Ruth May | Barbara Zibell (Hrsg.) GenderKompetenz in Architektur Landschaft Planung Ideen Impulse Initiativen

WEITER_DENKEN 3

Ruth May | Barbara Zibell (Hrsg.)

GenderKompetenz in Architektur Landschaft Planung Ideen Impulse Initiativen

WEITER_DENKEN 3

Internationalismus-Verlag Hannover Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ueber http.//dnb.d-nb.de abrufbar.

WEITER_DENKEN 3 GenderKompetenz in Architektur Landschaft Planung Ideen Impulse Initiativen

Herausgeberinnen Ruth May Barbara Zibell

Redaktion Ruth May Christiane Schröder Katja Stock Barbara Zibell

Verlag Internationalismus-Verlag, Hannover 2012

Lektorat Christiane Schröder

Layout Petra Preuß

Umschlagbilder Ruth May, 3. Foto von unten: Sandra-Tabea Hirschler

WEITER_DENKEN ist eine Reihe des Forum für GenderKompetenz in Architektur Landschaft Planung (gender_archland) Fakultät für Architektur und Landschaft Leibniz Universität Hannover Die Herausgeberinnen und der Internationalismus Herrenhäuser Straße 8 Verlag danken allen Rechteinhabern/Rechteinhaberinnen 30419 Hannover für die freundlich gewährte Abdruckgenehmigung. Dort, wo trotz sorgfältiger Recherche kein Nachweis gefunden www.gender-archland.uni-hannover.de wurde, bitten wir um Benachrichtigung. Wir danken der Norddeutschen Landesbank, der Dr. med. ISSN 1869-5647 Helene-Marie Fastje-Stiftungund dem Freundeskreis der ISBN 978-3-922218-35-7 Leibniz UniversitätHannover für die Unterstützung. christina von haaren Grußwort

Das Forum für GenderKompetenz in Architektur Landschaft Planung (gender_archland) existiert nun bereits seit mehr als vier Jahren. Gegründet per Fakultätsratsbeschluss im Dezember 2007 und festlich eröffnet im Juli 2008, schaut es nach Auslaufen der Anschubfinanzierung durch das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur (MWK) auf eine beachtliche Aufbauphase zurück.

Im Bereich der drei Säulen, die es tragen – Forschung, Lehre und Transfer – wurde eine Reihe an Aktivitäten entwickelt, die über die Grenzen der Fakultät für Architektur und Landschaft und der Leibniz Universität Hannover hinaus wirksam geworden sind, nicht nur innerhalb des Landes Niedersachsen, sondern auch im Bundesgebiet und bis in den europäischen Raum hinein.

Von diesen zahlreichen Aktivitäten berichtet der vorliegende Band, der den Zeitraum von Oktober 2007 bis März 2011 umreißt. Er zeigt auf, was geworden ist, und benennt, wo es weiterer Entwicklungsschritte bedarf, damit sich das gender_ archland als eine Plattform für Genderperspektiven in Architektur und Landschaft, in den Raum-, Umwelt- und Planungswis- senschaften im weitesten Sinne, etabliert: als wissenschaftliches Forum, das Diskussionen führt, von dem Impulse ausgehen, das sich mit anderen universitären und außeruniversitären PartnerInnen vernetzt und zur Umsetzung von genderrelevantem Fachwissen in die Planungspraxis anregt.

Die ersten Schritte sind getan. Mit der Ansiedlung einer Juniorprofessur „Raum und Gender“, wiederum vom MWK gefördert, wird die Entwicklung von Genderperspektiven in Lehre und Forschung an der Fakultät für die Zukunft gesichert und, so ist zu wünschen, für alle Beteiligten produktiv gemacht.

Ich wünsche dem gender_archland auch für die kommenden Jahre weiterhin allen Erfolg und eine nachhaltige Konsoli- dierung seiner Arbeit.

Hannover, im März 2012

Prof. Dr. rer. hort. Christina von Haaren Dekanin der Fakultät für Architektur und Landschaft der Leibniz Universität Hannover. 5 6 ruth may Barbara zibell Vorwort der Herausgeberinnen

Endlich können wir die Öffentlichkeit über die ersten drei Jahre des Forums für GenderKompetenz in Architektur Landschaft Planung (gender_archland) informieren: Zuerst dauert es Jahre, bis die Einrichtung gegründet ist, dann wieder Jahre, bis sie sich etablieren kann, und nochmals einige Zeit, bis das, was getan wurde, zu Papier gebracht ist. Inzwischen läuft das Alltagsgeschäft weiter, Dinge verändern und entwickeln sich. Es ist eine erfreuliche Bilanz, die wir mit dieser Schrift im Namen des Vorstands1 ziehen können.

Der Band wirft einen Blick zurück auf die Gründung und stellt die verschiedenen Aktivitäten des gender_archland in Forschung, universitärer Lehre und praxisbezogenem Transfer eingehend dar. Aus den wissenschaftlichen Debatten des Forums und aus aktuellen Forschungsprojekten der beteiligten Wissenschaftlerinnen sind zahlreiche Beiträge entstanden, die wir hier erstmals publizieren. Insgesamt enthält der Band Ideen, Impulse und Initiativen zu Fragen der Genderkompetenz in der räumlichen Planung, wie es der Untertitel verspricht.

Wir sind stolz, dass es gelungen ist, nationale und internationale Kreise zu ziehen, und sehen es als Erfolg an, dass das gender_archland im April 2012 die Erste Internationale Genderkonferenz „Theorizing and practising gender-sensitive planning in European discourse“ mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur (MWK) ausrichten kann.

Nachdem wir einige Jahre gebraucht haben, um die Strukturen aufzubauen und zu festigen – die eigenständige Finan- zierung der Geschäftsstelle und die bevorstehende Besetzung der Juniorprofessur „Raum und Gender“ bilden hier wichtige Meilensteine –, und nachdem, unter anderem mit Unterstützung durch die ersten internationalen Gastprofessorinnen, die Module als Grundsteine für die Lehre in den neuen Bachelor-/Masterstudiengängen geschaffen worden sind, geht es nun darum, Forschungsschwerpunkte zu setzen, um den Weg zur anerkannten Forschungsinitiative zu bahnen.

Es ist nicht zuletzt die Arbeit an dem vorliegenden Band, die uns vor Augen geführt hat, wie viel von uns allen geleistet wurde, wie viel Unterstützung von außen aber auch zum Erfolg beigetragen hat. Ein besonderer Dank gilt Dr. Martina Padmanabhan für ihr Engagement zugunsten dieser Publikation. Der Norddeutschen Landesbank NORD/LB, der Dr. med.

1 seit der Mitgliederversammlung vom 30.11.2011 sind dies neben den beiden Herausgeberinnen: Eva Hacker, Martina Padmanabhan und Maike Tesch. 7 Helene-Marie Fastje-Stiftung und dem Freundeskreis der Leibniz Universität Hannover e.V. danken wir für ihre Unter- stützung bei der Finanzierung dieses Bandes. Nach zaghaften Anfängen ist eine breite Anerkennung erreicht. Das freut uns und macht Mut für nächste Schritte und den Kopf frei für neue Visionen – ganz im Sinne der Hannover-Devise von : Vorwärts nach weit!

Hannover, im März 2012

8 Inhaltsverzeichnis

Grußwort | Christina von Haaren Vorwort | Ruth May und Barbara Zibell

1 Das Forum für GenderKompetenz

idee und Gründung 13 Immer zielorientiert | Christiane Schröder 13 Eröffnungsrede zur Gründungsveranstaltung am 2. Juli 2008 | Barbara Zibell 19 Grußwort zur Eröffnung | Ingrid Lange 23 Grußwort zur Eröffnung | Udo Weilacher 24

impulse für Lehre und Praxis 26 In der Lehre für bessere Studien- und Arbeitsbedingungen streiten | Angelika Wolf 26 Gender zwischen Wissenschaft und Praxis | Anne Luise Müller 29

schwerpunkte, Aktivitäten und Kooperationen 32 Ein Überblick | Barbara Zibell 32

9 2 Forschung Einführung | Barbara Zibell 35

ForschungsForum 1 | Entwicklung fachübergreifender Kooperationen zwischen Architektur Landschaft Planung 41

ForschungsForum 2 | Biografieforschung 44 Der genderbewusste Blick zurück | Beate Ahr 46 Die Lernorte der Architektin Lucy Hillebrand | Sabine Warnecke 65 Zwischen Wutschnauben, Nostalgie und Understatement | Cornelia Göksu 75

ForschungsForum 3 | Planungstheorie und Gender 84 Planungstheorie und genderorientierte Forschung | Ruth May 87 How to research spatial planning from a feminist perspective | Lidewij Tummers 104

ForschungsForum 4 | Genderkompetenz in ländlichen Räumen 113 Der Markthof | Claudia Klement und Sabine Wyrwoll 114 Geschlechtergerechte Transformationsprozesse in Indien | Martina Padmanabhan 118

Projekte Lebens- und Wohnweisen im Umbruch | Annette Harth und Gitta Scheller 129 Margarete Boie (1880–1946) und Helene Varges (1877–1946) | Roswitha Kirsch-Stracke und Beate Ahr 134 BioDIVA | Hannah Arpke und Isabelle Kunze 138 Das Wohnerlebnis in Deutschland | Annette Harth und Gitta Scheller 143 Migrantinnen als Existenzgründerinnen | Ruth May 145 Zukunftschancen der bedarfsgerechten Nahversorgung in ländlichen Räumen Niedersachsens | Ingrid Heineking 148

Dissertationen Gender-Mainstreaming als Instrument bedarfsgerechter Wohnraumversorgung | Anke Schröder 154 Unbezahlte Arbeit und Stadtentwicklung | Irina Vellay 157

10 3 Lehre Einführung | Barbara Zibell 160

ausgewählte Lehrerfahrungen im Rückblick Geschlechtergerechte Sprache - Ein Experiment | Roswitha Kirsch-Stracke 164 Hospiz – die unbekannte Bauaufgabe | Johanna Niescken 171 Life – Kinder von einst für die Kinder von heute | Heiko Perkuhn 173

internationalisierung der Lehre Einführung | Barbara Zibell 176 The first Visiting Professor recounts her experiences | Lidewij Tummers 178 The second Visiting Professor recounts her experiences | Eva M. Álvarez Isidro 186

verstetigungskonzept und Ausblick 195

4 transfer Einführung | Barbara Zibell 197 Gendertrainings in kommunalen Planungsbehörden | Ingrid Heineking 198 Genderassessment am Beispiel einer Neubauplanung | Birgit Schmidtke und Barbara Zibell 202 Schriftenreihe WEITER_DENKEN 209 Vortragsreihe „dienstags um 6“ (dium6) 210 Ausstellung „On Stage!“ | Barbara Zibell 212

Ausblick | Barbara Zibell 217 AutorInnenverzeichnis 219

11 12 Das Forum für GenderKompetenz Idee und Gründung 1

christiane schröder Immer zielorientiert Ein Gespräch mit Anke Schröder, der ersten Geschäftsführerin des gender_archland

Anke, du hast das gender_archland mit aufgebaut und warst von 2008 bis 2009 seine erste Geschäftsführerin. Wie kam es zu der Idee, ein Forum für GenderKompetenz an der Fakultät für Architektur und Landschaft zu gründen? Da liefen zwei Stränge zusammen. Der erste hat mit Barbara Zibell, der Ersten Vorsitzenden des gender_archland, zu tun. Sie war 1996 auf die neu geschaffene Professur für Architektursoziologie und Frauenforschung berufen worden. Aufgrund dieser Denomination enthielten sich die meisten Kollegen und Kolleginnen des damals noch eigenständigen Fachbereichs einer eigenen Auseinandersetzung mit Frauen- und Genderfragen. Barbara Zibell wollte nach außen hin nicht immer auf die Position der Frauenvertreterin reduziert werden, vor allem aber fand sie es falsch, die Beschäftigung mit diesem Querschnittsthema auf Dauer nur an eine, in diesem Fall an ihre Person zu binden. Mit der Gründung der Abteilung Planungs- und Architektursoziologie im Jahr 2006 versuchte sie, die genderbezogene Auseinandersetzung in der räumlichen Planung in einen größeren Zusammenhang einzubinden. Da bot sich – und das ist der zweite Strang – die etwa zeitgleich stattfindende Umorganisation der Univer- sität an. 2006 wurden die beiden ehemals eigenständigen Fachbereiche Landschaftsarchitektur und Umwelt- entwicklung sowie Architektur in der neu gegründeten Fakultät für Architektur und Landschaft mit ihrem interdisziplinären Zuschnitt zusammengefasst.1 So entstand die Idee, ein Zentrum für Geschlechterforschung in Architektur Landschaft Planung an der Fakultät zu implementieren. Da es zum Zeitpunkt der Fakultätsgründung noch gar keine Verknüpfungen zwischen den beiden Fachgruppen gab, bot so ein Zentrum eine gute Gelegenheit, alle Disziplinen der neuen Fakultät zusammenzubringen. Im Sommer 2006 fand in einem noch kleinen, aber bereits interdisziplinären Kreis ein erstes Treffen des späteren gender_archland statt. Wir suchten dann weitere MitstreiterInnen – ausdrücklich von Anfang an immer auch

1 www.iup01.rrzn.uni-hannover.de/gesch.html (22.09.2011); www.umwelt.uni-hannover.de/gesch.html (22.09.2011). 13 christiane schröder

Männer –, arbeiteten eine Satzung aus, bereiteten eine Gründungsversammlung vor und stellten erste Finanzie- rungsanträge. Im Dezember 2007 schließlich fand die offizielle Gründungssitzung statt. Welche konkreten Ziele hattet ihr euch gesteckt? Schon lange vor der Gründung des Forums hatten wir in unserer Arbeit immer auch mit Frauen aus verschie- densten Professionen und Tätigkeitsfeldern zu tun – Raumplanerinnen, Geografinnen, Juristinnen, Sozialwis- senschaftlerinnen … –, die Forschungsfragen ebenfalls aus einem frauen- bzw. genderorientierten Blickwinkel stellten. Deswegen war es unsere grundlegende Idee, all diese an einer gemeinsamen Fragestellung Interessierten zu vernetzen, ihre unterschiedlichen Kompetenzen zusammenzubringen, gemeinsame Projekte zu initiieren und vom Forum aus zu koordinieren. Um dies umzusetzen, definierten wir von Anfang an den Transfer als eine unserer drei Säulen. Der Transfer war uns so wichtig, weil wir wussten, dass wir viel Unterstützung außerhalb unserer Fakultät hatten. Dies spiegelte sich auch von Anfang an in unserer Mitgliederstruktur: Unsere Mitglieder und UnterstützerInnen gehören nicht nur verschiedenen Fakultäten der Leibniz Universität an, sondern sind auch in Verwaltungen, Planungsbüros und Universitäten in ganz Deutschland und dem deutschsprachigen Ausland tätig. Unsere beiden anderen Säulen, Forschung und Lehre, verstehen sich an einer universitären Einrichtung ja von selbst. Auf der Handlungsebene schließlich sagten wir uns: Wir diskutieren immer zielorientiert, wir stellen uns für jede unserer Aktivitäten ein Thema und setzen uns immer auch ein Ziel, sodass wir aus unseren Veranstaltungen und Aktivitäten immer mit einem handlungsbezogenen Ergebnis herausgehen. Diese ehrgeizigen Ziele lassen sich aber nicht nebenbei verwirklichen. Das stimmt. Glücklicherweise gab uns Helga Gotzmann, die zentrale Gleichstellungsbeauftragte der Universität und eine große Unterstützerin unserer Forumsidee, den Hinweis, dass es seinerzeit beim Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur (MWK) im Rahmen des Maria- Goeppert-Mayer-Programms einen Haushaltstitel mit der Zweckbestimmung „Frauen- und Genderforschung. Förderung der Chancengleichheit für Frauen in Forschung und Lehre“ gab. Das MWK bewilligte unseren Antrag, weil wir mit unserem Konzept zum einen ein Alleinstellungsmerkmal in den planenden und entwerfenden Disziplinen aufwiesen und zum anderen die gerade gegründete Landesarbeitsgemeinschaft Podiumsdiskussion im Rahmen der Gründungsfeier. Von links der Einrichtungen für Frauen- und Geschlechterforschung in nach rechts: Barbara Zibell, Elisabeth Aufhauser, Anne Luise Niedersachsen (LAGEN) hervorragend ergänzten. So erhielten Müller, Angelika Wolf, Stephan Löb, Gesche Paare, Eva Hacker (Foto: Sandra-Tabea Hirschler, 2008). wir ab Herbst 2007 eine dreijährige Anschubfinanzierung für den Aufbau einer Geschäftsstelle. Mein Zeitvertrag als wissen-

14 Idee und Gründung 1 schaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur lief gerade aus, sodass ich mit einem weiteren befristeten Vertrag als Geschäftsführerin in das gender_archland wechselte. Und dann? Dann fragten wir uns, wie wir unsere Existenz nach außen bekannt machen und ins Bewusstsein der Leute geraten könnten. Wir wollten einen eindeutigen Startpunkt setzen und entschieden uns deshalb für eine große Gründungsfeier im Sommer 2008. Dazu hatten wir breit eingeladen und Vortragende gewonnen, die für je eine unserer drei Säulen standen und zugleich unsere interdisziplinäre Ausrichtung verkörperten. Im Anschluss an die Vorträge veranstalteten wir eine Podiumsdiskussion unter dem Leitthema „Genderdimensionen in Wissenschaft und Praxis – Beitrag zur Erweiterung beruflicher Perspektiven?“. Wir wollten bei der Gründungsveranstaltung nicht uns selbst feiern, sondern zeigen, was man mit der genderori- entierten Perspektive auf allen drei Ebenen bewirken kann. Und das ist uns an dem Tag gelungen. Eines muss man an unserer Fakultät auch immer tun: mit dem Raum spielen, ihn inszenieren, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Auch das war perfekt. Meine Nachfolgerin in der Geschäftsstelle, Johanna Niescken, die damals noch studen- tische Hilfskraft im Forum war, hatte ein wirkliches Geschick dafür. Was habt ihr getan, um das gender_archland bekannt zu machen und mit Leben zu füllen? Wir haben natürlich ein Logo entwickelt, das wir überall einsetzten. Dann haben wir alle bei jeder Gelegenheit nach außen getragen: Es gibt das Forum für GenderKompetenz und es gibt uns, die es leben und ausfüllen. Das ist ein aufwendiger Prozess, aber irgendwann klappt es. Wir hatten sehr rege Kontakte und engagierten uns in verschiedenen Netzwerken, sei es beispielsweise in der überregional aktiven Vereinigung für Stadt-, Regional- und Landesplanung e. V. (SRL)2 oder hier vor Ort bei den PlanungsFachFrauen der Region Hannover. Bald war einfach allen, zumindest in allen frauenbezogenen Kreisen, klar: Es gibt dieses Forum. Das ist uns, glaube ich, ganz gut gelungen. Unser nächstes Etappenziel war: mehr Impulse aussenden! In der Lehre taten dies bereits seit Langem insbeson- dere Roswitha Kirsch-Stracke, Ruth May und Barbara Zibell, die ja später gemeinsam auch entsprechende Wahl- pflichtmodule für die neuen Studiengänge durchsetzten. Im Transfer waren wir von vornherein stark. Barbara Zibell wurde beispielsweise häufig als Genderexpertin zu internationalen Workshops, Vorträgen oder Assess- ments eingeladen; ich wurde von der Technischen Universität beauftragt, ProfessorInnen und wissen- schaftliche MitarbeiterInnen in Workshops, sogenannten Gendertrainings, in das Gender-Mainstreaming in Architektur und Städtebau einzuführen. Weitere Anfragen aus verschiedenen Kommunen, ihre Baudezernate aus der Genderperspektive zu schulen, folgten.3 Wir berieten die Oberfinanzdirektion Niedersachsen bei der Wettbe- werbsausschreibung für den Neubau des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) in Braunschweig und gaben unsere Genderkompetenz in die Vorprüfung der eingereichten Wettbewerbsbeiträge.4

2 www.srl.de (29.09.2011). 3 Siehe den Beitrag von Ingrid Heineking zu Gendertrainings in diesem Band. 4 Siehe den Beitrag von Birgit Schmidtke und Barbara Zibell in diesem Band. 15 christiane schröder

Darüber hinaus fragten wir uns, was wir für die Forschung tun könnten, und so entwickelte sich die Idee der ForschungsForen (ForFo). In ihnen manifestiert sich unsere Ausgangsidee, Frauen aus unterschiedlichen Diszi- plinen und Tätigkeitsfeldern an einen Tisch zu bringen. Wir haben deshalb im ersten ForFo sehr deutlich formuliert: Ohne euch Mitglieder können wir eigentlich nicht handeln, wir brauchen euch dafür und ihr könnt mitgestalten. In der Tat gingen alle nach diesem ersten ForFo mit mehr Klarheit, was das gender_archland jeder Einzelnen bietet und was jede dem gender_archland bieten kann, nach Hause. Wir bekamen positive Rückmel- dungen. Die euphorische Stimmung nach dem ersten ForschungsForum und die über den Tag hinaus anhaltende positive Resonanz bestärkten uns, ForschungsForen als regelmäßige Institution des gender_archland anzubieten. Sie sollten einen Festpunkt unserer Arbeit bilden, um regelmäßig zusammenzukommen und zu gucken, wo wir stehen, wo wir noch unterstützen müssen, wie wir etwas verstetigen können. Wie hat sich die Arbeit des gender_archland konsolidiert? Für diese Frage gibt es aus verschiedenen Blickwinkeln unterschiedliche Antworten. Hervorragend hat sich die Vernetzung nach außen entwickelt. Die Frauenforschung hatte sich mittlerweile bundesweit schon gut etabliert und zur Genderforschung weiterentwickelt. In den genderbezogenen Planungs- wissenschaften waren vor allem die Fakultät für Raumplanung in Dortmund und die Universität der Künste Berlin sowie die Universität Kassel bereits sehr stark geworden. Noch in unserer Gründungsphase, im Herbst 2007, entwickelte sich dann das europäische Netzwerk Gender, Diversity and Urban Sustainability (GDUS)5, in dem wir seit Anfang an engagiert sind. Die Vernetzung nach außen war immer viel einfacher als die nach innen. Dort wurde der Wert unserer Forschungen und unserer Lehre viel eher erkannt, von dort erfuhren wir mehr Wertschätzung und Anerkennung als in der eigenen Fakultät. Wir konnten aus diesen Vernetzungen immer Impulse mitnehmen für unsere Arbeit. Das klingt, als sei das Forum an der eigenen Fakultät ein weniger geliebtes Stiefkind. Ja, manchmal habe ich das so empfunden. Wir hatten uns aus der Fakultät größeren Zuspruch erhofft, da wir ja mit der Anschubfinanzierung durch das MWK nennenswerte Drittmittel eingeworben hatten. Das finan- zielle Volumen von Frauenprojekten ist jedoch in der Regel nicht so groß, als dass man sich wirkungsvoll mit ihnen schmücken kann, und der Fakultätsrat wollte nicht so recht den Frauen- bzw. Genderschwerpunkt nach außen etablieren. So wurden wir nicht eine Einrichtung der Fakultät, denn dies hätte möglicherweise finanzielle Verpflichtungen der Fakultät uns gegenüber nach sich gezogen, sondern eine Initiative „an“ der Fakultät. Wirken Frauenprojekte vielleicht auch oft nicht anwendungsorientiert genug? Kleinere Stromrechnungen, die auf Forschungen zu Energetischem Bauen zurückgehen, nehmen alle dankbar zur Kenntnis. Ob eine Frau hingegen durch veränderte städtebauliche Situationen ihre Wege mit einem ruhigeren Pulsschlag macht, wird als ihre private Sache angesehen und genießt nur eine geringe gesellschaftliche Wertschätzung.

5 heute: Gender and Diversity in Urban Sustainability. www.rali.boku.ac.at/gdus.html (29.09.2011). 16 Idee und Gründung 1 Im Prinzip mag das so sein, doch in kleinen Schritten verändert sich die Forschungslandschaft schon. Aber das ist nicht alles. Sicherlich spielt auch die lang zurückreichende Vorgeschichte der Frauen- und Genderstudien am früheren Fachbereich Architektur hinein. Als ich in den 1990er-Jahren dort noch studierte, bemängelten vor allem wir Studentinnen, dass zu wenige Frauen lehrten. Wir erhielten Unterstützung durch Margrit Kennedy, die 1991 als erste Professorin an den Fachbereich berufen wurde, und Elke Krüger-Hespe aus dem wissenschaftlichen Mittelbau. Als Frauenbeauftragte des Fachbereichs setzten sie sich mit den Studentinnen für eine Erhöhung des Frauenanteils in der Lehre ein. Daraufhin wurde 1994 Ursula Paravicini auf die Professur für Architekturtheorie berufen. Zusätzlich erwirkten wir die Einrichtung einer Professur, die durch ihre Denomination „Architekturso- ziologie und Frauenforschung“ das Interesse des Fachbereichs an Frauenforschung sichtbar machte, eben den dann mit Barbara Zibell besetzten Lehrstuhl. Beide Fachgebiete waren im Institut für Planungs- und Architek- turtheorie zusammengefasst. Dieses Institut galt nach vorherrschender Meinung im Fachbereich als der Ort für Frauenforschung, da auch Ursula Paravicini in diesem Feld ausgewiesen war. Nur einzelne ProfessorInnen und wissenschaftliche MitarbeiterInnen integrierten die Genderperspektive in ihre Arbeit, als Querschnittsthema hat sie sich bisher nicht etabliert. Aber es gibt mittlerweile doch etliche jüngere Kolleginnen und Kollegen in der Fakultät, die diese Entwicklungen gar nicht miterlebt haben. Das stimmt. Das hat ja auch die Einrichtung unserer Geschäftsstelle ermöglicht. Aber es macht den Eindruck – so meine persönliche Sichtweise –, dass die Arbeit des Forums vonseiten der Fakultät doch auf Sparflamme gehalten wird. Das zeigte sich deutlich an der Raumsuche für unsere Geschäftsstelle. Wir hätten gerne einen Raum auf dem Dekanatsflur bekommen, wo alle zentralen Fakultätseinrichtungen wie das Büro International Relations und das fakultätsüberbergreifende Zentrum für Gartenkunst und Landschaftsarchitektur (CGL) angesiedelt sind. Stattdessen sind wir abseits der Wege und abgeschnitten von den Informationsflüssen im Keller gelandet. Das war eine deutliche Geste. Wie hat sich das gender_archland nach innen entwickelt? Die Umsetzung so großer und tief greifender Ziele, wie das gender_archland sie hat, braucht Zeit und Geduld. Aktuell ist festzustellen, dass sich das gender_archland weiterentwickelt und über die Einbindung von Gastprofessuren an der Fakultät etablieren kann. Das ist eine erfreuliche Entwicklung, die anfangs nicht abzusehen war. Im Bereich der ForschungsForen macht das gender_archland Diskussionsangebote. Die Impulse kommen häufig eher von innen, also vom Vorstand und von der Geschäftsstelle, und können von den Mitgliedern angenommen werden oder eben nicht. Das hängt aber zweifelsohne eng mit den finanziellen und personellen Möglichkeiten der Geschäfts- Das für die Gründungsveranstaltung hergerichtete stelle zusammen. Mit meinem aktuellen Blick von außen erlebe Foyer des Fakultätsgebäudes an der Herrenhäuser Straße 8 ich, dass ich mich als externes Mitglied schon gerne beteiligen (Foto: Sandra-Tabea Hirschler, 2008). 17 christiane schröder möchte, aber nicht mehr in der aktuellen Diskussion stecke. Die ForschungsForen bieten aber die Möglichkeit des Austauschs und wenn sich eine Forschungsidee entwickelt, weiß ich, dass ich diese gegebenenfalls am gender_ archland ansiedeln kann. Leider ist häufig die Zeit sehr knapp ... … und da versinken wir alle in unserem Alltagsgeschäft und in unseren Kernaufgaben, die ja alle neben ihrem Engagement für das Forum haben. Stimmt. Nun ja, in Frauenthemen engagierte Frauen kennen es ja, mit Aufs und Abs zu leben. Jeder funktionie- rende Zusammenschluss hängt eben an dem Engagement Einzelner. Die Aktiven im Forum kennen sich lange und arbeiten seit Jahren zusammen. In meinen Lehrveranstaltungen fand ich es immer schade, dass sich nicht viele für die Genderthematik interessiert haben. Bemerkenswert war, dass mehr Studierende kamen, wenn wir den Lehrveranstaltungen einen neutralen Titel gaben und die Genderinhalte „nebenbei“ vermittelten. Die neuen Studiengänge enthalten nun ein interdisziplinäres Gendermodul, was sicher als Erfolg gewertet werden kann, um diese Perspektive im Lehrprogramm zu verankern, doch den Studierenden ist die Relevanz der Gender-inhalte augenscheinlich noch immer schwer vermittelbar. Frau muss umdenken, richtig Zeit investieren und versuchen, das ganze Thema anders zu implementieren. Das heißt ja keinesfalls, dass die Ideen und Gedanken, die dahinter- stehen, aufgegeben werden! Was denkst du aus der Distanz über die Realisierbarkeit der gender_archland-Ziele? Ich finde die Idee des Forums für GenderKompetenz nach wie vor ganz prima. Es stellt auch mit wenigen finanzi- ellen Mitteln ganz, ganz viel auf die Beine. Dabei ist es immer sehr flexibel, was nach außen unglaublich toll ist, aber nach innen auch viel Kraft raubt. Die absoluten Highlights der ersten Jahre waren natürlich der Zuspruch und der Schwung nach der Gründungsfeier und nach dem ersten ForschungsForum, aber auch die Bewilligung unseres Maria-Goeppert-Mayer-Antrags auf Einrichtung der mit Lidewij Tummers besetzten Gastprofessur. Aber natürlich müssen wir auch sehen, dass manche unserer Pläne sich nicht so schnell umsetzen ließen, wie wir gehofft hatten. Ein großer Knackpunkt ist es, dass es keine dauerhafte Finanzierung für eine ausreichende perso- nelle Besetzung und Ausstattung der Geschäftsstelle gibt. Es ist natürlich ausgesprochen schwierig für jeden Zusammenschluss und für jede Institution, wenn sie keine Kontinuität gewinnt. Mir war klar, dass dies mit meinem Weggang schon sehr erschwert wurde, deshalb bin ich schweren Herzens gegangen. Aber es gab keine weitere Finanzierung für eine Stelle. Ein Zentrum kann sich nur wirkungsvoll positionieren, wenn sich jemand tagtäglich kümmert und auch in der Lage ist, Projekte anzustoßen. Nicht nur zu verteilen, sondern auch Ideen in die Runde zu geben oder vielleicht auch eigenständig oder mit anderen zusammen ein Projekt zu entwickeln. Diese Arbeit, diese Kompetenz kann niemand auf Dauer in ausreichendem Umfang ehrenamtlich einbringen.

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Barbara Zibell Eröffnungsrede zur Gründungsveranstaltung am 2. Juli 2008

Als Erste Vorsitzende des Forums für GenderKompetenz in Architektur Landschaft Planung (kurz: gender_ archland) möchte ich Sie heute zu unserer festlichen Gründungsveranstaltung ganz herzlich begrüßen. Zu unseren Gästen gehören Vertreterinnen und Vertreter unserer Fakultät, der Landeshauptstadt Hannover sowie des Landes Niedersachsen, die sich bereit erklärt haben, einige Grußworte zu uns zu sprechen. Im Weiteren sind dies drei Referentinnen aus Hochschule und Verwaltung zu den drei inhaltlichen Schwerpunkten des gender_ archland, die ich im Folgenden noch kurz skizzieren werde: Forschung, Lehre, Transfer. Und es sind dies die bishe- rigen Mitglieder: die Gründungsmitglieder, die im vergangenen Dezember an der Gründung des gender_archland beteiligt waren, sowie geladene Gäste der Fakultät, der Universität, Planungsfachleute und politische Persön- lichkeiten aus Stadt, Land und Region sowie aus anderen Städten, Ländern und Regionen, von Universitäten und planenden wie forschenden Institutionen im In- und Ausland. Bevor ich das Wort an meine NachrednerInnen weitergebe, einige Anmerkungen zu den Zielen und Inhalten, den Strukturen, zur Finanzierung und Vernetzung des gender_archland. gender_archland: Ziele und Inhalte Das Forum für GenderKompetenz in Architektur Landschaft Planung ist eine Initiative an der Fakultät für Archi- tektur und Landschaft der Leibniz Universität Hannover. Es versteht sich als fächerübergreifende Plattform für die Bereitstellung, Bündelung, Förderung, Erweiterung, Verbreitung und Vermittlung einschlägigen Wissens in den raum- und umweltbezogenen planenden und gestaltenden Disziplinen. Aufgabe des gender_archland ist insbesondere die Etablierung der genderbezogenen Forschung in den Raum-, Umwelt- und Planungswissenschaften. Mittelfristiges Ziel ist es, ein interdisziplinäres Forschungszentrum aufzu- bauen. Erster Schritt hierzu ist die Einrichtung einer interdisziplinären Forschungsinitiative, die auf Antrag von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aufgrund eines größeren universitätsinternen Forschungsvorhabens

19 durch das Präsidium unserer Universität eingerichtet werden kann. Voraussetzung ist der Zusammenschluss einzelner Arbeitsgruppen für eine Kooperation zu einem klar beschriebenen und umfangreichen Forschungs- thema über Fächer- und Fakultätsgrenzen hinweg. Ein wichtiger Anknüpfungspunkt ist für uns hierbei der bereits seit Jahren erfolgreich existierende Studien- und Forschungsschwerpunkt Gender Studies an der Philoso- phischen Fakultät, ein institutionalisierter Kooperationszusammenhang von DozentInnen, die sich in Forschung und Lehre mit historischen, politologischen, soziologischen und sozialpsychologischen Problemen des Geschlech- terverhältnisses und der Geschlechterdifferenz befassen,1 im Weiteren auch die Kooperation mit Kolleginnen und Kollegen anderer Fakultäten, die zum Teil bereits in anderen Arbeitszusammenhängen wie der fachüber- greifenden Arbeitsgruppe Raum & Region oder dem Zentrum für Gartenkunst und Landschaftsarchitektur (CGL) zusammenarbeiten. Neben der fachwissenschaftlichen und der fachübergreifenden Forschung will sich das Forum der Vermittlung von Forschungsergebnissen und von anwendungsorientiertem Basiswissen sowie der Profilierung der Lehre im Rahmen von Bachelor- und Masterstudiengängen widmen sowie der Graduiertenausbildung und wissen- schaftlichen Weiterbildung, es will Forschungsergebnisse publizieren und öffentliche Vortragsveranstaltungen, Tagungen und Workshops durchführen. Zu den Aufgaben des gender_archland gehören darüber hinaus Wissenstransfer in die Praxis und die nationale und internationale Vernetzung mit entsprechenden universitären wie außeruniversitären Einrichtungen sowie die genderbezogene Öffentlichkeitsarbeit und Profilierung des Standortes Hannover für Genderfragen in den raum-, umwelt- und planungsbezogenen Disziplinen. Ein großes Programm, für das wir viel Unterstützung von innen wie aber auch von außen brauchen und brauchen werden. gender_archland: Strukturen Das gender_archland hat sich an seiner Gründungsversammlung am 7. Dezember 2007 bereits Strukturen gegeben, in denen es nunmehr seit einem halben Jahr tätig ist. Dazu gehören: ein Vorstand, dem die Leitung des Forums obliegt und der aus dem Forum angehörenden Mitgliedern der Leibniz Universität Hannover gebildet wird. Derzeit sind dies neben mir meine Kollegin Prof. Dr. Eva Hacker aus der Fachgruppe Landschaft sowie zwei Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen, Dr.-Ing. Ruth May vom Institut für Geschichte und Theorie der Architektur und Dipl.-Ing. Roswitha Kirsch-Stracke vom Institut für Umweltplanung.2 Der Vorstand wird unterstützt durch eine Geschäftsstelle, die zurzeit durch meine langjährige Mitarbeiterin, Dipl.-Ing. Anke Schröder, geführt und vonseiten der Fachgruppe Landschaft durch eine weitere Mitarbeiterin,

1 Im Zuge inhaltlicher Neuprofilierungen wurde der Schwerpunkt 2009 aufgelöst. 2 noch 2008 wurde auch Helga Kanning (Institut für Umweltplanung, IUP) in den Vorstand gewählt. Sie und Roswitha Kirsch-Stracke waren bis 2011 Mitglieder des Vorstands; seit 2011 sind Martina Padmanabhan (IUP) und Maike Tesch (Institut für Didaktik der Mathematik und Physik) hinzugekommen. 20 Idee und Gründung 1 Dipl.-Ing. Anne Werpup, sowie zwei studentische Mitarbeiterinnen, Sandra-Tabea Hirschler und Birte Schmidt, unterstützt wird. Mit der Unterstützung durch personelle Ressourcen ist es natürlich allein nicht getan bzw. die fallen, auch an einer Universität, nicht vom Himmel. Ich möchte an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen, dass wir dem MWK, ganz besonders in Person von Frau Dr. Barbara Hartung, einen großen Anteil der Anschubfinanzierung zu verdanken haben, aus der wir die Vernet- zungsarbeit und den Aufbau der Forschungsgrundlagen bestreiten können. Daneben hat auch das Präsidium unserer Universität dankenswerterweise Mittel aus dem Forschungsfonds zur Verfügung gestellt, um erste Dritt- mittelanträge vorbereiten zu können. gender_archland: Vernetzung Zu den Aufgaben des gender_archland gehört auch die nationale und internationale Vernetzung mit entspre- chenden universitären wie außeruniversitären Einrichtungen und die Verankerung als National Focal Point für Gender Planning in Deutschland. Neben individuellen Vernetzungen als Ausgangsbasis für künftige Koopera- tionen existieren bereits institutionalisierte Strukturen und erprobte Netzwerke auf verschiedenen Ebenen, dies sind: -- in Stadt und Region zunächst einmal das Netzwerk der PlanungsFachFrauen, das sich als Sprachrohr für Fraueninteressen seit mehr als 10 Jahren in der Zusammenarbeit mit dem Kommunalverband bzw. der Region Hannover bewährt hat und das mit weiteren Frauennetzwerken in Niedersachsen, insbesondere den Planerinnen Braunschweig, kooperiert; -- die Landesarbeitsgemeinschaft der Einrichtungen für Frauen- und Geschlechterforschung in Niedersachsen (LAGEN), die ebenfalls im Dezember 2007 ins Leben gerufen wurde und zu dem neben dem gender_archland das Braunschweiger Zentrum für Gender Studies, das Studienfach Geschlechterforschung der Universität Göttingen, der bereits genannte Studien- und Forschungsschwerpunkt Gender Studies an unserer Univer- sität, das Forschungszentrum Musik und Gender (fmg) an der Hochschule für Musik und Theater Hannover, das Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterstudien (ZIF) in Hildesheim, das Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung (ZFG) in und das Kooperationsnetzwerk ZFG – FH OOW (FH Oldenburg Ostfriesland Wilhelmshaven) „Geschlechterforschung in der Nord-West-Region“ gehören. Ziele dieser Landesarbeitsgemeinschaft sind: die Vernetzung der Gender Studies in Niedersachsen, die Stärkung der bereits begonnenen erfolgreichen Kooperation, die Anbahnung gemeinsamer Projekte in Forschung und Lehre sowie eine abgestimmte wissenschaftspolitische Interessenvertretung; -- nationale Vernetzungen über verschiedene berufliche und akademische Zusammenschlüsse wie zum Beispiel die Fachgruppe Frauen in der SRL, der Vereinigung für Stadt-, Regional- und Landesplanung, deren derzeitige Sprecherinnen in der Region Hannover ansässig sind und dazu beigetragen haben, dass eine bundesweite Vernetzung der Frauennetzwerke Europäischer Metropolregionen in Deutschland entstehen konnte;

21 Barbara Zibell

-- internationale Verbindungen zu dem nationalen Projekt LARES in der Schweiz, das vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann als Pilotprojekt unterstützt wird und sich auf Dauer zu einer Einrichtung entwickeln möchte, die zur Erhöhung der Präsenz von Fachfrauen in Bau- und Planungsträger- schaften beitragen und die fachliche Genderexpertise im Lande mehren soll, sowie seit der Mitarbeit an dem INTERREG-Vorhaben „GenderAlp!“ (2005-2007) im Weiteren zu PartnerInnen aus Wissenschaft und Praxis in Österreich, Italien, Frankreich und Slowenien und im Rahmen des gerade entstehenden europäischen Netzwerkes Gender and Urban Sustainability (GUS), im Rahmen dessen erweiterte Forschungskooperationen aufgebaut werden sollen. Aufgrund der existierenden wie der auszubauenden Vernetzungen ist es Anliegen des Forums, alle Mitglieder und Angehörigen der Leibniz Universität Hannover sowie auch Dritte, die sich im wissenschaftlichen Themengebiet des Forums betätigen, auf der Plattform des gender_archland zu vernetzen. Ich freue mich, dass Sie alle mit Ihrer Anwesenheit dazu beitragen, den Anlass für uns heute zu einem wirklichen Fest zu machen, an dem nicht nur Erkenntnisse durch Vorträge und Diskussionen gemehrt, sondern auch Bekannt- schaften aufgefrischt und neue Kontakte geknüpft werden können. Wenn es uns heute gelingt, den Auftakt zu bieten für Entwicklung und Ausbau von Genderkooperationen in Forschung und Praxis, dann ist ein wichtiges Ziel dieses Nachmittags und Abends schon erreicht. Bevor ich nun das Podium freigebe für die Grußworte meiner NachrednerInnen, möchte ich nicht versäumen, all jenen zu danken, die mit ihrer tatkräftigen Unterstützung dazu beigetragen haben, dass dieser festliche Anlass heute in dieser Form überhaupt stattfinden kann. Dazu gehören neben meiner Kollegin Prof. Dr. Eva Hacker insbesondere die Mitarbeiterinnen der Geschäftsstelle, Anke Schröder, Anne Werpup, Sandra-Tabea Hirschler und Birte Schmidt, und zwei weitere studentische MitarbeiterInnen der Abteilung Planungs- und Architekturso- ziologie, Isabell Meyer und Heiko Perkuhn. Und nicht zuletzt gebührt ein großer Dank auch der Zentralen Gleich- stellungsbeauftragten unserer Universität, Frau Dipl.-Sozialwiss. Helga Gotzmann, die uns mit ihrer mentalen Unterstützung wie auch mit Rat und Tat im Vorfeld der Gründung und der ersten Phase des Bestehens jederzeit geduldig und ermunternd zur Seite stand.

22 1

Ingrid Lange Grußwort zur Eröffnung

Meine sehr verehrten Damen und Herren, heute ist ein toller Tag für die Leibniz Universität, für die Stadt Hannover und natürlich für Sie, Frau Prof. Zibell und Frau Prof. Hacker, und Ihr Team. Sie alle haben das gender_archland zum Laufen gebracht. Herzlichen Glückwunsch. Dieses Forum für GenderKompetenz ist für die Unterstützung der Netzwerkarbeit zu Genderfragen in der Landes- hauptstadt und in der Region Hannover ein großer Vorteil und Motor. Eine Bündelung am Standort Hannover kommt nicht von ungefähr, sondern ist ein Ergebnis vieler Aktivitäten, die durch Unifrauen, Praktikerinnen und Politikerinnen u. a. in Form des Netzwerkes der PlanungsFachFrauen Hannover schon bald 20 Jahre bekannt sind. Die Akteurinnen in Stadt und Region Hannover freuen sich besonders auf den Transfer von Forschungsergeb- nissen in die Praxis und mögliche Kooperationen mit der Uni sowie über die Möglichkeit, kompaktes Gender- wissen abzufragen. Aktuelle „greifbare“ Forschungsthemen werden u. a. „Gender und städtische Nachhaltigkeit“ sein. Das passiert bereits im November der WISSENschaf(f)t 2008. Hier ist das neue Forum für GenderKompetenz beteiligt. Heute wird gefeiert. Und dann geht es richtig los, denn es gibt viel zu tun. Gender ist für viele immer noch ein Fremdwort, gerade im ingenieurwissenschaftlichen Bereich. Ich weiß, wovon ich rede. Ich bin von Ingenieuren umzingelt. Machen Sie was Gutes daraus! Schaffen Sie Wissen über und mit Gender für Ihr Forum und für uns alle, d. h. für die ganze Stadtgesellschaft. Viel Glück.

Ingrid Lange Bürgermeisterin der Landeshauptstadt Hannover (von September 2001 bis Oktober 2011). 23 Udo Weilacher Grußwort zur Eröffnung

Sehr geehrter Herr Präsident Prof. Dr. Barke, liebe Barbara Zibell, liebe Eva Hacker, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Studentinnen und Studenten, meine sehr geehrten Damen und Herren, „wer in akademischen Kreisen nach dem ‚Geschlecht’ fragt, muss mit Gegenfragen rechnen: Geht es um das biologische oder um das angeblich sozial konstruierte Geschlecht, im Fachjargon ‚Gender’ genannt? Die junge Disziplin der ‚Gender Studies’ befindet sich seit einigen Jahren in einem Höhenflug ohnegleichen. Damit hat sich ein Fach etabliert, das nicht nur die Universitäten umkrempelt, sondern die Welt verändern will.“ So war es jedenfalls kürzlich in einer namhaften Tageszeitung zu lesen.1 Ich muss Ihnen gestehen, dass ich kein intimer Kenner der Gender Studies bin, und ich weiß natürlich nicht, ob die Initiatorinnen des neu gegründeten Forums für GenderKompetenz in Architektur Landschaft Planung, Barbara Zibell und Eva Hacker, nicht tatsächlich insgeheim die Leibniz Universität Hannover umkrempeln wollen. Wenn dem tatsächlich so wäre, ließe sich zumindest teilweise die spürbare Nervosität erklären, mit der so manche männliche Kollegen in den vergangenen Monaten auf die für heute angekündigte Gründung des Forums für GenderKompetenz reagierten. Bemerkenswert ist aber, dass diese Initiative bottom up, also ohne Anstoß von oben, sondern durch leidenschaftliche Initiative aus dem Kreis der Kolleginnen entstanden ist. Derlei außeror- dentliches Engagement ist an einer Fakultät immer sehr gerne gesehen, denn davon profitiert ein lebendiger Wissenschaftsbetrieb ungemein, und gegen ein wenig Veränderung in der Welt ist ja auch prinzipiell nichts einzuwenden, jedenfalls dann nicht, wenn es denn um eine Veränderung zum Guten gehen soll, und davon gehe ich beim Forum für GenderKompetenz selbstverständlich aus.

Prof. Dr. sc. Udo Weilacher Dekan der Fakultät für Architektur und Landschaft (von Juni 2006 bis September 2008).

1 handelsblatt, 19.09.2007, nachzulesen unter www.handelsblatt.com/technologie/forschung-medizin/forschung-innovation/gender- studies-feministinnen-erforschen-sich-selbst/2863394.html (17.03.2012), die Redaktion. 24 Idee und Gründung 1 Den Initiatorinnen möchte ich zum Gelingen der Initiative sowohl herzlich gratulieren als ihnen auch viel Erfolg und Ausdauer wünschen. Wenn es nämlich in einer Fakultät – und davon kann ich mittlerweile als zwei Jahre lang amtierender Dekan ein Lied singen – schon derart schwierig ist, auch nur kleine strukturelle Veränderungen an der Schnittstelle zwischen Architektur und Landschaft in die Tat umzusetzen, besonders dann, wenn persön- licher Einflussschwund und Machtverlust, Freiheitsbeschränkung und Identitätsknick befürchtet werden – wie viel Energie und Hartnäckigkeit ist dann wohl erforderlich, um weitreichende strukturelle Veränderungen im etablierten Wissenschaftsbetrieb zu erreichen? Ein Standbein der Gender Studies sei die Wissenschaftskritik - das jedenfalls habe ich an anderen Hochschulen gelernt, wo dieser Bereich längst etabliert ist. Die Kritik an strukturellen Machtverhältnissen, besonders an der Verquickung von Wissensproduktion und Macht, wird im Rahmen der Gender Studies andernorts zielstrebig thematisiert. Laut Geschäftsordnung des Forums steht in Hannover unter anderem die Etablierung der gender- bezogenen Forschung in den Raum-, Umwelt- und Planungswissenschaften im Mittelpunkt des Interesses. Also auch hier, spätestens wenn es um die Anwendung der erreichten Forschungsergebnisse in der Praxis geht, führt kein Weg an der hartnäckigen Auseinandersetzung mit etablierten Machtstrukturen auf gesamtgesellschaft- licher Ebene vorbei. Dafür wünsche ich der Initiative, deren Ziel es ist, zukünftig auch Forschungsinitiative zu werden, viel Kraft und Ausdauer – aber auch ein sensibles Gespür für die Gefahren einer politisch-ideologischen Instrumentalisierung ihrer Arbeit, etwa vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussionen um einen neuen Feminismus, wie er sich beispielsweise im Buch „Alphamädchen“ der drei Journalistinnen Haaf, Klinger und Streidl offenbart. „Sie wollen einen Feminismus, aber ohne Klagesound“, war kürzlich im Tagesspiegel unter der Überschrift „Alices Töchter“ zu lesen. Feminismus – kein Thema für das Forum für GenderKompetenz in Architektur Landschaft Planung? Ich bin mir da nicht ganz sicher: Erst kürzlich fand an der Berliner Humboldt-Universität eine mit renommierten Juristinnen, Soziologinnen und Kulturwissenschaftlerinnen besetzte Diskussionsrunde zum Thema „Feminismus (heute) und Gender Studies“ statt. Sehr rasch war man sich in dieser Runde darüber einig, dass die Gender Studies ohne den Feminismus nicht denkbar wären. Ich selbst habe während meines Studiums in den 1980er-Jahren an der TU München meine ersten Erfah- rungen mit einem Feminismus in Landschaftsarchitektur und Landschaftsplanung gemacht, der nicht nur vom Klagesound geprägt war, sondern für mich auch besonders zweifelhaft wurde, als er zu einem Kampf gegen vermeintlich typisch männliche Windmühlenflügel ausartete, in dessen Verlauf vieles zu Bruch ging, was noch kurz zuvor im Sinne einer lebenswerten Umweltgestaltung als selbstverständliche Errungenschaft galt. Ich weiß, liebe Barbara, liebe Eva – derlei Windmühlenkämpfe liegen Euch fern, und wenn sich das auch in Zukunft bewahrheitet, dann sehe ich keinen Grund, warum aus dem Forum für GenderKompetenz in Archi- tektur Landschaft Planung nicht dereinst eine Forschungsinitiative oder ein Zentrum an der Leibniz Universität Hannover werden sollte. Dafür wünsche ich Euch jedenfalls viel Erfolg.

25 Impulse für Lehre und Praxis

ANGELIKA WOLF In der Lehre für bessere Studien- und Arbeitsbedingungen streiten

Im Jahr 2008 wurde an der Hochschule Ostwestfalen-Lippe im Studiengang Landschaftsarchitektur eine nicht repräsen- tative Umfrage unter Studierenden über ihre Erfahrungen mit Genderfragen und ihre Haltungen dazu durchgeführt. Überraschung zum Studienende Noch immer gilt in der Profession der Landschaftsarchitektur dasselbe wie in fast allen Ingenieurberufen: Die Chancen von Frauen unterscheiden sich gravierend von denen ihrer männlichen Mitbewerber. Die jungen Absolventinnen wurden in ihrem bisherigen Lebensweg in der Regel wenig mit geschlechtlicher Ungleich- behandlung in Arbeit und Studium konfrontiert. Die Errungen- schaften der Frauenbewegung der 1970er- und 1980er-Jahre erscheinen ihnen als Selbstverständlichkeiten. Entsprechend überrascht reagieren sie auf die Ungleichbehandlungen im Berufsleben, denn weder Schule noch Studium noch ihr weiteres Lebensumfeld haben sie darauf vorbereitet. Sie verfügen kaum über Strategien, diesen zu begegnen.

Frau im Aufbruch. Unbekannter Künstler in der Schweiz (Foto: Angelika Wolf, 2006).

Impulsvortrag zur Gründungsveranstaltung am 2. Juli 2008. 26 Impulse für die Lehre und Praxis 1 Genderfragen im Studium weitgehend außen vor Obwohl 50 Prozent der befragten Frauen sich schon vor ihrem Studium mit Genderfragen beschäftigt haben („in der Schulzeit“, „aus Neugier“) oder eigene Erfahrungen haben („sind durch Angsträume gegangen“, „haben im Arbeitsleben, bei Bewerbungen und der Bezahlung geringere Wertschätzung empfunden“),1 sind diese für sie während des Studiums kein explizites Thema. Für die männlichen Kommilitonen stellen sich solche Fragen gar nicht. Im Gegenteil fühlen sich die Studenten „benachteiligt“ durch eine besondere Frauenförderung (wenn z. B. „Frauen weltweit“ Studieren und Praktika im Ausland unterstützt, Tutorien nur für Frauen angeboten werden oder Baggerführerschein- und Baumschnittlehrgänge für Frauen reserviert sind). Frauenförderung und Genderbewegung haben das Berufsleben von Landschaftsplanerinnen bislang wenig verändert. Frauen müssen „Sprüche“ einstecken, fast nur Männer erreichen Führungspositionen in Planungsbüros oder Verwaltung und herausfordernde Aufgaben werden eher an Männer vergeben. Schon während Lehre und Praktikum machen Studentinnen die gleichen Erfahrungen wie ihre Geschlechtsgenossinnen vorangegangener Generationen. Trotz dieser Erfahrungen stellen die Studentinnen kaum kritischen Fragen und entwickeln auch keine gemein- samen Ansätze der Veränderung. Lösungen werden individuell gesucht. Bleibt die Frage, was sich die Absol- ventInnen für ihre Zukunft wünschen und erträumen, um herauszufinden, wo Ansatzpunkte akzeptierter und lebbarer Veränderungen liegen könnten.

Die vorrangigen Wünsche der Studierenden bleiben gleich Übereinstimmend wird von den befragten Frauen und Männern die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Kindern als wichtige Zukunftserwartung genannt. Das ist mit weitem Abstand der Wunsch Nummer eins.

Studentinnen Studentinnen Studenten Studenten Summe der Beginn absolut in % absolut in % Studierenden 2008 45 54,9 37 45,1 82 2009 38 60,4 25 39,6 63 2010 38 46,3 44 53,7 82

Befragung unter StudienanfängerInnen der Landschaftsarchitektur an der Hochschule Ostwestfalen-Lippe (Fachhochschule Osnabrück 2008, hier ergänzt durch die Autorin).

Für die Studentinnen ist wichtig, dass sie vor der Gründung einer Familie in ihrem erlernten Beruf erst Erfah- rungen sammeln – dann erst soll der Kinderwunsch erfüllt werden. Ein „sicheres Einkommen“ steht weit oben auf der Liste der Wünsche, um Familie und Kinder selbstständig finanzieren oder zumindest dazu beitragen

1 Wolf 2008. 27 ANGELIKA WOLF zu können. Ein hoher Anteil der Studentinnen (fast die Hälfte) ist sich schon im Studium darüber im Klaren, dass Karriere vor einer Familiengründung Vorrang hat und dass ggf. der Kinderwunsch zurückstehen oder ganz verworfen werden muss. Nach dem „Schutzraum“ Hochschule werden die Absolventinnen mit der Realität konfrontiert. Sie müssen feststellen, dass sie bei gleicher Ausbildung und häufig besseren Noten weniger Geld als ihre männlichen Mitbe- werber verdienen und dass sie schwerer in verantwortungsvolle Führungspositionen aufsteigen. Und dies gilt auch für die Hochschule selbst. AbsolventInnentreffen zeigen deutlich, dass die Wünsche nach Vereinbarkeit von Beruf und Familie sich für viele Studentinnen nicht erfüllt haben. Denn obwohl bundesweit durchschnittlich ca. 50 Prozent der Studierenden der Landschaftsarchitektur weiblich sind und diese oft bessere Abschlüsse erreichen, arbeiten nach wenigen Jahren viele nur noch in Teilzeit oder sind gar nicht berufstätig. Sie, weniger verdienend, nicht in einer Führungspo- sition, verzichten zugunsten der Familie. Was nicht passieren sollte, tritt oft ein.

Wünsche und Realität stimmen nicht überein Sich durchzusetzen und Leitungspositionen einzunehmen, erfordert viel Einsatz und Engagement. Geklagt wird über ungünstige Arbeitsbedingungen, geringe Aufstiegschancen und hohe Arbeitsbelastung. Die überwiegend individuellen Lösungsstrategien zur Verbesserung der eigenen Situation verändern das Gesamtbild nicht. Lang gelebte Vorurteile können so nicht überwunden werden. Gefordert ist, „weiter zu denken“, aktiv zu handeln und für veränderte Lebens- und Arbeitsbedingungen zu streiten. Das erfordert aber auch den Erfahrungsaustausch miteinander, um realisierbare Handlungsoptionen auszuloten. Und einen langen Atem!

Literatur

Wo l f , An g e l i k a (2008): Gender und Studium – nicht repräsentative Befragung an der Hochschule Ostwestfalen-Lippe. Höxter. Fa chhochschule Os n a b r ü c k (2008): AbsolventInnenbefragung 2008 für den Fachbereich Landschaftsarchitektur, Auswertung für die Hochschule Ostwestfalen-Lippe (Standort Höxter). Osnabrück. 28 1

Anne LUise Müller Gender zwischen Wissenschaft und Praxis

Ein Beschluss der Europäischen Union von 1998 fordert, Gender-Mainstreaming in allen Bereichen der Politik und öffentlichen Verwaltung anzuwenden. Es soll dafür Sorge getragen werden, dass der unterschiedliche Blick von Männern und Frauen in allen Lebens- und Arbeitsbereichen als Grundlage für Entscheidungen und Maßnahmen herangezogen wird. Nach einer über zehnjährigen Anwendungspraxis lässt sich feststellen, dass immer mehr Felder unter den Gesichtspunkten des Gender-Mainstreamings betrachtet werden, allerdings keineswegs von einer in der Alltagspraxis selbstverständlich geübten Anwendung bei Entscheidungen gesprochen werden kann. Die Fachkommission „Frauen in der Stadt“ des Deutschen Städtetages (DST) hat eine bedeutende Rolle der Kommunikation und Vermittlung hierbei übernommen: Seit etwa zwanzig Jahren hat die Kommission aus Gleich- stellungsbeauftragten sowie Stadt- und Verkehrsplanerinnen der Mitgliedstädte im DST die Belange von Frauen in unterschiedlichen Lebensphasen und unter unterschiedlichen Lebensbedingungen untersucht und die Folgen für die räumliche Planung thematisiert. Die Arbeitsergebnisse fanden in beachteten Arbeitshilfen ihren Niederschlag: Die Gestaltung der Wohnung und des Wohnumfeldes, die Ausstattung der Stadtteile mit sozialer und verkehrlicher Infrastruktur, Freiflächen, Spielflächen, Grünflächen, Mobilitäts- und Sicherheitsanforderungen von Frauen und die Beteiligungsformen zur Beurteilung von räumlicher Planung waren Untersuchungsgegenstände für die erarbeiteten Kriterienkataloge und Empfehlungen. Obwohl die Arbeitshilfen einen hohen Verbreitungsgrad erfahren haben – und teils vergriffen sind –, ist nur schwer feststellbar, inwieweit die Ergebnisse Eingang in die kommunale Praxis gefunden haben. Hierbei hilft ein Blick in eine groß angelegte Untersuchung von Barbara Zibell und Anke Schröder.1 Für die beiden Frage- stellungen, wie frauengerechte Planung in die kommunale Verwaltungspraxis aufgenommen wurde und welche

Impulsvortrag zur Gründungsveranstaltung am 02.07.2008. 1 Zibell, Schröder 2007. 29 Anne LUise Müller

Erkenntnisse daraus auf Gender-Mainstreaming angewendet werden können, wurden eine große Anzahl von Checklisten und Kriterienkatalogen, aber auch Pilot- und Modellprojekte vergleichend ausgewertet. Darüber hinaus wurde überprüft, ob die Rahmenbedingungen in den Kommunen, zum Beispiel durch Ratsbeschlüsse, geschaffen sind, die eine gendergerechte Stadt- und Freiraumplanung ermöglichen. Als Ergebnis der Untersuchung ist festzustellen, dass mit den Kriterienkatalogen und Checklisten ein großer Fundus an Wissen und Instrumenten vorhanden ist. Voraussetzung für eine dauerhafte Umsetzung von Gender- Mainstreaming ist allerdings eine politische Willensbildung durch Ratsbeschlüsse. Nicht zu unterschätzen ist – so ein weiteres Ergebnis der Studie –, dass die besten institutionellen Voraussetzungen ins Leere laufen, wenn nicht ein Klima und Verständnis in den Kommunen vorhanden ist, Gender-Mainstreaming in alle Planungen und Maßnahmen zu integrieren. Umso verständlicher ist die Empfehlung, die Beteiligung sowohl verwaltungsinterner als auch verwaltungsexterner Fachfrauen in der Bauleitplanung zu verstetigen. Auch engagierte Persönlichkeiten sollten ermutigt werden, eine gender-sensitive Stadtentwicklung mitzutragen, denn eine gender-sensitive Stadt- entwicklung ist auch eine nachhaltige Stadtentwicklung. Die Ergebnisse des Forschungsberichtes decken sich mit den Erfahrungen der Stadtverwaltung Köln. So ist im Jahr 2006 Gender-Mainstreaming als Strategie zur Geschlechtergerechtigkeit politisch beschlossen und in der Verwaltung implementiert worden. Hierzu hat das Amt für Gleichstellung von Frauen und Männern parallel mehrere Bausteine entwickelt. Mit einem Schulungskonzept zu Gender-Mainstreaming wurde zunächst den Führungskräften in den jeweiligen Dezernaten Genderkompetenz vermittelt und in der Folge ab 2009 allen Beschäftigten der Stadt. Als zweiter Baustein startete ein Pilotprojekt beim Amt für öffentliche Ordnung, das zum einen den Bereich Jugendschutz unter Gendergesichtspunkten behandelte, zum anderen den Bereich Verkehrs- verhalten in Bezug auf Geschwindigkeitsüberschreitungen an geschlechterdifferenziert erhobenen Fallzahlen untersuchte. Die städtebauliche Kriminalprävention in der Bauleitplanung als Kooperation zwischen dem Polizei- präsidenten Köln und der Stadt Köln ist ein interdisziplinärer Ansatz für Gender-Mainstreaming. Planungsrele- vante Grundlagen werden hierbei mit Blick auf genderrelevante Ergebnisse der Umsetzung reflektiert. Trotz ermutigender Pilotprojekte und einem umfangreichen Wissen von Planungsfachfrauen über genderge- rechte Planung gibt es Unsicherheiten, wie Gender-Mainstreaming anzuwenden ist. Unklare Bewertungsmaß- stäbe und Indikatoren, unzureichend geschlechterdifferenziert erhobenes oder fortgeschriebenes Datenmaterial, aber vor allem der mühsame Prozess des Aushandelns mit einer großen Anzahl von Akteuren und Akteurinnen in der kommunalen Verwaltung tragen zu dieser Unsicherheit bei. Hier könnte helfen, dass öffentliche Förderpro- gramme (Stadtumbau Ost, Stadtumbau West, Soziale Stadt) unter der Maßgabe bewilligt werden, dass in einer Genderanalyse dargestellt wird, wie sich die beantragten Maßnahmen auf Männer und Frauen auswirken sollen. Die Fortschritte in der Verwaltungspraxis sind erkennbar, jedoch noch deutlich entfernt von selbstverständlicher Anwendung. Daher bedarf es noch größerer Anstrengungen. Forschung und Lehre sind hierbei unverzichtbarere Bestandteile, da sie Grundlagen schaffen können, -- Vermittlungsstrategien zu finden, die zu Klarheit und Verständlichkeit beitragen, -- Gender-Mainstreaming z. B. auch auf Fragen der Migration/Integration zu beziehen,

30 Impulse für die Lehre und Praxis 1 -- Bezüge zu den Herausforderungen des Klimawandels, des Klimaschutzes und der Energie herzustellen und -- die Alltagstauglichkeit von Planungen im Horizont des demografischen Wandels und im Zusammenhang mit Fragen des Pflege- und Gesundheitsmanagements zu evaluieren. Forschung und Lehre sind für die Weiterentwicklung von Gender-Mainstreaming nicht ersetzbar und benötigen tatkräftige Kooperationspartner und -partnerinnen aus der Praxis, damit das Anliegen, die Perspektiven von Frauen und Männern zu erkennen und die Potenziale in der Planung und der Umsetzung zu berücksichtigen, in einer absehbaren Zukunft zur Selbstverständlichkeit wird.

Literatur

Zi b e l l , Ba r b a r a ; Sc h r ö d e r , An k e (2007): Frauen mischen mit. Qualitätskriterien für die Stadt- und Bauleitplanung (Beiträge zur Planungs- und Architektursoziologie, 5). am Main u. a. 31 Schwerpunkte, Aktivitäten und Kooperationen

barbara zibell Ein Überblick

Das Forum für GenderKompetenz in Architektur Landschaft Planung (gender_archland) ist eine fächerübergrei- fende Plattform, die innerhalb der Leibniz Universität Hannover mit verschiedenen Fakultäten und Instituten und über die Hochschule hinaus mit anderen Universitäten bzw. privaten wie öffentlichen Institutionen im In- und Ausland kooperiert. Ziel ist es, die Genderkompetenz in den räumlich planenden und entwerfenden, bauenden und gestaltenden Disziplinen zu bündeln, Austausch, Kooperation und Vernetzung zu fördern und in den Arbeitsfeldern Forschung, Lehre und Transfer umzusetzen. Darüber hinaus fördert das Forum die interdisziplinäre Zusammenarbeit innerhalb dieser und mit anderen Disziplinen. Dies führt zur Erweiterung der raum- und umweltbezogenen Themen- und Handlungsfelder und zur Weiterentwicklung der genderbezogenen Theorien (Gender in Science). Als einzige derartige Einrichtung im deutschsprachigen Raum hat sich das gender_archland mittlerweile bundesweit etabliert; ihm gehören 60 Personen aus planenden und sozialwissenschaftlichen Disziplinen der Leibniz Univer- sität Hannover sowie anderer Forschungseinrichtungen und Planungsbüros aus dem In- und europäischen Ausland an. Das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur (MWK) förderte den Aufbau in den Jahren 2008 bis 2010 durch eine großzügige Anschubfinanzierung. Dies ermöglichte unter anderem die Beschäftigung einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin sowie den Aufbau und Betrieb einer Geschäftsstelle. Über die Aktivitäten und Kooperationen in Forschung, Lehre und Transfer wird im vorliegenden Band detailliert berichtet. Die nachfolgende Zusammenstellung gibt einen groben Überblick für die eilige Leserin und den eiligen Leser.

32 Schwerpunkte, Aktivitäten und Kooperationen 1 Forschungsaktivitäten Zu den Forschungsaktivitäten des gender_archland gehört die Vorbereitung und Durchführung von Forschungs- vorhaben, die mit Drittmitteln gefördert werden. Um die Vernetzung von WissenschaftlerInnen zu fördern, werden zu einschlägigen Themen ein- bis zweimal jährlich mit teils wechselnden TeilnehmerInnen aus Wissenschaft und Praxis sogenannte ForschungsForen (ForFo) durchgeführt. Das gender_archland ist Mitglied im europäischen Forschungsnetzwerk „Gender and Diversity in Urban Sustain- ability” (GDUS), das regelmäßig und an wechselnden Standorten in Europa Forschungsworkshops durchführt mit dem Ziel, gemeinsame Forschungsvorhaben vorzubereiten. Derzeit entsteht eine gemeinsame Publikation zur Entwicklung von Theorien im Bereich Raum und Gender, Diversity und Nachhaltigkeit.1

Aktivitäten in der Lehre Im Zuge der Einführung der Bachelor-/Master-Studiengänge wurden – aufbauend auf dem Fach „Gender Studies“ im auslaufenden Diplomstudiengang Architektur – Module für die verschiedenen Studiengänge in Architektur und Landschaft entwickelt. In den Masterstudiengängen wird ein fachübergreifendes Wahlpflichtmodul „Raumwis- senschaftliche GenderStudien“ angeboten, das in den Bachelorstudiengängen durch ein Basismodul „Frauen und Männer in (Landschafts-)Architektur und Planung/Women and Men in (Landscape) Architecture and Planning“ vorbereitet wird. Im Rahmen der Internationalisierung der Lehre, die vonseiten der Fakultät und der Leibniz Universität auch finanziell gefördert wird, konnten seit dem Wintersemester 2009/10 Gastdozentinnen aus verschiedenen europä- ischen Ländern gewonnen werden. Mit der Förderzusage für eine Juniorprofessur „Raum und Gender“ durch das MWK werden in naher Zukunft weitere Aktivitäten in Lehre und Forschung ermöglicht.

Transfer Zum Transfer gehört die Durchführung von Gendertrainings in kommunalen Bau- und Planungsverwaltungen im Auftrag verschiedener Städte im Bundesgebiet. Sie haben zum Ziel, die Genderperspektive als Querschnittsthema und als einen Beitrag zur Qualitätssicherung in die Planungspraxis einzubringen. Im Rahmen der Vortragsreihe „dienstags um 6“ finden an der Fakultät in jedem Semester auch Gastvorträge zu genderrelevanten Themen statt.

1 Roberts; Sánchez de Madariaga (im Erscheinen). 33 barbara zibell

Die Schriftenreihe des gender_archland WEITER_DENKEN ist eine wichtige Möglichkeit, um Forschungsergeb- nisse der Mitglieder zu veröffentlichen und die Arbeit der Gastdozentinnen mit den Studierenden an der Fakultät zu dokumentieren. Die Homepage www.gender-archland.uni-hannover.de beinhaltet das Angebot an die Mitglieder, den Webauf- tritt auch für eigene, genderbezogene Belange zu nutzen.

Vernetzung und Perspektiven Das gender_archland ist Mitglied in der Landesarbeitsgemeinschaft der Einrichtungen für Frauen- und Geschlech- terforschung in Niedersachsen (LAGEN), in denen die niedersächsischen Genderkompetenzzentren an Universi- täten und Fachhochschulen zusammengeschlossen sind. Es ist im Weiteren auch Mitglied der Fachgesellschaft Geschlechterstudien im deutschsprachigen Raum. Um die Arbeit des gender_archland zu verstetigen und seine dauerhafte Präsenz zu gewährleisten, werden auch zukünftig Drittmittel eingeworben, Forschungsprojekte initiiert und eine verstärkte Internationalisierung angestrebt. Seit Januar 2011 bildet das gender_archland eine Sektion unter dem Dach des Freundeskreises der Leibniz Universität Hannover e. V. Auf diese Weise ist es möglich, die Arbeit auf eine breitere Basis zu stellen.

Literatur

Ro b e r t s , Ma r i a ; Sá n c h e z d e Ma d a r i a g a , In é s (Hrsg.) (im Erscheinen): Fair shares cities: Gender planning in Europe. London. 34 Forschung 2

Barbara Zibell Einführung

Eine der drei Säulen des gender_archland ist die Etablierung der genderbezogenen Forschung in den Raum-, Umwelt- und Planungswissenschaften. Dazu gehört in erster Linie die Vorbereitung und Durchführung von Forschungsvorhaben, die mit Drittmitteln gefördert werden, im Weiteren die Initiierung von Promotionsvorhaben und die Betreuung von Dissertationen.

Themenfelder Die Themenfelder, in denen die verschiedenen Projekte angesiedelt sind, bilden eine breite Palette von Perspek- tiven ab, die in der langen Tradition genderbezogener Aktivitäten an der Fakultät für Architektur und Landschaft bzw. den ehemaligen Fachbereichen Architektur sowie Landschaftsarchitektur und Umweltentwicklung wurzeln. Dazu gehören: -- Themen aus dem Bereich der Stadt-, Regional- und Landesentwicklung, die sich auf die Alltagstauglichkeit räumlicher Strukturen beziehen und deren Weiterentwicklung unter Gleichstellungsaspekten behandeln1 oder die Konsequenzen des demografischen Wandels für die Veränderung von Geschlechterverhältnissen und neue Anforderungen an Raum- und Siedlungsstrukturen;2 -- Themen einer nachhaltigen Stadt- und Regionalentwicklung – sowohl in der Theorie als auch in der Praxis3;

1 Zibell 2006a, b, c. 2 Zibell 2006d; 2005a. 3 Seggern 1999; Zibell 1999. 35 Barbara zibell

-- Themen aus dem Bereich der Stadt- und Bauleitplanung bzw. Stadterneuerung, von denen insbesondere die Erarbeitung von Qualitätskriterien aus Sicht eines versorgenden Alltags hervorzuheben ist,4 und die gleich- stellungsorientierte Beteiligung von BürgerInnen5 sowie die Bedeutung von Grundschulen im Stadtteil zur Vorbereitung auf eine zukunftsfähige Wissensgesellschaft;6 -- Arbeiten im Bereich Städtebau und Wohnungswesen, die in ihrer Vielfältigkeit zeigen, dass Innovation hier – auch im historischen Rückblick – größtenteils auf der Initiative und Schaffenskraft von (Fach-) Frauen beruht;7 -- Themen im Bereich Freiraum/öffentlicher Raum, die im Spannungsfeld zwischen städtischer Öffentlichkeit und Stadtquartier angesiedelt sind8, auf reflexiven Betrachtungen oder empirischen Untersuchungen beruhen9 und auch für dieses planerische Handlungsfeld Qualitätskriterien aus gleichstellungsorientierter Perspektive entwickeln10; im Weiteren spielen hier Fragen der Sicherheit im öffentlichen Raum eine wesent- liche Rolle;11 -- Arbeiten im Themenfeld technischer Infrastrukturen, insbesondere zu Fragen der Abwasserreinigung im Zusammenhang mit Schrumpfungsprozessen und der Veränderung urbaner Landschaften;12 -- Berichte über die Genderbegleitung diverser Hochbauprojekte – von Krankenhäusern und Hochschulen über Bundesämter und Amtshäuser bis hin zu Bushöfen und Tiefgaragen –, die aus Auftragsarbeiten öffentlicher AuftraggeberInnen wie Kommunen und Ministerien bzw. Schweizer kantonalen Verwaltungsstellen hervor- gegangen sind und verschiedene Phasen der Planungsprozesse von der Vorbereitung bis zur Durchführung abbilden;13 -- verschiedene Themenfelder aus Geschichte und Theorie, die sich mit Geschlechterfragen in den planenden Disziplinen14 ebenso beschäftigen wie mit einzelnen Phasen15 oder besonderen Ereignissen der Stadtent- wicklung16 sowie der Bedeutung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung für die Herausbildung städtischer Strukturen17 oder der Frauen- und Geschlechterperspektive bei der Erforschung historischer Kulturland- schaften sowie in Gartenkultur, Naturschutz und Dorferneuerung.18

4 Zibell, Schröder 2007. 5 May 2005. 6 May 2006; Bloem, Zibell 2008. 7 Zibell, Schröder 2003; Schröder 2004; Schröder, Zibell 2004; Zibell 2005b; Harth 2006a; May 2007; Schröder 2007a; Zibell 2007. 8 Paravicini u. a. 2002. 9 May 2002; Harth, Schild 2006; Harth 2007. 10 harth 2006a. 11 Sailer 2004; Schröder 2007b. 12 hacker, Seggern 1999-2002; Seggern 2003; Beneke u. a. 2004; Kotzke, Seggern 2005. 13 Zibell 2009. 14 Zibell 2000a; 2005c. 15 Saldern, Zibell 2006. 16 Zibell 2000b. 17 Zibell 2000c. 18 Krüger et al. 1999; Kirsch-Stracke 1998; 2000; 2002; 2005; 2006; Kirsch-Stracke, Widmer 2001. 36 Forschung 2 Projekte Auf der Plattform des gender_archland werden gemeinsame Schnittmengen gebildet, in denen unter der Genderperspektive neue Synergien entstehen. Dabei werden insbesondere Projekte bearbeitet, die die aktuellen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen fokussieren und in ihren Auswirkungen auf zukünftige Lebens- bedingungen vorausschauend aufgreifen, wie z. B.: -- Entwicklung urbaner, urbanisierter und ländlicher Räume unter Berücksichtigung der besonderen Potenziale von Frauen und Männern; -- Geschlechterverhältnisse und Bedarfsgerechtigkeit sozialer Infrastrukturen im demografischen Wandel; -- Auswirkungen technischer Entwicklungen auf die Bedürfnisse von Frauen und Männern (z. B. Energie und Stadt); -- Geschichte, Gegenwart und Zukunft Europäischer StadtRegionen im Spiegel der Geschlechterverhältnisse; -- Genderaspekte bei Partizipation und Akzeptanz der Nachhaltigkeitsstrategie und Planungskulturen im europäischen Vergleich; -- Frauen und Männer im Kontext von Kulturlandschaft, Freiraumentwicklung und technischen Infrastrukturen; -- Biografieforschungen und genderdifferenzierte Entwicklungslinien in der Geschichte der Disziplinen Archi- tektur, Landschaft und Planung. Einiges ist begonnen, vieles auf den Weg gebracht. Zu den genannten Forschungsfeldern können weitere hinzu- kommen, Aktivitäten in den bestehenden Handlungsfeldern bleiben erhalten, sind aber auch abhängig von der Mitgliederentwicklung des gender_archland sowie vom Personalbestand an der Fakultät und der Zusammen- arbeit mit anderen Fakultäten an der Leibniz Universität Hannover (LUH) bzw. der Niedersächsischen Techni- schen Hochschule (NTH).

ForschungsForen Um neue Forschungsvorhaben vorzubereiten und interdisziplinäre Kooperationen zu ermöglichen, werden vom gender_archland seit 2009 sogenannte ForschungsForen (ForFo) durchgeführt, zu denen alle Netzwerkmitglieder und weitere Interessierte eingeladen werden. Die ForschungsForen dienen der einschlägigen Vernetzung von WissenschaftlerInnen und Planungsfachleuten zu Genderfragen und werden zu wechselnden Themen, die aus dem Kreis der TeilnehmerInnen vorgeschlagen werden, in unregelmäßigen Abständen durchgeführt. Da das ForFo ein besonders wichtiges Instrument des Austausches auf der Plattform des gender_archland bildet, sind alle vier bisher durchgeführten Foren – eingeleitet von den jeweiligen Moderatorinnen – im Folgenden ausführlich dargestellt.

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Literatur

Be n e k e , Gu d r u n u. a. (2004): Abwasser als Bestandteil von Stadtlandschaft (Beiträge zur räumlichen Planung, 61, Schrif- tenreihe des Fachbereichs Landschaftsarchitektur und Umweltentwicklung der Universität Hannover). Hannover. Ha r t h , An n e t t e (2007): Freiraum und Geschlecht – gendersensitive Freiraumplanung. In: Deutsche Zeitschrift für Kommu- nalwissenschaften (1), 39-54. Ha r t h , An n e t t e (2006a): Frauen im Osten – Wohnen nach der Wende. Eine empirische Untersuchung der Wohnweise ostdeutscher Frauen in der ersten Transformationsphase (Beiträge zur Planungs- und Architektursoziologie, 4). Frankfurt am Main. Ha r t h , An n e t t e (2006b): Gebrauchswert und Nutzungsfreundlichkeit - Gender-Kriterien für öffentliche Räume, Vortrag im Rahmen der Abschlussveranstaltung des ExWoSt-Forschungsfeldes „Gender Mainstreaming im Städtebau“, Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR), am 23. Mai in Köln. Ha r t h , An n e t t e ; Sc h i l d , Ma r g i t (2006): Geschlechterverhältnisse in Zwischennutzungen. In: Senatsverwaltung für Stadt- entwicklung Berlin, Beirat für frauenspezifische Belange (Hrsg.): Gender auf dem Weg in den Mainstream der Stadtent- wicklung. Berlin auf dem Weg zu einer lebenswerten Metropole für Frauen und Männer. Berlin, 42-44. Ki r s c h -St r a c k e , Ro s w i t h a (2006): Von Kompost, Kohl und Kaiserkrone – das Gartenbuch der Henriette Davidis (1801- 1876). In: Der Holznagel. Mitteilungsblatt der Interessengemeinschaft Bauernhaus e. V., 31 (4), 60-65. Ki r s c h -St r a c k e , Ro s w i t h a (2005): Wie kommt die Gender-Perspektive in die Kulturlandschaftsforschung und ins KuLaDigNW? In: Landschaftsverband Rheinland (Hrsg.): Kulturlandschaft digital: Forschung und Anwendung (Beiträge zur Landesentwicklung, 58). Köln; zugleich: Kulturlandschaft. Zeitschrift für Angewandte Historische Geographie 15, 88-95. Ki r s c h -St r a c k e , Ro s w i t h a (2002): Der „Küchen- und Blumen-Garten für Hausfrauen“ – über das fast vergessene Buch der westfälischen Schriftstellerin Henriette Davidis (1801-1876). In: Hubenthal, Heidrun; Spitthöver, Maria (Hrsg.): Frauen in der Geschichte der Gartenkultur. Band I. Arbeitsberichte des Fachbereichs Stadtplanung Landschaftsplanung, Universität Kassel, 85-112. Ki r s c h -St r a c k e , Ro s w i t h a (2000): Das vergessene Gartenbuch der westfälischen Schriftstellerin Henriette Davidis (1801- 1876). In: Die Gartenkunst 12 (2), 187-197. Ki r s c h -St r a c k e , Ro s w i t h a (1998): Straßennamen – Fenster zur Geschichte von Frauen? In: Kreis Olpe (Hrsg.): Lebensbilder von Frauen im Kreis Olpe (Schriftenreihe des Kreises Olpe, 28). Olpe, 200-217. Ki r s c h -St r a c k e , Ro s w i t h a ; Wi d m e r , Pe t r a (Hrsg.) (2001): Frauen in der Geschichte der Gartenkultur. 2. Arbeitstagung am 30. September 2000. Tagungsbericht (Beiträge zur räumlichen Planung, 75, Schriftenreihe des Fachbereichs Landschaftsar- chitektur und Umweltentwicklung der Universität Hannover). Hannover. Ko t z k e , Ga b r i e l e ; Se gg e r n , Hi l l e v o n (2005): Gender Mainstreaming als Beteiligungskonzept. Die Integration von Abwas- serbehandlung, Ortsentwicklung und Freiraumgestaltung im Entwurfsworkshop. In: Rösener, Britta; Selle, Klaus (Hrsg.): Kommunikation gestalten (Kommunikation im Planungsprozess, 3). Dortmund, 240-243.

38 Forschung 2 Kr ü g e r , Da gm a r u. a. (1999): Frauen in den Anfängen des Naturschutzes - Spurensuche 1900-1933. Texte einer Ausstellung. In: Bock, Stephanie; Hubenthal, Heidrun (Hrsg.): Zurück oder Vor? 1978-1998, Dokumentation der 4. Plane- rinnentagung in Kassel. Arbeitsberichte des Fachbereichs Stadtplanung Landschaftsplanung, Universität Gesamthochschule Kassel, 198-211. Ma y , Ru t h (2007): Die Wohnungsfrage ist Frauensache, Rezension. In: RaumPlanung 130, 48-49. Ma y , Ru t h (2006): Die Urbanität der Bildung. Ansprüche der Grundschule an die Stadtplanung. In: RaumPlanung 125, 85-90. Ma y , Ru t h (2005): Beteiligung und bürgerschaftliches Engagement im Sanierungsprozess. Empirische Befunde am Beispiel Hannover Nordstadt. In: Arbeitskreis Stadterneuerung an deutschsprachigen Hochschulen (Hrsg.): Jahrbuch Stadterneu- erung 2004 (05), Berlin, 33-44. Ma y , Ru t h (2002): Wege im Viertel. Tagebuchaufzeichnungen von QuartierbewohnerInnen – Ein Vorschlag für die Erhebung von Verkehrs- und Kommunikationsmustern. In: Arbeitskreis Stadterneuerung an deutschsprachigen Hochschulen, Institut für Stadt- und Regionalplanung der Technischen Universität Berlin (Hrsg.): Jahrbuch Stadterneu- erung 2001 (02), 39-52. Pa r a v i c i n i , Ur s u l a ; Kr e bs , Ph i l l i pp ; Ma y , Ru t h (2002): Frauen in der städtischen Öffentlichkeit. Lösungen und Defizite in der Stadterneuerung in drei europäischen Städten. In: RaumPlanung 102 (Juni), 132-136. Sa i l e r , Ke r s t i n (2004): Raum beißt nicht. Neue Perspektiven zur Sicherheit von Frauen im öffentlichen Raum (Beiträge zur Planungs- und Architektursoziologie, 2). Frankfurt am Main. Sc h r ö d e r , An k e (2007a): Wie es mir gefällt – Genderkriterien im Wohnungsbau. In: Altenstraßer, Christina et al. (Hrsg.): gender housing – geschlechtergerechtes bauen wohnen leben. Innsbruck, Wien, Bozen, 172-196. Sc h r ö d e r , An k e (2007b): Sicherheit im öffentlichen Raum Eine gendersensitive Betrachtung. In: PlanerIn, Verbandszeitung der SRL (4), 21-23. Sc h r ö d e r , An k e (2004): Frau macht Stadt. In FreiRäume 11, 9-18. Sc h r ö d e r , An k e ; Zi b e l l , Ba r b a r a (2004): Auf den zweiten Blick. Städtebauliche Frauenprojekte im Vergleich (Beiträge zur Planungs- und Architektursoziologie, 1). Frankfurt am Main. Sa l d e r n , Ad e l h e i d v o n ; Zi b e l l , Ba r b a r a (2006): Frauen und Stadträume. Aufbruchsstimmung in den 1970er Jahren. In: von Saldern, Adelheid (Hrsg.): Stadt und Kommunikation in bundesrepublikanischen Umbruchszeiten. Stuttgart, 367-390. Se gg e r n , Hi l l e v o n (2003): Urbane Landschaften und Abwasserreinigung – Entwurfsworkshop mit Frauen und Männern. In: Kotzke, Gabriele (Bearb.): Städtebau und Gender Mainstreaming (Werkstatt: Praxis, 4), 41-48. Se gg e r n , Hi l l e v o n (1999): Die Modellstadt Güstrow. In: Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (Hrsg.): Städte der Zukunft - auf der Suche nach der Stadt von morgen (Werkstatt: Praxis, 4). Bonn, 95-106. Se gg e r n , Hi l l e v o n ; Ha c k e r , Ev a ; Ku n s t , Sa b i n e u. a. (2002): Abwasser als Bestandteil von Stadtlandschaft. In: Paravicini, Ursula; Riedel, Christiane: Dokumentation. Forschungsprojekte 1. bis 3. Förderrunde 1997-2001 (Wissenschaft- liche Reihe des Niedersächsischen Forschungsverbunds für Frauen-/Geschlechterforschung in Naturwissenschaften, Technik und Medizin, 1). Hannover, 171-198. Zi b e l l , Ba r b a r a (Hrsg.) (2009): GenderBuilding. Sozialräumliche Qualitäten im öffentlichen Hochbau (Beiträge zur

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Planungs- und Architektursoziologie, 6). Frankfurt am Main. Zi b e l l , Ba r b a r a (2007): Wohnen ist mehr ... Ein Blick über die vier Wände hinaus. In: Altenstraßer, Christina; Hauch, Gabriella; Kepplinger, Hermann (Hrsg.): gender housing – geschlechtergerechtes bauen wohnen leben. Innsbruck, Wien, Bozen, 59-82. Zi b e l l , Ba r b a r a (2006a) mit Karacsony, Maya; Dahms, Nicole (Bearb.): Bedarfsgerechte Raumplanung. Gender Practice und Kriterien in der Raumplanung, Endbericht Langfassung (Materialien zur Entwicklungsplanung, 20). Salzburg. Zi b e l l , Ba r b a r a (2006b): Bedarfsgerechte Raumplanung. Gender Practice und Kriterien in der Raumplanung, Endbericht Deutsche Kurzfassung (Materialien zur Entwicklungsplanung, 21). Salzburg. Zi b e l l , Ba r b a r a (2006c): Requirement-oriented Spatial Planning. Gender Practice and Criteria in Spatial Planning, Final report. English Abstract (Materialien zur Entwicklungsplanung, 22). Salzburg. Zi b e l l , Ba r b a r a (2006d): Geschlechterverhältnisse im demographischen Wandel. Chancen und Risiken für die soziale Integration in Stadt und Region. In: Ministerium für Generationen Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein- Westfalen (Hrsg): Demografischer Wandel. Die Stadt, die Frauen und die Zukunft. Düsseldorf, 33-49. Zi b e l l , Ba r b a r a (2005a): Geschlechterverhältnis(se) im demographischen Wandel. Chancen für neue Formen sozialer Integration? In: Geiling, Heiko (Hrsg.): Soziale Integration als Herausforderung für kommunale und regionale Akteure (Stadt und Region als Handlungsfeld, 4). Frankfurt am Main u. a., 41-71. Zi b e l l , Ba r b a r a (2005b): ExWoSt-Vorhaben „Gender Mainstreaming im Wohnungswesen“. In: Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (Hrsg.): Gender Mainstreaming im Städtebau. Ein ExWoSt-Forschungsfeld (ExWoSt-Informationen, 26/2), 19-20. Zi b e l l , Ba r b a r a (2005c): From outer space? Architektur und Gender Studies. Neue Perspektiven auf eine alte Disziplin. In: Wolkenkuckucksheim - Cloud-Cockoo-Land. 10 (1). www.tu-cottbus.de/theoriederarchitektur/wolke/deu/Themen/051/ Zibell/zibell.htm (28.03.2012). Zi b e l l , Ba r b a r a (2000a): Wie bauen denn Frauen anders? In: PBG aktuell. Zürcher Zeitschrift für öffentliches Baurecht (2), 10-17. Zi b e l l , Ba r b a r a (2000b): Die EXPO 2000 in Hannover - eine Gestaltungschance für Frauen? (Vechtaer FrauenForum, 1). Vechta. Zi b e l l , Ba r b a r a (2000c): Raum und Zeit als Determinanten geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung. In: Imboden, Monika; Meister, Franziska; Kurz, Daniel (Hrsg.): Stadt – Raum – Geschlecht. Beiträge zur Erforschung urbaner Lebensräume im 19. und 20. Jahrhundert. Zürich, 29-44. Zi b e l l , Ba r b a r a (1999): Nachhaltige Raumentwicklung - nicht ohne Frauen. In: PlanerIn. SRL-Mitteilungen für Stadt-, Regional- und Landesplanung zur 3. Europäischen Planerbiennale (2), 25-27. Zi b e l l , Ba r b a r a ; Sc h r ö d e r , An k e (2007): Frauen mischen mit. Qualitätskriterien für die Stadt- und Bauleitplanung (Beiträge zur Planungs- und Architektursoziologie, 5). Frankfurt am Main. Zi b e l l , Ba r b a r a ; Sc h r ö d e r , An k e (2003): Auf den zweiten Blick. Städtebauliche Frauenprojekte - ein Schritt zum Gender Mainstreaming. In: Kotzke, Gabriele (Bearb.): Städtebau und Gender Mainstreaming. Erfahrungen, Konzepte und Gute Beispiele (Werkstatt: Praxis, 4). Bonn, 19-28.

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ForschungsForum 1

Anke schröder Entwicklung fachübergreifender Kooperationen zwischen Architektur Landschaft Planung

Mit den ForschungsForen soll grundsätzlich eine Plattform für den Austausch unter WissenschaftlerInnen sowie zwischen Wissenschaft und Planungspraxis geboten werden. Sinn und Zweck ist die interdisziplinäre Vernetzung der an Genderforschung in den Raum-, Umwelt- und Planungswissenschaften Interessierten mit dem Ziel der Identifikation gemeinsamer Forschungsinteressen und der Vorbereitung gemeinsamer Forschungsanträge und Projekte. Vor diesem Hintergrund wurde nach der Gründung des gender_archland damit begonnen, das erste Forschungs- Forum vorzubereiten. Dabei ging es zunächst darum, die reichhaltigen Anliegen der Mitglieder und eines erwei- terten Kreises von Interessierten zu eruieren und deren Forschungsfragen mit Blick auf die Entwicklung künftiger Themenschwerpunkte und möglicher Synergien kennenzulernen.

Das erste ForschungsForum Zur Vorbereitung des ersten ForschungsForums wurde ein Anmeldeformular entwickelt, das nach den individu- ellen Forschungsinteressen fragte. Die Ergebnisse aus dem Rücklauf dienten als Grundlage für die Entwicklung der ForschungsForen. Um die unterschiedlichen Interessen zu bündeln und zu einem zielorientierten Ergebnis zu kommen, wurde die Methode des Worldcafés gewählt. Schon die Bezeichnung Worldcafé verspricht eine interna- tionale, warme und angenehme Atmosphäre, in der kooperative Dialoge gefördert und konstruktive Handlungs- optionen entwickelt werden können.1 Das Worldcafé basiert auf folgenden Ansätzen: -- einen gastfreundlichen Raum mit Café-Atmosphäre gestalten; -- relevante Fragen entwickeln;

1 Das Worldcafé ist eine Workshop-Methode, die von den UnternehmensberaterInnen Juanita Brown und David Isaacs entwickelt wurde, vgl. Brown, Isaacs 2007, 2005. 41 Anke schröder

-- TeilnehmerInnen zu Beiträgen ermutigen; -- unterschiedliche Perspektiven verbinden; -- neue Erkenntnisse erlangen und Entdeckungen mitteilen sowie schließlich -- Klärung von Themen und Zielen für weitere Forschungsforen. Zum ersten Forschungsforum am 29. Januar 2009 in der Fakultät für Architektur und Landschaft kamen rund 20 Teilnehmerinnen aus unterschiedlichen Instituten der Leibniz Universität Hannover, anderer Hochschulen sowie freischaffende Architektinnen und Planerinnen. Die Runde war zusammengesetzt aus den Disziplinen Stadt- planung, Architektur, Geografie und Jura sowie Ingenieurbiologie und angrenzenden Fächern wie der Geschichte und der Soziologie. In einer ausführlichen Vorstellungsrunde beschrieben die Teilnehmerinnen ihre Interessen an genderspezifischer Forschung und ihre Wünsche an Kooperationen. Drei Fragen standen an diesem Tag im Mittelpunkt: -- Welchen Beitrag kann das gender_archland für mögliche Kooperationen unter den Beteiligten leisten? -- Welche Beiträge können die einzelnen Teilnehmerinnen leisten? -- Welche Perspektiven und Initiativen können daraus für zukünftige Forschungsforen entstehen? Es wurden drei Gesprächsrunden eingerichtet, die sich an dafür vorbereiteten Tischen zusammenfanden. Die inhaltlichen Schwerpunkte der Tische umfassten die Bereiche -- Vernetzung, Finanzierung, -- Themen für Projekte, -- Kooperationsmöglichkeiten in Projekten. Die Gastgeberinnen der Tische luden die Teilnehmerinnen zum Erfahrungsaustausch ein und ermunterten sie, ihre Ideen und Gedanken auf die Tischdecken zu schreiben, zu skizzieren, zu malen oder zu kritzeln. Der kreative Prozess führte zu regen Diskussionen. Fragen konnten am Tisch selbst oder mit den Nachbartischen besprochen werden, Ideen sowie Kritik und Anregungen wurden gesammelt und später im Plenum weiterdiskutiert.

Ergebnisse und Perspektiven Die Vernetzung, so wurde als Ziel formuliert, sollte sich auf den Wissenstransfer und auf wissenschaftliche Kooperationen auf der thematischen, strategischen und informativen Ebene beziehen. Darüber hinaus wurde die Notwendigkeit herausgestellt, Strategien und Taktiken zu entwickeln, um die Genderperspektive verstärkt in regionale und städtische Planung und Politik zu bringen. Es wurde der Wunsch geäußert, Informationen über Finanzierungsmöglichkeiten von Forschungsprojekten zu genderspezifischen Themen auf nationaler und interna- tionaler Ebene zu erhalten.

42 ForschungsForum 1 2 Weiterhin wurde das Bedürfnis geäußert, über die prekäre Situation des wissenschaftlichen Mittelbaus an Universitäten zu informieren und zu diskutieren, welche Initiativen ergriffen oder welche Fördermöglichkeiten entwickelt werden können, um für qualifizierte Frauen an den Hochschulen Perspektiven zu schaffen. Die Teilnehmerinnen brachten zahlreiche Ideen ein. Ihre Angebote reichten von der Unterstützung und Beratung zu konkreten Antragsverfahren über die Kontaktherstellung in die Regionen und zu Kommunen bis hin zur Betei- ligung an den Foren mit Vorträgen oder zur Organisation von Diskussionsforen oder Ausstellungen. Die Teilneh- merinnen bekundeten ihr lebhaftes Interesse, die Idee des gender_archland in die einzelnen Fachgremien zu tragen und den Ansatz dadurch publik zu machen. Abschließend vereinbarte die Versammlung, den Erfahrungsaustausch zwischen den unterschiedlichen Diszip- linen in weiteren Forschungsforen fortzusetzen. Als erster Themenschwerpunkt wurde die Frauenbiografiefor- schung festgelegt. Des Weiteren wurde angeregt, über Methodenfragen und Möglichkeiten der Finanzierung bzw. Forschungsförderung zu diskutieren.

Literatur

Br o w n , Ju a n i t a ; Is a a c s , Da v i d (2007): Das World Café. Kreative Zukunftsgestaltung in Organisation und Gesellschaft. Heidelberg. Br o w n , Ju a n i t a ; Is a a c s , Da v i d (2005): The World Café. Shaping Our Future Through Conversations That Matter. San Francisco. 43 ForschungsForum 2

Ruth may Biografieforschung Beiträge zur Geschichte der Disziplinen

Das Thema Biografieforschung ist beim ersten ForschungsForum vorgeschlagen worden, weil sich zeigte, dass die Vorhaben mehrerer Beteiligter in diesem Feld miteinander korrespondierten. Die Beiträge des zweiten ForschungsForums am 29. Oktober 2009 rückten im Lichte der Genderdebatte unterschiedliche Perspektiven auf die Biografieforschung in den Mittelpunkt. Gemeinsame Ausgangspunkte sind dabei etwa solche Fragen: Welche Bedeutung haben Geschlechterverhältnisse für die Geschichte eines Fachs? Wie lässt sich das Leben von Frauen erzählen oder für die Geschichtsschreibung rekonstruieren? Wie kommt es und wohin führt es, dass Frauen aus der privaten Sphäre heraustreten und sich an eine (fachliche) Öffentlichkeit wenden? Die Landschaftsplanerin Beate Ahr beschäftigt sich mit der Bedeutung einer genderbezogenen biografischen Forschung für die Geschichte und die Geschichtsschreibung ihres Fachs. Was sind Kriterien für bedeutende professionelle Leistungen? Welchen Anteil haben Frauen an der Geschichte der Profession? Die Fachgeschichte erscheint als die Geschichte ihrer hervorragenden Repräsentanten, unter denen Frauen nur selten vorkommen; und wenn sie vorkommen, dann erst in jüngerer Zeit. Da sie zu einer wissenschaftlichen Ausbildung im Deutschen Reich erst seit 1908 zugelassen wurden und sich ihre Arbeit in weniger formalisierten beruflichen und öffent- lichen oder verbandlichen Bahnen bewegte als die der Männer, ist es notwendig, den Blick zu erweitern. Beate Ahr schlägt verschiedene Perspektivwechsel vor, um das Engagement von Frauen in der Freiraum- und Landschaftsplanung sichtbar zu machen. Etwas zugespitzt könnte man sagen, es geht um eine alternative Fachge- schichte, jedenfalls um ein anderes Herangehen und andere Methoden: Wenn eine akademischen Betätigung von Frauen ausgeschlossen war, sind andere Beiträge und Tätigkeitsfelder in den Blick zu nehmen, zu denen Frauen eher Zugang hatten und wo sie sich engagierten. Dieser Blick erlaubt es, zum Beispiel auch solche Frauen zu berücksichtigen (und damit aus ihrer Anonymität zu befreien), die ihre Energien und fachlichen Leistungen auf die Unterstützung ihrer Ehemänner oder Väter verwandt haben, ohne darin einen eigenen Lebensplan, eine von anderen als eigenständig anerkannte Biografie verfolgen zu können. Bei alledem gibt Beate Ahr einen detail-

44 ForschungsForum 2 2 lierten Überblick über unterschiedliche Methoden der biografischen Forschung, über die bisher erschienenen einschlägigen fachbezogenen Publikationen und ihre genderrelevanten Bezüge, außerdem aufschlussreiche Hinweise zur Quellenlage. Während Beate Ahr gewissermaßen eine Makroperspektive auf die Geschichte der Disziplin einnimmt, geht es der Architektin und Bauhistorikerin Sabine Warnecke eher um eine Mikroperspektive am Beispiel einer Prota- gonistin der Architektur, Lucy Hillebrand, die sich seit den 20er- und bis in die 90er-Jahre des letzten Jahrhun- derts mit bemerkenswerter experimenteller Neugier und Lebhaftigkeit durch ihre verschiedenen Arbeiten und Beiträge eingemischt hat. Sabine Warnecke nähert sich dieser Biografie vornehmlich durch die Analyse spezieller Stationen des Werks, das sie in aller Vorsicht mit bestimmten Lebensdaten der Architektin in Verbindung setzt. Auf diese Weise verdichtet sie Leben und Werk der Architektin, die als Schülerin eine Reformschule besucht hatte, in dem Leitmotiv der „Lernorte“. Man kann diese Biografie als eine Emanzipationsgeschichte lesen; dafür sprechen zum Beispiel Widerständigkeiten im Verhältnis zu den Eltern, die Durchsetzung in der „Männerdomäne“ Architektur und die konsequente Verfolgung eines avantgardistischen Verständnisses von Raumproduktion. Die eigenen Erfahrungen der Architektin werden modellbildend für ihr Verhältnis zur Architektur: Es geht darum, Menschen neue Möglichkeiten zu eröffnen. In diesem Sinne ist wohl auch die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit PädagogInnen zu verstehen, die Lucy Hillebrand immer wieder gesucht hat. Als Hillebrands besondere Aneig- nungsweise des Raums stellt die Autorin den Tanz vor, aus dem heraus die Architektin eine eigene „Raumschrift“ entwickelt hat. Indem Sabine Warnecke in ihrem Beitrag die Frage des Lernens in den Mittelpunkt rückt, arbeitet sie an einer Subjektperspektive, die schon deshalb äußerst produktiv ist, als es um die Frage der Gestaltung des eigenen Lebenswegs geht, oder, wenn man so will, auch darum, sich selbst und die Welt emanzipatorisch zu verändern. Die Kulturhistorikerin, Volkskundlerin und Publizistin Cornelia Göksu dokumentiert zum Abschluss dieses Kapitels ihren Vortrag, den sie bei dem ForschungsForum mit einer aus Wort und Bild komponierten Präsentation gehalten hat. Darin wirft sie einen Blick auf verschiedene – literarische, soziologische, bildliche, ethnologische– Heran- gehensweisen und Fragen an die biografische Methode und sie berichtet über unterschiedliche eigene biogra- fische Projekte. Ihre Aufmerksamkeit gilt etwa der Spurensicherung auf den Wegen von Außenseitern und deren eigensinnigen Lebensmotiven. Oder sie porträtiert mit ihren Interviews Protagonistinnen des Feminismus an Hamburger Hochschulen mit der Beobachtung, dass diese Avantgarde ihren eigenen Beitrag zur Emanzipation zwischen euphorisierenden Erfolgen und resigniert machenden Niederlagen verbucht.

45 Beate ahr Der genderbewusste Blick zurück Biografische Forschung im Berufsfeld Freiraum- und Landschaftsplanung

Biografische Forschung bietet eine Vielzahl von wissenschaftlichen Methoden, um sich aus heutiger Sicht mit den historischen Deutungen der Wirklichkeit auseinanderzusetzen.1 Biografische Forschung ist auch das themen- zentrierte Erforschen der eigenen Biografie, eine Lernmethode, die vor allem in der pädagogischen Ausbildung2 und in der Erwachsenenbildung3 vermittelt und angewendet wird. In Literaturwissenschaft, Ethnologie, Anthro- pologie, Geschichtswissenschaft, Pädagogik, Psychologie, Soziologie und in der Frauen- und Geschlechterfor- schung hat biografische Forschung eine längere Tradition als in den Planungsdisziplinen, der Mathematik, den Technikwissenschaften und den Naturwissenschaften. Durch eine verstärkte Theoriebildung und Methodendis- kussion in den letzten 30 Jahren erfährt biografische Forschung heute eine größere Anerkennung in den verschie- denen Disziplinen.4 Auch im Berufsfeld der Freiraum- und Landschaftsplanung5 wurde und wird biografische Forschung zur Darstellung der Professionsgeschichte betrieben. Die Methode des biografischen Lernens spielt in der fachlichen Ausbildung eine geringe Rolle. Ein Diskurs über Theorie und Methoden der fachspezifischen biografischen Forschung fand bisher nur ansatzweise im Rahmen der Frauen- und Geschlechterforschung statt.6

1 Ich danke Roswitha Kirsch-Stracke und Ruth May für die Durchsicht des Manuskriptes sowie wertvolle Anregungen und Hinweise. 2 Rogal 2009; Bolland 2011. 3 Alheit, Dausien 2006. 4 Runge 2009a: 114-115; Ostner 1987; Klein 2002; 2009; Apitzsch 2003; Krüger, Marotzki 2006; Felden 2007; Dausien 2008; Fuchs- Heinritz 2010. Davon zeugen auch Einrichtungen wie das Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Theorie der Biographie: http://gtb.lbi.w7.netz-werk.com/ (21.02.2011), das Institut für Geschichte und Biographie an der Fernuni Hagen: www.fernuni- hagen.de/geschichteundbiographie/ (21.02.2011) oder das Zentrum für Biographik: www.zentrum-fuer-biographik.de/index.htm (21.02.2011). 5 Darunter sind auch Landschaftsarchitektur, Naturschutz, Landespflege, Umweltplanung, Gartengestaltung, Gartenarchitektur, Gartendenkmalpflege und Grünplanung gefasst. 6 „Zum Anteil von Frauen an der Gartenkultur: vermutet, behauptet, belegbar? Kritische Betrachtung der Quellenlage“, Neunte Tagung des Netzwerkes „Frauen in der Geschichte der Gartenkultur“ in Dresden 2008, www.gartenlinksammlung.de/netzwerk_frauen_2008. htm (20.02.2011); www.gender-archland.uni-hannover.de/463.html#c1150 (20.02.2011); zur kollektivbiografischen Methode s. Schmitt u. a. 2012. 46 ForschungsForum 2 2 Die Forschungsfragen für die folgenden Ausführungen sind: -- Wie ist der Stand der biografischen Forschung in der Landschafts- und Freiraumplanung in Deutschland aus dem Blickwinkel der Genderforschung? -- Auf welche Art und Weise kann biografische Forschung eine genderbewusste Professionsgeschichte und eine genderbewusste Planungspraxis befördern? Der englische Begriff „gender“ meint alle soziokulturellen Bedeutungen, die mit dem Geschlecht verknüpft werden. Gender ist ein veränderliches Konstrukt, das in starkem Maße die Lebenswirklichkeit der Individuen beeinflusst, aber auch durch diese Lebenswirklichkeit vermittelt wird („Doing Gender“). Wie „männlich“ oder „weiblich“ soziokulturell definiert werden und inwiefern inter-, trans- oder asexuelle Lebensformen in einem Konzept von Gender ausgeschlossen oder integriert werden, ist vom gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskurs abhängig.7 Sowohl die Mann-Frau-Zweiteilung als auch die Natur-Kultur-Zweiteilung, die unsere westliche Gedankenwelt bestimmen, werden der vielfältigen Verschränkung von biologischem und sozialem Geschlecht nicht gerecht. Vor diesem Hintergrund ist es notwendig, die Geschichte – hier die Professionsge- schichte – aufgrund neuer Erkenntnisse und Bewertungen genderbewusst zu de- und rekonstruieren. Es geht nicht darum, eine neue, nun gültige Geschichte festzuschreiben. Im Mittelpunkt sollte vielmehr der lebendige Diskurs stehen, dessen Beteiligte das Wechselspiel von Geschichtsschreibung und zeitgenössischer Geschichts- auffassung kritisch reflektieren. Ziel sollte sein, die jeweils – historisch wie aktuell – wirksamen wissenschaft- lichen Wertmaßstäbe sowie Forschungsperspektiven zu erkennen und genderbezogen zu erweitern. Geschichte – sowohl Wissenschafts- als auch Professionsgeschichte – wird damit zu einem immerwährenden Prozess von Geschehen und Deutung auch im Hinblick auf die genderspezifischen Lebensmöglichkeiten und -behinderungen der AkteurInnen im soziokulturellen Kontext. Eine genderbewusste Professionsgeschichte wird beiden Geschlechtern8 insofern gerecht, als sie darstellt, wo und auf welche Weise Frauen und Männer die Entwicklung der Profession prägten, beeinflussten und vorantrieben. Welche Unterschiede und Übereinstimmungen gab es in ihren Betätigungsfeldern, in ihrem Professionsver- ständnis und in ihrer Herangehensweise bei Problemdefinition und Lösungssuche? Wie sind diese soziokulturell und strukturell begründet und aus heutiger Sicht zu bewerten? Welche Rolle spielen dabei die Forscherin, der Forscher? Biografische Forschung kann sich diesen Fragen in vierfacher Hinsicht nähern: -- durch Erforschung und (re-)konstruierende Darstellung des Lebens einer Person, -- durch vergleichende Analyse von Biografien nach der kollektivbiografischen Methode,

7 Zur naturwissenschaftlichen Konstruktion von Geschlechterdifferenz s. Götschel 2008: 94 ff., zur Konstruktion von Geschlecht aus soziologischer Sicht s. Villa 2003. 8 Ich bleibe hier aufgrund mangelnder begrifflicher Alternativen bei der Einteilung in zwei Geschlechter, obwohl mir dies angesichts der Vielfalt an sexuellen Lebensformen zu undifferenziert erscheint und ich mir bewusst bin, dass ich damit ebenfalls am „Doing Gender“ mitwirke. 47 Beate ahr

-- durch wissenschaftliche Analyse von (auto-)biografischen Texten als Konstruktionen einer Wirklichkeit, -- durch themenzentriertes Erforschen der eigenen Biografie. Jeder dieser Forschungsansätze kann die genderbewusste Auseinandersetzung mit der Geschichte des Berufs- feldes und mit der eigenen Forschungs- und Planungspraxis befördern.

Biografik konstruiert Geschichte Die traditionelle Biografik mit „männlich-heroisierendem Gestus“9 war bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhun- derts in der biografischen Literatur über FachvertreterInnen beherrschend. Sie stellte den Lebenslauf einer bekannten Person des öffentlichen Lebens – in der Regel ein Mann – in den Mittelpunkt der Darstellung und gab ihrem Leben einen harmonischen Sinn in konsequent aufeinander aufbauenden Entwicklungsschritten, Leistungen und folgender offizieller Anerkennung.10 In der oftmals verklärenden Rückschau erscheint das profes- sionell erfolgreiche Leben in diesen Biografien vorbestimmt.11 Die neue biografische Forschung versucht, die individuellen Handlungen und Deutungen der Wirklichkeit, so wie sie uns Quellen überliefern, im soziokulturellen Zusammenhang zu interpretieren. Sie hinterfragt die biografi- schen Zeugnisse als individuelle Konstrukte einer Wirklichkeit und versucht, Lücken in den biografischen Quellen und durch zeitbedingte Ignoranz methodisch adäquat in der Darstellung zu begegnen.12 Biografische Forschung ermöglicht es uns, wie mit einem Vergrößerungsglas die Lebenswelt einzelner Personen bzw. Gruppen einer Gesellschaft näher zu betrachten und sie als Beweise bzw. Korrektiv für strukturelle Aussagen über die gesell- schaftliche Wirklichkeit zu nutzen. Die alltägliche Arbeits- und Lebenswelt sozial weniger angesehener Personen oder Gruppen,13 die lange in der Geschichtsdarstellung übergangen oder nur am Rande behandelt wurden, anhand biografischer Quellen zu rekonstruieren, kann das tradierte bürgerlich und androzentrisch geprägte Bild von historischer Lebenswirklichkeit erweitern bzw. zurechtrücken. „Die Frage, nach welchen Kriterien eine Lebensgeschichte für eine Biographie ausgewählt wird, ist eng verbunden mit der Funktionsweise von kultu- rellem Gedächtnis, mit Kanonisierungsprozessen und ihren Gegenbewegungen sowie mit sozialen, politischen und wirtschaftlichen Machtkonstellationen. Die Kriterien für ‚Biographiewürdigkeit’ ändern sich im Laufe der Zeit, in Abhängigkeit von dominierenden wissenschaftlichen Tendenzen, gesellschaftlichen Kontexten und den Anforderungen des Buchmarktes.“14 Welche Personen sind im Berufsfeld der Landschafts- und Freiraumplanung bisher als biografiewürdig angesehen worden?

9 Schmitt u. a. 2012: 531. 10 Zum Beispiel biografische Skizze über Friedrich Ludwig von Sckell von S. (vermutlich der Verleger C. Sauer) in Sckell 1825: VI-XXII; Schoenichen 1954. 11 „Alle wirklichen Biologen werden als solche geboren“, heißt es bezogen auf Hugo Conwentz. Schoenichen 1954: 163. 12 Runge 2009a: 119. 13 Beispielsweise der Bergbaubevölkerung im Oberharz. Laufer 2010. 14 Schweiger 2009: 32. 48 ForschungsForum 2 2 Fachspezifische Biografieforschung – die Datenlage Es gibt zur Zeit keinen umfassenden bibliografischen Überblick über biografische Darstellungen von Garten- künstlerInnen, GartenarchitektInnen, Landschafts- und FreiraumplanerInnen, Natur- und HeimatschützerInnen und weiteren Personen, die sich in den Bereichen Landschaftsverschönerung und Landeskultur engagierten. Über einzelne deutsche Gartenkünstler wurden schon seit dem 19. Jahrhundert Biografien veröffentlicht – so beispielsweise über Fürst Hermann von Pückler-Muskau (1785-1871)15 – bzw. ihre Lebensläufe und Leistungen werden in Büchern über Gartenkunst gewürdigt.16 Im Laufe des 20. Jahrhunderts kamen biografische Veröffentli- chungen über Männer und einzelne Frauen, wie Lina Hähnle, die als WegbereiterInnen des Naturschutzes galten, hinzu.17 Auch die Verfasser eines Bandes zur 100-jährigen Geschichte des Staatlichen Naturschutzes18 beziehen die individuellen Lebensgeschichten ausgewählter NaturschützerInnen in ihre Darstellung ein. Lina Hähnle, Erna Kretschmann, Magda Staudinger und Phillis Barclay-Smith schafften es als vier weibliche Vertreterinnen in diesen Kreis von insgesamt 29 Biografiewürdigen.19 Es werden überwiegend die Personen zum Gegenstand der biografischen Forschung, die ländliche und städtische Freiräume planten, gestalteten oder sich für ihren Erhalt und Schutz einsetzten. Lebensläufe von im nationalsozialistischen Deutschland diskriminierten Fachleuten werden in den letzten Jahren verstärkt beachtet.20 Biografische Quellen werden neuerdings auch genutzt, um das Augenmerk auf Personen (-gruppen) zu richten, die die geplanten Freiräume pflegten,21 sie nutzten bzw. von ihrer Nutzung ausgeschlossen wurden.22 Gert Gröning und Jochen Wolschke-Bulmahn veröffentlichten 1997 in ihrem „Biographischen Handbuch zur Landschaftsarchitektur des 20. Jahrhunderts in Deutschland“ biografische und bibliografische Daten zu mehr als 2 700 Personen, eingegrenzt auf die jüngere Vergangenheit des Berufsfeldes, um die „systematische Ausein- andersetzung mit der fachspezifischen Geschichte“23 zu erleichtern. Mit diesem Werk, das hoffentlich erweitert neu aufgelegt wird,24 haben sie einen wertvollen Grundstock für weitergehende biografische Forschungen gelegt. 45 Einträge beziehen sich auf Frauen – das sind nicht einmal zwei Prozent aller Einträge. In der Regel ist wenig zu ihrem Wirken vermerkt. Es sind Frauen wie Krista Gandert,25 Herta Hammerbacher,26 Eva Wedel,27 die staat-

15 Zum Beispiel Assing 2010 (1873, 1874); Petzold 1874. 16 Sckell 1825: VI-XXII. 17 Beispielsweise Boie 1940; Schoenichen 1954; Wöbse 2003. 18 Frohn, Schmoll 2006. 19 Frohn, Schmoll 2006: 39, 589, 697. 20 Fibich 2008. 21 Melzer 2009; Fischer 2010. 22 Zum Beispiel die jüdische Bevölkerung nach 1933, s. Fischer, Wolschke-Bulmahn 2008. 23 Gröning, Wolschke-Bulmahn 1997: 5. 24 Inzwischen sind ca. 1 000 neue Einträge gesammelt; schriftliche Auskunft von Prof. Dr. Gröning vom 21.01.2011. 25 Krista Gandert (1929-1982), Gartenarchitektin, Oberkonservatorin Abt. Historische Gärten und Parks, Berlin; vgl. Gröning, Wolschke- Bulmahn 1997: 103. 26 herta Hammerbacher (1900-1985), Gartenarchitektin, erste Professorin für Garten- und Landschaftsgestaltung in Deutschland, TU Berlin; vgl. Gröning, Wolschke-Bulmahn 1997:126 f. 27 Eva Wedel (- 1971), Gartengestalterin, Gartenamtsleiterin Berlin-Schöneberg; vgl. Gröning, Wolschke-Bulmahn 1997: 405. 49 Beate ahr liche Stellen innehatten, sowie Gerda Gollwitzer,28 die als Schriftstellerin und Redakteurin stärker öffentlich wahrgenommen wurde, deren Lebensläufe hier ausführlicher dargestellt werden. Eine vergleichbare Sammlung und Aufbereitung von biografischen Daten für den Naturschutz in Deutschland steht noch aus.29 Wertvolle Ergebnisse der Grundlagenforschung zu biografischen Daten liefert die Datenbank der Zeitschriften- literatur zur Gartenkultur und Freiraumentwicklung des 20. Jahrhunderts „garden-cult“.30 Die BearbeiterInnen werteten Zeitschriften des Zeitraums von 1887 bis 1945 mit Schwerpunkt im deutschsprachigen Raum aus. Unter dem Schlagwort „Biographien“ sind 8 291 kommentierte Einträge vermerkt.31 Die Einträge lassen sich jedoch nicht nach Geschlecht selektieren, was eine genderbezogene Analyse erschwert. Die digitalisierte Zander- Datei32 ermöglicht die Suche nach Personen, sofern der Name bekannt ist, die im Bereich Gartenbau tätig waren, und umfasst 7 600 Literaturnachweise aus etwa 30 deutschsprachigen Gartenbauzeitschriften für den Zeitraum von 1783 bis 1920. Davon beziehen sich 45 Einträge eindeutig auf insgesamt 25 Fachfrauen.33 Die 1990 erstellte „Bibliographie zur Geschichte der Landschaftsplanung“34 versammelt Zeitschriftenartikel des Zeitraumes von 1947 bis 1988. Von den 189 Artikeln, die Einzelbiografien darstellen, befassen sich nur drei mit Frauenbiogra- fien.35 Die inzwischen vollständig digitalisierte „Allgemeine Deutsche Biographie“ und die überwiegend digitali- sierte „Neue Deutsche Biographie“36 sind zwar keine fachspezifischen Biografiesammlungen, ermöglichen aber eine Recherche nach Beruf/Funktion, Berufsfeld und Geschlecht und erlauben auch die Volltextsuche nach einem Stichwort. Das große genderspezifische Missverhältnis zwischen der Anzahl von Frauen- und Männerbiografien bestätigt sich auch hier.37

28 Gerda Gollwitzer (1907-1996), Gartenarchitektin, Redakteurin von „Garten und Landschaft“; vgl. Gröning, Wolschke-Bulmahn 1997: 117 f. 29 Bezogen auf einzelne Regionen bzw. Bundesländer sind Biografien zu NaturschützerInnen veröffentlicht; z. B. Rettich 1999; Leh, Dietz 2009. Regional bestehen auch (Online-)Bibliografien, die für die Recherche nach Biografien genutzt werden können, zum Beispiel http://www.naturforschende-gesellschaft-der-oberlausitz.de/publikationen/bibliographie. 30 http://garden-cult.de/ (10.02.2011); Gröning, Schneider 2008. 31 Stand 30.12.2010. 32 http://zander.ub.tu-berlin.de/ (10.02.2011). 33 25 Personen sind durch Angabe des Vornamens eindeutig als weiblich identifizierbar. Viele der Einträge zeigen nur den Nachnamen an. Nach Stichprobenrecherche verbargen sich dahinter immer Männer. 34 Runge, Bechmann 1990. 35 Elisabeth Pfeil (1901-1975), Stadtsoziologin; Herta Hammerbacher (1900-1985), Gartenarchitektin und Professorin für Garten- und Landschaftsgestaltung; Marie-Luise Gothein (1863-1931), Gartenkunsthistorikerin. 36 http://www.deutsche-biographie.de/index.html (14.02.2011). In ADB und NDB kann auch über das „Biographie-Portal“ recherchiert werden, das auch die Inhalte des „Österreichischen Biographischen Lexikons“ 1815-1950 (ÖBL) und des „Historischen Lexikons der Schweiz“ (HLS) umfasst: http://www.biographie-portal.eu/search (14.02.2011). 37 Die Freitextsuche ergibt für „Gartenarchitekt“ 25 Einträge, davon zwei Frauen: Herta Mattern/Hammerbacher und Gertrud Mainzer; für „Naturschützer“ nur vier Einträge über Männer; für „Gartenkunst“ 52 Einträge über Männer; für „Gärtner“ 39 Einträge über Männer; für „Gärtnerin“ nur einen Eintrag über Katharina Theresa Simon bzw. Käthe Veit Simon (1887-1944, Gartenbauunterneh- merin). Weitere Informationen über sie: http://www.maerkische-landsitze.de/katharinenhof.htm (22.02.2011). 50 ForschungsForum 2 2 Genderspezifische Wege der Frauenbiografieforschung Aus dieser Datenlage wird deutlich, dass eine Geschichtsforschung, die sich lediglich an den dokumentierten Beständen orientiert, dem Anspruch einer genderbewussten Darstellung der Professionsgeschichte nicht gerecht werden kann. Es wird immer noch mit der Messlatte von männlichen Berufskarrieren die Biografiewürdigkeit von weiblichen Lebensläufen im Berufsfeld gemessen, was den soziokulturellen und strukturellen Einfluss auf die berufliche Lebensgestaltung ausblendet. Die strukturell bedingte „Schleife“38 von sich gegenseitig bestätigenden Vorurteilen besteht darin, dass die vermeintlich schlechte Quellenlage zu Frauen in der Landschafts- und Freiraum- planung und den damit verbundenen Tätigkeitsfeldern dazu Vorurteil: führt, dass die historischen Leistungen von Frauen immer Engagement von Frauen im Berufsfeld noch weniger beachtet und dadurch eine genderspezi- ist historisch nicht bedeutsam. fisch geringere Bedeutung ihres historischen Engagements fortgeschrieben wird.39 Der Anteil von Frauen an der Profes- sionsgeschichte erscheint daher vielen Forschenden und GeldgeberInnen als Forschungsthema weiterhin irrelevant.40 Vorurteil: Historische Forschung zum Engagement Die Kriterien der Bedeutung von professionellen Leistungen von Frauen im Berufsfeld lohnt sich und der Biografiewürdigkeit müssen daher aus der Gender- nicht. perspektive im fachspezifischen Kontext neu definiert werden. Self-fulfilling prophecy im Wissenschaftsbetrieb (Beate Ahr, 2011). Es ist immer noch zunächst Frauenforschung nötig, um eine ausreichende Datenlage für biografische Forschung aus der Genderperspektive zu erhalten. Eine besondere Schwierigkeit liegt darin, dass die unveröffentlichten Dokumente zu Frauen im Berufsfeld nur über die Namen der Personen zu erschließen sind, diese aber in der Regel noch nicht bekannt sind. Das heißt, zunächst ist über veröffentlichte Quellen (z. B. Jahrbücher der beruflichen Lehranstalten, Mitglieder- und TeilnehmerInnenverzeichnisse von Verbänden oder Tagungen41) nach Namen von Frauen zu suchen. Archivmaterial von und Veröffentlichungen über Naturschutz-, Heimatschutz- und Garten- bauorganisationen, über naturkundliche Museen und Forschungseinrichtungen sind wesentliche Quellen, die die Namen der Frauen, die sich dort engagierten, preisgeben können. Zu Frauen, die sich nicht beruflich ausbilden lassen konnten und nicht in Verbänden organisiert waren, sind Recherchen im Umfeld von schon bekannten Fachleuten hilfreich. So ergeben sich Hinweise auf Ehefrauen, Schwestern und Töchter, die die Arbeit eines

38 Zur diskriminierenden Wirkung von Vorurteils-„Schleifen“ in Organisationen vgl. Ortmann 2005. 39 Kennzeichnend dafür ist beispielsweise, dass in der Liste „bedeutender Gartengestalter“ [sic] in Wikipedia erst im 19. Jahrhundert die erste Frau (Gertrude Jekyll, 1843–1932), für Deutschland als einzige Frau im 20. Jahrhundert Herta Hammerbacher (1900-1985) genannt werden, vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Liste_bedeutender_Gartengestalter (10.02.2011). 40 Die forschungshemmende Wirkung der vermeintlich schlechten Quellenlage wurde schon von Dittberner (1996: 7) festgestellt. „Dass der organisierte [...] Forschungsbetrieb die Frauen- und Geschlechterforschung eher stiefväterlich behandelt […], bestätigt [...], dass auch der Wissenschaftsbetrieb von ‚tausend Schleifen’ des gendering durchzogen ist. Vulgo: Mit gender studies ist im Mainstream ein Blumentopf so leicht nicht zu gewinnen.“ Ortmann 2005: 122. 41 Zum Beispiel Deutsche Gesellschaft für Gartenkunst/Deutsche Gesellschaft für Gartenkunst und Landschaftskultur, Deutscher Natur- schutztag, Deutsche Botanische Gesellschaft. 51 Beate ahr

öffentlich anerkannten Fachmannes meist im Hintergrund, aber teilweise doch entscheidend mit ihren Erfah- rungen und ihrem Wissen unterstützten und beeinflussten. Sie arbeiteten teilweise ungenannt mit, führten die Arbeit nach dem Tod des Verwandten fort, verwalteten und veröffentlichten seinen Nachlass.42 Auch Briefdoku- mente in Nachlässen von anerkannten Fachleuten (Frauen wie Männern) führen zu weiteren fachlich versierten Frauen.43 Fachspezifische Bibliografien liefern Namen von Frauen, die gartenkulturelles, naturkundliches und umweltpädagogisches Wissen gesammelt, festgehalten und veröffentlicht haben, und erleichtern die Recherche nach biografischen Findmitteln bzw. Forschungsergebnissen.44 Erfreulicherweise öffnen etliche Forschungsarbeiten der letzten 20 Jahre die oben beschriebene Schleife. Marlies Dittberner forschte zu Frauen in den Anfängen des Naturschutzes,45 ein Personenkreis, über den bis heute, 15 Jahre später, wenig bekannt ist. Eine neue Quellenstudie zu den Naturschutz-Pionierinnen Margarete Boie46 und Helene Varges47 weist nach, dass die Quellenlage zu Frauen im frühen Naturschutz an sich nicht schlecht ist, sondern dass viele der Quellen nicht veröffentlicht und daher mühsamer zu recherchieren sind.48 Außerdem bestätigte sich die Annahme, dass ein Perspektivwechsel weg vom staatlichen und Verbandsnaturschutz hin zum Naturschutzengagement außerhalb dieser Strukturen notwendig ist, um die Leistungen von Frauen im Bereich Naturschutz zu erfassen. Dabei kommen – vermutlich auch genderspezifisch – bisher vernachlässigte Tätigkeits- felder wie die frühe Umweltbildung in den Blick. Anke Schekahn49 nimmt sich für ihre Forschungen nach Fachfrauen den Zeitraum von 1700 bis 1933 vor und legt das Augenmerk auf Frauen aller sozialen Gruppierungen: von Frauen des Adels bis zu Arbeiterinnen und Gehilfinnen sowie Frauen in verschiedenen Tätigkeitsfeldern wie Verfasserinnen von Sach- und Fachliteratur, Botanikerinnen, Gärtnerinnen, Gartengestalterinnen, Lehrerinnen, Blumenkünstlerinnen, Natur- und Heimat- schützerinnen und Gartentheoretikerinnen. Damit ist ihr wissenschaftlicher Blickwinkel ausgesprochen weit und berücksichtigt auch die Lebenswelten der Frauen, die nicht den Zugang zu einer fachlichen Ausbildung im engen Sinne hatten.50 255 Frauen sind in dieser Arbeit erfasst und besprochen. Dies weist noch einmal darauf hin, dass der wissenschaftliche Fokus auf für Frauen zugängliche Berufs- und Tätigkeitsfelder verschoben werden muss,

42 Zum Beispiel betrieb Elisabeth Rudorff, Tochter von Ernst Rudorff, selbst Naturschutzarbeit, verwaltete zusammen mit ihrer Schwester den Nachlass und veröffentlichte die Tagebücher ihres Vaters; Rudorff 2008; Ludwig 2001. Greta Ekelöf verh. Conwentz verwaltete als Witwe den Nachlass von Hugo Conwentz. Sie rezensierte Naturschutzschriften aus skandinavischen Ländern und arbeitete kurzzeitig an der Bibliothek der Staatlichen Stelle für Naturschutz, Dittberner 1996: 89. 43 Zur fachspezifischen Nachlassforschung s. Gröning, Schneider 1996; Schneider 2010: 54. 44 Zum Beispiel Dochnahl 1861; Schneider, Gröning 2009, 2010; Online-Bibliographie der Fürst-Pückler-Gesellschaft, Schrifttumser- fassung seit 1987, www.pueckler-gesellschaft.de/B1.html (10.02.2011); regionale Bibliografien, die u. a. Landes- und Naturkunde, Land-, Garten- und Forstwirtschaft umfassen, wie zum Beispiel Baarck 1984; Tielke 1990. 45 Dittberner 1996. 46 Schriftstellerin (1880-1946). 47 Grafikerin und Kunstmalerin (1877-1946). 48 Ahr, Kirsch-Stracke 2010. Der potenzielle Bestand unveröffentlichter Quellen ist grundsätzlich abhängig vom Bildungsstand der Frauen (ebenso wie von dem der Männer) und ihrer Fähigkeit und Möglichkeit, sich schriftlich bzw. bildkünstlerisch zu äußern. Das heißt das Leben von Frauen aus dem bürgerlichen Milieu wird stärker dokumentiert sein als das von Frauen mit geringeren Bildungs- chancen. 49 Schekahn 2000. 50 1890 erst wurde die erste Gartenbauschule für Frauen durch Hedwig Heyl eröffnet; Schekahn 2000: 77 f. 52 ForschungsForum 2 2 um das fachspezifische Engagement von Frauen in den Blick zu bekommen, da sie erst seit 1908 in allen Teilen Deutschlands zu einer wissenschaftlichen Ausbildung zugelassen waren und damit erst die Bedingung für eine berufliche Karriere in Wissenschaft oder staatlicher Verwaltung erfüllen konnten.51 Untersuchungen einzelner Forscherinnen im Fachgebiet sowie in benachbarten Disziplinen rücken Frauen in der Geschichte des Naturschutzes, der Gartenkultur und des Landbaus in den Mittelpunkt der Betrachtung.52 Das Netzwerk „Frauen in der Geschichte der Gartenkultur“53 befördert seit mehr als zehn Jahren Forschung und Kommunikation zu diesem Themenfeld. Es verknüpft VertreterInnen aus Kunstgeschichte, Freiraum- und Landschaftsplanung, Journalistik, Bibliothekswesen, Agrarsoziologie, Gartenbau, Architektur, Biologie und weiteren Berufen bzw. Wissenschaftsbereichen interdisziplinär und zunehmend international. Es bietet mit seiner jährlich stattfindenden Arbeitstagung eine Plattform, auf der sich Wissenschaft und Praxis über Forschungs- ansätze, -perspektiven und -methoden austauschen und durch die verschiedenen fachlichen Sichtweisen und Erfahrungen in ihrer Arbeit befördern. Die Beiträge der Netzwerktagungen sind in zahlreichen Veröffentli- chungen dokumentiert.54 Das Themenfeld wird weit interpretiert und reicht vom gartenkünstlerischen Wirken adeliger Frauen bis hin zu Gestaltung und Nutzung von ländlichen und städtischen Alltagsgärten durch Frauen. Tagungsvorträge wie beispielsweise über die Brandenburger Landwirtschaftsreformerinnen Helene Charlotte von Friedland und ihre Tochter Henriette Charlotte,55 über das Leben und Wirken der sogenannten „Gartenfrauen“ in den staatlichen sächsischen Gärten um 1900,56 über den Arbeitsalltag von Kohlerntearbeiterinnen zu Zeiten der DDR,57 über den Beitrag der zionistischen Pionierinnen zur Gartenkultur in Palästina58 verdeutlichen schlaglicht- artig die Bandbreite der Themen. Die großen Gartengestalterinnen oder Wissenschaftlerinnen zu entdecken ist nicht das vornehmliche Ziel der Netzwerkarbeit, sondern die Bedeutung von Frauen in der Tradition ihrer genderspezifischen gartenkulturellen Tätigkeiten und der Art, wie sie Erfahrungswissen erwarben, weitergaben und auch heute noch tradieren, im soziokulturellen Kontext zu würdigen.59 „Wenn man heute in den unterschiedlichen Disziplinen nach Spuren von Frauen sucht, dann kann sich eine solche Beschäftigung nicht allein auf den wissenschaftlichen Ertrag ihres Arbeitens beschränken, dann ist es auch notwendig, die Rahmenbedingungen, das gesellschaftliche und akademische Umfeld, in dem diese Frauen lebten und arbeiteten, zu klären. Denn es geht um mehr als nur

51 Soden 1997: 628. 52 Zum Beispiel Inhetveen, Schmitt 2000; Volland 2002; Degenhardt 2002; Wenzel (Red.) (2001). 53 www.gartenlinksammlung.de/netzwerk_frauen.htm (25.01.2011), 1999 von der Kunsthistorikerin Dr. Gerlinde Volland zunächst als Arbeitskreis initiiert. Kirsch-Stracke 2010. 54 Kirsch-Stracke, Widmer 2001; Hubenthal, Spitthöver 2002; Inhetveen, Schmitt 2006; Artikel in der Zeitschrift „Die Gartenkunst“ Jahrgänge 2000, 2005, 2008, 2009: genaue Literaturangaben s. www.gartenlinksammlung.de/netzwerk_frauen.htm (25.01.2011). 55 helene Charlotte von Friedland (1754-1803), Henriette Charlotte von Itzenplitz (1772-1848); Düvel 2002. 56 Melzer 2009. 57 Tagungsbeitrag von Dr. Lutz Grope auf der 11. Netzwerktagung in Stralsund 2010, noch nicht veröffentlicht. 58 Enis 2006. 59 „Auch für Frauen aus dem Adel war Heirat [durch die in allen gesellschaftlichen Schichten übliche Patrilokalität] mit Migration verbunden […] Da Frauen beim Knüpfen und Erhalten von Beziehungen eine wichtige Rolle spielten, trugen sie wesentlich zur Diffusion land- und gartenbaulicher Innovationen bei und wurden so zu Agentinnen des agrarischen Fortschritts in Europa.“ Inhetveen 2001: 15. 53 Beate ahr um Forschungserträge, es geht […] um die Geschichte weiblicher Wissenschaft schlechthin. Wissenschaftsge- schichte und die Geschichte von Fächern ist [sic] ein Stück Geschlechtergeschichte, und auch Erkenntnisprozesse verlaufen nicht geschlechtsneutral.“60 Eine Auseinandersetzung mit den Erkenntnisprozessen in der biografischen Forschung muss sich auch mit den Forschungsmethoden und der Rolle der Biografin bzw. des Biografen61 beschäftigen. Auf der 9. Netzwerktagung in Dresden 2008 mit dem Thema „Zum Anteil von Frauen an der Gartenkultur: vermutet, behauptet, belegbar? Kritische Betrachtung der Quellenlage“ richteten die TeilnehmerInnen den Blick verstärkt auf die differenzierte Quellenbewertung und -interpretation im Zuge von historischer biografischer Forschung. Das zweite Forschungs- Forum des gender_archland am 29. Oktober 2009 befasste sich unter dem Schwerpunktthema „Biografiefor- schung“ ebenfalls mit Methoden der Biografieforschung.62 Das nebenstehende Schema63 verdeutlicht am Beispiel der Naturschutz-Pionierin Helene Varges die verschiedenen Filter, die bei der Überlieferung und Interpretation der Quellen auf das mögliche Forschungsergebnis wirken. Helene Varges sortierte während ihres Lebens Zeugnisse ihres Handelns aus, ebenso die Personen, die ihren Nachlass übernahmen. Schließlich wirkt auch die ForscherIn mit ihren spezi- fischen Fragen, aber auch mit ihrem individuellen Erfahrungshintergrund als Filter für Quellen und Infor- mationen, die für ihre bzw. seine Forschung relevant

Historische Akteurin, NachlassverwahrerInnen und ForscherIn wirken wie erscheinen. ForscherInnen müssen sich dieser Bedin- Filter auf das Forschungsergebnis (Beate Ahr, 2011). gungen bewusst sein und ihnen möglichst transparent und schlüssig in der Reflexion des eigenen Forschungs- standpunktes, der Forschungsfragen und -methoden begegnen. Dabei kann das forschende Lernen anhand der eigenen Biografie einen grundlegenden Bewusstwerdungsprozess in Gang setzen. Die Darstellung von histori- scher Wirklichkeit ist immer eine Sinn gebende Darstellung von Möglichkeiten, die durch eine nachvollziehbare Interpretation der Quellen gestützt werden muss. „In diesen Zeugnissen kommen Menschen aus der Vergan- genheit zu Wort, aber sie sprechen nur zu den Bedingungen, die der Historiker ihnen auferlegt. Es hängt von den Fragen des Historikers ab, welche Antworten er erhält, denn die Menschen der Vergangenheit sprechen nicht von selbst. Sie müssen von uns erst zum Sprechen gebracht werden. Geschichte ist, weil wir uns erinnern und unseren Erinnerungen einen Sinn geben und weil wir Ereignisse aus der Vergangenheit für die Bedürfnisse der Gegenwart

60 Göttsch-Elten 2002: 14. 61 Zur Rolle des Biografen/der Biografin s. Klein 2002: 29 ff. 62 http://www.gender-archland.uni-hannover.de/463.html (22.02.2011). 63 Es handelt sich hier um eine Folie aus dem Impulsreferat im zweiten ForschungsForum von gender_archland am 29.10.2009, s. www. gender-archland.uni-hannover.de/fileadmin/gender-archland/Bilder/Forschungsforen/beate_ahr.pdf (22.02.2011). 54 ForschungsForum 2 2 interpretieren. Darin entsteht Geschichte als Sinn.“64 Erst wenn wir die Frage nach dem Geschlechterverhältnis und genderbedingten Unterschieden stellen, werden die Quellen auch entsprechend antworten können.

Kollektivbiografischer Forschungsansatz Der kollektivbiografische Forschungsansatz fokussiert eine Gruppe von Personen, die durch bestimmte Merkmale (zum Beispiel gleiche Berufsausbildung, gleiche Interessen) miteinander verbunden sind. In dieser Methode verbindet sich die Erforschung von Einzelbiografien mit der vergleichenden Analyse. Der Vorteil dieser Methode liegt darin, dass im Vergleich einer Vielzahl von Biografien zum einen ähnliche Lebensverläufe auf generations- spezifische soziokulturelle Einflüsse schließen lassen, zum anderen gerade vor diesem Erkenntnishintergrund das individuell Außergewöhnliche einer Biografie stärker zutage tritt.65 Auch die Verbindungen – persönliche Beziehungen, fachlicher Austausch und berufliche Kooperation – zwischen den Biografierten können mit dieser Methode verstärkt in den Fokus genommen werden.66 „Kollektivbiographik ist eine der Antworten auf den gegen die Biographie immer wieder vorgebrachten Vorwurf der Heroisierung des Individuums auf Kosten der Kontex- tualisierung einer Lebensgeschichte.“67 Gerade weil diese Methode nicht eine „große“ Persönlichkeit in den Mittelpunkt stellt, erscheint sie für die Darstellung der Leistungen von Frauen im Berufsfeld, über die teilweise bisher wenig bekannt ist oder deren Berufskarrieren kurz waren, sehr geeignet und wirkt damit der „Margina- lisierung, Stereotypisierung und dem Ausschluss von Frauen aus der Geschichtsschreibung“68 entgegen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Impulse für diese Methode von der feministischen Biografik ausgingen.69 „Die kollektivbiografische Methode birgt auch forschungsstrategisch Vorteile: Sie ermöglicht es, die große Stofffülle qualitativer Forschung zu bündeln und dadurch zu ,bändigen’. Sie erlaubt es, trotz der unterschiedlichen Komple- xität und Heterogenität der Archivbestände und sonstiger verfügbarer Quellen jede Person vergleichend mit einzubeziehen.“70 Die methodischen Erfahrungen kollektivbiografischer Forschungen in benachbarten Disziplinen wie beispielsweise über die Pionierinnen des ökologischen Landbaus71 sollten für die fachspezifische Biografik verstärkt genutzt werden.72 Einen soziologischen Ansatz, der aber auch kollekivbiografische Züge trägt, da biografische Daten einer Gruppe von Personen soziologisch aufbereitet werden, verfolgen Katharina Homann und Maria Spitthöver in ihrer Arbeit über die Bedeutung und Arbeitsfelder von Freiraum- und Landschaftsplanerinnen für die Zeiträume 1900 bis

64 Baberowski 2005: 11. 65 Die Soziologin Frigga Haug benannte schon vor 30 Jahren den Vergleich als Methode der kollektiven Erinnerungsarbeit und als Ausgangspunkt des Forschens nach den Bedingungen, in denen „Unvergleichliches“ möglich war, Haug 1983: 25. Dies ist auf die Geschichtsforschung übertragbar. 66 Schmitt u. a. 2012: 544 ff. 67 harders, Schweiger 2009: 194. 68 harders, Schweiger 2009: 194. 69 harders, Schweiger 2009: 194. 70 Schmitt u. a. 2012: 536. 71 Schmitt u. a. 2012. 72 Ansatzweise bei Dittberner 1996: 91 f. 55 Beate ahr zum Ende des Zweiten Weltkrieges und für die Zeit danach bis 1970.73 Sie betrachten vor dem Hintergrund der Entwicklung des Berufsstandes, wie sich Frauen fachlich ausbilden ließen, welche Arbeitsschwerpunkte sie wählten, in welchem Maße sie sich in Berufsverbänden organisierten, an Wettbewerben teilnahmen und Fachbücher oder -artikel veröffentlichten. Das Geschlechterverhältnis wird quantitativ im prozentualen Anteil an beruflichen Positionen, Ausbildungsabschlüssen, Mitgliedschaften in Berufsverbänden, Wettbewerbsteilnahmen, Arbeitsfeldern etc. verdeutlicht. Kurzbiografien zu Gartenbaufachfrauen, Gartenarchitektinnen und Landschafts- planerinnen auf der Grundlage von Literaturrecherche und Interviews ergänzen und erweitern qualitativ das Bild. Sie verdeutlichen, wie Frauen individuell mit den strukturell bedingten Hindernissen und Möglichkeiten, die für ihre professionelle Ausbildung und Tätigkeit in den beiden Zeiträumen bestanden, umgingen. Sie zeigen, wie stark die genderspezifischen Normen der Arbeitsteilung die berufliche Tätigkeit der Frauen bestimmten – selbst bei Ehepaaren, die gemeinsam ein Büro führten –, und welche Lösungen sie für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie fanden: beispielsweise die Anstellung einer Kinderfrau für die ersten 10 Lebensjahre des Sohnes74 oder die Übernahme der haushaltsnäheren Baustellen durch die Fachfrau, damit sie schnell zu Hause war, um das Mittagessen zu kochen.75 Es ist wünschenswert, die in den beiden von Katharina Homann und Maria Spitthöver untersuchten Zeiträumen erkennbare Veränderung der fachspezifischen Themen und Tätigkeitsfelder sowie der beruflichen Karrieren, denen sich Frauen widmeten, mit der späteren Entwicklung zu vergleichen und die soziokulturellen Hintergründe dafür aufzudecken. Ansatzweise ist dies für den amtlichen Naturschutz in Niedersachsen geschehen.76 Verschiedene Berufsfeldanalysen77 bieten Datenmaterial, das genderspezifisch und vergleichend ausgewertet werden kann.78 Auf der Grundlage von biografisch-narrativen Interviews können die genderspezifisch wirksamen und individuell erlebten Differenzen und Ambivalenzen hinsichtlich der Rollenerwartungen und der beruflichen Identität sowie die individuellen und strukturellen Bedingungen für eine gelungene (Berufs-)Biografie rekonstruiert werden.79 Der soziologische Diskurs zum Wandel von Arbeit, Ökonomie und Geschlechterverhältnis gibt theoretische und methodische Impulse für die fachspezifische Auseinandersetzung.80 Der Vergleich der Kollektivbiografien von Fachfrauen mit denen von Fachmännern ließe die Einflüsse von Gender vermutlich noch stärker hervortreten. Vor dem Hintergrund unterschiedlicher gesellschaftlicher Milieus wäre es möglich, diese Einflüsse nach verschie- denen Umfeldern zu differenzieren.

73 homann, Spitthöver 2006. 74 homann, Spitthöver 2006: 146. 75 homann, Spitthöver 2006: 137. 76 Schupp 1999. 77 hübler 1982; Ziegler et al. 1998, Geiß 1990. 78 So geschehen durch Poblotzki 2001: 53-57 mit der Berufsfeldanalyse von Ziegler u. a. 1998. 79 Beispiele finden sich in Miethe et al. 2004. 80 hornung 2003; Pasero 2004. 56 ForschungsForum 2 2 Genderbewusste Dekonstruktion biografischer Texte Es gibt bisher nur wenige fachspezifische Veröffentlichungen, die (auto-)biografische Texte über Vertrete- rInnen des Berufsfeldes81 im Zusammenhang mit Werk und Wirken der ProtagonistInnen kritisch reflektieren.82 Forschungsfragen aus der Genderperspektive werden dabei selten gestellt, obwohl diese Perspektive vielverspre- chend erscheint.83 „Die Genderperspektive als Methode der Infragestellung von Weiblichkeits- und Männlichkeits- konstruktionen erlaubt es, biographische Texte daraufhin zu betrachten, welche (traditionellen oder alternativen) Modelle von Geschlechteridentitäten in ihnen wirksam werden. Umgekehrt kann untersucht werden, ob und in welcher Weise Biographien an der Konstruktion von (normativen) Geschlechtervorstellungen mitwirken und/ oder diese unterlaufen. Die Integration des Genderaspekts in die biographische Praxis erweitert das Spektrum der selbstreflexiven Möglichkeiten sowohl der literarischen als auch der wissenschaftlichen Formen des Genres.“84 Bezogen auf die Geschichte unseres Berufsfeldes ermöglicht eine solche Herangehensweise, die genderspezifi- schen Zuschreibungen, die diese Texte offenbaren,85 mit der rekonstruierten Lebens- und Berufswirklichkeit von Frauen und Männern zu vergleichen, wechselseitige Einflüsse ebenso zu erkennen wie die strukturellen Gründe zum Beispiel für die unterschiedlichen Tätigkeitsbereiche und gesellschaftlichen Positionen sowie die Art und Weise der öffentlichen Wahrnehmung ihres Wirkens. Der Blick über den disziplinären Tellerrand zu Literaturwis- senschaft, Pädagogik, Psychologie, Geschichtswissenschaft und Soziologie ist als Anstoß der fachspezifischen Methodendiskussion und Theoriebildung zu dieser Art der biografischen Forschung wünschenswert.86

Themenzentriertes Erforschen der eigenen Biografie Zu Beginn meines Studiums der Landespflege in Hannover beherzigte ich die Empfehlung von Professor Gert Gröning, die eigene Freiraumbiografie zu schreiben. Während ich schrieb, wurden mir meine bis dahin gesam- melten Freiraumerfahrungen erst bewusst. Ziel dieser biografischen Reflexion war es, uns vor einer „déformation professionelle“ zu bewahren und unser Erfahrungswissen als mögliches Korrektiv für die in der Ausbildung vermittelten professionellen Leitlinien einer gelungenen Gestaltung einzusetzen.87 Die Methode des biografi- schen Lernens stellte auch den Versuch dar, „die Bewusstlosigkeit gegenüber der Entwicklung und Veränderung der eigenen Wertvorstellungen zumindest partiell aufzuheben.“88 Die eigene Biografie reflektierend erkannte ich außerdem, dass ich die Bedürfnisse und Hemmnisse der poten- ziellen NutzerInnen mit ihren persönlichen Freiraumbiografien in meine Planungen einbeziehen muss, wenn ich gesellschaftsbezogen arbeiten will. „Das immer wieder neue, im Verlauf der vielen Jahre beständig anhal-

81 Zum Beisiel Boie 1940; Schoenichen 1954; Rudorff 2008. 82 Zum Beispiel Gröning 2004. 83 Ahr, Kirsch-Stracke 2010: 20 ff. zeigen in ihrer Quellenstudie Möglichkeiten der Analyse aus Genderperspektive auf; Poblotzki, 1992: 305, analysiert u. a. auch biografische Texte (zum Beispiel Schoenichen 1954) auf ihre genderspezifischen Zuschreibungen hin. 84 Runge 2009b: 402. 85 Zum Frauenbild in der Landespflege im Zeitraum von 1945 bis 1970 vgl. Poblotzki 1992: 267-313. 86 Zum Beispiel Felden 2007. 87 hennecke 2009: 7. 88 hennecke 2009: 7. 57 Beate ahr tende Interesse der Studierenden an dieser Lernform“89 hat viele Freiraumbiografien in textlicher und bildlicher Form entstehen lassen, sowohl an der Universität Hannover als auch an der Hochschule der Künste Berlin, wo Gröning seit 1985 lehrt. Die vergleichende Analyse dieser biografischen Dokumente aus 30 Jahren wäre höchst aufschlussreich hinsichtlich interkultureller, generations- und genderspezifischer Unterschiede in Wertvorstel- lungen, Nutzungsbedürfnissen und -hemmnissen.90 Die Ergebnisse biografisch-vergleichender Forschung können eventuell auch die lokal nachgewiesene91 nicht gleichberechtigte Teilhabe der verschiedenen NutzerInnengruppen am öffentlichen Raum – weibliche und ältere Personen erscheinen benachteiligt – auf einer von der Freiraumge- staltung unabhängigen Ebene von soziokulturell vermitteltem Verhaltenskodex und Rollenerwartungen klären.

Biografisches Lernen: Persönliche Freiraumerfahrungen zum Beispiel mit unterschiedlich gestalteten Gärten bewusst machen. Links: Hausgarten in Eutin, rechts: Privat gestalteter, aber halböffentlich nutzbarer „Zauberfeengarten“ im Schlossgarten Eutin (Fotos: Beate Ahr, 2011).

Biografisches Lernen mit dem Fokus auf der individuellen Naturbeziehung besitzt ebenfalls ein großes Potenzial für einen bewussten, kritisch reflektierenden Umgang mit wissenschaftlich oder soziokulturell vermittelten Naturbildern, die unsere Professionsgeschichte prägen und die gegenwärtige Praxis und Begründung von Natur- schutz- und Landschaftsplanung beeinflussen.92 Sozialwissenschaftliche Untersuchungen zeigen genderspezi- fische Unterschiede auf.93 Methodische Erfahrungen bestehen in der Analyse biografischer Erzählungen über den Umgang mit Technik.94 Darüber hinaus ist ein Bewusstwerdungsprozess durch biografisches Lernen auch für die

89 Gröning im Interview, Hennecke 2009: 7. 90 Leider sind die Texte und Kunstwerke nicht für Forschungszwecke gesammelt worden; schriftliche Auskunft von Prof. Dr. Gröning vom 21.01.2011. 91 Spitthöver 2010: 364 ff. 92 Zur Bedeutung der Naturbeziehung in der Naturschutzargumentation s. Bierhals 2005. 93 Zum Beispiel Meier, Erdmann 2004. 94 Schröder 2007; Schröder 2009; außerdem gibt es übertragbare methodische Hinweise z. B. in den Forschungen von Frigga Haug (1983) zur Erinnerungsarbeit. 58 ForschungsForum 2 2 Selbstverortung als ForscherIn und einen selbstbewussten, reflektierten, transparenten und nachvollziehbaren genderbewussten Umgang mit Forschungsperspektiven, -theorien und -methoden geeignet.

Resümee Eine große Zahl biografischer Texte über Personen im Berufsfeld Freiraum- und Landschaftsplanung beeinflusst – bisher weitgehend unreflektiert – die Professionsgeschichte. So existiert noch keine umfassende fachbiblio- grafische Übersicht zu biografischen Texten. Die zurzeit ersichtliche Datenlage weist ein starkes genderspe- zifisches Ungleichgewicht zwischen der biografischen Forschung zu Männern und der zu Frauen auf. Eine Biografieforschung, die die Biografiewürdigkeit einseitig an männlichen erfolgreichen Berufskarrieren orientiert, behindert eine Darstellung der Professionsgeschichte, die beiden Geschlechtern gerecht wird. Der genderbe- wusste forschende Blick benötigt den Perspektivwechsel von der professionellen Tätigkeit in staatlichen Institu- tionen und Verbänden, in denen sich aufgrund struktureller Gegebenheiten auf der höheren Ebene vorwiegend Männer engagierten, hin zu den außerstaatlichen und außerverbandlichen Betätigungsfeldern, die auch Frauen seit den Anfängen der fachlichen Professionalisierung offenstanden. Forschungsnetzwerke haben in diesem Sinn die Forschung zu Leben, Werk und Wirken von Frauen im Berufsfeld gefördert. Forschungsarbeiten zeigen auf, dass sich die Genderperspektive auf die Professionsgeschichte lohnt. Die kollek- tivbiografische Methode bietet ein Instrumentarium, das dafür besonders geeignet erscheint. Die Analyse (auto-) biografischer Texte hinsichtlich der Vermittlung fachlicher Interessen und genderspezifischer Zuschreibungen ist ein bisher zu wenig genutzter Weg, um die Professionsgeschichte zu reflektieren und sich der genderspezifischen Traditionslinien von Selbstverständnis, Ideen und Argumenten im Berufsfeld bewusst zu werden. Vielverspre- chend, aber ebenfalls bisher bei Weitem nicht ausgeschöpft, ist das Potenzial der Methode des biografischen Lernens. Biografisches Lernen sollte einen festen Platz in Ausbildung und Weiterbildung sowohl in den raumbe- zogenen Planungsberufen als auch in der Umweltpädagogik erhalten. Von der Auseinandersetzung mit Theorie- bildung und Methodendiskussion der biografischen Forschung in anderen Disziplinen kann die fachspezifische biografische Forschung profitieren.

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64 Sabine Warnecke Die Lernorte der Architektin Lucy Hillebrand

In ihrer langen Schaffenszeit entwarf und baute die Architektin Lucy Hillebrand eine Vielzahl von klassischen „Lernorten“. Hierzu gehörten u. a. zahlreiche Schulen. Doch findet sich der Begriff des Lernortes auch im Zusam- menhang mit anderen Projekten, so zum Beispiel bei Entwürfen für Museen oder städtebaulichen Konzepten. Im Folgenden wird beleuchtet, wie der Begriff bei Lucy Hillebrand Verwendung findet, indem einige ihrer Projekte, die unter anderem dem Lernen bzw. der Lehre dienen, präsentiert werden. Zunächst beleuchte ich einige Aspekte der Schulerfahrung und den Werdegang der Architektin. Lucy Hillebrand wuchs als Tochter liberaler und kunstsinniger Eltern in Mainz auf. Ihre Erfahrungen als Schülerin der ersten experimentellen Reformschule ihrer Heimatstadt werden sie geprägt haben.1 Diese Schule, die im Sinne der Fröbelschen Erziehungsgrundsätze arbeitete, unterschied sich deutlich von den autoritären und strengen staatlichen Institutionen im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. „Lernen durch Anschauung, Beobachtung, Erfahrung; Beschränkung der Klassenzahl auf 20; bewegliche Klassen; Schülermitverantwortung“,2 nicht nur die geistige, auch die körperliche Entwicklung galt es zu fördern, Unterricht im Freien und Gartenarbeit gehörten ebenso zum Lehrplan. Die Kinder sollten zu eigenem Denken und kritischer Betrachtungsweise, nicht zu Unter- ordnung und stillem Gehorsam erzogen werden. In Lucy Hillebrands Entwürfen für Schulbauten finden sich diese Ideen wieder.

Tanz und Raum Parallel zur schulischen Ausbildung besuchte die junge Lucy auf eigenen Wunsch das Institut für tänzerische Gymnastik von Eva Baum im nahe gelegenen Wiesbaden. Das Tanzen sollte für sie zu den wichtigen Raumwahr- nehmungen und Ausdruckserfahrungen gehören. Lucy Hillebrand lernte, Gefühle durch Tanz auszudrücken,3

1 Borrmann 1988: 67. 2 Borrmann 1988: 69. 3 Schlagheck 1988: 83. 65 sabine warnecke entwickelte eine eigene Tanzschrift, die sie später zur sogenannten „Raumschrift“ erweiterte. Diese „Raumschrift“ war die „ureigene Methode der LH“4 und ihre erste Herangehensweise an einen Entwurf.5 „Räumen näherte sie sich durch sorgfältige Analyse von Bewegung und Raum und hielt ihre Überlegungen in ‚Raumschrift-Skizzen’ fest, welche nebenher im Gespräch mit den BauherrInnen entstanden“.6

Raumschrift um 1958, Auseinandersetzung mit Möglichkeiten der Raumschrift 1980, Spannungsfeld zwischen geschütztem und Raumnutzung (Lucy Hillebrand, aus: Grohn, 1990: 17). ungeschütztem Raum (Lucy Hillebrand, aus: Grohn 1990:18).

Für Lucy Hillebrand stand der Mensch stets im Mittelpunkt, ein enger Kontakt und Verständnis für die Bedürf- nisse waren ihr besonders wichtig. Ihre eigenen, durch den Tanz geprägten Raumwahrnehmungen beeinflussten auch ihre Analyse: Raumerleben durch Bewegung! Die ersten Skizzen entstanden daher durch die Vor- und

4 hoffmann 1985: 178. 5 „Die Arbeit des Architekten beginnt nicht mir dem Zeichenstift, sondern mit dem Besinnen, dem Loten nach dem Grund, auf dem das Ganze als geistig künstlerisches Gefüge ruht“, Hoffmann 1985: 178. 6 haselsteiner 2009a: 1. 66 ForschungsForum 2 2 Feststellung von Bewegungsabläufen und Raumbeziehungen. Klaus Hoffmann beschreibt es wie folgt: „Der Notierungs-Code sollte nicht verwechselt werden mit einer beliebigen individuellen Handschrift, mit Notati- onszeichen, wie sie jeder Architekt bei seinen Skizzen als Merkzeichen einsetzt und wie jeder Choreograf in persönlichen Aufzeichnungen Pfeile und Markierungen nach eigener Wahl für Partituren aufschreibt. Wenn die Architektin LH ein architektonisches Problem diskutiert, nimmt sie einen Blei- oder Kohlestift und erörtert mit Hilfe des Stiftes den Fall auf jedem beliebigen Zettel. Sie reduziert den Casus, den Umriss und die örtlichen Gegebenheiten teils in dynamischen Skizzen, sie ‚schmiert’ dann und übergeht gewisse Strecken wiederholt mit dem Stift. Zuweilen entsteht dann eine Art Bewegungs-Strom, ein lockeren Zickzack, eine seltsame Figur, teils über Wegstreichen und Ungültigmachen“.7 So verhalf das Tanzen Lucy Hillebrand, Räume bewusst wahrzunehmen, und war insofern auch einer der Antriebe, diese zu planen. Auf diese Weise entwickelte sich der Wunsch, den Beruf der Architektin zu erlernen – in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine für Frauen eher untypische Profession. Doch Lucy Hillebrand überzeugte mit ihrer Durchsetzungskraft nicht nur die Eltern, die ein Jurastudium passender gefunden hatten, sondern setzte sich auch später in der Männerdomäne durch. Um ihren Wunsch in seiner Ernsthaftigkeit zu unterstreichen, fuhr sie täglich zum Studium von Mainz nach Offenbach. Dort lehrte Domenikus Böhm, dem sie 1926 nach Köln folgte, um das Studium als seine Meisterschülerin abzuschließen. Mit Böhm teilte sie auch die Leidenschaft für die „archaische Einfachheit“ der frühromanischen Architektur. In der Übertragung auf ihre Entwürfe bedeutete dies den Verzicht auf überflüssigen Zierrat. 1927 wurde Lucy Hillebrand mit 21 als jüngstes Mitglied in den Deutschen Werkbund berufen.8 1928 eröffnete sie ihr erstes Atelier im avantgardistisch geprägten, sogenannten Neuen Frankfurt, wo sie auf die von Ernst May – dem damaligen Leiter des Stadtplanungsamtes – geprägte Avantgarde der Architekten und Bildenden Künstler traf. Aber, so stellte sie später fest: „Ich habe das neue Frankfurt miterlebt […] mich dann aber doch davon getrennt.“9 Der „reine Funktionalismus“ war ihr zu formalistisch.

Der Mensch im Mittelpunkt der Architektur Seit Anbeginn ihrer architektonischen Laufbahn stellte Lucy Hillebrand den Menschen in den Mittelpunkt; das intensive Gespräch mit den Bauherren und der Austausch mit Handwerkern und „Fachexperten“ waren ihr wichtig. Sie suchte nach „menschendienenden, zeitgerechten und zeitlos gültigen ‚vollkommenen’ Lösungen, – unvollkommene und unausgereifte Resultate empfand sie schmerzhaft und verstimmt, ‚als wenn jemand einen falschen Ton anschlägt.’“10 Doch mit der Herrschaft der Nationalsozialisten wurde ihr die Schaffensgrundlage erst einmal für unbestimmte Zeit entzogen. Frauen waren während der nationalsozialistischen Diktatur in der praktizierenden Architektur

7 hoffmann 1985: 185. 8 Kanis 2009: 1. 9 Schlagheck 1988: 83. 10 Kanis 2009: 3. 67 sabine warnecke nicht erwünscht. Lucy Hillebrand blieb künstlerisch tätig, schuf Plastiken und Reliefs. Und sie wehrte sich vehement gegen das vorherrschende Bild der Frau, das, in Bezug auf Architektur, auf die Dekoration des Hauses reduziert wurde. Diesem Bild stellte sie sich 1938 in einem Brief im „Göttinger Tageblatt“ entgegen: „Entschieden zurückzuweisen ist die Ansicht, daß die Außenarchitektur Aufgabe des Mannes bleiben müsse, während die Frau sich auf die Heimgestaltung beschränken soll. Es ist nicht einzusehen, 1. Warum die ‚weibliche (!) Architektin’ deshalb keine Häuser bauen soll, weil der ‚Herr Architekt’ ‚das wahrscheinlich ebenso gut’ kann und insbesondere 2. daß er es ‚sogar besser kann.’ … Mit einem schönen Vorhangstoff, mit dem richtigen Einsatz von Farbe und der sinnvolleren Anordnung der Möbel ist sicher die Stimmung eines Raumes zu geben. Aber derjenige, der von einer Grundidee her gestaltet, kann nicht bei der ‚Auswahl des Vorhangstoffes’ stehen bleiben, sondern er muß notwendig ein einheitliches Ganzes schaffen. Dazu gehört bei der Raumgestaltung die Bestimmung der Grundrißführung ebenso wie die der Proportionen der Wandflächen zueinander und die Anordnung des Licht- einfalls (Fenster) (…). Wir Architekten träumen viel und gern von großen Aufgaben, und in den Mußestunden werden und wachsen die schönsten Pläne. Diese Stunden des Höhenflugs sind sicherlich die beglückendsten unseres Berufs; vielleicht sind wir Frauen dabei gefährdeter, vielleicht liegt aber auch darin ein wesentlicher Teil unserer Gestaltungskraft.“11 Nach der Zerstörung ihrer Ateliers zunächst in Frankfurt und später in Hannover folgte Lucy Hillebrand, zusammen mit ihrer Tochter Angelika, nach Kriegsende 1945 ihrem zweiten Mann, dem Publizisten und Soziologen Ernst Gerlach, nach Göttingen und gründete im selben Jahr ein weiteres Mal ein Büro, das sie bis 1973 führte. In den folgenden Jahrzehnten entwarf sie sowohl Wohnhäuser, vor allem aber auch öffentliche Bauten wie Schulen, Jugendherbergen, Kinderdörfer, eine Kirche, nahm an zahlreichen Wettbewerben teil und entwickelte städtebau- liche Ideen. Eine Grundlage all ihrer Arbeiten, die auch in ihrer Architektur spürbar ist, war die interdisziplinäre Arbeitsweise, die sich nicht nur auf die technische Seite bezog, also die Zusammenarbeit mit Ingenieuren und Handwerkern, sondern ganz besonders – und dies war ihr unbedingt wichtig – auf den engen Austausch mit den NutzerInnen. Eine Studentin der Gesamthochschule Kassel, an der Lucy Hillebrand 1988/89 im Alter von 84 Jahren lehrte, beschrieb es so: „Sie ist für uns Studenten aus heutiger Sicht so interessant, weil ihre Arbeiten ein interdis- ziplinäres Arbeiten am Entwurf mit Pädagogen, Künstlern, Ingenieuren und vielen anderen widerspiegeln. Das übliche Nebeneinander der verschiedenen Disziplinen ist bei ihr ein Miteinander auf gleichberechtigter Ebene. Vom Arbeitsansatz her bietet sich für uns Studenten die Möglichkeit, gleichberechtigt mitzuarbeiten.“12

11 hillebrand, Wilhelm 1991: 6. 12 neusel 1990: 7. 68 ForschungsForum 2 2 Schulbauten der 1950er-Jahre Unmittelbar nach Ende des Krieges begann Lucy Hillebrand mit Entwürfen für Schulen. Grundsätzlich verkörperte der Schulbau in den 1950er-Jahren „wie kaum eine andere Bauaufgabe die Hoffnung auf einen Neubeginn“.13 „Die Schulen sollten Freiheit, Offenheit und Natürlichkeit vermitteln.“14 Auch war der Bedarf an wohnortnahen, gut belichteten, flexiblen Bauten groß. Dies kam der Göttinger Architektin entgegen. Intensiv beschäftigte sie sich in den folgenden Jahren und Jahrzehnten mit dem Thema Schule; die eigene, besondere Lernerfahrung wird sie in ihren Gedanken geprägt haben. Vielleicht spielten bereits in den 50er-Jahren Überlegungen eine Rolle, die Lucy Hillebrand in den 80ern in Zusammenarbeit mit Karl-Heinz Flechsig und Hans-Dieter Haller in einer Vorstellung des „Göttinger Lernstudios“ darlegte: „Der Durchschnittseuropäer verbringt mehr als 10. 000 Stunden seines Lebens in Unterrichtsräumen. Besucht er weiterführende Schulen, werden es 20. 000 Stunden. Studiert er oder bildet er sich in Schulen weiter, so können es bis zu 30. 000 Stunden werden. Wird jemand Lehrer, kommt er vielleicht gar auf 70.000 Stunden. Der Unterrichtsraum ist ein Stück Lebenswelt. Es lohnt sich also, darüber nachzudenken, wie sich diese Welt gestalten und verändern lässt. Und es lohnt sich, darüber nachzu- denken, warum die Unterrichtsräume in aller Welt einander so ähnlich sind, was in solchen Unterrichtsräumen geschieht.“15 Ab 1946 entstanden Entwürfe für Schulbauten, die allerdings nicht alle zur Ausführung kamen. Manchmal blieb es bei Ideenskizzen. So entwickelte Hillebrand z. B. Entwürfe mit Sechseck-Klassen in Pavillon-Bauweise für den vierklassigen Grundschultyp (1947). Das Gebäude war so konzipiert, dass es in zwei Bauabschnitten umgesetzt werden konnte: zunächst als offener Bautypus mit einem Innenhof, der in einem zweiten Bauabschnitt zur Halle ausgebaut wurde. 1948/49 entstand eine Schule, die sich durch die doppelseitige Belichtung der Klassenräume auszeichnete. Sie sollte ein Modell für „neue pädagogische Richtlinien“16 darstellen. Auffallend ist Hillebrands Bedürfnis, die klassische Form der „Kisten- und Kasten-Architektur“17 zu vermeiden. „Wir leben in einer Rechten-Winkel-Gesellschaft […] Der rechte Winkel deklassiert die Menschen in den Räumen, lässt sie wie Maschinen handeln, er veranlasst uns nicht, die Umwelt zu verändern. Es ist das Modell Kiste mit Deckel, ein mehr oder weniger geräumiger Sarg […]“, äußerte sich Lucy Hillebrand einmal.18 Das Konzept der Sechseckklassenräume bot z. B. weit mehr Möglichkeiten der Unterrichtsgestaltung. So konnten die Sitzbänke unterschiedlich gestellt werden, was verschiedene Unterrichtsvarianten möglich machen sollte. Zusätzlich gestatteten verschiedene, vom Klassenzimmer direkt zugängliche Klassenhöfe Freilichtunterricht. Große, zum jeweiligen Hof ausgerichtete Fensterflächen schafften helle Räume und Bezug nach draußen. Erinnert sei hier noch einmal an Lucy Hillebrands „Raumschrift“: Räume, so meinte sie, werden durch Bewegungsabläufe bestimmt, dementsprechend müsse die ArchitektIn darauf reagieren. Kinder bewegen sich in Räumen anders als

13 Lederer u. a. 2004: 38. 14 Lederer u. a. 2004: 38. 15 Flechsig u. a. 1983: 5. 16 hoffmann 1985: 142. 17 hoffmann 1985: 182. 18 hoffmann 1985: 182, Zitat Lucy Hillebrands. 69 sabine warnecke

Erwachsene. Sie suchen nicht den kürzesten Weg, bewegen sich freier, tänzerischer und vor allem unbefangener. Darauf könne Architektur reagieren.19

Dänische Experimente mit dem standardisierten Schulbau Als in den 1960er-Jahren die dänische Schulbauweise als wegweisend ins Blickfeld auch der deutschen Archi- tektInnen rückte, schrieb Lucy Hillebrand in einem 1966 in der „Bauwelt“ erschienen Artikel über „Dänische Experimente mit dem standardisierten Schulbau“.20 Ausgangspunkt war eine internationale Baumesse, die im September 1965 in Aalborg stattgefunden und an der die Architektin vermutlich teilgenommen hatte. In ihrem Artikel vergleicht sie auch den bundesdeutschen mit dem dänischen Schulbau. Einige ihrer Bewertungen und Aussagen unterstreichen deutlich ihre offene und menschenbezogene Denkweise. So beschreibt Hillebrand, wie in Dänemark der Schulbau auf qualitätvolle und die Pädagogik unterstützende Weise standardisiert wurde. Sie hebt das Menschliche der Entwürfe hervor und sieht hier möglicherweise ihre eigenen Ansprüche und Vorstellungen erfüllt. In einem Beispiel charakterisiert sie die dänische Entwurfspraxis als einen „menschlich sympathische[n] Einfall“: „Parallel zum Baufreigelände der Erwachsenen ein Kinderbauplatz, der nicht mit buntniedlich Vorge- formtem dekoriert ist wie so oft bei uns, sondern ein echter Arbeitsplatz für Kinder zum Ausleben der Phantasien im Bauen. Aus Überbleibseln von Baustellen und normalem Handwerkszeug entstehen Versuche für Häuser, Zelte und Höhlen. Pädagogikstudenten oder Hilfslehrer geben Hilfestellung, wo es gewünscht ist.“21 Sie beschreibt hier Beobachtungen, die mit Blick auf das aktuelle deutsche Schulsystem erstaunlich klingen: „Jede Schule besitzt eine kleine Sonderklasse für behinderte Kinder mit Einzeltischen und unmittelbarer Verbindung zum Schulhof. Daß die behinderten Kinder wie selbstverständlich in die Schulgemeinschaft aufgenommen werden, ist ein Erfolg guter Zusammenarbeit von Pädagogen und Planern.“22

ArchitektInnen und PädagogInnen Lucy Hillebrand war die enge Zusammenarbeit mit den PädagogInnen ein wichtiges Anliegen und vielleicht auch eine Voraussetzung für die Planung von Schulen. In einem Interview, das Karin Wilhelm im Jahr 1990 mit ihr führte, betont sie, dass ihr die Zusammenarbeit von PlanerInnen und PädagogInnen unbedingt wichtig sei.23 Um eine gute Schule zu bauen, bedürfe es auch Verständnis für die praktizierte Pädagogik. Nur so könne gute Schul- architektur entstehen und zwar nicht als herausragender Bau, der durch seine Architektur besteche, sondern durch die Nutzbarkeit, durch eine geplante Ergänzung zur Pädagogik. Wie wichtig ihr dieser Gedanke und die Zusammenarbeit mit den Fachkräften war, verdeutlichte sie in zwei Aussagen: „Das Kapital hat die Macht, mir zu sagen, ich will abgeschirmt sein nach außen, das alles will ich nicht. Dann würde ich sagen, dann suchen sie sich einen anderen Architekten. Und ich habe schon Bauaufgaben aufgegeben. Ich habe mal einen Wettbewerb

19 hoffmann 1985: 5. 20 hillebrand 1966: 125-128. 21 hillebrand 1966: 125. 22 hillebrand 1966: 128. 23 hillebrand, Wilhelm 1991: 13. 70 ForschungsForum 2 2 gemacht, bei dem ich verlangte, daß für jeden Architekten ein Lehrer zur Verfügung stehen sollte für Rückfragen. […] Und ich sagte dann: Wie ist diese Schule? Das war so eine Mischmasch-Geschichte, unklar, also ich brauchte einen Lehrer, der mir erklärt, was die da eigentlich wollen. Ich kann das nicht alleine machen, und ich würde vorschlagen – es waren drei, vier Architekten eingeladen zum Wettbewerb – geben sie doch jedem einen Lehrer mit, damit er mit ihm über diese Strukturen sprechen kann. Es wurde abgelehnt. Da habe ich abgelehnt, an diesem Wettbewerb teilzunehmen.“24 Lucy Hillebrand war in ihren Gedanken konsequent, in ihrer Betrachtungsweise ganzheitlich orientiert. Die Nutzbarkeit war wichtiger als optischer Chic: Das Material solle physisch und psychologisch aus der jewei- ligen Situation heraus, also sinngemäß und nicht modisch Verwendung finden. Der Schulbau sei die gebaute Umwelt für junge Menschen, eine Umwelt für eine entscheidende Spanne des Heranwachsens, die mitformt und mitbildet.25 Bauformen, die „von außen nach innen entwickelt“ würden, blieben „meist kunstgewerbliche Effekte. Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung im Schulbau ist einzig die Pädagogik.“ Um dies zu untermauern, zitiert Hillebrand die Kritik einer pädagogischen Tagung in Göttingen26 über die seinerzeit neuen Schulmodelle: „Die Schulreform heute scheitert an der Architektur!“27 Diesem Vorwurf müssten sich die Architekten stellen, und Lucy Hillebrand selbst nahm die Vorhaltung an, verstand und unterstrich sie. Sie wünschte sich „impulsgebende Räume“, Räume, mit denen die PädagogInnen arbeiten können. Zusammen mit dem Frankfurter Schuldezer- nenten Cordt entwickelte sie einige „Entwürfe für Klassenzimmer in deutschen Schulen“.28 Neben einem jeweils abgetrennten Bereich, der Rückzug, Einzelarbeit oder Ähnliches zuließ, fallen hier vor allem die Variationsmög- lichkeiten bei der Anordnung der Sitzplätze auf.

Das Göttinger Lernstudio Um eine intensive und praxisorientierte Auseinandersetzung handelt es sich bei dem bereits erwähnten „Göttinger Lernstudio“. Das Projekt entwickelte Lucy Hillebrand 1980 in Zusammenarbeit mit Karl-Heinz Flechsig, Hans-Dieter Haller und den Studierenden eines hochschuldidaktischen Grundkurses: Ein Raum des Verfügungs- gebäudes auf dem Campus der Universität Göttingen sollte für alle Veranstaltungen des Studienschwerpunkts „Allgemeine Didaktik und Unterrichtsforschung“ zur Verfügung stehen. Mit Unterstützung der Architektin wurde der vorhandene und nach klassischen, auf Frontalunterricht ausgerichteten Gesichtspunkten (Tisch, Stühle, Tafel) ausgestattete Raum zu einem Lernstudio mit flexibler Möblierung für verschiedene Nutzungsmöglichkeiten umgestaltet. Ein Grundgedanke war: Sind die vorhandenen Lernräume wirklich ideal zum Lernen? Da in Unter- richtsräumen viel Zeit verbracht würde, sie somit „ein Stück Lebenswelt“ seien, lohne es sich auch, über die Ausgestaltung intensiver nachzudenken.

24 hillebrand, Wilhelm 1991: 13. 25 hillebrand 1966: 128. 26 In der Literatur findet sich kein Hinweis, um welche Tagung es sich handelt. 27 hillebrand 1966: 128. 28 hillebrand 1966: 128. 71 sabine warnecke

Für Hillebrand bedeutete dies: Einer Analyse des vorhandenen Raumes mit dem Bestand und der Aufnahme der „Störfaktoren“ folgte seine Aneignung (auch hier wieder mithilfe der Raumschrift). Alle TeilnehmerInnen erarbeiteten sich den Raum Stück für Stück und statteten ihn so aus, dass sie produktiv darin arbeiten konnten. Interessanterweise ergab sich darüber hinaus weit mehr als die Schaffung eines nutzbaren Raumes. „Das Einrichten des Lernstudios entsprechend der gerade praktizierten Lern- und Lehrformen macht Prozesse sozialer Verständigung und partnerschaftlicher Kooperation erforderlich. Kleingruppen müssen sich darüber verständigen, an welcher Stelle sie in welcher Weise sitzen wollen […]“.29 Das Projekt „Lernstudio“ verdeutlicht einmal mehr, wie Lucy Hillebrand arbeitete: interdisziplinär und in engem Kontakt mit den NutzerInnen. Auch nach Fertigstellung eines Gebäudes oder Raumes waren ihr Rückmeldungen wichtig, um auch aus Haus von Professor Plessner, 1950/51 Fehlern zu lernen. (Lucy Hillebrand, aus: Hoffmann 1985: 116). Ein eher untypischer Lernort war das 1950/51 entstandene Haus von Professor Plessner am Rande der Göttinger Oststadt. Am Hang gebaut und sich zur Talseite hin öffnend, war es von außen durch Schlichtheit und Klarheit gekennzeichnet. Nach Osten, zur Straße, einge- schossig geplant, weitete sich das Gebäude nach Westen zum Tal hin zweigeschossig aus. Die hohe Qualität wurde im Innern deutlich: Der Hausherr wünschte sich Räumlichkeiten, in denen er Seminare und Kolloquien veranstalten und Vorträge halten konnte. Es musste also die Möglichkeit, größere Gruppen von Personen aufzunehmen, mit einer Flexibilität der Nutzungen kombiniert werden. Nicht zuletzt sollte die Gestaltung so transparent sein, dass sie nicht vom Lernen und Denken ablenkte.30 Im Zentrum des Hauses befand sich eine geräumige zweigeschossige Halle. Sie bot Platz für eine größere Menschengruppe. Eine Wendeltreppe führte zur umlaufenden Galerie, auf der die Bibliothek angeordnet war. Direkt an diese schloss sich das offen gestaltete Arbeitszimmer des Hausherrn an, das direkt in die Bibliothek überging. Räumlich abgetrennt waren lediglich die Funktionsräume sowie die privaten Rückzugsbereiche des Hausherrn und der Haushälterin. Offensichtlich gab es eine Trennung zwischen privater und öffentlicher Sphäre, die auch durch die Gestaltung unterstrichen wurde: die öffentlichen, dem Lernen und der Lehre dienenden Bereiche offen und großzügig, dahingegen die privaten Bereiche, die Rückzugsorte, kleinteilig und abgeschlossen.

29 Flechsig u. a. 1983: 29. 30 n. N. 1953: 41. 72 ForschungsForum 2 2 Der Wettbewerb um das Historische Museum in Hannover Als einen weiteren Lernraum definierte Lucy Hille- brand das Museum. Auch hier fertigte sie verschiedene Entwürfe an, so z. B. einen Wettbewerbsentwurf für das Historische Museum in Hannover (1960), das nicht nur als „archivierendes, forschendes und ausstel- lendes Haus“ betrachtet werden sollte, sondern als ein Gebäude, das „aktivierende kulturelle Impulse in den örtlichen Raum“ ausstrahle: das Museum als „Lern- und Erfahrungsraum, der es den Beteiligten ermög- liche, authentische Lebensformen aufzuspüren und zu reflektieren“.31 Lucy Hillebrand verstand ihren Entwurf als „offenes Museum“ (oder, wie es in den Skizzen zu lesen ist: „lebendes Museum“). Es sollte den Besucher- Innen nicht einfach eine fertige Ausstellung präsen- tieren. Ihnen wird das Angebot gemacht, „das Museum als ‚Instrument’ zu ihrer eigenen Orientierung und Standortbestimmung zu nutzen. Anstelle einer reprä- sentativen Ausstellung treten unterschiedliche, sich verändernde Interpretationen.“32 Das Museumskonzept stammte von Alexander Dorner. Konzept und Archi- tektur stellten eine aufeinander gründende und sich bedingende Einheit dar. Nicht zuletzt findet sich der Begriff des Lernortes in städtebaulichen Gedankenspielen oder in „kultu- Entwurf für den Wettbewerb Heimat-Museum Hannover, 1960 rellen Konzepten für das Dorf“ wieder. Mit letzterem (Lucy Hillebrand, aus: Hoffmann 1985: 31). beschäftigte sich Lucy Hillebrand in einem Aufsatz über Planungsaufgaben im dörflichen Kontext nach „den strukturellen Auswirkungen der Gebietsreform“.33 Die Auswahl der Lernorte zeigt nur einen kleinen Ausschnitt des umfangreichen Schaffens der Architektin und stellt den Anfang und nicht das Ende einer Untersuchung dar. Interessant wäre zu untersuchen, inwieweit sich Hillebrands Bauten auch heute noch bewähren, ob ihre Gedanken hierzu noch aktuell sind.

31 Rüsen u. a. 1988: 91. 32 hoffmann 1985: 29. 33 hillebrand 1979: 317. 73 sabine warnecke

Bezogen auf die klassischen Lernorte wie Schule oder Universität könnte ein Vergleich mit neueren Bauten und verschiedenen Schulformen einen weiterführenden Aspekt darstellen. Die Museumsbauten und städtebaulichen Ideen der Lucy Hillebrand blieben theoretische Gedankenspiele. Da sie sich aber nach Schließung ihres Göttinger Büros im Jahr 1973 bis zu ihrem Tod 1997 verstärkt theoretisch mit der Architektur auseinandersetzte, stellte auch hier eine genauere Analyse der anderen Lernorte eine spannende Untersuchung dar. Die Lernorte der Lucy Hillebrand sind es wert, genauer betrachtet zu werden.

Literatur

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Cornelia Göksu Zwischen Wutschnauben, Nostalgie und Understatement Subjektivität und biografische Methode

Auskünfte über die eigene Biografie sind schwer in Mode. Prominente, VIPs, Stars und Sternchen lassen auch gern schreiben. Menschen, die solche Texte verfassen, heißen Ghostwriter, was so viel wie Schreibgespenster oder Geister-Schreibende, Phantomschreibende oder einfach bei Anruf: Manuskript! bedeutet. Wer schlau ist, setzt sich zeitig ein Denkmal, um zum Idol zu werden oder unliebsamen Nachfragen mit souveränem Verweis auf die vorliegende Biografie zu begegnen: Watt schrievt, dat blievt. Meine Schreibagentur habe ich vor 12 Jahren gegründet. Außer Reportagen und Radiofeatures sind aufwendige Buchprojekte entstanden. Seit Beginn meiner Arbeit als Kulturhistorikerin und Publizistin habe ich für Chroniken und Dokumentationen die Lebens-Läufe von gesellschaftlichen Außenseitern, scheinbar „Ewiggestrigen“, die von heute auf morgen zur „Avantgarde“ zählten, von Pionierinnen und Exponentinnen gesammelt, gesichtet und sortiert. In der Präsentation für das ForschungsForum von gender_archland unternahm ich den Versuch, meine Ausgangshypothesen zu komponieren. Diese Präsentation wird hier auszugsweise dokumentiert und kommentiert. Ausgewählte Beispiele auch aus eigenen Publikationen illustrieren meine persönlichen Zugänge und angewendeten Methoden: Lebens-Geschichte, Werde-Gänge, die Biografie als Kultur der Erinnerung im Mosaik der Zeitgeschichte, der Lebens-Lauf betrachtet in Wertschätzung zwischen Rückschlägen wie innova- tiven Modellen – sammeln, vergegenwärtigen, archivieren, ordnen, bewahren, sichtbar machen.

Dokumentation zum Vortrag im ForschungsForum „Biografieforschung“ am 29.10.2009. 75 Rückschau Cornelia Göksu aufzeichnen Rückschau aufzeichnen

Biographie, Biografie, wortgeschichtlich von Bios = Leben und graphein = schreiben; ritzen, zeichnen in weiches Material, wie Wachs, Ton, Holz

Biografie ist die mündliche oder schriftliche Präsentation des Lebenslaufs oder Werdeganges eines Menschen.

Synonyma dazu sind : Lebensgeschichte, Lebensbeschreibung, Lebensbild/er

Eine Sonderform der Biografie ist die Autobiografie

Seit den 1970er Jahren – mit dem Aufschwung der Sozialgeschichte – werden unterschiedliche autobiografische Ausdrucksformen geschätzt: Memoiren, Erinnerungen, Bekenntnisse, Selbstzeugnisse, Tagebücher, Briefe; zusätzlich Interviews und Langzeit-Studien

Motiv: Schutzumschlag, Schutzumschlag, Titel Titel der der gebundenen gebundenen Ausgabe, Ausgabe, ErichErich Kästner,Kästner, Als Als ich ich ein ein kleiner kleiner Junge Junge war, war, Zürich Zürich 1996 1996 (Illustration(Illustration PeterPeter Knorr Knorr))

Rückschau aufzeichnen (Illustration: Peter Knorr, Atrium Verlag Zürich).

Heute Kulturhistorikerin, Volkskundlerin, Kuratorin und Publizistin, bin ich bereits als Kind mit Lebensberichten bekannt gemacht worden. In der erbaulichen Literatur pietistischer Prägung werden Lebenserinnerungen als Lebensbilder bezeichnet. Auch hier, ähnlich wie bei Heiligenleben, in Heldenepen, Legenden oder Entwicklungs- romanen, dient die innere Reifung einer Persönlichkeit als pädagogisches Leitmotiv; günstigenfalls bieten sich Identifikationsmuster hin zum Vorbild. Mit seiner Autobiografie „Als ich ein kleiner Junge war“ hat Erich Kästner (1899-1974) seiner Mutter als einer starken, alleinerziehenden Frau ein Denkmal gesetzt. Im Ausschnitt aus meinem eigenen Image- und Werbebooklet (s. folgende Seite oben) wird der Unterschied deutlich zwischen der Lebensgeschichte (Identität), dem beruflichen Werdegang sowie meinem Angebot als Dienstleisterin im Bereich Kulturhistorische (Print-)Medien (soziale Rolle/n) – obwohl alles miteinander verschränkt ist und sich bedingt. Eine Distinktion von „innerer“ zu „äußerer Biografie“ ist aus der Psychoanalyse bekannt. Der Schweizer Romancier und Dramatiker Max Frisch lässt in seinem Identitätsroman „Mein Name sei Gantenbein“ den Helden Lebengeschichten „anprobieren wie Kleider“, während er vorgibt, blind zu sein. Vielleicht hat die zunehmende Welle der lebensgeschichtlichen Ausdrucksformen – sei dies betrachtend oder darstellend – mit der Individualisierung unserer modernen Gesellschaft zu tun. Einen anderen Zweck verfolgt die feministisch orientierte Soziologie, vor allem der vergangenen Jahrzehnte: Mit der Aufzeichnung von Frauenbio- grafien werden Spuren gelegt – zum Abbilden der zweiten Hälfte der Welt. Biografie war Domäne von Männern beziehungsweise Herrschenden.

76 ForschungsForumDie äußere 2 und die 2 innere Biografie Die äußere und die innere Biografie

Die äußere Biografie: Berufsbiografie, Lebenslauf, Werdegang, Vita

Die innere Biografie meint die seelisch-geistige Entwicklung einer Person (Innenschau,“Reifung“), zum Beispiel in der Form eines Bildungsromans oder einer individuellen Heilsgeschichte (Kategorie Erbauungsliteratur/ Epoche der Empfindsamkeit/Pietismus). Dabei ist die Linie grundsätzlich „aufwärts“ gedacht (Werden & Wachsen).

Den Lebenslauf zu beschreiben ist eine Sinn-Konstruktion. Dies führt zu der Frage nach dem – subjektiv gemeinten und dem – objektiv stattgefundenen Leben.

Jeder Mensch entwirft seine eigene Biografie in unterschiedlichen Lebenssituationen: beim Bewerbungsgespräch, bei der Aufnahme persönlicher Beziehungen, bei der eigenen Lebensrückschau.

His-tory Die äußere und die innere Biografie (Image-Bocklet der Autorin, 2008). Her-story His-toryMy Story Her-story

Biografiearbeit: Die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebens-Geschichte bis hin zur psychoanalytischen therapeutischen Methodik von „Healing Memories“. Dies geschieht über das autobiografische Schreiben bzw. das Sich-Artikulieren im „geschützen Raum“ (praktiziert in der Gerontologie) oder über mündliche Überlieferung: Gesang und Oral History.

Problem und Realität: Fortwährende Re-Konstruktion versus wissenschaftlicher Forderung nach: De-Konstruktion!

In den 1970er-Jahren forderten die historischen und Sozialwissenschaften „Geschichte von unten“!

Die feministische Bewegung entdeckte den Wert der Frauen-Biografien und forderte Her-story statt History! Meine Geschichte als Gegen-Entwurf zur vormals männlich dominierten Herrschafts- und Ego-Biografie.

Motiv: Margit Tabel-Gerster: In the Summertime, Juli 2004, Fotomontage

His-(s)tory – Her-story – „my story“ (Fotomontage: Margit Tabel-Gerster, Privatbesitz der Künstlerin, Hamburg).

77 Erinnerung Cornelia Göksu Kultur ErinnerungErinnerungskultur Kultur Erinnerungskultur

Seit der Antike bilden Biografien auch ein wichtiges Instrument der Erinnerung an andere Personen.

Häufig dient ihre Lektüre der Beschreibung wie der Würdigung von Lebensleistung. In beiden Aspekten –„dies ist gelungen“ wie – „jenes war (vielleicht) ein Irrtum“ nehmen sie Orientierungsfunktion ein.

Biografien sind Teil der Erinnerungskultur

Motiv: Margit Tabel-Gerster NIKONEN Gewerkreihe „Photographie und Arrangement“

Motiv: Margit Tabel-Gerster NIKONEN Gewerkreihe „Photographie und Arrangement“ Erinnerung – Kultur – Erinnerungskultur (Arrangement und Fotografie: Margit Tabel-Gerster, Privatbesitz der Künstlerin, Hamburg).

Wer hätte noch vor Kurzem an so etwas wie einen Mixed-Leadership-Kongress in Hamburg gedacht: Weibliche und männliche TopmanagerInnen für Vielfalt in Vorständen großer Wirtschaftsunternehmen?1 In ihrer Gewerkreihe NIKONEN „Photographie und Arrangement“ hat die Hamburger Künstlerin Margit Tabel- Gerster intuitiv Fundstücke mit Passbildern ihr unbekannter Menschen kombiniert. Die Per-sona – das „Hindurch- klingende“ in der Maske des antiken Schauspiels2 – wird von Margit Tabel-Gerster auf diese Weise in den Stand eines erzählenden Subjekts erhoben. Es sind Fremde, ganz normale Menschen, deren Foto arrangiert mit Requisiten – beinahe so etwas wie die „vera icon“3 oder „effigies“4 auf Grabmälern – ihnen überzeitliches Sein verleiht.5 Wie sehr Identität, die Sehnsucht nach Übereinstimmung mit sich selbst, den Lebensweg bestimmen kann, beweisen die von mir zitierten Eingangssätze zu seinen Kindheitserinnerungen: Johannes Martin ist einer der

1 Mixed-Leadership Conference Deutschlands 10.02.2011, Hafencity Hamburg; vgl. Stürmlinger, Daniela: Mehr Chancen für Frauen. In: Hamburger Abendblatt, 11.02.2011, 19. 2 Die Herkunft des Wortes Person ist nicht vollständig geklärt; es existieren verschiedene Theorien. Fest steht lediglich, dass es im 13. Jahrhundert als person, persone aus lat. persona, „Maske des Schauspielers“ ins Deutsche übernommen wurde. Der Ursprung des lateinischen Begriffs ist umstritten. Die Ableitung vom etruskischen Wort phersu „Maske“ scheint wissenschaftlich plausibel. 3 Vera icon: in der Bildtheologie der Antike das „wahre Antlitz“ der Ikone. 4 Zu Effigies vgl. Brückner 1966. 5 Siehe www.margittabelgerster.de/objekte (29.03.2011). 78 ForschungsForum 2

Lebenslauf 2

Kindheit

Wie sehr meine Identität in den 500 Jahren erzgebirgischer Familiengeschichte verwurzelt ist, erfuhr ich gefühlsmäßig bereits in den Kinderjahren, wenn ich bei meiner Großmutter und den Geschwistern meines Vaters auf deren Brennholzstapeln herumkletterte ...

„Räde anschdänd‘sches Deutsch!“, ermahnte mich meine resolute (andere) Großmutter in Leipzig, wenn ich dort von „Raachermanneln“ oder dem „Vuugelbeerbaam“ sprach ...

Auszug aus einer autobiografischen Skizze von Johannes Martin, geboren 1943, Kindheit & Jugend im Erzgebirge und in Dresden; lebt in Harburg südlich von Hamburg. Bedeutender Kenner und Sammler von Kunsthandwerk und Antiquitäten aus dem Erzgebirge

Quelle: Johannes Martin, Zu meiner Sammelleidenschaft. In: Katalog Sammlung Johannes Martin, Burg Scharfenstein, Weihnachts-Quelle: Johannes und Spielzeugmuseum Martin, Zu meiner Sammelleidenschaft.des Erzgebirges Redaktion Dr. Cornelia Göksu, 2004, Seite 6 In: Katalog Sammlung Johannes Martin, Burg Scharfenstein, Weihnachts- und Spielzeugmuseum des Erzgebirges Redaktion Dr. Cornelia Göksu, 2004, Seite 6 Lebenslauf (Illustration: BUR Werbeagentur GmbH, Annaberg-Buchholz, 2004). bedeutendsten Sammler erzgebirgischen Kunsthandwerks. Sein Wirken habe ich als Kuratorin und Redakteurin begleitet und dokumentiert. Den Anfang machte die Inventarisierung eines Bauernhofes in der Nähe von Oberammergau. Deren letzte Bewoh- nerin, Frau Götte, hatte auf mehreren Böden ihres Anwesens eine riesige Sammlung von geweihten Lebens- mitteln, Kerzen, Weihwässern sowie zugehörigen Traktaten zusammengetragen und akribisch beschriftet mit Herkunft und Gebrauchsanweisung. Eingeladen hatte der Bildhauer Nikolaus Lang eine Gruppe von Hamburger Studierenden der zeitgenössischen Kunstgeschichte mit Dozentin Marina Schneede, um uns Anlass und Ursprung seiner Arbeiten zu den Geschwistern Götte zu präsentieren. Wenig später habe ich diesen Einödhof wissen- schaftlich inventarisiert. Was dort gehortet war, brachte mich zu dem Gegenstand meiner Dissertation, der Geschichte der bis 1999 von der katholischen Kirche nicht anerkannten „Erscheinungsstätte Heroldsbach“.6 So begann, inspiriert durch eine Kunstrichtung der 1970er-Jahre, die „Spurensicherung“, meine über ein Jahrzehnt sich erstreckende Spurensuche nach der „wahren Geschichte“ oder ihren möglichen, durch Dokumente, Befra- gungen und eigene Feldforschung gesicherten Varianten: Wie könnte diese größte Wallfahrtsbewegung nach 1945 im deutschsprachigen Raum entstanden sein?

6 Vgl. hierzu: www.heroldsbach-pilgerverein.de/htm/entwicklungsgeschichte.html (29.03.2011). 79 Cornelia Göksu Spurensicherung ArchiveSpurensicherung der Erinnerung Archive der Erinnerung

Seit dem Ende der 1960er-Jahre gewann eine Kunstrichtung unter dem Begriff „Spurensicherung“ an Bedeutung.

Einer ihrer Vertreter ist der Bildhauer Nikolaus Lang, geboren 1941. In seinen Kunst-Installationen „Für die Geschwister Götte“ spürte er den „ungleich-zeitigen“ Existenzen von Schweizer Einwanderern nach, die in Hütten rund um einen Einödhof in der Nähe seines Geburtsortes Oberammergau lebten.

Wie ein Archäologe sammelte er zwischen 1973 und 74 Relikte und ordnete sie in einem Kornkasten an. Dazu legte er Aufzeichnungen von Erinnerungen an ihre Lebensweise ...

Quelle/Motiv: Spurensicherung, Archäologie und Erinnerung. Kunstverein in Hamurg, April bis Mai 1974; Ausstellungska- talog Seite 42-43

Quelle/Motiv: Spurensicherung. Archäologie und Erinnerung. Kunstverein in Hamburg, April bis Mai 1974; SpurensicherungAusstellungskatalog (Foto: Nikolaus Seite Lang, 42-43 Murnau, aus: Metgen, Schneede 1974: 43). Feldforschung RechercheFeldforschung Recherche

„Soweit rekonstruierbar dürfte der Nachmittag des 9. Oktober 1949 etwa folgendermaßen abgelaufen sein: Gegen 14.30 Uhr begeben sich die zehnjährige Marie Heilmann und ihre elf Jahre alten Freundinnen Erika Müller, Margarete Gügel und Kunigunde Schleicher aus Heroldsbach in den nahe bei Schloss Thurn gelegenen Wald, um Herbstlaub für den Schulunterricht zu sammeln ...“

Welche Geschichte verbindet die sechs Kinder auf dem Titelbild? Zieht eine Vision sie in ihren Bann?

Feldforschung, ZeitzeugInnen-Befragung und Quellenstudium fördern – bis heute – Erstaunliches zu Tage.

Quelle: Buchpublikation, Reihe Land und Leute, Veröffentlichungen zur Volkskunde, Würzburg 1991

FeldforschungQuelle: - Recherche Buchpublikation, (Titelseite: Reihe C Landornelia und Göksu,Leute, Hamburg, und Echter Verlag Würzburg/Ernst Loew, 1991). Veröffentlichungen zur Volkskunde, Würzburg 1991 80 ForschungsForum 2 2 Anhand wenig bekannter Quellen, synoptisch seziert mit historisch-kritischer Methode, untermauert durch Befragung von ZeitzeugInnen und im Vergleich mit etablierten Wallfahrtsorten, habe ich die Re-Konstruktion von Entstehungs- und Wirkungsgeschichte gewagt. Meine zweibändige Dissertation erschien 1988/89. Eine popularisierte Kurzfassung mit historischen Bildern publizierte 1991 der Echter-Verlag Würzburg. Was geschah am 9. Oktober 1949 in Heroldsbach nahe Bamberg? Vier junge Mädchen berichteten, eine schwe- bende Madonnenvision über einem Birkenwäldchen erblickt zu haben. Kurz darauf zog das visionäre Geschehen wachsende Ströme von PilgerInnen und Neugierigen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum an. Ein „fränki- sches Lourdes“? Im Mittelpunkt meiner Dokumentation stehen die Werdegänge der sogenannten „Sehermädchen“ und die rasante Veränderung ihrer Lebensverläufe aufgrund dieser Vorkommnisse. Das eigene Leben beschreiben mag ja noch angehen. Aber die Lebensleistung? Dies lehnten die meisten von mir interviewten älteren Frauen zunächst ab. Wenn die Phase aktiven Engagements erst kurz zurück lag, changierten die Erinnerungsfetzen zwischen „Wutschnauben und Understatement“. Leichter fällt das lockere Plaudern über die Schaltstellen, Vorbilder, MentorInnen des eigenen Werdegangs meist erst der „zweiten Generation“. In meiner Dokumentation „Momentaufnahmen“ habe ich mehr als 25 Frauen aus Hamburger Hochschulen in meist zweistündigen Interviews befragt. Daraus entstanden Kurzporträts von Pionierinnen und Exponentinnen rund um die Implementierung von Feminismus und Gender in den Wissenschaften. Das Grußwort lieferte uns Eva Rühmkorf, Pionierin ebenfalls als erste Leiterin der ersten „Leitstelle zur Gleichstellung der Frau“ in der Bundes- Momentaufnahmen Momentaufnahmen

Für eine Dokumentation zum 20-jährigen Bestehen der Koordinationsstelle Frauenstudien/Frauenforschung in Hamburg habe ich 25 Frauen jeweils zwei Stunden interviewt: Pionierinnen wie Exponentinnen der Implementierung feministischer Wissenschaften bzw. Studiengänge in die Hamburger (Fach-) Hochschullandschaft.

Meine Interview-Partnerinnen gehören den Geburts- jahrgängen 1936 bis 1972 an.

Unsere Leitfragen waren: Motivation? Ziele & Visionen? Ihre Einschätzung heute?

Die Psychologin und Politikerin Eva Rühmkorf baute 1979 die erste „Leitstelle zur Gleichstellung der Frau“ in Hamburg auf. In ihrem Geleitwort schreibt sie:

„Historische Betrachtungen ... bergen zweierlei Gefahr: die der nostalgischen Verklärung einerseits ... und andererseits die der betrüblichen Erkenntnis, so umwerfend sei ... alles nicht gewesen. Auch unsere Erinnerungen ... sind von der Schwierigkeit bestimmt, die richtige Balance zu finden zwischen einem Aufleben-Lassen denkwürdiger Geschichten aus bewegten Zeiten und der kritischen Bewertung von Zielen und Strategien, Erfolgen und Misserfolgen.“

Quelle: Momentaufnahmen, Hamburg 2005, Seite 4 Quelle: Momentaufnahmen, Hamburg 2005, Seite 4 Momentaufnahmen (Titelseite: Cornelia Göksu Kultur Kommunikation, Hamburg, und Mo Küssner, Grafikdesign). 81 Cornelia Göksu

Fiktive Lebenläufe Lebensläufe

Von den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull (Thomas Mann,1911/1954) über Mein Name sei Gantenbein (Max Frisch, 1964) bis zum lebendigen Gesamtkunstwerk Eva & Adele (seit 1989) hin zum erweiterten Begriff des universellen Designs.

Im Web2 ist Gender-Swapping geläufig: das Verändern von Geschlecht und „sozialem Gehabe“ wird mit einem Pseudonym zur vergnüglichen Kommunikation verkappt. Ein Spiel mit Tarnung, Mimikry und Camouflage – im bewussten Kontrast zum kulturellen Zwang standardisierter Identifikation.

Resümee:

In der biografischen Methode bewegen wir uns alle. Zivilisation ist nicht verständlich ohne zu wissen, wer waren die Menschen dahinter? Was hat sie getrieben? Was wird?

Die wissenschaftlichen Instrumente/Methoden sind subjektiv und qualitativ, wenn auch statistisch erfassbar und quantitativ zu bewerten.

Fest steht: Die biografische Methode ist etwas für begeisterte Miss Marples. Sie erfordert Geduld und Fingerspitzengefühl. Dafür bietet sie tiefe Einblicke & vereint Spannung mit Spaß!

Motiv: Umschlagtitel CUM EVA & ADELE. Die erste Ausstellung. Sprengel-Museum, Hannover 1997 Motiv: Umschlagtitel CUM EVA & ADELE. Die erste Ausstellung. Sprengel Museum, Hannover 1997 Fiktive Lebensläufe (Umschlagtitel: Sprengel-Museum, Hannover, 1997). republik Deutschland, gemeinsam mit ihrer damaligen Kollegin Cordula Stucke. In dem vorliegenden Ausschnitt aus dem Geleitwort wird eine eher weibliche Haltung zur autobiografischen Erinnerungskultur lebendig: das Hin- und Hergerissensein zwischen Stolz, Bescheidenheit, Furor über die Trägheit der Entwicklungen und Anfällen von Resignation. Unverdrossen machten sich Forscherinnen wie Künstlerinnen auf unterschiedliche Wege zur Spurensicherung. Eine zunehmende Zahl an Publikationen und Bildbänden hebt mittlerweile die Lebensleistungen von Frauen aller Jahrhunderte ans Tageslicht, um vor allem jungen Frauen Vorbild wie Ermutigung aus diesem Erfahrungsfundus zur Verfügung zu stellen: Wer war sie? Was steckt hinter einer längst etablierten Idee oder Einrichtung? Was aber fasziniert uns Heutige so stark an Memoiren? Fehlen die Vorbilder erfolgreicher Frauen? Wen brachte oder bringt die gleichzeitig anhaltende Inflation von Lebensgeschichte(n) erfolgreicher Männer weiter? Wie definieren wir heute Erfolg? Was ist uns Reichtum wert oder wie definiert sich ein Reichtum an Leben?

82 ForschungsForum 2 2 Mit der Conclusio konfrontiert uns das in Hannover berühmt gewordene KünstlerInnen-Duo Eva & Adele7, als provozierte es noch einmal alle begeisterten Miss Marples und Sherlock Holmes mit den Urfragen: Welches ist der Motor der Zivilisation? Was treibt die Menschen? Sind etwa alle Spuren und Aufzeichnungen beliebig? Ist unsere Realität in Wirklichkeit die Fiktion? Oder ist das egal?

Literatur

Au g u s t u sb u r g |Sc h a r f e n s t e i n |Li c h t e n w a l d e Sc h l o ssb e t r i e b e (Hrsg.) (2010): Sammlung Johannes Martin. Volkskunst und Spielzeug aus dem Erzgebirge auf Burg Scharfenstein. Augustusburg. Br ü c k n e r , Wo l fg a n g (2000): Geschichten und Geschichte. Weltvermittlung durch narratives Verständigen. Würzburg. Br ü c k n e r , Wo l fg a n g (1966): Bildnis und Brauch. Studien zur Bildfunktion der Effigies. Berlin. Fr i s c h , Ma x (1964): Mein Name sei Gantenbein. Roman. Frankfurt am Main. Gö k s u , Co r n e l i a – Ku l t u r Ko mm u n i k a t i o n (2008): Image- und Werbe-Booklet. Hamburg. Gö k s u , Co r n e l i a (1991): Heroldsbach. Eine „verbotene“ Wallfahrt. Würzburg. Fi l t e r , Da gm a r ; Ka m k e , Gi s e l a (Hrsg.) (2005): Momentaufnahmen. 20 Jahre Gemeinsame Kommission und Hochschul- übergreifende Koordinationsstelle für Frauenstudien/Frauenforschung. Hamburg. Kä s t n e r , Er i c h (1996): Als ich ein kleiner Junge war. Zürich. La n g , Ni k o l a u s (2009): Spuren/Traces. Katalog zur Sonderausstellung im Schloßmuseum Murnau, 11. Dezember 2009 bis 28. Februar 2010. Murnau. La n g , Ni k o l a u s (1982): Für Frau Götte, Nachlass – Lebensmittel und religiöser Hort. In: Nationalgalerie Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz (Hrsg.): Kunst wird Material. Berlin, 62-65. Me t k e n , Gü n t e r (1977): Spurensicherung. Kunst als Anthropologie und Selbsterforschung. Fiktive Wissenschaften in der heutigen Kunst. Köln. Me t k e n , Gü n t e r ; Sc h n e e d e , Uw e (1974): Spurensicherung. Archäologie und Erinnerung. Kunstverein in Hamburg. Hamburg. Sp r e n g e l -Mu s e u m (1997): Cum Eva & Adele. Die erste Ausstellung. Hannover, Ostfildern-Ruit.

7 Vgl. hierzu: www.evaadele.com (29.03.2011). 83 ForschungsForum 3

Barbara Zibell Planungstheorie und Gender Geschlechterverhältnisse und Androzentrismen

Im dritten ForFo am 29. April 2010 ging es um Vorstellungen über Geschlechterverhältnisse und Androzen- trismen in Planungstheorien. Die Diskussion unter den TeilnehmerInnen wurde durch zwei wissenschaftliche Inputs eingeleitet: -- Ruth May, Raumplanerin und Wissenschaftlerin in Deutschland, stellte „ein paar unverbundene Gedanken zu emanzipationsorientierten Forschungsansätzen“ vor; und -- Lidewij Tummers, Architektin aus den Niederlanden und seinerzeit Gastprofessorin am gender_archland, warf die Frage auf, ob die „hardware“ räumlicher Planung überhaupt offen sei für „feministische Perspek- tiven“. Die Klärung von Positionen zwischen emanzipationsorientierten und feministischen Ansätzen, die irgendwo zwischen Frauenbewegung bzw. Women’s und Gender Studies angesiedelt sind, war eine der zentralen Heraus- forderungen dieses Forums. Aber auch die Sensibilität für die Unterschiedlichkeit der verschiedenen Zugänge – einmal gespeist aus theoretischer Reflexion und darauf aufbauender empirischer Forschung, einmal basierend auf Erfahrungen aus der eigenen praktischen Tätigkeit – sollte geschärft werden. Und nicht zuletzt war es auch das Interesse an einer Weiterentwicklung von Planungstheorie(n) aus emanzipationsorientierten bzw. feministi- schen Perspektiven, das den Anlass zu diesem ForschungsForum bot. Was aber ist das eigentlich: Planungstheorie oder Planungstheorien? Gibt es die überhaupt im Singular oder als geschlossene(s) theoretische(s) System(e)? Oder gibt es – wie Allmendinger1 und Schönwandt2 feststellten – bisher allenfalls verschiedene theoretische Ansätze und Zugänge zur Materie der Planung, die aber nicht systematisch erfasst sind? Inwiefern ist Planungstheorie überhaupt geschrieben oder existiert sie vielmehr als ungeschriebenes

1 Allmendinger 2002. 2 Schönwandt 2002. 84 ForschungsForum 3 2 Gesetz in den Köpfen planender Akteure? Und inwieweit sind Genderfragen bisher in den Mainstream planungs- theoretischer Ansätze eingeflossen? Wo sind die frühen diesbezüglichen Gedanken von Clara Greed3 oder Leonie Sandercock und Ann Forsyth4 geblieben? Die Verfasser der beiden wichtigsten Handbücher zur Planungstheorie im europäischen Raum, Allmendinger und Schönwandt, zitieren sie nicht, auch wenn sie spätere Werke der Autorinnen5 durchaus zur Kenntnis nehmen. Es ist die Genderperspektive, die in der Planungstheorie weitgehend ignoriert wird, nicht unbedingt jene der Frauen. So ist Patsy Healey mit ihren Schriften zum „communicative turn“ in der Planung6 eine viel zitierte Persönlichkeit, nicht nur im englischsprachigen Raum. Der Mainstream der Planungstheorie wird entweder männlich geschrieben oder gar nicht. Mit der Aufnahme des Bandes von Susan S. Fainstein und Lisa J. Servon7 hat die deutsche Politikwissenschaftlerin Christine Bauhardt planungstheoretische Essentials der Genderdebatte aus dem englischsprachigen Raum erstmals in den deutschsprachigen Kontext integriert8; dies ist bisher jedoch die Ausnahme geblieben. Und so wie die Genderperspektive im Mainstream planungstheoretischer Diskurse nicht rezipiert wird, ist sie auch in den transnationalen Debatten über Planungskulturen nicht präsent. Eine gegenseitige Annäherung an die verschiedenen Denkstrukturen in Europa will das Netzwerk „Gender and Diversity in Urban Sustainability“ (GDUS), zu dem auch das gender_archland gehört, mit seinen transnationalen und interdisziplinären Diskursen erreichen. Dieses ForschungsForum diente daher im Weiteren dazu, auch hier eine Basis zu schaffen und neue Perspektiven zu eröffnen. Der bilaterale Zugang war Ausdruck dafür. Das ForFo diente als Anstoß, nicht als Abschluss der Debatte. Nur so viel sei aus beiden Inputs vorweggenommen und als wesentliches Ergebnis extrahiert: -- Die Theorie (Ruth May) erkennt die Notwendigkeit, trotz aller Genderdebatten nach wie vor – auch in der räumlichen Planung – für Frauen Partei zu ergreifen, weil es durch patriarchale Herrschaftstraditionen einen Positionsvorsprung der Männer in unseren Gesellschaften gibt. -- Die Praxis (Lidewij Tummers) erkennt den allseits fehlenden politischen Willen, der trotz Pilotprojekten und Genderparagrafen präsent ist die „hardware“ des Planungssystems, jedoch weitgehend unangetastet lässt, sodass „weibliche“ Denk- und Handlungsstrukturen außen vor bleiben. Dennoch: Das gender_archland und das Netzwerk GDUS wollen sich der Herausforderung stellen, Genderper- spektiven in den europäischen Diskurs über Planungstheorie(n) zu integrieren, weil sie hierin einen Mehrwert sehen – nicht nur als Basis für eine Erweiterung der Perspektiven und transnationalen Forschungen, sondern auch für die Innovationsfähigkeit der Systeme.

3 Greed 1994. 4 Sandercock, Forsyth 1992. 5 Sandercock 1998; Greed 1996. 6 Healey 1992. 7 Fainstein, Servon 2005. 8 Bauhardt 2003. 85 Barbara zibell

Literatur

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Ruth May Planungstheorie und genderorientierte Forschung

Planungstheorie hat es mit Problemen der Stadt-, Regional- und Landschaftsplanung, des Städtebaus und der Architektur und deren Wechselwirkungen zu tun. Diese werden durch ökonomische, politische und sozialkul- turelle Prozesse mit geformt und die so geprägten Räume setzen ihrerseits Voraussetzungen für die genannten Prozesse. Die Planungstheorie hat deshalb die Aufgabe, Gesellschaft insgesamt in den Blick zu nehmen. Dabei geht es um das wissenschaftliche Verständnis räumlicher Entwicklung, der Gewordenheit von Räumen, der Kräfte, die auf sie einwirken und um die Möglichkeiten, durch Planung einzugreifen. Die Frage nach den Bedin- gungen und Möglichkeiten von Planung stellt sich unter je besonderen – sozialen, politischen, ökonomischen etc. – Voraussetzungen. Als Haupttrends gegenwärtiger Entwicklung gehören dazu zum Beispiel die Deindustrialisierung und der Rückbau der Industriegesellschaft; die Globalisierung mit ihren Veränderungen von Kommunikations- und Produktions- beziehungen und mit den Migrationsprozessen; die fortschreitende Deregulierung/Individualisierung, die wider- sprüchliche Prozesse in Gang setzen: emanzipatorische Prozesse, indem sie jedem ermöglichen, über sich selbst zu entscheiden, zum Beispiel durch veränderte Geschlechter- und Familienverhältnisse, andererseits soziale Nachteile oder Konflikte, durch welche Menschen aus Arbeits- und Sozialbeziehungen herausfallen können, verbunden mit den entsprechenden stadträumlichen Spaltungen. Planungstheorie hat zunächst also eine theoretisch-analytische Funktion: Sie untersucht das Zusammen- spiel sozialer und physischer Räume, fragt nach ihrem spezifischen Verhältnis zur Natur ebenso wie nach den sozialen und kulturellen Lebensverhältnissen, nach den Besonderheiten der jeweiligen Räume und nach ihren Beziehungen zu anderen Orten oder Räumen. Ihre Fragen richten sich auf (geschichtlich) gewordene sinnliche Erfahrungsräume, die von ihren BewohnerInnen und deren VorfahrInnen und von Zugewanderten geprägt und belebt werden. Insofern sollte Planungstheorie historisch bewusst vorgehen, und zwar in Bezug sowohl auf die allgemeinen vorfindlichen Bedingungen und Prozesse als auch auf die besonderen baulichen Strukturen und ihre Entwicklung sowie hinsichtlich deren vorgefundenen Definitionen und Deutungen.

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Dazu gehört etwa auch die Frage nach den Interessen, die sich in den Raum eingeschrieben haben, nach dominanten Formen der Nutzung oder Nutzungsweisen. Erst auf dieser Grundlage können Entwicklungsperspek- tiven begründet formuliert werden.

Theorie und Praxis der Planung(swissenschaft) Neben die theoretische tritt eine praktische Funktion: In dieser Hinsicht ist Planungstheorie handlungsorien- tierend. Sie reflektiert historisch entstandene und gegenwärtig vorgefundene Gegebenheiten und Umstände, um für diese (neue) Perspektiven zu formulieren. Dazu untersucht sie Bedingungen und Kontexte von Entwick- lungen, fragt nach relevanten Akteuren und ihren Beteiligungen sowie nach Erfordernissen und Inspirationen der Planung, nach der Wirksamkeit von Instrumenten und Methoden, nach der Dynamik von Planungsprozessen, der Qualität und Reichweite von Planungen, nach Planungsfehlern. Idealerweise öffnet Planungstheorie Reflexi- onsräume für die Praxis: Sie setzt sich als kritische Instanz mit aktuellen Tendenzen ihres Gegenstandsbereichs auseinander und greift in aktuelle Debatten ein. (Insofern hat die Planungstheorie auch eine öffentlich-publizis- tische Funktion.) Inwiefern korrespondieren diese Ansprüche an die Planungstheorie nun mit denen einer Genderorientierung im wissenschaftlichen Feld? Dazu ist es nützlich, zunächst einige Voraussetzungen zu klären. Der Begriff Gender (Genus) bezeichnet das soziale im Unterschied zum biologischen Geschlecht (Sexus): Die gesellschaftliche Ungleichheit der Geschlechter ist keine Naturtatsache, sondern sozial konstruiert. Es geht also um das Geschlech- terverhältnis als ein sozial definiertes Verhältnis, und zwar insbesondere um patriarchalisch geprägte gesell- schaftliche Teilhabebedingungen von Frauen. „Die Macht der männlichen Ordnung zeigt sich an dem Umstand, dass sie der Rechtfertigung nicht bedarf. Die androzentrische Sicht zwingt sich als neutral auf und muss nicht in legitimatorischen Diskursen artikuliert werden. Die soziale Ordnung funktioniert wie eine gigantische symbolische Maschine zur Ratifizierung der männlichen Herrschaft, auf der sie gründet“1, und zwar wesentlich vermittelt über die geschlechtliche Arbeitsteilung, die Struktur des Raums und die Struktur der Zeit. Für Bourdieu ist die männliche Herrschaft das Beispiel schlechthin für „symbolische Gewalt“, eine Herrschaft, die über symbolische Wege der Kommunikation und des Erkennens, des Verkennens/Anerkennens, des Gefühls ausgeübt wird2 und sich in die Dispositionen der Menschen, in ihre Körper sowie in ihre subjektiven Wahrneh- mungs-, Denk- und Handlungsweisen ebenso eingeprägt hat wie in die durch sie geformte objektive soziale und physische Welt. Die symbolische Herrschaft richtet sich ein, indem sie sich auf diese Dispositionen stützt und auf „das unmerkliche Vertrautwerden mit einer symbolisch strukturierten physischen Welt und die frühzeitige und fortwährende Erfahrung von Interaktionen, die von den Strukturen der Herrschaft geprägt sind.“3 Bei alledem ist allerdings zu beachten, darauf hat Margarete Tjaden-Steinhauer hingewiesen, dass den „Individuen ein Vermögen immerhin gegeben ist, dass ihnen die realen Gewaltverhältnisse immer auch ein Stein

1 Bourdieu 2005: 21. 2 Bourdieu 2005: 8 und passim. 3 Bourdieu 2005: 71. 88 ForschungsForum 3 2 des Anstoßes sind und schließlich, dass die vorgegebenen autoritären Denkmuster immer auch ihren Wider- spruch herausfordern.“4 Was die theoretisch-analytische Dimension der Planungstheorie betrifft, geht es zunächst darum, die geschlecht- lichen Zuweisungen der räumlichen Ordnung zu entziffern. Diese sind nicht bloß nachträgliche Interpretationen der gebauten Räume, sondern sie haben sich in die (historische) Entwicklung der Räume selbst eingeschrieben und reproduzieren damit, ggf. unbeabsichtigt, mehr oder weniger versteckt eingebaute Rollenerwartungen. Allge- meiner: Es geht darum, „die Prozesse zu enthüllen, die für die Verwandlung der Geschichte in Natur, des kulturell Willkürlichen in Natürliches verantwortlich sind.“5 Die vorgefundenen physischen Räume und ihre impliziten Nutzungszuweisungen tragen dazu bei, die soziale Ordnung, nämlich hier die Geschlechterhierarchie, wie eine natürliche Ordnung erscheinen zu lassen, sie als evident anzuerkennen und in der Nutzung praktisch zu bestä- tigen. Die Räume setzen damit Voraussetzungen für die Entwicklung der Geschlechterverhältnisse, die sich in ihnen so oder anders reproduzieren. Die (sozialen) Dispositionen und die (physisch-räumlichen) Strukturen sind aufeinander bezogen, gleichwohl sind die Räume nicht ein-eindeutig determiniert: Sie können unterschiedlich interpretiert und beständig umgedeutet, verändert oder auch in unterschiedlicher Weise angeeignet werden.

Öffentliche und private Räume Die gesellschaftliche Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern verändert sich historisch und bildet je andere Formen der Differenzierung aus, die mit entsprechenden Raumzuweisungen korrespondieren. Ein herausragendes Beispiel ist die Trennung zwischen der öffentlichen als einer männlichen Sphäre und den weiblich kodierten Privatwelten, die sich mit dem für die bürgerliche Gesellschaft spezifischen Spannungsverhältnis zwischen Privatheit und Öffentlichkeit6 herausgebildet haben. Die Exklusion der Frauen ist für die politische Öffentlichkeit in dem Sinne konstitutiv, so Jürgen Habermas, als sie in ihrer Struktur und in ihrem Verhältnis zur Privatsphäre geschlechtsspezifisch bestimmt war7 – während sie dem Anspruch nach für alle zugänglich sein sollte. Habermas hat die patriarchale Kleinfamilie mit Bildung und Besitz und das frühe bürgerliche Lesepublikum als den Ort bezeichnet, an dem dieses Verständnis entstanden ist.8 Die Sphäre politischer Öffentlichkeit bildet sich aus einem frühen bürgerlichen Lesepublikum heraus, als Diskussion unter Privatleuten, zunächst in privaten Zusammenkünften als Lesegesellschaften, dann in den städtischen Salons, Kaffeehäusern und Tischgesellschaften, wo sie sich als kritisches Publikum formiert. Die literarische Öffentlichkeit bildet so gewissermaßen einen Übergangsraum zwischen dem privaten kleinfamiliären Binnenraum und der politischen Öffentlichkeit. Und sie ist in Teilen, wie insbesondere den Salons, durch Frauen

4 Tjaden-Steinhauer 2009: 266. 5 Bourdieu 2005: 8. 6 Zu Idee und Wirklichkeit dieses Verhältnisses vgl. Habermas 1990; als kompakten historischen Abriss zur Entwicklung des privaten und öffentlichen Raums s. Lichtenberger 2002: 114-128; zur bürgerlichen Wohnform als sozial-räumlichem Modell s. Paravicini 2009: 18-47. 7 So im Vorwort zur Neuauflage: Habermas 1990: 19. 8 Habermas 1990: 156. 89 ruth may mit geprägt worden (wie Rahel Varnhagen von Ense oder Henriette Herz), während schon zu den sich politisie- renden Kaffeehausgesellschaften ausschließlich Männer zugelassen waren. Das bürgerliche Ideal der Bildung prägt auch den Binnenraum der Familie mit; im Zuge der Differenzierung von Privatraum und Öffentlichkeit wird der neue Lebensstil mit einer neuen Architektur ausgestaltet und die Wohnung intimisiert; mit den neuen Erfahrungsräumen entstehen eine darauf bezogene Subjektivität und mit ihr entsprechende literarische Formen – vom bürgerlichen Trauerspiel zum psychologischen Roman.9 „Obschon die Sphäre des Familienkreises sich selbst als unabhängig, als von allen gesellschaftlichen Bezügen losgelöst, als Bereich der reinen Menschlichkeit wahrhaben möchte, steht sie mit der Sphäre der Arbeit und des Waren- verkehrs in einem Verhältnis der Abhängigkeit.“10 Und obwohl sich die Ehe als eine auf Freiwilligkeit gründende Liebesgemeinschaft versteht, ist sie von Zwängen so wenig frei wie es ihre einzelnen Mitglieder sind. „Jedenfalls entsprach der Selbständigkeit des Eigentümers auf dem Markte und im eigenen Betrieb die Abhängigkeit der Frau und der Kinder vom Familienvater; die Privatautonomie dort setzte sich hier in Autorität um und machte jene prätendierte Freiwilligkeit der Individuen illusorisch.“11 Die Frauen lebten in einer dieserart behüteten Position und waren im Wesentlichen auf häusliche Innenräume verwiesen; die Straße nutzten sie als Arbeiterinnen oder als Hausfrauen für Erledigungen, aber „sie können nicht von ihr Besitz ergreifen, sich frei auf ihr bewegen, ohne damit rechnen zu müssen, von der öffentlichen Meinung beurteilt zu werden oder Konventionen zu verletzen, die ihnen Verhaltensweisen vorschreiben und sie so effektiv zum Objekt der Blicke machen.“12 Martha Howell hat darauf hingewiesen, dass die räumliche Trennung in private und öffentliche städtische Räume ein Ergebnis von Entwicklungen seit dem späten Mittelalter ist und dass Frauen in den Anfängen durchaus in den öffentlichen Räumen der europäischen Städte als Zuschauerinnen und handelnde Akteurinnen präsent waren13, als Händlerinnen oder als Produzentinnen, die ihre Waren angeboten haben, auch als Teilnehmerinnen bei Protesten. Dabei haftete ihrem Status in der Öffentlichkeit immer etwas Prekäres an, sie bedurften einer patriarchalen Legitimierung (Kontrolle, Schutz), um in der Öffentlichkeit respektiert zu werden. Die Städterinnen konnten öffentliche Marktrechte, aber keine politischen Rechte wahrnehmen. Diese ökonomischen Rechte verloren sie Howell zufolge in dem Maße, wie das ökonomisch mächtige Bürgertum die relevanten politischen Positionen in den Städten einnahm.14 Obwohl grundsätzlich vom zünftigen Gewerbe ausgeschlossen, arbei- teten in der mittelalterlichen Stadt Frauen vielfach in den (innerhalb und außerhalb der Zünfte existierenden) Gewerben, als abhängige Lohnarbeiterinnen oder als Meisterinnen, zum Teil auch in Zünften, die ausschließlich aus Frauen bestanden (aber durch Männer geleitet wurden).15 Karl Bücher hat für Frankfurt am Main rund 200 Berufe ausgemacht, in denen Frauen tätig waren. Allerdings habe es durch das Mittelalter hindurch die Tendenz gegeben, die eigenständige Erwerbsarbeit von Frauen immer weiter zurückzudrängen.

9 Siehe Habermas 1990: 107-116. 10 Habermas 1990: 110. 11 Habermas 1990: 111. 12 Gleber 1999: 65. 13 Howell 2010. 14 Howell 2010: 8. 15 Bücher 1910: 14 ff.; s. dazu auch Zibell 2009. 90 ForschungsForum 3 2 Thorstein Veblen hat in seiner „Theorie der feinen Leute“ (1899) die Arbeitsteilung zwischen männlicher und weiblicher Beschäftigung als die historisch erste Form sozialer Ungleichheit überhaupt ausgemacht.16 Sie besteht in seiner Formulierung in der Heldentat der Männer und der produktiven Arbeit der Frauen. Krieg, Politik, Sport, Gelehrsamkeit, Priestertum sind demnach die Heldentaten, aus denen in der weiteren Entwicklung auch die kennzeichnenden Beschäftigungen der „feinen Leute“ hervorgehen. Sie sind mit Prestige, Macht, Reichtum und Besitz verbunden, während die produktive Arbeit die anderen machen: „Praktisch sind alle Gewerbe aus jenen Arbeiten hervorgegangen, die im ursprünglichen barbarischen Gemeinwesen die Frauen verrichteten.“17 Insgesamt kann man mit Bourdieu feststellen, dass die „Subordination der Frau sowohl in ihrer Einbeziehung in die Arbeit, wie im Großteil der vorindustriellen Gesellschaften, als auch umgekehrt in ihrem Ausschluss von der Arbeit zum Ausdruck kommen kann, wie es nach der industriellen Revolution der Fall gewesen ist. Mit der Trennung von Arbeitswelt und häuslicher Sphäre trat ein ökonomischer Bedeutungsverlust der Frauen der Bourgeoisie ein.“18 Die Trennung bildet sich stadträumlich nicht zuletzt in den Prozessen der Suburbanisierung aus, zunächst in Villenvororten, dann in zunehmendem Maße für die wachsenden Mittelschichten verallgemeinert, mit der arbeitsteiligen Trennung von männlicher Erwerbsarbeit und weiblicher Reproduktionsarbeit als Hausfrau und Mutter. „Suburbanisierung entfernte Frauen real und symbolisch von und aus der Stadt und der Öffentlichkeit, beschnitt ihre Wahl- und Handlungsmöglichkeiten und damit auch die Chancen der Veränderung ihres gesell- schaftlichen Status.“19 Mit der Trennung der verschiedenen Sphären entstehen unterschiedliche Räume, die symbolisch nach einem Geschlecht kodiert sind und zudem durch bestimmte zeitliche Strukturen (Tages- und Wochenrhythmen) reguliert werden. Die Zu- und Abweisung von Räumen wird dabei nicht durch Gebote und Verbote geregelt, sondern eher durch Selbstausschluss und Berufung, durch wirksame Dispositionen der subjek- tiven Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweisen, die sich als subtile Ordnungen eingeprägt haben und als persönliche Vorlieben und Abneigungen gelebt werden; so bezeichnet Bourdieu den Ausschluss der Frauen von öffentlichen Plätzen als „gesellschaftlich aufgezwungene Agoraphobie“.20 Im suburbanen Raum mit seinen sozial homogenen Milieus und nachbarschaftlichen Nähebeziehungen verschwimmen die Unterscheidungen von Privatheit und Öffentlichkeit; wenn sie nicht mehr auf häusliche Innenräume beschränkt sind, so finden sich die Frauen hier in einer Beschränkung auf die nächste Umgebung wieder, in der „Tyrannei der Intimität“21 mit den daraus erwachsenden Konformitätszwängen.

Fordismus und Postfordismus Die Weimarer Republik hat für Deutschland die Situation der Frauen entscheidend verändert, mit ihr verbindet sich das Bild der Großstadt als Ort der neuen, modernen Frau. Sie hatte das Frauenwahlrecht eingeführt, es gab eine Qualifizierungsoffensive, Frauen hatten Zugang zu Hochschulen und es gab europaweit die ersten Forsche-

16 Veblen 1986: 23 ff. 17 Veblen 1986: 24. 18 Bourdieu 2005: 146. 19 Frank 2005: 103. 20 Bourdieu 2005: 73. 21 Sennett 1986. 91 ruth may rinnen. Die Erfolge der Frauenbewegung und der emanzipatorische Gehalt der Frauenerwerbstätigkeit, insbe- sondere die massenhafte Beschäftigung von Frauen in den neuen Angestelltenberufen, wird vor allem in den Großstädten der 1920er-Jahre sichtbar.22 Das neue Erscheinungsbild der Frauen und ein neues feministisches Selbstbewusstsein lässt sich an Walter Ruttmanns Film „Berlin. Sinfonie der Großstadt“ (1927) ablesen, der, so hebt Anke Gleber hervor, „erstmals die zahlreichen Facetten weiblicher Gegenwart im modernen Raum [zeigt]“23. Zum ersten Mal sieht man Frauen, die zweckfrei flanierend sich im öffentlichen Raum bewegen. „In diesem Film kaufen Frauen ein, gehen spazieren, zur Arbeit, gehen in Cafés und beobachten die Menschenmenge.“24 Und der Film zeigt die neuen Konsumwelten und ihre modischen Bilder von Frauen. Aneignung und Entfremdung liegen nah beieinander: Im öffentlichen Raum treffen die Frauen auf die Präsentationen der Warenwelt mit den Schaufensterpuppen und den Spiegelungen, die ihnen ihr eigenes und ein ideales Bild der Frau vorführen, an dem sie sich selbst und die anderen Frauen als Objekte erfahren. Siegfried Kracauer hat die Wirklichkeit der neuen Angestellten in Berlin (1929) beschrieben, zum Beispiel als Verkäuferinnen und Büroangestellte, und beobachtet, wie sich, unter den zeitgenössischen Maßgaben der Personalpolitik, ein bestimmter Typus herausbildet: „Sprache, Kleider, Gebärden und Physiognomien gleichen sich an, und das Ergebnis des Prozesses ist ebenjenes angenehme Aussehen, das mit Hilfe von Photographien umfassend wiedergegeben werden kann. Eine Zuchtwahl, die sich unter dem Druck der sozialen Verhältnisse vollzieht und zwangsläufig durch die Weckung entsprechender Konsu- mentenbedürfnisse von der Wirtschaft unterstützt wird. Die Angestellten müssen mittun, ob sie wollen oder nicht. Der Andrang zu den vielen Schönheitssalons entspringt auch Existenzsorgen, der Gebrauch kosmetischer Erzeugnisse ist nicht immer ein Luxus.“25 Es gibt zahlreiche Zeugnisse dafür, wie bei allem Aufbruch in diesen Jahren die Fantasien und Realitäten vieler Frauen immer wieder durch traditionelle Vorstellungen von den Geschlechtern und durch Beschränkungen, wie etwa durch das Ehegesetz, eingeholt wurden. Ihre neue Rolle war prekär und ungesichert. Für die allermeisten Frauen war die Erwerbstätigkeit ein Durchgangsstadium bis zur Ehe. Ihr Durchschnittseinkommen erreichte nur etwa ein Drittel des Durchschnittseinkommens von Männern. Bald folgte der Backlash; so wurde zum Beispiel schon 1932 für den öffentlichen Dienst per Gesetz die Beschäftigung verheirateter Frauen verboten.26 Für die heutigen Frauen scheinen sich die Voraussetzungen deutlich geändert zu haben, sie sind gebildet, in wachsendem Maße erwerbstätig und als Arbeitskräftepotenzial attraktiv. Manche räumlichen Trennungen werden in den postfordistischen Entwicklungen relativiert, die unterschiedlichen Sphären setzen sich neu zusammen. Susanne Frank zeigt am Beispiel der US-amerikanischen Entwicklung, wie mit der Ansiedlung von Unternehmen und Arbeitsplätzen aus ehemals suburbanen Zonen dynamische städtische Entwicklungspole hervorgegangen sind,

22 Tatsächlich ist die Frauenerwerbsquote in der Zeit von 1907 bis 1925 in Deutschland um nicht mehr als 0,7 % auf 35,6 % gestiegen; relevant für die Sichtbarkeit der berufstätigen Frauen war aber die enorme Steigerung der Zahl der Angestellten, die im selben Zeitraum um 200 % gewachsen ist; 1925 waren 12,6 % aller berufstätigen Frauen in diesem Sektor beschäftigt. Angaben nach Ankum 1999: 10 f. 23 Gleber 1999: 70. Gleber analysiert unter diesem Aspekt einzelne Sequenzen des Films, auf die ich mich im Weiteren (mit) stütze. 24 Gleber 1999: 74; allerdings, so bemerkt Gleber, wurden diese Bilder selbstbewusster Frauen in der Öffentlichkeit von Männern, die den Film interpretierten, nicht selten als Bilder von Prostitutierten missdeutet (ebd.). 25 Kracauer 1971: 24. 26 Ankum 1999: 10 f. 92 ForschungsForum 3 2 wobei das Reservoir an weiblichen Arbeitskräften als Standortvoraussetzung eine entscheidende Rolle gespielt hat. „Im Zuge der Auslagerung von Betriebsteilen wurde systematisch die als sozial problematisch geltende Gruppe der in den Innenstädten konzentrierten statusniedrigen, häufig allein erziehenden, häufig ethnischen Minderheiten angehörenden Frauen durch die ebenfalls weibliche, aber unproblematisch erscheinende Beleg- schaft weißer, mittelklassesozialisierter Suburb-Frauen ersetzt.“27 Was diese von den städtischen Frauen unter- scheidet, ist ihre häusliche und familäre Lebenssituation und ihre Sozialisation nach einem „Ideal domestizierter, mütterlicher, primär häuslich und familienorientierter Weiblichkeit [...].“28 Weil und sofern ihr Lebenszentrum der eigene Haushalt ist, können drumherum flexible Teilzeitjobs angesiedelt werden, deren prekäre Ausgestaltung lange Anfahrtswege ohnehin nicht rechtfertigen würde. „Im Gegensatz zu den sozial schwachen, als renitent und militant geltenden farbigen Innenstadtbewohnerinnen werden Suburbias weiße middle-class-Frauen als gut ausgebildet, sozial angepasst, kooperativ, arbeitsam und kaum gewerkschaftlich organisiert beurteilt, die sich bereitwillig mit der vergleichsweise geringen Entlohnung und den ungesicherten Arbeitsverhältnissen der neuen Produktions- und Dienstleistungsjobs abfinden.“29 Arbeitsverhältnisse wie die hier beschriebenen basieren auf dem sogenannten „männlichen Ernährermodell“, das gerade auch in der Bundesrepublik noch vergleichsweise stark verbreitet und in Rechtsstrukturen verankert ist30 – mit dem männlichen Normalarbeitnehmer als Familienernährer und dem Zuverdienst der Frau, die Erwerbs- und Familienarbeit kombiniert. „Das Schwinden der fordistischen Produktionsweise mit Fließband und Massen- produktion ging einher mit dem Abbau des Wohlfahrtsstaats und der Verringerung der Möglichkeit, eine Familie mit eigener Hausfrau auch für Arbeiter zu haben. Es war das Ende der Dominanz der heterosexuellen Kleinfa- milie, wonach ‚jeder Mann eine eigene Hausfrau‘ hat, die für Moral, Disziplin, Ordnung, ein gemütliches Zuhause sorgt, in dem die Kräfte für die Erwerbsarbeit wieder hergestellt werden konnten. Dies aber war genau die Enge, gegen welche die Frauenbewegung protestiert hatte. Die ersten Siege, die erreicht wurden, fielen zusammen mit dem Ende dieses Produktionsweisemodells. Das neue Modell, der globale, neoliberal geprägte High-Tech- Kapitalismus hat den ‚Ernährer‘ weitgehend abgeschafft; es gibt kaum mehr den lebenslangen Arbeitsplatz, der es erlauben würde, in der alten Form ‚eine Familie zu gründen‘. Es gibt neue Frauenrechte. Auch Frau kann, ja sollte Unternehmerin werden. Die moralischen Zwangsgesetze wurden gelockert. Heteronormativität war kein großer Kampfpunkt mehr, und vor allem die Kämpfe um Anerkennung der Hausarbeit wurden aufgenommen ins neoliberale Projekt.“31 Dies wirft ein Licht auf die Ambivalenzen der neuen Arbeitswelten mit attraktiven neuen Möglichkeiten für Frauen, die sich unter den veränderten Voraussetzungen neoliberalen Wirtschaftens eröffnen und sich anderer- seits in neuen sozialen und räumlichen Spaltungen darstellen, mit Armut, gering bezahlter, nicht existenzsi- chernder Arbeit und prekären Arbeitsverhältnissen, von denen Frauen besonders betroffen sind. Dies betrifft zumal alleinerziehende Frauen. Aber auch das Einkommen des Mannes reicht in der Regel kaum mehr aus, um

27 Frank 2005: 112 f. 28 Frank 2005: 115. 29 Frank 2005: 115. 30 Vgl. Berghahn u. a. 2007 – wenngleich sich mit der Einführung des Elterngelds als Lohnersatzleistung Veränderungen ankündigen. 31 Haug 2009: 404; vgl. dazu auch Fraser 2009. 93 ruth may daraus die Kosten für eine Familie zu bestreiten. Insofern treten die Frauen nicht unbedingt in erster Linie als emanzipierte und selbstbewusste Arbeitnehmerinnen auf den Plan, sondern sie sind zur Erwerbsarbeit auch genötigt. Und natürlich verteidigen die Männer ihre Positionen gegen die weibliche Konkurrenz. Es ist bekannt, dass Frauen bei gleicher Qualifikation in der Regel weniger erreichen als Männer.32 Bei alledem sind Frauen zeitlich stärker in Arbeit eingespannt als Männer: „Während dank Teilzeitarbeit, Mini- und Midi-Jobs das Erwerbs- arbeitsvolumen trotz steigender Erwerbsbeteiligung von Frauen stagniert bzw. sogar rückläufig ist, sind Frauen aller Schichten weiterhin von der traditionellen Arbeits-‚Teilung’ in Haushalt und Familie betroffen. [...] Frauen sind, nimmt man familiäre und berufliche Arbeit zusammen, Woche für Woche durchschnittlich eine Stunde länger mit Arbeit belastet als Männer.“33 Die Frage nach der Entwicklung der gesellschaftlichen und geschlecht- lichen Arbeitsteilung muss die Relationen zwischen Erwerbsarbeit und reproduktiver Arbeit berücksichtigen, erst dies könnte die Situation von Frauen auf eine neue Grundlage stellen. Frigga Haug plädiert dafür, „die zerlegende Organisation des Gesellschaftsprozesses – in den profitgetriebenen Erwerbsbereich, den ‚verweiblichten’ Repro- duktionsbereich jenseits der Lohnform, die abgesonderte Politik in den Händen von ‚Stellvertretern’“ in den Blick zu nehmen und eine Debatte über die Umwälzung der Zeitökonomie anzustoßen.34 Der Bezug auf das soziale Geschlecht, also ihre Genderorientierung, bedeutet für die Planungstheorie und ihre praktisch-handlungsorientierende Dimension eine Emanzipationsorientierung. Eine genderorientierte Forschung muss sich dafür interessieren, die Umstände zu untersuchen, unter denen sich Frauen von den vorfindlichen Beschränkungen und Behinderungen zu befreien versuchen. Die patriarchalen Zuschreibungen und die – auch eigenen – patriarchalen Dispositionen sowie die darauf bezogenen räumlichen Situationen sollten dabei zugleich in den Blick genommen werden: Sich von ihnen zu befreien ist ein Schritt in die Öffentlichkeit, indem Frauen aus beschränkten Privatbeziehungen heraustreten und sich für ihre Belange als öffentliche Angelegenheiten einsetzen. Von einer eher ideellen Emanzipationsorientierung (der Verstandestätigkeit) kann dabei die auf materielle Räume bezogene tätige Handlung der Aneignung unterschieden werden. Als räumlichen Ausdruck von Emanzipation möchte ich im Folgenden unter dem Aspekt des Geschlechterthemas die freie Rauman- eignung in den Mittelpunkt rücken. Inwiefern können sich Frauen die Stadt erschließen, inwiefern können sie sich die städtische Öffentlichkeit für ihre Zwecke zu eigen machen? Meine These ist, dass gute Planung die freie Aneignung des Raums durch Frauen antizipieren, also schon vorwegnehmend einarbeiten muss, die sie in ihren praktisch gewordenen Konzepten überhaupt erst befördern will.

32 Den Verdienstabstand zwischen Männern und Frauen, den Gender Pay Gap, beziffert das Statistische Bundesamt mit Blick auf die durchschnittlichen Bruttostundenverdienste (unbereinigter Gender Pay Gap) gleichbleibend für die Jahre 2006–2010 mit 23 %, in diesem Zeitraum im früheren Bundesgebiet von 24 auf 25 % ansteigend, in den neuen Ländern liegt er bei 6 %. Der bereinigte Gender Pay Gap liegt bei 8 %, das heißt auch bei vergleichbaren Tätigkeiten und äquivalenten Qualifikationen verdienten Frauen im Durchschnitt 8 % weniger als Männer; s. die Pressemitteilung Nr. 120 des Statistischen Bundesamts vom 24.03.2011 unter www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Presse/pm/2011/03/PD11__120__621,templateId=renderPrint.psml (09.07.2011). 33 Pinl 2009: 95. Dabei stützt sie sich auf die Zeitbudget-Erhebungen des Statistischen Bundesamts 2001/2002. Ebenfalls mit Bezug auf diese Erhebung vgl. die Auswertung von Sellach u. a. 2006, die zu dem Ergebnis kommt, dass die Verlängerung der Erwerbsar- beitszeit dazu führen wird, dass sich Männer aus anderen Aktivitäten zurückziehen und Frauen dies zulasten ihrer Erwerbsarbeitszeit kompensieren werden. 34 Haug 2011: 243 f. 94 ForschungsForum 3 2 Planungsstrategien zur Stadterneuerung in sozial benachteiligten Stadtteilen – ein Evaluations- projekt im internationalen Vergleich Zur kritisch-analytischen Funktion der Planungstheorie gehört die Evaluation von Planungen: Wie lebt es sich mit den Ideen und Konzepten der Planer, wenn sie in die Wirklichkeit umgesetzt werden? Über ein solches Evaluati- onsprojekt will ich berichten, das Stadterneuerungsplanungen der 80er-/90er-Jahre des letzten Jahrhunderts in Quartieren von Barcelona, Paris und Hannover untersucht hat.35 Es ging darum, die Tauglichkeit dieser Planungen insbesondere für Frauen zu untersuchen: Ob und wie können Architektur und Planung zur Emanzipation der Frauen im öffentlichen Raum und damit zu ihrer Gleichstellung in der Gesellschaft beitragen? Inwiefern kommen die Planungen stadträumlichen Bedürfnissen von Frauen entgegen? Es handelte sich um drei Einzelstudien, deren Ergebnisse anhand bestimmter Kriterien miteinander verglichen wurden. Dabei wurden in Barcelona und Paris beispielhafte oder vorbildliche, renommierte Projekte untersucht; diese wurden der Erneuerungsplanung für die Nordstadt von Hannover gegenübergestellt. Alle drei untersuchten Erneuerungsplanungen bezogen sich auf den Umbau postindustrieller Stadtquartiere und zeichneten sich dadurch aus, dass sie – bei unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen im Detail – den Anspruch einer sozial integrativen Stadtentwicklung verfolgt haben; allerdings waren sie nicht durch einen genderbezogenen Planungshintergrund ausgewiesen. Gegenstand unserer Untersuchungen waren -- der Ausbau öffentlicher Verkehrssysteme, -- die Neugestaltung bzw. Neuplanung öffentlicher Räume und Einrichtungen sowie -- der Wege und Wegebeziehungen im Quartier und -- eine Stärkung der Nutzungsmischung.

Barcelona Paris Hannover

Barcelona, Paris, Hannover (IAP, 2003).

35 Das Projekt wurde in Kooperation mit WissenschaftlerInnen der Autonomen Universität Barcelona und des Centre national de la recherche scientifique (Paris) unter der Leitung von Prof. Dr. Ursula Paravicini an der Universität Hannover durchgeführt und in den Jahren 2000-2003 durch die VW-Stiftung gefördert. 95 ruth may

Freie Raumaneignung bedeutet hier Aneignung des öffentlichen Raums in seinen verschiedenen Formen, und zwar in Verbindung mit Alltagsnutzungen: Wege, ÖPNV, soziale und öffentliche Einrichtungen und ihre Lage spielen eine Rolle, Haltestellen, Begegnungen, der Aufenthalt an öffentlichen Plätzen und Orten im Alltag und bei besonderen Gelegenheiten. Entsprechend wurden die Kriterien der Untersuchung entwickelt und Schwer- punkte der Befragung, Beobachtung, Kartierung gewählt. Verglichen wurden die Erneuerungskonzepte und ihre Einbettung in das jeweilige gesamtstädtische Konzept. Dabei wurden die von den (allein männlichen) Planern erwarteten Veränderungen an den Erfahrungen der involvierten Personengruppen im Geschlechtervergleich gemessen. Unser Interesse galt der räumlichen und sozialen Integrationsfähigkeit der Projekte sowie der Aneig- nungsmöglichkeiten im Vergleich der Geschlechter und verschiedener Altersgruppen.36

Promenade Plantée, Paris Reuilly (Fotos: Ruth May, 2001).

Im Ergebnis konnten wir feststellen, dass sich im Fall von Hannover-Nordstadt die Erneuerungsmaßnahmen sektoriell auf Teilbereiche beschränkt haben, deren Bezug zueinander unterthematisiert geblieben ist. Gelungen sind die behutsame Sanierung von Altbauten, Verbesserungen des öffentlichen Nahverkehrs, Wohnumfeldver- besserungen, Spielplätze; dagegen sind die Anziehungskraft bzw. Aufenthaltsqualität der öffentlichen Räume ebenso wie überquartierliche Einbindungen in eine gesamtstädtische Strategie jedoch vergleichsweise wenig bedacht worden. Die Konzepte von Barcelona und Paris berücksichtigen unterschiedliche Ansprüche des Stadtteils und integ- rieren sie miteinander wie zugleich in übergeordnete städtische Planungen. Das macht die Quartiere für die städtische Öffentlichkeit zugänglich und attraktiv und erzeugt mit dieser Durchlässigkeit eine zivile Kultur, die im Partialraum die gesamte Stadt wahrnehmen und erleben lässt. So wird das auf einer Bahnbrache entstandene neue Pariser Viertel Reuilly durch die zu einer bepflanzten Promenade umgestaltete ehemalige Eisenbahntrasse

36 Zu Methoden und Ergebnissen vgl. May 2005; Paravicini, May 2004; May 2002. 96 ForschungsForum 3 2 belebt, die Promenade Plantée, die quer durch den Pariser Osten führt – und nach deren Vorbild das (privat finanzierte) Projekt der New Yorker High Line entstanden ist. Öffentliche Räume werden in Paris zu aufeinander abgestimmten Zentren pointiert, hier finden sich die sozialen und kulturellen Einrichtungen und Ladenlokale, hier kreuzt sich der fußläufige mit den Haltestellen des öffentlichen Verkehrs. Ähnlich führt die Planung in Barcelona-Nou Barris öffentliche Räume, Einrichtungen der sozialen und kulturellen Nutzung und Verkehrs- und Wegeführung in einem Quartierskonzept zusammen, das dieses zugleich mit der Stadt verbindet. Es entsteht die differenziert gestaltete Via Julia, die am Schnitt- punkt der Metro mit den fußläufigen Wegeführungen durchs Viertel von einem Dach überschattet wird; ihre hohe Ereignis-, Aufenthalts- und Interaktionsdichte befördert, wie wir feststellen konnten, ein tolerantes und sich gegenseitig bereicherndes Miteinander der nach Alter, Geschlecht, sozialer Herkunft und kultu- rellen Erwartungen verschiedenen Bevölkerungs- gruppen. Via Julia, Barcelona-Nou Barris (Foto: Ruth May, 2000). Für Frauen bzw. Menschen mit versorgenden Tätigkeiten sind die beschriebenen Qualitäten u. a. deshalb relevant, weil ihre Bewegungsmuster in der Stadt durch differenzierte Wegeketten und vielfältige Stationen gekenn- zeichnet sind. So konnten wir feststellen, dass die Zeit-Raum-Ökonomie ihres Alltags durch eine Planung unter- stützt wird, die, wie in Paris und Barcelona, die Infrastrukturen an zentralen Sequenzen der öffentlichen Räume konzentriert. In Barcelona-Nou Barris wurde das System der öffentlichen Räume so angelegt, dass eine markante Wegeführung durchs Quartier Geschäfte und kommerzielle Infrastrukturen des täglichen Bedarfs verbindet; eine zweite Wegeverbindung fasst soziale und kulturelle Einrichtungen zusammen. Beide Fußgängerverbindungen kreuzen die Hauptachse des Quartiers, die Via Julia, in deren Zentrum sich eine große Metrostation befindet und die Haltestellen der Busse. Hier haben sich auch – im Schnittpunkt zwischen quartierlichen und überquartier- lichen Nutzungen – Geschäfte, Cafés, Restaurants angesiedelt. Die öffentlichen Räume sind zugleich praktisch im Sinne der Raum-Zeit-Ökonomie der Frauen wie auch kommunikativ als Orte der Begegnung. In allen drei Städten konnten wir feststellen, dass sich Frauen mehr auf ihr Quartier beziehen, bessere Kennt- nisse der sozialen und räumlichen Gegebenheiten haben und dass sie eher daran interessiert sind, hier Kontakte aufzunehmen und auf Dauer zu pflegen. Des Weiteren messen sie der räumlich-ästhetischen und landschaft- lichen Qualität eine höhere Bedeutung zu als Männer, die eher funktionale Aspekte hervorheben. Auffällig ist der hohe Stellenwert, den eine differenzierte Grünraumgestaltung der Gärten und Parks für die Frauen hat. Und es hat sich gezeigt, dass die neue Metrolinie und -station in Barcelona, wie auch der Ausbau des öffent- lichen Verkehrs in den anderen beiden Städten, den Frauen in hohem Maße zugute kommt. Bemerkenswert ist dabei, dass weibliche Jugendliche oder Mädchen in allen drei Städten einen ausgedehnteren Bewegungsradius

97 ruth may aufwiesen als gleichaltrige Jungen. Defizite im ÖPNV waren in Hannover soziale Hürden, in Paris Probleme mit der räumlichen Zugänglichkeit/NutzerInnenfreundlichkeit. Bei der Bewertung öffentlicher Räume haben Frauen in allen drei Städten als wichtigstes Kriterium die Belebungsqualität herausgestellt. Für solche Belebungsqualitäten spielen, wie erwähnt, unter anderem eine Rolle die Wegekonzepte im Quartier, die darauf abgestimmte relative Konzentration von Einrichtungen und Infrastrukturen, aber auch die Einbindung der Quartierplanung in ein übergeord- netes stadtplanerisches Konzept, das, wo möglich, das Quartier für eine gesamtstädtische Öffentlichkeit zugänglich macht wie umgekehrt das Quartier zur Stadt hin öffnet.

Nou Barris, Barcelona (Foto: Ruth May, 2000). Entsprechende Ergebnisse zeigten unsere Feldbeob- achtungen: Öffentliche Räume mit hoher Ereignis-, Bewegungs-, Aufenthalts- und Interaktionsdichte waren die bevorzugten Orte von Frauen, und gerade hier waren Frauen nach unserer Beobachtung gleichberechtigt präsent. Man kann sagen: Die freie Raumaneignung von Frauen wird durch solche räumlich-gestalterischen Konzepte unterstützt, die auf Belebung, Begegnung, Kommu- nikation und interaktive Beziehungen setzen. Demnach kommen ihnen Räume entgegen, deren Gestaltung plurale Nutzungen und kommunikative Ausgleiche, Verständigungen nahelegen. Und umgekehrt konnten wir feststellen: Die gleichberechtigten Aufenthalts- und Entfaltungsmöglichkeiten von Frauen im öffentlich-städtischen Raum verbessern nicht nur deren Situation und Lebenslage, sondern tragen darüber hinaus entscheidend zur Zivilität im Gesamt des urbanen Lebens bei. Ich fasse zusammen: Weil es durch patriarchale Herrschaftstraditionen einen Positionsvorsprung der Männer in unseren Gesellschaften gibt, muss an Emanzipation interessierte Planung für Frauen Partei ergreifen. Die Planung muss die räumliche Aneignung durch Frauen stärken und kann das damit vertreten, dass es dem Gemeinwohl, also der Frauen wie der Männer, dient. Ähnlich hatte schon der Sozialutopist Charles Fourier (1841) Fortschritt geschrieben: „Die Erweiterung der Privilegien der Frauen ist die allgemeine Grundlage allen sozialen Fortschritts.“37

Das Aneignungskonzept Den jeweiligen Funktionen und ihrer Ausdifferenzierung in der geschichtlichen Entwicklung der Städte liegen Verhältnisse zugrunde, die weit über sie hinaus greifen und doch ihren konkreten Ort in den Räumen der Stadt

37 Fourier 1966: 190. 98 ForschungsForum 3 2 haben. Die Arbeits- und Lebensbedingungen und die gesellschaftlichen Unterschiede haben sich in die räumliche Struktur der Stadt eingeschrieben und prägen die Bedingungen ihrer Entwicklung mit. Individuelle Rauman- eignung berührt insofern einen – wenn man so will: umfassenden – Weltbezug mitsamt seinen sozialen Ein- und Ausschließungsprozessen. Die Frage nach den Geschlechterverhältnissen ist in diesem Sinne auch eine Frage nach der individuellen Aneignung als Weltbezug oder -entzug. Und das Gelingen oder Scheitern findet im Raum und in der Zeit statt. In diesem Abschnitt geht es um Emanzipation im Sinne von Selbsttätigkeit, um Aneignung als einen tätigen Prozess. Dazu gehört der Protest, dazu gehören neue Deutungen und Aneignungsweisen von Wirklichkeit und von Räumen. Die Frage ist: Welche neuen raumwirksamen Orientierungen lassen sich in solchen eigensinnigen Aneignungen entdecken? Und: An welche Grenzen stoßen solche Initiativen? Die aktuelle Forderung nach einem „Recht auf die Stadt“, wie sie in West- und Osteuropa und in Nordamerika „dank jahrelanger neoliberaler Stadtentwicklung und dank Wirtschafts- und Finanzkrise hochgradig aufgeladene aktuelle Themen bündelt“38 und deren Slogan Henri Lefèbvres „Le droit à la ville“ von 1968 zitiert, wird, so Margit Mayer, von unterschiedlichen Gruppen, Initiativen und Bewegungen aufgegriffen: „Der Verlust an sozialen, politischen, wirtschaftlichen und Bürgerrechten ist nicht nur für traditionell ausgegrenzte bzw. benachteiligte Gruppen schmerzlich spürbar geworden, sondern zunehmend auch für relativ privilegierte Stadtbewohner, deren Vorstellungen vom guten städtischen Leben nicht aufgehen in der zunehmenden Privatisierung der öffentlichen Räume, der Aufwertung und Vermarktung der Kieze und der Unterwerfung ihres Alltags unter die wachsende Standortkonkurrenz.“39 Mayer hebt hervor, dass es Lefèbvre um eine oppositionelle Forderung gegangen sei: Er „suchte [...] Rechte vermittels sozialen und politischen Handelns zu schaffen: Die Straße und ihre Inanspruch- nahme kreieren solche Rechte.“40 Hier geht es um eine Praxis der Aneignung, die den städtischen Raum (mit) hervorbringt, verändert, die Räume für Nutzungen aufschließt (und nicht etwa abschließt). Christian Schmid zufolge ging es Lefèbvre um (das Recht auf) die Teilhabe am urbanen Leben, um „die spezifisch städtischen Qualitäten, [den] Zugang zu den Ressourcen der Stadt für alle Teile der Bevölkerung, die Möglichkeit, alter- native Lebensentwürfe ausprobieren und realisieren zu können.“41 Und dazu kam es auf die Konzentration (oder Ausdünnung) von urbanen Ressourcen an, auf ihre allgemeine Zugänglichkeit, die Qualität und die Intensität des Austausches zwischen unterschiedlichen Menschen und ihren Handlungszusammenhängen in der Stadt.42 Wie in den oben dargestellten Beispielen finden Planungen in der Regel im Bestand statt: Der vorgefundene Raum ist nicht undefiniert; die verschiedenen von der Planung tangierten Bevölkerungsgruppen weisen verschiedene Interessenlagen und Sinndeutungen auf. So geht der Stadtumbau mit kulturellen Definitionen und Setzungen einher, die sich ggf. partizipativ modifizieren müssen. Hier bewegen wir uns in einem Themenfeld von unter- schiedlichen Nutzungen, von herrschenden Deutungen und den Deutungen von Minderheiten, von Aneignungen. Beispiele dafür, wie das, was zunächst eine Minderheitendeutung war, Einfluss auf Planung genommen hat, gibt es auch in den oben beschriebenen Stadterneuerungsprojekten in Barcelona und Hannover. Dort haben sich

38 Mayer 2011: 53. 39 Mayer 2011: 53. 40 Mayer 2011: 62. Hervorhebung im Original. 41 Schmid 2011: 27. 42 Schmid 2011: 36. 99 ruth may die Planungen gerade aufgrund der dort ansässigen Quartiersbevölkerung und ihrer Einmischungen qualifiziert. Frauen als Expertinnen ihres Quartiers spielten dabei eine herausragende Rolle. So war es in Barcelona das Ende der Francozeit, das im Stadtteil Nou Barris einen tief greifenden Stadtumbau eröffnete, einem Stadtteil, der sich einer speziellen Industriepolitik Francos und der Ansiedlung einer spanischen nicht-katalanischen Arbeiterbevölkerung verdankt, eine Politik, die hier voneinander wie von der übrigen Stadt weitgehend isolierte Quartiere hervorbachte. Diese Isolation aufzubrechen und den Stadtteil mit pointierten öffentlichen Räumen zum Flanieren, Verweilen, Durchqueren, kurz: der Kommunikation zu versehen, setzte notwendigerweise die Einsicht in die spezielle Geschichte dieses Gebiets voraus, die sich noch im speziellen Habitus seiner angestammten Bewohner, in ihrer eigenen Sprache, ihrem eigenen Gedächtnis, ihren Festen und Gebräuchen niederschlägt. Ihr Widerstand gegen das Francoregime hat eine Haltung hinterlassen, die sich in einer vielfältigen Protestkultur auch nach der Francoära und der Forderung für den maßgeblich von ihren Inter- essen geleiteten Umbau niedergeschlagen hat. Man könnte es an diesem Beispiel etwa so zuspitzen: Die parti- zipatorische Planung geht von eigensinnigen Beteiligungen aus, um eine Orientierung zu verfolgen, nach der in den neu geschaffenen öffentlichen Räumen kommunikative Ausgleiche nahegelegt werden, die soweit als möglich plurale Nutzungen ermöglichen sollen. Die Partzipationsbereitschaft der Bewohnerinnen und Bewohner hat auch die Sanierungsplanung der Nordstadt Hannovers im Vorfeld der EXPO 2000 grundiert und dies nicht allein in der Herausbildung vielfältiger Initiativen der verschiedenen Bevölke- rungsgruppen, von der ansässigen „autonomen Szene“ über die Kirchengemeinden bis hin zu den kleinen Gewerbetreibenden und Ladenbesitzern. Geprägt von der in den späten 1960er-Jahren so erfolg- reichen Rote-Punkt-Aktion für einen günstigen und preiswerten öffentlichen Nahverkehr, den Erfah- rungen mit der Besetzung des Sprengelgeländes und diverser Konflikte um einzelne Projekte haben sie Hannover-Nordstadt (Foto: Philipp Krebs, 2002). die Planungen über mehr als zwanzig Jahre beein- flusst. Es ist wohl dieser „Kultur der Langsamkeit und Verlangsamung“ geschuldet, wenn die Sanierung der Nordstadt trotz fortbestehender Einwände weitgehende Zustimmung erfährt. Bei alledem ist es der Kultur der Einmischung zu verdanken, dass auch neue Initiativen, wie die der großen Gruppe der ansässigen Migrantinnen und Migranten, entstehen konnten. Sicherlich hat eine klug verfahrende Stadtplanung gelernt, solchen Eigensinn zu nutzen, der, auf der Schattenseite des städtischen Selbstbewusstseins entstanden, bisweilen denselben Standort mit völlig anderen Bewertungen und Konnotationen betrachtet. Wir alle kennen Beispiele, wie gerade aus solchen zunächst abseitigen Initiativen spektakuläre Aufwertungen entstanden sind. Aber wir wissen auch – und zwar aus der feministischen Forschung

100 ForschungsForum 3 2 oder etwa auch aus Pierre Bourdieus Studien –, wie sich die sozialen Strukturen des Raums als räumliche Gegen- sätze niederschlagen und wie umgekehrt der gestaltete Raum als spontane Metapher des Sozialen fungiert. Das gilt für soziale Differenzen wie für Geschlechterdifferenzen. Diese Einschreibung sozialer Realitäten in die physische Welt lasse, so Bourdieu, diese Realitäten wie einen Naturzustand erscheinen. Auf diesem Weg werden „die unausgesprochenen Imperative der sozialen Ordnung und die verschwiegenen Ordnungsrufe der objektiven Hierarchie in Präferenzsysteme und mentale Strukturen“ umgewandelt.43 Der derart formierte Raum schließt Zugänge ein und aus und lässt dies zugleich als je eigene Präferenzen erscheinen. Umso mehr ist es eine Qualität von Planung, welche alternativen Aneignungsmöglichkeiten Räume eröffnen. Und es stellt sich die Frage, wie Planung solche Eigentätigkeit unterstützen kann. Mein aktuelles Projekt knüpft an die Untersuchungen in der Nordstadt von Hannover an und geht dieser Frage anhand von Gründungsprojekten nach, die Migrantinnen als Existenzgründerinnen dort gestartet haben. Ich betrachte diese Gründungsprojekte der Frauen als ein selbstbewusstes Handeln im Raum, als eine spezifische Form der Aneignung und damit auch Veränderung des Stadtteils in emanzipatorischer Perspektive ihres Lebensprojekts. Im Zentrum der Untersuchung steht die Option der Migrantin auf eine eigenständige Berufsarbeit und Teilnahme am öffentlichen Leben. In einigen Fällen ist es zugleich eine Eroberung des öffentlichen Raums durch ihre Ladengeschäfte. Untersucht werden in einer kleinen Zahl von Fallstudien persönlich-biografische Hintergründe, Standortpräferenzen und Kenntnisse des Viertels, die Aneignung stadtteilspezifischer Bedarfe und Bedürfnisse.44 Der Untersuchung liegt eine subjektwissenschaftliche Perspektive zugrunde. Sie orientiert sich an der Kritischen Psychologie und ihrer Voraussetzung, die individualpsychologisch-behavioristische Orientierung dieser Wissen- schaft auf ein sozialwissenschaftliches Fundament zu stellen.45 Methodologisch besonders hilfreich hat sich dabei der Beitrag von Ulrike Schneider46 zur Rolle der Untersuchten im empirischen Forschungsprozess erwiesen. Er hat mich gelehrt, die Studienobjekte meiner Forschung als eigenwillige Subjekte anzuerkennen. Nicht die Bedingtheit eines Verhaltens (einer Versuchsratte gleichviel wie eines Menschen) ist Gegenstand des Interesses, sondern die Intention eines Handelns, das, so Ute Osterkamp, „an der subjektiven Notwendigkeit/Aufgabe ausge- richtet (ist), gegenüber Verhältnissen handlungsfähig zu werden, in denen die eigenen Lebens- und Handlungs- möglichkeiten von den Bestimmungen anderer abhängen.“47 Es geht um ein Aneignungs- als Tätigkeitskonzept; und es geht um seine lernende Anwendung, die die Forschenden ebenso wie die Erforschten einbegreift. Wie sagt es Oskar Negt: „Der tätige Mensch ist ein sich objektivierender Mensch, der die Dinge so verändert, dass er sich in den Dingen wiedererkennt.“48 Dies mag auch eine gute Beschreibung von „Aneignung“ sein. Mir jeden- falls geht es darum, Emanzipation als einen tätigen Prozess zu verstehen, in dem sich das handelnde Subjekt einen Raum aneignet und dabei zugleich auch selbst verändert. Es ist ein Subjekt, das mit der Aneignung der Möglichkeiten, die dieser Raum eröffnet, sich selbst wie auch seine Umgebung verändert; und es tut dies durch

43 Bourdieu 1991: 27. 44 Siehe die Kurzdarstellung des Projektes „Migrantinnen als Existenzgründerinnen“ in diesem Band. 45 Vgl. Holzkamp 1983. 46 Schneider 1979. 47 Osterkamp 2008: 14. 48 Negt 2010: 23. 101 ruth may die Auseinandersetzung mit den Widerständigkeiten, auf die es dabei stößt. Bei alledem ist es die Emphase der Forschung, zu diesen Prozessen beizutragen und an ihnen teilzunehmen: Was Aneignung in der Praxis, ist Kritik in der Theorie. Planungstheorie verfolgt das Programm, darüber hinaus diesen Zusammenhang von Theorie und Praxis zu denken.

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Since the 1970s, feminists have been criticizing urban environments and housing typology as not responding to women’s needs.1 Most of the alternative models for housing and public space that came into realization are considered good quality living environments by general standards. Yet the principles of the ‘woman friendly city‘ are still not structurally embedded in the planning process.2 This contribution departs from the idea that the process of planning influences the substance of the plan, in other words contributes to the reproduction of social models and roles.3 After criticizing the urban models, feminist research and theory now need to address the tools, institutes and procedures of spatial planning.

Spatial planning: documents and institutions For gender-studies in spatial planning it is necessary to analyze both the environments and their use as they exist, as well as the documents that represent(ed) this environment: the plan in its process of realization. The Gender Kompass Planung produced for the City of Freiburg4 provides for example a summary for the German situation. Many of the planning instruments used for the production of plans, as well as during environmental management, are in themselves ‘gender-blind’, that is to say differences in use related to gender roles are not taken into account. The allocation of budgets and investments are decided in this framework, which includes clearly defined ideas about priorities and economic feasibility. Planning norms and regulations are based on the social model of the time in which they were made and constantly adapted to changes in society.

1 Bock u. a. 1993; Dörhofer, Terlinden 1989. 2 Larsson 2006; Bauhardt 2004. 3 Fainstein, Servon 2005. 4 Zibell u. a. o. J. [2009]. 104 ForschungsForum 3 2 Yet planning practice is slow in adapting to new gender roles and emerging diversity in time-space patterns.5 The structure of the planning process and the way of decision-making are part of a masculine professional culture.6 Most projects and proposals for gender-aware planning are therefore developed in special programs.7 Nowadays, more and more planning decisions are influenced at European level (although this varies from region to region). On the one hand laws such as noise and dust pollution and energy performance frame the local planning process. On the other hand the EU promotes gender equality.8 It is relevant for feminist research to analyze the operational dynamic of spatial planning and to be Planning documents inform as well as represent planning desisions: concerned with the fundamental question how it Regional authorities Zuid Holland at work (Foto: Tussen Ruimte, 2005). reproduces traditional social models, as a basis for strategies of change. The next Section of this contribution summarizes some questions that could be asked when analysing a spatial plan or development proposal from a gendered perspective. It distinguishes two fields of inquiry: the first concerns plans and the substance of planning, the second the process of planning and decision-making. The type of questions is inspired by the Gender Impact Assessment (GIA) method, which was developed in the 1990s to evaluate the effect of policies on (gender-) equality in society.9 The following section argues that the development of feminist (or gender-aware) research also makes it necessary to revise research methods. The final section adresses the relation between practice and research in planning.

Fields of inquiry The analyses of plans could begin with understanding in a given situation what is considered relevant and subject to planning. For example: Is the ‘care‘ economy facilitated in the same way as the ‘wage‘ economy with infrastructure and transport? Are schools and hospitals treated as nodes in the network society in the same way as stations and commercial centers? Are preferential activities of different groups taken into account? Many ‘sport-activities‘ have a male connotation, as compared to feminine activities implicitly considered as ‘wellness‘. Some activities, for example introduced by immigrant groups, may not exist as planning categories at all. They could be seen as unwanted appropriation of public space (for example grilling in the park). Classified as different

5 Fainstein, Servon 2005. 6 Greed 1994. 7 Cortolezis 2010; Stock, Tummers 2010; Schröder, Zibell 2004. 8 http://ec.eueropa.eu/social/main.jsp (18.07.2011). 9 Verloo, Roggeband 1996. 105 Lidewij Tummers categories in the legends of zoning- and development plans, they may receive different treatment in quanti- tative norms for the allocation of (parking) surface, and subject to different regulations of safety and building performances. The assumptions underlying the plan or proposal are sometimes expressed directly in the planning documents, for example who are the primary users/target groups. The choice of statistics and the use of examples (referential plans) inform the ambitions of plans. In addition, illustrations and references often reveal the planners idea on men, women, priority places and mobility patterns. The brochures of mainstream planning showing the glossy promises of new areas usually do not take into account the less frequented times of day, the collection of garbage and other everyday realities.10

Example: Everyday / care economy on the planning agenda One of the strategies followed in gender-aware planning is to put the ‘invisible domestic work‘ literally ‘on the map‘; see for example Gender Kompass Planung, Fair Share City program of the city of Vienna, or Seoul Women Friendly City. In this way the important routes and places can be indentified and (if necessary) become the subject of planning. Also it makes planners aware of the presence of this type of work and the conditions it requires. There are two risks in this approach: A. Daily routines (care activities) are again and permanently associated with women. Although statistics show that domestic tasks are still performed mostly by women, this may not lead to sufficient recognition of the impact of the care-economy on planning issues such as mobility and density. B. Often the daily routines are considered local and small scale, and not relevant for regional planning. Yet in health-care, retail and education small units are disappearing in favour of large (regional) clusters and the action radius increases especially in multi-job households. Marion Roberts has demonstrated the ambiguity of the neighbourhood as a planning unit which may mean isolation mainly for vulnerable groups.11 While the number of female professionals in planning is rising, in some sectors of decision-making, notably technology and finance, women and ethnic groups Putting the care-economy on the map (Foto: Lidewij Tummers, 2006).

10 Klaasen 2005. 11 roberts 2006. 106 ForschungsForum 3 2 are still underrepresented.12 This may lead to a limited awareness of who are stakeholders, and which are the different time-space patterns involved. In collaborative planning13 investors, land- owners and public institutions are primarily seen as stakeholders to be involved in planning. Special interest groups such as environ- mental organizations or cyclists-lobbyists may be seen as negot- iation partners, but to mobilize the citizens who are the (future) residents is considered much more complicated. The language and discourse of planning are not easily accessible for citizens, which is often interpreted as a lack of interest or capacity. When attempting 'inclusive planning‘ often ‘vulnerable groups‘ are defined (such as ‘immigrant women‘) and planned for, instead of planned with. Or as Fainstein/Servon put it: ‘Women become part of the scene, not part of the action.‘14

Example: Gendered participation methods Gender-aware participation processes have shown that adapting the time, place and media of communication over planning issues Women become part of the scene in collaborative can lead to a substantially increased involvement of citizens, and planning (Foto: Tussen Ruimte, 2005). women in particular. One example is the ‘Gender equal city?‘ project of Hudson and Rönnblom together with Umeå City Council15 organizing brainstorms and focus-group interviews to articulate women’s views on the city. Already in 2000 Horelli and the Eurofem network developed a „Toolkit for the involvement of women in regional planning“. A more recent project in Helsinki shows that gendered ICT (information, and communication technology such as internet survey and simulation games) can also be an effective tool for involvement.16 To summarize the questions that need to be asked when analyzing the planning process: Which points of departure inform the plan: -- choice of statistics -- models of time-space patterns

12 stratigakos 2011; Anthony 2001; Greed 1994. 13 Healey 2005. 14 Fainstein, Servon 2005, introduction. 15 Hudson, Rönnblom 2009. 16 Horelli, Wallin 2010. 107 Lidewij Tummers

Who is adressed with: -- planning criteria? -- planning interests? How is decision-making performed: -- type of interaction -- type of documents -- terminology

Research methods The Gender Impact Assessment (GIA) method has not yet been widely applied to spatial planning. When doing so, it is necessary to take into account the specific features of the profession. This means for example not only looking at texts and statistics, but also at maps and technical briefings and the language and symbols these contain. Some themes for the evaluation of concrete planning proposals have been mentioned above. Such concrete proposals need to be contextualized in the general standard of planning criteria, as effects of regulations will influence planning decisions and limit the possibilities for planning alternatives. It is then necessary to move to another level and perform a GIA on the vigilant framework, for example zoning plan codes or the local Building Act. These become a source of gender codes when the impact on for example density, mixed use or road profiling on services, safety and accessibility for different user groups is understood.17 Although there are universal (global) phenomena of gender-inequality, spatial plans are highly contextual and have a wider impact than just the planning area. For example the improvement of services in one location can mean the deterioration on other sites. At the same time, planning issues that cannot be solved on site can be remedied by making more accessible the surrounding environment. Likewise, decisions taken at one scale- level, for example expansion of a road, have impact on other scale-levels which may not be directly visible. Therefore planning proposals need to be evaluated in the light of national spatial (and housing) policy, regional development plans and the allocation of budgets. The use of statistics can be problematic, as these do not always differentiate according to gender. Like in planning legends, some elements may not appear for lack of categories or being quantitative small numbers even if the local qualitative impact is significant. Static data do not always show the dynamic tendencies, for example there may be a significant gender difference in the use of certain means of transport, however it may be more relevant to know if this difference is increasing or declining.

17 Tummers 2010a. 108 ForschungsForum 3 2 Finally, gender is not always the decisive variable. When defining the differences between user-groups, the question is which differences are relevant? And between which groups do these differences exist? Time-space patterns for reconciling home- and job responsibilities for example are not only important for the (re-)entrance of ‘housewives’ on the labour market, but increasingly important for single households consisting both of women and of men.

Example: Research by design In planning practice, the use of models, visualiza- tions and alternative scenarios is becoming part of decision-making especially in regional development.18 The actual drawing of maps and designing of forms in Developing a gendered view on urban space working with models. The result needs to be considered not so much a design product as learning process the geographical environment permits to quickly give on the way to articulate spatial needs and understanding the dynamic of insight to the potential as well as the limitations of a planning (Foto: Tussen Ruimte, 2005). planning situation. It allows for example to compare the surface needed for a certain number of dwellings when designed in different densities. The distances between certain nodes or the distribution of specific services become clear at a glance when visualized, whereas listing in text requires closer study to reveal the impact for travelling. ‘Scenario-writing‘ is a relatively new planning/research method, with which the impact of an ‘emancipated society‘ for spatial development can be explored. Gender-aware planning also makes use of the visualization of ‘ideal environments‘ to explore the spatial needs of women. Designing Utopia should not be read primarily as the proposal for new planning or urban models, but rather as emerging legends with which planning priorities can be revised and alternatives designed.19

Relation theory – practice Most European countries have inherited public regulations of spatial planning from the post-war reconstruction period based on the ‘Charter of Athens‘ at the 1933 Congrès International d’Architecture Moderne (CIAM).20 The European Council of Town Planners (ECTP) renewed the central aims of planning in the „new charter“ 2003.21 It recognizes many of the issues raised by gender-aware planning initiatives, and aims for inclusive planning.

18 Tummers 2010b. 19 Andrews 2007. 20 sert 1944. 21 european Council of Town Planners 2003. 109 Lidewij Tummers

However, it does not specify how planners can put this into practice.22 At present little is known about how spatial planning reproduces gender inequalities not only in the spatial models, but also through its procedures and regulations. Gender-aware planning experiments have brought forward new forms of knowledge and knowledge building, through the involvement of hitherto hidden participants and the mapping of time-space patterns. Theory has no effect if it is not rendered operational, yet at the same time it needs to be aware of the ambiguity of planning solutions. Especially relevant is the question if inclusive planning, equity planning or gender aware planning also means emancipatory planning, i.e. breaking with gender roles. As shown in many projects, gender- aware planning is good for everyone and the ‘women friendly city‘ anticipates many planning issues concerning the increasing number of senior citizens. In this way, gender-aware planning can be seen as innovation for the planning system, rather than primarily serving the needs of a diffuse, heterogeneous group called ‘women‘. In the transition in gender-theories from ‘women‘ to ‘gender‘ many of the initial planning proposals based on the ‘need of women‘ need to be revised.23

Example: Integrated cyclic process The sixth point of the Spanish Urban Renewal Act 2003 obliges planners to take into account different perspec- tives on the use of urban space. Beside, the F (female) is also sixth letter in the alphabet. In Barcelona, the women’s institute ‘Colectivo punt 6‘ initiated a trajectory of working with women in neighbourhood planning, training professionals to be aware of their special needs and forms of communication. The results were not only applied in local planning situations but also serve to publish new planning guidelines24 and feed into academic research.25 The national law thus lead to local action, at the same time building a body of knowledge26 that supports the professionals in their practice and can be distributed more widely.

Conclusion After designing alternative housing and urban models, the next step in feminist research in planning is to understand the production of space, and the presence of social models in the operational structures of spatial planning. These can be found at all levels: the planning criteria, the ways of representing stakeholders and target groups, regulations and specifications. Gender-aware researchers need to apply the instruments of planning and revise the legends of maps and scenario’s in the light of emerging gender roles and diversification of lifestyles and time-space patterns.

22 Tummers, Zibell in Vorber. [2012]. 23 Anderson 2011; Sandercock, Forsyth (1992). 24 muxí Martínez 2009. 25 www.estudiosurbanosgeneroyfeminismo.com (18.07.2011). 26 more information on www.punt6.net. 110 ForschungsForum 3 2 References

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112 2

ForschungsForum 4

Roswitha Kirsch-Stracke Genderkompetenz in ländlichen Räumen Von der Praxis zur Theorie und zurück

Was hat ein umgenutzter Bauernhof in Niedersachsen mit Reisanbau in Indien gemein? Das 4. ForschungsForum des gender_archland spannte am 25. November 2010 unter dem Titel „Genderkompetenz in ländlichen Räumen“ einen Bogen vom Gründerinnenzentrum UNSAhof in Leiferde bei Gifhorn zum nachhaltigen und geschlechterge- rechten Reisanbau in Kerala/Indien. Das erste Projekt zeichnet sich aus durch praktisches Tun, geboren aus den Ideen und Idealen der Initiatorinnen und den Bedürfnissen der Bewohnerinnen vor Ort. Das zweite Projekt wird mit einem breiten wissenschaftlichen Ansatz in einem sechsjährigen Forschungsvorhaben durch eine interna- tionale Gruppe junger WissenschaftlerInnen am Institut für Umweltplanung der Leibniz Universität Hannover bearbeitet. In Leiferde haben Frauen einen denkmalgeschützten Bauernhof umgenutzt und zu einem soziokulturellen Kristal- lisationspunkt entwickelt. Während sich den Männern im nahen VW-Werk Arbeitsmöglichkeiten bieten, finden viele Frauen in der Region kaum Stellen in ihren erlernten Berufen. Auf dem UNSAhof können sie gemeinsam und unter günstigen Rahmenbedingungen den Start in eine (neue) berufliche Selbstständigkeit wagen. Vorge- stellt wird das Projekt von den Initiatorinnen, der Bauingenieurin Sabine Wyrwoll und der Architektin Claudia Klement. Hintergrund des Forschungsprojektes BioDIVA, das die Agrarsoziologin Martina Padmanabhan leitet, ist der rapide Schwund von lokalen Sorten und ökologischer Vielfalt in Agrarsystemen. Im Hochland des indischen Bundes- staats Kerala gibt es noch eine große Vielfalt lokaler Reissorten, doch der dortige aktuelle Nutzungswandel geht mit einer Veränderung des Agrarökosystems und der Geschlechterverhältnisse einher. Die traditionell starke Integration von Frauen in komplexe Anbausysteme – z. B. als die Bewahrerinnen des Wissens über Arten und Sorten – und ihr damit verbundener sozialer Status sind durch die Globalisierung mit ihrer Fokussierung auf besonders lukrative Reissorten stark gefährdet. An diesen beiden Beispielen aus Niedersachsen und Kerala werden Kompetenzen und Lebenssituationen von Frauen im ländlichen Raum erörtert und ihr Beitrag zur nachhaltigen Landentwicklung diskutiert.

113 Claudia Klement Sabine Wyrwoll Der Markthof Ein Frauenprojekt in einer umgenutzten Hofanlage

Seit einigen Jahren arbeitet unser Frauen-Ingenieurbüro „Althaus-Konzept“ daran, die Lebensqualität in unseren Dörfern zu verbessern. Im Blick hatten wir vor allem, die Fähigkeiten, Kenntnisse und Fertigkeiten von Frauen im ländlichen Raum zu nutzen und weiterzuentwickeln. Das Konzept und den vor drei Jahren zur Verwirklichung der Idee gegründete Verein haben wir Markthof e.V. genannt.

Unser Konzept „Markthof“ Was ist ein „Markthof“? Der Markthof ist ein Gründe- rinnenzentrum in der Mitte des Dorfes. In erhaltens- würdigen Bauten können Frauen sich im Verkauf, in Dienstleistung und in der Bildungsarbeit als Existenz- gründerinnen versuchen. Diese Hofgemeinschaft – ein Team von mindestens sechs Frauen – unterstützt sich nicht nur bei der gemeinsamen Arbeit, sondern entwi- ckelt auch ein Veranstaltungs- und Fortbildungspro- gramm für die Dorfbevölkerung. Die Idee für unser Konzept entstand aufgrund unserer persönlichen familiären Situation. Wir erziehen Kinder und betreuen Eltern; außerdem haben wir Erfahrung im Die alte Hofanlage vor der Umnutzung 1994 (Foto: S. Wyrwoll, 1994). beruflichen bzw. ehrenamtlichen Alltag: als Vereins- mitglieder der „Interessengemeinschaft Bauernhaus“ bieten wir eine kostenlose Bauberatung zur Sanierung alter Häuser an.

114 ForschungsForum 4 2 Aus diesen Tätigkeiten resultieren zwei Fragen: -- Wie vereinbart man Familie und Beruf? -- Wie rettet man alte Bauernhäuser in unseren Dorfkernen? Als Antwort entstand die Idee, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen und eine ungenutzte Hofanlage für ein Frauenprojekt zu revitalisieren. Als Pilotprojekt ist die Hofanlage UNSAhof in Leiferde im Landkreis Gifhorn geplant und realisiert worden.

Das Pilotprojekt „UNSAhof“ in Leiferde Der UNSAhof ist eine denkmalgeschützte Hofanlage im alten Dorfkern von Leiferde. Leiferde hat ca. 4 000 EinwohnerInnen, eine gute Infrastruktur und eine Bahnverbindung nach Hannover bzw. Wolfsburg. Der Hof wird baulich dominiert von einem 1860 gebauten niederdeutschen Hallenhaus; auch ein lang gestreckter Schwei- nestall und eine Scheune gehören zu dem Ensemble. Vor dem Umnutzungsprojekt hatte die Hofanlage an der Hauptstraße einige Jahrzehnte fast leer gestanden. Mitte der 90er-Jahre erwarb Sabine Wyrwoll – Bauin- genieurin des Büros Althaus-Konzept – die Gebäude und baute im ersten Bauabschnitt zunächst eine Wohnung für die eigene Familie aus; ab dem Jahre 2002 folgte der weitere Ausbau der Hofstelle zum Markthof. Heute nutzt die Hofgemeinschaft eine Gesamtfläche von 535 qm, die sich folgendermaßen verteilt: Wohnen 200 qm, Büroräume 125 qm, Läden/ Werkstatt 100 qm, Kulturscheune 110 qm. Im Freiraum gehört zu der Hofanlage ein 80 qm großer Schauer (Vordach an der Scheune), ein Hof für gemeinsame Feste und ein Privatgarten. Zurzeit sind wir 19 Frauen, die den UNSAhof gemeinsam bewirtschaften. Die vier Nutzungsbereiche der Hofanlage (Zeichnung: C. Klement, 2005).

Der Name „UNSAhof“ ist abgeleitet von “unser Hof“. Die Frauen mit ganz unterschiedlichen Berufsausbil- dungen und Lebenssituationen nutzen das Projekt, um ihre Vorstellung von Beruf, Hobby und Gemeinschaftssinn umzusetzen. Es gibt die Existenzgründerin, die sich nach der Familienphase mit eigenem Laden oder Büro selbst- ständig macht, und die langjährig Berufstätige, die sich eine kreative Tätigkeit im Nebenerwerb wünscht, oder die ältere Frau, die im Rentenalter den gesellschaftlichen Anschluss nicht verlieren möchte. Unsere Vereinsfrauen und Mieterinnen sind – und das war uns im Vorfeld so nicht bewusst – nicht die alteinge- sessenen Landfrauen und Bäuerinnen, sondern in erster Linie Frauen, die wie wir, die Initiatorinnen des Markt- hofes, in der Familienphase in den ländlichen Raum gezogen sind. Die gemeinsam genutzte Hofanlage gibt

115 Claudia Klement | Sabine Wyrwoll

uns Frauen eine Identifikationsmöglichkeit und eine Anerkennung innerhalb der Dorfgemeinschaft. Als Verein haben wir ein hofeigenes, vielfältiges Veran- staltungs- und Bildungsprogramm für die Dorfbevöl- kerung entwickelt. Zu unseren Angeboten gehören: Fortbildungen und Gesprächskreise für Frauen in Beruf und Ehrenamt, Hoffeste und Kunsthandwer- kermärkte, Kreativkurse für Kinder und Erwachsene, Informations- und Beratungstage zur Sanierung und Umnutzung alter Bauernhäuser. Acht Jahre betreiben wir nun schon den UNSAhof, immer noch als ersten und bisher einzigen Markthof Die acht Gründerinnen des Vereins Markthof e. V. (Foto: C. Klement, 2008). im Landkreis Gifhorn. Wir haben gelernt, wie sich das anfängliche Grundkonzept den tatsächlichen Begebenheiten anpasst. Wichtig für einen Markthof ist die Akzeptanz und Nutzung durch die Dorfbevölkerung. Die Grundidee kann nur gelingen, wenn man es schafft, die Hofanlage gleichzeitig als soziokulturellen Treff- punkt auszubilden. So war es für uns ganz wichtig, Vereine und die Kirchengemeinde in unsere Aktivitäten mit einzubeziehen, um dem anfänglichen Misstrauen und den Vorurteilen („die spinnerten Weiber auf dem Hof“) entgegenzuwirken.

Ausblick und Vision: ein Netzwerk von Markthöfen Wir möchten erreichen, dass unser Konzept von der Landesregierung als förderwürdiges Modellprojekt anerkannt wird, vergleichbar mit dem vom Familienministerium anerkannten Modell der Mehrgenerationenhäuser. Der Markthof soll ein wichtiger Bestandteil für die ländliche Infrastruktur werden. Zunächst ist ein Netzwerk von zehn Markthöfen im Landkreis Gifhorn geplant. Unsere Aufgabe für die Zukunft wird sein, interessierten Gemeinden ein Konzept zur Realisierung eines Markthofes anzubieten. Für die Dorfgemeinden ergeben sich drei überzeugende Gründe, sich für einen Markthof zu entscheiden:

1. Arbeitsplätze für Frauen Frauen in der Familienphase finden in unseren Dörfern schwer angemessene Arbeitsplätze. Arbeitsplatzangebote in der Stadt sind aufgrund des zeitlichen und finanziellen Aufwandes häufig nicht annehmbar. Bezahlbare Gewerbefläche für den Aufbau einer selbstständigen Existenzgrundlage ist in der dörflichen Struktur selten zu finden. Der Markthof bietet den Frauen die Möglichkeit, sich eine berufliche Existenz wohnungsnah aufzubauen. Hier finden sie ein soziales und wirtschaftliches Netzwerk von gleichgesinnten Gründerinnen. Das Netzwerk bietet den Frauen gerade in der Anfangsphase die notwendigen Hilfen und stärkt ihr Selbstbewusstsein.

116 ForschungsForum 4 2 2. Erhalt und Umnutzung alter Bausubstanz Der Erhalt der historischen Ortskerne mit der zum Teil wertvollen Altbausubstanz ist eine zentrale Aufgabe für unsere Dorfgemeinden: Er fördert die Identifi- kation mit dem Dorf, auch werden die hohen Infra- strukturkosten für die Bebauung an den Ortsrändern verringert. Die vom Leerstand und Verfall bedrohten großen Bauernhäuser und Scheunen in der Ortsmitte bieten sich ideal für eine Umnutzung in Markthöfe an. In diesen Räumlichkeiten lässt sich das neue Nutzungskonzept – viele kleine bezahlbare Gewer- beeinheiten und ein zentraler Treffpunkt für Gemein- schaft, Fortbildung und Kultur – bestens realisieren. Im ehemaligen Schweinestall befinden sich drei Läden (Foto: C. Klement, 2007). 3. Wirtschaftliche und kulturelle Stärkung der Dörfer, Wohnqualität für Familien Die Landwirtschaft hat aufgrund des allgemeinen Strukturwandels in vielen Dörfern ihre vorrangige Bedeutung verloren. Die Bevölkerung nutzt die Dörfer vielfach nur zum Wohnen und Erholen, Arbeitsplätze sind kaum vorhanden. Aufgrund der prognostizierten demografischen Entwicklung für den ländlichen Raum – Überalterung, Abwanderung – tauchen neue Probleme auf. Ein Markthof in der Mitte des Dorfes ist ein wichtiger Beitrag, um die Wohnqualität und die Wirtschaftskraft im ländlichen Raum zu stärken. Es werden Arbeitsplätze geschaffen und es entsteht ein Zentrum für Weiterbildung, Kultur, Dienstleistung und Einzelhandel in der Dorfmitte, alles ortsnah bequem zu erreichen. Für Familien und SeniorInnen, die auf gute Infrastruktur und kurze Wege angewiesen sind, erhöht sich die Wohnqualität in den Dörfern. Das Dorf bleibt für sie als Wohnort lebenswert. Wir sind überzeugt: Der Markthof ist eine Chance für Frauen, Familien und alte Höfe auf dem Lande.

117 Martina padmanabhan Geschlechtergerechte Transformationsprozesse in Indien

Gegenwärtig ist der Reisanbau im indischen Bundesstaat Kerala durch massiven Verlust an landwirtschaftlicher Artenvielfalt geprägt. Um dieses Landnutzungssystem hin zu nachhaltigeren Strategien zu entwickeln, bedarf es eines umfassenden Transformationswissens. Die bestehende landwirtschaftliche Praxis und die entsprechenden Institutionen sollen in ökologischer, ökonomischer und sozialer Dimension verändert werden, gleichzeitig soll dieser Wandel mit mehr Geschlechtergerechtigkeit einhergehen. Wie kann das Maß für Gerechtigkeit angemessen angelegt werden? Dabei spielen Identität und die konstitutiven Beziehungen zu anderen eine entscheidende Rolle, die uns mit Emotionen und Gefühlen ausstatten und einen direkten Zugang zu Moral und Gerechtig- keitsempfinden erlauben. Mit der Analyse der Verhandlungen an den Intrafaces schlage ich eine Konzeption des Mensch-Natur-Verhältnisses vor, das kontextsensibel und spezifisch Gerechtigkeitsvorstellungen erfassen kann.

Die menschliche Frage nach Gerechtigkeit Nichts ist so stetig wie der Wandel, aber wohin verändert sich eine Gesellschaft? Die Nachwuchsforschungs- gruppe BioDIVA1 untersucht aus einer inter- und transdisziplinären Perspektive heraus die Nutzung der Arten- vielfalt in der Landwirtschaft am Beispiel des Reisanbaus in Kerala, Südindien.2 Dabei ist ganz dezidiert der Blick auf normative Ziele wie Geschlechtergerechtigkeit und Nachhaltigkeit gerichtet. Wie kann solch eine Nutzung gelingen und was für ein Wissen ist auf dem Weg hin zu dieser Gesellschaft nötig? Transformation heißt Verän- derung eines bestehenden Systems; dieser Systemübergang erfordert Wissenskomponenten, um zu nachhaltigen und geschlechtergerechten Ergebnissen beizutragen. Ganz besonders stellt sich dabei die Frage, wie europäisch geprägtes, feministisches Theoriegut und empirische Forschungen in Indien an dieser Generierung von Transfor- mationswissen beteiligt sein können.

1 BioDIVA 2011, s. hierzu auch den Beitrag von Hannah Arpke und Isabelle Kunze in diesem Band. 2 Für eine Beschreibung der Problemsituation s. Padmanabhan 2011.

118 ForschungsForum 4 2 Die Frage nach Gerechtigkeit berührt uns in unseren Werten und Überzeugungen; sie spiegelt Überein- stimmung, aber auch Unzufriedenheit mit beste- henden Verhältnissen wider. Sie rüttelt am Status quo der Zugänge, Chancen und Verteilungen. Gleichzeitig evoziert die Frage nach Gerechtigkeit eine Konkre- tisierung der Vorstellung, wie solch eine Zukunft aussehen soll. Wie könnten die Verhältnisse anders geordnet sein und welcher Prozesse bedarf es dazu? Deshalb möchte ich von einer kurzen Reflexion des aktuellen Standes der Geschlechtergerechtigkeit in der Bundesrepublik Deutschland ausgehen, um das moralisch-intellektuelle Klima zu umreißen, in dem diese Forschung stattfindet, als auch damit einen Standpunkt zu beschreiben, von dem aus die Suche Die Paniya vor einem Ritual in der Feldmark in Wayanad, Kerala. nach Wegen zu mehr Geschlechtergerechtigkeit in (Foto: Melvin Lippe, 2010). Indien unternommen wird. In ihrem klugen Artikel über „Die Intellektuelle: gestern, heute und morgen“ konstatiert Barbara Vinken die De-jure-Gleichheit der Geschlechter in der Bundesrepublik als erreicht. Wer aber darauf besteht, nach der De-facto-Gleichheit zu fragen und auf Ungerechtigkeiten aufmerksam macht, so Vinken weiter, beweist Ungeduld, Paranoia und ist eine Nervensäge. Was nachdenklich und besorgt macht, ist eine Art bundesdeut- scher Konsens: Das Verleugnen des Faktums Ungleichheit zwischen Mann und Frau gehört zum guten Ton. Beharrt dennoch jemand auf der Wahrnehmung der ungleichen Lage, ist niemand amüsiert.3 Das spiegelt meinen Eindruck der Stimmungslage auch in wohlwollenden akademischen Zirkeln ganz gut wider. Dahingegen wird das Reden über die indigene Frau, die ganz natürlich natürliche Ressourcen schützt, mit Beifall begrüßt. Bei den anderen, weniger Entwickelten wird die vermeintliche Unterdrückung und dringender Bedarf an Emanzipation ausgemacht. Wie kann die Berücksichtigung der Dimension Geschlecht im Biodiversitätsmanagement zu einer Schärfung statt zu einer Plakatisierung führen? Lassen Sie mich kurz die von Vinken ins Spiel gebrachten gängigen Erklärungsmuster für Geschlechterungleichheit skizzieren, die in der Lage sind, die zutiefst menschliche Frage nach Gerechtigkeit im Keim zu ersticken, ihr die Legitimitätsgrundlage zu nehmen und dem politischen Emanzipationsprojekt allenfalls eine individuelle Proble- matik zuzuerkennen. Schwergewichtige Themen wie Macht und Wandel, Werteorientierung und Geltungsan- sprüche von Aussagen stehen in Gefahr, durch Trivialisierung ihres Erkenntnispotenzials entledigt zu werden. Erstens Macht: Die ungleiche Vereilung von Mitteln, Chancen und Macht zwischen Männern und Frauen wird mit sozial bedingter Präferenz erklärt oder als stochastisches Phänomen zur Kenntnis genommen. Zweitens Wandel: Eine Argumentationsfigur, die die kritische Beurteilung der Gegenwart unterläuft, ist der Verweis auf die histo-

3 Vinken 2010: 14. 119 Martina padmanabhan rische Dimension der Emanzipation als ein junges Unterfangen, das immerhin einige Fortschritte zu verzeichnen habe. Drittens Wertorientierung: Für den biologischen Determinismus, auch wenn er inzwischen verhaltener daherkommt, ist die Ungerechtigkeit in der Natur angelegt. Die Natur der Frau neige dazu, sich der Bewahrung und Erhaltung zuzuwenden, statt ihren Anteil einzufordern. Viertens Geltungsansprüche von Aussagen: Frauen wird abgesprochen, abstrahierend zu sprechen. Wann immer sie sich artikulieren, werden sie nicht als Mensch, sondern als Frau wahrgenommen. Wer nur partikular ist, hat keine Definitionsgewalt und weniger Recht. Diese Wendungen zur Depolitisierung von Gerechtigkeitsforderungen sind in dieser oder ähnlicher Form als Argumen- tationsmuster auch im indischen Diskurs auszumachen. Festzuhalten bleibt, dass Macht und Machtlosigkeit in einem historischen Zusammenhang stehen und Wertorientierungen mehr mit Identität denn mit Universalismen zu tun haben. Diesen Begriffen soll im Folgenden nachgegangen werden.

Identität, Geschlechternormen und Gefühle Menschsein ist in der Selbstwahrnehmung unproblematisch, unmenschlich ist es, wie ein Tier behandelt zu werden. Aber kein Mann, keine Frau bzw. kein „richtiger“ Mann oder keine „richtige“ Frau zu sein, ist angstbe- setzt, weil es unsere Identität untergräbt: Nichterfüllen der Geschlechternormen löst Angst aus – bekannter- maßen kein guter Ratgeber, um positiven Wandel herbeizuführen. Die Vorstellung, was geschlechtergerecht sein mag, baut also direkt auf der Vorstellung auf, was Geschlechter denn sind. Der innewohnende Antagonismus „weibisch ist unmännlich“ und „vermännlicht zu sein ist unweiblich“ macht uns für Fragen der Geschlechter- gerechtigkeit hochsensibel und anfällig: anfällig für ein Verteidigungs- und Rückzugsgefecht, das mit dem Versprechen wirbt, nicht wirklich vom weiblichen Ideal abweichen zu wollen und Kindererziehung, soziale Netzwerke und Versorgung weiterhin zu gewährleisten. Das Überschreiten der Geschlechtergrenzen, und sei es nur im Diskurs, ist angstbesetzt. Die Forderung nach Geschlechtergerechtigkeit ist ein Fantasieschritt, ein utopisch gedachter Weg vorwärts. Eine tief sitzende „gender anxiety“ steht hinter der Beklemmung, die sich bei der Frage einstellt: Wer bin ich, wenn nicht Mann, nicht Frau? Und diese „gender anxiety“4 ist eine große, kontinuierliche Herausforderung, über Ungleichheit zu sprechen und zu forschen. Die Übertretung der Geschlechtergrenze wird also mit Weiblichkeits- bzw. Männlichkeitsverlust bestraft. Im mitteleuropäischen Kontext, der durch eine weiße Mittelklasse geprägt ist, sieht sich Männlichkeit mit den Themen Körperlichkeit, Privilegien und Vielfalt konfrontiert. Die ernüchternde Selbstwahrnehmung als körperlich eingeschränkter und deshalb unvollkommener Mensch steht im Gegensatz zum willensgesteuerten, rationalen Selbstbild. Die männliche Identität erfährt eine erniedrigende Relativierung der eigenen Rolle durch die Erkenntnis der Teilhabe und Nutznießerei an historisch weitergereichten und verteidigten Privilegien. Mit der Zunahme von Frauen und ethnisch Anderen in der Öffentlichkeit schwindet die Bestätigung durch gewohnte Homogenität und dies löst Ängste aus. Diese Angst ist die Verlust- und Konkurrenzangst um die männliche Definition von Mann und Frau, was sie sein sollen und was bei Überschreitungen bekämpft und bestraft wird. Hier fallen zwei sich konstituierende

4 Vinken 2010: 16. 120 ForschungsForum 4 2 Elemente zusammen, die ich für erklärungsrelevant für die Geschlechtergerechtigkeit halte: Die Einforderung von Gerechtigkeit heißt Wandel, der per definitionem mit Verlust, Verwischung und Verunsicherung, das heißt mit Emotionen einhergeht. Diese Unsicherheit und Angst tritt nicht als offene Frauenfeindlichkeit zutage. Sie versteckt sich unter dem blickdichten Mäntelchen der De-jure-Gleichstellung und verschiebt - mit den schönen Worten von Barbara Vinken - „die phantasmatische Artikulation der misogynen Struktur“5 auf eine unartiku- lierbare Ebene. Was heißt diese etwas ernüchterte Bestandsaufnahme des „doing gender“ oder Geschlechtertheaters im wissen- schaftlichen Diskurs über Geschlechtergerechtigkeit für den ländlichen Wandel in Indien? Während ganz schnell das Thema „Geschlechterverhältnisse und biologische Vielfalt“ zum Topos „dunkelhäutige Frauen in bunten Gewändern arbeiten unter freiem Himmel mit der Natur“ mutiert, so wird die heiße politische Auseinandersetzung von Männern und Frauen in einer Welt der Knappheit umweltökonomisch zu einem „warm glow effect“ reduziert. Doch Geschlechtergerechtigkeit lässt sich nicht mit dem warmen, wohligen Gefühl erreichen, das Spender beim Akt des Gebens umso stärker überfällt, je höher die Spende ausfällt. Dennoch führt uns dieser Kommentar aus der Perspektive der Ressourcenökonomie, der Geschlechtergerechtigkeit mit altruistischem Handeln gleichsetzt, zu einem zentralen Begriff bei der Suche nach Gerechtigkeit: die Gefühle. Lange verpönt, erleben sie in der experimentellen Ökonomie an der Schnittstelle zu Neurowissenschaften derzeit eine Renaissance.6 Ich möchte mich weiter der Frage nach Gerechtigkeit und dem „Guten Leben“ zuwenden und dabei Martha Nussbaum7 zu Hilfe nehmen, die Gefühle als eine grundlegende moralische Ausstattung deutet.

Gefühle der Gerechtigkeit und Gleichheit Martha Nussbaums theoretisches Engagement für globale Fragen der Gerechtigkeit und Gleichheit ist sensibel gegenüber partikularen Besonderheiten von Lebenskontexten und unterschiedlichen kulturellen Traditionen, ohne mit einem einfachen Relativismus die kritische Funktion normativer Theorien zu schwächen.8 Die Frage nach dem „Guten Leben“ wendet sie auf die Herausforderung des Zusammenlebens in einer komplexen Welt vielschichtiger Differenzen und gravierender ökonomischer Ungleichheiten an. Was ist angemessene Lebensführung unter den spezifischen Bedingungen unseres Menschseins und unseres Selbstverständnisses im konkreten Lebenskontext konkreter Menschen? Nussbaum fragt also nicht nach absoluten Wahrheiten, sondern nach den empirischen Bedingungen, unter denen Menschen handeln. Die „menschliche Natur“ ist deshalb ein Schlüsselbegriff, der sich nicht objektiv klären lässt, da wir keinen Standpunkt außerhalb des Menschen einnehmen können. Deshalb schlägt Nussbaum einen besonderen Augenmerk auf die spezifischen Bedingungen unseres Menschseins vor, wie zum Beispiel begrenzte Lebenszeit und eine hohe Abhängigkeit von externen Faktoren. Sie plädiert damit für einen internen Realismus,

5 Vinken 2010: 17. 6 emotionen spielen bei der Entscheidungsfindung eine konstitutive Rolle, wie Antonio Damasio (2003) in neurologischen Forschungen oder die Nobelpreisträgerin der Ökonomie Elinor Ostrom (2003) in ihrer Arbeit zeigen. 7 Nussbaum 1999: 131 ff. 8 Pauer-Studer 1999: 12. 121 Martina padmanabhan

d. h. eine Aufarbeitung, Überprüfung und Bestätigung unserer Wissensannahmen. Objektivität normativer Behauptungen kann nur aus dem Einverständnis moralischer Subjekte über geteilte Überzeugungen und nicht durch Berufung auf externe Parameter gewonnen werden. Nussbaum stellt nicht Prinzipien auf den Prüfstand, sondern beschreibt, wie tief der moralische Reflexionsprozess über Gerechtigkeit mit Identität verwoben ist und mit den dafür konstitutiven Beziehungen zu anderen. Die Frage nach der morali- schen Angemessenheit unseres Tuns und Lassens ist ohne moralische Empfindungen und Gefühle nicht zu beantworten. Moral wird vom „Fortgang der Gefühle“, also der emotionalen und identifikatorischen Paniya berichten über die Landarbeit (Foto: Lydia Betz, 2011). Bewertung von Verhalten, umgesetzt und ist nicht auf eine Kosten-Nutzen-Dimension oder Prinzipien und Regeln zu reduzieren.

Das zum „Guten Leben“ Notwendige Nussbaum identifiziert in einer offenen Liste die für ein gutes menschliches Leben notwendigen Bedingungen. Damit beschreibt sie die Elemente, die im jeweiligen Kontext spezifisch zu erfüllen sind, wie Gesundheit, Arbeit und Arbeitsbedingungen, die wirtschaftliche Situation, Bildung und Wissen, Familie und soziale Integration. Wohnen, Sicherheit, Freizeit und Kultur und politische Partizipationsmöglichkeiten gehören auch dazu. Bereiche wie Freizeit, Spiel, Humor und die Beziehung zur Natur zielen auf die Gestaltung politischer Systeme und Gesell- schaftsordnungen, die Menschen ein reichhaltiges und erfülltes Leben ermöglichen, ohne sie auf ein rein ökono- misches Verständnis von Wohlfahrt zu reduzieren.9 Diese Umdefinition des Begriffes „Wohlergehen“ löst eine reine Präferenzerfüllung ab und greift tiefere Wertedimensionen auf. Eine Konzentration auf Präferenzen scheint für eine Aufdeckung von Frauendiskriminierung nicht tauglich zu sein. Durch die oft unhinterfragte kulturelle Dominanz von patriarchalen Traditionen in ländlichen Räumen sind die Selbstbeschneidung und der Verzicht auf berechtigte Ansprüche meist so internalisiert, dass die Frage nach Präferenzen – also nach den unmittelbaren Wünschen und Bedürfnissen – den Kern des Problems verfehlt. Der vorläufige Charakter der Liste des Guten ist also durch aktive Teilnahme der betroffenen Frauen in eine kontextsensible und spezifische Liste zu übersetzen. Es geht nicht darum, Menschen eine bestimmte Form des Lebens vorzuschreiben, sondern die Voraussetzungen zu schaffen, damit Individuen die autonome Wahl eines Lebensplanes überhaupt offensteht.

9 Nussbaum 2003: 15. 122 ForschungsForum 4 2 Dabei kommt es zu einer komplexen Verschränkung von materiellen und immateriellen Werten, von Gütern und Werthaltungen. Die Herausforderung der Geschlechtergerechtigkeit steht Wertkonzeptionen entgegen, die das Ideal der Gleichheit untergraben. Eine für partikulare Besonderheiten offene Ethik kommt nicht ohne Einbeziehung von Emotionen aus. Stereotype Verhaltensideale zwingen westliche Männer oft zu einer Verleugnung von Gefühlen, was ihre tiefsten und wertvollsten Bindungen zerstört und sie anfälliger für Gewalt macht. Nussbaum10 plädiert für eine veränderte Sicht auf Emotionen und die Auflösung der herkömmlichen Geschlechtersymbolik, die einerseits Männern Gefühle ab- und einzig Frauen zuspricht bzw. als Erbe des Kolonialismus Empfindungen häufig auf Menschen fremder Kulturen in abwertender Absicht projiziert. Ganz besonders sind Frauen diesem Mechanismus der wechselseitigen Vorurteilsverstärkung ausgesetzt. Statt universelle Prinzipien in den Mittelpunkt zu stellen, entwirft Nussbaum auf der geteilten Menschlichkeit und den moralischen Empfindungen Achtung und Mitgefühl, die Empathie ermöglichen, ein Projekt für das „Gute Leben“.

Geschlechtergerechtigkeit in Indien Auf dem indischen Subkontinent befinden sich Lebenswelten im Übergang, Systeme der Ressourcennutzung ändern sich und traditionelle wie auch moderne Institutionen werden neu geformt. Der Verlust der Arten- vielfalt in der Landwirtschaft steht hier für die weitreichenden Folgen einer Reorganisation der Nahrungspro- duktion im Zug der Grünen Revolution11. Ansätze zur Erhaltung lokaler Agrarbiodiversität als auch solche im Management natürlicher Ressourcen basieren auf vier Annahmen12: Erstens, lokale Gemeinschaften sind homogen und teilen sich einen geografischen Raum wie ein identisches Verständnis desselben. Zweitens, die traditionellen Arbeitsbereiche sind „natürlich“ und tragen per se zur Ressourcenerhaltung bei. Drittens, die Dezentralisierung ermöglicht effizientes Ressour- cenmanagement, wobei – viertens – Partizipation und Selbsthilfe den Schlüssel zu gerechter und nachhal- tiger Ressourcennutzung darstellen. Alle vier Punkte beinhalten einige Wahrheiten, aber auch Fallstricke für marginalisierte Teilgruppen auf lokaler Ebene. Sozialkulturelle Praktiken und Geschlechterideologien, die die Autonomie, Mobilität und Fähigkeit von Frauen Bäuerinnen kommentieren Bilddokumente (Foto: Lydia Betz. 2011).

10 Nussbaum 2003: 20. 11 Die „Grüne Revolution“ umschreibt die enormen Ertragszuwächse, die in den 1960er-Jahren durch Züchtungsfortschritte in Kombi- nation mit Anbautechnologien und institutioneller Verbreitung erzielt wurden. Sie trug maßgeblich zur Nahrungsmittelselbstver- sorgung Indiens bei und gilt gleichzeitig als eine Hauptursache für Artenverlust und sozial-ökologische Probleme. 12 Krishna 2004. 123 Martina padmanabhan einschränken, werden oft übersehen. Ungleichheiten des Zugangs und der Kontrolle innerhalb des Gemeinwesens und im Haushalt werden ignoriert, ebenso ungleiche Machtverhältnisse zwischen Männern, zwischen Frauen und zwischen Männern und Frauen. Menschen und natürliche Ressourcen sind Teil einer Lebenswelt, die durch menschliche Aktivität gestaltet wird und die jene wiederum prägt. Existierende kulturelle Praktiken des Managements sind verwoben mit dem Funkti- onieren einer sozialen Struktur, die sich in Zeit und Raum durch einen Prozess der Verhandlung und Ausein- andersetzung herausgebildet und weiterentwickelt hat. So beschreibt Leela Dube13 die Verbindung zwischen Familienideologie und materieller Unterordnung am Beispiel des Symbolismus von Samenkorn und Erde. In Indien deuten Hindus, patrilineare indigene Gruppen und ländliche Muslime die menschliche Reproduktion in Begrifflichkeiten des männlichen Samens14, der in der weiblichen Erde des Feldes keimt und wächst.15 Dube argumentiert, dass der implizit ungleiche Beitrag der beiden Geschlechter durch das Symbol des Samens und der Erde dazu dient, ein System zu begründen, in dem Frauen von den produktiven Ressourcen ferngehalten werden und entfremdet sind, keine Kontrolle über ihre eigene Arbeitskraft haben und ihnen die Rechte über ihre eigenen Nachfahren vorenthalten werden. Mit diesem Beispiel der Beziehung zwischen Frauen, Männern und Natur wird deutlich, was für eine ideologische Kraft eine geschlechtlich aufgeladene Konstruktion entfaltet und für die Stabilisierung der Wahrnehmung des Mannes als Beschützer und Versorger bedeutet. Frauen können neben diesem starken Bild nur noch als unterstützend in der Produktion wahrgenommen werden. Um die emotionale und moralische Tragweite der Analogie Samen und Erde zu ermessen, ist es wichtig, sich den gesellschaftlichen Kontext in Indien vor Augen zu führen. Bei allen Umbrüchen durch Kolonialismus und Moderne ist Indien eine hierarchische Gesellschaft.16 Bereits innerhalb der Familie existieren verschiedene Hierarchien des Alters, des Geschlechts, der Rangfolge, der mütterlichen und väterlichen Linien. Diese treffen auf Hierarchien in der Gesellschaft, die sich aus Kaste, aber auch Abstammung, Bildung, Vermögen, Beruf und Einfluss zusam- mensetzen. All diese Hierarchien werden durch eine komplexe Kombination aus Bräuchen, Funktionalität und religiösen Überzeugungen aufrechterhalten und integriert. Die Strenge und Dominanz dieser Hierarchien wird abgemildert durch ein starkes Gefühl der Achtung gegenüber Höherrangigen und eine Reihe an Verhaltensko- dizes, die jene dazu bringen, ihre Verpflichtungen gegenüber Abhängigen zu erfüllen. Chitnis misst der philo- sophischen Haltung der Selbstverleugung und der kulturellen Betonung der Sublimation des Egos eine hohe Bedeutung zu.

13 Dube 1986. 14 Das Bemerkenswerte dabei ist, dass trotz großer sozialer und historischer Unterschiede die Mehrheitsgesellschaft der Hindus mit der Minderheit der ländlichen Muslime und auch den Ureinwohnern in ihrer jeweiligen patrilinearen Tradition diese Symbolik teilt – im Gegensatz zu matrilinearen Gruppen. 15 Dube betont weiteren kulturvergleichenden Forschungsbedarf. 16 chitnis 2004. 124 ForschungsForum 4 2 Gerechtigkeit und Hierarchie Eine weitere Dimension der Gefühle, die letztlich Werthaltungen ausdrücken, erscheint mir als erklärungsrelevant, um der Frage nach Geschlechtergerechtigkeit in Indien erfolgreich, d. h. transformativ nachgehen zu können. Wie bereits ausgeführt, ist die hierarchische Familien- und Gesellschaftordung, die eine starke Anpassung sowohl von Frauen als auch Männern an die Normen und Leitbilder ihrer identitätsstiftenden Gruppe fordert, prägend für ihre Sozialisation.17 Die Betonung des Gruppenverbandes vor individuellen Zielen und Erfolgen kann als konsti- tutiv für die Gesellschaftsstruktur gesehen werden. Chitnis beschreibt die Ideologie der persönlichen Freiheit als ein neues Phänomen für Indien. Sowohl indische Männer als auch indische Frauen leben unter rigiden Hierar- chien. Sie haben gelernt, ihre Freiheit zu beschränken, ihre Bedürfnisse zu unterdrücken und ihr Selbst zurück- zunehmen. Die politischen Freiheiten durch die Demokratisierung und das damit verbundene Wertesystem habe völlig neue Möglichkeiten persönlicher Freiheit, der Subjektivität und der Autonomie eröffnet.18 Diese Orientierung wird gerade bei der Heirat deutlich, das zentrale soziale Lebensereignis, das Familien dauerhaft verbindet. In der Regel wird innerhalb der Communities, also endogam durch arrangierte Ehen geheiratet, die auf soziale Ähnlichkeit, enge Anbindung an den Familienverband und die Auswahl des Partners durch die Eltern setzen. Neben der Segregation der (Heirats-)Gemeinschaften ist das soziale Leben der Geschlechter durch Trennung bestimmt. Deshalb sind laut Chitnis zwei Beziehungsmuster wichtig für die Überwindung der „gender anxiety“ im öffentlichen Raum, weil sie die Matrix für ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen Männern und Frauen bilden. Das Muster der Bruder-Schwester-Beziehung als auch das der Vater-Tochter-Beziehung werden in Indien gerne auf Kontexte jenseits des familiaren Rahmens übertragen. Die Bezugnahme auf enge und vertrau- ensvolle Bindungen, die Fürsorge und Unterstützung bei gleichzeitiger Ausschaltung einer möglichen sexuellen Komponente zitiert, erlaubt einen zugewandten und freundschaftlichen Umgang auch in formalen Situationen. Diese Verhaltensmuster sind eine Grundlage für einen gemeinsamen Wandel hin zu mehr Geschlechtergerech- tigkeit. Gleichzeitig ist der familiengesteuerte Zugang zu Ressourcen und Möglichkeiten der zentrale Ort für konflikthafte Verhandlungen über Geschlechterverhältnisse.19 Nehmen wir Gefühle als moralische Instanz und Motivation ernst, dann ist es wichtig zu erkennen, dass die Ausei- nandersetzung über westliche und indische Geschlechterarrangements durchaus zu verschiedenen Reaktionen führen kann. Das auf Individualität ausgerichtete westliche Wertesystem, insbesondere die deutsche Ausprägung, bevorzugt die Konfrontation von Ideen, während in der indischen Kultur der Erhalt des Beziehungsgefüges von großem Wert ist und der Kompromiss geschätzt wird.20 Der Umgang mit Widersprüchen und Konflikten unter- scheidet sich in der westlichen und der indischen Kultur. Der Westen folgt einem Bedürfnis nach Konfrontation und kategorischer Wahl und will Konflikte in logischer Weise lösen. Im Kontrast dazu wird in der indischen Kultur größerer Wert auf Kompromisse gelegt und die Fähigkeit, mit Widersprüchen zu leben und konfligierende Alternativen auszubalancieren. Deshalb ist es wichtig, die Verhandlungen über Geschlechtergerechtigkeit vor

17 hofstede 2001. 18 chitnis 2004: 11. 19 chitnis 2004: 23 ff. 20 chaudhuri 2004. 125 Martina padmanabhan dem Hintergrund der kulturspezifischen Verortungen von Identität zu begreifen. Im Folgenden schlage ich den Begriff Intraface vor, um die Aushandlungen über Geschlechterverhältnisse anhand der sozialen Konstruktion des Mensch-Natur-Verhältnisses zu analysieren.

Verhandlungen am Intraface Ich möchte das Konzept Intraface als einen konzeptuellen Rahmen für die Generierung von Transformations- wissen vorstellen. Der analytische Fokus ist das Intraface, an dem gesellschaftliche und institutionelle Regeln infrage gestellt werden. Intraface ist die Idee, diese Verhandlungen und die Geschlechterinteressen sichtbar zu machen. Intrafaces analysieren Geschlechterverhältnisse und das Potenzial für Wandel anhand der sozialen Konstruktion des Mensch-Natur-Verhältnisses. Macht ist nicht nur zwischen Akteursgruppen, sondern auch innerhalb von Gemeinschaften unterschiedlich verteilt. Verhandlungsmacht und Zugang zu Information unter- scheidet sich stark zwischen Männern und Frauen. Dennoch stehen diese zueinander in Beziehung, zum Beispiel wenn die Entscheidung für oder gegen Reisanbau die Ernährungssicherheit und Verhandlungsposition von Frauen beeinflusst. Die sozialen Konstruktionen von Natur und Geschlecht sind dabei gewichtige ideologische Mittel, welche die Asymmetrie der Entscheidungsgewalt fortführen. Frauen und Männer verfügen über unterschiedliche Eigentumsrechte und Macht, sie verrichten andere Arbeiten und haben andere Zuständigkeiten sowie Wissen und Werte. Intrafaces dienen als analytischer Begriff, um den Akteuer oder die Akteurin mit unterschiedlichem Geschlecht, aber gleichem Kontext herausarbeiten zu können. Intrafaces bilden die konkurrierenden und deckungsgleichen Interessen von Männern und Frauen beispielsweise einer Ethnie ab. Intrafaces bauen auf dem Interfacebegriff von Norman Long21 auf, der das Interface – also die Schnittstelle – als Metapher für Orte benutzt, an denen Wissen über Identität und Welt verhandelt und verändert werden. Intrafaces gehen über die Beschreibung kritischer Schnittmengen zwischen Lebenswelten, sozialen Feldern oder Ebenen einer Organisation hinaus, indem sie auf die geschlecht- lichen Asymmetrien, die in soziale Institutionen einge- lassen sind, fokussieren. Intraface identifiziert und enthüllt Verhandlungen zwischen Frauen und Männern einer Lebenswelt auf der Ebene ihrer sozialen Interpretation materi- eller Umstände. Intraface ist also der kritische Ort, wo unterschiedliche Normen, Werte und Inter- essen innerhalb einer sozial homogenen Gruppe Bäuerin erklärt Reissorten am Saatgut (Foto: Isabelle Kunze, 2011). auftreten. An den Intrafaces koexistieren Kooperation,

21 Long 2001. 126 ForschungsForum 4 2 Kompromiss sowie subtile und offene Konflikte nebeneinander. Der Begriff Intraface beschreibt also die Gleich- zeitigkeit eines gemeinsam geteilten Bezugrahmens einer Akteursgruppe und unterscheidbare Handlungsspiel- räume je nach Geschlecht. Das heißt, auf den Fall Agrobiodiversität gewendet, dass sowohl die Interaktion zwischen Akteuren und Natur als auch die Institutionen geschlechtergerechter Nachhaltigkeit von besonderem Interesse für die Intrafaceanalyse sind. Es gilt, jene Austauschbeziehungen zwischen Natur und Akteuren auf die eingelassenen Vorstellungen des Mensch-Natur-Verhältnisses aus der Geschlechterperspektive zu untersuchen. Unmittelbar damit verknüpft sind die Annahmen über Eigenschaften der natürlichen Ressourcen, die den gesellschaftlichen als auch den physisch- ökologischen Umgang prägen. Die Institutionen, die eine geschlechtergerechte Nachhaltigkeit verfolgen, regulieren Agrobiodiversität, setzen Eigentumsrechte an Naturkomponenten sowie Zugang und Kontrolle durch. Die Steuerungsstrukturen für Agrarbiodiversität integrieren geschlechtliche Muster für Partizipation und Formen der Koordination. Von Interesse sind dabei die Ergebnisse der Verhandlungen an den Intrafaces hinsichtlich Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit.

Transformation als Prozess Dabei kann es sich bei der Intrafaceanalyse immer nur um Zwischenergebnisse handeln, die wiederum in einen Diskussionsprozess über die Zukunft der landwirtschaftlichen Artenvielfalt eingespeist werden. In diesem Sinne ist Nachhaltigkeit eine Eigenschaft, die im Prozess der Interaktion der Akteure und Akteurinnen mit dem ökolo- gischen System entsteht. Dazu schlage ich ein zirkuläres Verfahren vor, das sich aus analytischen Phasen und deliberativen Phasen zusammensetzt. In einem ersten Schritt werden die „Aushandlungen an den Intrafaces“ interdisziplinär untersucht, um die (Zwischen-)Ergebnisse in gemischten oder auch homogenen Akteursgruppen zu diskutieren. Einerseits handelt es sich dabei um eine Verifikation durch die Praktiker und lokalen Expertinnen und Experten, andererseits generiert dieses dialogartige Verfahren gemeinsam Transformationswissen, das für den regulierten Wandel von Bedeutung ist. Der transdisziplinäre Anspruch des Forschungsprojektes BioDIVA ist es, Forschung und Praxis zusammen- bringen. Um Transformationswissen für eine geschlechtergerechte Zukunft zu schaffen, Szenarien zu disku- tieren und weiterzuentwickeln, ist ein angstfreier Raum für Kommunikation notwendig. Diese Forderung nach einer Atmosphäre für kreativen Austausch ist in einer stark hierarchischen Gesellschaft nicht trivial. In einer überwiegend von männlichen Politiken und männlicher Adminstration geprägten Politiklandschaft übertreten Frauen gängige Geschlechternormen durch öffentliches Sprechen. Diese gesellschaftlichen Normen zu berück- sichtigen und dennoch für marginalisierte Frauen kreativ zu verschieben ist Ziel und Aufgabe des Dialoges. Dabei kommt der Prozessgestaltung eine zentrale Rolle zu. Gemeinsam lassen sich die Verhältnisse wandeln, wobei geteilte Überzeugungen eine Grundlage für tragfähige Beziehungen und für einen Kompromiss bilden. In meinen Ausführungen habe ich die Bedeutung von Identität, Symbolen und Gefühlen für die Ausbildung eines Gerechtigkeitsempfindens aufgezeigt und auf unterschiedliche moralische Haltungen in der deutschen und 127 Martina padmanabhan indischen Debatte um Geschlechtergerechtigkeit aufmerksam gemacht. Dabei spielen Emotionen als Impuls- geber eine entscheidende Rolle, um Wandel einzufordern, ihn aber auch zu verhindern. Die vorgeschlagene Analyse der Verhandlungen am Intraface, um die Auseinandersetzungen, Kompromisse und Konflikte zwischen den Geschlechtern im natürlichen Ressourcenmanagement zu erfassen, dient einer Generierung von geschlech- tergerechtem Transformationswissen im Dialog. Dabei gilt es, zwei Arten von Gefühlen zu berücksichtigen: die Gefühle der Verunsicherung, der Angst und Abwehr und die der Empathie, der Achtung und des Mitgefühls, auf denen die jeweiligen Ideen des „Guten Lebens“ beruhen. Mit der Analyse der Verhandlungen an den Intrafaces schlage ich eine Konzeption des Mensch-Natur-Verhältnisses vor, die kontextsensibel und spezifisch Gerechtig- keitsvorstellungen erfassen kann.

Literatur

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Projekte

Annette Harth Gitta Scheller Lebens- und Wohnweisen im Umbruch Ostdeutsche Frauen und die Wende

Die Frage nach den Folgen des gesamtgesellschaftlichen Umbruchs ist deshalb so spannend, weil sich die Frauen in der DDR aufgrund ihrer höheren Erwerbsbeteiligung und ökonomischen Selbstständigkeit durch einen „Emanzipationsvorsprung“ gegenüber den Frauen in der BRD auszeichneten.1 In der DDR war die Gleichstellung der Frau von Anfang an ein zentrales Ziel der sozialistischen Gesellschaftspolitik. Dem bürgerlichen Leitbild von der „guten Mutter“, die sich exklusiv um ihre Familie bzw. Kinder kümmert, wurde das sozialistische Leitbild der erwerbstätigen, wirtschaftlich unabhängigen Mutter entgegengestellt. Die Erwerbstätigkeit der Frauen wurde staatlicherseits vor allem durch eine wohnungsnahe Versorgung, eine umfassend ausgebaute Kinderbetreuungs- infrastruktur und damit einhergehend eine Entlastung von den Aufgaben der privaten Reproduktion unterstützt. Entsprechend befanden sich 1989 neun von zehn ostdeutschen Frauen im erwerbsfähigen Alter im Arbeitsprozess. In Westdeutschland ging zur gleichen Zeit nur gut die Hälfte der Frauen gleichen Alters einer Erwerbstätigkeit nach. Die meisten ostdeutschen Frauen arbeiteten – wie die Männer – Vollzeit. Erwerbsarbeit war eine wichtige Sphäre der Sinnstiftung und sie bot den Frauen die Chance zur ökonomischen Unabhängigkeit vom Mann. Daneben war auch die Freisetzung aus der traditionellen Sozialform Familie in der DDR weiter fortgeschritten als im früheren Bundesgebiet. So war die DDR-Familie in viel stärkerem Maße als die westdeutsche Familie von bestimmten Funktionen entlastet. Dazu zählte vor allem die Sozialisationsfunktion. 1989 besuchten 80 Prozent der ostdeutschen Kinder unter drei Jahren die Kinderkrippe, aber nur 2 Prozent der gleichaltrigen westdeutschen Kinder. 95 Prozent der ostdeutschen Kinder zwischen drei und sechs Jahren (West: 79 Prozent) gingen in den Kindergarten.2 Die Funktionsentlastung betraf außerdem bestimmte hauswirtschaftliche Tätigkeiten, wie zum Beispiel das Kochen. Männer und Frauen wurden werktags in Betriebskantinen und die Kinder in den Kinder-

1 Die Autorinnen haben sich im Rahmen von Qualifikationsarbeiten und weiterführenden Beiträgen mit den Folgen des Transforma- tionsprozesses für ostdeutsche Frauen befasst und Veränderungen im Erwerbsbereich, im Bereich privater Lebensformen und im Wohnbereich untersucht. 2 Geißler 1992: 254. 129 Annette Harth | Gitta Scheller gärten und Schulhorten versorgt. Wegen der umfassenderen Einbindung der Menschen in die Jugend-, Arbeits-, Haus- und Nachbarschaftskollektive spielte die DDR-Familie auch für die Freizeitgestaltung der Einzelnen nicht die gleiche Rolle wie im früheren Bundesgebiet. In der DDR teilte sich die Familie schließlich auch die Erfüllung emotionaler Bedürfnisse stärker mit familienfremden Personen.3 Die Funktionsentlastung führte zu geringeren Abhängigkeiten und zu einer Verminderung der sozialen Kontrollen innerhalb der Familie und trug nicht zuletzt zu einer größeren Versachlichung der Partner- und Eltern-Kind-Beziehungen bei.4 Eine Barriere der Ausprägung emotionaler Beziehungen waren die Wohnungen, die mitunter gravierende Ausstattungsmängel aufwiesen (vor allem in den Altbauten), beengt waren (vor allem in den Großwohnsiedlungen), kaum individuelle Rückzugs- möglichkeiten boten und durch die Enge und manchmal auch Hellhörigkeit eine vor fremden Blicken und Ohren abgeschirmte eheliche und familiäre Privatsphäre nur beschränkt zuließen.5 Ostdeutsche Frauen waren also umfassender als westdeutsche aus traditionellen Zuweisungen „freigesetzt“, d. h. unabhängiger vom „Dasein für andere“. Mit dem „Dasein für andere“ ist eine auf Selbstzurücknahme beschränkte Frauenrolle umschrieben, bei der die Versorgung des Partners sowie der Kinder an erster Stelle steht. Nach der Wende haben sich die gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen grundlegend verändert und mit ihnen die Lebenslagen von Frauen. Viele hatten erwartet, dass sich im Ergebnis eine Anpassung an die westdeutsche Situation ergeben würde. Unsere Untersuchungen, wie auch andere, belegen aber, dass sich bestimmte ostdeutsche Eigensinnigkeiten erhalten haben. Die ostdeutschen Frauen waren nicht ohne Weiteres bereit, einem Leitbild zu folgen, das ja auch im Westen bereits bröckelte. Die Veränderungen der Rahmenbe- dingungen hatten dennoch erhebliche und tief greifende Konsequenzen für den Lebensalltag der Frauen, ihre Erwerbsbeteiligung, die privaten Beziehungen und die Bedeutung des Wohnens.

Veränderungen der Erwerbsbeteiligung Im Erwerbsbereich verzeichnen wir einen teilweisen Abbau des Emanzipationsvorsprungs der ostdeutschen Frauen – „teilweise“ deshalb, weil es daneben auch Beharrungstendenzen gibt. Nach wie vor sind ostdeutsche Frauen „deutlich gleichberechtigter in den Arbeitsmarkt integriert [als westdeutsche; d. V.]. Es gibt eine – auf insgesamt niedrigerem Niveau – höhere Lohngerechtigkeit und es sind anteilig mehr Frauen in den Führungsebenen von Unternehmen zu finden“.6 Allerdings ist die Erwerbstätigenquote bei den ostdeutschen Frauen deutlich gesunken und entspricht mittlerweile derjenigen westdeutscher Frauen. Der Rückgang der Erwerbstätigkeit ist aber kein freiwilliger Prozess, sondern basiert vor allem auf dem enormen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Eine Verdrängung aus dem Arbeitsmarkt fand auch insofern statt, als die an Vollzeitarbeitsverhältnisse gewöhnten Frauen zunehmend in Teilzeitarbeit abgedrängt wurden – und zwar unfreiwillig: Anders als westdeutsche Frauen, die, wenn es soweit war, mehrheitlich aus privaten bzw. familienbezogenen Gründen ihre Arbeitszeit reduziert hatten, arbeitete die überwiegende Mehrzahl der ostdeutschen Frauen in Teilzeit, weil sie keine Vollzeitstelle fanden.7

3 Scheller 2008a, 2005. 4 Scheller 2008a, 2005, 2004. 5 Scheller 2004. 6 Bauer, Dähner 2009: 2. 7 Scheller 2008b. 130 Projekte 2 Veränderungen im Bereich privater Beziehungen Nach der Wende unterlag die ostdeutsche Familie einem Strukturwandel, durch welchen viele der ehemals ausgelagerten Funktionen – die Betreuung und Erziehung der Kinder, die Freizeitgestaltung, die Erledigung bestimmter hauswirtschaftlicher Tätigkeiten und die Solidaritätsfunktion – in den privaten Zuständigkeitsbe- reich zurückverlagert wurden. So wird beispielsweise die Kinderbetreuung nach der Wende wieder häufiger im Rahmen verwandtschaftlicher Beziehungen organisiert. Der Funktionszuwachs hat die sozialen Abhängigkeiten zwischen den Partnern und zwischen Kindern und Eltern vergrößert. Vor allem ist die Funktion der Familie als bindendes emotionales Netz nach der Wende stärker gefordert. Es gibt nun aber Anzeichen, die darauf hinweisen, dass die Re-Familialisierung vor allem bei den Frauen auf Grenzen stößt und zum Teil sogar abgeblockt wird. Zwar dienen Partnerschaft und Familie in Ostdeutschland heute stärker als Quelle emotionaler Bedürfnisbefriedigung, es kommt dennoch keinesfalls zu einer Anpassung an westdeutsche Orientierungen und Verhaltensmuster. So ist ein erheblicher Teil der ostdeutschen Frauen auch heute nicht bereit, den eigenen Handlungsspielraum vollständig zugunsten der nach der Wende gewachsenen familialen Verpflichtungen einzuschränken. Ostdeutsche Mütter legen auch nach der Wende Wert auf ihre Unabhängigkeit und wollen nicht restlos in der Familie aufgehen. Die gewachsene Kindzentrierung geht beim Gros der ostdeutschen Frauen (und Männer) nicht mit dem Anspruch einher, die Betreuung und Erziehung allein zu übernehmen. Dies wird z. B. daran deutlich, dass ostdeutsche Mütter nach der Geburt eines Kindes schneller wieder in das Erwerbsleben eintreten und häufiger vollzeiterwerbstätig sind als westdeutsche. Auch nehmen außerhäusliche Kinderbetreuungseinrichtungen bei ostdeutschen Eltern normativ und faktisch einen viel höheren Stellenwert ein als bei westdeutschen. Die Rückbindung an traditionelle familiäre Sozialbeziehungen stößt bei ostdeutschen Frauen vor allem da an Grenzen, wo sie sich selbst zu sehr aufgeben müssten und ihre in der DDR erworbenen Orientierungen an Unabhängigkeit und Autonomie nicht mehr gewährleistet sind.

Zunehmende Bedeutung des Wohnbereichs Durch die veränderten Anforderungen im Erwerbs- und Familienbereich und die Rücksichtslosigkeit der Arbeits- marktbedingungen gegenüber den familiären Bedürfnissen gerieten der Erwerbsbereich und der private Lebens- bereich in ein neuartiges Spannungsverhältnis: Der Vereinbarkeitskonflikt verschärfte sich. Er wurde verstärkt individualisiert, d. h. den Einzelnen, und zwar meist den Frauen, zugeschoben. Während der DDR-Staat die Vereinbarkeit der Lebensbereiche unterstützte, sind nach der Wende neue individuelle Synchronisationsanfor- derungen entstanden. Dies zwang besonders Frauen dazu, persönliche Lösungen für das – nun verschärfte – „Vereinbarkeitsdilemma“ zu finden. Die Wohnverhältnisse als Rahmen und Bedingung zur Bewältigung dieser Anforderungen veränderten sich nach der Wende ebenfalls grundlegend. Die vormalige Standardisierung und staatliche Versorgung mit Wohnraum und Infrastruktur wich mehr und mehr einer marktförmigen Gestaltung. Damit einher gingen Angebotsauswei- tungen, Qualitätssteigerungen und vor allem deutliche Differenzierungen. Prinzipiell erhielten die Menschen mehr Möglichkeiten, anspruchsgerecht zu wohnen, und viele nutzten diese auch. Dies zeigt sich am erheblichen

131 Annette Harth | Gitta Scheller

Mobilitätsschub in den ersten Jahren nach der Wende. Bereits Mitte der 1990er-Jahre zeichneten sich auch deutliche Segregationstendenzen ab, deren markantester Ausdruck die massive Wohnsuburbanisierung war.8 Infolge dieser Entwicklungen erlebte der Wohnbereich für Frauen einen generellen Bedeutungszuwachs gegenüber DDR-Zeiten.9 Die unterschiedlichen Funktionen des Wohnens mussten im Gefüge der veränderten Alltagsanforderungen neu justiert werden. Es lassen sich in Bezug auf das Wohnen vier zentrale Bedeutungs- muster herauskristallisieren, die zugleich auch Bewältigungsmuster sind, mit denen auf die neu entstandenen Problemlagen reagiert wurde.10 Diese Muster sind keineswegs etwa nach der Wende gänzlich neu entstanden oder gar nur in den neuen Bundesländern vorfindbar, sie haben aber im Zuge des Transformationsprozesses eine besondere Relevanz und Zuspitzung erfahren. Stärker als vor der Wende wurde der Wohnbereich erstens als Ort der persönlichen Selbstentfaltung erlebt, hier wollten Frauen ihrer Individualität und Unabhängigkeit durch die Inbesitznahme von Raum auch nach außen sichtbar Ausdruck verleihen. Dies galt vor allem für stark berufsorientierte Frauen, die sich selbst als Aufstei- gerinnen nach der Wende erlebten. Die Bedeutung des Wohnbereichs als Ort der Entlastung von der gestie- genen Vereinbarkeitsproblematik hat zweitens erheblich an Gewicht gewonnen. Viel mehr als vor der Wende, wo eine bestimmte infrastrukturelle und wohnungsnahe Grundausstattung gleichsam selbstverständlich war und darüber hinausgehende Anforderungen außer Reichweite standen, wurde den Frauen (besonders den berufstä- tigen Müttern) die Abhängigkeit der täglichen Lebensgestaltung von den sozialräumlichen Lebensbedingungen bewusst. Für einen Teil der (jüngeren) Frauen wurde drittens der Wohnbereich im Zuge ihrer gewachsenen Famili- enorientierung zum zentralen Lebensmittelpunkt, was aber nicht nur Folge von Ausgrenzungserfahrungen aus dem Erwerbsbereich war, sondern eine selbstgewählte und bewusste Entscheidung (für eine bestimmte Phase). Diese Frauen, die sich auch in Abgrenzung zu ihrer Müttergeneration orientierten, waren also weniger Traditio- nalistinnen als vielmehr durchaus selbstbewusste und handlungsfähige Pionierinnen eines zu DDR-Zeiten diskri- minierten Lebensmodells. Im Gegensatz dazu hat viertens ein Bedeutungsmuster an Relevanz gewonnen, bei dem der Wohnbereich zentral als Ort der Alltagsbewältigung in Problemsituationen fungierte. Gerade für (ältere) aus dem Arbeitsmarkt meist dauerhaft ausgegrenzte Frauen in sozioökonomisch vergleichsweise deprivierter Lage wurde der Wohnbereich zur zentralen Ressource, wo im Erwerbsbereich nicht mehr erfüllbare Bedürfnisse nach sozialem Kontakt, nach Sicherheit und Unterstützung kompensiert wurden. Diese vier Muster waren mit Anspruchsveränderungen verbunden; insbesondere die Entlastungs- und Entfal- tungsansprüche von Frauen sind deutlich gewachsen. In der Folge ist ein Umzugsgeschehen in Gang gekommen, bei dem Frauen ihre Anforderungen nach mehr Selbstentfaltungschancen und einem höheren Gebrauchswert der Wohnungen, Wohnumfelder und Stadtgebiete sehr deutlich einbrachten. Unsere unterschiedlichen Forschungsarbeiten machen die enge Verknüpfung der Position von Frauen im gesell- schaftlichen Geschlechterverhältnis und der Wohnweise deutlich. Gerade in einer Situation tief greifenden und

8 Harth u. a. 1998. 9 Harth 2010. 10 Harth 2006. 132 Projekte 2 abrupten sozialen Wandels („Quasi-Experiment“) werden Zusammenhänge und Strukturmerkmale besonders klar sichtbar. Der gleichzeitige Wandel des Erwerbsbereichs und des Bereichs privater Beziehungen erhöhte für ostdeutsche Frauen die Belastungssituation. Sie mussten – viel stärker als zu DDR-Zeiten – nun die Verein- barung von Familie und Beruf selbst leisten. Die bestehenden Wohnverhältnisse wirkten dabei wie ein zu eng gewordenes Korsett und erschwerten den Lebensalltag. Frauen wurden, gerade auch wegen ihrer meist nicht vorhandenen Bereitschaft, sich der traditionalen Frauenrolle zu fügen, zu Motoren des Mobilitäts- und Segrega- tionsprozesses nach der Wende. Weitere Forschungsarbeiten – unter anderem das von uns gemeinsam im gender_archland bearbeitete Forschungsprojekt „Das Wohnerlebnis in Deutschland. Eine Wiederholungsstudie nach 20 Jahren“ – werden herauszuarbeiten haben, wie überlebensfähig die ostdeutschen Eigensinnigkeiten bleiben und welche Rolle sie für das Wohnerleben und die Wohnansprüche spielen.

Literatur

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Das Forum für GenderKompetenz in Architektur Landschaft Planung ermöglichte es, die jahrelange „Nebenher-Recherche“ zu zwei Pionie- rinnen im Naturschutz, Margarete Boie und Helene Varges, im Rahmen eines fünfmonatigen Werkvertrages zu intensivieren und als „Pilot- studie zur Quellenlage“ zu einem vorläufigen Abschluss zu bringen. Die Studie wurde von Roswitha Kirsch-Stracke als Projektinitiatorin und -leiterin und von Beate Ahr als Projektbearbeiterin von September 2008 bis Januar 2009 erstellt. Die Finanzierung erfolgte über gender_ archland aus Mitteln des Forschungsfonds der Leibniz Universität Hannover. Margarete Boie und Helene Varges arbeiteten von 1904 bis 1928 gemeinsam auf Juist, Norderney, in , in Lüneburg und vor allem auf Helgoland und . Die beiden naturforschenden sowie künstle- risch und schriftstellerisch tätigen Frauen veröffentlichten zahlreiche Bücher zu Natur und Landschaft der Nordseeküste und der Inseln. An weiteren Werken waren sie beteiligt, darüber hinaus erarbeiteten sie Schautafeln für die Vogelschutzwarte Helgoland. Helene Varges leitete zeitweilig die biologische Abteilung des Sylter Seefahrer-Museums in Westerland. Ganz besonders in ihrem Jugendbuch „Ferientage auf Sylt“, 1928 Mit „Ferientage auf Sylt“ betrieben Margarete Boie veröffentlicht in der Schriftenreihe „Naturschutzbücherei“ der Staat- und Helene Varges Bildungsarbeit für den Naturschutz (Verlag Hugo Bermühler, Boie 1928). lichen Stelle für Naturdenkmalpflege in Preußen, geben Margarete

134 Projekte 2 Boie als Schriftstellerin und Helene Varges als Illus- tratorin ein frühes Beispiel von Umweltbildung, wie sie in ähnlicher Art heute als innovativ gilt. Diese frühen Beispiele teilweise auch staatlich geförderter Umweltbildungsarbeit sind jedoch bisher weder in der Geschichte zum staatlichen Naturschutz noch in der Geschichte der Bildung für nachhaltige Entwicklung präsent. Warum? Genderspezifische Voraussetzungen und Rahmen- bedingungen hatten genderspezifische Formen des Engagements im Naturschutz zur Folge. Ein wissenschaftliches Studium, wesentliche Voraus- setzung für den Zugang in die höheren Verwaltungs- ebenen des Naturschutzes, stand Frauen in Preußen erst ab 1908, die Habilitation erst ab 1920 offen. So sind Frauen zwar im staatlichen Naturschutz als Sekretärinnen oder Bibliothekarinnen zu finden, aber vor allem außerhalb staatlicher Strukturen als Erzie- herinnen, Mäzeninnen oder – wie Margarete Boie und Helene Varges – als Schriftstellerinnen und Künstle- rinnen. Verbindungen zum staatlichen Naturschutz Helene Varges verweist in der Gestaltung des Werbeprospekts für das Sylter bestanden dabei durchaus: für Margarete Boie z. B. Hotel Miramar auf die Inselnatur (Sylter Archiv). durch ihre mehrjährige Tätigkeit als „Hilfsarbeiterin“1, wie es in den Quellen heißt, von Hugo Conwentz in Danzig, für beide Frauen als Autorinnen staatlich herausgegebener Handreichungen. Genderspezifische Formen des Naturschutzengagements machen andere als „die üblichen“ Vorgehensweisen und Quellenstudien notwendig. Erforschung von Frauenaktivitäten im Naturschutz erfordert scheinbar „abWegiges“. Beschränkt man sich in der historischen Erforschung des (staatlichen) Naturschutzes auf die relativ leicht zugänglichen Quellenarten wie Verzeichnisse von Personen in mehr oder weniger führenden Positionen, Tagungs- programme, wissenschaftliche Veröffentlichungen etc., so treten Frauen kaum auf. Eher waren sie außerhalb vorgegebener Strukturen aktiv, in dem sie z. B. wie Margarete Boie und Helene Varges aus ihren künstlerischen Berufen heraus agierten.

1 inwiefern Margarete Boie in dieser Position wissenschaftlich gearbeitet hat, ist bisher nicht geklärt. 135 Roswitha Kirsch-Stracke | Beate Ahr

Die Pilotstudie umfasst deshalb: 1. Darstellung der Quellenlage -- eigene Veröffentlichungen und Werke von Margarete Boie und Helene Varges -- Veröffentlichungen über Margarete Boie und Helene Varges (Sekundärliteratur, Rezeption) -- unveröffentlichte schriftliche und bildliche Quellen -- mündliche Quellen (Zeitzeugen) 2. Kurzbiografien von Margarete Boie und Helene Varges 3. Zusammenarbeit von Margarete Boie und Helene Varges mit anderen Personen aus Kunst, Wissenschaft, Heimatforschung und Tourismus 4. Quellenanalyse in Bezug auf -- Anliegen und Einstellung der Autorinnen -- ihre Arbeitsweise -- ihre Themen, Inhalte und Vermittlungsformen 5. Bewertung des Gesamtwerkes und seiner öffentlichen Wahrnehmung 6. Darlegung von Forschungslücken und Formulierung von Forschungsfragen für weitere Untersuchungen 7. Methodische Empfehlungen für weitere Forschungen zum Beitrag von Frauen in den Anfängen des Naturschutzes

Ergebnis Die Pilotstudie stellt die Quellenlage zu Pionierinnen im Naturschutz am Beispiel der Schriftstellerin Margarete Boie und ihrer Arbeitskollegin und Freundin, der Künstlerin Helene Varges, quantitativ und qualitativ dar. Die recherchierten Quellen werden aus der Geschlechterperspektive und unter naturschutzrelevanten Gesichts- punkten analysiert und interpretiert. Die Ergebnisse der Quellenbetrachtung belegen, dass sich Margarete Boie und Helene Varges in der Ausübung ihrer Berufe auf vielfältige Weise für den Naturschutz an der Nordseeküste und auf den Inseln, vor allem auf Sylt, engagierten. Sie betätigten sich dabei überwiegend außerhalb des staatlichen Naturschutzes und des Vereins- naturschutzes, pflegten aber Kontakte zu deren VertreterInnen und waren für (Forschungs-)Einrichtungen der Meereskunde sowie der Natur- und Volkskunde tätig. Die Werke beider Persönlichkeiten zeigen, dass und wie sie – trotz der begrenzten Ausbildungsmöglichkeiten für Frauen – einen Weg fanden, sich ein umfassendes Wissen über Tier- und Pflanzenarten sowie über ökologische und landeskulturelle Zusammenhänge anzueignen. Dies geschah sowohl durch die intensive und kontinuier- liche Schulung der eigenen Wahrnehmung in der Landschaft und deren Reflexion als auch durch die Auseinan- dersetzung mit historischen Schriften und zeitgenössischen Forschungen. Außerdem standen beide Frauen mit

136 Projekte 2 renommierten Persönlichkeiten des staatlichen und ehrenamtlichen Naturschutzes sowie der Wissenschaft in Kontakt, beispielsweise mit Hugo Conwentz, Danzig, Otto Leege, Juist, Friedrich Heincke, Helgoland, und Elisabeth Schiemann, Berlin. In über 20 Büchern mit bis zu 14 Auflagen, die sie selbst verfassten oder an denen sie beteiligt waren, und in zahlreichen Artikeln zu natur- und landeskundlichen Themen wird das Anliegen der beiden Frauen deutlich, die Erlebnismög- lichkeiten von Natur und landschaftlicher Eigenart der Nordseeinseln auf eine wissenschaftlich fundierte, aber auch unterhaltsame Art zu vermitteln. Ihr Ziel war es, InselbesucherInnen wie -bewohnerInnen aller Altersgruppen zu Naturerfahrungen anzuregen und für eine die Natur schonende Nutzung zu sensibilisieren.

Auch die wissenschaftlichen Zeichnungen, Illustra- Die Illustration von Helene Varges stellt einen Bezug zwischen der einzelnen Pflanze Queller und der durch sie geprägten Landschaft, dem Quellerwatt, tionen, Pflanzenstudien und Landschaftsbilder sowie her (Kuckuck 1908: 233). touristisch motivierten Werbegrafiken von Helene Varges belegen das Interesse, den BetrachterInnen den Wert der Inselnatur nahezubringen. Margarete Boies und Helene Varges’ Anregungen und Anleitungen, Tourismus und Naturschutz an der Nordsee miteinander zu verknüpfen, können als frühe Form der „Bildung zur nachhaltigen Entwicklung“ gewertet werden. In den betrachteten Quellen zur Rezeption ihrer Werke und ihres Wirkens wurde Margarete Boies und Helene Varges’ Bildungsarbeit für den Naturschutz bisher noch nicht erkannt oder angemessen gewürdigt. Eine einge- hende, differenzierte Betrachtung und Wertung ihres Beitrages zum Naturschutz steht bis heute aus. Es konnte aufgezeigt werden, wie lohnenswert es ist, die Geschichte des frühen Naturschutzes in Deutschland aus der Genderperspektive zu betrachten, um so auf einige „weiße Flecken“ in der bisherigen Naturschutz- Geschichtsschreibung aufmerksam zu machen und sie ansatzweise „auszumalen“. Das gilt vor allem für das frühe Naturschutzengagement außerhalb staatlicher Strukturen und Vereine.

Literatur

Ah r , Be a t e ; Ki r s c h -St r a c k e , Ro s w i t h a (2010): „Die künstlerische Freude am Reichtum der Naturformen gab den Anlass …“ Die Naturschutz-Pionierinnen Margarete Boie (1880-1946) und Helene Varges (1877-1946). Pilotstudie zur Quellenlage (mit CD-ROM) (WEITER_DENKEN, 1). Hannover. Bo i e , Ma r g a r e t e (1928): Ferientage auf Sylt. Illustriert von Helene Varges (Naturschutzbücherei, 9). Berlin-Lichtenfelde. Ku c k u c k , Pa u l (1908): Der Nordseelotse. Lehrreiches und lustiges Vademekum für Helgoländer Badegäste und Besucher der Nordsee. Hamburg.

137 Hannah Arpke Isabelle Kunze BioDIVA Mit Geschlechtergerechtigkeit zur nachhaltigen Landnutzung

Das Projekt BioDIVA arbeitet an der Erforschung der Ursachen für Landnutzungswandel und dem damit verbun- denen Verlust von biologischer Vielfalt in Wayanad, einem Distrikt von Kerala, dem Land der Reisfelder im Süden Indiens.1 Die Forschungsgruppe, angesiedelt am Institut für Umweltplanung der Leibniz Universität Hannover, wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung innerhalb des Rahmenprogramms „Forschung für Nachhaltigkeit“ im Themenschwerpunkt „Sozial-ökologische Forschung“ (SÖF/FONA) in den Jahren 2010 bis 2014 gefördert. Insgesamt acht deutsche und indische ForscherInnen aus den Disziplinen der ländlichen Entwicklung, Ökologie, Landnutzung, Gender Studies sowie Institutionen- und Ressourcenökonomie erforschen die sozial- ökologischen Herausforderungen in Wayanad und treiben damit die Weiterentwicklung der inter- und trans- disziplinären Forschung voran. Drei der acht ForscherInnen arbeiten bei dem Projektpartner M. S. Swaminathan Research Foundation vor Ort. Als transdisziplinär arbeitendes Projekt integriert BioDIVA angewandt-praktisches Wissen, um die Probleme der Lebens- und Arbeitsumstände der LandnutzerInnen vor Ort zu erkunden. Mit den verschiedenen Datenerhebungsmethoden der einzelnen Disziplinen wie zum Beispiel Haushaltsbefragungen, Gruppendiskussionen, Einzelinterviews und Feldversuchen soll die Komplexität des Landnutzungswandels aus ökonomischer, ökologischer sowie sozialwissenschaftlicher Sicht untersucht werden. Das übergeordnete Ziel ist, Strategien zur Erzeugung von Wissen für eine nachhaltige und geschlechtergerechte Transformation zu entwi- ckeln. Das landwirtschaftliche System in Indien umfasst ähnlich wie in vielen Schwellenländern eine große Vielfalt an Getreide- und Feldfruchtsorten, insbesondere Reis.2 Der Bundesstaat Kerala weist eine Fülle an lokalen Reissorten im Hochland auf. Diese einheimischen Reissorten werden durch den zunehmenden Anbau von wirtschaftlich

1 Siehe dazu auch den Beitrag von Martina Padmanabhan über geschlechtergerechte Transformationsprozesse in Indien in diesem Band. 2 Kumar u. a. 2010.

138 Projekte 2 vorteilhaften, jedoch ökologisch weniger nachhaltigen Bananen sowie Ingwer, Kautschuk, Maniok und der Areka- (Betel-)nuss verdrängt. Diese Konversion ist oft der erste Schritt für die illegale, aber weit verbreitete Nutzung von Ackerland als Baugrund. Zudem findet ein sozialer Wandel statt, der es vielen jüngeren Menschen, auch Frauen, ermöglicht, außerhalb der traditionellen Landwirtschaft ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Stetiger Wandel in der Lebenswelt und Nachhaltigkeit Nachhaltigkeit ist ein Konzept, bei dem ein ökologisches oder soziales System seine zentralen Eigenschaften, seine Zwecke und seine Belastbarkeit langfristig erhalten kann. Nachhaltige Entwicklung reduziert den privat- wirtschaftlichen Druck auf in allgemeinem Besitz befindliche Güter wie ländliche Ressourcen und Agrarbiodiver- sität langfristig und sollte in vielen Bereichen auf mehreren Ebenen praktiziert werden. Dies sichert ertragreiche Landnutzungssysteme und ermöglicht den Erhalt von Ökosystemen und Biodiversität sowie den Schutz natür- licher Ressourcen. Ökologisch nachhaltige Nutzung von ländlichen Ressourcen ermöglicht es Männern und Frauen, sowohl sozial als auch wirtschaftlich ihre Zukunft aufzubauen und zu erhalten. Männer und Frauen haben im Reisanbau unterschiedliche Rollen und Verantwortungsbereiche inne; langfristige Nachhaltigkeit ist indes ohne die Gleichstellung der Geschlechter nicht zu realisieren. Traditionelles Wissen, das das agroökolo- gische Wissen und die Anbaupraktiken indigener Bevölkerungsgruppen einschließt, trägt zu einer nachhaltigen Zukunft bei.

Partizipative Forschung für nachhaltige Lösungen Die Diversität lebender Organismen in einem agrarökologischen System bildet die Grundlage für Nahrungs- und Einkommenssicherheit. Parallel dazu wird entsprechendes Wissen und damit eine sozio-kulturell signifikante Affinität aufgebaut, die der Agrarbiodiversität als natürliche Ressource einerseits und Kulturgut mit sozialem Charakter andererseits eine Doppelidentität verleiht. Um die soziale Ökologie der Artenvielfalt zu verstehen, berücksichtigt das Forschungsteam in seiner Analyse von Anfang an die Kenntnisse und Erfahrungen von Landwir- tinnen und Landwirten. Das BioDIVA-Forschungsdesign beruht auf den partizipativen Methoden des Participatory Rural Appraisal3 und ähnlichen partizipativen Konzepten, welche eine kritische Auseinandersetzung mit unter- schiedlichen Wissensschätzen und Interessen an Landnutzungsformen ermöglichen. Regelmäßige Feedback- Workshops schaffen Raum für die diskursive Auseinandersetzung über Landnutzungsmuster und -wandel. Die Sichtweisen der ForschungsteilnehmerInnen, meist aus indigenen Bevölkerungsgruppen stammend, stehen für BioDIVA im Vordergrund. Auf diese Weise bezieht das Projekt marginalisierte Sichtweisen sozialer Ökologie ein, denn die indigenen Bevölkerungsgruppen gehören innerhalb der hinduistisch geprägten Bevölkerung Indiens der untersten Hierarchieebene an.

3 Participatory Rural Appraisal (PRA) wird in der internationalen Zusammenarbeit verwendet, um das Wissen und die Ansichten der ländlichen Bevölkerung in die Erforschung, Planung und das Management von Entwicklungsprojekten und-programmen zu integ- rieren. Robert Chambers ist einer der führenden Verfechter der Integration von lokalen Akteuren in die Prozesse der Entwicklungspo- litik, vgl. Chambers 1997. 139 Hannah arpke | isabelle kunze

BioDIVA erkennt die multiplen, geschlechterspezifischen Rollen der weiblichen und männlichen Nutzer von ländlichen Ressourcen an; meist sind Frauen diejenigen, die Saatgut lagern und umfangreiches Wissen über den Nährwert von verschiedenen Sorten einer Art aufbauen, während Männer Kenntnisse über lokale Marktme- chanismen und neue Technologien erlangen.4 Die genaue Kenntnis dieser Rollenverteilung trägt zum besseren Verständnis der Voraussetzungen und Zusammenhänge zwischen Geschlechtergerechtigkeit und Nachhaltigkeit bei. Die Analyse des Geschlechterverhältnisses denaturalisiert das Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern und weist auf sozial konstruierte und somit veränderbare Ungleichheiten hin. Darüber hinaus fordern feminis- tische Erkenntnistheorien wie die unseren die Auseinandersetzung mit Objektivität, Subjektivität und Reflexivität innerhalb der Forschungsarbeit, welches eine kritische Reflektion jedes einzelnen Forschenden und dessen Rolle im Forschungsprozess unabdingbar macht.

Erste Ergebnisse und Einblicke Das derzeitige sozial-ökonomische Szenario im Forschungsgebiet ist charakterisiert von einem hohen Grad an Wandel und Dynamik. Der ländliche Raum und die traditionelle Nutzung und Bewahrung natürlicher Ressourcen für die Landwirtschaft spielen zunehmend eine sekundäre Rolle bei der Einkommenssicherung. Zum einen bieten das ausgeweitete Bildungssystem und der Anschluss an die fortschreitende Globalisierung immer mehr jungen Männern und Frauen die Möglichkeit, Tätigkeiten außerhalb der Landwirtschaft auszuüben. Dazu gehören Berufe in Ministerien und Schulen sowie im (internationalen) Dienstleistungsbereich. Des Weiteren ziehen bessere Verdienstmöglichkeiten in den Golfstaaten besonders junge Männer an, die bereit sind, für ein besseres Einkommen ein paar Jahre auszuwandern. Zum anderen ist der Arbeitsmarkt im ländlichen Raum von zuneh- mender Mobilität geprägt. Initiativen wie das Mahatma Gandhi National Rural Employment Guarantee Act (MGNREGA)5 haben die Notwendigkeit, selbst Land zu besitzen und Entscheidungen über dessen Nutzung zu treffen, um zu überleben, zweitrangig gemacht. Bei dieser Initiative handelt es sich um ein Programm, welches die ländliche Entwicklung in Indien vorantreiben soll. Männer und Frauen arbeiten für höchstens 100 Tage im Jahr auf Tagelohnbasis in öffentlichen Bereichen wie dem Straßenbau oder der Straßenreinigung, aber auch in der privaten Landwirtschaft. Die Arbeitsgruppen innerhalb dieser Initiative werden mithilfe der lokalen Regierung organisiert; Frauen übernehmen zum Beispiel bei der Verteilung der Arbeitskräfte Verantwortung. Männer und Frauen arbeiten hier zu gleichen Löhnen: Zwar ist das Lohnniveau außerhalb des MGNREGA-Programms deutlich höher, aber Landarbeiterinnen werden in der Regel schlechter bezahlt als Männer. Großbauern, die Bananen und andere Agrargüter anbauen, setzen im zunehmenden Maß Tagelöhner auf den Feldern ein. Diese Arbeit wird vornehmlich von Männern verrichtet, während ein Bewusstsein über die Auswirkung der im großen Umfang eingesetzten Agrarchemikalien auf die Fortpflanzungsfähigkeit und den allgemeinen Gesundheitszustand von Frauen besteht. Des Weiteren spielt die traditionelle Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen eine Rolle; Männer wie Frauen sind der Meinung, dass der Anbau von Bananen „Männersache“ sei. Häufig wird seitens der Frauen mit Unwissenheit über Anbau-

4 Momsen 2011. 5 Vgl. http://nrega.nic.in/netnrega/home.aspx (20.10.2011). 140 Projekte 2 praktiken und Gesundheitsrisiken argumentiert, aus Sicht der Männer ist der Anbau von Bananen für Frauen zu anstrengend. All dies hat zur Folge, dass immer weniger Frauen, insbesondere aus der landlosen indigenen Bevöl- kerung, die Chance auf ein Einkommen aus Feldarbeit bekommen. Ob die geschlechterspezifische Arbeitsteilung bei fehlenden Arbeitskräften zukunftsträchtig ist, bleibt offen und gilt weiter erforscht zu werden. Mit diesen verschiedenen Änderungen werden die traditionellen geschlechterspezifischen Rollenaufteilungen teils entkräftet, teils aber auch verschärft: Es lässt sich die Hypothese aufstellen, dass die klar definierten Tätig- keitsbereiche von Frauen und Männern durch sozial-ökologische Transformationsprozesse gestört werden, da neue Anbaupraktiken und die damit verbundenen Entscheidungsprozesse eine unvorhergesehene Herausfor- derung darstellen. In der Abwesenheit ihrer Männer haben Frauen eine höhere Entscheidungsmacht über die Nutzung der ihnen unmittelbar zur Verfügung stehenden Ressourcen, darunter auch Land. Wenn man die These aufgreift, dass Frauen die Bewahrerinnen traditioneller Sorten seien,6 käme man zu dem Schluss, dass sich diese Abwesenheit der Männer positiv auf die Artenvielfalt in der Landwirtschaft auswirkte. Andererseits lässt sich eine Verzerrung des Gleichgewichts in der Rollenverteilung beobachten. Theoretisch bieten die verbesserten Bildungsmöglichkeiten qualifizierten Frauen die gleichen Chancen in Berufszweigen außerhalb des ländlichen Raumes. In der sozio-kulturellen Sphäre hat sich diese Gleichstellung jedoch weniger durchgesetzt; es wird nach wie vor von Frauen erwartet, dass sie sich den traditionellen Vorgaben bezüglich ihrer Arbeitskraft und Familien- planung unterwerfen.7 Die multiplen Rollen von Frauen und Männern in der Landwirtschaft und bei der Nutzung des ländlichen Raumes unterliegen den komplexen gesellschaftlichen Normen und Interaktionen ihrer jeweiligen traditionellen Gemeinde, Kaste, Kultur und deren Rollenverständnis. Wenn Frauen die Bewahrerinnen der Vielfalt sein sollen, müssen sie über Gestaltungsmacht verfügen – sowohl in der Familie als auch in der politischen Arena.8

Sozial-ökologische Herausforderungen als Chance begreifen Der Wechsel vom Reisanbau in einem überwiegend traditionellen landwirtschaftlichen System zu einem intensi- vierten System, das größtenteils von Agrargütern geprägt und von Marktdynamiken getrieben wird, geht weiter voran. Die Erforschung dieses Wandels verdeutlicht, dass nicht nur der landwirtschaftliche Sektor betroffen ist. Wie für ein Schwellenland charakteristisch, sind auch in Wayanad und dem Staat Kerala Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, innerhalb der sozio-kulturellen Sphäre sowie zwischen den Geschlechtern zu beobachten. Für das Projekt steht nach Abschluss der ersten Feldphase im Herbst 2011 die weitere Auswertung der Befunde an, woran sich die synthetische Zusammenführung der Ergebnisse aus den verschiedenen Disziplinen anschließt. Die Synthese dient als Zwischenbilanz für das gesamte Projekt, zur Evaluierung der Arbeitshypothesen und Problemstellungen sowie zur Erstellung von verschiedenen Problem- bzw. Lösungsszenarien. Es schließt sich eine zweite, vertiefende Feldphase an, aus der weitere Ergebnisse für die Formulierung von Transformationswissen

6 MacGregor 2010. 7 Mukhopadhyay 2007. 8 MacGregor 2010. 141 Hannah arpke | isabelle kunze gezogen werden können. Die Sicherung eines geschlechtergerechten und nachhaltigen Nutzens biologischer Vielfalt wird sich auch mit dem Wandel auseinandersetzen müssen, um differenzierte Ergebnisse, angemessene Analysen und sinnvolle Empfehlungen zu präsentieren.

Literatur

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Annette Harth Gitta Scheller Das Wohnerlebnis in Deutschland Eine Wiederholungsstudie nach 20 Jahren

Die Studien des Soziologen Alphons Silbermann (1909-2000) – vor allem seine große Untersuchung „Vom Wohnen der Deutschen“ von Anfang der 1960er-Jahre und die beiden nachfolgenden, von der IKEA-Stiftung geförderten Studien „Neues vom Wohnen der Deutschen (West)“ von 1991 und „Das Wohnerlebnis in Ostdeutschland“ von 1993 – sind Meilensteine der Wohnsoziologie.1 Sie wurden breit in der Fachwelt und der interessierten Öffent- lichkeit diskutiert und gehören nach wie vor zu den wichtigsten Datenquellen zum Wohnerleben der Menschen in Deutschland. Silbermanns Studien sind deswegen so interessant, weil er das „Wohnerlebnis“ in den Mittel- punkt stellte und danach fragte, „was in der Wirklichkeit des Alltags ‚das Wohnen’ ist“. Ihm ging es um das Wohnen als alltägliches Handeln: Wie wird das Wohnzimmer genutzt, wie die Küche? Wo wird gearbeitet, wo gespielt und wo relaxt? Zeigen sich Raumnutzungskonflikte zwischen den unterschiedlichen Haushaltsmit- gliedern? Auch um die Einrichtungsstile ging es: Welchen Wohnstil wählen die Menschen und welche Emotionen verbinden sie damit? Erhöhte Aufmerksamkeit fanden auch Fragen, die sich um das Verhältnis von „innen“ und „außen“ rankten: Welche Räume werden vor dem Besuch verborgen gehalten? Und nicht zuletzt ging es darum, dem Empfinden des Wohnerlebnisses näher auf die Spur zu kommen: Dominieren alltagspraktische funktionale Ansprüche? Ist die Wohnung mehr „Nest“ und Geborgenheitsspenderin oder Prestigeobjekt?

Forschungskonzeption Unsere Untersuchung gewinnt ihre Spannung in der Hauptsache als Follow-up-Studie der genannten Silbermann- Untersuchungen. Ein in Teilen identischer Fragebogen mit demselben Erhebungsansatz wird eingesetzt: Face- to-face-Interviews in den Wohnungen der Befragten. Die Studie geht den damals festgestellten Trends weiter nach und greift gleichzeitig neue Entwicklungen auf: Sind die Menschen in Ost und West hinsichtlich ihrer Wohnstile immer noch so stark an den Kriterien „Preis“ und „Funktionalität“ orientiert? Oder sind heute emotio-

1 Silbermann 1993; 1991; 1966. 143 annette harth | gitta scheller

nale Kriterien wichtiger? Und wie steht es um den Privatisierungstrend? Ist dies heute noch ausgeprägter („co-cooning“, „homing“) oder haben der Wandel der Arbeitsstrukturen („home office“) und die Anfang der 1990er-Jahre noch gar nicht vorstellbare Medienaus- stattung unserer Wohnungen wieder eine stärkere Öffnung begünstigt? Und die Repräsentations- funktion der Wohnung und der einzelnen Räume: Will man tatsächlich weniger renommieren oder sind die Repräsentationszeichen schlicht subtiler oder einfach zeitgemäßer geworden? Und nicht zuletzt: Lassen sich heute – mehr als 20 Jahre nach dem Mauerfall – noch Ost-West-Unterschiede im Wohnerleben feststellen?

Forschungsrahmen Das Projekt wurde von der IKEA-Stiftung finanziell gefördert mit einer Laufzeit von zehn Monaten (Januar bis Oktober 2011). Die repräsentative Erhebung in Deutschland wurde durch das Berliner Sozialfor- schungsinstitut USUMA durchgeführt. Befragt wurden 1. 504 Personen in Ost- und Westdeutschland Anfang 2011. Die Fragen betrafen die Ausstattung und Einrichtung der Wohnung sowie die Nutzung der unterschiedlichen Räume. Erfragt wurde auch, welche Bedeutung die Publikation „Das Wohnerlebnis in Deutschland. Eine Wiederholungsstudie Wohnung heute für die Menschen hat. Die Antworten nach 20 Jahren (Springer VS Verlag, 2012). wurden nach unterschiedlichen Bevölkerungs- und Sozialgruppen sowie sozialen Milieus ausgewertet. Die Ergebnisse werden unter dem Titel „Das Wohnerlebnis in Deutschland. Eine Wiederholungsstudie nach 20 Jahren“ im Verlag Springer VS publiziert. Das Buch erscheint im April 2012.

Literatur

Si l b e r m a n n , Al p h o n s (1993): Das Wohnerlebnis in Ostdeutschland. Köln. Si l b e r m a n n , Al p h o n s (1991): Neues vom Wohnen der Deutschen (West). Köln. Si l b e r m a n n , Al p h o n s (1966 [zuerst 1963]): Vom Wohnen der Deutschen. Eine soziologische Studie über das Wohnerleben. Frankfurt am Main, Hamburg. 144 2

Ruth May Migrantinnen als Existenzgründerinnen Eine explorative Studie in der Nordstadt von Hannover

Die Stadt als Ort der Integration von Zuwanderern ist auch ein Ort sozialräumlicher Segregationen. Die Untersu- chung beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Segregation und Integration am Beispiel einer Reihe von Migran- tinnen in der Nordstadt von Hannover, die diesen Stadtteil für ihre Existenzgründung ausgewählt haben. Die Nordstadt ist ein von MigrantInnen ausdrücklich besonders bevorzugter Stadtteil. Begründet wird diese Wahl mit der sozialen Durchmischung und auch, dass manche der hier lebenden MigrantInnen wirtschaftlich-sozial relativ erfolgreich sind. Sie können schon auf eine eigene Geschichte zurückblicken, in deren Verlauf sie ihr Quartier mit geprägt haben. Dafür, dass die Nordstadt ein Ort der Wahl ist, spricht auch, dass es im Stadtteil lebendige Einrichtungen insbesondere der türkischen, aber auch anderer MigrantInnengruppen gibt. Die Nähe zur Innenstadt, die fußläufige Erreichbarkeit diverser Lokalitäten, Geschäfte und Attraktionen werden in Gesprächen ebenso positiv herausgestellt wie die Nähe zu den Treffpunkten von MigrantInnen in benachbarten Stadtteilen. Gerade junge Frauen mit Kindern berichten über Beziehungen und Netzwerke im Stadtteil, die auch Kontakte und Überschneidungen insbesondere mit alternativen Milieus und Initiativen deutscher BewohnerInnen, ihren Treffpunkten und Einrichtungen einschließen. Gerade hier könnten sie sich gegen die patriarchalen Strukturen ihres Herkunftsmilieus behaupten, weil sie Anschlüsse und Unterstützung (z. B. auch durch Kinderladeninitia- tiven, durch Sozialarbeit) finden.1

1 Hier greifen wir auch Ergebnisse einer früheren Untersuchung auf, die im Forschungsprojekt „Abbau von sozial-räumlicher Ausgrenzung“, gefördert durch die VW-Stiftung 2000–2003, Wirkungsweisen der Planung und Neugestaltung des Stadtteils in einer geschlechterdifferenzierenden Sicht sowie im Vergleich zu anderen Erneuerungsprojekten untersucht hat (s. den Aufsatz von Ruth May zu „Planungstheorie und genderorientierter Forschung“ in diesem Band). Die besondere Situation von MigrantInnen konnte dabei nur am Rande thematisiert werden. Allerdings wurde deutlich, dass die Interessenlagen und Erwartungen von Migrantinnen, aber auch von Migranten, nur unzureichend in Planungsprozessen beachtet und reflektiert wurden. 145 ruth may

Insgesamt kann man sagen, dass die Nordstadt für Migrantinnen Potenziale bietet, die sowohl durch die Nutzungsmischung, die Möglichkeiten verschiedener eigener und alternativer Infrastrukturen, aber auch durch die soziale Heterogenität mit ihren sozialkultu- rellen Belebungsqualitäten bestimmt sind. Die Untersuchung geht von dem Gedanken aus, dass Existenzgründerinnen aus dem Migrantenmilieu auf exemplarische Weise eine soziale und ökonomische Selbstbehauptung und aneignende Nutzung eines Stadtraums anschaulich machen. Das Vorhaben stellt sich die Aufgabe, am Beispiel der Existenzgründerinnen in der Nordstadt von Hannover (gelungene) Integra- tionsprozesse exemplarisch zu untersuchen. Es will damit Potenziale für die Integration von Migrantinnen ausfindig machen, die durch Stadt- und Quartier- Schaufenster Schneiderei, Hannover-Nordstadt (Foto: Ruth May, 2012). planung unterstützt und verstärkt werden können. Im Zentrum der Untersuchungen stehen der urbane Integrationsmodus und die Optionen der Migrantinnen auf eine eigenständige Berufsarbeit und Teilnahme am öffentlichen Leben. Mit der Studie sollen folgende Thesen überprüft werden: -- Existenzgründerinnen aus dem Migrantenmilieu sind ein paradigmatisches Beispiel für gelungene Integrati- onsprozesse. -- Existenzgründerinnen aus dem Migrantenmilieu überschreiten die ggf. vorherrschenden patriarchalen Normen ihres Herkunkunftsmilieus. Die Untersuchung in der hannoverschen Nordstadt hat explorativen Charakter. Wir vermuten, dass Integrations- prozesse in städtischen Quartieren mit einem hohen MigrantInnenanteil insbesondere dort eine Chance haben, wo folgende Voraussetzungen existieren bzw. von der Quartiersplanung unterstützt werden: -- Es bildet sich ein Netz von Dienstleistung, Handel, Gastronomie aus der MigrantInnenbevölkerung aus, das auch für die ansässige Bevölkerung und Außenstehende attraktive Anlaufpunkte bietet. -- Es gibt ein auf rege interkulturelle Begegnung orientiertes Netzwerk von Vereinen, Verbänden und Initia- tiven, das gewissermaßen eine zivilgesellschaftliche Legierung zwischen den verschiedenen Bevölkerungs- gruppen organisiert. -- Diesen Bottom-up-Initiativen stehen solche Top-down-Maßnahmen beiseite, also politische und behördliche Bereitschaften und materielle Hilfen, die ersteren überhaupt eine Entfaltung und Anerkennung ermöglichen.

146 Projekte 2 Es wird gefragt, welche Standortpräferenzen existieren: Welche örtlich-räumlichen Kriterien sind ausschlag- gebend? Konzentrieren sich die Unternehmungen in Gebieten, die eher durch MigrantInnen dominiert sind? Welche Bedeutung hat ein (schon existierendes) Netzwerk von Dienstleistungen, Geschäften und Gastronomie aus der Migrantenbevölkerung? Welche weiteren Infrastrukturen sind ausschlaggebend? Welche Rolle spielt bei Ladengeschäften die räumlich- ästhetische Ausgestaltung? Gibt es für das betreffende ethnische Milieu als typisch erachtete Anklänge, etwa in dem räumlichen Ambiente und in der Fassadenge- staltung? Des Weiteren wird z. B. gefragt, wie offen Schaufenster Afro-Laden, Hannover-Nordstadt (Foto: Ruth May, 2012). oder geschlossen der KundInnenkreis dieser Unter- nehmen ist: Wie werden die Bedarfe und Wünsche der verschiedenen KundInnengruppen aufgegriffen? Die Untersuchung stützt sich auf Exkursionen im Viertel, Beobachtungen und die Bestandsaufnahme von Geschäftsstandorten in den Jahren 2005 und 2010 und vor allem auf leitfadengestützte Interviews mit Gründerinnen. In fünf Fallstudien werden persönlich-biografische Hintergründe untersucht sowie die fachlich-profes- sionellen Ausgangspunkte der Gründerinnen, ihr Erfahrungswissen und ihre Kenntnis des Viertels, ihre Aneignung/Deutung der stadtteilspezifischen Bedarfe und Bedürfnisse, Erfolge und Misserfolge, Konflikte und Lösungen. Die Ergebnisse werden daraufhin befragt, wie Stadtplanung und Architektur zu gelin- An der Christuskirche, Hannover-Nordstadt (Foto: Ruth May, 2005). genden Integrationsprozessen beitragen können. Das Projekt wird mit Mitteln des Senatspools für gleichstellungsspezifische Aktivitäten an den Fachbe- reichen der Universität Hannover und mit Mitteln des gender_archland unterstützt.

147 Ingrid Heineking Zukunftschancen der bedarfsgerechten Nahversorgung in ländlichen Räumen Niedersachsens

Seit Jahren wird an der Abteilung für Planungs- und Architektursoziologie bei Barbara Zibell über die Bestimmung und Sicherstellung von Bedarfsgerechtigkeit in der räumlichen Planung und Entwicklung geforscht. Einen Schwerpunkt nimmt dabei die Versorgung als Bestandteil der Haus- und Familien- bzw. Betreuungs- arbeit im Reproduktionsbereich und die räumliche Entsprechung des Wohnens ein. Ihre Vorstellung von einer gendersensiblen Herangehensweise an das Thema konnte sie erstmals in einem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen des Programms „Stadt 2030“ geförderten Verbundvorhaben verwirklichen, dessen Teilprojekt „Wohnen und Versorgung“ sie von 2003 bis 2005 leitete.1 Zusätzlich hatte Barbara Zibell im Rahmen des EU-geförderten INTERREG-III-B „GenderAlp!“ (Laufzeit 2005–2007) die Gelegenheit, im Auftrag des Leadpartners, Land Salzburg, ein Projekt zum Thema „Bedarfsgerechte Raumplanung“ durchzuführen.2 Dieser international orientierten Erhebung und Dokumentation von Gender Practices auf allen Maßstabsebenen der räumlichen Planung folgte eine Expertise zum Sachprogramm „Standortentwicklung für Wohnen und Arbeiten im Salzburger Zentralraum“ im Rahmen der Überarbeitung der Salzburger Landesplanung.3 Die Ergebnisse dieseer Expertise flossen in die Überarbeitung des Sachprogramms „Wohnen und Arbeiten im Salzburger Zentralraum“ ein.4 Nach diesen Erfahrungen als Projektpartnerin war es nur folgerichtig, ein eigenes Forschungsprojekt mit einem Schwerpunkt Versorgungsfragen zu initiieren. In der Diskussion mit der Verfasserin wurde eine inhaltliche Verknüpfung zwischen bedarfsgerechter Versorgung und deren Erreichbarkeit auch in Bezug auf demografische Veränderungen im ländlichen Raum immer konkreter; die Projektidee zu „Zukunftschancen der bedarfsgerechten Grundversorgung in ländlichen Räumen Niedersachsens am Beispiel ausgewählter Regionen“ entstand. Diese

1 Zibell u. a. 2005. 2 Zibell u. a. 2006. 3 Zibell 2006. 4 land Salzburg 2009. 148 Projekte 2 Idee konnte 2010 im Rahmen einer durch den Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE) geförderten Machbarkeitsstudie in einem Zeitraum von sechs Monaten vertieft, näher definiert und mit Interessierten disku- tiert werden.

Vorarbeiten im Rahmen einer Machbarkeitsstudie Mit dem Ziel, geeignete KooperationspartnerInnen und Untersuchungsräume für ein Forschungsprojekt im ländlichen Raum Niedersachsens zu finden, wurden vorhandene Entwicklungskonzepte der im niedersächsischen Zielgebiet „Regionale Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung” (RWB) liegenden LEADER-5 bzw. ILEK-Regionen6 gesichtet und nach ihrer strategischen Ausrichtung auf Sicherung und Entwicklung der Versorgungsstrukturen, der Bestandssituation, den Ergebnissen einer SWOT-Analyse,7 den formulierten Zielen und den erarbeiteten Handlungsfeldern zum Thema Versorgung ausgewertet. In persönlichen Vorortgesprächen und Workshops mit interessierten VertreterInnen der vorausgewählten Regionen, Gemeinden, Landkreise und ortsansässigen Unternehmen wurden die Schwächen ebenso wie die Stärken der Versorgungssituation in möglichen Untersuchungsgebieten diskutiert und ein Konzept mit Betei- ligung potenzieller ProjektpartnerInnen erarbeitet, um zukunftsfähige Themen zu finden, Ideen zu entwickeln und deren Umsetzungschancen abzuwägen. In weiteren Schritten wurden Sondierungsgespräche geführt und die Kriterien verfeinert, um eine repräsentative Auswahl von Untersuchungsräumen zu erhalten. Deren Regionalma- nagement ebenso wie einzelne Gemeindevertretungen sollten ein besonderes Interesse an Konzepten zur poten- ziellen Erhaltung und nachhaltigen Stärkung der lokalen Versorgungssituation haben und zu einer Mitarbeit am Forschungsprojekt bereit sein. Folgende Regionen wurden vom Projektteam8 als Untersuchungsräume für eine Zusammenarbeit ausgewählt: Region Hasetal, Region Hümmling, Region Nördliches Osnabrücker Land, Region W.E.R.O. Deutschland im nördlichen Grenzgebiet zu den Niederlanden, die Region Wesermarsch und die Region „Wir 5 – Leine los!“ mit der Stadt Uslar. Die Unterschiedlichkeit dieser Untersuchungsräume führt zu einer breitgefächerten und differenzierten Sichtweise auf das Forschungsfeld Versorgung im demografisch wie wirtschaftlich induzierten strukturellen Wandel.

5 Die Abkürzung LEADER steht für Liaison entre actions de développement de l‘économie rurale (Verbindung zwischen Aktionen zur Entwicklung der ländlichen Wirtschaft) und deutet damit den integrierenden, sektorübergreifenden Charakter der Initiative der EU-Regionalförderung an (www.leaderplus.de). LEADER-Regionen werden im Zeitraum 2007–2013 aus dem Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raumes (ELER) gefördert, um ihre Stärken als Region zu festigen und ihre Schwächen abzubauen. 6 Die Abkürzung ILEK steht für Integriertes Ländliches Entwicklungs-Konzept. ILEK-Regionen verfolgen ähnliche Ziele wie LEADER- Regionen, wurden jedoch nicht als Fördergebiete von der EU anerkannt. 7 Die SWOT-Analyse - engl. Akronym für Strengths: Stärken, Weaknesses: Schwächen, Opportunities: Chancen und Threats: Bedro- hungen - ist ein Instrument der Entscheidungsfindung, das aus der Unternehmensführung entlehnt auch in der räumlichen Planung angewendet wird. 8 Zum Projektteam der Machbarkeitsstudie gehörten neben Ingrid Heineking und Barbara Zibell auch Hendrik Bloem und Petra Preuß, im Forschungsprojekt erweitert durch die Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Javier Revilla Diez und Nina Heinecke, Wirtschaftsgeo- graphie. 149 ingrid heineking

Lage und Standorte der ProjektpartnerInnen und Untersuchungsräume des Forschungsprojekts (Karte: Landesamt für Geoinformation und Landent- wicklung Niedersachsen [LGLN], Hervorhebungen: Projektteam, 2011).

150 Projekte 2 Als eindeutiges Ergebnis kann festgehalten werden, dass die Kommunen und Regionen im ländlichen Raum Niedersachsens, ganz unabhängig von ihrer derzeitigen Versorgungslage, sehr interessiert an einer Forschung zu diesem Thema sind. In den Voruntersuchungen kristallisierte sich eine Fokussierung auf die wohnortnahe Versorgung mit Waren des täglichen Bedarfs – Nahversorgung – schnell heraus. Die Besonderheit einer Koope- ration mit ansässigen oder potenziell interessierten Unternehmen des Lebensmitteleinzelhandels im Bereich der Forschung ist ebenfalls für alle Beteiligten von Interesse. Sie schafft die Basis für realistische Diskussionen zu alternativen Konzeptansätzen, Fragen der Standortentscheidung aus Sicht des Einzelhandels und anderen typischen Belangen des Einzelhandels in ländlichen Regionen.

Anlass und Ziele für ein Forschungsprojekt Die Sicherung einer bedarfsgerechten Nahversorgung ist eine wichtige raumordnerische Aufgabe, um dem Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse in allen Teilräumen der BRD näher zu kommen. Niedersachsen ist davon weit entfernt, die zahlreichen ländlichen Regionen sind mehr und mehr von Schließungen in allen Bereichen der öffentlichen und privaten Versorgung betroffen. Dies führt dabei häufig zur Abnahme von Lebensqualität und Zunahme von Wegen zu den weiter entfernten Versorgungsstandorten; der durch Preis- und Konkurrenzkampf beschleunigte Rückzug des Lebensmitteleinzelhandels als Frequenzbringer in den Ortskernen zieht zudem oft eine Schließung weiterer Versorgungseinrichtungen nach sich. Dies hat spürbare Konsequenzen für die Ortsmitten als soziale Treffpunkte, Auswirkungen auf die Aufenthaltsqualität sowie auf die Möglichkeiten einer wohnortnahen Versorgung mit ihren Effekten für spontane Begegnung und dörfliches Leben. Ungleiche Voraussetzungen und Rahmenbedingungen in den verschiedenen Räumen Niedersachsens führen zu unterschiedlichen Versorgungssi- tuationen. Das aus der Machbarkeitsstudie heraus konzipierte Forschungsprojekt verfolgt deshalb das Forschungsziel, die Wechselwirkungen zwischen Versorgungsqualität, Raumstrukturen und dem Einkaufsverhalten aufzuzeigen, um gemeinsam mit Unternehmen innovative und nachhaltig funktionierende Lösungsansätze für bedarfsge- rechte regionale Nahversorgungsstrukturen zu entwickeln. Es will außerdem zur Aufklärung in der Bevölkerung beitragen, so die Identifikation der Menschen mit ihrer Region stärken und einen wichtigen Beitrag zur nachhal- tigen Entwicklung des ländlichen Raumes leisten. Die drei Akteursgruppen – Kommune als Planungsträgerin, Bevölkerung als nachfrage-orientierte Kundschaft und Wirtschaft in Form angebotsorientierter Unternehmen –, die mit ihren Entscheidungen und ihrem Verhalten aktiv auf die Versorgungsstruktur eines Raumes wirken, sollen in ihren Erwartungen, Zusammenhängen und ihrer Bedarfsstruktur untersucht werden. Die Entwicklungstrends in der Wirtschaft, auf dem Arbeitsmarkt und bei der Einkommenssituation in den betei- ligten Gemeinden/Städten/Regionen/Landkreisen sollen Teil der Untersuchungen sein, um Schwächen und Stärken klar aufzeigen zu können. Weiterhin werden die prognostizierte Bevölkerungs- und Haushaltsentwicklung und das daraus resultierende potenzielle Verhalten der Menschen in den beteiligten Regionen punktuell und beispielhaft untersucht und zu diesen Strukturen in Bezug gesetzt, um Szenarien für die künftige Entwicklung entwerfen zu

151 ingrid heineking können. Für eine weitergehende Bewertung werden die Strukturen der am Projekt beteiligten Einzelhandelsun- ternehmen und deren betriebswirtschaftliches Kalkül erfragt, auch hier mit dem Ziel, strukturelle Stärken und Schwächen, Chancen und Risiken aufzuzeigen. Dabei sollen die Konsequenzen der zukünftigen Herausforde- rungen vor dem Hintergrund von demografischer Entwicklung und Mobilitätsbedarf, Genderaspekten und recht- lichen Rahmenbedingungen auf die Marktpotenziale für Nahversorgungseinrichtungen abgeschätzt werden. Realisierte oder im Prozess befindliche Initiativen und Projekte, die auf die spürbaren Schwächen und Problem- lagen vor Ort bereits reagieren, sollen dokumentiert und bewährte Beispiele auf ihre Übertragbarkeit hin geprüft werden, wobei hier die bestehenden kleinen und mittelständischen Unternehmen sowie das lokale Potenzial für Existenzgründungen von besonderem Interesse ist. Ziel ist es, mit den beteiligten ProjektpartnerInnen Konzepte zu entwickeln, die in konkrete Projekte zur Verbesserung der Versorgungssituation im ländlichen Raum münden und später durch kleine und mittelständische Unternehmen getestet werden können.

Genderaspekte Die Zukunftschancen einer bedarfsgerechten Nahversorgung im ländlichen Raum sind im engen Zusammenhang mit den jeweils vorherrschenden gesellschaftlichen und strukturellen Rahmenbedingungen, insbesondere der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, zu sehen. Neben demografischen Veränderungen, Erreichbarkeit und Mobilität sowie Siedlungsstrukturen, die in Bezug zum Einkaufsverhalten gesetzt werden müssen, besteht durch die unterschiedliche Betroffenheit möglicher NutzerInnengruppen eine besondere Relevanz von Genderas- pekten. Der wissenschaftliche Beitrag des Vorhabens liegt u. a. in der geschlechterdifferenzierten Aufbereitung der Versor- gungsproblematik ländlicher und strukturschwacher Räume und in der Bearbeitung des bisher eher vernachläs- sigten Aspektes der sozialen Nachhaltigkeit (Stichwort: Geschlechtergerechtigkeit). Während der Vorarbeiten wurde bereits deutlich, dass die räumlichen Auswirkungen der in ihrer Zahl zurückgehenden Versorgungsein- richtungen im ländlichen Raum angesichts des demografischen Wandels nicht ohne ein geschlechterdifferen- ziertes Vorgehen bewältigt werden können und dass ein solches Vorgehen dazu beiträgt, die Konsequenzen des Wandels bedarfsgerecht zu bewältigen. Das Selbstverständnis einer gendersensitiven Sichtweise auf das Thema Versorgung erfüllt gleichzeitig eine Differenzierung nach den unterschiedlich betroffenen Bevölkerungsgruppen und Lebenssituationen (z. B. Familienfrauen, Ältere, Kinder, Menschen mit Behinderungen, einkommensschwache Bevölkerungsgruppen). Insbesondere die ältere und damit einhergehend immobiler werdende (überwiegend weibliche) Bevölkerung ist vom Rückgang einer wohnortnahen Versorgung betroffen. Punktuelle Befragungen zu Bedürfnissen, Wünschen und Einkaufsverhalten von KundInnen sollen hier Einblicke in demografiegerechte Lösungsansätze geben, die gleichzeitig dazu beitragen, dass kleine und mittelständische Unternehmen ihr Angebot adäquat und flexibel auf die sich ändernden KundInnenpotenziale zuschneiden können.

152 Projekte 2

Literatur

La n d Sa l z b u r g , a b t . Ra u mp l a n u n g /Fr i e d r i c h Ma i r (2009) (Hrsg.): Sachprogramm Standortentwicklung für Wohnen und Arbeiten im Salzburger Zentralraum, Verordnung der Salzburger Landesregierung vom 26. Jänner 2009 LGBI., 13. ISBN 3-901343-65-2. Salzburg. Zi b e l l , Ba r b a r a ; Pr e u ss , Pe t r a ; Bl o e m , He n d r i k (2010): Hello and good buy! Einladender Einzelhandel. Praxisbeispiele und Architekturvisionen, hrsg. von Leibniz Universität Hannover. Hannover. Barbara Zibell (2006): Gender Expertise zum Sachprogramm „Standortentwicklung für Wohnen und Arbeiten im Salzburger Zentralraum“. Bedarfsgerecht Planen Teil III: Gender Analysen und Empfehlungen. Im Auftrag der Salzburger Landesre- gierung, Büro für Frauenfragen und Chancengleichheit, Thalwil/ZH. Salzburg. Zi b e l l , Ba r b a r a ; Ka r a c s o n y , Ma y a ; Da h ms , Ni c o l e (2006): Bedarfsgerechte Raumplanung. Gender Practice und Kriterien in der Raumplanung, Endbericht Langfassung, hrsg. von Land Salzburg, Büro für Frauenfragen und Chancengleichheit (Materialien zur Raumplanung, 20). Salzburg. Zi b e l l , Ba r b a r a ; Jü r j e n s , Br i g i t t e ; Kr ü g e r , Ka r s t e n (2005): Wohn- und Versorgungs-Stadt-Region 2030. Forschungser- gebnisse, hrsg. von Zweckverband Großraum Braunschweig ZGB / KoRiS Kommunikative Stadt- und Regionalentwicklung (Beiträge zu STADT+UM+LAND 2030 Region Braunschweig, 10). Braunschweig. Zi b e l l , Ba r b a r a ; Pr e u ss , Pe t r a (2005): good practices. Praxisbeispiele zum Thema Wohnen und Versorgen, hrsg. von Zweckverband Großraum Braunschweig. Braunschweig, Hannover. 153 Dissertationen

anke schröder Gender-Mainstreaming als Instrument bedarfsgerechter Wohnraumversorgung

Die Auswirkungen der demografischen Entwicklung wie z. B. Rückgang und Alterung der bundesdeutschen Bevöl- kerung und der damit verbundene soziale Wandel führen zu Veränderungen bei der Wohnraumnachfrage. Neben einem verstärkten Interesse an altengerechten Wohnungen gewinnen auf dem Wohnungsmarkt auch andere Lebensformen an Bedeutung, die durch Individualisierung, Emanzipation, Ausdifferenzierung und Multikulturalisierung geprägt sind. Die Deckung der unterschiedlichen Bedarfe kann durch die meist standardisierten Wohnungsgrundrisse nicht mehr zeitgemäß erfüllt werden. Die bis in die 1990er-Jahre hinein anhaltenden Wohnbauaktivitäten führten zwar grundsätzlich zu einer ausreichenden Versorgung der Bevölkerung mit Wohnraum, dennoch gliedern Binnenwanderungen die Kommunen in Deutschland in teils schrumpfende, teils wachsende Teilmärkte. Cover der veröffentlichten Dissertation (tabasco.media, 2010). Vor allem aufgrund einer stagnierenden Bevölkerungszahl in Deutschland errichten Wohnungsunternehmen kaum noch Neubauten, stattdessen konzentrierten sie sich vermehrt auf den Umbau im Bestand. Diese verän- derten Rahmenbedingungen geben Wohnungspolitik und -wirtschaft sowie der kommunalen Verwaltung Anlass, vorhandene Handlungsstrategien zu überdenken. Die Entwicklung von der quantitativen Versorgung der Bevöl- kerung mit Wohnraum hin zu einer qualitativen Anpassung vorhandener Bestände ist relativ neu und erfordert die bedarfsgerechte Erfassung unterschiedlicher Bedürfnisse.

154 Dissertationen 2 Gender-Mainstreaming stellt dabei ein hilfreiches Instrument dar, um diese Bedarfe systematisch zu erfassen. Die Berücksichtigung genderspezifischer Ansätze bringt einen Mehrwert durch:

-- methodische Ansätze, -- Formulierung von (Teil-)Zielen, -- vielseitige Maßnahmen, -- sorgfältige sozialräumliche und baulich-räumliche Planung, -- Wissenstransfer und Synergiebildung und -- Betreuung und Evaluation. Mit ihrem Kabinettsbeschluss vom 23. Juni 1999 erkennt die Bundesregierung die Gleichstellung von Frauen und Männern als durchgängiges Leitprinzip ihres Handelns an. Durch die Einrichtung einer Interministeriellen Arbeitsgruppe im Mai 2000 soll die Gender-Mainstreaming-Strategie in allen politisch relevanten Politik- feldern die unterschiedlichen Bedürfnisse der Bevölkerung berücksichtigen und Einfluss nehmen auf bestehende ungleiche Geschlechterverhältnisse, um der Gleichberechtigung einen Schritt näher zu kommen. Die im Folgenden skizzierte Dissertation1 beschäftigt sich mit der Verknüpfung von Gender-Mainstreaming und dem Themenfeld „Wohnen“ als einem gesellschaftlich relevanten Politikfeld. Die Bedeutung des Wohnens geht dabei weit über die Betrachtung der eigenen vier Wände hinaus und bezieht sich auf einen erweiterten Planungs- ansatz, der Wohnen als Bestandteil von Stadtentwicklung betrachtet. Die Studie analysiert, wie sich kommunale Planung und Wohnungswirtschaft auf die zu erwartenden Auswir- kungen der demografischen Entwicklung vorbereitet haben, inwieweit sich Gender-Mainstreaming als Instrument bedarfsgerechter Wohnraumversorgung in den Kommunen einerseits und den standortgebundenen Wohnungs- unternehmen andererseits nach nunmehr zehn Jahren etabliert hat und welche Veränderungen in konkreten Projektgebieten bereits erkennbar sind. Die Untersuchung auf den drei unterschiedlichen Ebenen Struktur, Prozess und Projekt soll dabei dem Gender-Mainstreaming-Ansatz als Querschnittsthema Rechnung tragen. Dazu wird zunächst der theoretische Bezugsrahmen ausgeführt und der Zusammenhang zwischen dem Themenfeld Wohnen und Gender-Mainstreaming in Zeiten des demografischen Wandels hergestellt. Das politische Konzept und die Implementierung von Gender-Mainstreaming in die kommunale Verwaltung werden ebenso aufgegriffen wie die veränderten Rahmenbedingungen in der Wohnungspolitik. Insbesondere unter dem Blickwinkel von Wohnen und Versorgung als Gemeinschaftsaufgabe werden geschlechtsspezifische Unterschiede sichtbar, denn Reproduktionsarbeit (wie Kindererziehung, Versorgung älterer Menschen und Erledigungen des täglichen Bedarfs) wird nach wie vor anteilig stärker von Frauen übernommen als von Männern.2

1 die von 2002 bis 2010 erarbeitete Dissertation wurde von Prof. Dr. Barbara Zibell (Leibniz Universität Hannover) und Prof. Dr. Sabine Baumgart (Technische UniversitätDortmund) betreut. 2 Vgl. Statistisches Bundesamt 2003: 6. 155 anke schröder

Die Beispiele Dortmund und Hannover Im zweiten Schritt widmet sich die Arbeit der empirischen Analyse und Darstellung der Wohnungsmärkte in den Kommunen Dortmund und Hannover, zweier bundesdeutscher Großstädte, die weder starken Wachstums- noch Schrumpfungstendenzen ausgesetzt sind und sich demzufolge auf anstehende gesellschaftliche Veränderungen vorbereiten können. Beide Kommunen können auf die Tradition frauenspezifischer Aktivitäten in der Planung zurückgreifen und nehmen Gender-Mainstreaming seit mehreren Jahren als kommunale Aufgabe wahr. Die Studie untersucht einerseits, welche Rolle Gender-Mainstreaming innerhalb der kommunalen Wohnraumversorgung einnimmt. Andererseits wird die handelnde Ebene der Wohnungswirtschaft dargestellt. Hierzu werden die jeweils größten und innovativsten standortverbundenen Wohnungsunternehmen und Wohnungsgenossenschaften in den beiden Kommunen untersucht und es wird herausgearbeitet, inwieweit das politische Konzept dort bereits Einzug gehalten hat und welche Kooperationen bestehen. Mit der Untersuchung bestehender Wohnungsbauten in den Auswahlstädten wird der Schritt von der Theorie in die Praxis versucht, um festzustellen, wie sich verän- derte Wohnraumansprüche äußern und welche Rolle Gender-Mainstreaming dabei spielt. Da bislang jedoch weder in Dortmund noch in Hannover Genderprojekte im Wohnungsbau umgesetzt wurden, nimmt die Studie den Umweg über zielgruppenspezifische Projekte. Bei diesen Projekten handelt es sich um intergenerative und multinationale Modellprojekte, die ihren Fokus auf spezifische Bedürfnisse definierter Gruppen richten, jedoch keinen gleichstellungspolitischen Ansatz verfolgen. Dabei steht im Fokus die Frage, ob diese Projekte bereits Impulse für die Wohnungswirtschaft gesetzt haben. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Kommunen bereits erste Schritte unternommen haben, um Gender-Mainstreaming zu implementieren. Hier wird es zukünftig um die Verstetigung vorhandener Ansätze sowie die Ausbreitung auf konkrete Themenfelder wie z. B. die Wohnraumversorgung gehen. Weiterhin fordert die veränderte Marktlage die Wohnungsunternehmen auf, die Suche nach geeigneten Handlungsstrategien und neuen Konzepten fortzusetzen. Gender-Mainstreaming spielt dabei bislang jedoch keine Rolle. Die Unternehmen stünden der Strategie jedoch durchaus positiv gegenüber, wenn der ökonomische Mehrwert oder eine qualitative Verbesserung der Wohnungsbestände messbar wäre. Anhand der betrachteten Neubauprojekte konnte festge- stellt werden, dass vor allem zielgruppenspezifische Projekte mit intergenerativen und multinationalen Ansätzen seitens der EigentümerInnen als Erfolg bewertet werden, sie aber keine Impulse in Richtung Gleichberechtigung implizieren. In den untersuchten Bestandsprojekten waren zielgruppenspezifische Angebote eher zufällig einge- setzt worden; hier würde die systematische Erfassung der spezifischen Bedarfe dazu beitragen, Erfolg verspre- chende und nachhaltige Maßnahmen zu entwickeln.

Literatur

Bundesministerium f ü r Familie, Se n i o r e n , Fr a u e n u n d Ju g e n d – Statistisches Bu n d e s a m t (Hrsg.) (2003): Wo bleibt die Zeit? Die Zeitverwendung der Bevölkerung in Deutschland 2001/02. Wiesbaden.

Sc h r ö d e r , An k e (2011): Gender Mainstreaming als Instrument bedarfsgerechter Wohnraumversorgung. Prozesse, Struk- turen und Projekte anhand ausgewählter Kommunen. Hamburg. 156 2

Irina Vellay Unbezahlte Arbeit und Stadtentwicklung Produktivität, Widerständigkeit und Wirkmächtigkeit des Alltäglichen

Die Aktualität der Frage nach der Bedeutung „unbezahlter Arbeit“ in der gesellschaftlichen Wirklichkeit und in der hier betrachteten Stadtentwicklung zeigt sich an dem zu Zeiten der „Globalisierungskrise“ wieder wachsenden Interesse, über gesellschaftliche Alternativen nachzudenken. Mit der Debatte über Gemeingüter oder commons verstärkt sich, beflügelt durch die Nobelpreisverleihung für Wirtschaftswissenschaften 2009 an Elinor Ostrom, die Aufmerksamkeit hierfür im politischen Feld.1 Zugleich fordern die für viele bedrückende soziale Verunsicherung und Prekarisierung aller Lebensverhältnisse – und damit der Alltagsgewissheiten – zunehmende Anstrengungen, um herauszufinden, wie sich Menschen in Gruppen organisieren, nicht nur, um den die individuellen Kräfte übersteigenden Risiken zu begegnen, sondern auch, um ein „gutes Leben“ zu führen. Dies schlägt sich in einem in den letzten Jahren gestiegenen Forschungsinteresse2 und einer wachsenden Bewegung alternativer Projekte nieder. Mein Forschungsprojekt widmet sich jedoch nicht den sich explizit als experimentell beschreibenden Projekten zu einer gemeinsamen Lebensführung, sondern konzentriert sich auf den Alltag von Menschen, wie er sich so oder ähnlich in jeder größeren Stadt mit montan-industrieller Vergangenheit vorfinden ließe. Im Zentrum stehen diejenigen Alltagspraxen, wie sie die Menschen ohne großes Nachdenken als im Laufe der eigenen Lebensge- schichte erlernte entwickeln. Diese Aktivitäten der Menschen beeinflussen auf eigenwillige Weise die räumliche Entwicklung des Stadtteils, finden jedoch im öffentlichen Planungshandeln wenig Beachtung. Auslösend für mein Interesse an der Fragestellung waren der oft geringe Erfolg kommunaler Steuerungsbe- mühungen in der Stadtentwicklung und die in der Praxis kaum überwindbaren Schwierigkeiten, nicht markt- relevante Belange wie z. B. „Fraueninteressen“ nachhaltig in den Planungsprozess zu integrieren. Dies konnte

1 Vgl. hierzu u. a. Ostrom 2011; Helfrich 2009; Habermann 2009; Möller u. a. 2006; Bennholdt-Thomsen 2003, Bennholdt-Thomsen 1997. 2 Grundmann u. a. 2006. 157 Irina Vellay nicht nur an den beteiligten Personen liegen. Hier waren strukturelle Ursachen zu vermuten. Verallgemeinert: Bei den Konflikten in der Planungs- und Umsetzungspraxis wurde der blinde Fleck sichtbar, welcher mit dem Ausblenden konkreter Anforderungen in offensichtlichem Widerspruch zum Anspruch des Baugesetzbuches nach einer dem Allgemeinwohl verpflichteten Planung steht („Die Bauleitpläne sollen eine nachhaltige städtebauliche Entwicklung […] und eine dem Wohl der Allgemeinheit entsprechende sozialgerechte Bodennutzung gewähr- leisten“, heißt es im BauGB3). Das Anliegen meiner Arbeit ist es, ausgehend von dieser Fehlstelle einen theoretisch und empirisch fundierten Beitrag zum Verständnis der komplexen Wirkungsbeziehungen zwischen nicht-markt- vermittelter bzw. gebrauchsförmiger Arbeit und Stadtentwicklung und deren Einbettung in die dominante, patri- archal strukturierte kapitalistische Warenökonomie zu leisten. Dadurch ist es möglich, den Allgemeinwohlbegriff zu konkretisieren und um das Feld gebrauchsförmiger Arbeit zu erweitern. Die anwendungsbezogene Relevanz der Arbeit soll sich in Hinweisen für kommunales Planungshandeln niederschlagen. Der für die Empirie ausgewählte Untersuchungsraum – die Nordstadt in Dortmund – ist seit Anbeginn Gegen- stand von Projektionen und einer Vielzahl planerischer Anstrengungen. Kaum ein Bereich in der Stadt ist derartig umkämpft. Hier brechen die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft offen auf und fordern deren Legitimität heraus. Das Klischee des Arbeiterstadtteils hinter der Bahnlinie ist immer wieder bemüht worden – auch dann, als es längst im Norden Dortmunds Stadtteile gab, die noch weiter draußen lagen. Die Nordstadt war und ist bis heute ein Unterschichten-Quartier, dauernd auf der Kippe in der schwierigen Balance zwischen Integration in die „Mehrheitsgesellschaft“ und Marginalisierung. Die Menschen waren hier immer auf Möglichkeiten angewiesen, auch ohne Geld ihre Existenz zu sichern – je nach historischer Entwicklungsphase mal mehr, mal weniger. Das ständige Pendeln zwischen der Welt der Warenproduktion und einer der Selbstversorgung durch Subsistenz- produktion und Eigenarbeit hat sich in der räumlichen Struktur als Unbestimmtheit niedergeschlagen. Dieses Moment von Offenheit, unsicheren, unklaren Perspektiven bietet den Zugang zum Verständnis sowohl der alten Erfahrungen und ihrer Verräumlichung als auch der immer wieder entstehenden und wieder verschwindenden Nischen selbstbestimmten Handelns. Die Studie umfasst drei Teile. Auf der Ebene der Theorie werden die räumliche und die daran geknüpfte planungs- rechtliche Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg analysiert. Dieser erste Teil arbeitet vor dem historischen Hintergrund die theoretischen Dimensionen heraus und begründet die forschungs- leitenden Fragen. Nach einer Annäherung an die historische Entwicklung des Städtischen im Dortmunder Norden wird dem Niederschlag nicht-marktvermittelter bzw. gebrauchsförmiger Arbeit in der feministischen Forschung und als räumlich konstitutivem Moment nachgegangen. Anschließend folgt eine kritische Betrachtung der Entwicklung von Stadtplanung und Stadtentwicklung in der Perspektive des Geschlechterverhältnisses und der durch neoliberalen Umbruch ausgelösten Modernisierung der Planungsstrategien. Der erste Teil schließt mit

3 Vgl. BauGB, Fassung vom 23.09.2004, zuletzt geändert 31.07.2009, §1 (5). Die Bauleitpläne sollen eine nachhaltige städtebauliche Entwicklung, die die sozialen, wirtschaftlichen und umweltschützenden Anforderungen auch in Verantwortung gegenüber künftigen Generationen miteinander in Einklang bringt, und eine dem Wohl der Allgemeinheit dienende sozialgerechte Bodennutzung gewähr- leisten. Sie sollen dazu beitragen, eine menschenwürdige Umwelt zu sichern und die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen und zu entwickeln, auch in Verantwortung für den allgemeinen Klimaschutz, sowie die städtebauliche Gestalt und das Orts- und Landschaftsbild baukulturell zu erhalten und zu entwickeln. 158 Dissertationen 2 einem Exkurs zur neoliberalen Stadterneuerung in den USA, basierend auf einer eigenen Feldforschung zum Em- powerment Zone Program im Jahr 2000 in Detroit. Im zweiten Teil wendet sich die Fallstudie zur Dortmunder Nordstadt den konkreten Entwicklungen auf der räumlichen Ebene, im Alltagshandeln der BewohnerInnen und dem öffentlichen Planungshandeln der Stadt- verwaltung zu. Beispielhaft werden die realen sozialen und räumlichen Entwicklungen in zeitlicher Gliederung zwischen 1945 und 2000 nachgezeichnet und mit dem Planungshandeln in Beziehung gesetzt. Dazu werden einerseits die konkreten subjektiven Erfahrungen Beteiligter (BewohnerInnen, PlanungsexpertInnen, lokale Schlüsselpersonen) herangezogen und andererseits zeitgeschichtliche Dokumente (Planungsdokumente wie vorbereitende und verbindliche Bauleitpläne, Entwicklungsprogramme, Kartierungen, Luftbilder etc.) analysiert. Hier wird sichtbar, wie sich der Handlungsrahmen für die BewohnerInnen veränderte und wie Stadtplanung auf reale Prozesse reagierte und politische Zielvorgaben verarbeitet hat. Das Anliegen ist es, die je spezifischen Beiträge zu der sich ausprägenden Entwicklung und deren Verschränkungen herauszuarbeiten. Dieses mehrper- spektivische Herangehen ermöglicht eine dichte Beschreibung des zu beobachtenden Entwicklungspfades und eine empirisch fundierte Einordnung der Beiträge der handelnden AkteurInnen. Der dritte Teil skizziert Möglichkeiten der Konzeptualisierung eines gebrauchsförmigen Reproduktionsmodus als kommunale Planungsaufgabe. Der Perspektivenwechsel, das bislang ausgeblendete „Andere“ als Ausgangspunkt eines neuen Handlungsrahmens zu sehen, erlaubt eine Beschreibung ohne Vereinnahmung in das bereits Beste- hende. Dieser Teil ist auch als ein Beitrag zu der Frage zu lesen: „Wem gehört die Stadt?“ Im besten Fall ermög- lichen es solche Konzeptskizzen, die Ansprüche „der Anderen“ auf eine Neuregelung des Zugangs zu Ressourcen und dem gesellschaftlichen Reichtum öffentlich diskutierbar und damit im politischen Feld verhandelbar zu machen.

Literatur

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Be n n h o l d t -Th o m s e n , Ve r o n i k a ; Mi e s , Ma r i a (1997): Die Subsistenzperspektive – Eine Kuh für Hillary. München.

Gr u n d m a n n , Ma t t h i a s u. a. (Hrsg.) (2006): Soziale Gemeinschaften. Experimentierfelder für kollektive Lebensformen (Individuum und Gesellschaft: Beiträge zur Sozialisations- und Gemeinschaftsforschung, 3). Berlin u. a.

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He l f r i c h , Si l k e (Hrsg.) (2009): Wem gehört die Welt? Zur Wiederentdeckung der Gemeingüter. München.

Mö l l e r , Ca r o l a ; Pe t e r s , Ul l a ; Ve l l a y , Ir i n a (Hr s g .) (2006): Dissidente Praktiken. Erfahrungen mit herrschafts- und warenkritischer Selbstorganisation (Konzepte/Materialien, 4). Königstein im Taunus.

Os t r o m , El i n o r (2011): Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter. München. 159 lehre

Barbara zibell Einführung

Die zweite Säule des gender_archland besteht in der Vermittlung von Forschungsergebnissen bzw. anwendungs- orientiertem Basiswissen in der Lehre und deren Profilierung im Rahmen der neuen Bachelor- und Master- studiengänge. Raumwissenschaftliche Genderstudien wurden als fester Bestandteil in den verschiedenen Studiengängen der Fakultät implementiert und auf der Schnittstelle der beiden Fachgruppen zwischen Archi- tektur und Landschaft verankert. Im Rahmen der angestrebten Internationalisierung der Hochschule wie der Fakultät werden zudem vermehrt auch englischsprachige Lehrveranstaltungen angeboten. Die Lehre im Bereich Gender Studies basiert auf der langen Tradition frauen- und genderspezifischer Lehrinhalte, wie sie bereits an den beiden ehemaligen Fachbereichen Architektur bzw. Landschaftsarchitektur und Umwelt- entwicklung vermittelt worden sind. In den 1970er-Jahren wurden Frauenseminare mit Gastvorträgen durchge- führt, in den 1980er-Jahren von Studierenden selbst organisierte Frauenseminare, die von wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen unterstützt wurden und sich durch ihre instituts- und fachbereichsübergreifende Zusammen- arbeit auszeichneten. In den 1990er-Jahren wurde am Fachbereich Architektur über mehrere Jahre hinweg ein Frauenseminar angeboten, das sich mit den Anforderungen von Frauen an ihren Lebensraum sowie mit Planungen von Fachfrauen beschäftigte. Mit der Schaffung der Professur „Architektursoziologie und Frauenforschung“ im Jahre 1996 wurde ein wichtiger Schritt getan, um die Frauenforschung in der Lehre nachhaltig zu verankern. Die Gender Studies haben seitdem einen festen Platz im Curriculum. Auch in anderen, insbesondere den sogenannten theoretischen, den histo- risch oder sozialwissenschaftlich ausgerichteten Fächern wurden entsprechende Inhalte innerhalb verschiedener Lehrveranstaltungen vermittelt, seit der Einführung der Gender-Mainstreaming-Strategie um die Jahrtausend- wende zunehmend mehrdimensional als Frauen- und Geschlechterforschung. An diesen Aktivitäten waren bis zur Gründung des gender_archland im Jahre 2007 insbesondere die Institute für Freiraumentwicklung, für Umwelt- planung und für Geschichte und Theorie der Architektur beteiligt.

160 Lehre 3 Seit dem Wintersemester 2010/11 wird das Wahlpflichtmodul „Raumwissenschaftliche Genderstudien“ fachüber- greifend in den Studiengängen B. Sc. Architektur sowie B. Sc. Landschaftsarchitektur und Umweltplanung angeboten. Mit Beschluss des Fakultätsrates wurden die Curricula inzwischen weiter entwickelt, sodass in Zukunft zwei fachübergreifende Module „Frauen und Männer in (Landschafts-) Architektur und Planung/Women and Men in (Landscape) Architecture and Planning“ in den Bachelorstudiengängen sowie „Raumwissenschaft- liche Genderstudien / Gender Studies in Spatial Science“ im Masterprogramm angeboten werden können. Hier spiegelt sich auch die Intention zur Internationalisierung der Lehre wider, die seit dem Wintersemester 2009/10 durch Gastprofessuren aus dem europäischen Ausland verstärkt wird. Seit seiner Einführung im WS 1996/97 wurde das Fach „Gender Studies“ im Studiengang Architektur mit wechselndem Erfolg durchgeführt. Als Wahlpflichtfach unterlag es den zufälligen Schwankungen in der Nachfrage, angesiedelt im Hauptstudium war es zu Beginn wenig abgefedert durch vorbereitende Lehrbausteine in Grundlagenfächern. Mehr Erfolg hatten frauen- und genderbezogene Aspekte in der Lehre häufig dort, wo sie im Rahmen anderer Fächer wie Architektursoziologie oder Planungs- und Architekturtheorie als integrale Bestandteile der Lehrinhalte angesprochen wurden. Im Studiengang Landschaftsarchitektur und Umweltentwicklung wurden Frauen- und Genderaspekte abhängig von den Aktivitäten einzelner Lehrpersonen im inhaltlichen Kontext von Studienprojekten und Seminarveranstal- tungen vermittelt und in Abschlussarbeiten thematisiert. Im Folgenden stellen wir einige Beispiele ausgewählter Lehrveranstaltungen aus den Jahren 2007 bis 2011 vor. Institut für Geschichte und Theorie der Architektur Das Wahlpflichtfach „Architektursoziologie I“ im Rahmen des Diplomstudiengangs Architektur (Grundstudium) enthielt bis zum Jahr 2009 einen Baustein zur frauengerechten und gender-sensitiven Stadt, in der regelmäßig Geschichte und Gegenwart des Planens und Bauens aus der Geschlechterperspektive aufbereitet und vermittelt wurden. Im Zusammenhang mit der Vermittlung städtebaulicher und planerischer Leitbilder wurden hier auch Ziele und Kriterien einer „frauengerechten“ bzw. „gender-sensitiven“ Stadt angesprochen. Im Hauptstudium wurden im Rahmen des Faches „Gender Studies“, aber auch in den Seminaren zum Fach „Archi- tektursoziologie II“ explizit oder implizit Genderthemen behandelt, so zum Beispiel in den Seminaren: -- „Schule als Lebensraum – Schule ist mehr“ (WS 2007/08), wo die (Grund-)Schule im Stadtteil als Institution und Ort in ihrer Bedeutung für Integration und lebenslanges Lernen behandelt wurde, -- „ArchitekturPerspektiven“ (WS 2008/09), wo es um die Zukunft des Berufsfeldes und um die Erweiterung individueller und struktureller Möglichkeiten ging, -- „Public Building – Public Space?” (WS 2009/10), wo öffentliche Räume innerhalb und außerhalb von Gebäuden im Hinblick auf ihre Nutzungs- und Aneignungsmöglichkeiten reflektiert wurden.

161 barbara zibell

Die Themen der verschiedenen Seminare im Hauptstudium waren häufig Anlass für die Entwicklung freier Haus- und/oder Diplomarbeiten.

Institut für Umweltplanung Die grundlegende Vorlesung „Landschaftsplanung und Naturschutz“ enthielt bis 2006 in ihrem Abschnitt „Natur- schutzgeschichte“ ausschließlich Hinweise auf das Wirken „der Väter“ des Naturschutzes. 2007 wurden die Leistungen der „Frauen in den Anfängen des Naturschutzes“, zu denen am Institut für Umweltplanung seit Ende der 1990er-Jahre geforscht wird, als Vorlesungsinhalt aufbereitet. Sie sind seitdem fester Lehrinhalt im Pflicht- modul „Landschaftsplanung und Naturschutz“ für alle Studierenden im 2. Semester des Bachelorstudienganges „Landschaftsarchitektur und Umweltplanung“. In Studienprojekten und Abschlussarbeiten werden immer wieder Themen auch aus der Geschlechterperspektive behandelt oder Themen bearbeitet, die sich mit den (Freiraum-)Bedürfnissen von Frauen oder dem Beitrag von Frauen zur Professionsgeschichte beschäftigen.

Beispiele für Studienprojekte: -- Jakob, Rebekka (2010): „Das ist halt nicht so wie früher: Alle bleiben so in ihrem Dorf ...“ - Entwicklungs- perspektiven für Borlinghausen – ein Dorf im Landkreis Höxter. Bedürfnisse von Jugendlichen im Fokus der Dorf- und Regionalentwicklung. -- Löwe, Grischa; Thies, Mareike & Wurr, Anna-Sophie (2007): Freiräume in Oberelspe – erkunden – entwickeln – erleben. Freiraumkonzept mit Bürgerbeteiligung. Beispiele für Diplomarbeiten: -- Ladlef, Ursula (2009): Auf die Plätze, fertig, los – und dann? Vollzugs- und Erfolgskontrolle einer naturnahen Spielraumgestaltung, untersucht am Beispiel der städtischen Kindertagesstätte Iserlohn-Hennen (NRW). -- Schulte im Hof, Katja (2008): Die Rolle der Gartentherapie in Generationenparks. -- Kurpan, Sabine (2011): Die Schätze der Nordseeinsel Juist – eine Landschaftsinterpretation in Erinnerung an Margarete Ida Boie und Helene Varges. Künstlerinnen und Naturforscherinnen auf Juist 1904-1906.

Raumwissenschaftliche Genderstudien Seit der Einführung des gemeinsamen Moduls „Raumwissenschaftliche Genderstudien“ im dritten Studienjahr, das – zunächst in den Bachelor-Studiengängen beider Fachgruppen der Fakultät – zum ersten Mal im Winterse- mester 2010/11 angeboten werden konnte und künftig unter diesem Titel in den Masterprogrammen angesiedelt

162 Lehre 3 wird, besteht die Chance, Genderaspekte grundlegend und interdisziplinär in besonderen Lehrbausteinen zu vermitteln. Wir stellen das neue Konzept zum Abschluss dieses Kapitels über die Lehre vor. In Studienprojekten besteht die Möglichkeit, Projektmethoden auf ihre Geschlechtergerechtigkeit zu hinter- fragen und beispielsweise den geschlechtersensiblen Umgang mit Sprache zu thematisieren und einzuüben. Eine Schulung der Sensibilität für Geschlechterfragen beim Planen und Entwerfen ist – solange die Profession in weiten Teilen noch männlich dominiert ist und weibliche Vorbilder, insbesondere im Bereich der Führungsposi- tionen, immer noch rar sind – unverzichtbar. Gleichzeitig trägt die Dekonstruktion von Geschlechterverhältnissen dazu bei, Kreativität freizusetzen und Innovationspotenzial für die Konstruktion neuer Welten zu entfalten.

163 Ausgewählte Lehrerfahrungen im Rückblick

Roswitha Kirsch-Stracke Geschlechtergerechte Sprache – ein Experiment „Der Gärtner“ und „der Landschaftsarchitekt“ in den Köpfen von Studierenden

Im Jahr 1984 veröffentlichte die Linguistin Luise Pusch ihr Buch „Deutsch als Männersprache“ und verschaffte damit der feministischen Sprachkritik deutlich wahrnehmbar ein öffentliches Gehör. Seitdem hat sich die Sprache in den meisten gesellschaftlichen Bereichen, in Politik, Kirche und Medien, frauenfreundlicher entwickelt. Auf die Frage, ob denn nun deutliche Fortschritte auf dem Weg zu einer gerechten Sprache erreicht seien, stellt Luise Pusch fest: „Vor der feministischen Sprachkritik hieß es: ‚Sie ist Kaufmann, Ratsherr, Amtmann‘ und so fort. Das Publikum, meist zur Hälfte weiblich, wurde angeredet als ‚Liebe Leser, liebe Zuhörer, liebe Wähler und Bürger im Lande‘. Das geht so nicht mehr, da sind mann und frau sensibel geworden. Wir werden angeredet als ‚Liebe Leserinnen und Leser‘, und eine Frau ist Kauffrau oder Ratsfrau, ganz selbstverständlich. Und das Pendant ist der ‚Hausmann‘, der früher noch ganz lächerlich wirkte. Außerdem gibt es verbindliche Richtlinien für einen ‚geschlechtergerechten Sprachgebrauch‘, dem zumindest die Amtssprache in der Bundesrepublik verpflichtet ist, z. B. in Formularen, Gesetzestexten und so weiter.“1 Aber hat sich nach einer Phase besonderer Aufmerksamkeit vielleicht alles wieder zum Gewohnten gekehrt? Gerechte Sprache bedarf der Einübung und der kontinuierlichen Bewusstheit, und unser aller Trägheit steht dem im Alltag oft entgegen. Zudem ist das Thema für viele (Frauen) – auch manche, die die Diskussionen in den 1980ern miterlebt und gar betrieben haben – „Schnee von gestern“; oft ist zu hören, das Thema sei doch heute keines mehr. Wenn dem so wäre, müsste das entweder bedeuten, dass für die folgende Generation, also die heute etwa 20- bis 40-Jährigen, eine (geschlechter-)gerechte Sprache selbstverständlich ist – oder aber zumindest, dass bei der Verwendung der männlichen Sprachform Frauen immer und so eindeutig mitgemeint sind, wie es der verbreitete Sprachgebrauch etwa bei Berufsbezeichnungen in der DDR nahelegte oder wie es auch die zunehmende Interna-

1 Pusch 2008: 38 f. 164 Ausgewählte Lehrerfahrungen im Rückblick 3 tionalisierung befördern könnte: Die Grammatik des Englischen besitzt kein Genus und somit auch kein gramma- tisches Maskulinum.2 Mich veranlassten diese Überlegungen zu einem Experiment, das ich 2007 am Institut für Umweltplanung der Leibniz Universität Hannover mit Studierenden des Bachelorstudiengangs „Landschaftsarchitektur und Umwelt- planung“ durchführte. Vom ersten Semester an sind „Projekte“ feste Bestandteile dieses Studiengangs: Parallel zu ihren Vorlesungen und Übungen bearbeiten die Studierenden in Gruppen von 13 bis 15 Personen – in höheren Semestern auch in kleineren Gruppen – individuelle, praxisnahe Planungsaufgaben. Die betreuten Projekte erstrecken sich über ein halbes Jahr; ein Projektbericht und eine öffentliche Präsentation bilden den Abschluss. Während es in den 1990er-Jahren für die Studierenden nahezu selbstverständlich war, sich mündlich und schriftlich, also in Projektsitzungen und Projektberichten, um eine geschlechtergerechte Sprache zu bemühen, besteht hieran heutzutage nur noch selten Interesse – nach meinem Eindruck unabhängig vom Vorbild der Lehrenden, solange das Thema „geschlechtergerechte Sprache“ nicht ausdrücklich behandelt wird. Studentinnen verwenden bei der Nennung von Personen(gruppen) ebenso wie ihre Kommilitonen die männliche Form. Diese umfasse nach ihrem Empfinden Männer UND Frauen, antworten sie auf Nachfragen. Ist das tatsächlich so? Welche Bilder haben die Studierenden vor Augen, wenn beispielsweise von „dem Landschaftsarchitekten“ oder „dem Umweltplaner“ gesprochen wird? Der Frauenanteil im Studiengang liegt seit vielen Jahren bei 65 Prozent und mehr. Findet dieser Sachverhalt eine Entsprechung in den „Bildern in den Köpfen“? Ist dort „der Landschaftsarchitekt“ oder der „Umweltplaner“ auch mal eine Frau – zumindest bei Studentinnen, die genau solche Berufsziele anstreben? Um Antworten auf diese Fragen zu bekommen, startete ich in einem Erstsemester-Projekt ein kleines Experiment. Die Gruppe wies einen besonders hohen Frauenanteil auf, sie bestand aus 13 Studentinnen und zwei Studenten. Die Geländearbeit war abgeschlossen, die ersten Texte des Projektberichts wurden geschrieben. Mir war aufgefallen, dass im mündlichen und schriftlichen Sprachgebrauch nahezu ausschließlich die männliche Form verwendet wurde. Das Thema „geschlechtergerechte Sprache“ war bis dahin von mir als Dozentin nicht ausdrücklich thematisiert worden – eine Voraussetzung für mein Experiment. Am Ende einer Projektsitzung bat ich die Studierenden – in dieser Sitzung waren zwölf Studentinnen und ein Student anwesend –, an einer kleinen Übung teilzunehmen, über deren Sinn und Zweck ich sie erst anschließend aufklären würde. Die schriftlich verteilte Aufgabe lautete:

2 Gleiches gilt lt. Pusch 2008: 41 auch für das Chinesische. 165 Roswitha Kirsch-Stracke

„Bitte skizzieren Sie in insgesamt 5 Minuten je ein Mitglied aus zweien der folgenden Berufsgruppen auf jeweils einem DIN-A4-Blatt: -- Landschaftsarchitekten, -- Geisteswissenschaftler, -- Gärtner, -- Lehrer.“ Landschaftsarchitekten, Geisteswissenschaftler und Gärtner waren als Berufe gewählt worden, mit denen die Studierenden in ihren Praktika und während des Studiums in Berührung kommen; manche haben selbst vor dem Studium eine Ausbildung zur Gärtnerin bzw. zum Gärtner absolviert. „Lehrer“ waren als eine Berufsgruppe hinzugenommen worden, in der Frauen deutlich dominieren. Die Auswahl „zwei aus vier“ sollte den Studierenden etwas Spielraum bei der Ausführung der Übung lassen. Mein Interesse galt der Frage: Wie wird bei den Zeichnungen der Anteil an männlichen und weiblichen Personen sein? Zwei Fragen schlossen sich an: Wird sich die real bestehende und allgemein bekannte Geschlechterver- teilung bei den vier Berufen wenigstens andeutungsweise in den Zeichnungen widerspiegeln? Dann müssten z. B. deutlich mehr weibliche als männliche „Lehrer“ und etwa gleich viele männliche wie weibliche „Landschaftsar- chitekten“ gezeichnet werden. Und wenn auch leider keine Vergleichsgruppe mit Studierenden im zahlenmäßig umgekehrtem Geschlechterverhältnis für einen Gegentest zur Verfügung stand, fragte ich mich, ob der hohe Anteil an weiblichen Teilnehmenden auch zu einem (hohen) Anteil an gezeichneten weiblichen Personen führen müsste. Die Studierenden nahmen an, es handele sich um eine Übung, mit der ich ihr Zeichentalent und ihre Spontanität testen wollte – dies konnte ich den Anmerkungen bei der Ausgabe der Aufgabe entnehmen; niemand schien mein tatsächliches Ansinnen zu erahnen. Da einige mehr als zwei Zeichnungen anfertigten, lagen schließlich 32 Zeichnungen vor, und zwar -- 15 „Gärtner“, -- 8 „Lehrer“, -- 5 „Landschaftsarchitekten“, -- 4 „Geisteswissenschaftler“. Nach fünf Minuten wurden alle Zeichnungen, nach Berufsgruppen sortiert, ansonsten in spontaner Reihenfolge, aufgehängt. Die Zeichnungen zu jeder Berufsgruppe sind in den folgenden Abbildungen jeweils so angeordnet, dass dieje- nigen, deren dargestellte Personen aufgrund sekundärer Geschlechtsmerkmale (Bart, Glatze, breiter Oberkörper) oder anderer Attribute (Pfeife, Fliege) eindeutig als männlich gemeint zu identifizieren sind, am Anfang stehen, gefolgt von denen, die insgesamt männlich wirken, und daran anschließend solchen, bei denen eine Zuordnung 166 Ausgewählte Lehrerfahrungen im Rückblick 3 zum Geschlecht schwerer fällt. Abgeschlossen werden die Reihen mit Zeichnungen, die (tendenziell) weibliche Personen darstellen, und schließlich solchen, deren Personen mit sekundären weiblichen Geschlechtsmerkmalen oder weiblichen Attributen als eindeutig weiblich gemeint gelten können – aber gab es solche Zeichnungen überhaupt? Ich habe im Folgenden eine Geschlechterzuordnung der gezeichneten Personen vorgenommen und dabei im Zweifelsfall stets zugunsten möglicherweise weiblich gemeinter Personen entschieden. Unter den 15 gezeichneten „Gärtnern“ befanden sich neben zehn männlichen auch fünf, deren gemeinte geschlechtliche Zuordnung nicht eindeutig zu erkennen war. Kein „Gärtner“ war durch sekundäre Geschlechts- merkmale oder Attribute eindeutig als Frau zu erkennen oder wirkte auch nur weiblich. Unter den zehn erkenn- baren männlichen „Gärtnern“ waren vier eindeutig als männlich ausgewiesen.

„Gärtner“ (Zeichnungen der Studierenden, 2007).

Von den acht gezeichneten „Lehrern“ war lediglich eine Person eindeutig weiblich gemeint (s. folgende Seite): An der Tafel im Hintergrund steht „Lehrer“, was in diesem Fall deutlich macht, dass die Zeichnerin das gramma- tische Maskulinum als Berufsbezeichnung für Männer und Frauen auffasst. Angefertigt hat das Bild eine aus Ostdeutschland stammende Studentin. Hier scheint sich das Sprachverständnis von Berufsbezeichnungen wider- zuspiegeln, wie es zu DDR-Zeiten entstanden ist und auch heute in Ostdeutschland weiter besteht: Mit dem grammatischen Maskulinum werden auch weibliche Person bezeichnet – und mitgedacht. Fünf gezeichnete Personen waren eindeutig männlich ausgewiesen, nur bei zwei Zeichnungen war eine Zuordnung nicht möglich.

167 Roswitha Kirsch-Stracke

„Lehrer“ (Zeichnungen der Studierenden, 2007).

Unter den fünf dargestellten „Landschaftsarchitekten“ ist neben zwei eindeutig männlich gemeinten Personen ein androgyner Typ, der auch als sportliche weibliche Person gesehen werden könnte. Zwei weitere Personen lassen sich nicht eindeutig zuordnen.

„Landschaftsarchitekten“ (Zeichnungen der Studierenden, 2007).

Die vier „Geisteswissenschaftler“ zeigen drei eindeutig männlich gemeinte und eine androgyn wirkende Person.

„Geisteswissenschaftler“ (Zeichnungen der Studierenden, 2007).

168 Ausgewählte Lehrerfahrungen im Rückblick 3 Die Zusammenschau aller Zeichnungen ergibt, dass lediglich eine der 32 Personen, nämlich „der Lehrer“ der Studentin aus Ostdeutschland, eindeutig als Frau gemeint war. Bei äußerst wohlwollender Zuordnung zugunsten möglicherweise weiblich gemeinter Personen kann für elf Darstellungen gelten, dass ihre gemeinte geschlecht- liche Zuordnung nicht zu erkennen ist.

Mit sekundären männlichen Geschlechtsmerkmalen oder männlichen Attributen 14 Männlich wirkend 6 Geschlechtliche Zuordnung nicht eindeutig möglich 11 Weiblich wirkend 0 Mit sekundären weiblichen Geschlechtsmerkmalen oder weiblichen Attributen 1

Die vier Berufsgruppen, N = 32 (Roswitha Kirsch-Stracke, 2007).

Als alle Zeichnungen an der Wand hingen, fragte ich die Studierenden, ob ihnen etwas auffiele, wenn sie die Gesamtheit der Zeichnungen betrachteten. Den Studierenden war immer noch nicht bewusst, wozu die Übung dienen sollte. Fast alle Äußerungen bezogen sich auf die mehr oder weniger vorhandene zeichnerische Qualität der Bilder. Nach einer Weile bat ich, sich einmal stärker mit dem Inhalt als mit der Qualität der Darstellungen zu befassen. Fünf Minuten wartete ich auf eine Antwort, die in irgendeiner Weise das zahlenmäßige Geschlech- terverhältnis der dargestellten Personen thematisierte, aber weder den zwölf Studentinnen noch dem einen Studenten fiel das – erstaunliche oder nicht erstaunliche? – Ergebnis ins Auge. Erst auf meine Frage „Welche Bilder zeigen denn eine Frau?“ dämmerte den Studierenden, dass ich mit der Übung ein ganz anderes Ziel verfolgte, als ihr Zeichentalent zu testen. Auf meine Frage meldete sich lediglich die eine Studentin aus Ostdeutschland und verwies auf ihre Lehrerin. Kein weiteres Bild – also auch keines von denen, die ich mit Wohlwollen noch mit „geschlechtliche Zuordnung nicht eindeutig möglich“ beurteilt hatte, wurde von Studierenden als weiblich gemeint erklärt oder in der entstehenden Diskussion von ihren Kommi- litoninnen und dem Kommilitonen als weiblich wirkend angesprochen. Eine Studentin äußerte, sie habe kurz überlegt, eine Gärtnerin zu zeichnen, aber es sei ja nach einem „Gärtner“ gefragt worden. Sie machte mit ihrer Erklärung deutlich, dass für sie das grammatische Maskulinum der Berufsbezeichnung auch nur für Männer gilt und für Frauen das grammatische Femininum angebracht ist. Alle übrigen waren überrascht über das Ergebnis und die „Kraft der Sprache“, die sich ihnen so deutlich präsen- tierte. Warum hatten zwölf Studentinnen und ein Student nahezu ausschließlich männliche Personen gezeichnet, wenn sie in ihrem täglichen Sprachgebrauch bei männlichen Berufsbezeichnungen doch angeblich „die Frauen mitmeinen“? Das Übungsergebnis war Anlass, geschlechtergerechte Formulierungen zu suchen und zu diskutieren, und gab den Anstoß, sich im Projektbericht um eine geschlechtergerechte Sprache zu bemühen.

169 Roswitha Kirsch-Stracke

Literatur

Pu s c h , Lu i s e F. (2008): Die Eier des Staatsoberhaupts und andere Glossen. Göttingen. Pu s c h , Lu i s e F. (1984): Das Deutsche als Männersprache: Aufsätze und Glossen zur feministischen Linguistik. Frankfurt am Main. 170 3

Johanna Niescken Hospiz – die unbekannte Bauaufgabe Eine Diplomarbeit

Zentrale Aspekte der Hospizarbeit Die Hospizarbeit soll „nicht Hilfe zum Sterben, sondern Hilfe zum Leben während des Sterbens geben“1 sowie diejenigen unterstützen, die den Sterbenden dabei begleiten. Dadurch wird klar, dass ein Hospiz mit seinen unterschiedlichen Angeboten (ambulantes Hospiz, Hospizdienste, Trauerbegleitung etc.) nicht einfach nur ein Aufenthaltsort für Sterbende ist, die nicht (mehr) zu Hause gepflegt werden können. So wie sich wenige Menschen mit dem Tod als einem Teil des Lebens auseinandersetzen, haben sich bisher auch nur wenige ArchitektInnen mit dieser Entwurf- saufgabe beschäftigt. Es bestehen kaum Kenntnisse über die Anforderungen an ein Raumprogramm. Bei meiner Recherche und den Besuchen in fünf Hospizen Eingangssituation (Entwurf: Johanna Niescken, 2008). wurde aber deutlich, was für eine wichtige Rolle die Architektur und auch die Freiraumgestaltung für den Alltag in so einer Einrichtung einnehmen. Deshalb war es nötig, sich dieser Bauaufgabe zunächst theoretisch anzunähern.

1 Lamp (Hrsg.) 2001: 44. 171 johanna niescken

Dementsprechend setzt sich meine im Folgenden skizzierte Diplomarbeit2 zunächst mit dem Thema Sterben in der Gesellschaft auseinander, um anschließend einen Überblick über die Entstehung und Grundidee der Hospizbe- wegung zu geben. Im Weiteren befasst sich der theoretische Teil mit den jeweiligen NutzerInnengruppen dieser Einrichtungen und deren Bedürfnissen. Die Arbeit wird an dieser Stelle unterstützt durch ExpertInneninterviews und Besichtigungen in fünf norddeutschen Hospizen. Aus den gesammelten Ergebnissen wurden anschließend Entwurfskriterien entwickelt, die als Leitfaden für den Hospizneubau verstanden werden sollen. Diese habe ich später auch in einem Entwurf überprüft, der sich auf die Planung für ein 10-Betten-Hospiz in städtischer Träger- schaft mit zwei Wohnungen für Angehörige bezieht.

Entwurfskriterien für ein Hospiz Die Arbeit entwickelt Kriterien für einen Hospizneubau mit Blick auf Lage, Grundstück und innere Erschließung. Ein Hospiz versteht sich eher als große Wohngemeinschaft denn als eine Krankenstation für sterbende Menschen. Es geht nicht darum, dass der Mensch hier wieder gesund wird, er soll vielmehr mit sich selbst ins Reine kommen, „heil“ werden.3 Daher ist bei der Planung zu beachten, dass medizinische Versorgung stattfinden kann, diese jedoch eher im Hintergrund steht. An diesem Punkt wird deutlich, dass sich die Planung nicht nur auf den sterbenden Menschen bezieht, sondern auch auf Angehörige, BesucherInnen und insbesondere auch auf die MitarbeiterInnen des Hospizes. Außerdem muss bei den jeweiligen Gruppen auf die unterschiedlichen persön- lichen Lebensentwürfe Rücksicht genommen werden. Religion, Herkunftsland, Alter und Geschlecht spielen dabei eine große Rolle. Das Raumangebot muss außerdem so vielfältig und differenziert sein, dass es neben privaten Zimmern auch Räumlichkeiten mit unterschiedlichen Privatheits- bzw. Öffentlichkeitsstufen bietet. Solche Bereiche sind wichtig, um den sich unterschiedlich verändernden Bedürfnissen entsprechen zu können. In vielen Fällen ist der halböffentliche Bereich der Wohnküche der zentrale, wichtigste Begegnungsraum eines Hospizes.

Literatur

Bu r g h e i m , We r n e r (Hrsg.) (2005): Im Dialog mit Sterbenden. Zuhören – reden – sich verstehen. Merching. Gr o n e m e y e r , Re i m e r u. a. (2004): Helfen am Ende des Lebens. Hospizarbeit und Palliative Care in Europa. Wuppertal. La m p , Id a (Hrsg.) unter Mitarbeit von Dr o l s h a g e n , Ch r i s t o p h ; Sc h n e i d e r , Ca t r i n a E. (2001): Hospiz-Arbeit konkret. Grund- lagen – Praxis – Erfahrungen. Gütersloh. Ni e s c k e n , Jo h a n n a (2008): Sterben an einem Ort im Leben – Das Hospiz als Entwurfsaufgabe. Unveröffentlichte Diplom- arbeit am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur, Abteilung Planungs- und Architektursoziologie der Leibniz Universität Hannover. St u d e n t , Jo h a n n -Ch r i s t o p h (Hrsg.) (1994): Das Hospiz-Buch, 3., akt. und erg. Auflage. Freiburg im Breisgau.

2 In der von Prof. Dr. Barbara Zibell (Leibniz Universität Hannover) und Prof. Hans Struhk (TU Braunschweig) betreuten Diplomarbeit mündet die theoretische Bearbeitung der Entwurfsaufgabe Hospiz und die anschließende Aufarbeitung der entwickelten Entwurfs- kriterien in einen Entwurf für ein Hospiz in Hannover-List. 3 Student 1994: 15. 172 3

Heiko Perkuhn Life – Kinder von einst für die Kinder von heute Eine Diplomarbeit

Durch den demografischen Wandel funktioniert – so heißt es immer wieder – unser Rentensystem nicht mehr. Immer mehr alte Menschen müssen von zunehmend weniger Jüngeren finanziert werden, was das Bild der alten Menschen in unserer Mitte nicht verbessert. Zudem rückt ein Trend, den man als „Jugendwahn“ bezeichnen kann, das Alter in ein unverdient schlechtes Licht. Alle Menschen möchten möglichst lange leben, ohne dabei „alt“ zu werden. Dies bewirkt, dass Menschen mit hohem Alter mehr und mehr und völlig zu Unrecht mit wenig bis gar keinem „Nutzen“ und mit einer „Belastung“ der Gesellschaft assoziiert werden. Versuchen wir uns dieses Bildes zu entledigen und betrachten die Gruppe der jungen Alten sowie der Hochaltrigen einmal aus einem anderen Blickwinkel: als gesellschaftliche Ressource von unglaublichem Ausmaß. SeniorInnen nach der Arbeitsphase verfügen über viel Wissen und andere Fertigkeiten, welche sie während des langen Berufslebens oder durch die Kindererziehung gesammelt haben, die jedoch nach der Arbeitsphase in den meisten Fällen nicht mehr genutzt werden und so über die folgenden Jahre langsam verblassen. Zudem verfügen die Senio- rInnen über ein weiteres wichtiges Gut: Zeit. Doch indem wir die alten Menschen in unserer Gesellschaft eher ausgrenzen als sie am Leben so lange wie möglich zu beteiligen, ihnen durch Kündigungen der Beschäf- tigungsverhältnisse (junge Alte) und Trennung von der Familie durch Unterbringung in Altersheimen (Hochaltrige) vermitteln, dass sie nichts mehr wert sind, verschwenden wir ihre und unser aller gesellschaftliche Energie. Großvater und Enkel ca. 1916 (Foto: H. Perkuhn). 173 heiko perkuhn

Ein System (eine Gesellschaftsordnung, ein Organismus oder auch eine Maschine) kann auf Dauer nicht funkti- onieren, sofern mehr Energie erforderlich ist, als im System generiert oder von außen zugeführt wird. Zwar kann es Speichermedien geben (Goldreserven oder Kornspeicher, Fettpolster, Batterien), welche das jeweilige System dazu befähigen, in Zeiten des Wohlstandes zu sparen, um in Zeiten einer Mehrbelastung davon zu zehren und somit weiter zu bestehen, ohne das System zu gefährden. Auf Dauer werden jedoch auch solche Reserven verbraucht und das System befindet sich bald in einer Krise, in der Veränderungen an ihm vorgenommen oder aber neue Ressourcen entdeckt, angezapft bzw. erschlossen werden müssen. Unser größtes Problem besteht vermutlich darin, dass wir heute zunehmend nur noch in Finanzmitteln als Ressourcen denken: Alles, was keinen direkten finanziellen Output besitzt, hat scheinbar auch keinen Wert; alles, was Wert besitzt, muss auch große finanzielle Kosten verursachen. Diese Ansicht ist falsch. Als studentische Hilfskraft in der Abteilung für Planungs- und Architektursoziologie lernte ich im Rahmen eines Seminares eine Seniorstudentin kennen, welche sich in ihrer Freizeit mit vielen Wissenszweigen, besonders jedoch mit Japan beschäftigte. Sie tat dies nicht mit einer bestimmten oder gezielten Absicht, sondern rein aus Interesse, aus dem Drang heraus, sich zu bilden. Auf diesem Wege, so wurde während der Gespräche deutlich, hatte sie bereits viele Bücher über Japan gelesen sowie ihr Wissen auf mancher Reise gefestigt und erweitert. Diese Einstellung, die Freude an der eigenen Bildung um ihrer selbst willen, erfüllte mich mit großer Achtung vor der Seniorstudentin, jedoch auch mit ein wenig Trauer: Wenn sie dieses Wissen nicht irgendwann durch Vorträge oder ein Buch an andere weitergibt, wird es mit ihrem Tod einfach verschwinden – ohne die geringste positive Spur im Leben anderer zu hinterlassen.

Das Life-Konzept In diesem Moment wurde die Idee zum Life-Konzept geboren, welches SeniorInnen eine Plattform in Form eines Vereins bieten soll, all ihre Fertigkeiten von der Hausaufgabenhilfe über die Kinderbetreuung bis zu Unterricht an einem Musikinstrument, Bewerbungstraining, Handarbeits- oder Theaterkursen, Tanzkursen, Kinderbetreuung, Koch- und Handwerkskursen, Wissenskursen aller Art ehrenamtlich (oder für eine sehr geringe Vergütung) für jüngere Menschen anzubieten. Die sehr besonderen Beziehungen, welche nicht allein zwischen Großeltern und ihren Enkeln, sondern auch zwischen Kindern und nicht zur Familie gehörenden SeniorInnen häufig entstehen, legten eine Fokussierung auf ein Angebot für Kinder und Jugendliche nahe. Die Liste der möglichen Synergieeffekte ist beachtlich: Eltern werden in der Kindererziehung entlastet, Kinder aus ärmeren Familien bekommen Zugang zu kulturellen Angeboten, die ihre Eltern sich nicht leisten könnten. Kinder kommen in Kontakt mit weiteren Bezugspersonen (Vorbildern) und erlernen im Umgang mit den Senio- rInnen spielerisch Sozialkompetenz, die SeniorInnen dagegen bleiben länger körperlich und geistig fit und werden (möglichst) durch eine kleine Aufwandsentschädigung entlohnt. Die Grundidee ist nicht neu; beispielsweise existieren Programme, in denen SeniorInnen SchülerInnen beim Lesen lernen helfen oder sich Familien, denen in näherer Umgebung keine Großeltern zur Verfügung stehen, eine „Leihoma“ oder einen „Leihopa“ als Patin oder Paten für eines oder mehrere ihrer Kinder suchen. Neu ist jedoch 174 Ausgewählte Lehrerfahrungen im Rückblick 3 die Idee, dass die SeniorInnen nicht in ein bestehendes Angebotsmuster passen müssen, sondern frei nach ihren Fähigkeiten und ureigenen Interessen Angebote schaffen können. Auf diesem Wege, so die Hoffnung, wären eventuell viele SeniorInnen für die Mitarbeit zu begeistern. Auf diese Weise binden wir die älteren Mitglieder wieder stärker (je nach Fertigkeiten, gesundheitlichen Möglich- keiten und eigenem Wunsch) in unsere Gesellschaft ein, und zwar gerade dort, wo sie gebraucht werden: Kinder und Jugendliche brauchen viel Zuwendung, um zu verantwortungsbewussten jungen Erwachsenen heranzu- wachsen. Eltern können dies aufgrund der Arbeitsbelastung im Berufsleben jedoch nicht immer in ausreichendem Maße leisten. Unser System könnte daher viel gewinnen. Und, was für manche KritikerInnen der Idee möglicher- weise entscheidend wäre: Der Versuch, der zugegebenermaßen keinen Erfolg garantieren kann, würde nahezu nichts kosten. Wir verknüpfen lediglich ein bestehendes Angebot mit einem Bedarf. Abschließen möchte ich mit einem Zitat einer der erfolgreichsten Autorinnen des letzten Jahrhunderts, in dem deutlich wird, dass SeniorInnen auch über die Familienbande hinaus zu äußerst wichtigen Bezugspersonen für Kinder werden können: „Britta und Inga haben keinen Hund und keine Kaninchen und auch keine anderen Tiere, die ihnen ganz allein gehören. Aber sie haben einen Großvater. Er ist der netteste Großvater, den es auf der Welt gibt, davon bin ich überzeugt. Wir Kinder von Bullerbü nennen ihn alle Großvater, obwohl er nicht der Großvater von uns allen ist, sondern nur von Britta und Inga. Er wohnt in einem Zimmer unterm Dach auf dem Nordhof. Es ist so ein gemütliches Zimmer und so ein gemütlicher Großvater. Und wir Kinder gehen alle dorthin, wenn wir nichts anderes vorhaben.“1

Literatur

Be e r , Ul r i c h (2004): Großeltern. Ein gar nicht nebensächliches Amt (Kleine Lebenshelfer, 12). Herbolzheim. Ch v o j k a , Er h a r d ; Eh a l t , Hu b e r t Ch.; Ko n r a d , He l m u t (Hr s g .) (2003): Geschichte der Großelternrollen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert (Kulturstudien. Bibliothek der Kulturgeschichte, 33). Wien, Köln, Weimar. Fu h r m a n n , Is a b e ll e (2009): Heute kommt die Wunsch-Oma. In: Familie & Co (6), 76-80. http://www.leihomas-leihopas.de (01.09.2011). Li n d g r e n , As t r i d (1988): Wir Kinder aus Bullerbü. Hamburg (Originalausgabe Stockholm 1947, in deutscher Übersetzung erstmals Hamburg, 1954). Pe r k u h n , He i k o (2009): Life. Kinder von einst für die Kinder von heute. Unveröffentlichte Diplomarbeit am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur der Leibniz Universität Hannover. Si m o n , Fr i t z B. (2008): Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus, 3. Auflage. Heidelberg.

1 Lindgren 1988: 50 f. 175 Internationalisierung der Lehre

Barbara Zibell Einführung

Die Internationalisierung der Lehre ist nicht nur Ziel der Leibniz Universität Hannover und damit der Fakultät für Architektur und Landschaft, sondern Vorgabe und Erfordernis aller Hochschulen und Universitäten im Zeitalter von Globalisierung, weltweiter Vernetzung und Kommunikation sowie transnationalem Informations- und Wissenstransfer. Das gender_archland leistet seinen Beitrag zur Schärfung des internationalen Profils der Fakultät und der Univer- sität, indem es eine Plattform bietet für ausländische Gastdozentinnen, mit denen das Lehrangebot fachlich, methodisch und fremdsprachlich erweitert werden kann. Auf diese Weise konnten seit dem Wintersemester 2009/10 englischsprachige bzw. bilinguale Lehrangebote durchgeführt und international besetzte Lerngruppen gebildet werden, was zu einem besonderen Erfahrungsaustausch für alle Teilnehmenden führte, der ohne Gastdo- zentInnen aus dem Ausland kaum hervorgebracht werden kann. Für das Studienjahr 2009/10 konnte – mit großzügiger Förderung des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur (MWK) aus Mitteln des Maria-Goeppert-Mayer-Programms - eine Gastprofessur finan- ziert werden, die mit der niederländischen Architektin Lidewij Tummers von der Architekturfakultät der Techni- schen Universität Delft, gleichzeitig Inhaberin des Büros „Tussen Ruimte“ in Rotterdam, besetzt werden konnte. Ihr Erfahrungsbericht ist im Folgenden wieder gegeben. Lidewij Tummers trat diese Stelle an, bevor das im Zuge der Konzeption des Bachelor-Programms eingeführte fachübergreifende Gender-Modul erstmals durchgeführt werden konnte. Da sie im Rahmen der Gastprofessur zudem ein volles Lehrdeputat zu leisten hatte, umfasste ihre Lehrtätigkeit mehr als die explizite Gender-Lehre und erreichte somit eine relativ große Zahl von interessierten Studierenden, Bildungsin- wie -ausländerInnen. Für das Studienjahr 2010/11 stand keine derart großzügige Lösung zur Verfügung. Das Maria-Goeppert-Mayer- Programm war ausgelaufen, ein Antrag auf Förderung einer weiteren Gastprofessur durch den DAAD wurde geprüft, entsprechende Mittel konnten aufgrund der langen Antragsfristen jedoch nicht rechtzeitig zur Verfügung gestellt werden.

176 Internationalisierung der Lehre 3 Stattdessen wurde - dank der Unterstützung durch das Hochschulbüro für Internationales – ein Lehrauftrag finanziert, den eine weitere Gastwissenschaftlerin, die Architektin und Freiraumplanerin Eva Maria Álvarez Isidro von der Universität Valencia (Universidad Politecnica de Valencia), gleichzeitig Partnerin im Büro Gómez+Álvarez arquitectes, im Wintersemester 2010/11 wahrnahm. Im Rahmen des Lehrauftrags wurde das fachübergreifende Modul „Raumwissenschaftliche Gender Studien“ erstmals durchgeführt. Die Erfahrungen flossen in die Neukonzeption differenzierter Gender-Module für die Bachelor- und Master-Studiengänge der Fachgruppen Architektur und Landschaft ein. An dem Modul nahmen Studierende der Studiengänge Architektur sowie Landschaftsarchitektur und Umwelt- planung teil. Wie im Rahmen der Lehrveranstaltungen, die Lidewij Tummers durchgeführt hatte, war die Gruppe der TeilnehmerInnen auch hier von besonders starker Durchmischung und Internationalität geprägt. Der Bericht über diese Lehrerfahrungen ist im Folgenden nachzulesen. Für das folgende Sommersemester 2011 konnte – wieder mit Unterstützung des Hochschulbüros für Internati- onales – mit Doris Damyanovic, Landschaftsplanerin von der Universität für Bodenkultur in Wien, eine weitere Gastwissenschaftlerin gewonnen werden.

177 Lidewij Tummers The first Visiting Professor recounts her experiences

From winter semester of 2009 to summer semester of 2010, I had the honour of being a guest lecturer at the Faculty of Architecture and Landscape Sciences, funded by the Maria-Goeppert-Mayer-Programme of the Ministry for Science and Culture of Lower Saxony.1 The aim of this programme was to bring internationalisation and innovation into teaching at universities in Lower Saxony. To meet this challenge, I first asked myself: What do architects and planners need to learn for their professional future? It is important that they become aware of the societal relevance and impact of their profession. This concerns both the topic of the exercise as well as the teaching method. For the subject matter, a frequently occurring planning situation in all European countries, that of sustainable development of existing degrading urban areas, was chosen. Two guiding principles for the didactic approach were introduced: relating theory and practice through a combination of ‘Seminar’ and ‘Studienarbeit’ (design studio) (which a majority of students followed together) and a focus to equip students with competencies to deal with complex planning situations. This article is a reflection of the experiences in winter term 2009/10, mostly descriptive in its nature. After intro- ducing the theme of the studio, some of the exercises are explained. Finally, evaluating these experiences, some remarks will follow on the internationalisation and innovation in the curriculum of architecture and landscape faculties.

Nachdruck aus hochweit 10. Jahrbuch 2010 der Fakultät für Architektur und Landschaft, Leibniz Universität Hannover, Hannover, 114-121. 1 Being a foreigner in an (academic) institution involves having to integrate in a different culture. Whereas this has been certainly enriching for my understanding of spatial planning, the unfamiliarity with local procedures should not hinder the contact with students and staff. I would like to thank the many people who have made possible the logistics of this project: the staff of gender_ archland, and the secretariat of the Institute of History and Theory in Architecture as well as of the Institute of Urban Design, the Studiengangskoordinatorin (course coordination), the international relations office and the student assistants who have been a great support. Special thanks to the colleagues of the faculty for the inspiring professional exchange during students’ presentations and other meetings. 178 Internationalisierung der Lehre 3 The case of Vahrenheide In order to establish contact between practise and education, and thanks to the kind support of the Planning Department of the city of , the housing corporation ‘Gesellschaft für Bauen und Wohnen Hannover mbH’ (GBH) and the ‘Stadtteilforum’ (residents representation), the studio could work on Vahrenheide as a case study.2 Vahrenheide is an area in Hanover that is undergoing major change, due to an urban renewal programme started about ten years ago. Through this collaboration, the studio has been able to experience first hand the unique German Federal-Länder Programme ‘Socially Integrative City’.3 It demonstrates how complex design and decision making processes for spatial development are. Everywhere in the world there exist urban areas like Vahrenheide: built about fifty years ago, and now in a transition phase. Common features are: a change in population from predominantly young families to a large percentage of senior citizens, a larger number of immigrants, and different positions in income statistics. There is a need of modernization of the buildings, converting them from energy leaks to energy producers, adapting housing typology and facilities to new household structures and consumer patterns. ICT (information and communication technology) infrastructures need to be implemented. The balance between use of public and private transport has changed. Small-scale facilities and services have been replaced by large-scale commercial development and new cultural patterns. Cities have grown around them and areas originally at the periphery of the urban tissue now have the potential to develop new centralities. It can therefore be considered a very relevant case study for future planners and architects.

Studio Vahrenheide: connecting theory and practice The project started in October 2009 and consisted of a seminar and a design studio. The seminar provided theoretical background to the questions raised and fieldwork as well as practical exercises for research and design methods. More than 25 students embarked on the design studio, most of them also participating in the seminar, with an additional dozen of students taking only the theory part. Participants came from different disciplines, such as architecture, urbanism, environmental engineering, as well as from different levels of study. Moreover, the group consisted of more than ten nationalities, as diverse as China, Finland, Italy, Korea, Mexico, Poland, Portugal, Slovenia, Spain, Turkey and . Just like Vahrenheide, the group became a multicul- tural community with a rich variety of experiences to share. For some, this was an exciting adventure, others found the diversity more difficult. Partly this may be because it involves more insecurity and it is not so obvious to get orientation by comparing one’s own work to that of fellow students. Such a situation requires much maturity of the participants, who will then have many possibilities to enrich their professional knowledge and skills. On the other hand it may also be causing insecurity for those who do not yet have full awareness of their

2 The time they spent and the feedback given to the students was very valuable, for which I like to thank especially Ms. Anke Schröder, Ms. Caren Winters and Mr. H. W. Hölscher. 3 Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“: http://www.hannover.de/de/buerger/verwaltungen/dez_fb_lhh/dezernate_fachbe- reiche_LHH/fa_plane/sta_wohn/stadtern/sozstadt/vhemitte.html (26.09.2011); http://www.sozialestadt.de/gebiete/gebietAnzeige. php?id=189 (26.09.2011). 179 Lidewij Tummers

own abilities (which they contribute to the group) or the frame of reference to distinguish between the manifold impressions and choose relevant information to develop a certain professional field. It is therefore important that the didactical forms correspond to the learning goals. The course offered a variety of teaching methods or in other words: created different ways for students to develop theoretical understanding, whether one is more visually or language oriented, rational or intuitive designer, empathic or competitive stimulated type, and so on. Students negotiations around the Vahrenheide model (Foto: Lidewij Tummers, 2009).

One of the new elements in this project was the opportunity given to the students to formulate their own problem statement around the central question: ‘Which interventions can architects and urban planners contribute, together with sociocultural and economic experts, to the development of the area?’ Part of the process was the discussion about the planning decisions to be taken. This is unusual in most architectural curricula, where architectural students are typically given a program (functional briefing) for which they have to design a building. Two major reasons are the basis for this didactical approach: on the one hand, the challenges of the future, the radical demographic and climate changes4 require new answers, and a fresh look on the current dynamic which are not cared for in the established models and need to be invented by new generations. On the other hand, the working environment for architects and landscape planners is becoming more and more complex which makes it necessary for future professionals to develop competencies to deal with the manifold stakeholders and to recognise and make use of technical possibilities.

Formulating a statement The first step in the studio was therefore to define the future that lies ahead: Who are the future inhabitants of Vahrenheide, what is the spatial quality that meets their needs? How can we as spatial planners facilitate the introduction of renewable energy, economic prosperity and social well-being? What are the time space patterns of residents, and where are the locations for transformation in this area? The group as a whole decided on the core items to be researched in subgroups. The results were then shared in presentations as well as on the studios platform, the university’s central learning management system: building an open source knowledge base. Simultaneously the planning theory seminar dealt with the basic question underlying the analyses: What infor-

4 Expressed for example in European Commission, Committee on Spatial Development 1999. 180 Internationalisierung der Lehre 3 mation do we as spatial planners need to outline the criteria for the design of buildings, landscape and infra- structure? Who performs this research: stakeholders with a direct interest, institutions with a long term vision, public planning departments, EU policies and regulations? How do we read statistics provided by other discip- lines? The seminar introduced gender aware approaches because gender roles strongly influence spatial claims. The statistical data are not always gender explicit, and moreover, today’s data are based on a given role division without looking at the dynamic of society and the changes of this gender pattern. Gender theory can be a very useful element in strategic planning, as they look to how role division and time space patterns of different user groups develop over time, instead of taking the present situation for granted. Besides, the interdisciplinary tradition of gender studies attributes much useful knowledge to the professionals of tomorrow. More specifi- cally, it brings the human beings as users of spatial environments to the forefront, a dimension often absent in technocratic planning documents.5

Time space patterns One way of keeping user groups visible in planning processes is the analyses of time space patterns. Time space geography, introduced by the Swedish geographer Torsten Hägerstrand in the 1960s, has developed new impulses for spatial planning over the last decade, amongst others in new mapping techniques and urban policies. Students were asked to do a field observation, either of a place with different user groups during the day or the week, or following a user group and the different places frequented during a given period. While ‘going out there’ and learning to observe is instructive in itself, it also raises discussion about the interpretation of the observations: for example how does the weather or climate influence the use of playgrounds, and what are other criteria such as their location and equipment. In this way, time space analysis helps to replace the ‘implicit social models’ all planners operate from6 with more future oriented observations.

Use of models Thus simulating a situation of interdisciplinary data input and fieldwork, collectively a model of the existing situation was created. The model served to identify locations of transformation and to debate were inter- vention is desirable or possible. It was interesting to find that most students identify models with the represen- tation of final design proposals rather than as a tool for design. Representative models are the fixation of final decisions, have to be convincing and demand a careful choice of – sometimes expensive – materials and layout. Study models can be made of any kind of scrap material and should be flexible as they are subject to trying different alternative solutions. They are oriented towards developing understanding of the scale and structures of the urban tissue and help to make precise research questions and concrete data collection. 3D software (like Sketch-up, Vectorworks or Autocad) can also make comparison of alternatives possible, however it takes more

5 Larsson 2006. 6 Tummers 2010a. 181 Lidewij Tummers time to develop the skills to ‘play around’ with variations easily than it does with scissors, carton and other materials. The image on the screen becomes schematic on a large scale and fragmented when zooming in, which makes it more difficult to be aware of the spatial scale of the environment and the interventions. Finally, the group dynamic of looking at a screen or projection is very different from gathering around a model, a factor often underestimated.

Simulating planning situations In the seminar, the planning situation was simulated by groups of students taking the role of stakeholders and articulating arguments from specific positions such as ‘resident’, ‘investor’ or ‘planning department’ for choosing a location to build a mosque, housing or other facilities. Having to act in a role play in class – i. e. without experience – is a very direct way of learning, which requires careful staging and directing. The simulated decision needs to be simplified to feasible proportions, without loosing the essential dilemmas. A relatively safe environment must be created for everyone to bring forward arguments and learn to develop a point of view and to defend it in public, important aspects of the planning profession. It is a confrontation with sometimes contra- dictory responsibilities that can be explored in class without having direct consequences in space.

Developing scenarios for spatial development In the real life of Vahrenheide, a strategy involving the sale of certain housing blocks to a housing fund and the demolition of others in favour of developing single family row-housing was applied. Already some of the side effects of this strategy can be seen, as the sold blocks suffer from lack of maintenance. Exploring the long term effects of planning interventions can be done through developing spatial scenarios. In the studio, three different scenarios with a horizon of 2035 were visualized: the gradual transformation, the radical intervention, and the third way in-between. Urban plans reconsidering the historical connections of the area to the city centre, to the airport and to the Mittellandkanal – both important global connections of Hanover – were sketched. Within the scenarios the students choose strategic projects to work on individually. It then became clear that architecture can be much more than single buildings: the projects ranged from the redesign of waste collection to a new mosque, a manual for susta- inable renovation of housing blocks to new forms of public space, introducing new housing typologies as Excursion to Rotterdam (Foto: Lidewij Tummers, 2009). well as new forms of participation.

182 Internationalisierung der Lehre 3 Comparative studies or plan analyses All through the studio, inspiration was found in realised projects elsewhere. Building a frame of reference in studying case studies and their context feeds creativity but especially brings understanding of what works under which circumstances. Solutions for sustainable development found elsewhere proved to be useful in Vahren- heide, when certain adaptations to its specific location are made. Applying similar projects to one’s own design task is therefore not a matter of copying but a form of research by design. Cases were presented by students to the open source platform, for which the studio benefitted greatly of the international scope as well as German inside experience. A field trip to Rotterdam was organized to meet professionals in a similar urban renewal situation. The studio also visited the Rotterdam Architecture Biennale with its theme ‘open city’ to see different approaches to strategic spatial planning. Comparison also took place inside the Faculty, with the presence of visiting critics from the Institute of Urban Design as well as from the Institute of History and Theory in Architecture. This meant not only a review by experienced professors, but also an awareness of different approaches to urbanism and research methods. Participation During the studio a strong social concern developed which led to an exploration of the limits of spatial planning. Integrated and participatory planning become more and more common practise in urban renewal, but what does that really mean? Again this involves both the subject matter as well as the process of planning. If socio- economic or cultural interventions are intertwined with architectural or infrastructural investments, the limits between social and spatial engineering become blurred. Since architects and landscape planners are not equipped to be social workers a close collaboration is needed. Regarding the planning process, when local residents obtain more influence in planning their environment, the role of the professional changes. In Vahrenheide a dialogue takes place in the ‘Stadtteilforum’ uniting professionals and residents. The students had the opportunity to present the final results in public in Vahrenheide itself, during a meeting of the Stadtteilforum. Vivid discussions around visionary posters and models as well as everyday budget negotiations took place. All in all it has been a learning experience to give a concise and convincing summary of one’s work, for which all students need to be complemented for taking it very seriously and preparing well.

Conclusion: training future professionals The development challenges in urban areas like Vahrenheide are highly complex, and a one-semester project can only begin to explore them. Nevertheless, such beginnings are needed to equip the professionals of the future for the new realities they need to face. The role of spatial planners, if it is on the scale of architecture or landscape or in-between, is changing. In today’s faculties of architecture and spatial planning, issues such as strategic planning, interdisciplinary collaboration and the role of the professional need to be embedded in the curriculum. From the enthusiasm during the studio it became clear students expect this from their training: They do not want to wait until after graduation to understand what real professional life is about or what is the impact of their design proposals. Rather the other way around: In order to select an adequate learning path, it is also 183 Lidewij Tummers necessary to understand what skills professional practise needs. The variety of methods offered in the studio was evaluated very positively and stimulated students to widen their scope. For tutors and professors this involves using more interactive forms of teaching and a more comprehensive assessment of students. The emphasis shifts towards introducing tools and instruments, enhancing accuracy of applying skills and solutions, rather than accomplishing a certain architectural form. This is very demanding on tutors or professors who themselves have not always been equipped for this task. The dynamic of professional practise requires a structural reflection on the curriculum, rather than an incidental approach provided with exchange programmes. Those are necessary incentives, but cannot provide the indispen- sable perspective on the new spatial models European societies under globalization trends need. In Hanover the growing number of international students and the international networks of the faculty’s staff provide excellent opportunities to integrate new approaches in the teaching. Certainly, hindrances like differences in educational standards and language barriers need to be overcome. Yet precisely these can be the subject of learning: Does ‘Städtebau’ mean the same as ‘Urban design’? It has been a pleasure to contribute a small experiment in this trajectory.

Nachtrag der Redaktion Im Sommersemester 2010 entwickelte Lidewij Tummers mit wiederum international besetzten Lerngruppen ein praxisbezogenes Projekt, aus dem eine Ausstellung hervorgegangen ist: Studierende beider Studiengänge setzten sich, begleitet von einem theoretischen Seminar, im Rahmen einer Studienarbeit bzw. eines Vertiefungsprojektes unter dem Titel „A different way to practise?“ mit dem Professionsverständnis von (Landschafts-)Architektinnen auseinander. Die Dokumentation dieser Lehrveranstaltung ist als Band 2 der Schriftenreihe des gender_archland weiter_denken erschienen.7

7 Tummers, Niescken 2011. 184 Internationalisierung der Lehre 3

References

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Other publications of Lidewij Tummers resulting from the Maria Goeppert Mayer guest-lectureship at gender_archland

St o c k , Ka t j a ; Tu m m e r s , Lidewij (2010): Contemporary Tools of Urban Development – Orientated on Equity? In: Schrenk, Manfred; Popovich, Vasily V; Zeile, Peter (Hrsg.): REAL CORP 2010, 18-20 May 2010. Proceedings/Tagungsband. Schwechat, 141-154, http://www.corp.at/archive/CORP2010_123.pdf (07.09.2011). Tu m m e r s , Lidewij (2010b): The Contemporary ‘Flaneuse’ as a Tool for Urban Design. In: Zi b e l l , Ba r b a r a ; Pr e u s s , Pe t r a ; Bl o e m , He n d r i k (2010): Hello and good buy! Einladender Einzelhandel. Praxisbeispiele und Architekturvisionen, hrsg. von Leibniz Universität Hannover. Hannover, 73-76. Tu m m e r s , Lidewij (2010c): Internationalisation at the Faculty of Architecture, Landscape and Environment of Leibniz Universität Hannover: Studio Vahrenheide. In: hochweit 10. Jahrbuch der Fakultät für Architektur und Landschaft, Leibniz Universität Hannover. Hannover, 114-121. Tu m m e r s , Lidewij (2012): The Everyday as Spatial Development Potential. In: Hauptmeyer, Carl-Hans (Hrsg.): Determi- nanten räumlicher Entwicklungspotenziale (Stadt und Region als Handlungsfeld, 10). Frankfurt am Main u. a. Tu m m e r s , Lidewij; Zi b e l l , Ba r b a r a (in Vorber. [2012]): What can spatial planners do to create the ‘connected city’? A gendered reading of the Charters of Athens. In: Klaasen, Ina; Zonneveld, Wil (Hrsg.): Built Environment 38: The 2003 New Charter of Athens Evaluated. 185 EVA M. ÁLVAREZ ISIDRO The second Visiting Professor recounts her experiences

This project is developed in two action lines: the subject that was taught during classes and the exhibition production which took place at the Architects’ Chamber, Laveshaus, Hannover. They are related but they are not the same. In fact, the objectives of each one were different but I think we cannot avoid speaking about the production of the exhibition because it changed the scope in which the subject was approached by the students.

Part1: The subject Barbara Zibell and Katja Stock proposed me a subject called On stage! Women and men in (landscape) architecture in Lower Saxony which aim was – among others – to encourage students to reflect on gender topics and to relate it to an architecture and landscape architecture production. They also offered me an architect offices list to work on. And, obviously, we were all conscious that we had to produce the expected work in that situation: lectures, seminars, juries and finally, the students had to be objectively qualified. The project was linked with Lidewij Tummers earlier subject ‘A different way to practise?‘ and her idea to pick up and extend the circulating exhibition ‘La mujer construye‘.1 Teaching interaction was organized around three appointments: November and December 2010; and January 2011. We also kept in contact by email and skype, weekly. We could share documents through dropbox. Another notable question was the number of students: five. In spite of it, we were encouraged to continue with this work since we had the required minimum of students and we all thought the main goal was working with them and not the exhibition production, which could be a consequence of the first one but not the target.

1 www.lamujerconstruye.org/zaragoza.htm (07.04.2012); www.lamujerconstruye.org/ENCUENTROS/en/Netherland_en.htm (07.04.2012). 186 Internationalisierung der Lehre 3 On this starting point, I began to work with the students and I introduced the main working aspects of the subject, since I wanted - as an architect and architectural projects professor - the students to project the exhibition through the following steps which overlap (they are not linearly continuous): a) Collecting the required information from first hand (interviews with the architects, review of the original documentation, photographic report, reading specific bibliography). b) Deciding the focus of the exhibition by discussing and arguing it. c) Designing the graphic image which would identify the exhibition main ideas. d) Designing the exhibition for a specific place (Laveshaus): they had to know the place and spaces where they had to work, make a survey, take photos and study the path and the main points of view, etc. e) Designing and producing the panel prototypes, flyers, posters, catalogue and website. We programmed the semester as follows:

DATES OBJECTIVE DOCUMENTATION November sessions Discussion in design goals Sketches Month of November Decide the focus of the Report (4 pages in German/ 1 page, summary in English) exhibition Index of the report: Collect information INTRODUCTION 1. THE NEED OF AN EXHIBITION 2. ELEMENTS AND ISSUES OF AN EXHIBITION OBJECTIVES 1. MISSION 2. GOALS 3. OPPORTUNITIES AND PROBLEMS 4. OPTIONS AND ISSUES Annex 1: IMAGES FROM OFFICES Annex 2: (1 page) Graphic image (advance): colours, typographies, icons

187 EVA M. ÁLVAREZ ISIDRO

December sessions Exhibition avant project Report (2 pages in German/1 page summary in English) DESIGNING RECOMMENDATIONS IMPLEMENTATION PRIORITIES Abstract drawings of (4 pages): - Catalogne - Panel - Poster - Blog Month of December Designing an office panel 1 Panel (CorelDraw printed in pdf A2 format) January sessions Public correction of the 1 Panel (CorelDraw printed in pdf A2 format) panels (jury) 1 poster A2 format (maximum) Poster designing Month of January Finishing the panels Panels (CorelDraw printed in pdf A2 format) Catalogue designing 1, 2 pages of the catalogue in pdf file Month of February Finishing the work Design all the panels Design the posters This program was structured in order to avoid that my personal approach was imposed to the students since, in my opinion, the professor has the obligation to offer to the students the initial tools to begin their work, but the solution has to evolve from the interaction between students and professor. So we dedicated the appointments to review the work they had done previously and, mainly, to discuss the concept, the graphic image, the building distribution and the final design. So, let’s explain our work related to these items.

Discussing the concept of the exhibition: I proposed to the students to begin their work from Ms. Denise Scott Brown text ‘Sexism and Star System in Architecture‘ (1989)2 where she exposed several ideas; the main one is that if we support the Star System, that is to say, a pyramid system with a designer on top, we are reinforcing sexism in architecture because in architectural business as much prima donnas (stars) as well as dernier cri (snobs) are all male. But, our discussion showed us that we also wanted to avoid the contrary position: reinforcing a pyramid system with a designer woman on top, because it is proved in all the architecture offices (and landscape architecture, planning, urban design…) that such a complex work is done by teams - where, sometimes, the biggest part of them are already formed by women. We wanted to show that the work is done in cooperation with several people (teams, mates, colleagues) whether if they are women or men. But we also wanted to stress that women were as important as men, and that this situation exists from long ago.

2 Scott Brown 1989. 188 Internationalisierung der Lehre 3 Moreover, we wanted to explore the idea also intro- duced by Ms. Scott Brown: professionals normally do different things: teaching, writing, practicing and working at home. We wanted to see the inter- actions that different activities have in our work. We are convinced that we have not only the obvious right to decide how we want to live but also that those decisions interact with our work and often they improve the results. For instance, public transpor- tation is best designed if designers use it frequently, or distances between shops, school and house are better dimensioned if designers usually cover them on foot. In relation to this idea, doing different things, the question of our limited time gap arose: the time we dedicate to one problem is time no used for any other Students at work - thinking and writing (Foto: Eva M. Álvarez Isidro, 2010). matter. So, we all have to choose because time is limited. We tried to show this idea through the timeline asking architects to provide us not only architecture or work photographs but also family ones or about their hobbies… being aware that people have to choose, and have to organize their priorities into a hierarchy, what also interacts to the way we observe our common environment and our work. In our discussions, students exposed the recycled materials issue: they wanted the exhibition to be sustainable, trying to increase the garbage quantity in their city (or world). They also thought of the sustainable concept – ‘sustainable development is development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own need‘3 - what meant not using more than what was really needed and for that reason reviewing the concept of need - and of the aesthetical appearance. Finally, we argued that this recycling issue implied rethinking aesthetical conventions, as arbitrary ones as any others. And finally, they proposed me to increase the architectural offices list because they wanted to compare the work done in Lower Saxony with the work done outside Germany. They chose some offices they have some relation with (previous stays, friendship, etc) and other ones were just contacted on internet. They chose five more – and additionally Lidewij Tummers office and mine.

3 World Commission on Environment and Development 1987. 189 EVA M. ÁLVAREZ ISIDRO

Discussing the graphic image: Every public action has to have an identity. Our previous experiences confirm the following: a name and an image are necessary if we want to impact with the message and to keep it remembered. Our discussions brought that ‘On stage!‘ should refer to theatre representations, and that the main object we all identified as theatrical was a big and red velvet curtain. So we took the intense red colour and the shadow of the folds as the main image for the exhibition. In discussing this, they also proposed the idea of the polarized glasses used in 3D-cinema which transforms the way to see: suddenly, the perception of the image changes by introducing the third dimension. They thought the exhibition had to change the “way people look at architecture” that it is normally understood as a work of art instead of a device able to improve our everyday lives. So we adopted the 3D-glasses for the flyers and the motto another way of looking to architecture, as the subtitle for the exhibition.

The spatial projection of the exhibition, getting acquainted with the building: We are all architects and landscape architects and as such, we usually have to work with high propositions as much as concrete things. We even calculate the money cost. So it was important for the development of students’ skills to project an exhibition in a specific place and knowing which materials they were going to use and in which way it would be done. They made a survey of the Laveshaus spaces, and they connected these spaces to their concepts solving the material problems they found: from understandable tours to a not easy panel’s fixation; from lighting to especial arrangements - like the red carpet in the main entrance, pointing the access - from advertising the exhibition at the street setting a big collage of architects’ family images to the composition problems of it; from the idea of timeline to solve electricity matters from the lighted boxes device they built to show it. This physic approach made evident the need of using audio guides to facilitate the visit after the opening day. So, they pursued recycled discmans and compacts Students at work - discussing and revising (Foto: Eva M. Álvarez Isidro, 2010). suitable for recorded cassettes or cds. Students got five of them and they made themselves texts, recor- dings and put labels on the panels with a number to identify each of the recorded tracks.

190 Internationalisierung der Lehre 3 Panels, flyers, posters design and prototyping: The students decided to make the panels with recycled material obtained from one of Hannover’s recycling plants. They made the necessary travels to get the material and they measured it, classified it and also made a data base. They studied how to use this information. They set that each panel was going to be a composition of different pieces; they would stick the printed papers with sprayed glue on these recycled panels. They projected the panel and finally, they made a prototype that was reviewed at the January session. They chose a tough aspect for the panels, making present the borders of the panels as witness of the recycled origin. They also used some recycled objects like a door or a chair, with a poetic interpretation. The flyers developed the 3D-glasses idea: it was a folded light cardboard strip, imitating the glasses propor- tions. The main colour was dark red. It was mailed as advertising and it was also distributed during the opening session. As it has been said, the poster reminds us red velvet curtains from some theatres, because of its colour – dark red -, the image of the curtain folds and because of the proportion of the poster - horizontal. On it, the main motto On stage! stands out reminding us the need of showing things in a different way. After describing these items, we want to focus the attention on the teaching mechanism. We enjoyed three concentrated and intense sessions where we reviewed and discussed the work that was done. In November session, I lectured to the students trying to fix the work basis for the project process and I gave them some information about important historic exhibitions, about some of our previous experiences with exhibitions and a text list including Denise Scott Brown text ‘Sexism and Star System‘ (see reference 2) and Gui Bonsiepe text ‘Design and Democracy‘.4 And we also agreed the schedule and the program to be followed. During November, the main issue was collecting information and thinking of the concept. We contacted by email, weekly. During December session, we discussed the recycled material idea and they proposed to open the range of offices. They had to make some research to find new ones. We tried to agree a global image for the activity, and we kept on working during December. In January session, I was also invited to lecture to the Faculty of Architecture; the lecture title was ‘Gomez+Alvarez arquitectes work timeline‘ and it was the first time that the timeline concept was exposed to the students. We discussed it and we all found important to incorporate it to the exhibition concepts. In this appointment, we also visited Laveshaus building, although they had already provided us with all the needed plans during December. This visit was important because we could be aware of the spatial relations, the real dimension of them and the path and views from different positions. During this session, they re-drew the plans again and made the final approach to connect the spaces to the concepts that were already decided.

4 Bonsiepe 2010. 191 EVA M. ÁLVAREZ ISIDRO

Besides, we could discuss the design of the panels in an intermediate jury session where Barbara Zibell, Katja Stock and several architects about whom students had been studying, were invited to attend - and they came. In this jury session, the students exposed the concepts and the designs they had been working with and we had a critical session on the adequacy of both. Everybody’s arguments enriched the quality of the concepts and clarified the design solution. During the rest of January and February, we contacted by email as well as by skype and dropbox which have been very useful tools. The students were also directly helped by Ms. Zibell and Ms. Stock. They continued collecting information by means of interviews with the offices which kindly provided them with all sorts of documents: plans, buildings photographs, personal ones, information on the working group, the way they have developed their profession, etc. This contact between students and offices has been totally relevant to this teaching activity since the inter- action with the architects has been absolutely clarifying: they have known by first hand some specific profes- sional ways, able to broaden the students’ vision scope and they also have been able to check the existence of a great inadequacy between personal life and professional one – totally unfair and without an answer from the whole society. It is compulsory thanking the offices for their work and patience. Nothing could be said to make the just treatment they deserve. But it is even more important to stand out the bond between academic life and social one that has been created, or between University activities and the city and the reality of its citizens. I think the University should produce critical thinking among students and citizens - even more from a gendered point of view - and this cannot be produced on ideal realities disconnected from our normal everyday lives. So I want to point out the importance of this step forward which initiates a closer linkage between University and citizens’ discussions. I also think that it has been a great achievement involving the students in an activity with a clearly material construction and ask them to build it. The compromise with the real thing is unavoidable; the fact that students were aware of the finality of the project has no price and no precedent. So, I want to point out the relevance of this success, and encourage the teaching staff to reflect the interest that this approach may have in our teaching tasks because the involvement of the students in this project has been spectacular, astonishing. A kind of synergy has been produced, the results exceed the most optimistic prognostics and this has been guided as much by professors as by the students and the architects’ offices. The professor who is writing has learnt as much as they might have learnt.

Part 2: The actual exhibition production The academic subject was the project phase for the following: the production of an exhibition. Four - of the previous five - students, professors, students’ friends and staff from Architects Chamber formed a working team where the decisions were taken by agreement but guided by the students who have attended the subject.

192 Internationalisierung der Lehre 3 In this phase, the team had to accurate the solution, make the actual cost forecast and build the exhibition objects. But the most difficult component was to convince the different involved parts in continuing with the concepts that had been decided during our work at University: some persons thought the recycled material could offend the general public even the architects exposed due to its tough appearance. But over all, in my opinion, they were not used to this aesthetic and poetic presence. So during February, the panel and objects solution evolved to a more simplified one, recycled materials reduced their rough presence and reality was imposed, what led to a simplification of some elements like the timeline box or the system how panels were hung. After gaining consensus on the panels and objects, the team – mainly the students and their friends - built all the objects, hung them, made the electrical connexions, stuck the window collage, put the red carpet, printed the flyers and the posters, etc. Their involvement was such that they could develop all tasks on time. In spite of the great quantity of work, I think it has been an enriching experience for the students because they have proved (to themselves) their capacity to think, design and produce concrete things within a defined planning and within a time gap. And this trust in one’s own capacity is the best legacy University can give to citizens and society.

Part 3: The opening On March 25th 2011, we enjoyed the opening session where the city architects, the offices exhibited, students, friends, etc were all invited to share the moment. It was a great public success and many people could see the work done. It was also a moment to reflect on the process and on the objectives. Many people could speak to a numerous public: Mr. Wolfgang Schneider, president of Architects Chamber discoursed on the Chamber involvement; Ms. Barbara Zibell spoke about the University linkage to architects that is to say, citizens; I could expose the exhibition design concepts and the students explained us their work. Everyone thanked the other ones, even the students. It was a happy moment. As I could say in the opening, using words from Ahrendt5, every person has the opportunity to begin something new and I think we have begun something new: recovered as teaching metho- dology, new as linkage between University and citizens, new as gender empowerment – in fact, social justice.

Part 4: Evaluation After the description I have made on the subject and the exhibition, it is clearly and absolutely a positive experience. But what mostly makes me think is that it was an unexpected result for me. I could never imagine such a great involvement of each one, such a great productiveness of the methodology. I ask myself since then, why we do not trust in our ability to change things and why it works with people living far away but we do not practise with this intensity in our own environment.

5 Ahrendt 1963. 193 EVA M. ÁLVAREZ ISIDRO

I guess we may need a kind of blind trust in new possibilities that it is more easily produced outside home. So I have to remark the need of extending teaching exchanges with clear objectives which are able to be evaluated and compared to an initial list of results. And I think this has been a great contribution to gender_archland to the normal academic exchanges. I know it has not been easy getting funding for the exhibition production and for the teaching appointment but it has been a fundamental way to change the mentality of involved actors. It has really been a new way to gender mainstreaming.

References

Ah r e n d t , Ha n n a h (1963): On Revolution. New York. Bo n s i e p e , Gu i (2010): Design and Democracy (Civic City, 2). London. Sc o t t Br o w n , De n i s e (1989): Boom at the Top? Sexism and the Star System in Architecture. In: Berkley, Ellen Perry (Hrsg.): Architecture: A Place for Women. Washington; also in: Scott Brown, Denise (2009): Having words (AA words, 4). London, 79-89; also: www.myspace.com/bobanddenise/blog/208258270 (23.06.2011) Wo r l d Co m m i s s i o n o n En v i r o n m e n t a n d De v e l o p m e n t (Hrsg.) (1987): Our common future. Brundtland Report. Oxford. 194 3

Verstetigungskonzept und Ausblick

Barbara Zibell

Im Wintersemester 2010/11 wurde das fachübergreifende Modul „Raumwissenschaftliche Genderstudien“ an der Fakultät erstmals durchgeführt. Auf der Basis dieser Erfahrungen wurden die Gendermodule für die Bachelor- und Masterstudiengänge beider Fachgruppen, Architektur und Landschaft, neu konzipiert. Grundsätzlich werden dabei die nachstehend aufgeführten Lernziele verfolgt: -- „Geschlecht“ soll als soziale Kategorie verstanden und vor dem Hintergrund der Professionskultur(en) und -geschichte(n) reflektiert werden; -- die Fähigkeit, Unterschiede und Gemeinsamkeiten der verschiedenen Planungsdisziplinen zu untersuchen, soll geschult werden (interdisziplinäre Analysekompetenz); -- geschlechtergerechte Entwurfs- und Gestaltungskompetenz bzw. Methoden genderzentrierter Planung sollen erworben werden. In Zukunft wird ein einführendes Gendermodul „Frauen und Männer in (Landschafts-)Architektur und Planung/ Women and Men in (Landscape) Architecture and Planning“ für das dritte Studienjahr der Bachelor-Studien- gänge angeboten. Hier sollen Grundlagen und Geschichte der Frauen- und Männerforschung bis zu den Gender Studies vermittelt und insbesondere berufspraktische Kompetenzen erworben werden. Darauf aufbauend wird im Masterprogramm ein wissenschaftlich ausgerichtetes Modul „Raumwissenschaftliche Genderstudien/Gender Studies in Spatial Sciences“ eingeführt, das stärker auf der theoretisch reflektierenden Ebene angesiedelt ist. Die Lehrinhalte im Bachelor umfassen -- die Vermittlung der Erkenntnis, dass Frauen und Männer in (Landschafts-)Architektur und Planung unter- schiedliche Funktionen einnehmen und unterschiedliche Beiträge zur (Geschichte der) planenden und entwerfenden Profession leisten; -- Bestandsaufnahmen und Analysen von Frauen und Männern im Beruf und geschlechtsdifferenzierende Untersuchungen von individuellen Berufsbiografien im Kontext der historischen Entwicklung der Disziplinen; 195 barbara zibell

-- die Diskussion der Erkenntnisse und das Herausarbeiten von „Stellschrauben“ und Kriterien für frauen- und männergerechte Lebenswelten im gesellschaftlichen Wandel. Im Master geht es um -- einen umfassenden Überblick über theoretische Ansätze und Diskurse in Gender Planning, d.h. um den Dialog zwischen Positionen der Frauen- und Männerforschung bzw. der Gender Studies; -- Bestandsaufnahmen und Analysen von geschlechterdiskriminierenden Aspekten in Architektur und Städtebau bzw. Stadt- und Freiraum-, Regional- und Landschaftsplanung sowie in Planungsmethoden und -instrumenten; -- die Entwicklung programmatischer Bausteine der Planung im Sinne einer Geschlechtergleichstellung: Konzepte geschlechtergerechter Partizipation und Kriterien geschlechtergerechter Gestaltung; -- die Evaluierung von praktischen nationalen und internationalen Fallbeispielen in urbanen wie ländlichen Kontexten. Die Grundlagen im Bachelor sollen grundsätzlich aus internen Lehrkapazitäten heraus und vorrangig in deutscher Sprache, bei Bedarf bilingual (d. h.: auch in Englisch), angeboten werden. Die erweiterten und vertieften Kennt- nisse im Master sollen mit externen Lehrkapazitäten (internationalen Gastprofessuren) und vorrangig englisch- sprachig vermittelt werden, nach Bedarf auch deutsch oder ggf. französisch/spanisch. Um das Angebot im Bereich der Gender Studies auf hohem Niveau ausbauen zu können, soll die Einrichtung der internationalen Gastprofessur verstetigt werden. Die Gewinnung und Finanzierung weiterer Wissenschaft- lerinnen aus dem Ausland ist in Vorbereitung. Zur Verstetigung der Angebote im Bereich der genderbezogenen Lehre dürfte auch die Ansiedlung der Juniorprofessur „Raum und Gender“ beitragen, die im Rahmen eines neuen Maria-Goeppert-Mayer-Programms vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur bewilligt wurde und im Laufe des Jahres 2012 besetzt werden soll.

196 transfer

Barbara Zibell Einführung

Der Transfer zwischen Wissenschaft und Praxis bildet die dritte Säule des gender_archland. Hier geht es um die Vermittlung von Fachwissen, das im Rahmen von Forschung und Lehre gewonnen wird, und um die öffentliche Darstellung und Diskussion, die in die Planungs- und Verwaltungspraxis eingebracht wird. Umgekehrt gibt es einen Austausch mit Fachleuten und Interessierten auf allen Ebenen und in allen Bereichen der räumlichen Planung und Gestaltung, um die Anforderungen der Praxis an Forschung und Lehre immer wieder zu aktuali- sieren und in die wissenschaftliche Arbeit integrieren zu können. Dieser wechselseitige Austausch findet in unterschiedlichen Formen statt, die im Laufe der ersten drei Jahre des gender_archland – zum Teil aufgrund von Anfragen und Aufträgen, zum Teil im Rahmen von Lehre und Forschung sowie Kooperationen und gemeinsamen Aktivitäten einzelner Mitglieder - entwickelt wurden. Dazu gehören Gendertrainings und -assessments, Vortragsveranstaltungen und Publikationen bzw. Handreichungen für die Praxis sowie Ausstellungen.

197 Ingrid Heineking Gendertrainings in kommunalen Planungsbehörden

Bei den sogenannten Gendertrainings handelt es sich um den fachlichen Input für und die Moderation von Workshops für kommunale AkteurInnen. Im Fokus steht das Einbringen der Genderperspektive als Querschnitts- thema und als Beitrag zur Qualitätssicherung in die Planungspraxis durch gemeinsames „Gendern“ eines Projekts. Die methodische Basis für das fachliche Herangehen wurde an der Abteilung für Planungs- und Architekturso- ziologie im Rahmen der jahrelangen Forschung zu Frauenbelangen in der Planung sowie Gender-Mainstreaming als Querschnittsaufgabe beim Planen und Bauen entwickelt. Aus dieser Grundlagenarbeit war – im Auftrag und in Zusammenarbeit mit der Stadt Freiburg i. Br. - ein „Gender Kompass Planung“ erarbeitet worden, der als Handreichung für die Beschäftigten in der planenden Verwaltung wie auch für Planungsbüros und Immobilien- unternehmen bzw. Investoren herausgegeben wurde und bei den Gendertrainings als Grundlage für die konkrete Anwendung am Planungsfall dient. Er erleichtert „als Arbeitshilfe die Berücksichtigung der unterschiedlichen Bedürfnisse von Frauen und Männern in allen Phasen der räumlichen Planung“.1 Die korrekte Anwendung ermöglicht den planenden sowie ausführenden Ämtern auch ungeübt die Beachtung der Genderperspektive auf Planungsvorhaben sowohl auf Ebene der Gesamtstadt und der Stadtteile sowie Quartiere als auch auf Objektebene. Die Themenfelder „Wohnen und Erwerbsarbeit“, „Versorgung und Ausstattung“, „Erreichbarkeit und Mobilität“ sowie „Außenräume, Grün- und Freiflächen“ können dabei nacheinander oder unabhängig voneinander geprüft und nach ihrer Bedeutung ausgewertet werden. Seit 2009 führen Mitglieder des gender_archland Gendertrainings durch, in denen Beschäftigte aus den planenden und ausführenden Ämtern der jeweiligen Stadtverwaltungen durch einen umfassenden fachlichen Input über Gender-Mainstreaming als Querschnittsaufgabe im Planen und Bauen informiert werden und anhand des Genderkompasses ein aktuelles eigenes Planungsbeispiel auf genderrelevante Themen- und Handlungsfelder hin überprüfen und bewerten können. Die Ergebnissicherung ist dabei so ausgerichtet, dass erste Schritte in eine konkrete Umsetzung der Erkenntnisse zu den Themen Wohnen und Erwerbsarbeit, Versorgung und Ausstattung,

1 www.freiburg.de/servlet/PB/menu/1148789_l1/index.html?QUERYSTRING=Arbeitshilfe (06.01.2012)

198 Transfer 4 Erreichbarkeit und Mobilität sowie Außenräume, Grün- und Freiflächen möglich sein sollen. Bisher wurden Gendertrainings mit Beschäftigten der Stadt- verwaltung Freiburg i. Br. und den Baudezernaten der Städte Wolfsburg und Nürnberg durchgeführt.

Erste Erfahrungen Das Angebot von Gendertrainings für kommunale Beschäftigte mit Planungshintergrund wurde in allen Fällen von den kommunalen Gleichstellungs- beauftragten angeregt und diente in erster Linie der Gendersensibilisierung und internen Fortbildung von Interessierten. Das Thema Gender-Mainstreaming in Planungszusammenhängen war den TeilnehmerInnen nicht unbekannt, die Voraussetzungen, die die Einzelnen mitbrachten, waren allerdings sehr unter- schiedlich. Durch die Arbeitsmethoden - fachlicher Vortrag, Diskussion im Plenum und Arbeit in Kleingruppen - wurden alle TeilnehmerInnen gleichermaßen angesprochen, unabhängig davon, ob bereits Vorwissen oder gar konkrete Erfahrungen mit Gender-Mainstre- aming im Planungsalltag vorhanden waren. Folgendes Programm wurde den TeilnehmerInnen Handreichung der Geschäftstelle Gender-Mainstreaming jeweils geboten: und des Stadtplanungsamtes der Stadt Freiburg i. Br. 2008 (atelier grapho, Sabine Schnell, Freiburg i. Br., 2008). -- Vorstellungsrunde mit Austausch über Gendererfahrungen; -- Input der beauftragten Genderexpertinnen zu Gender-Mainstreaming als Querschnittsaufgabe; -- Identifikation der Genderaspekte am Beispiel eines konkreten Projekts (Gruppenarbeit); -- Gender als qualitätssteigernder Aspekt für ein neues Quartier (Diskussion); -- Zusammenfassung und Feedback.

199 ingrid heineking

Erste Ergebnisse Die Erwartungen an die Workshops reichten vom allgemeinen Wunsch, den Übergang von frauen- zu gender- gerechter Planung zu verstehen, über das Kennenlernen von Methoden und neuen Aspekten der Planung durch Gender bis hin zum Testen praktischer Beispiele und Entwickeln eigener Ideen für innovative Projekte. Die bisherigen Erfahrungen mit Gendertrainings wurden in westdeutschen Großstädten gesammelt, deren personell vergleichsweise gut aufgestellte Stadtverwaltungen bereits auf Genderwissen und einen entspre- chenden Stadtratsbeschluss zu Gender Mainstreaming aufbauen konnten. Erreicht wurde mehrheitlich die SachbearbeiterInnen-Ebene, zum Teil auch Verant- wortliche in Leitungspositionen. Fachlich waren die Bereiche Stadt- und Verkehrsplanung sowie Hochbau, Grünflächenamt und Gebäudemanagement vertreten. 65 Prozent der TeilnehmerInnen waren Frauen. Für die jeweils unter Genderaspekten mithilfe des „Gender Kompass Planung“ bearbeiteten Planungspro- jekte konnten sehr konkrete genderrelevante Themen- und Handlungsfelder herausgefunden werden und teilweise erste Schritte für eine gendergerechte Umsetzung benannt werden. Arbeitsatmosphäre in Nürnberg (Foto: Ingrid Heineking, 2010).

Hiervon sind besonders hervorzuheben: -- lebendige Nutzungsmischung als Leitbild für die Gesamtstadt; -- Wegebeziehungen im Stadtteil und innerhalb der Quartiere sowie Vernetzung von Versorgungseinrichtungen und Grünflächen (Fuß-/Rad-/ÖPNV-Erschließung); -- qualitätsvolle Aufenthaltsräume mit multifunktionalen und qualitativ hochwertigen Freiflächen zur Attrakti- vitätssteigerung städtischer Quartiere; -- Wohnungen mit halböffentlichen Innenbereichen, flexible Wohnangebote; -- Beteiligungsprozesse und aktive Teilhabe. Erste Schritte für eine gendergerechte Umsetzung wurden insbesondere auf der Objektebene gefordert. Dazu gehörten: -- Wohn-Startprojekt als Initialzündung; -- Pilotprojekte zu „Wohnen und Arbeiten für Frauen“ sowie zu gendergerechter Gestaltung des öffentlichen Raumes.

200 Transfer 4 Perspektiven Das Angebot von Gendertrainings durch das gender_ archland für MitarbeiterInnen der kommunalen Planungsbehörden birgt eine gute Möglichkeit, um sowohl Forschungsergebnisse in der Praxis anzuwenden und deren Wirkung anhand von Beispielen zu überprüfen als auch neue Erkenntnisse aus der praktischen Arbeit für Forschung und Lehre zu gewinnen. Im Weiteren bietet es den kommu- nalen Verwaltungen die Chance, eine auf die jeweilige Situation abgestimmte Fortbildung durch hohe Fachkompetenz begleiten und aktuelle Erkenntnisse aus der Genderforschung direkt an die Mitarbeite- rInnen weitergeben zu lassen. Die Möglichkeit des Gendertraining in Wolfsburg (Foto: Ingrid Heineking, 2009). moderierten Ausprobierens von Genderkompetenz an einem aktuellen eigenen Planungsbeispiel verknüpft dabei ein hohes Maß an Kreativität mit positivem Veränderungspotenzial sowohl für Projekte als auch für Prozesse und Strukturen.

Literatur

Ba r b a r a Zi b e l l u. a. (o. J. [2009]): Gender Kompass Planung. Freiburg i. Br.; www.freiburg.de/service/PB/show/1242131/ genderkompass2011/pdf (07.09.2011). 201 Birgit Schmidtke Barbara ZibelL Genderassessment am Beispiel einer Neubauplanung

Das Genderassessment (eigentlich: Gender Impact Assessment) ist ein Instrument zur Gleichstellungsprüfung. Mit ihm werden geplante Vorhaben ex ante auf mögliche geschlechtsbezogene Wirkungen untersucht. Es dient zur Sicherstellung, dass die geplanten Vorhaben nicht bestehende Ungleichheiten fortschreiben, sondern auf die Förderung der Gleichstellung ausgerichtet sind. Deshalb sollte die Gleichstellungsprüfung zu einem Zeitpunkt durchgeführt werden, zu dem noch Anpassungen und Änderungen in der Planung möglich sind.1

Zur Methode des Gender Impact Assessments

Die Methode des Gender Impact Assessments (GIA) wurde in den Niederlanden von Mieke Verloo und Connie Roggeband in den 1990er-Jahren entwickelt.2 Als Grundlage der Gleichstellungsprüfung dienen ein theoretischer Rahmen, mit dem strukturelle Ungleichheiten identifiziert und das Funktionieren von Diskriminierungsmecha- nismen verstanden, sowie Kriterien, anhand derer Maßnahmen bewertet werden können: -- Strukturen: Wie gestaltet sich das Geschlechterverhältnis, was sind die Determinanten? Geschlechtsspezi- fische Arbeitsteilung, Organisation der Privatsphäre. -- Prozesse: Wie wird das Geschlechterverhältnis festgeschrieben und reproduziert? Verteilung und Zugang zu Ressourcen (Geld, Informationen, Beziehungen etc.): geschlechtsbezogene Regeln (Interpretationen, Defini- tionen, Normen und Werte). -- Kriterien: Anhand welcher Kriterien sollen erwartete Effekte bewertet werden? Gleichstellung, Autonomie. Ausgehend von diesem theoretischen Hintergrund wird nach der niederländischen GIA-Methode die Wirkung von Maßnahmen auf die geschlechtsspezifische Verteilung der Arbeit und die Organisation der Privatsphäre

1 agentur für Gleichstellung im ESF: Materialsammlung GM, Methoden und Instrumente: Gender Impact Assessment / Gleichstel- lungsprüfung. www.esf-gleichstellung.de/87.html (21.09.2011). 2 Verloo, Roggeband1996. 202 Transfer 4 analysiert, wobei die Effekte der Verteilung von Ressourcen und die Funktionsweise von geschlechtsspezifischen Normen und Werten berücksichtigt werden. Anhand der festgelegten Kriterien wird über Annahme, Änderung oder Verwerfung einer Intervention entschieden.3 Die GIA-Methode wurde auch in anderen europäischen Ländern eingeführt, jedoch nicht systematisch in den Dienst des Gender-Mainstreaming gestellt, auch wenn dessen Anwendung auf kommunaler oder staatlicher Ebene politisch beschlossen wurde. Sie wurde auch nicht grundsätzlich in der räumlichen Planung eingeführt und selten im Vorfeld politischer oder wirtschaftlicher Entscheidungen angewendet. Im Bereich von Sozial- und Umweltpolitik wurde sie jedoch hier und da als Instrument zur Entscheidungshilfe eingesetzt. In diesem Rahmen wurden zum Teil auch Handreichungen oder Checklisten für die Anwendung entwickelt.4

Genderassessment in der Praxis Im vorliegenden Fall wurden die Genderexpertinnen ausdrücklich beauftragt, ein Genderassessment-Verfahren durchzuführen. Genderassessments finden vielfach in Entwicklungsländern Anwendung, um insbesondere den vernachlässigten möglichen Beitrag von Frauen in den Blick zu nehmen. Dabei geht es in der Regel um Infor- mationen zum Status und zur Rolle der Frauen in den betreffenden Ländern als Grundlagen für die Entwicklung von Arbeitsprogrammen, Design und Implementation respektive Finanzierung von Projekten.5 Genderassessment- Verfahren wurden bisher selten durchgeführt. Sie finden sich im Zusammenhang mit Gender- und Diversitäts- managent, zum Beispiel in der betriebswirtschaftlichen Universitätsausbildung, und dienen dort als Grundlage für Diversity-Management in der Personalpolitik.6 Für die räumliche Planung oder die Projektentwicklung öffent- licher Bauten fanden sich hierzu jedoch keine Vorbilder. Methode und Vorgehen wurden in diesem Fall daher von der Auftragnehmerin entwickelt bzw. vonseiten des Auftraggebers vorgegeben. Grundlage für die Durchführung des Assessments war ein Vertrag, der mit dem Land Niedersachsen, vertreten durch das Niedersächsische Finanzministerium, vertreten durch die Oberfinanzdirektion Hannover (OFD), vertreten durch das Staatliche Baumanagement Braunschweig II in Braunschweig, im September 2005 geschlossen wurde. Gegenstand des Vertrages war die „Begleitung und Beratung im Gender Assessment Verfahren - Große Neu-, Um- und Erweiterungsbaumaßnahme zur dauerhaften Unterbringung des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) am Standort Braunschweig“. Das Verfahren wurde vom Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (BMVBW) veranlasst. Die Koordination der einzelnen Verfahrensschritte erfolgte durch das Staatliche Baumanagement II in Abstimmung mit der OFD Hannover, Landesbauabteilung. Geplant waren zunächst sechs Beratungstermine in Verbindung mit den einzelnen Verfahrensschritten zur Planung und Durchführung der o. g. Baumaßnahme, und zwar:

3 Zusammenfassung übernommen aus: Bergmann, Pimminger 2004: 84. 4 Vgl. zum Beispiel Bundesministerium für Umwelt (BMU): Gender Impact Assessment. Checkliste, Stand: 04.07.2002. www.bmu.de/ files/pdfs/allgemein/application/pdf/gia_checkliste.pdf (21.09.2011). 5 Vgl. zum Beispiel den Auftritt der Asian Development Bank ADB. Gender and Development. Country Gender Assessments: www.adb. org/gender/cga.asp (21.09.2011). 6 Hanappi-Egger, Hofmann 2007. 203 Birgit Schmidtke | Barbara Zibell

1. Unterstützen bei der Vorbereitung der Wettbewerbsausschreibung sowie den Auslobungstexten; 2. Erstellen der Gender-Vorprüfungskriterien; 3. Bewerten der Wettbewerbsbeiträge im Rahmen der Vorprüfung und Verfassen eines Ergebnisberichtes; 4. Überprüfen der Genderkriterien im Rahmen der EW-Bau-(Entwurfs-)Planung und Verfassen eines Ergebnis- berichtes; 5. Beraten im Rahmen der AFU-Bau-(Ausführungs-)Planung (z. B. Materialien, Farbwahl, Oberflächen) unter Genderaspekten; 6. Evaluieren des Assessment-Verfahrens und Verfassen eines Schlussberichtes „Berücksichtigung der Gende- raspekte bei der Planung und Durchführung der Neubaumaßnahme BVL“ nach Fertigstellung der Maßnahme bzw. nach Vereinbarung. Kurz nach Beginn der Bauarbeiten bat der Auftraggeber um den abschließenden Bericht, der im Januar 2011 vorgelegt wurde. Damit war das Verfahren für die Auftragnehmerin abgeschlossen. Seit 2004 waren Mitglieder des gender_archland mehrfach in entsprechende Assessments involviert. Die Erfah- rungen aus den verschiedenen Genderbegleitungen sind in einem Band zusammengefasst, der neben diesen weitere Verfahren mit anderen Beteiligten aus dem deutschsprachigen Raum dokumentiert.7 Zum Ablauf und zur Durchführung des Verfahrens Gegenstand des engagierten Pilotprojekts der OFD Hannover war, wie schon erwähnt, die Begleitung des Planungsprozesses für den Neubau des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit in Braunschweig - von der Auslobung des Wettbewerbs bis zur Bewertung der Ausführungsplanung, der Planung der Außenanlagen, des Innenausbaus und des Farb- und Materialkonzeptes - mit dem Ziel, Geschlechtergerech- tigkeit in einem Bauwerk herzustellen. Voraussetzung dafür war, die unterschiedlichen Bedürfnisse der poten- ziellen NutzerInnen des späteren Gebäudes im Zuge der Planungen aus einer nach Geschlechtern differenzierten Perspektive wahrzunehmen und zu benennen, da Frauen und Männer im Zusammenhang mit den unterschied- lichen Bauaufgaben bzw. innerhalb geplanter räumlicher Strukturen in der Regel unterschiedliche Funktionen wahrnehmen. Diese nicht nur baulich- und funktional-räumliche, sondern primär sozialräumliche Herangehens- weise kann maßgeblich dazu beitragen, Qualitäten zu sichern, die die spätere Aneignung des Raumes durch die NutzerInnen verbessern. Das Verfahren begann 2005 mit der gemeinsamen Entwicklung von Genderkriterien durch VertreterInnen der OFD, des Staatlichen Baumanagements II und des BVL in Zusammenarbeit mit den mit der Durchführung des Verfahrens beauftragten Genderexpertinnen der Leibniz Universität Hannover. Diese Kriterien wurden im ersten Schritt als Anforderungen an die Planung in den Auslobungstext des Wettbewerbs eingearbeitet.

7 Vgl. Zibell 2009b. 204 Transfer 4 Kriterienkatalog* Soziale Bedürfnisse Funktionale Erfordernisse 1-Wohlbefinden -- Raumgestaltung, Raumdimensionen -- Freiraumgestaltung -- Orientierung -- Differenzierung der Zonen (z. B. BesucherInnen) bis „privat“ (Arbeits- platz 2-Unversehrtheit -- Zugangskontrolle -- PförtnerIn -- Einsehbarkeit -- Sichtverbindung -- Außenerschließung -- Soziale Kontrolle -- Sicherheit / Barrierefreiheit 3-Erreichbarkeit -- Zuwegung -- Außenerschließung -- Kurze Wege -- Grundrissstruktur -- Wegeverbindungen und Wegeführung -- Raumzuordnungen -- Ungehinderte Zugänglichkeit aller erforderlichen Räume -- Behindertengerecht 4-Zurechtfinden -- Zuwegung -- PförtnerIn -- Grundrissstruktur -- Sichtverbindungen -- Orientierung -- Wegeverbindungen und Wegeführung

* entwickelt im Vorfeld der Wettbewerbsaus- -- Raumzuordnungen schreibung 2005 zusammen mit den am -- Differenzierung der Zonen Verfahren Beteiligten.

205 Birgit Schmidtke | Barbara Zibell

Soziale Bedürfnisse Funktionale Erfordernisse 5-Effektivität -- Grundrissstruktur -- Wegeverbindungen und Wegeführung -- Raumzuordnungen -- Arbeits- und Wegeabläufe -- Kurze Wege -- Orientierung 6-Kommunikation -- Grundrissstruktur -- Sichtverbindungen -- Wegeverbindungen -- Freiraumgestaltung -- Soziale Kontrolle -- Raumzuordnungen -- Differenzierung der Zonen 7-Rückzug -- Grundrissstruktur -- Differenzierung der Zonen

Weiterbearbeitung auf der Grundlage des Katalogs der im Zusammenhang mit einem Auftrag der Obersten Baubehörde beim Bayrischen Staatsminis- terium des Inneren im Jahr 2004 an das Fachgebiet Architektursoziologie und Frauenforschung, Prof. Dr. Barbara Zibell vergeben wurde.8

Im nächsten Schritt bewerteten die Genderexpertinnen die eingegangenen Wettbewerbsarbeiten anhand der im Vorfeld entwickelten Kriterien mit ihrem Fokus auf den sozialen Bedürfnissen Wohlbefinden, Unversehrtheit, Erreichbarkeit, Zurechtfinden, Effektivität, Kommunikation und Rückzug, denen wiederum funktionale Erfor- dernisse zugeordnet worden waren, in einer gesonderten Vorprüfung. Im weiteren Planungsverlauf überprüften und bewerteten die Genderexpertinnen 2006 den im Zuge der Entwurfsplanung überarbeitete Siegerentwurf. Betrachtet wurden jeweils die Veränderungen nach Gebäudeteilen und Geschossen sowie nach Querschnitts- themen wie WC-Anlagen, Teeküchen, Kommunikation, Transparenz und Barrierefreiheit. Zum Abschluss des Verfahrens wurde 2010 der im Zuge der Ausführungsplanung konkretisierte und modifi- zierte Entwurf von den Genderexpertinnen nochmals überprüft und bewertet. Bewertet wurden außerdem die bis zu diesem Zeitpunkt getroffenen Festlegungen zu Materialien, Oberflächen und Farben sowie zu Innen- ausbau, Möblierung und Beleuchtung sowie der Planungsstand der Außenanlagen. Alle Ergebnisse wurden in einer abschließenden Stellungnahme zusammengefasst, die auch die abschließende Dokumentation des Gender- assessment-Verfahrens und die Bewertung des gesamten Planungsprozesses beinhaltete.

8 Vgl. Zibell 2009b: 39-70. 206 Transfer 4 Zusammenfassend ist festzustellen, dass in diesem Pilotprojekt die Chance gegeben war, von Beginn eines Planungsprozesses bis zur baulichen Umsetzung Gender-Mainstreaming in die Planung zu integrieren und somit Teilhabe und Gleichstellung als Bestandteil sozialer Nachhaltigkeit zu gewährleisten. Damit war das Genderas- sessment-Verfahren im Ansatz vorbildlich angelegt. Allerdings ist festzuhalten, dass die Ergebnisse hinter den Möglichkeiten zurückblieben.

Ergebnisse Grundsätzlich hat die Planung durch das Genderassessment-Verfahren an Qualität gewonnen. Als Erfolg ist insbesondere zu bewerten, dass im Zuge der Überarbeitung des Wettbewerbsentwurfs im Verwaltungsbereich vom Erdgeschoss (EG) bis zum 2. Obergeschoss (OG) eine Mittelzone als Kommunikationsbereich vorgesehen wurde. Verbessert wurden auch die barrierefreie Erschließung sowie in Teilbereichen die Erreichbarkeit und Orientierung. Es gibt aber auch andere Erfahrungen: So wurde zum Beispiel eine im Zuge der Überarbeitung des Entwurfs zunächst aufgegriffene Anregung der Genderexpertinnen zur Einrichtung einer Kommunikationszone im Wartebereich des EG, angegliedert an Bibliothek und Besprechungsbereich, im Zuge der Ausführungsplanung wieder zurückgenommen. Diese Änderung bedeutete einen Verzicht auf den halbprivaten Raum innerhalb der Arbeitsstelle BVL, dem in seiner besonderen Nutzung für Kommunikation, Austausch und Begegnung der Mitar- beitenden untereinander eine wichtige Funktion zugekommen wäre. Dies ist bezeichnend dafür, dass bei Entscheidungen über Planungsänderungen die Genderkriterien gegenüber anderen Kriterien (Kosten, Raumprogramm, Termine: vermeintliche Sachzwänge) im Allgemeinen nachrangig geblieben sind. Das bildete sich bereits in der Jurierung des 1. Preises ab: Der Siegerentwurf war in der Vorprüfung durch die Genderexpertinnen eher negativ bis neutral bewertet worden. In den Sitzungen des Preisgerichtes waren die Genderexpertinnen dann zwar anwesend, jedoch nicht stimmberechtigt. So war es ihnen kaum möglich, ihre Haltung mit Nachdruck zu vertreten. Im Ergebnis wird diese Tatsache insgesamt ablesbar an den vergleichsweise zurückhaltenden Planungsänderungen, denen eine Fülle von Anregungen in den verschiedenen Planungsphasen durch die Genderexpertinnen gegenüberstand. Eine größere Bereitschaft, konzeptionelle Änderungen vorzu- nehmen, wäre wünschenswert gewesen. Das betrifft z. B. die Ablesbarkeit von Referaten als Arbeitsabschnitte und -kontexte durch Gruppierung der Räumlichkeiten statt deren Aufreihung oder durch farblich differenziertere und freundlichere Gestaltung, haptisch angenehmere Materialien, mehr soziale Infrastruktur und größere Durch- lässigkeit zwischen innen und außen. Dies ist insbesondere bedauerlich, da Arbeitsplätze sich im Zuge des gesellschaftlichen Wandels zur sogenannten Wissensgesellschaft mehr und mehr auch zu Orten entwickeln, an denen gelebt und das heißt im eigentlichen Sinne: „gewohnt“ wird. Aufenthaltsqualitäten am Arbeitsplatz – Teeküchen und Begegnungsräume, Sitznischen für die zufällige Begegnung usw. – dürften bei künftigen Amts- und Bürobauten eine zunehmende Rolle spielen. Oder anders herum ausgedrückt: Die Zufriedenheit der Mitarbeitenden, deren Arbeitsleistung und -einsatz wird mehr und mehr auch durch weiche Standortfaktoren am Arbeitsplatz bestimmt.

207 Birgit Schmidtke | Barbara Zibell

Für künftige Genderassessments in Planungsverfahren lässt sich aus den beschriebenen Erfahrungen ableiten, dass der Erfolg von Gender-Mainstreaming und damit letztlich der Mehrwert dieser Strategie den ernsthaften politischen Willen aller Planungsbeteiligten und die eindeutige Verantwortlichkeit der Behörde bzw. des Auftrag- gebers voraussetzt. Darüber hinaus von Bedeutung sind die kommunikative Qualität der Prozesse und eine Verbreiterung der Perspek- tiven auf soziale Bedürfnisse und Bedarfsfragen potentieller NutzerInnen und der Anerkennung ihrer existen- ziellen Bedeutung, damit Gender-Mainstreaming als Strategie zur Qualitätssteigerung wirksam werden kann.

Literatur

Be r g m a n n , Na d j a ; Pi m m i n g e r , Ir e n e (2004): Praxishandbuch Gender Mainstreaming. Wien. Ha n a pp i -Eg g e r , Ed e l t r a u d ; Ho f m a n n , Ro s w i t h a (2007): Gender- und Diversitätsmanagement: Qualifikationsbedürf- nisse in der betriebswirtschaftlichen Universitätsausbildung. In: Wagner, Dieter; Voigt, Bernd-Friedrich (Hrsg.): Diversity- Management als Leitbild von Personalpolitik. Wiesbaden, 153–171. Ve r l o o , Mi e k e ; Ro g g e b a n d , Co n n i e (1996): Gender Impact Assessment. The development of a new instrument in the Netherlands. In: Impact Assessment 14 (1), 3–20. Zi b e l l , Ba r b a r a (2009a): Vom Wettbewerb zur EW Bau. Der Neubau des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebens- mittelsicherheit in Braunschweig. In: Dies. (Hrsg.): Gender Building. Sozialräumliche Qualitäten im öffentlichen Hochbau (Beiträge zur Planungs- und Architektursoziologie, 6). Frankfurt am Main, 133–164. Zi b e l l , Ba r b a r a (Hrsg.) (2009b): Gender Building. Sozialräumliche Qualitäten im öffentlichen Hochbau (Beiträge zur Planungs- und Architektursoziologie, 6). Frankfurt am Main. 208 4

Schriftenreihe weiter_denken

Um Ergebnisse aus Forschungsprojekten der Mitglieder oder auch die Dokumen- tation von Veranstaltungen des gender_archland einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, wurde die Schriftenreihe weiter_denken etabliert, die auf Dauer sowohl die Herausgabe „schneller Broschüren“ im Eigenverlag als auch „guter Bücher“ in Zusammenarbeit mit ausgewählten Verlagen ermöglichen soll. Bisher sind folgende Bände erschienen: Band 1: Beate Ahr/Roswitha Kirsch-Stracke: „Die künstlerische Freude am Reichtum der Naturformen gab den Anlass.“ Die Naturschutz-Pionierinnen Margarete Boie (1880–1946) und Helene Varges (1877–1946). Eine Pilotstudie zur Quellenlage. Hannover 2010. Band 2: Johanna Niescken/Lidewij Tummers: A different Way to Practise? Deutsche (Landschafts-)Architektinnen im internationalen Vergleich – A Trans- disciplinary Project. Hannover 2011. Folgender Band ist in Vorbereitung: Band 4: Ruth May: Migrantinnen als Existenzgründerinnen (Arbeitstitel). Erscheint voraussichtlich 2012/2013.

209 Vortragsreihe „dienstags um 6“ (dium6)

+ Die fakultätseigene Reihe „dienstags um 6“ wird genutzt, um die Genderpers- pektive an der Fakultät durch Vorträge ausgewählter ReferentInnen aus Wissen- Dienstag, 20. Juli 2010, 18 h VORLESUNGSREIHE Raum C 050, Herrenhäuser Str. 8 d i 6 Leibniz Universität Hannover schaft und Planungspraxis zu positionieren. Nach der ersten Einladung einer Architektur und Landschaft Herrenhäuser Strasse 8 Cristina García-Rosales und Ana Estrado – Planungsfachfrau aus Niedersachsens Nachbarstadt Hamburg kamen die Vortra- Architektinnen aus Madrid genden regelmäßig aus unmittelbaren Arbeitszusammenhängen des gender_

La Mujer Construye / Women who build archland und trugen mit ihrer Herkunft aus unterschiedlichsten Ländern zur Ausstellungsbericht Internationalisierung bei. “WOMEN WHO BUILD is an open, collective and solidary cultural project conceived by a group of Spa- nish women architects, with the objective to SUP- Bislang initiierte das gender_archland folgende Vortragsveranstaltungen: PORT, SPREAD AND PROMOTE ARCHITECTURE within society, as well as to meditate on the professi- onal role of women in the design of built spaces.” Kerstin Zillmann, Hamburg: Stadt am Wasser – ein gendersensitiver Blick auf die HafenCity Hamburg (18.11.2009) Lidewij Tummers, Rotterdam: Tussen Ruimte: Zwischenraum – The inbetween as a design philosophy (27.04.2010) Marlies Rohmer, Amsterdam: Urban Transformation and Social Engineering – Werkbericht (22.06.2010) Cristina García-Rosales/Ana Estirado, Madrid: La mujer construye / women who build – Bericht über eine internationale Ausstellung über die Arbeit von Archi- tektinnen (20.07.2010) Eva Maria Álvarez, Valencia: GÓMEZ+ÁLVAREZ WORK TIMELINE – Werkbericht (11.01.2011) Round-Table-Gespräch mit (Landschafts-)Architektinnen anlässlich der Finissage von „On Stage! Women and Men in (Landscape) Architecture and

210 Transfer 4 Planning in Lower Saxony and around the World” im Laveshaus der Niedersäch-

diVORLESUNGSREIHE6 Leibniz Universität Hannover sischen Architektenkammer, Hannover (03.05.2011) Architektur und Landschaft Herrenhäuser Strasse 8

Dienstag, 18. November 2008, 18h Doris Damyanovic, Wien: Gemeinsam den Raum entwickeln. Transdisziplinäre Raum C 050, Herrenh‰user Str. 8 Stadt am Wasser Planungsprozesse als Beitrag zur nachhaltigen Raumentwicklung (07.06.2011) Vortrag von Kerstin Zillmann Gender in der Planung Im Wintersemester 2011/12 hielt die indische Architektin Sheila Sri Prakash aus Podiumsdiskussion Kerstin Zillmann, Chennai, die auch in der Ausstellung porträtiert ist, zur Eröffnung der Ausstellung Johanna Spalink-Sievers, Prof. Hildebrand Machleidt „On Stage!“ im Foyer des Fakultätsgebäudes am 25.10.2011 einen Eröffnungs- Moderation: Roswitha Kirsch-Stracke vortrag. Damit überschritt die Internationalisierung des gender_archland erstmals die Grenzen Europas.

Dienstag, 22. Juni 2010, 18 h Raum C 050, Herrenhäuser Str. 8

Marlies Rohmer, Architektin Amsterdam dVORLESUNGSREIH i 6E Leibniz Universität Hannover Werkbericht Architektur und Landschaft Herrenhäuser Strasse 8 Urban Transformation and Social Engineering

Das Architekturbüro Marlies Rohmer in Amsterdam besitzt eine über 25-jährige Erfahrung. Diese erstreckt sich von der städti- schen Erneuerung, Wohnungsbauprojekten bis hin zu Schulgebäu- den, Nichtwohngebäuden und Versorgungszentren. Der Designprozess des Büros wird immer durch Forschung und eine Vielfalt von sozialen und kulturellen Phänomenen beeinflusst. Das Unternehmen arbeitet in allen Leistungsphasen und beglei- tet seine Projekte vom Anfang bis zum Ende. Jeder Auftrag wird als einzigartiges Projekt angesehen, welches spezifische Lösungen braucht. Dadurch entsteht eine starke und erkennbare Architektur mit innovativer Detaillierung. Seit 1999 erforscht Marlies Rohmer intensiv die Jugendkultur, die mit Architektur und dem öffentlichen Raum verbunden ist. Die Ergebnisse wurden im Buch „Bouwen voor de NEXT GENERA- TION“ veröffentlicht. Das Unternehmen erhielt mehrere Preise, unter anderem den niederländischen Schulbaupreis der Jahre 2002 und 2008.

Photo: Peter Elenbaas, Elenbaas Visuals

211 Barbara Zibell Ausstellung „On Stage!”

An einem besonders attraktiven Ort, dem Laveshaus in Hannover, konnte die erste Ausstellung des gender_ archland, die in Kooperation mit der Niedersächsischen Architektenkammer entstanden ist, am 25. März 2011 eröffnet werden. Sie war dort bis Anfang Mai 2011 zu sehen.

Von der Idee zur Realisierung Bis es zu dieser Eröffnung kommen konnte, hatte das Projekt eine längere Metamorphose durchlaufen: -- Ausgangspunkt war die spanische Ausstellung „La Mujer construye“ über das Werk von Architektinnen, die 1999 entstand und seitdem durch verschiedene europäische Länder wie Italien und die Niederlande sowie durch den Libanon gewandert ist, wo sie jeweils durch Porträts von Architektinnen der Gastländer angerei- chert wurde. -- Zweiter Schritt war die Idee der ersten Gastprofessorin am gender_archland, Lidewij Tummers, diese Ausstellung nach Deutschland zu holen und im Rahmen der Lehre mit Studierenden um einen deutschen Beitrag anzureichern. -- Im Weiteren bedurfte es der Bereitschaft von (Landschafts-)Architektinnen im Raum Hannover, die bereit waren, sich auf ein solches Experiment mit offenem Ausgang einzulassen. Diese konnten mit Unterstützung der Architektenkammer im Frühjahr 2010 gefunden werden. Schließlich brachte die zweite Gastprofessorin des gender_archland, Eva M. Álvarez Isidro, im Wintersemester 2010/11 mit einer neuen Gruppe von Studierenden das Ausstellungsprojekt unter dem Titel „In Szene setzen! – On Stage!“ auf die Bühne. Aus dem Blickwinkel von Architektinnen, mit ihren Erfahrungen in einer männerdominierten Profession und mit ihren unterschiedlichen Rahmenbedingungen aus Erwerbsarbeit, Haus- bzw. Versorgungsarbeit, Privatheit und öffentlichem Auftritt, entwickelten die Studierenden zusammen mit ihrer Dozentin die Inhalte der Ausstellung, nah am Material der sieben niedersächsischen Architektinnen, die bereit waren, so viel von sich preiszugeben,

212 Transfer 4 zuzüglich weiterer sieben ausgewählter Architektinnen aus anderen Ländern der Welt, die die Studierenden, selbst von unterschiedlichster Herkunft, im Rahmen der Lehrveranstaltung recherchiert hatten. In einem intensiven und zielstrebigen Prozess entstanden: -- das Ausstellungskonzept, das die Fachfrauen nicht – wie in Architekturausstellungen im Allgemeinen üblich – nur mit ihrem Werk zeigte, sondern als Menschen mit ihrem professionellen Werdegang wie auch dem familiären Hintergrund und mit ihren spezifischen Entwicklungslinien, die nachvollziehbar werden ließen, warum sie zu denen geworden sind, die sie heute sind; Vorbereitungen für die Ausstellung (Foto: gender_archland, 2011). -- das Ausstellungsdesign – im Spannungsfeld zwischen Low-Budget-Anforderungen und hohen ästhetischen Ansprüchen der Kammer –, das nicht nur Ausstellungspanels und Modelle aus dem Werk der Porträtierten umfasste, sondern auch weitere Bestand- teile. Dazu gehörten: eine „timeline“ auf einem von unten angestrahlten Lichttisch mit fotografisch dokumentierten Stationen aus dem Leben der Fachfrauen, ein Werbeflyer in Form einer Brille als Symbol für den anderen Blick, der hier eingenommen wurde, ein Audioguide in Deutsch, Englisch und Spanisch sowie ein professionell gestalteter Internetauftritt. Und nicht zuletzt der rote Teppich, der besonders öffentlich- keitswirksam von der stark befahrenen Straße, dem Friedrichswall, zum Eingang des Laveshauses hinführte. Von der Straße aus ebenfalls gut sichtbar waren auch die Porträts der in der Ausstellung gezeigten Architek- tinnen, mit denen das große Fenster des gläsernen Seminargebäudes am Laveshaus beklebt war; -- und nicht zuletzt die Ausstellung selbst: Die StudentInnen produzierten all diese Bestandteile, die sie zuvor konzipiert hatten, mit ihren eigenen Händen zu einer wohl komponierten, dem besonderen Ort sensibel angepassten Ausstellung, die den hohen Anforderungen der Kammer an die Qualität von Design und Produktqualität schlussendlich zu genügen vermochte. Das alles entstand im Rahmen einer Seminarveranstaltung mit 4 bzw. 6 Credit Points (je nach Studiengang; 30 CP pro Semester sind Pflicht), d. h. letztlich mit einem Mehrfachen an Arbeitsleistung, die man in einem solchen Rahmen überhaupt erwarten darf. Die Studierenden haben fast Unglaubliches geleistet, sie haben aber auch viel gelernt und viel erreicht – für sich selbst wie für die Fachöffentlichkeit.

213 Barbara Zibell

Vernissage und Finissage Die Vernissage wurde durch den Präsidenten der Architektenkammer Wolfgang Schneider eröffnet.1 Er wies bei dieser Gelegenheit darauf hin, dass er noch nie so viele Frauen bei einer Eröffnungsveranstaltung im Laveshaus begrüßt habe, gleichzeitig aber überrascht sei, wie viele Männer auch zugegen seien – bei der Eröffnung einer Ausstellung, in der es „ausschließlich um weibliche Akteure“ ginge. Und er zeigte auf, dass sich das Geschlech- terverhältnis im Beruf – trotz vermehrter Selbstständigkeit von Frauen in Architektur und Landschaftsarchitektur und trotz der Zunahme weiblicher Studierender, die mit Anteilen von ca. 60 Prozent (an der Leibniz Universität Hannover und an der Technischen Universität Braunschweig) heute bereits die Mehrheit bilden – in den letzten 20 Jahren nicht nennenswert gewandelt habe. Warum das Verhältnis von Frauen und Männern im Beruf der (Landschafts-)Architektin immer noch alles andere als ausgewogen ist und welche Stolpersteine einem ausgewogenen Geschlechterverhältnis im Beruf immer noch entgegenstehen, wurde auch in der Finissage in einem Round-Table-Gespräch mit den Ausstellungsmacherinnen und drei der in der Ausstellung porträtierten (Landschafts-)Architektinnen am 3. Mai 2011 im Laveshaus disku- tiert. Von studentischer Seite hieß es, ein Bewusstsein für die Problematik sei nicht sehr verbreitet. Das zeige die Reaktion vieler KommilitonInnen auf die Lehrveranstaltung, die sich eher abwenden, wenn sie mit dem „Frauenthema“ konfrontiert würden. Dabei würde im Studium nichts oder nur sehr wenig von und über Architek- tinnen vermittelt, so dass weibliche Vor- und Leitbilder fehlen.2 Vonseiten der porträtierten Architektinnen gab es unterschiedliche Reaktionen: von der guten Erfahrung, das eigene Büro Hand in Hand mit dem Partner gemeinsam zu führen, über die Schwierigkeit, die Selbstständigkeit mit Familie und Kindern in Einklang zu bringen, bis hin zu der Aussage: „Ich habe mich im Studium und im Beruf nie als Frau gefühlt, sondern als jemand, der Architektur macht. Aber die, mit denen ich zu tun habe, nehmen mich als Frau wahr, und nicht als eine, die Architektur macht.“ Eine andere sagte, sie musste schlucken, die eigenen Aussagen, die in einer eher privaten Gesprächsat- mosphäre geäußert worden waren, schließlich in Seminiargebäude Laveshaus (Foto: gender_archland, 2011). der Ausstellung veröffentlicht zu sehen. Würden Männer auch so viel von sich preisgeben? Eine weitere

1 Wir danken Wolfgang Schneider für die Überlassung seines Redemanuskriptes. 2 Die im Folgenden wiedergegebenen Aussagen und Zitate stammen von Teilnehmerinnen des Round-Table-Gesprächs. 214 Transfer 4 beschränkte sich in Präsentationen bisher strikt auf professionelle Details und war anfangs befremdet, in diesem Projekt so viel Privates von sich preisgeben zu sollen. In der Reflexion wurde ihr jedoch klar, dass ihr Umfeld – Familie, FreundInnen – ihre Arbeit befruchtet und auch Respekt verdient. Das Berufsfeld ist immer noch männlich dominiert; das zeigt sich in der Reduktion auf das Professionelle, das zeigt sich aber zum Beispiel auch in Baubesprechungen im Gesprächsverhalten wie an der Körpersprache oder der Lautstärke. Frauen könnten sich aber darauf einstellen und dies auch lernen. „Ich machte am Anfang noch den Fehler, auf einer Baubesprechung zu sagen, ich hätte etwas nicht verstanden. Das würde ein Mann nie eingestehen.“ Andere können das auch positiv wenden: „Es ist doch okay, dass Frauen anders sind. Wir dürfen uns ruhig mal doof stellen. Ich bin seit Jahrzehnten erfolgreich im Beruf, kann die Gehälter meiner Mitarbeiter immer pünktlich zahlen. Ich habe vor nichts Angst, mir kann niemand etwas.“ Einhellige Erfahrung der selbstständigen (Landschafts-)Architektinnen: Ihre Arbeitssituation unterschied sich nicht von der ihrer Kollegen – bis die Kinder kamen. Das „Star System“3 in der Architektur erfordert maximalen Einsatz für den Beruf, es duldet kaum Eigenzeit, geschweige denn Familienzeit. Frauen stellen dieses System aufgrund ihrer anderen Alltagserfahrungen aber häufiger in Frage. Sie planen und bauen eher nutzerInnen- orientiert, mehr Alltagsarchitektur als herausgehobene Prestigeobjekte. Damit wird kein Star geboren. Aber: Haben diese Projekte nicht eine viel größere gesellschaftliche Relevanz, weil sie von viel mehr Menschen benutzt werden? Was sind die Perspektiven für die nachfolgende Generation, was können die älteren Fachfrauen den Studen- tinnen von heute mit auf den Weg geben? -- Die Öffentlichkeit nimmt zunehmend die Quali- täten von Frauen wie Organisationstalent, Moderationsfähigkeit(en) etc. wahr. -- Über ihr Können hinaus müssen Frauen aber lernen, sich selbst darzustellen. -- Wichtig ist es, die Augen offen zu halten, den Blick zu weiten, eigene Ziele zu erkennen und zu verfolgen; sich aber auch Zeit für Muße nehmen – das Leben bietet mehr Zeit, als man oft denkt. -- Familie, Beruf und ehrenamtliche Tätigkeiten sind „das pralle Leben“, das gibt Kraft und Energie für den Job. -- Grundvoraussetzung für die Berufstätigkeit ist

aber der private Konsens, dass die Familienarbeit Vernissage 3. Mai 2011 (Foto: gender_archland, 2011). komplett geteilt wird. Dennoch ist die freiberuf-

3 Begriff nach: Brown 1989. 215 Barbara Zibell

liche Architektinnentätigkeit mit Familie ein „Pakt mit dem Teufel“, für den frau einen hohen Preis zahlt (Verzicht auf Urlaube, Freizeit, Zeit für sich selbst). Ein wichtiger Aha-Effekt aufseiten der studentischen Ausstellungsmacherinnen: Die porträtierten Architek- tinnen seien ungeheuer diszipliniert und müssten ein unglaubliches Management in Büro und Alltag leisten, um ihre Aufgaben erfüllen zu können.

Was bleibt? Was bleibt von diesem aufwändigen, aber überaus

Vernissage 3. Mai 2011 (Foto: gender_archland, 2011). ertragreichen Projekt für das gender_archland und dessen weitere Perspektiven? -- Ein wichtiges Verdienst ist es, Fachfrauen in dieser umfassenden Weise in Szene gesetzt zu haben, sie mit ihrem Werk zu konfrontieren, die eigenen Erfolge zu sehen: „Das ist mein Werk, das bin ich.“ -- Ein wichtiger Lerneffekt besteht für die Studierenden in der Konfrontation mit Vorbildern und Realitäten, angesiedelt zwischen Optimismus und Ernüchterung. -- Forschung und Lehre finden hier einen Fundus an Aufgaben und weiterführenden Fragestellungen im Spannungsfeld zwischen anderen Biografien und neuen Kooperationen – u. a. zwischen Ausbildung, Kammer und Berufspraxis. Nach einer weiteren Präsentation in den Räumen der Fakultät soll die Ausstellung weiter wandern durch die Herkunftsländer der Gastprofessorinnen des gender_archland bzw. der präsentierten Fachfrauen: 2012 nach Spanien (Valencia) sowie Österreich (Wien), 2013 nach Indien (Chennai) usw. Was bleibt, ist die Bewegung, der Prozess der Auseinandersetzung und das Schaffen von Bewusstsein respektive Selbstbewusstsein von Frauen im Beruf, initiiert durch das In-Szene-Setzen der eigenen Werke im Kontext des gelebten Lebens mit seinen Beschränkungen und Grenzüberschreitungen

Literatur

Sc o t t Br o w n , De n i s e (1989): Boom at the Top? Sexism and the Star System in Architecture. In: Berkley, Ellen Perry (Hrsg.): Architecture: A Place for Women. Washington; also in: Scott Brown, Denise (2009): Having words (AA words, 4). London, 79-89; also: www.myspace.com/bobanddenise/blog/208258270 (23.06.2011)

216 Barbara Zibell Ausblick

Das Auslaufen der Förderung durch das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur (MWK) zum Ende des Jahres 2010 war Anlass für das gender_archland, zur Konsolidierung neue Wege zu suchen. Am Ende eines längeren Diskussionsprozesses entschied sich der Vorstand für die Gründung einer Sektion „GenderKompetenz in Architektur Landschaft Planung“ im Freundeskreis der Leibniz Universität Hannover e. V. Hierdurch können organisatorische Aufgaben delegiert, im Weiteren Mittel zur Ausrichtung von Veranstaltungen oder zur Unterstützung von Schriften verfügbar gemacht werden. Es ist gleichzeitig ein Schritt nach außen, der insbesondere ehemaligen Angehörigen der Leibniz Universität (LUH) oder Mitgliedern anderer Hochschulen bzw. aus der Planungspraxis signalisiert, dass ihre Mitarbeit für die weitere Entwicklung des gender_archland wertvoll ist und ihre Mitgliedschaft dazu beiträgt, auch für die Zukunft attraktive Projekte planen zu können. Die Förderung einer Juniorprofessur „Raum und Gender” durch das Maria-Goeppert-Mayer-Programm des MWK ist ein wichtiger Baustein zur Konsolidierung des gender_archland und dient insbesondere dem Ausbau des Forschungsschwerpunktes. Die Besetzung soll im Laufe des Jahres erfolgen. Im Mittelpunkt der Forschungsaktivitäten steht die Fortsetzung der ForschungsForen als eingeführtes Instrument der Diskussion, Vernetzung und Bündelung gemeinsamer Forschungsinteressen; eine Veranstaltung zur Sondierung geeigneter Fördermöglichkeiten ist für das Jahr 2012 geplant. Die bisherigen Themenschwerpunkte – dazu gehört die Sicherung der Nahversorgung und die aktive Integration von Migrantinnen in lokale Erwerbs- strukturen – stehen dank Einwerbung entsprechender Drittmittel auch weiterhin auf der Agenda. Neue Projekte sollen mit der Juniorprofessur im Bereich der drei Forschungsschwerpunkte der Fakultät – Reflexives Entwerfen; Zukunft der Urbanisierung und ländlichen Entwicklung; Multifunktionalität in Landschaft, Kultur und Technik– angestoßen werden. Dabei ist die Interdisziplinarität der Forschungsaktivitäten, die sich auch aus dem beson- deren Zuschnitt der Fakultät ergibt, immer wieder Anspruch und Herausforderung zugleich. Die guten Erfahrungen, die seit dem Wintersemester 2009/10 mit den internationalen Gastprofessorinnen gemacht wurden, sollen nach Möglichkeit fortgeführt und ebenfalls auf solide finanzielle Füße gestellt werden.

217 Barbara Zibell

Dazu werden Programme sondiert und über das europäische Netzwerke „Gender and Diversity in Urban Sustain- ability“ sowie über die im Rahmen der Ausstellung „On Stage!“ gewonnenen internationalen Kontakte geeignete Personen angeworben. Dadurch und nicht zuletzt auch durch das Interesse ausländischer Studierender können die Erfolge zur Internationalisierung der Lehre gesteigert und internationale Forschungsbeziehungen ausgebaut werden. Auch im eigenen Hause wird durch die Verbreiterung der Basis Neuland gewonnen. Hierzu gehört nicht zuletzt die Rekrutierung von Vorstandsmitgliedern aus anderen Fakultäten der LUH. Darüber hinaus ist das gender_archland bestrebt, wo immer möglich, weitere Personen aus anderen Institutionen im In- und Ausland für Kooperation und Mitarbeit zu gewinnen. Die Bestellung eines Fachbeirats wird erwogen. Neben der finanziellen Unterstützung von außen und durch Drittmittel für Forschungsprojekte werden auch die Unterstützung vonseiten der Hochschule sowie das Engagement der Mitglieder auf Dauer unverzichtbar sein. Sie sind Dreh- und Angelpunkt der Arbeit und wichtige GarantInnen für den weiteren Erfolg. Ein großer Dank sei an dieser Stelle an die Fakultät gerichtet, die dem gender_archland den institutionellen Rahmen bietet und dessen Aktivitäten nicht nur ermöglicht, sondern immer wieder auch aktiv unterstützt.

218 AutorInnenverzeichnis

Beate Ahr, Dipl.-Ing. Landschaftsplanung & Forschung, Kronshagen bei Kiel. Studierte an der Universität Hannover Landespflege. Seit 1989 arbeitete sie in verschiedenen Büro- und Arbeitsgemeinschaften im Bereich Biotopkartierungen, ökologische Gutachten, Nutzungs- und Pflegekonzepte u. a. Sie ist nun freiberuflich im Umweltbildungsbereich und in der Forschung tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die historische Frauen- und Geschlechterforschung und die Biografieforschung, zur Zeit besonders zum Engagement von Frauen im frühen Naturschutz.

Eva M. Álvarez Isidro, Arqu. Architect (1991) Polytechnic Universitiy of Valencia (Spain). Associate professor in Architectural Projects department in Polytechnic University of Valencia since 1995; T1 Final Project Jury member since 2003. Professional work as ‘gómez+álvarez arquitectes’ since 1992: Urban spaces, Restoration, Housing, Multi dwelling building, Public buildings, Industrial purposes buildings, Furniture, Graphic design, Events management, Exhibitions. 2010/11 guest professor in the Forum für GenderKompetenz in Architektur Landschaft Planung.

Hannah Arpke, MSc Studium der Agroforstwissenschaft und Management ländlicher Ressourcen/ländlicher Entwicklung, University of Wales, Bangor. Projekte zur Sicherung von Lebensgrundlagen (rural livelihoods), capacity building, Biodiversität, partizipative Politikgestaltung und Millenniumentwicklungsziele im Wassersektor (governance) im Rahmen der Entwicklungszusammen- arbeit in Äthiopien. Derzeit Projektkoordinatorin am Institut für Umweltplanung, Leibniz Universität Hannover, im Projekt BioDIVA.

Cornelia Göksu, Dr. phil. Studium der Deutschen Altertums- und Volkskunde, Kunstgeschichte, Literatur- und Theaterwissenschaft in Hamburg und Würzburg. Promotion 1988. Berufspraxis als Journalistin, wissenschaftliches Volontariat an Museum und Archiv, Pressere-

219 ferentin in einem Industrieunternehmen. Seit 1999 selbstständig als Kulturhistorikerin und Publizistin mit der Hamburger Agentur „Dr. Cornelia Göksu – Kultur Kommunikation“. Sachbücher und Reportagen, Redaktion und Lektorat zu Kultur, Design, Geschichte; Seminare, Vorträge und Führungen; Spezialgebiet: Geschichte in Geschichten.

Annette Harth, Dr. rer. pol. Seit 1992 wissenschaftliche Mitarbeiterin in Forschung und Lehre im Bereich Planungsbezogene Soziologie an der Leibniz Universität Hannover. Forschungsschwerpunkte: Empirische Stadtforschung, Wohnsoziologie, Freiraum und Handeln, genderbezogene Stadtsoziologie, Stadtentwicklung (in Ostdeutschland).

Ingrid Heineking, Dipl. Geogr. Bis 1994 Studium der Geographie an der Leibniz Universität Hannover (LUH); seit 1994 freiberufliche Planerin. Zusatzaus- bildung zur Moderatorin. Berufliche Aktivitäten: Dorferneuerung, dörfliche Entwicklung und städtebauliche Planung mit eigenem Büro; Moderation im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit und Partizipation, u. a. Gender Trainings; Sprecherin der PlanungsFachFrauen in Hannover. Derzeit Mitarbeiterin am gender_archland und im Forschungsvorhaben „ZukunftNAH. Zukunftschanchen der bedarfsgerechten Nahversorgung in ländlichen Räumen Niedersachsens“ an der LUH.

Roswitha Kirsch-Stracke, Dipl.-Ing. Studium der Landespflege an der Gesamthochschule Essen und der Universität Hannover bis 1981. 12 Jahre freiberufliche Tätigkeit. Seit 1992 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Umweltplanung der Leibniz Universität Hannover. Arbeitsgebiete: Dörfliche Freiraumkultur und Dorfentwicklung, Umgang mit historischer Kulturlandschaft, Naturschutz, Angewandte Vegetationskunde, Landschaftsinterpretation und Umweltbildung, Frauen in der Professionsgeschichte. Mitbe- gründerin und Koordinatorin des interdisziplinären Netzwerks „Frauen in der Geschichte der Gartenkultur“.

Claudia Klement, Dipl.-Ing. Bis 1985 Studium der Architektur an der Gesamthochschule Kassel; nach kinderbedingter Unterbrechung ab 1995 für den deutschen Kinderschutzbund Ortsverband Gifhorn im Bereich Spielraumplanung tätig. Gemeinsam mit Sabine Wyrwoll 2001 Gründung des Ingenieurbüros Althaus-Konzept mit den Arbeitsschwerpunkten Altbausanierung und Entwicklung sozio-kultureller Umnutzungskonzepte. 2008 Gründung und Vorstand des Vereins Markthof e. V. (Verein zur Erhaltung historisch wertvoller Bausubstanz und Frauenförderung im ländlichen Raum).

Isabelle Kunze, MSocSc Studium der Humangeographie an der Universität Bayreuth und University of Waikato in Neuseeland. Derzeit wissen- schaftliche Mitarbeiterin im BioDIVA Projekt an der Leibniz Universität Hannover sowie Doktorandin an der Fakultät für Architektur und Landschaft, Institut für Umweltplanung; ihr Promotionsvorhaben untersucht geschlechterspezifische Auswirkungen des Landnutzungswandels in Südindien basierend auf poststrukturalistischen feministischen Forschungsan- sätzen.

220 Ruth May, Dr.-Ing. Studium der Stadt-, Regional- und Raumplanung in Berlin und Dortmund. Forschungen zur Planungsgeschichte und -theorie, zu europäischer Stadtentwicklung und -erneuerung. 2000-2009 Forschung und Lehre im Fach Architektur- und Planungstheorie der Leibniz Universität Hannover. Seit 2009 wissenschaftliche Angestellte der Arbeitsgruppe innovative Projekte der angewandten Hochschulforschung beim Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur. Grün- dungs- und Vorstandmitglied des gender_archland; Arbeit an einer Studie über Migrantinnen als Existenzgründerinnen.

Anne Luise Müller, Dipl.-Ing. Studium der Architektur an der TU Darmstadt. Seit 1978 berufliche Tätigkeit als Architektin und Städtebauarchitektin in Architekturbüros in Hamburg und Nürnberg: Planungen für die öffentliche Hand. 1988-1993 Stadtplanungsamt Erlangen: Stadtsanierung und Städtebauförderung. 1993-2001 Leiterin Stadtplanungsamt Ingolstadt. Bis heute: Leiterin Stadtpla- nungsamt Köln. Preisrichterin in zahlreichen Wettbewerben und Vergabe des Deutschen Bauherrenpreises. Mitglied der Fachkommissionen des Deutschen Städtetags „Frauen in der Stadt“ und „Stadtplanung“.

Johanna Niescken, Dipl.-Ing. M.A. Studium der Architektur an der Leibniz Universität Hannover bis 2008, Diplom: „Hospiz – Sterben an einem Ort im Leben“. Danach wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Leibniz Universität und Selbstständigkeit (u. a. Tätigkeit für das Niedersäch- sische Ministerium für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Integration). 2010 Masterstudiengang Architektur Media Management an der Hochschule Bochum, Masterarbeit über Großwohnsiedlungen der 1960er- und 1970er-Jahre. Seit 2011 Volontärin bei der Gesellschaft für Knowhow-Transfer in Architektur und Bauwesen mbH, Stuttgart.

Martina Padmanabhan, PD Dr. sc. agr. Seit 2010 Leiterin der Nachwuchsforschungsgruppe BioDIVA „Transformationswissen für eine geschlechtergerechte und nachhaltige Nutzung biologischer Vielfalt“ im Rahmen der sozial-ökologischen Forschung des BMBF am Institut für Umweltplanung der Leibniz Universität Hannover. 2009 Habilitation: “Gender and Institutional Analysis of Natural Resource Management in Asia and Africa” an der Humboldt-Universität zu Berlin. Mitarbeiterin am Wissenschaftszentrum für Sozialwissenschaften Berlin. 2000 Promotion. Studium der Agrarwissenschaften in Göttingen, Nottingham und Berlin.

Heiko Perkuhn, Dipl.-Ing. Diplom an der Leibniz Universität Hannover 2009. Danach zwei Jahre wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur, währenddessen Beschäftigung mit dem Thema „Empfinden von Schönheit“. Derzeit Student im Masterstudiengang „Design und Medien“ an der Hochschule Hannover.

Petra Preuß, Dipl.-Ing. Bis 1998 Studium der Architektur an der Leibniz Universität Hannover. Seit 1999 mit kinderbedingten Unterbrechungen selbstständig (bzw. angestellt) tätig: 1) in der Stadtplanung im Bereich der Bauleitplanung und der städtebaulichen Beurteilung bei der Neuplanung von Verkehrsbauvorhaben, 2) im Layoutbereich in der Erstellung von Druckvorlagen für

221 Dokumentationen und 3) im universitären Bereich als Mitarbeiterin u. a. des Forschungsvorhabens „ZukunftNAH. Zukunfts- chanchen der bedarfsgerechten Nahversorgung in ländlichen Räumen Niedersachsens“.

Gitta Scheller, PD Dr. rer. pol. Bis 1982 Studium der Sozialwissenschaften an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg. Seit 1983 tätig als wissen- schaftliche Mitarbeiterin und Projektleiterin: 1) im Bereich Familienforschung an der Universität Oldenburg und am Institut Frau und Gesellschaft Hannover, 2) in der Stadt- und Wohnforschung an der Leibniz Universität Hannover, 3) in der Lehre: Vertretung eines akadem. Oberrats an der Universität Göttingen, Privatdozentin an der Universität Osnabrück sowie 4) freiberufliche Tätigkeit im Bereich Stadtforschung.

Anke Schröder, Dr.-Ing. Bis 1998 Studium der Architektur an der Leibniz Universität Hannover (LUH). 1999-2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Planungs- und Architektursoziologie, LUH. 2008-2009 Geschäftsführerin des Forums für GenderKompetenz in Architektur, Landschaft, Planung. Seit 2009 Projektmanagerin des EU-Projekts „Planning urban Security“ im Landeskri- minalamt Niedersachsen, Zentralstelle Prävention. Mitglied des Arbeitskreises Sicherheitspartnerschaft im Städtebau in Niedersachen und des Frauenbeirats der Senatverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt in Berlin.

Christiane Schröder M. A. Bis 1990 Studium der Geschichte, Politik- und Deutschen Literaturwissenschaft. Bis 1996 wissenschaftliche Mitarbeiterin von 750 Jahre Frauen Hannover e. V. Seit 1997 freiberufliche Historikerin und Lektorin (Kontor für Geschichte, Hannover); seit 2009 zudem Koordinatorin der fakultätsübergreifenden Forschungsinitiative Raum und Region (FI R&R) an der Leibniz Universität Hannover. Mitglied des gender_archland. Schwerpunkte: Frauen- und Geschlechtergeschichte, Lokal- und Regionalgeschichte, Sozialgeschichte, Oral History.

Katja Stock, Dipl.-Ing. Bis 2005 Studium der Landschafts- und Freiraumplanung an der Leibniz Universität Hannover (LUH). Anschließend tätig in den Bereichen Bürgerbeteiligung, Projektentwicklung in der Stadtplanung/-entwicklung und im städtebaulichen Wettbe- werbsmanagement. Seit 2009 als Mitarbeiterin an der LUH befasst mit Planungstheorie und -methodenadaption (in der Architekturausbildung), gesellschaftlichen Wandlungsprozessen und ihren Auswirkungen auf städtische (Frei-)Räume sowie der Auswirkung von planerischen Leitbildvorstellungen auf soziale Nachhaltigkeit.

L. Tummers, ir. Graduated in 1989 as building engineer at TU Delft (NL). After working in several architecture and sustainable engineering firms she initiated in 1999 Tussen Ruimte, studio for sustainable architecture and dwellers consultancies at Rotterdam. 2006-2010 Assistant professor at the chair of spatial planning and strategy, TU Delft; 2009-2010 Guest lecturer in gender_archland, Leibniz University Hannover; 2011-2012 Guest researcher at Maison des Sciences de l’Homme. Founding member of the European Network of experts on Gender, Diversity and Urban Sustainability GDUS.

222 Irina Vellay, Dipl.-Ing. Tischlerin, Studium von Architektur und Stadtplanung. Berufliche Praxis in der kommunalen Planungsverwaltung, insbesondere „frauenbezogene Planung, frauenbezogene Projekte“ und als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fachhochschule Dortmund. Heute: Forschungsprojekte zu Gebrauchsrechten und Stadtentwicklung, Wirkungen von Workfare-Konzepten in der Stadt, Sozialpolitik und Armut. Lehraufträge: Fachhochschule Dortmund (2007–2010), Faculté des Lettres, des Sciences Humaines, des Arts et des Sciences de l’Education, Université du Luxembourg (seit WS 2010/11)..

Sabine Warnecke, Dipl.-Ing. Nach einer Ausbildung zur Restauratorin von 1996-2001 Studium der Architektur an der Leibniz Universität Hannover. Ab 2001 mit kinderbedingten Unterbrechungen selbstständig als Bauhistorikerin und Architektin u.a. im Bereich Bauforschung und Dokumentation. Dazu angestellt von 2009-2011 als Lehrkraft beim Bildungsträger Werk-statt-Schule; seit 2009 beim Studiengang Innenarchitektur der Hochschule Hannover (u.a. Lehrauftrag); seit 2011 Denkmalpflegerin bei der Stadt Hildesheim.

Angelika Wolf, Prof. Dr.-Ing. Studium der Landschaftsplanung an der TU Hannover. 1979-1989 Geschäftsführerin BUND, Landesverband Niedersachsen e.V. 1989-1994 Assistentin an der TU Berlin und Promotion. 1995-1996 selbständige Planerin, Schwerpunkt Umwelt- prüfung. 1997-2008 Professur für Landschaftsplanung, Tourismus und Naherholung an der Universität Duisburg-Essen. Seit 2008 Professur für Landschaftsplanung und Tourismus an der Hochschule Ostwestfalen-Lippe. Schwerpunkte: Landschafts- und Tourismusplanung, Regionalentwicklung, Kommunikation in der Planung und Standardisierung im Naturschutz.

Sabine Wyrwoll, Dipl.-Ing. Studium Bauingenieurwesen an der TU Braunschweig bis 1980. Danach freie Mitarbeit in Architekturbüros und selbst- ständige Tätigkeit im Bereich Altbausanierung während der Kindererziehungszeiten. 2001 Gründung des Ingenieurbüros Althaus-Konzept in Leiferde/Gifhorn mit Claudia Klement. Arbeitsschwerpunkt Altbausanierung und Entwicklung sozio- kultureller Umnutzungskonzepte. 2008 Gründung und Vorstand des Vereins Markthof e.V. (Verein zur Erhaltung historisch wertvoller Bausubstanz und Frauenförderung im ländlichen Raum).

Barbara Zibell, Prof. Dr. sc. techn. 1974-80 Studium der Stadt- und Regionalplanung an der TU Berlin. 1982-84 Städtebaureferendariat in Südhessen, Frankfurt. 1994 Promotion an der ETH Zürich zum Thema „Chaos als Ordnungsprinzip im Städtebau“. Seit 1996 Professur für Architektursoziologie und Frauenforschung an der Universität Hannover; 1998/99 Gastprofessur für Städtebau und Siedlungswesen an der TU Berlin; seit 2006 Leitung der Abteilung für Planungs- und Architektursoziologie, Leibniz Univer- sität Hannover. Erste Vorsitzende des Forum für GenderKompetenz in Architektur Landschaft Planung (gender_archland).

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