90 Buchbesprechungen Franz Schuberts Wirken Autor betont, dass die von Schubert getroffe­ ne Gedichtauswahl keinen Zweifel daran lässt, Thomas Brunner: Vom EinweihungsCharakter dass der Komponist ein wacher Zeitgenosse der Liederzyklen Franz Schuberts, Edition Im­ mit hoher literarischer Bildung war, der auch manente, 2010; 107 Seiten; Beilage: Die die Zensur geschickt zu umgehen wusste, ohne schöne Müllerin / Die Winterreise – Texte der ins Allegorische zu verfallen (entgegen dem Liederzyklen in den Fassungen von Wilhelm landläufig gezeichneten Bild von Schubert als Müller und Franz Schubert, 35 Seiten; 16,80 bravem, gemütlichem Musikanten des Bieder­ EUR. meier). Buchbesprechungen Die Zeitgenossen und insbesondere Goethe hät­ Wollte ich Liebe singen, ward sie mir zum ten also Zugang zu Schuberts Liedern finden Schmerz. Und wollte ich wieder Schmerz nur können, taten dies aber nicht. Brunner holt singen, so ward er mir zur Liebe. zum Verständnis dieser Ablehnung weiter aus Franz Schubert und stellt sie in den größeren erkenntniswis­ 1924 stellte die Individualität senschaftlichen Kontext. Er betont, dass Steiner Franz Schubert in einem Karmavortrag ins Zen­ seine Erkenntnistheorie ausdrücklich auf die trum seiner Betrachtungen. Er spricht von ihm Wissenschaft Goethes nach der Methode Schil­ als »Franz Schubert, der Liederkomponist, der lers aufbaute und ausführte, dass eine wissen­ Komponist überhaupt«.1 In der Edition Imma­ schaftliche Gesamtauffassung der Welt zwar nente ist 2010 ein Taschenbuch erschienen, das von Goethe in dessen Gebieten vollzogen, aber Schubert wesenhaft darstellt und seine Lieder­ als reine Methode erst durch Schiller freigelegt zyklen als schicksalsprägenden Teil sowohl des worden war. Brunner beschreibt, welche An­ Komponistenlebens als auch der Weltgeschich­ strengungen Rudolf Steiner zudem unternom­ te aufleben lässt. Brunner hat sich lange und men hat, seinen Zeitgenossen Goethes genuine intensiv mit Schubert beschäftigt. Es gelingt Natur- und Kunstauffassung näher zu bringen, ihm, Schuberts karmischen Umkreis und die und dass er empfahl, dazu weniger auf Goethes umbruchreiche Epoche, in der er lebte, leben­ Worte zu hören als auf seine Lebensführung zu dig werden zu lassen. achten. Hätte sich Goethe selber diesen Rat­ Das Taschenbuch ist in sieben Kapitel unter­ schlag zu Herzen genommen, hätte er Schubert teilt. Nach einer aus großer Übersicht heraus verstanden. prägnant auf das Wesentliche beschränkten Dem Leser wird deutlich, wie es dazu kom­ Charakterisierung von Romantik und Klassik men konnte, dass dem Liedwerk Schuberts von und der Klärung von Goethes Verhältnis zu den den Zeitgenossen viel Unverständnis entgegen­ Romantikern wird der Leser bildhaft an die Si­ gebracht worden ist. Diese Ablehnung führte gnatur der Geburt Schuberts herangeführt. Dies Schubert laut Brunner aber dazu, mit gesteiger­ geschieht unter Einbezug der gegensätzlichen ter Anstrengung in die Tiefe der seelischen Welt Welten, in denen Goethe und Novalis lebten einzudringen. Ein Resultat dieses Bestrebens ist und in deren Mitte Schubert geboren wurde. der im vorletzten Kapitel des Buches themati­ Anschließend erschließt der Autor subtil die sierte Liederzyklus Die schöne Müllerin. Brun­ Bedeutung von Schuberts Bildwelt, beleuchtet ner hält fest, dass die äußere Geschichte schnell seine intensive Beziehung zum Dichter Wil­ erzählt ist, dass die innere aber auf differen­ helm Müller und untersucht Schuberts Liedzyk­ zierte Art einen Inkarnationsweg beschreibt. In len im Kontext der Zeit. Anhand anschaulicher der Winterreise, deren Lieder der Innerlichkeit Beispiele wird deutlich gemacht, dass Schubert entsprechend in Moll gehalten sind und deren beim Komponieren Urbilder erfasst und damit Liedfolge keinem äußeren Handlungsablauf – einen tiefgründig wirksamen Gegenpol zur re­ auch nicht dem von Müller gesetzten – mehr alistischen, in den Naturalismus absinkenden, folgt, findet sich der gleiche Prozess gesteigert flachen Ästhetik seiner Zeit gebildet hat. Der wieder: »Die Orientierung muss ganz im Seeli­

die Drei 7/2011 Buchbesprechungen 91 schen erwachen, soll der Wanderer nicht ›ver­ posoph in der lebendigen Verbundenheit mit rückt‹ oder im Chaos enden« (S. 75). Es wird der geisteswissenschaftlichen Menschenkunde deutlich, dass Schubert tiefe seelisch-geistige und als Musiker mit seinen Erfahrungen aus Impulse hatte und diese durch seine Liedzyklen der eigenen musikalischen Praxis. Das Buch erlebbar machte. überzeugt besonders dadurch, wie der Verfas­ Im Epilog, der das Buch abrundet, wird die Brü­ ser diese drei Seiten in einen Prozess gegensei­ cke in die Gegenwart konkret geschlagen, weil tiger Durchdringung und Befruchtung bringt. deutlich wird, dass in der Geisteswissenschaft Aktuelle naturwissenschaftliche Erkenntnisse Steiners die Intentionen, die in Schubert lebten, der Neurophysiologie zum musikalischen Hö­ in voller Klarheit ins Tagesbewusstsein getre­ ren werden dabei so mit den Forschungsergeb­ ten sind. Stellenweise lässt sich die Lektüre mit nissen Rudolf Steiners in Verbindung gebracht, dem Gang durch einen Steinbruch aus Gold­ dass sie sich gegenseitig beleuchten und inei­ brocken vergleichen. Viele Schätze bleiben un­ nander aufgehen. gehoben und regen die Lesenden zum Weiter­ Inhaltlich ist das Buch in drei eigenständige Ka­ denken an. Ein Gewinn ist, dass an passenden pitel gegliedert: Stellen Zitate Steiners harmonisch in den Text 1. Der hörende Mensch und die Wirklichkeit einfließen und sich dadurch zusätzlich weitere der Musik. Dimensionen eröffnen. 2. Musik als »Chemie von innen« – zum Fluor­ Das Buch eröffnet dem Leser auf feinsinnige prozess im Menschen. Art neue Zugänge zur Individualität Franz 3. Das Erlebnis der Musik und seine physiolo­ Schuberts und zur Bedeutung seines Wirkens gischen Grundlagen. als Liedkomponist. Die sorgfältige und schö­ Das erste Kapitel beschreibt den Weg des Tones ne Einbandgestaltung sowie die Beilage der im von außen nach innen, also vom Trommelfell Buch besprochenen Liederzyklen durch Ulja über das Mittelohr in den Bereich des Innen­ Novatschkova machen es zu einem Kleinod, ohres. Anschaulich herausgearbeitet wird in das zum Weiterdenken anregt und in keinem diesem Zusammenhang die stammesgeschicht­ Bücherregal geistesgeschichtlich Interessierter liche Metamorphose des Kiefergelenkes in ein fehlen sollte. Barbara Steinmann Hörgelenk (Hammer und Amboss). Evolutiv 1 Rudolf Steiner: Esoterische Betrachtungen karmi- betrachtet heißt das: »Hören ist ein nach in­ scher Zusammenhänge (GA 235), Bd. 1, Vortrag vom nen genommenes Kauen.« (G. Husemann). Die 8. März 1924. Darstellung der Verwandlung der auf die äu­ ßere Welt gerichteten Beißmuskeln in die für den Sinnesprozess des Hörens entscheidende Wie wird aus Tönen Musik? Muskulatur des Innenohres (als »Muskulatur D30«) bildet die Basis für die Erkenntnis, dass Armin J. Husemann: Der hörende Mensch und und wie der ganze Muskelmensch am Hörvor­ die Wirklichkeit der Musik, Verlag Freies Geis­ gang beteiligt ist. Neueste Ergebnisse der Ge­ tesleben, Stuttgart 2010, 138 Seiten, 18,90 EUR. hirnforschung z. B. zur Funktion der Spiegel­ Wie wird aus Tönen Musik? Diese Frage bil­ neuronen und die von Rudolf Steiner bestätigte det den Ausgangspunkt des Buches. Sie diffe­ Schopenhauersche Erkenntnis: »die Musik ist renziert sich zum einen in die Frage nach der also Abbild des Willens selbst …« kommen in Wirklichkeit, die mich berührt, wenn ich Musik Übereinstimmung. erlebe, und zum anderen in die Frage nach den Das zweite Kapitel hat den Zusammenhang physiologischen Grundlagen des Musizierens von musikalischen und chemischen Prozes­ und Musikerlebens. Husemann geht diesen sen zum Inhalt. Dabei scheinen sich die che­ Fragen von drei Seiten nach: als Arzt in der mischen Stoffe und die Welt des musikalischen Kenntnis der menschlichen Physiologie und Innenerlebens zunächst unvermittelbar gegen­ der diesbezüglichen Forschung, als Anthro­ überzustehen. Die Untersuchung setzt an bei die Drei 7/2011 92 Buchbesprechungen der Aussage Steiners, dass »die Zahlenverhält­ überzeugendes Grundlagenwerk auf dem Ge­ nisse der Chemie wirklich die Ausdrücke für biet geisteswissenschaftlich durchdrungener die Zahlenverhältnisse der Sphärenharmonie« musikalischer Menschenkunde gelungen. sind. Husemann entwickelt aus der Untersu­ Matthias Bölts chung der verschiedenen Erscheinungsformen des chemischen Äthers als Zahlen- und Klang­ Zwangsbeschallung äther eine Brücke: Das Urgesetz der Siebenheit Klaus Miehling: Lautsprecher aus! Zwangs- als Grundlage jeglicher Entwicklung verbindet beschallung contra akustische Selbstbestim- die sieben Töne und Intervalle mit den sieben mung, epuli Verlag, Berlin 2010, 248 Seiten, Gruppen des Periodensystems. Das Kapitel 22,43 EUR. mündet in die Darstellung einer Heilmittelfin­ dung, die aus der Vereinigung von homöopa­ Ein hochaktuelles sowie brisantes Thema be­ thischer Empirie mit musikalisch-goetheanis­ handelt Klaus Miehling in seinem Buch Laut- tischem Substanzverständnis entspringt. sprecher aus! Der Autor spricht von einer allge­ Das dritte Kapitel handelt von der Bedeutung genwärtigen Zwangsbeschallung, so z.B. in der des Atems in der Musik. Zunächst werden die Gastronomie, beim Einkaufen, am Arbeitsplatz, Phänomene des musikalischen Zeiterlebens in öffentlichen Verkehrsmitteln, beim Fernse­ an einem Musikbeispiel aufgezeigt: »Musik ist hen, beim Sport, in Haftanstalten und durch Beobachtung der Zeit von innen« – mit Hilfe die eigenen Nachbarn. Er führt zahlreiche Sta­ des menschlichen Zeitleibes. Was aber sind die tistiken, Zeitungsartikel und Schilderungen von physiologischen Grundlagen des musikalischen Betroffenen an, die alle das Phänomen einer Zeiterlebens? Husemann knüpft an Rudolf Stei­ zunehmenden Berieselung durch elektronisch ners Aussagen zum Zusammenhang von musi­ reproduzierte Musik behandeln. Engagiert setzt kalischem Gefühlserlebnis mit dem Atemrhyth­ er sich für ein Recht auf akustische Selbstbe­ mus und seiner Fortsetzung im Gehirn- und stimmung ein. Rückenmarkwasser an. Die angeführten na­ »Lärmempfindliche Menschen werden ausge­ turwissenschaftlichen, neurophysiologischen grenzt und verspottet, von den Ordnungsbehör­ Fakten belegen diesen Zusammenhang in den alleine gelassen, und unterliegen bisweilen eindrucksvoller Art und Weise. Die »Leier des sogar vor Gericht. Dabei muss in einer Zeit, in Apoll« als imaginativer Ausdruck des aus kos­ der immer mehr Menschen ihr Gehör durch mischer Musik komponierten menschlichen überlautes Musikhören schädigen, gefragt wer­ Organismus, der »musica humana«, wird durch den, ob nicht die ›Empfindlichen‹ eigentlich die diese Darstellung erahnbar. ›Normalen‹ sind, die sich ein gesundes Gehör Das Buch ist spannend geschrieben und ge­ und eine gesunde Sensibilität bewahrt haben.« prägt von einem komprimierten, teilweise (S.180) aphoristischen Schreibstil, verbunden mit an­ In seiner kritischen und besorgten Fragehal­ regenden Beispielen aus der musikalischen und tung stimme ich dem Autor völlig zu. Die Art therapeutischen Praxis sowie einer Vielzahl er­ und Weise, wie er sein Thema behandelt, weckt hellender Abbildungen. Durch die Zeilen hin­ bei mir allerdings Fragen. So scheint es mir, durch ist die Liebe des Verfassers zur Musik dass der Leser in einer Fülle von Einzelinforma­ »hörbar«. Das Buch lädt den Leser zu einem tionen nahezu ertränkt wird; manchmal fällt es offenen Diskurs über die dargestellten Inhalte schwer, das Wesentliche vom Unwesentlichen ein und ist hochgradig »ansteckend« in der zu unterscheiden; auch kann ich mich des Ein­ Richtung, eigene Beobachtungen aufzusuchen drucks einer leicht aggressiven Agitation gegen und die Musik als Brücke zwischen Sinneswelt Zwangsbeschallung und Gewaltmusik (der und geistiger Welt neu zu entdecken. Autor nennt so die Pop- und Rockmusik, un­ Nach seinem 1989 erschienenen Werk Der mu- termauert durch Zitate und Untersuchungen) sikalische Bau des Menschen ist Husemann ein nicht ganz entziehen.

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Was meiner Ansicht nach weitgehend fehlt, bischen Raum (Stuttgart und Donaueschingen) ist ein qualitatives Erforschen der Phänomene begann und über , und Ber­ technischer Reproduktion und elektrischer Ver­ lin nach Bayreuth, aber auch ins europäische stärkung von Musik. Was bedeutet es seelisch- Ausland führte – von Erfolg zu Erfolg, immer geistig gesehen für das menschliche Hören, die höher hinauf, begeistert gefeiert von Publikum kindliche Entwicklung und unser gesellschaft­ und Presse. Es gab kaum Widerstände, kaum liches Leben, von morgens bis abends beschallt nennenswerte Misserfolge: Tragisch mutet le­ zu werden? Die Antwort von Klaus Miehling ist diglich das abrupte Ende ihrer Laufbahn an, eindeutig: »Die Zukunft darf nicht den rück­ als 1951/52 eine rätselhafte Austrocknung ih­ sichtslosen Zwangsbeschallern gehören, auch rer Stimme einsetzte, die sie dazu zwang, ihre nicht der Gewaltmedienindustrie, die in Bild Karriere zu beenden. Die Frage ist, ob dieses und Ton an die niedersten Instinkte der Men­ Verstummen nur physiologisch zu erklären ist, schen appelliert, wodurch sie das westliche ob seine Ursachen nicht viel tiefer liegen. Wertesystem zum Einsturz brachte und seither »Wodurch«, fragt Roswitha von dem Borne im dafür sorgt, dass wir in einer Gesellschaft der »Prolog«, »war Marta Fuchs in ihrer Kunst so Massenkriminalität leben müssen.« (S. 220) wirkensmächtig?« Wie ist das Geheimnis ihrer Steffen Hartmann offensichtlich bezwingenden Bühnenpräsenz zu erklären? Warum wirkten die Gestaltungen der großen Wagnerrollen (Kundry, Ortrud, Dienen – dienen! Brünnhilde) so aufwühlend? Gleiches galt für ihre Richard-Strauss-Rollen (Marschallin, Ara­ Roswitha von dem Borne, Johannes Lenz: Marta bella), aber auch für Gegenwartswerke (Wag­ Fuchs 1898-1974 – »Das schwäbische Götter- ner-Regeny, Hindemith u. a.). Was ermöglichte kind«, Mayer Verlag, Stuttgart 2010, 374 Seiten, es ihr, ihre Rollen geistig so zu durchdringen, 28 EUR. dass sie mehr wurden als nur deren perfekte Es ist ein großes Verdienst der beiden Autoren, stimmliche Beherrschung? Es ist unübersehbar ein beeindruckendes Künstlerleben vor dem (von den Autoren allerdings kaum so deutlich Vergessen bewahrt zu haben: Marta Fuchs war ausgesprochen), dass Marta Fuchs durch ihre zwischen 1930 und 1945 eine der großartigsten frühe Begegnung mit der Anthroposophie, auch Interpretinnen der Bühnenwerke Wagners. Die mit der von ihr begeistert aufgenommenen Eu­ mit mehr als 60 Abbildungen versehene Bio­ rythmie, Möglichkeiten des Erkennens und graphie ist umso wertvoller, weil es nur wenige Gestaltens zugewachsen sind, die eine solche Tonaufnahmen (eine CD »Historic Recordings Vergeistigung ihrer Rollengestaltung zumindest MONO 89710, zu erschließen durch support@ begünstigten. Am intensivsten hat sie wohl die preiserrecords.at) gibt und wir Nachgeborenen Partie der Kundry aus Wagners durch­ somit weitgehend auf das beschreibende Medi­ drungen (es existiert übrigens eine Abhandlung um der Sprache verwiesen sind. über diese Rolle, das einzige schriftliche Doku­ Die Darstellung folgt einerseits der biogra­ ment dieser Art, das die Künstlerin hinterlassen phisch-künstlerischen Entfaltung (hier ist be­ hat). Kundrys letzte Worte »Dienen – dienen!« sonders bedeutungsvoll, dass der Sängerin die können gleichsam als künstlerisches Credo der Verwandlung vom Alt in einen dramatischen »Füchsin« angesehen werden: »… eine gran­ Sopran gelang, wodurch sich ihr die Türen zu diose Entwicklung, … die aus einer finsteren den großen Wagnerpartien öffneten), bettet Vergangenheit, durch eine schmerzvolle Gegen- die­se aber durchgehend in die geistesgeschicht­ wart zur Ahnung einer durch Liebe erhellten lich-politische sowie theatergeschichtliche Ent­ Zukunft führt.« wicklung ein. Oberflächlich betrachtet könnte Dass ich diese eindrucksvolle Darstellung nach man versucht sein, von einer konfliktlosen gründlicher und bedachter Lektüre dennoch mit Bilderbuchkarriere zu sprechen, die im schwä­ einer gewissen Skepsis aus der Hand lege, hat die Drei 7/2011 94 Buchbesprechungen seine Ursache in dem irritierenden Umstand, ist, weil eben gilt, was Goethe, der mit Recht im dass Marta Fuchs, deren künstlerischer Glanz Prolog als Kronzeuge angeführt wird, geäußert sich vor allem in der Nazizeit entfaltete, zu den hat: »Denn dies scheint die Hauptaufgabe der sogenannten »Gottbegnadeten« gehörte, zu Biographie zu sein, den Menschen in seinen dem Kreis von Künstlern (dazu zählten neben Zeitverhältnissen darzustellen und zu zeigen, Wilhelm Furtwängler und Gustav Gründgens inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwie­ auch so große SängerInnen wie Max Lorenz, fern es ihn begünstigt, wie sehr er sich eine Maria Cebotari, Kurt Böhme und Margarete Welt- und Menschensicht daraus gebildet und Klose), die sich der nahezu ungeschmälerten wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schrift­ Gunst der Nazioberen (Hitler als Wagnerenthu­ steller ist, wieder nach außen abspiegelt.« siast, Goebbels und Göring) erfreuten. Ich hätte Jürgen Raßbach mir gewünscht, dass in dieser Tatsache zumin­ dest ein Problem erkannt wird. Dass sich Marta Fuchs im Zusammenhang mit dem Verbot der Zwischen Vergessen Christengemeinschaft mutig für die Freilassung und Verantwortung der inhaftierten Priester eingesetzt hat, ist eine Wassili Grossman: Alles fließt. Aus dem Rus­ recherchierte Tatsache. Andererseits war der sischen von Annelore Nitschke, Ullstein Verlag, Entschluss zu bleiben ganz gewiss mit leidigen Berlin 2010, 254 Seiten, 24,95 EUR. Konsequenzen verbunden. Der in diesem Zu­ sammenhang berühmt gewordene Briefwech­ »Verzeih uns!« stand auf einem handgeschrie­ sel zwischen Gottfried Benn und Klaus Mann benen Plakat, das eine Moskauerin im Trauer­ leuchtet diese Problematik ja gründlich aus. zug hochgehalten hatte, als der weltberühmte Dass die Entscheidung, in Deutschland zu blei­ Physiker und Menschenrechtler Andrej Sacha­ ben, mit der immer wieder zu versichernden rov im Dezember 1989 zu Grabe getragen wor­ Bereitschaft erkauft war, sich dem Regime ge­ den war. Mutig hatte er in seinem einsamen genüber loyal zu verhalten, ist für Nachgebo­ Kampf gegen eine atomare Weltmacht wider­ rene (zumal wenn sie die zweite deutsche Dik­ standen. Während er vom Regime als Nestbe­ tatur durchlebt haben) zwar nachvollziehbar, schmutzer öffentlich beschimpft wurde, wusste aber auch immer noch schwer zu akzeptieren. er an seiner Seite das millionenfache Schwei­ Noch ein Wort zu der These, Marta Fuchs habe gen seiner Landsleute. gleichsam eine Mission erfüllt und in dunkler Einer der wenigen, der bereits zu Sowjetzeiten Zeit mit ihrer Kunst vielen Menschen Hoffnung ebenfalls nicht mehr zu schweigen gewillt war, und Licht geschenkt. In diesem Zusammenhang war der Schriftsteller Wassili Grossman (1905- wird auch Marcel Reich-Ranicki zitiert, in des­ 1964). Er repräsentierte jene Generation von sen Autobiographie es heißt: »… die Auffüh­ Schriftstellern, die sich während der Enstalini­ rungen in den Berliner Opernhäusern, im Schau­ sierungsphase in den 1950er Jahren von einst­ spielhaus am Gendarmenmarkt und in einigen mals überzeugten Parteigängern zu einer kri­ anderen Theatern sowie die Konzerte, zumal die tischen Sicht der Dinge gewandelt hatten. Den der Berliner Philharmoniker mit Wilhelm Furt­ totalen Druck einer unkontrollierten Staatside­ wängler an der Spitze, vermochten die Tyrannei ologie wollten sie nicht mehr unwidersprochen nicht zu mindern. Aber sie haben das Leben hinnehmen. Unter dem Schlagwort »Tauwetter­ vieler Menschen erträglicher, ja sogar schöner periode« war eine Phase in der Sowjetunion gemacht – und eben auch mein Leben.« Es muss angebrochen, in der ein Roman wie Ein Tag im jedem Nachgeborenen überlassen bleiben, in­ Leben des Iwan Denissowitsch von Alexander wieweit er diese Aussage für übertragbar hält. Solschenizyn 1962 erscheinen konnte. Erstmals Das vorgelegte Buch macht auf eine ganz ei­ war offiziell vom Lageralltag erzählt worden. genartige Weise deutlich, wie sensibel noch Hunderttausende Lagerhäftlinge waren nach immer das historische Gelände »Drittes Reich« dem legendären XX. Parteitag der KPdSU im

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Jahr 1956 entlassen worden. Doch diese poli­ Lenins sektiererischer Fanatismus und seine tische Periode unter Nikita S. Chruschtschow Grausamkeit beim Namen genannt – ein unge­ war widersprüchlich. Das Manuskript von heuerer Vorgang in jener Zeit. Grossman sieht Wassili Grossmans gewaltigem Romanepos Le- darüber hinaus eindeutige Verbindungslinien ben und Schicksal war vom sowjetischen Ge­ zwischen dem Fanal der leninistischen Revo­ heimdienst KGB 1961 beschlagnahmt worden. lution und den faschistischen Entwicklungen Glücklicherweise hatte Grossman eine Kopie in Europa: »Nationen und Staaten können sich retten können. im Namen der Stärke auch gegen die Freiheit Die vorliegende Novelle Alles fließt widmet sich entwickeln!«. schonungslos den Geschehnissen in Russland Die Freiheit stellt bei Grossman wie auch bei von der Oktoberrevolution bis zur »Tauwetter«- Iwan Grigorjewitsch, der nach dreißig Jahren Zeit. Mit großer erzählerischer Kraft gelingt es Gefängnis und Lager endlich heimkehren kann, Grossman, Klarheit in die ideologischen Wirr­ einen Schlüsselbegriff dar. Aber wohin kehrt nisse zu bringen. Dabei kompiliert er einen er­ Iwan Grigorjewitsch zurück? Er landet zuerst zählerischen Strang mit essayistischen Einwen­ in Moskau und später auch in Leningrad. Die dungen über geschichtliche wie politische Vor­ Schilderung von Iwan Grigorjewitschs Begeg­ gänge in der russischen Geschichte zu einem nung mit seinem Vetter Nikolaj Andrejewitsch Epos. Atmosphärisch dicht wird die Geschichte illustriert Grossmans Reflexionen über den Zu­ Iwan Grigorjewitschs erzählt, der als Lager­ sammenhang von Opportunismus und mora­ heimkehrer in ein scheinbar neues Leben zu­ lischer Schuld. Der eine hat in Amt und Wür­ rückkehrt. Ein Spannungsbogen baut sich auf, den überlebt, der andere war im Lager. Wie als er seine Vermieterin näher kennenlernt. Die weit geht das Mitläufertum, wie schuldig wird beiden lernen sich lieben und tauschen ihre man durch Kompromisse mit einer unmensch­ Erinnerungen an furchtbare Zeiten aus. Anna lichen Macht? Iwan Grigorjewitschs Rückkehr Sergejewna hatte als jugendliche Kolchosvorsit­ aus dem Lager in ein Land der Unfreiheit lässt zende an der Entkulakisierung teilgenommen, es nicht zu, von einer wirklichen Heimkehr zu als Hunderttausende von Bauern systematisch sprechen. in den Hungertod getrieben worden waren. Vol­ Ein kundiges Nachwort von Franziska Thun- ler Reue fragt sie sich: »Trägt wirklich niemand Hohenstein gewährt einen Überblick über die die Verantwortung für all das? Wird man es angespannte Situation des Autors und die aben­ einfach so spurlos vergessen? Gras drüber?« teuerlichen Umstände der Entstehung dieser Eine Verquickung der erzählenden Teile mit Erzählung bis zu ihrer erstmaligen Veröffentli­ nachdenklichen Einwürfen zur sowjetischen chung. Volker Strebel Tragödie wirkt zunächst etwas holzschnittartig, was nicht zuletzt auch damit zusammenhängt, dass Grossman diese Erzählung nicht mehr Unendlich veränderlich endgültig überarbeiten konnte. Zugleich liegt in Thomas Steinfeld: Der Sprachverführer. Die dieser Mehrdimensionalität ein gewisser Reiz. deutsche Sprache: was sie ist, was sie kann, Grossman hatte mit dieser Erzählung die Carl Hanser Verlag, München 2010, 270 Seiten, Schmerzgrenze für das Regime überschritten. 17,90 EUR. Hier tritt kein Leisetreter mit einer abgewo­ Guy Deutscher: Im Spiegel der Sprache. Wa- genen Prosa hervor, die vorsichtig den Grad rum die Welt in anderen Sprachen anders eines möglichen Kompromisses mit der so­ aussieht. Aus dem Englischen von Martin wjetischen Zensur auszuloten gewillt ist. Dass Pfeiffer, Verlag C.H. Beck, München 2010, 320 nicht mehr Stalin oder dessen »Abweichungen Seiten, 22,95 EUR. von den leninschen Normen« die Schuld an den Verbrechen anzulasten sei, stellte eine un­ Sich mit der deutschen Sprache zu beschäfti­ erhörte Provokation dar. Schonungslos wird gen, mit Sprache überhaupt, lohnt immer. Vor die Drei 7/2011 96 Buchbesprechungen allem bei den vorliegenden, mit Humor ge­ Grenzen. Sprachfundamentalismus sei »er­ würzten Büchern von Thomas Steinfeld: Der schütterter Glaube«; das gelte auch für heutige Sprachverführer und Guy Deutscher: Im Spiegel Bemühungen. Und endlich sagt mal einer, was der Sprache. uns die Rechtschreibreform wirklich gebracht Anhand der Werke vieler Schriftsteller führt hat: Eigentlich nichts. uns Steinfeld durch die deutsche Grammatik. Ein großartiges, leicht lesbares Buch, das ver­ Kafkas Gregor Samsa, bekanntlich als häss­ sucht, die lebendigen Unterschiede, das Geis­ licher Käfer erwacht, gibt im Kapitel »Vom tige der Sprachen zu fassen. Und wer noch Schreiben« den Auftakt. Ausführungen über nicht die verhaltene Schönheit des Konjunktivs den »gelungenen Satz« fesseln den Leser derart, kennt: Hier wird er belehrt. Steinfelds Schlag­ dass er plötzlich grammatische Probleme hoch­ lichter auf die Grammatik machen neugierig. interessant findet, etwa die Wirkung von Phra­ Ein Sprachverführer eben! se und Nachahmung (Josef Ackermann, Martin Dagegen beschäftigt sich Deutscher mit auf­ Mosebach). Verben repräsentieren das Leben regenden anthropologischen Untersuchungen, (E.T.A. Hoffmann, Lessing, Thomas Bernhard); mit Möglichkeiten des Ausdrucks und der dass Günter Grass hier weniger gelobt wird als Komplexität der Sprache. Hat die Mutterspra­ anderswo, mag manchen befriedigen. che Einfluss auf unsere Gedanken? »Könnte die Schreiben besteht vor allem aus Üben (Peter Sprache … ein aktives Werkzeug des Zwanges Handke), hat aber auch mit Wahrheit zu tun; sein, mit dem die Kultur unserem Geist ihre trotz Nobelpreis wird leise Kritik an Elfriede Konventionen aufzwingt?« Jelinek fällig. Im Kapitel über Nennen und Im Teil I, der die Sprache als Spiegel betrach­ Beugen fallen die Namen Luther, Kleist und tet, steht die sinnliche Wahrnehmung im Vor­ vor allem Goethe. Es geht um Substantiv, Kon­ dergrund. Der britische Staatsmann William E. junktiv und miserable Sätze. Unter Bauen und Gladstone (1809-1898), begeistert von Ilias und Schließen (Nietzsche, Musil) wird das Thema Odyssee, entdeckte den mangelnden Farbwort­ »Sprache und Bürokratie« erörtert. »Schön ist schatz Homers. Besonders das Blau des Him­ die Sprache immer dann, wenn man einen mels wurde vermisst. Waren die alten Griechen Menschen in ihr wahrnimmt« ist ein Kernsatz farbenblind? - Einige Jahre später überprüfte des Buches. Merkwürdig, dass protestantische der Frankfurter jüdische Gelehrte Lazarus Gei­ Gegenden so viele gute Schriftsteller haben! ger die Farbbeschreibungen anderer alter Texte Ursache laut Steinfeld: Die Abschaffung des mit ähnlichem Ergebnis. Beichtzwangs – aber der Mensch muss beich­ Gleichzeitig mit dem Erscheinen von Darwins ten, daher diese Verwandlung. Entstehung der Arten begann 1859 »der offene Luther und Lessing machten die deutsche Spra­ Krieg zwischen Natur und Kultur um die Be­ che lebendig, tief und zukunftsvoll. Heute je­ griffe der Sprache«. Deutscher schildert minu­ doch dient sie mehr der Information. Die Dinge tiöse Versuchsanordnungen zu scheinbar fern­ »verweilen nicht mehr im Kopf«, und der Geist liegenden Fragen. Doch: So wie unsere Sprache bleibt außen vor. Immerhin nennt der Autor das Farbspektrum unterteilt, nehmen wir Far­ mit Sibylle Lewitscharoff ein Hoffnung erwe­ ben tatsächlich wahr! ckendes Gegenbeispiel. – Steinfeld zählt auf, Im zweiten Teil wird die Sprache als Linse für was das Deutsche die Sprache ist, darunter betrachtet. Besonders wird auf Wilhelm von idealistische Philosophie, klassische Philolo­ Humboldts Entdeckung unterschiedlicher Welt­ gie, Geschichtswissenschaften, Theologie und ansichten durch verschiedene Sprachen einge­ Marxismus. Die Anthroposophie wird leider gangen. Frage an den Leser: Sprechen Sie die nicht erwähnt. Aber deutlich hält er fest, dass australische Ureinwohner-Sprache Guugu Yi­ Deutsch die Sprache eines Raumes ist, der sich mithirr? Nein? Nicht ein einziges Wort? Aber aus kulturellen Interessen heraus entwickelt doch, eines kennen Sie: das Wort »gangurru«, hat; ein lebendiges Wesen mit durchlässigen unser Känguru. Und: Haben auch Sie – wie

die Drei 7/2011 Buchbesprechungen 97 jene Ureinwohner – das absolute Gespür für die gleichzeitig Professor für Kulturwissenschaften Himmelsrichtung? Jemand steht nicht vor, son­ in Luzern. Guy Deutscher (geb. 1969 in Tel dern zum Beispiel – nördlich von Ihnen. Dies Aviv) forscht als Linguist in Manchester. Bei­ soll für Kinder sogar leichter erlernbar sein als de Bücher sind außerordentlich lesenswert, am die Unterscheidung von rechts und links. Also besten in der Reihenfolge Steinfelds Sprachver- stimmt es, dass andere Sprachen andere Ein­ führer, dann Deutschers Im Spiegel der Sprache. sichten haben! Noch gibt es ca. 6000 Sprachen Muss man sich auf eines beschränken, dann ist auf der Welt. In zwei, drei Generationen wird literarisch Interessierten mehr Steinfelds, wis­ – durch den »Vormarsch der Zivilisation« – die senschaftlich Interessierten eher Deutschers Hälfte davon ausgestorben sein. Buch anzuraten. In launigen Beispielen schreibt der Autor über Maja Rehbein Sex und Syntax, Genus (grammatisches Ge­ schlecht) und die Auswirkung auf den Spre­ Über T. E. Lawrence cher. Hier ist die Sprache einem Gefängnis ähn­ lich: »Das Abschütteln der Assoziationsketten, Gwendolyn MacEwen: Die T.E. Lawrence Ge- die einem Menschen durch die Genera seiner dichte, Edition Rugerup, Hörby 2010, 160 Sei­ Sprache auferlegt sind, ist nahezu unmöglich.« ten, 19,90 EUR. Die Sprache hat also Einfluss auf unsere op­ This is the desert, as I promised you tische Wahrnehmung, wie eine Linse. So wird There are no landmarks, only die Kultur zur Ursache von Unterschieden in Those you imagine, or those made by rocks der Farbwahrnehmung. Wir beginnen, Unter­ That fell from heaven. schiede im Denken zu begreifen, die durch kul­ turelle Konventionen und verschiedene Spra­ Vieles von dem, was jetzt in den arabischen chen hervorgerufen sind. Ländern zu kollabieren beginnt, hat Wurzeln Deutscher ist ein exzellenter Erzähler. Gele­ im Ersten Weltkrieg und der damaligen bri­ gentlich persifliert er über lange Strecken; bei tisch-französischen Orientpolitik. Eine der selt­ flüchtigem Lesen können sich dadurch falsche samsten und tragischsten Figuren dieser Zeit Meinungen beim Leser festsetzen, dem man ist T.E. Lawrence, Lawrence von Arabien; ein aber durch gründliches Lesen begegnen kann. Idealist, der den Aufstand der Araber gegen Deutscher bringt ein fulminantes Crescendo an die von Deutschland gestützten Reste des os­ wissenschaftlichen Beobachtungen, dazu einen manischen Reiches mitgestaltend begleitete – äußerst umfangreichen Anmerkungs- und Lite­ gleichzeitig jedoch tätig war für den britischen raturteil. Sein Text hat einen hohen Anspruch; Geheimdienst und wissend, dass es bereits man hat das Gefühl, ein Semester auf der Uni explizite Pläne für die Phase nach dem Ende gewesen zu sein. der türkischen Herrschaft gab: eine Aufteilung Könnte man bei Steinfeld als Resümee sagen: in französische und britische Mandatsgebiete. Gutes Deutsch ist angewandte Kunst, lautet Wer sich für ein Verständnis dieser Person nicht der entsprechende Satz bei Deutscher: Das Fra­ Hollywood anvertrauen und auch nicht durch gen nach Sprachunterschieden ist angewandte Lawrences Sieben Säulen der Weisheit arbeiten Wissenschaft. In Steinfelds Sinn ist Sprache will, hat seit letztem Jahr eine lyrische Alter­ eine immer neu zu schaffende Errungenschaft native. des Menschen. Deutscher hingegen weist auf Die kanadische Dichterin Gwendolyn MacEwen das Sterben von Sprachen hin. Unendlich ver­ hat sich Hebräisch und Arabisch beigebracht änderlich sind die einzelnen Sprachen, und und die Region 1962 bereist – allein, im Alter gleichzeitig auch unsere Anschauungen über von 21 Jahren. Zwanzig Jahre später hat sie ihren natürlichen und kulturellen Kontext. Tho­ diese Erfahrungen im Gedichtzyklus Die T.E. mas Steinfeld (geb. 1954) ist leitender Redak­ Lawrence Gedichte verarbeitet, der jetzt erst­ teur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung, mals in Deutschland erschien. Den 60 Gedich­ die Drei 7/2011 98 Buchbesprechungen ten gelingt es, die Person Lawrences aus einer folge der Gedichte allein zeigt Meisterschaft, Innenperspektive transparent zu machen. Jede doch vielleicht rührt der eigentliche Reiz der Zeile vermittelt, dass hier mehr geschieht als Gedichte daher, dass von einer Frau diese Män­ nur die Nacherzählung eines Lebens. Eine tief­ nerwelt aus der Innenperspektive von Law­ gründige Nähe wird jederzeit spürbar, ebenso rence beschrieben wird. unverkennbar sind die eigenen Wüstenerfah­ Rätselhaft, wie Menschen Geschichte machen. rungen der Dichterin. »There are no easy ways of seeing, riding / the MacEwen wurde 1941 in Toronto geboren. waves of invisible seas / In marvellous vessels Ihre Kindheit war schwierig, die Mutter war which are always arriving or departing.« (The psychisch schwer krank, der Vater wurde zum Mirage – Die Luftspiegelung) Lawrence zerbrach Trinker und starb, als sie 18 war. Für ihre gro­ an der Erkenntnis, dass er seinen Idealismus ge­ ßen Werke The Shadow-Maker und Afterworlds dankenlos in den Dienst von Mächten gestellt wurde sie zwei Mal mit dem wichtigsten Ly­ hatte, die klare Interessenpolitik betrieben. Im rikpreis Kanadas ausgezeichnet. Ihr Werk war Nachhinein betrachtet hat er die Araber, deren deutsch bisher nicht zugänglich. Sie starb – wie Kultur er so hohen Respekt zollte, letztlich an Lawrence – mit 46 Jahren. Die Gedichte sind die verspäteten Ausläufer des westlichen Impe­ englisch und in der meist gelungenen Überset­ rialismus verraten. Lawrence verbarg sich den zung von Christine Koschel enthalten. Rest seines Lebens als einfacher Gefreiter in der »I did not choose Arabia; it chose me. The shab­ britischen Armee und starb schließlich an den by money / That the desert offered us bought Folgen eines Motorradunfalls. lies, bought victory. / What was I, that soiled Franz Hofner Outsider, doing / Among them? I was not be­ coming one of them, no matter / what you think. They found it easier to learn my kind Aus den Kniekehlen gesungen of Arabic, than to teach me theirs. / And they Lutz Seiler: im felderlatein, Gedichte, Suhr­ were all mad; they mounted their horses and kamp Verlag, Berlin 2010, 99 Seiten, 14,90 EUR. camels from the right.« Die Gedichte sind stark, rau, manchmal sprö­ Gedichte sind Grenzorte. Man ist der anderen de. Geschildert werden, im Wesentlichen chro­ Seite immer nahe und das Nicht-Geschriebene nologisch, die Etappen von Lawrences Leben, bleibt dabei anwesend als Atmosphäre, als sogar sein familiärer Hintergrund wird aufge­ Stimmung, als Geruch. – In seinem neuesten schlossen. Nichts davon kommt ungebrochen, Gedichtband von 2010 im felderlatein unter­ nirgendwo sind die großen Themen fern. »The nimmt der Lyriker Lutz Seiler Exkursionen in child leads the parents on to bear him; he de­ das Grenzland rund um Berlin. Seine Verlas­ mands / to be born. And I sense somehow that senheit und seine Geschichte entstehen ihm im God / Is not yet born; I want to create Him« Laufe der Zeit: »beim Gehen, im Flüstern, beim (Our Child which Art in Heaven). Den Mittel­ Schweigen«. teil bildet der große Krieg, als Lawrence mit Er betrat jetzt das Unbekannte, denn es gab arabischen Führern einen Guerillakrieg gegen Orte, die er nicht kannte, »nicht einmal / vom die Türken und insbesondere die Bagdag-Bahn namen kannte ... für jedes haus eine zahl ... die führte; der letzte Teil widmet sich den Nach­ laterne. in ihrem kegel hingen // kleine sing­ wirkungen nach dem Friedensschluss. Die bare stücke ... das knistern in / den lebensfä­ Wüstensonne, die eisigen Nächte, die Abende den«. Und er »trat ein in ihr geräusch«. »verka­ im Zelt, der Krieg prägen den Ton: »Another belt // fallen die namen, worte, noch warm / time I straigthened out the bodies of dead auf der zunge« ... Turks, /placing them in rows to look better; / Lutz Seiler wurde 1963 in Gera/Thüringen ge­ I was trying, I think, to make it / a neat war.« boren und wuchs auf im landwirtschaftlichen Schon die Komposition der Themen, die Ab­ Betrieb, dem Gehöft seiner Eltern. Er arbeitete

die Drei 7/2011 Buchbesprechungen 99 zunächst als Zimmermann und Maurer, später allgemeinen menschlichen »felderlatein«, sach­ studierte er Germanistik. Seit 1997 leitet er das lich, ungeschnörkelt und klar, aus den Kniekeh­ literarische Programm im Peter-Huchel-Haus len gesungen. Brigitte Espenlaub in Wilhelmshorst bei Berlin, wo er auch heute lebt. Für sein Werk, das sind Gedichte und Er­ zählungen, wurde er mehrfach ausgezeichnet Das Winkelmaß der Liebe u.a. mit dem Bremer Literaturpreis, zuletzt mit Hartmut Lux: Wintersemester – Lyrische Ex- dem Fontane-Preis 2010. kursionen, Naturstudien, Skizzen / Ausge­ Seine Gedichte sind von einer tiefen poetischen wählte Gedichte und Texte, Books on Demand Kraft. In seinen Anmerkungen legt er dazu eini­ GmbH, Norderstedt 2010, 292 Seiten, 18,90 EUR. ge Bezüge frei. Zum Beispiel: in die mark, zum ältesten griechischen Orakel von Dodona, wo Das zu Weihnachten 2010 erschienene Buch aus dem Rauschen der Bäume von Priestern ge­ enthält eine gegliederte Zusammenfassung von weissagt wurde. Oder die elbe bei wilsnack: wo hauptsächlich lyrischen Arbeiten, aber auch er beim Hören der Aufnahme einer Lesung von kurzen Prosatexten und Bildern aus 30 Jahren. Ezra Pound die Geräusche im Hintergrund für Schon beim ersten Durchblättern verzaubert es kindliche Rufe hielt und später erst erfuhr, dass durch die Ruhe und Klarheit seiner Bildworte Pound sich zu der Zeit in einer psychiatrischen und Gedankenworte. Diese Verzauberung be­ Anstalt aufhielt. Das Wasser der Elbe »um die ruht aber auch darauf, dass der Leser mehrfach knöchel / spielte trost.« Ihn verließ der Raum, durch den Jahreskreislauf geführt wird und und er sah den Alten, wie er »oben seine cantos dadurch Gelegenheit erhält, Wahrnehmungen, kaut & und noch der staub zwischen den fin­ Ahnungen, Erkenntnisse über die Natur und gern sich anfühlt wie erinnern.« das Leben zu variieren und zu vertiefen und Wenn er über (die Magd?) Aranka schreibt, mit dem eigenen Ich zu verbinden. klingt das nach Erinnerungen, die ihm aus der Als roter Faden durchzieht das Marienmotiv das eigenen Kindheit aufsteigen. »schon der name ganze Buch, wobei ein fehlendes Marienstand­ wittert brot / & essenreste – wie / »ausgetre­ bild auf einer Architekturfotografie zu Anfang tener engelskörper / auf der flucht« zog sie mit gleichsam Stück für Stück in den Texten und ihrem stinkenden Karren los. Von ihr kam kein Worten aufgebaut wird, so dass am Ende durch einziges Wort, nur »die glänzenden fette, die die Kunst die Marienhaftigkeit der Seele in ih­ säfte / der fäulnis, allein dein stinkender karren rer Natur- und Geistbetrachtung aufleuchtet. im dunkel, sein schleifendes pfeifen, so zogst Der Weg dazu vollzieht sich in drei Teilen des du voraus. das rad / ging am stock«. Er sagt ihr Buches, wobei der erste Teil sich in drei Zyklen nach, sie habe »aus kniehkehlen / gesungen, gliedert (»Das Winkelmaß der Liebe«, »Stern­ hundertfach / dasselbe lied« Am Ende steht ein bild des Kindes«, »In zärtlicher Epiphanie«), »vergib!« der zweite Teil Gedichte über Sterben und Tod Lutz Seiler plastiziert die Sprache, Geräusche, und die Gewissheit des Engels im Menschen Orte, Tätigkeiten und Gerüche, Stimmen und enthält, der dritte Teil Landschaften und Orten Stimmungen. In dem Gedicht am abend folgen gewidmet ist. – Zusammenfügend ist allen Tei­ ihm schwebend die Tiere über die Gleise. Er len ein gemeinsamer Lyrik- und Prosastil. Es sah wie das Versteinern begann. »manche er­ ist ein einfacher, mystisch-transparenter Liebes­ starrten // im anrauschen der bäume. manche geiststil, der die Welt so erscheinen lässt, wie / rissen den schädel plötzlich / in den nacken sie im Anfang paradiesisch gewesen sein mag, & stiegen, einen // boshaften mond / zwischen und als endzeitlich Neues Jerusalem, in dem es den hufen« kein Leid und keine Tränen mehr gibt, nachdem Lutz Seilers Gedichte kann man als klassisch die ungeheuerlichsten Katastrophen sich schon bezeichnen. Klassisch, modern mit Enjambe­ vollzogen haben, wie es in der Apokalypse des ment und durchlaufender Kleinschreibung im Johannes, Kapitel 21 und 22 beschrieben wird. die Drei 7/2011 100 Buchbesprechungen

Voraussetzung für diesen Liebesgeiststil ist ein Wintersemesters. Der Künstler entfaltet hier langer, innerer Schulungsweg, der »das Geistige seine Wünsche, durch seine Arbeit mit der au­ im Menschen mit dem Geistigen im Weltenall« ßermenschlichen Welt zu sprechen; den Tod verbindet, wie es Rudolf Steiner beschreibt. als Lebenswandlung zu begreifen und Prozesse Hartmut Lux, der Maler, Lyriker, Erzähler und Gestaltwerdungen »sei es in Farben oder wahrte in 30 Jahren eine künstlerische Eigen­ Worten, Objekten, Installationen, sozialen ständigkeit von hohem Rang. Dabei tritt er ganz Handlungen« zu vollbringen. Das ist ihm – bescheiden auf. Sein Wintersemester gibt auf auch in seinen tiefsinnigen Bildern – im Win- liebenswürdige Weise viel Lernstoff her. tersemester hervorragend gelungen. Zu lernen ist immer, wie er die höchsten geis­ Sigrid Nordmar-Bellebaum tigen Erkenntnisse an nachprüfbare Natur- und Seelengegenstände und -beobachtungen an­ knüpft, wie er in zärtlicher Konzentration da­ Dichtung und Kunst in der bei durchaus induktiv vorgeht und zu überra­ Pädagogik schenden und erhebenden Schlüssen kommt, Malte Schuchhardt: Kunst und Dichtung im die das Gedächtnis, hat man sie einmal aufge­ Spannungsfeld von Apollon und Dionysos, nommen, nicht mehr verlassen. Pädagogische Forschungsstelle beim Bund der Als Beispiel dafür möge dienen das Gedicht: Freien Waldorfschulen, Stuttgart 2010, 136 Sei­ ten, 28 EUR. Wintersemester Das vorliegende Buch über die zwei polaren Sich einfinden, vor hellen und dabei einander ergänzenden Grundkräfte Winterhimmeln, vor dunklen der Bildenden Kunst und Dichtung ist unter an­ Winterbäumen derem ein Ergebnis der langjährigen Tätigkeit aufmerksam studierend die als Lehrer Malte Schuchhardts als Deutsch- und feinen Verästelungen Kunstgeschichtslehrer in der Freien Waldorf­ Verzweigungen schule Marburg. Das im Buchtitel anklingende Grundthema durchzieht dabei in der Waldorf­ die lebendige pädagogik den Kunstbetrachtungsunterricht Geometrie der Erde der 11. Klasse, eine thematische Ausrichtung das Winkelmaß genau in jener Klassenstufe, die der Autor am der Liebe Ende seines Buches menschenkundlich und didaktisch begründet. Schon im Vorwort wird die begriffliche Klärung vorgenommen, nach Dass auf diese Weise sogar das Christliche in der unter der Polarität des Apollinischen und der Natur gefunden werden kann – Schönheit, Dionysischen zwei gegensätzliche Elemente Größe, Liebesordnung – Weiterentwicklung, zu verstehen sind, die »einander bedingen und jedenfalls wenn wir an den Paradiesesstrom nicht ausschließen.« Im Folgenden unternimmt und den gewissermaßen endapokalyptischen der Autor den Versuch, der Wirksamkeit dieser Strom in ihr denken, ist heute, wo wir eher die zwei elementaren Kräfte in der griechischen apokalyptischen Zerstörungen erleben, kaum Tragödie, in der abendländischen Bildenden verbreitet und kann erst in der Nachfolge des Kunst von Giotto bis Mondrian und Pollock Novalis gedacht und gefühlt und gestaltet wer­ und in der Dichtung Kleists und Goethes nach­ den, einem Dichterphilosophen, dem Hartmut zugehen. Dabei entsteht ein umfassendes und Lux tief verbunden ist. an vielen Beispielen konkretisiertes Bild davon, Ganz eigenständig – auch in diesem Zusam­ wie sich – um bei der Malerei zu bleiben – menhang – bilden die Kunst-Prosa-Skizzen Merkmale des Apollinischen und des Diony­ »KUNST – Drei Wünsche« den Abschluss des sischen entweder in einem Bildwerk oder in

die Drei 7/2011 Buchbesprechungen 101 zwei zum Vergleich anstehenden manifestieren. Klassischen Moderne immer weiter auseinan­ Bevor der Autor aber mit der an ausgewählten der: Dies hat unter anderem damit zu tun, dass Beispielen von hervorragendem Bildmaterial mit Beginn des 20. Jahrhunderts die Maler im­ durchgeführten Suche nach den »geheimen Ge­ mer mehr auf die Gestaltungselemente der Ma­ setzen« der Kunst beginnt, zeichnet er die Ge­ lerei und auf die Gestaltungskräfte im Künst­ burt Apollos und des Dionysos im griechischen ler selbst reflektieren und diese selbst zum Mythos nach. Durch diesen methodisch sinn­ Thema der Bilder machten: Bei Mondrian die vollen historischen und begrifflichen Rekurs Reduktion der sichtbaren Wirklichkeit auf die wird der Leser mit dem für die kommenden Senkrechte und Waagerechte als Grundgerüst Betrachtungen notwendigen Wissens-Rüstzeug der Welt, bei Pollock die vom Bewusstsein und ausgestattet, als dessen Kompendium folgender dem Verstand ungesteuerte malerische Geste Befund gelten kann: »Bei Apollos Geburt Licht, als unverfälschter Ausdrucksträger. Goldglanz, Teilnahme der Götter. Bei der Ge­ Nachdem Schuchardt Phänomene des Diony­ burt von Dionysos herrscht Dunkelheit … Das sischen in der Dichtung Kleists und Phänomene Geschlecht der Olympischen Götter ist selbst des Apollinischen in der Dichtung Goethes auf­ aus jener Abgrundtiefe des Erdhaften entstie­ gezeigt hat, endet das lehrreich und anschaulich gen, in der Dionysos heimisch ist, und kann geschriebene Buch mit Überlegungen zur ästhe­ die dunkle Abkunft nicht verleugnen. Das Licht tischen »Urteilsbildung im Spannungsfeld des und der Geist droben muss immer das Nächt­ Apollinischen und Dionysischen in der Kunst­ liche und die mütterliche Tiefe unter sich ha­ epoche der 11. Klasse der Waldorfschule.« ben, auf die alles Sein gegründet ist.« (Walter F. Gerd Weidenhausen Otto, hier zitiert von Malte Schuchhardt) Dass nun die Geschichte der Bildenden Kunst auf der einen Seite Bilder mit klarer Form, einer Das System ist schuld! geradezu mathematisierten Komposition, einer Sabine Czerny: Was wir unseren Kindern in Dominanz der klar geführten Linie gegenüber der Schule antun ... und wie wir das ändern der »rauschhaften«, ungebundenen Farbe her­ können, EuroSüdwest Verlag, München 2010, vorgebracht hat und auf der anderen Seite be­ 384 Seiten, 17,99 EUR. wegt-ungeordnete und emotional aufgeladene Werke, wird anhand zahlreicher Bildvergleiche Vor zwei Jahren ging die Geschichte der (von Masaccio und Masolino, von Piero del­ bayrischen Lehrerin Sabine Czerny durch die la Francesca und Grünewald, von Ingres und Presse, die strafversetzt wurde, weil sie die ihr Delacroix, von Monet und Munch bis hin zu anvertrauten Kinder engagiert unterrichtete – Mondrian und Pollock) deutlich und anschau­ und es in ihren Klassen zu viele gute Noten lich gemacht. Die Geschichte der Malerei bietet gab. Anlass für die evangelische Pfarrbruder­ aber auch Beispiele für die gleichzeitige An­ schaft, die »Grundschul-Rebellin« im Juni 2009 wesenheit von apollinischen und dionysischen mit dem Karl-Steinbauer-Zeichen für Zivilcou­ Gestaltungselementen, so in etwa in Roger van rage auszuzeichnen; und Anlass für Sabine der Weydens »Kreuzabnahme«. In dessen ein­ Czerny selbst, sich gründlich mit dem »Sor­ drücklichem Tafelbild von 1435-1440 »werden tierauftrag« des Schulsystems auseinanderzu­ dionysische Gebärden der Trauer durch apol­ setzen: Im Oktober 2010 erschien ihr Buch Was linische Ausgewogenheit der Komposition im wir unseren Kindern in der Schule antun ... und Gleichgewicht gehalten.« (S. 62) wie wir das ändern können. Darin reflektiert sie Während diese Gleichgewichtsfindung in der auf über 300 (packend geschriebenen) Seiten klassischen und traditionellen Malerei nicht ihre jahrelange Erfahrung im Schulbetrieb und selten anzutreffen ist, oder auch die Polaritäten erläutert dessen geschriebene und ungeschrie­ näher zusammen liegen, treiben das Apolli­ bene Gesetze. Außerdem werden in kurzen In­ nische und das Dionysische in der Malerei der formationskapiteln neueste Erkenntnisse über die Drei 7/2011 102 Buchbesprechungen

Intelligenz, Noten, Medienkonsum, ADHS u.a. wichtig und die Gleichheit. Ich hatte davon ge­ zusammengefasst. hört, dass es politisch gar nicht erwünscht ist, Die Wahrnehmung der fatalen Wirkung der dass alle Kinder gut lernen, konnte das aber nie Zensuren auf die Persönlichkeitsentwicklung glauben und will es bis heute nicht glauben ...« ihrer Schulkinder nimmt Czerny ernst (denn Czerny durchschaute das »System« immer bes­ Noten provozieren nicht nur Stress und Angst, ser, das allen Beteiligten das Leben so schwer sondern auch »die Suche nach dem Schlech­ macht. Wenn gar nicht alle Kinder an gute teren, um sich selbst besser zu fühlen«) und Noten, das heißt an einen abgeschlossenen sie macht die Aufklärung über die widersinnige Lernvorgang, an das Gefühl, etwas begriffen Praxis der Notenvergabe zu einem Hauptmotiv zu haben, herangeführt werden sollen, dann ihres Buches: Abgesehen von der äußerst zwei­ produzieren wir Opfer, die nicht nur alle Lust felhaften Verlässlichkeit, Validität und Objekti­ am Lernen, sondern auch allen Glauben an vität der Schulnoten an sich werden diese so sich selbst verloren haben. »Der Unterschied vergeben, dass sich ein »differenziertes« Leis­ zwischen einer Eins und einer Fünf ist groß. tungsbild innerhalb einer Schulklasse ergibt – Der Unterschied in der zu Grunde liegenden am besten nach Gaußscher Normalverteilung, Leistung gar nicht. Hier werden aus Ameisen d.h. viele mittelmäßige, wenige gute, wenige Elefanten gemacht. Elefanten, die uns dann die schlechte. Das gesellschaftliche Skandalon der Sicht darauf nehmen, dass ein gemeinsames Trennung der zehn- oder gar neunjährigen Lernen nicht nur möglich, sondern sogar sinn­ Schulkinder in leistungsfähige und »eben prak­ voll und auch bereichernd ist.« Und: »Noten tisch begabte« (eine Formulierung, die Czer­ lügen. Noten täuschen über das hinweg, was ny gar nicht leiden kann), gewinnt durch ihre Kinder tatsächlich sind: Fähige Wesen, die alle Schilderungen zusätzlich an Brisanz. lernen können, alle unterschiedlich sind und »Guter Unterricht und ein vielfaches Üben, so­ alle individuelle Unterstützung auf ihrem Weg dass jedes Kind die Inhalte verstanden hat, wird brauchen.« aufgrund dieser Vorgaben zu einem Fehlverhal­ Diese Achtung, ja Liebe, die Czerny in jedem ten«, sagt Czerny und spricht dabei aus eigener Kind das ganze Potential erblicken lässt (das Erfahrung. Sie bemühte sich um einen leben­ formuliert sie als wesentliche Säule ihrer Pä­ digen, anregenden Unterricht mit täglichem dagogik), führt zur gedanklichen Konsequenz: Liedersingen im Morgenkreis, legte Wert auf »Es gibt kein für alle gültiges Konzept zur indi­ das soziale Miteinander und eine prozessori­ viduellen Förderung – wenn es ein übergeord­ entierte Zeiteinteilung. Als die Leistungen ih­ netes Konzept gäbe, wäre es nicht individuell.« rer Klasse besser wurden (»das Entscheidende Klingt logisch – die Praxis des Überstülpens für derartige Veränderungen ist einzig und al­ von abstrakten Vorstellungen auf sich real ent­ lein die Freude«) und sie überdurchschnittlich wickelndes Leben ist jedoch weit verbreitet. In vielen Kindern eine Empfehlung für Gymnasi­ einer humanen Pädagogik geht es, mit Steiners um oder Realschule geben konnte, wurde das Worten, darum, sich »den Blick für das erwor­ – obwohl ihr kein einziger Beurteilungsfehler ben zu haben, was nicht als einzelner Fall unter nachgewiesen werden konnte – keineswegs an­ ein allgemeines Gesetz gebracht werden kann, erkennend begrüßt: »Auch bei Ihnen muss es sondern dessen Gesetz erst in diesem Fall an­ Vierer, Fünfer und Sechser geben, Frau Czerny« schauend erfasst werden muss.«1 Czernys Aus­ lautet die Überschrift eines Kapitels, in dem sie führungen wecken Ahnungen für diesen Blick, offen schildert, wie für sie im eskalierenden und in der Herausarbeitung dieser Unterschei­ Konflikt mit dem Schulamt eine Welt zusam­ dung darf auch die eigentliche Stärke ihrer Kri­ menbrach. »Plötzlich erlebte ich selbst, welche tik gesehen werden. Maschinerie hochgefahren wurde, weil nicht »Wenn wir nicht die Schulen von heute hät­ sein kann, was nicht sein darf: Hier im staat­ ten, sondern noch einmal von vorne anfangen lichen Schulsystem wären einfach die Noten könnten – würden wir wirklich die selbe Art

die Drei 7/2011 Buchbesprechungen 103 von Schulen wieder erschaffen?« Czerny macht die Methode des lebendigen Erzählens (»Ich deutlich: Für eine heilsame Veränderung im kam hier meiner eigenen Suche danach, wie Schulwesen braucht es »Freiraum und keine man innere Landkarten bei Kindern erzeugen vorgegeben Wege«. Gleichzeitig kennt sie die kann, ein gutes Stück näher: durch richtiges Macht der Gewohnheit: »Wir alle kennen das Erzählen, das ein wirkliches Erleben möglich alte System, sind mit ihm groß geworden, ha­ macht«), die Ideen der »guten«, »schönen« und ben es überlebt und es verbindet uns eine ge­ »wahren« Welt für Kleinkind, Kind und Jugend­ wisse Vertrautheit damit. Das zukünftige Ler­ liche, das bewusste Einbeziehen des Schlafes. nen ist noch Neuland, unbekannt und damit »War mir vorher wichtig, was und mit welchem befremdlich.« Umso mehr ermuntert sie auch Material ich alles tat – dieses Arbeitsblatt, jener Menschen, die keine Kinder im schulpflichtigen Hefteintrag –, so galt meine Aufmerksamkeit Alter haben, Organisationen, die neue Wege jetzt ganz der Wirkung auf die Kinder«. des Lernens erkunden, zu unterstützen – und Ob eine Schule für alle, wie sie Czerny vor­ hört schon den »entschlossenen Ruf von Milli­ schwebt, im staatlichen Rahmen verwirklicht onen von Eltern, die erkannt haben, wie unver­ werden kann oder neue, auf Selbstverwal­ antwortlich das System mit unseren Kindern tung gründende Organisationsformen braucht, umgeht«. bleibt zwar als Frage ebenso unbearbeitet wie Im Lauf der Lektüre bestätigt sich, was so man­ der Zusammenhang zwischen der Selektion cher vielleicht schon ahnte: Czerny kennt die im Bildungswesen und den Entwicklungen auf Waldorfpädagogik. Ihr Interesse für guten Un­ dem Arbeitsmarkt; im Hinblick auf die gegen­ terricht hatte sie nicht nur zur berufsbegleiten­ wärtige verschärfte Regulierung des Bildungs­ den Beschäftigung mit der Themenzentrierten systems (zentralisierte Prüfungen, Konzentra­ Interaktion/TZI (»Mir wurde dadurch bewusst, tion auf die PISA-relevanten Fächer, Ausbau dass der Mensch immer wichtiger als die Sa­ der verpflichtenden Ganztagsschule etc.) kann che ist«) und der Kinesiologie und Heilpraxis man jedoch diesem Buch nur eine breite Leser­ (»Ich glaube, Gesundheit hat viel mit gutem schaft wünschen! Unterricht zu tun«) geführt, sondern auch zur Clara Steinkellner Waldorfausbildung. Als eigenes Berufsumfeld erscheint ihr die Waldorfschule zwar zu ideo­ 1 Zitiert nach Rudolf Steiner: Texte zur Pädagogik. logisch – den pädagogischen Wert ihrer Inhalte Anthroposophie und Erziehungswissenschaft, Hrsg. hebt sie jedoch hervor: die Menschenkunde, von Johannes Kiersch, Dornach 2004, S. 475.

Der Mensch hat eine Unterschrift Bilder und Texte von Menschen mit einer Behinderung Das Buch zeigt Werke, die 2009/2010 im Rahmen der gleichnamigen Aus- stellung im Humanus-Haus gezeigt wurden. Es präsentiert Zeichnungen, Malerei und Textarbeiten von Menschen mit einer Behinderung. Gradlinig und kompromisslos wird hier das Menschsein künstlerisch ausgedrückt. Das Humanus-Haus ist eine Camphill-Dorfgemeinschaft in der Nähe von Bern.

ISBN 978-3-9521326-6-1 96 Seiten, 128 farbige Abbildungen, 29 , www.der-mensch.ch Raffael-Verlag, Stockhornstrasse 5, CH-3063 Ittigen, www.raffaelverlag.ch die Drei 7/2011