäter noch nie beeindruckt“ noch ab, als der amerikanische Historiker Erich Goldhagen in den siebziger Jahren wortlich gewesen zu sein. Das Gericht „Kämpfende Verwaltung“ nannte Hey- darauf hinwies, dass Speer am 6. Oktober verglich Ohlendorf mit der Romanfigur drich das. 1943 als Gast unter den Gauleitern in Dr. Jekyll und Mr. Hyde, einer gespalte- SPIEGEL: Historiker haben versucht, die Posen gewesen sein muss, vor denen nen Persönlichkeit. Hilft das als Er- unglaubliche Brutalität des NS-Regimes Himmler offen über die „Judenfrage“ klärungsansatz? mit den Erfahrungen zu begründen, die sprach. O-Ton Himmler: Wildt: Die Wirklichkeit sieht noch schreck- viele Deutsche während des Ersten Welt- Es trat an uns die Frage heran: Wie ist es licher aus. Ich denke, dass dieser Elite krieges in den Schützengräben gesammelt mit den Frauen und Kindern? Ich habe jegliche Empathie fehlte, jedes Mitleid. haben. mich entschlossen, auch hier eine ganz Albert Speer hat von sich gesagt, wenn Wildt: Das spielte gewiss eine Rolle. Der klare Lösung zu finden. Ich hielt mich man große Dinge vorhabe, müsse man Weltkrieg hat ohne Zweifel brutalisiert, nämlich nicht für berechtigt, die Män- ganz kalt sein. Monströse Pläne wie das aber dass die Elite des Nationalsozialismus ner … umbringen zu lassen – und die Germania-Projekt wurden für Massen, eben aus Jahrgängen stammt, die nicht Rächer in Gestalt der Kinder … groß nicht für Menschen entworfen. In den mehr durch die unmittelbare Fronterfah- werden zu lassen. Siedlungsplänen für den Osten sollten rung geprägt waren, ist offenkundig. Speer hatte vor Himmler referiert, wur- ganze Völker vertrieben, versklavt oder SPIEGEL: Speer hat sich nach 1945 der Öf- de von dem SS-Chef sogar in der Rede ermordet werden. fentlichkeit als „unpolitischer Fachmann“ zweimal direkt angesprochen und behaup- SPIEGEL: Aber solche Utopien rieben sich präsentiert, ein Selbstbild, das viele Täter tete dennoch, die Tagung frühzeitig ver- doch an der Realität. von sich zeichneten. lassen und daher den Vortrag nicht gehört Wildt: Die Realität hat Weltanschauungs- Wildt: Die Selbststilisierung als Techno- zu haben. Er sei auf dem Weg zu Hitler ge- täter noch nie beeindruckt. Leute wie krat war eine wirksame Verpuppung, um wesen und habe mit diesem mehrere Stun- Speer oder Heydrich akzeptierten nicht die Passion, den unbedingten Gestal- den konferiert. Doch Hitlers Diener Heinz die Grenzen, die ihnen die Wirklichkeit tungswillen, von dem diese Elite getrieben Linge notierte jeden Abend genau, wen setzte, sondern wollten sie mit noch radi- wurde, zu verbergen. der Diktator während des Tages gesehen kaleren Mitteln durchbrechen, um ihre SPIEGEL: Die meisten aus dieser national- hatte. Speer war nicht darunter. Und die ei- Ziele zu erreichen. sozialistischen Elite haben später gesagt, desstattliche Erklärung des Rüstungs- sie seien unideologisch managers Walter Rohland („Panzer- gewesen. Rohland“), der Speer zu Hitler begleitet „Monströse Pläne wurden für Massen, Wildt: Das ist das Bild, das haben wollte, ist wertlos. Wie Filmemacher nicht für Menschen entworfen.“ bis heute geglaubt wird. Breloer bei Recherchen im Nachlass von Sie waren klug genug zu Speer herausgefunden hat, formulierte die- SPIEGEL: Dieses Abhandensein jeglicher sehen, dass es nach 1945 keine national- ser die Aussage vor und ließ sie sich von Empathie ist ja nicht angeboren. Wie ent- sozialistische Renaissance geben konnte. Rohland abzeichnen. stand es? Egal, ob sie sich geläutert hatten oder Speer hatte sich den Weg zur Wahrheit Wildt: Für mich ist zum Beispiel der Ger- nicht, die Institutionen waren nun ande- bereits in Nürnberg verstellt. Bei einem mania-Plan so etwas wie der Turmbau zu re. Dass etwa der Adjutant des Chefs der Geständnis nach seiner Freilassung hätte Babel. Mit einer solchen Selbstüber- Einsatzgruppe B, Karl Schulz, in Bremen er, so Biograf Fest, „als der eigentliche höhung verliert man sein menschliches Chef des Landeskriminalamts werden Nazi-Schurke dagestanden“: erst sich mit Maß, man wird unmenschlich. konnte, ist zweifellos ein skandalöser Vor- den Verbrechern gemein machend, dann SPIEGEL: Reicht das als Erklärung aus? gang. Nur, das Landeskriminalamt in Bre- die leidende Unschuld mimend und Wildt: Nein, auch die Institutionen wa- men war nicht mehr das Reichssicher- schließlich die Lügen hinausposaunend – ren der Entgrenztheit angepasst. Diese heitshauptamt. Der Mann konnte nicht das wäre, so Fest, dann der Eindruck ge- junge Elite ging ja in Institutionen, die sie mehr zerstörerisch agieren, selbst, wenn wesen. Und Speer war nicht bereit, diesen selbst gestalteten. Das waren keine her- er gewollt hätte. Preis zu zahlen. kömmlichen Behörden. Politisch, nicht Interview: Hans-Ulrich Stoldt, Mit seinen Ausflüchten in Nürnberg wies administrativ sollte gehandelt werden. Klaus Wiegrefe er einen Weg, den dann auch viele seiner Managerkollegen einschlugen. Sie beriefen sich darauf, nur das eigene Metier im Blick

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ist, weist er an, zusätzlich 90000 Ostarbei- ter zu verhaften. Um die Rüstungsindustrie gegen Luft- angriffe zu sichern, verlegt Speer Fabriken in Bergwerksstollen, darunter auch die Pro- duktion der V-2-Rakete aus Peenemünde, die nun bei Nordhausen in Thüringen her- gestellt wird. Die KZ-Häftlinge müssen sich ohne ausreichende Nahrung und Wasser unter Tage plagen und dürfen die Stollen nicht verlassen. 6000 Häftlinge sterben in den ersten Monaten. Speer besucht im Dezember 1943 den gigantischen unterirdischen Komplex. Nach der Visite gratuliert er dem Chef der SS-Bauleitung, in zwei Monaten eine Fa- brik aufgebaut zu haben, „die ihresglei- chen in Europa kein annäherndes Beispiel hat“. Dem SS-Ingenieur spricht er „für diese wirklich einmalige Tat“ seine „höchs- te Anerkennung aus“. Als sein Anwalt ihn vor den alliierten

MARCO Richtern in Nürnberg nach den Arbeitsbe- Vorzeige-Nazi Speer*: Hitlers „fähigster Minister“ dingungen in unterirdischen Fabriken fragt, tischt er dreiste Lügen auf. Die Verliese gehabt und nicht die Untaten gesehen zu ha- Architekturskizze hervorgezogen, als sei seien „absolut einwandfrei“ gewesen: ben, die sich direkt vor ihren Augen ereig- sie zufällig zwischen die Akten gera- „staubfreie, trockene Luft, gutes Licht, neten. Es ist dieses Versagen, das Speer nach ten. Hitlers Aufmerksamkeit sei sofort große Frischluftanlage“. Ansicht von Wissenschaftlern wie dem ver- geweckt – und schon sei ein nicht enden Nach dem Krieg reklamiert Speer storbenen Briten Hugh Trevor-Roper zum wollendes Architekturgespräch die Folge für sich, bereits im Frühjahr 1943 erkannt „wahren Verbrecher Nazi-Deutschlands“ gewesen. Beim Verlassen des Büros sei zu haben, dass der Krieg verloren gewe- werden ließ. Denn Speer habe die „Natur er schließlich auf sein eigentliches Anlie- sen sei. der Nazi-Regierung erkannt“, doch nichts gen zurückgekommen. Meist habe Hitler Doch diese Erkenntnis, wenn es sie denn dagegen unternommen. zugestimmt. so früh gab, bleibt lange ohne Auswirkung Das Geschick, mit dem Speer die Nach- „Mein fähigster Minister“, so rühmt der auf sein Handeln. Wie Goebbels versucht kriegsdeutschen täuscht, kommt im Drit- Führer seinen Günstling, in dem er einige er noch im Herbst 1944 mit einem letzten ten Reich dem Rüstungsbereich zugute. Er Zeit lang sogar einen potentiellen Nach- Mobilisierungsschub die Niederlage abzu- sammelt um sich einen Stab junger Wirt- folger sieht. Nach zwei Jahren liegt die wenden. Er verbreitet Durchhalteparolen schaftsführer, die dafür sorgen, dass die Waffenproduktion dreimal so hoch wie bei und fordert von seinen Mitarbeitern, mit Zusammenarbeit mit der Industrie besser Speers Amtsantritt. Hitler, aber auch die „fanatischem Glauben“ bis zum „siegrei- funktioniert. Er lichtet das für den NS- Amerikaner sprechen von einem „deut- chen Frieden“ zu arbeiten. Staat typische Kompetenzwirrwarr. Vor al- schen Rüstungswunder“. Doch das Aus- Ende 1944 erreichen Amerikaner und lem aber streicht er die Konsumgüterpro- gangsniveau ist niedrig. Und mit seinen Briten die deutsche Grenze, die Rote Ar- duktion zusammen und beschränkt die Feinden kommt das Dritte Reich trotz- mee steht kurz vor Ostpreußen. In der Produktion auf wenige Waffentypen. Von dem nicht mit. Ardennen-Offensive, dem letzten Aufbäu- 42 Flugzeugmodellen nimmt er 37 aus dem Lange hält der Speer-Boom nicht an, men der Wehrmacht im Westen, organi- Programm, von 151 Lkw-Typen bleiben 23 aber ohne ihn wäre der Krieg wohl schon siert der Rüstungsminister rast- und rück- übrig. 1943 verloren gewesen. Die Angriffe der sichtslos den Nachschub für die „entschei- Viele NS-Gauleiter lehnen eine Mobili- alliierten Luftflotten lassen die Produk- dende Schlacht für Großdeutschland“ sierung für den totalen Krieg ab, weil sie tionsziffern zunehmend sinken. Weil er (Speer). einen Aufstand der Deutschen wie 1918 Immerhin kann der Minis- fürchten. Speer hingegen zählt zu den ter für sich in Anspruch neh- Hardlinern. Er droht allen Betriebsführern, Bald liegt die Waffenproduktion dreimal men, Hitler im Herbst 1944 Angestellten, Beamten und Offizieren, die so hoch wie bei Speers Antritt. dazu bewegt zu haben, die sich „durch unwahre Angaben“ Material ersten Nero-Befehle zurück- erschleichen, „den Tod oder schweres Hitlers Gunst nicht verwirken will, trickst zunehmen. Der Führer will eine Zivilisa- Zuchthaus“ an und fordert „schärfste Maß- der Minister und fälscht Statistiken. „Ich tionswüste zurücklassen: ohne Fabriken, nahmen gegen Bummelanten und Drücke- glaube dem Speer kein Wort mehr“, er- Lebensmittellager, Telefonsystem. berger“. In einigen Fällen bittet Speer per- klärt ein misstrauisch gewordener Goeb- Mit dem Hinweis, dass die verloren- sönlich die zuständigen Stellen um Straf- bels, „er macht uns alle mit seinen Zahlen gehenden Gebiete ja bald im Zuge des verfolgung. besoffen.“ „Endsiegs“ zurückerobert würden, setzt Stößt er auf Widerstände, wendet er sich Die Arbeitskräfte für den Rüstungsauf- Speer dem Furor vorerst ein Ende. „Läh- an seinen Förderer. Wie geschickt er den schwung holt sich Speer von der SS. Ende men statt Zerstören“, also die Stilllegung Diktator dabei manipuliert, hat er glaubhaft 1944 malochen 500 000 der insgesamt der Betriebe, lautet die von ihm beim seinem Biografen Fest berichtet. Er habe 600000 KZ-Insassen in seinem Rüstungs- Führer durchgesetzte neue Richtung. das Gespräch kühl und sachlich begonnen. imperium. Als im Mai 1944 ungarische Ju- Allerdings besteht der Rüstungsminister Scheinbar aus Versehen habe er dann eine den – Frauen, Kinder und alte Männer – darauf, dass die Lähmungsmaßnahmen zur Zwangsarbeit eintreffen, von denen keinesfalls zu früh eingeleitet werden – * Mit dem Bildhauer Arno Breker 1941. beim Bau von Bunkern wenig zu erwarten die Waffenproduktion für das sinnlose

84 der spiegel 18/2005 ROLF STEININGER ROLF Angeklagter Speer beim Nürnberger Prozess 1946: Dreiste Lügen für die Richter

Sterben soll so lange wie irgend möglich fig. „Im Gegenteil, es ist besser, selbst die- Dann, die Fassung verlierend, gesteht er laufen. se Dinge zu zerstören. Denn das Volk hat seinem langjährigen Förderer, dass er als Für Speer ist mit dem Scheitern der Ar- sich als das schwächere erwiesen.“ zuständiger Minister nicht nur die Zer- dennen-Offensive im Dezember 1944 der Der wohl beste Kenner des Kriegsge- störungen unterlassen, sondern sie sogar Krieg „zu Ende“. Und damit beginnt eine schehens im Westen 1945, Klaus-Dietmar verhindert habe. Hitlers Augen sollen sich Episode seines Wirkens, in der er sich Henke, warnt allerdings davor, Speers Rol- laut Speer mit Tränen gefüllt haben. An- tatsächlich Verdienste erwirbt. Denn der le zu überschätzen. Denn die Deutschen, dere wären für diese Befehlsverweigerung energische Mann nutzt nun seine Auto- die Hitler so lange gern folgten, sind kei- hingerichtet worden, doch der Führer rität, um zu retten, was noch zu retten ist. neswegs bereit, ihre Heimat zu zerstören, schweigt, auch als Speer anbietet, bei ihm Beinahe ununterbrochen kurvt er in den nur weil der Führer es befiehlt. Zwar in Berlin zu bleiben. Das Treffen wird un- letzten Kriegswochen durch das Ruhrre- richten Hitler-Treue bis zum Kriegsende terbrochen. Erst Stunden später sind beide vier und die anderen Frontgebiete im Wes- Menschen hin, weil diese sich den sinn- wieder allein. Es ist inzwischen drei Uhr ten. Er will radikale Gauleiter und Wehr- losen Verteidigungskämpfen entgegenzu- morgens, und Speer will sich verabschie- machtgeneräle davon abhalten, mit dem stellen oder auch nur zu entziehen suchen. den. Hitler zeigt erneut keine Regung: „Sei- Regime auch das Land untergehen zu las- Doch „ungleich häufiger ist der unspekta- ne Worte kamen so kalt wie seine Hand: sen. Denn Hitler hat inzwischen die Nero- kuläre Normalfall einer örtlichen Koalition ,Also Sie fahren? Gut. Auf Wiedersehen.‘“ Order erneuert. von Ernüchterten und Besonnenen“, be- Speer gelingt es als einem der Letzten Der Führer weiß nicht, dass sich sein richtet Henke. Speer sei dabei durchaus aus der Entourage, mit einem Kleinflug- einstiger Liebling von ihm abgewendet hat. hilfreich gewesen, aber die „mächtige Op- zeug („Fieseler Storch“) Berlin zu ver- Speer sammelt Verbündete vor Ort, er lassen. Eine Woche später beschwört Wehrmachtoffiziere, Parteifunk- nimmt sich Hitler das Leben. tionäre, Beamte, nicht dem Druck von Speer gelingt es als einem der Letzten aus In der von ihm erstellten Ka- oben nachzugeben. Er lässt sicherheitshal- Hitlers Entourage, Berlin zu verlassen. binettsliste für eine Nachfol- ber Sprengstoff in Bergwerksschächte ver- geregierung unter Leitung senken und gelegentlich sogar Maschinen- position gegen den Untergangskurs“ habe von Großadmiral Karl Dönitz findet der gewehre an den Werkschutz ausgeben; die seiner „nicht bedurft“. einstige Liebling keine Berücksichtigung Wachleute sollen die Anlagen gegen brau- Das letzte Mal treffen sich der Architekt mehr. ne Fanatiker verteidigen. Rund 70 Reisen und sein Gebieter in der Nacht vom 23. auf Speer überlebt sein einstiges Idol um 36 mit weit über hundert Besprechungen zwi- den 24. April im Führerbunker unter der Jahre. Er stirbt 1981 bei einem Besuch in schen Januar und April 1945 haben Histo- Reichskanzlei. Die Rote Armee hat Berlin London in einem Hotel. riker gezählt. längst eingeschlossen, in dem muffigen Sein schwer ergründlicher Charakter of- Die Motive des Hitlers-Adlatus sind um- Gemäuer, acht Meter unter der Erde, erör- fenbart sich vielleicht am besten in einem stritten. Arbeitet der immer kühl kalkulie- tern die engeren Mitarbeiter, ob sie ihrem Satz, in dem er mit kühler Hybris Rück- rende Nationalsozialist bereits an einer Leben besser mit Zyankali oder einer Ku- schau hält. Als ihn sein Verleger Siedler Nachkriegskarriere? Oder kann er sich nun gel in den Kopf ein Ende setzen. einmal fragt, ob er – vor die Wahl gestellt – kurz vor dem Untergang – doch noch Hitler – ein von Parkinson gezeichne- – sich lieber als „anständiger Stadtarchitekt aus Hitlers Bann lösen, weil dieser den ter, früh vergreister Mann mit blasser, tei- von Heidelberg“ sähe oder seinen Le- Vertrauten in seine Untergangsphantasien giger Haut – überlegt, wo er seinen Suizid bensweg ein zweites Mal ginge, antwortet einweiht? „Es ist nicht notwendig, auf die besser in Szene setzen kann: in Berlin oder Speer: „Ich würde alles so noch einmal Grundlagen, die das deutsche Volk zu lieber auf dem Obersalzberg. Ein ergriffe- durchmachen wollen: noch einmal der seinem primitivsten Weiterleben braucht, ner Speer rät ihm zum Bleiben. Die Haupt- Glanz, noch einmal die Schande, noch ein- Rücksicht zu nehmen“, erklärt der Dikta- stadt sei ein angemessenerer Ort als das mal das Verbrechen und noch einmal der tor dem 40-Jährigen im März 1945 beiläu- „Wochenendhaus“. Weg in die Geschichte.“ ™

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