90 Buchbesprechungen Franz Schuberts Wirken Autor betont, dass die von Schubert getroffe­ ne Gedichtauswahl keinen Zweifel daran lässt, Thomas Brunner: Vom EinweihungsCharakter dass der Komponist ein wacher Zeitgenosse der Liederzyklen Franz Schuberts, Edition Im­ mit hoher literarischer Bildung war, der auch manente, Berlin 2010; 107 Seiten; Beilage: Die die Zensur geschickt zu umgehen wusste, ohne schöne Müllerin / Die Winterreise – Texte der ins Allegorische zu verfallen (entgegen dem Liederzyklen in den Fassungen von Wilhelm landläufig gezeichneten Bild von Schubert als Müller und Franz Schubert, 35 Seiten; 16,80 bravem, gemütlichem Musikanten des Bieder­ EUR. meier). Buchbesprechungen Die Zeitgenossen und insbesondere Goethe hät­ Wollte ich Liebe singen, ward sie mir zum ten also Zugang zu Schuberts Liedern finden Schmerz. Und wollte ich wieder Schmerz nur können, taten dies aber nicht. Brunner holt singen, so ward er mir zur Liebe. zum Verständnis dieser Ablehnung weiter aus Franz Schubert und stellt sie in den größeren erkenntniswis­ 1924 stellte Rudolf Steiner die Individualität senschaftlichen Kontext. Er betont, dass Steiner Franz Schubert in einem Karmavortrag ins Zen­ seine Erkenntnistheorie ausdrücklich auf die trum seiner Betrachtungen. Er spricht von ihm Wissenschaft Goethes nach der Methode Schil­ als »Franz Schubert, der Liederkomponist, der lers aufbaute und ausführte, dass eine wissen­ Komponist überhaupt«.1 In der Edition Imma­ schaftliche Gesamtauffassung der Welt zwar nente ist 2010 ein Taschenbuch erschienen, das von Goethe in dessen Gebieten vollzogen, aber Schubert wesenhaft darstellt und seine Lieder­ als reine Methode erst durch Schiller freigelegt zyklen als schicksalsprägenden Teil sowohl des worden war. Brunner beschreibt, welche An­ Komponistenlebens als auch der Weltgeschich­ strengungen Rudolf Steiner zudem unternom­ te aufleben lässt. Brunner hat sich lange und men hat, seinen Zeitgenossen Goethes genuine intensiv mit Schubert beschäftigt. Es gelingt Natur­ und Kunstauffassung näher zu bringen, ihm, Schuberts karmischen Umkreis und die und dass er empfahl, dazu weniger auf Goethes umbruchreiche Epoche, in der er lebte, leben­ Worte zu hören als auf seine Lebensführung zu dig werden zu lassen. achten. Hätte sich Goethe selber diesen Rat­ Das Taschenbuch ist in sieben Kapitel unter­ schlag zu Herzen genommen, hätte er Schubert teilt. Nach einer aus großer Übersicht heraus verstanden. prägnant auf das Wesentliche beschränkten Dem Leser wird deutlich, wie es dazu kom­ Charakterisierung von Romantik und Klassik men konnte, dass dem Liedwerk Schuberts von und der Klärung von Goethes Verhältnis zu den den Zeitgenossen viel Unverständnis entgegen­ Romantikern wird der Leser bildhaft an die Si­ gebracht worden ist. Diese Ablehnung führte gnatur der Geburt Schuberts herangeführt. Dies Schubert laut Brunner aber dazu, mit gesteiger­ geschieht unter Einbezug der gegensätzlichen ter Anstrengung in die Tiefe der seelischen Welt Welten, in denen Goethe und Novalis lebten einzudringen. Ein Resultat dieses Bestrebens ist und in deren Mitte Schubert geboren wurde. der im vorletzten Kapitel des Buches themati­ Anschließend erschließt der Autor subtil die sierte Liederzyklus Die schöne Müllerin. Brun­ Bedeutung von Schuberts Bildwelt, beleuchtet ner hält fest, dass die äußere Geschichte schnell seine intensive Beziehung zum Dichter Wil­ erzählt ist, dass die innere aber auf differen­ helm Müller und untersucht Schuberts Liedzyk­ zierte Art einen Inkarnationsweg beschreibt. In len im Kontext der Zeit. Anhand anschaulicher der Winterreise, deren Lieder der Innerlichkeit Beispiele wird deutlich gemacht, dass Schubert entsprechend in Moll gehalten sind und deren beim Komponieren Urbilder erfasst und damit Liedfolge keinem äußeren Handlungsablauf – einen tiefgründig wirksamen Gegenpol zur re­ auch nicht dem von Müller gesetzten – mehr alistischen, in den Naturalismus absinkenden, folgt, findet sich der gleiche Prozess gesteigert flachen Ästhetik seiner Zeit gebildet hat. Der wieder: »Die Orientierung muss ganz im Seeli­ die Drei 7/2011 Buchbesprechungen 91 schen erwachen, soll der Wanderer nicht ›ver­ posoph in der lebendigen Verbundenheit mit rückt‹ oder im Chaos enden« (S. 75). Es wird der geisteswissenschaftlichen Menschenkunde deutlich, dass Schubert tiefe seelisch­geistige und als Musiker mit seinen Erfahrungen aus Impulse hatte und diese durch seine Liedzyklen der eigenen musikalischen Praxis. Das Buch erlebbar machte. überzeugt besonders dadurch, wie der Verfas­ Im Epilog, der das Buch abrundet, wird die Brü­ ser diese drei Seiten in einen Prozess gegensei­ cke in die Gegenwart konkret geschlagen, weil tiger Durchdringung und Befruchtung bringt. deutlich wird, dass in der Geisteswissenschaft Aktuelle naturwissenschaftliche Erkenntnisse Steiners die Intentionen, die in Schubert lebten, der Neurophysiologie zum musikalischen Hö­ in voller Klarheit ins Tagesbewusstsein getre­ ren werden dabei so mit den Forschungsergeb­ ten sind. Stellenweise lässt sich die Lektüre mit nissen Rudolf Steiners in Verbindung gebracht, dem Gang durch einen Steinbruch aus Gold­ dass sie sich gegenseitig beleuchten und inei­ brocken vergleichen. Viele Schätze bleiben un­ nander aufgehen. gehoben und regen die Lesenden zum Weiter­ Inhaltlich ist das Buch in drei eigenständige Ka­ denken an. Ein Gewinn ist, dass an passenden pitel gegliedert: Stellen Zitate Steiners harmonisch in den Text 1. Der hörende Mensch und die Wirklichkeit einfließen und sich dadurch zusätzlich weitere der Musik. Dimensionen eröffnen. 2. Musik als »Chemie von innen« – zum Fluor­ Das Buch eröffnet dem Leser auf feinsinnige prozess im Menschen. Art neue Zugänge zur Individualität Franz 3. Das Erlebnis der Musik und seine physiolo­ Schuberts und zur Bedeutung seines Wirkens gischen Grundlagen. als Liedkomponist. Die sorgfältige und schö­ Das erste Kapitel beschreibt den Weg des Tones ne Einbandgestaltung sowie die Beilage der im von außen nach innen, also vom Trommelfell Buch besprochenen Liederzyklen durch Ulja über das Mittelohr in den Bereich des Innen­ Novatschkova machen es zu einem Kleinod, ohres. Anschaulich herausgearbeitet wird in das zum Weiterdenken anregt und in keinem diesem Zusammenhang die stammesgeschicht­ Bücherregal geistesgeschichtlich Interessierter liche Metamorphose des Kiefergelenkes in ein fehlen sollte. Barbara Steinmann Hörgelenk (Hammer und Amboss). Evolutiv 1 Rudolf Steiner: Esoterische Betrachtungen karmi- betrachtet heißt das: »Hören ist ein nach in­ scher Zusammenhänge (GA 235), Bd. 1, Vortrag vom nen genommenes Kauen.« (G. Husemann). Die 8. März 1924. Darstellung der Verwandlung der auf die äu­ ßere Welt gerichteten Beißmuskeln in die für den Sinnesprozess des Hörens entscheidende Wie wird aus Tönen Musik? Muskulatur des Innenohres (als »Muskulatur D30«) bildet die Basis für die Erkenntnis, dass armin J. husemann: Der hörende Mensch und und wie der ganze Muskelmensch am Hörvor­ die Wirklichkeit der Musik, Verlag Freies Geis­ gang beteiligt ist. Neueste Ergebnisse der Ge­ tesleben, Stuttgart 2010, 138 Seiten, 18,90 EUR. hirnforschung z. B. zur Funktion der Spiegel­ Wie wird aus Tönen Musik? Diese Frage bil­ neuronen und die von Rudolf Steiner bestätigte det den Ausgangspunkt des Buches. Sie diffe­ Schopenhauersche Erkenntnis: »die Musik ist renziert sich zum einen in die Frage nach der also Abbild des Willens selbst …« kommen in Wirklichkeit, die mich berührt, wenn ich Musik Übereinstimmung. erlebe, und zum anderen in die Frage nach den Das zweite Kapitel hat den Zusammenhang physiologischen Grundlagen des Musizierens von musikalischen und chemischen Prozes­ und Musikerlebens. Husemann geht diesen sen zum Inhalt. Dabei scheinen sich die che­ Fragen von drei Seiten nach: als Arzt in der mischen Stoffe und die Welt des musikalischen Kenntnis der menschlichen Physiologie und Innenerlebens zunächst unvermittelbar gegen­ der diesbezüglichen Forschung, als Anthro­ überzustehen. Die Untersuchung setzt an bei die Drei 7/2011 92 Buchbesprechungen der Aussage Steiners, dass »die Zahlenverhält­ überzeugendes Grundlagenwerk auf dem Ge­ nisse der Chemie wirklich die Ausdrücke für biet geisteswissenschaftlich durchdrungener die Zahlenverhältnisse der Sphärenharmonie« musikalischer Menschenkunde gelungen. sind. Husemann entwickelt aus der Untersu­ Matthias Bölts chung der verschiedenen Erscheinungsformen des chemischen Äthers als Zahlen­ und Klang­ Zwangsbeschallung äther eine Brücke: Das Urgesetz der Siebenheit Klaus miehling: Lautsprecher aus! Zwangs- als Grundlage jeglicher Entwicklung verbindet beschallung contra akustische Selbstbestim- die sieben Töne und Intervalle mit den sieben mung, epuli Verlag, Berlin 2010, 248 Seiten, Gruppen des Periodensystems. Das Kapitel 22,43 EUR. mündet in die Darstellung einer Heilmittelfin­ dung, die aus der Vereinigung von homöopa­ Ein hochaktuelles sowie brisantes Thema be­ thischer Empirie mit musikalisch­goetheanis­ handelt Klaus Miehling in seinem Buch Laut- tischem Substanzverständnis entspringt. sprecher aus! Der Autor spricht von einer allge­ Das dritte Kapitel handelt von der Bedeutung genwärtigen Zwangsbeschallung, so z.B. in der des Atems in der Musik. Zunächst werden die Gastronomie, beim Einkaufen, am Arbeitsplatz, Phänomene des musikalischen Zeiterlebens in öffentlichen Verkehrsmitteln, beim Fernse­ an einem Musikbeispiel aufgezeigt: »Musik ist hen, beim Sport, in Haftanstalten und durch Beobachtung der Zeit von innen« – mit Hilfe die eigenen Nachbarn. Er führt zahlreiche Sta­ des menschlichen
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