Ko?pfe U1_U2_U3_U4_EK_07-08_2011:EZK Cover 10.06.2011 13:00 Uhr Seite 1 erziehungs07 / 08 | 2011 kunstJuli / August | 6,90 € Waldorfpädagogik heute Kinder, Lehrer, Temperamente
Chemie kann auch schmecken Die andere Frau – ein Sommerkrimi »O Mensch, erkenne Dich« Was ist Schulreife? Ko?pfe U1_U2_U3_U4_EK_07-08_2011:EZK Cover 10.06.2011 13:00 Uhr Seite 2
2 INHALT
4 H. Eller: Warum Rechtsanwälte und Frisöre sich für die Temperamente interessieren 5 U. Maiwald: Im Haus der Temperamente 9 M. Schnabel: Temperamente im Klassenzimmer – ein Praxisbericht 12 E. Leipold: Die Temperamente sind die Farben der Seele 14 M. Maurer: Temperamente ad acta? 17 L. Ravagli: Mit Temperament in den Urlaub 19 B. Olayiwola-Olosun: Wenn Temperamente nicht zu bremsen sind … 22 25 E. Schaffrath: Was ist Schulreife? 25 A. Ziemke: Sollen Kinder auswendig lernen? 28 30 H. Erasmus: Sind Waldorfschüler interessierter als Schüler von Regelschulen? 30 33 34 K. Joost: Generationenübergreifend 34 36 S. Hesse: Der steinerne Horizont. 50 Jahre Mauer 36 B. Kettel: Chemie kann auch schmecken 39 43 M. Maurer: »O Mensch, erkenne Dich« 43 46 N. Göbel: Waldorf boomt in China 46 K. Tevdorashvili: Holzspielzeug statt Flachbildschirm 49 B. Scheffold: »Welcome on Board of the Air Rosado« 52 C. Boettger: Sind Geschäftsführer an Waldorfschulen zufrieden? 56 T. Steen: »Erweckungserlebnis« in Dornach 57 58 J. Holle: Die andere Frau – ein Sommerkrimi 58 61 M. Stettner-Ruff: Nach der Wehrpflicht die Schulpflicht: abschaffen! 61 64 L. Ravagli: Fallende Schleier 64 66 68 72 77 80 98
erziehungskunst Juli / August | 2011 Titelfoto und Fotos Inhalt: Joan Vicent Cantó Roig 03_04_EK07/08_2011:EZK 10.06.2011 14:13 Uhr Seite 3
EDITORIAL 3 Die Temperamente – keine Lehre, eine Kunst
Liebe Leserin, lieber Leser, Elternabend, fünfte Klasse. Man begrüßt sich, setzt sich, redet noch ein bisschen. Einzelne Blicke wan- dern zur Wand, an der 35 Bilder aus der Heimatkunde hängen. Manche kräftig in den Farben und im Farbauftrag, manche blaß und zart, ja karg und spärlich. Bei manchen ist kein Fitzelchen an weißer Flä- che mehr zu sehen, bei anderen ist viel »Luft« dazwischen. Heutiges Thema: Temperamente. Der Klas- senlehrer führt in die vier klassischen Temperamente ein – erstes bestätigendes Kopfnicken der Eltern begleitet seine Ausführungen. Dann wird es konkret. Wir gehen die Bilder durch, es werden die dazu- gehörigen Kinder genannt. Es scheint auf der Hand zu liegen: der kräftige und dynamische Malduktus des einen Bildes zeigt den Choleriker, der akribisch-genaue und systematisch gestaltete den Melancho- liker, der ruhige und gleichmäßige den Phlegmatiker und der vielgestaltige und farbenfrohe den Sanguniker. Diese Eindeutigkeit zeigt sich aber nur bei den wenigsten Bildern. Bei dem weit größeren Teil ist eine klare Zuordnung nicht auf Anhieb auszumachen. Der Lehrer, ein alter Hase, scheint sich seiner Sache sicher. Die Eltern geraten dagegen ins Schwim- men: Was, mein Kind soll ein Sanguniker sein? Der Lehrer erläutert: Es gibt Mischtypen, bei denen das eine oder andere Temperament nicht auf Anhieb ins Auge springt. Goethe und Schiller hätten das in ihrer »Temperamentenrose« schön dargestellt. Da wird der Choleriker zum Abenteurer, wenn er einen Schuss Sanguinik hat, der Melancholiker mit phlegmatischen Einschlag zum Philosophen ... Es zeigt sich schnell, dass man genau hinschauen muss, dass nicht immer ein Temperament vorherrscht, und nicht zuletzt, dass die Dominanz eines Temperaments alters-, ja sogar situationsabhängig wechseln kann. Was so einfach und schlicht anfing, wird zunehmend kompliziert. Der Lehrer macht deutlich, dass ein schematisches Vorgehen nicht weiterführt, sondern in jedem Kind die Temperamente individuell gemischt sind. Es sei eine Kunst, keine Lehre, die Temperamentsmischungen in ihrer lebendigen Dynamik und Differenziertheit zu erkennen. Die künstlerische Methode sei die angemessenste, um sich von diesen »Farben der Seele« ein Bild machen zu können. Das klingt einleuchtend. Heute ist die sogenannte Temperamentenlehre Rudolf Steiners in die erziehungswissenschaftliche Diskussion gekommen. Die Frage ist, ob ihre Forschungsmethoden dem Forschungsgegenstand ge- recht werden. Fasst man die Temperamente schematisch auf und untersucht man sie gleichermaßen mit schematischen empirischen Methoden und Begriffen, droht die Gefahr, sich den erziehungskünst- lerischen Blick zu verstellen. Ohne lebensnahe Beobachtungen, qualitative, biographische und phäno- menologische »Sättigung« bleiben diese Zahlen allerdings leeres Stroh. ‹›
Aus der Redaktion grüßt
Mathias Maurer
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»Also gibt es keine zusammen- gesetzten Temperamente ...,
sondern es sind in allem deren nur vier, und jedes derselben einfach, und man weiß nicht,
was aus dem Menschen gemacht werden soll, der sich ein gemischtes zueignet.«
Immanuel Kant, 1798
Fotos: Die vier Temperamente, legendär dargestellt von Frieder Nögge (1955 – 2001) als Natsch, Nogele, Nicks und Nack. 05_06_07_08_09_10_11_12_13_EK07-08_2011:EZK 10.06.2011 14:31 Uhr Seite 5
THEMA KINDER, LEHRER, TEMPERAMENTE 5 Warum Rechtsanwälte und Frisöre sich für die Temperamente interessieren
Im Gespräch mit Helmut Eller
Die Temperamente – wissenschaftlich bezweifelt und doch lebenspraktisch von hohem Nutzen. Im Gespräch mit dem Waldorf- pädagogen Helmut Eller über seine unkonventionellen Wege, den Menschen die Temperamente näher zu bringen.
Erziehungskunst | Herr Eller, warum meinen Friseusen verbessern. Sie lässt sich auch mit Erfolg auf die Arbeit von und Friseure in Japan, dass ihnen die Temperamente be- Richtern und Rechtsanwälten anwenden. Bei der Vereini- ruflich weiterhelfen? gung deutscher Mediatoren in Hamburg habe ich einen Helmut Eller | Die Einladung, vor einer Gruppe von etwa Vortrag gehalten. Dieser erste Vortrag bei Kaffee und 60 jungen Friseuren und Friseusen in Tokio über die Tem- Kuchen wurde zunächst amüsiert aufgenommen. Doch die peramente zu sprechen, verdankte ich Eltern der im Wer- Mediatoren erkannten schnell, dass sich mit Hilfe der den begriffenen Waldorfschule im Westen der Stadt. Temperamente Konflikte besser verstehen und leichter Diesen war in meinen Seminaren über die Grundlagen der lösen lassen. Waldorfpädagogik wohl klar geworden, dass diese Kennt- Es folgte ein zweiter Vortrag, vor noch mehr Teilnehmern nisse nicht nur in der Schule und häuslichen Erziehung, auf der Generalversammlung der Mediatoren. Die Anwe- sondern auch im beruflichen Leben wichtig sein können. senden hörten gespannt zu. Sie konnten mit diesen Er- Die Friseure und Friseusen, lauter junge Leute, waren je- kenntnissen und Methoden unmittelbar etwas anfangen. denfalls begeistert, als sie erkannten, dass das Tempera- Mir wurde im Nachhinein davon berichtet, dass die Me- ment des Sanguinikers sich für ihren Beruf besonders diatoren immer wieder »geübt« hätten, den anderen und eignet. Gilt es doch, mit einem Kunden, der vor einem im sich selbst nach seinen auffallenden Temperamentsanla- Stuhl sitzt, über das zu reden, was ihn interessiert. Da ist gen zu bestimmen. Dabei wurde anscheinend viel gelacht. schnelles Interesse angesagt! Schon nach kurzer Zeit Inzwischen arbeiten die Mediatoren mit den Tempera- kommt ein neuer, will auch plaudern, aber über ganz an- menten, ohne diese »Lehre« – als Schablone zu betrach- dere Dinge. Sich rasch umstellen zu können, sich für kurze ten. Denn jeder Mensch trägt alle vier Temperamente in Zeit für alles Mögliche zu interessieren und dabei höflich, sich. Einige auffallende Eigenschaften kann man relativ freundlich zu sein, auch wenn einem selbst vielleicht nicht schnell finden, aber es dauert länger, unter Umständen danach ist: Das sind Eigenschaften, die das sanguinische sehr lange, bis man auch die verborgenen Seiten entdeckt. Temperament mitbringt. Sie gehören aber auch dazu. Die Haarkünstler empfanden es als eine große Hilfe zu er- Die Zusammenarbeit mit den Rechtsanwälten setzte sich fahren, wie sie sich selbst, ihre Mitarbeiter und Kunden fort und stieß auf immer regeres Interesse, so dass bei besser verstehen und auf ihre Eigenarten eingehen kön- meinen Vorträgen auch Richter und Mandanten einge- nen, wenn sie ihr Temperament kennen. laden waren und die Zuhörer zum Teil stehen mussten. Man vernahm mit Staunen, dass in den Waldorfschulen EK | Ist das nicht ein bisschen viel Aufwand für eine so auf die Temperamente der Kinder geachtet wird und dass schlichte Dienstleistung wie das Haare schneiden? Rudolf Steiner den Lehrern Wege gezeigt hat, wie sich HE | Es zeigt eine Möglichkeit, die Arbeit mit Menschen zu diese im Unterricht nutzen: Die Kinder werden den ›
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6 THEMA KINDER, LEHRER, TEMPERAMENTE
Temperamente im Friseursalon: Tokioter Hair- dresser profitieren davon für ihre Kundschaft.
› Temperamenten entsprechend zusammenge- und dass man lernen kann, mit den einzelnen Eigen- setzt. Durch eine vierfach gefärbte künstleri- schaften geschickter umzugehen. Ratschläge, die den Um- sche Erzählweise können die Lehrer dazu gang mit dem cholerischen Temperament betreffen, beitragen, dass die Kinder lernen, ihr Tempe- wurden wohl bei allen Vorträgen und Seminaren als das rament zu beherrschen, statt von ihrem Tem- Interessanteste empfunden. Es hilft zu wissen, dass so perament beherrscht zu werden. In gewisser mancher zornig gewordene Mensch, der Kraftausdrücke Weise waren meine Vorträge eine Einführung in in die Gegend schleudert, vielleicht sogar etwas zerstört, die Waldorfpädagogik. und der nachher kein Bewusstsein davon hat, ein Opfer seines cholerischen Temperaments geworden ist. Auch die- EK | Irgendwie landeten Sie dann bei den Biochemikern: ser Vortrag zog weitere nach sich. untersuchen die jetzt die Temperamente der Bakterien? Schließlich landete ich bei Bio-Chemikern: Der Vorsit- HE | Möglicherweise. Aber erst noch etwas zu den zende dieses Vereins hörte meinen Vortrag im Kranken- Hausfrauen! Nach den Vorträgen in den Kanzleien haus Berlin-Havelhöhe, als er dort Patient war, und lud brachte eine ältere Dame ihr soeben entdecktes Inte- mich ein. Die praktische Anwendbarkeit des Themas habe resse an diesem Thema zum Ausdruck und lud mich ihn überzeugt, meinte er. Ihm seien ständig neue Lichter zu einem Vortrag in ihrem »Hausfrauen-Bund« ein. aufgegangen, und das wünsche er auch all den Menschen Anfangs klapperten noch die Kaffeetassen, doch seiner Vereinigung. langsam wurde es ganz still. Die Damen schienen zu bemerken, dass sie die Menschen, mit denen EK | Ihr »Einsatzgebiet« sind klassischerweise Waldorf- sie zu tun haben, auf einmal besser verstehen. lehrer-, Kindergarten- oder heilpädagogische Seminare im Da wird manche erkannt haben, warum ihre Le- In- und Ausland. Doch werden sie auch von Pflegefach- benspartner und sie selbst an ihrem jeweiligen schulen, Krankenhäusern und therapeutischen Einrich- Temperament kaum etwas verändern konnten, tungen eingeladen. Wo liegen deren Fragen?
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THEMA KINDER, LEHRER, TEMPERAMENTE 7
Helmut Eller
Die vier Temperamente
Anregungen für die Pädagogik HE | In den erwähnten Einrichtungen hat man die Er- fahrung gemacht, dass die jungen Menschen, die mit Betreuten oder Kranken zu tun haben, dringend Menschen- kenntnis benötigen. Lernen sie die Temperamente verste- hen, so lernen sie das Allgemein-Menschliche kennen. Verlag Freies Geistesleben Jeder Mensch aber färbt seine Temperamente mit seiner www.geistesleben.com individuellen Persönlichkeit ein, so dass nicht ein einziger Helmut Eller Die vier Temperamente Mensch wie der andere ist. Die Temperamente kann man Anregungen für die Pädagogik verhältnismäßig schnell verstehen, man kann sich schon 250 Seiten, kartoniert | € 18,50 (D) ISBN 978-3-7725-1644-3 in wenigen Kursstunden die wesentlichen Grundlagen er- arbeiten und dann bedarf es der steten weiteren Übung. Im Krankenhaus Havelhöhe in Berlin beginnt die Kran- Die Temperamente im Unterricht kenpfleger-Ausbildung mit meinem Vortrag, und dann ar- beitet eine Therapeutin mit den Auszubildenden, wie man Von den vierTemperamenten des Menschen – dem praktisch damit am Krankenbett umgeht. Nach meinem cholerischen, sanguinischen, melancholischen und Vortrag im Hamburger Carus-Institut wurde auch dort die phlegmatischenTemperament – spricht man schon seit Therapeuten-Fortbildung ergänzt. der Antike; Rudolf Steiner griff diese Betrachtungsweise 1919 bei der Gründung der erstenWaldorfschule auf EK | Die Temperamentenlehre Rudolf Steiners wird von und gab wertvolle Hinweise für den Unterricht im den Erziehungswissenschaften als obsolet erachtet. Warum Hinblick auf die verschiedenenTemperamentsfärbungen ist sie es Ihrer Ansicht nach nicht? des Kindes. Helmut Eller führt hier anschaulich und HE | Man muss sich die Mühe machen und die Tempera- umfassend in dieseThematik ein. Durch charakteristi- mente »sehen« lernen. Wenn ich irgendwo über die sche Schilderungen schärft er den Blick für einzelne Temperamente spreche, erlebe ich, dass die Menschen Temperamentszüge und vermittelt einVerständnis für anfangen, die entsprechenden Eigenschaften an sich die verschiedenen seelischen Dispositionen. selbst, ihren Kindern oder Mitmenschen wahrzunehmen. Es gehen ihnen die Augen auf. Das Thema ist in Misskre- «Kunst kommt von Können, Erziehungskunst von erzie- dit geraten, da man sich gegen Schablonen sträubt – und hen können. Dieses Buch trägt ganz wesentlich dazu das mit Recht. Man spricht zum Beispiel von einem bei, Kinder gerecht zu erziehen, und ist ein wunderbarer Choleriker. Damit kann nur jemand gemeint sein, der Begleiter für all diejenigen, die jungen Menschen in der verhältnismäßig viel von diesem Temperament hat. Alle Schule, auf demWeg ins Erwachsenenleben zur Seite anderen Temperamente sind ja auch vorhanden und stehen. Es hilft, ihre Eigenarten, ihreTemperamente zu müssen entdeckt werden. Es gibt niemanden, der in erkennen und diese Erkenntnis umzusetzen – zum jeder Situation gleich reagiert. Wenn man im Alltag vom › Wohle des Kindes.» Erziehungkunst
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8 THEMA KINDER, LEHRER, TEMPERAMENTE
»Jeder Mensch aber färbt seine Temperamente mit seiner individuellen Persönlichkeit ein,
› Choleriker oder Phlegmatiker spricht, dann blendet man lebte durchweg großes Interesse, spürte auch immer den die Vielschichtigkeit des Themas aus. Willen und die Begeisterung, die Dinge in die Tat umzu- setzen. Mit besonderer Freude habe ich erfahren, dass ei- EK | Sie hatten 25 Jahre lang einen Lehrauftrag an der Uni- nige Kollegen in der Christophorus-Schule in Hamburg versität Hamburg zur Waldorfpädagogik. Wie reagierten mit ihren seelenpflege-bedürftigen Kindern Tempera- die Studenten und Professoren auf die Temperamente? ments-Erziehung betreiben! Von den vielen Möglichkeiten, HE | Das Thema war in jedem der 50 Semester ein be- auf die Temperamente einzugehen, finde ich zwei beson- liebtes Referatsthema. Es wurde meistens von vier Teil- ders wirksam und einfach zu handhaben. Zum einen das nehmern sehr lebendig vorgetragen und oftmals durch ein Setzen der Kinder im Unterricht, das sich auf die Disziplin Stegreifspiel, Demonstration oder Zeichnungen sichtbar der Klasse auswirkt; zum anderen die vielfältigen Arten, gemacht. Es fand große Anerkennung und wurde nicht ein Geschichten zu erzählen oder Dinge zu beschreiben, die einziges Mal in Frage gestellt. jedes Temperament bei den Kindern auf seine Kosten kom- Als ich mein Konzept gegen Ende meiner Tätigkeit in einer men lässt. ‹› Konferenz verschiedenen Professoren vorstellte, sprach ich auch über die Temperamente. Man hörte interessiert zu, kannte wohl die Beurteilung ehemaliger Studenten aus meinen Kursen und äußerte sich wohlwollend.
Literatur: EK | Wird die »Temperamentenlehre» an den Waldorf- Helmut Eller: Die vier Temperamente. Anregungen für die Pädagogik, schulen überhaupt angewandt? Stuttgart 2007 HE | Das hoffe ich sehr! Ich durfte dieses Thema jahrelang Peter Lipps: Temperamente und Pädagogik. Eine Darstellung für den in mehreren unserer Lehrer-Seminare vortragen und er- Unterricht an der Waldorfschule, Stuttgart 1998
sodass nicht ein einziger Mensch wie der andere ist.«
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THEMA KINDER, LEHRER, TEMPERAMENTE 9
Im Haus der Temperamente
von Ulrich Maiwald
»Das Haus der Temperamente« von Nestroy bietet besondere Möglichkeiten der Selbsterfahrung. Die Schüler lernen an diesem Stück: Jede Einseitigkeit macht unfrei. Und sie fragen sich: Welches Temperament habe ich, welches hat mein Mitschüler oder gar mein Klassenlehrer?
Das Schauspiel bietet den Schülern wie kaum ein anderes sondern versteht es, alle Temperamentslagen zu bedienen. Fach die Möglichkeit, das eigene Seelenleben in seiner Viel- Die Einseitigkeit der Familien macht sie leicht manipulier- falt zu erkunden. Dabei können sie wesentliche Einsichten bar und er treibt sein boshaftes Spiel mit ihnen. Hierin be- über sich und ihr Verhältnis zu ihren Mitmenschen gewin- steht eine Kernaussage des Stückes: Jede Einseitigkeit macht nen. Die innere seelische Haltung spiegelt sich in Körper- uns unfrei und berechenbar. haltung, Geste und sprachlichem Ausdruck. Durch die Die Schüler konnten sich bei diesem Stück intensiv mit dem Begegnung mit den verschiedenen Rollen erweitert und dif- körperlichen und seelischen Ausdruck der einzelnen Tem- ferenziert sich der persönliche Ausdruck des Schülers. peramentslagen beschäftigen und so ihre Kenntnisse aus Die Rückmeldungen des Regisseurs und der Mitspieler der entsprechenden Deutschepoche, in der die vier Tempe- geben dem Spieler Aufschluss über seine Selbstwirksamkeit ramente und ihr Bezug zu verschiedenen Schreibstilen er- im dramatischen Spiel und seine innere und äußere Hal- arbeitet wurden, praktisch umsetzen. Dabei haben sie ganz tung wird bestätigt oder korrigiert. Dieser Prozess gibt dem selbstverständlich die eigene Temperamentslage mit den Heranwachsenden Orientierung bei seiner Selbstfindung. verschiedenen Rollenfiguren verglichen. Welches Tempera- Auf der Bühne bleibt Inneres nicht verborgen, alles wird an- ment habe ich selbst oder welches Temperament erkenne schaubar und dadurch auch bewältigbar. Der Bühnenraum ich bei meinen Mitschülern oder meinem Klassenlehrer? wird zum Seelenraum. Wer passt am besten zu dieser oder jener Rolle? Welche Fä- higkeiten muss ein Spieler mitbringen oder dazulernen, um Einseitigkeit macht uns unfrei eine bestimmte Rolle spielen zu können? Diese Fragen In unserem Klassenspielprojekt »Das Haus der Tempera- haben die Schüler bewegt, bevor sie zu einer endgültigen mente« von Johann Nepomuk Nestroy bot sich eine beson- Rollenentscheidung kamen. dere Möglichkeit der Selbsterfahrung für die Schüler der 8. Klasse. In dem Stück geht es um vier Familien, die gemein- Wahl der Rollen sam in einem Haus leben und dabei jeweils eine Tempera- Die meisten Rollen in diesem Stück wurden von den Schü- mentslage verkörpern. Die Geschichten der einzelnen lern selbst ausgewählt. Dabei sollten sie zunächst drei Familien sind nahezu identisch, alle haben einen Sohn und Wunschrollen in der Abstufung von »unbedingt« über eine Tochter im heiratsfähigen Alter und alle sind zunächst »gerne« bis »spiele ich auch« aufschreiben. Dieser Schritt ohne den Segen der Väter in die Söhne oder Töchter einer ist pädagogisch wichtig, weil er den Schüler dazu ermutigt, der anderen Familien verliebt. Diese verwickelte Grundsi- einerseits eine Entscheidung für eine Rolle zu treffen, an- tuation nutzt der gewiefte Frisör Schlankerl für seine eige- dererseits von vornherein einer zu starken Fixierung auf nen Ziele aus. Er verkörpert nicht ein Temperament, eine bestimmte Figur zu entraten. ›
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10 THEMA KINDER, LEHRER, TEMPERAMENTE
› Interessant bei der Rollenwahl war, dass einige Schüler Rol- Übungen, bei denen es um die charakteristische Darstellung len wählten, die ihrer eigenen Temperamentslage entspra- von Tieren und ihren Körperschwerpunkten geht, hilfreiche chen und damit also eine gewisse Verstärkung ihrer eigenen Erfahrungen zur Gestaltung der Rollen machen. Charakterzüge forcierten. Andere Schüler hingegen such- In dieser Beschäftigung lernten die Schüler sowohl das ten sich eine Temperamentslage, die ihnen eher fern stand Typische der Temperamentslagen kennen als auch ihre und stellten sich so die Aufgabe, das andere Temperament Differenzierung in den verschiedenen Spielsituationen und zu erforschen und ihre eigene Ausdrucksfähigkeit zu er- Handlungsumständen. Es wurde der Blick für Wesentliches weitern. geschärft und für die Vielfältigkeit der Erscheinungsformen der Temperamente geweitet. Dadurch gelangten die Schüler Wie trauert ein Choleriker? über die unmittelbare und praktische Auseinandersetzung In der praktischen Arbeit versuchten wir nun, die Beson- von einer zunächst plakativen zu einer zunehmend diffe- derheiten der einzelnen Temperamente zu charakterisieren renzierten Vorstellung von den Temperamenten und deren und durch eine gezielte Körperarbeit zum Ausdruck zu brin- Verkörperung auf der Bühne. Wesentlich war dabei, dass gen. Wie ist die Körperhaltung eines Cholerikers? Wie geht es nicht bei der Vorstellung von den Temperamenten ein Sanguiniker? Welche Dynamik in der Bewegung hat ein blieb, sondern dass diese eine seelisch-leibliche Erfahrung Phlegmatiker? Welche Gestik und Mimik zeichnet einen wurden. Melancholiker aus? Wie spiegeln sich die vier Tempera- Dass die Schüler durch die intensive künstlerische Beschäf- mente in ihrer spezifischen Sprechweise, in Sprechtempo, tigung mit den vier Temperamenten zu Fragen angeregt Sprechrhythmus, Stimmmodulation und Artikulation? wurden, welches Temperament wohl bei ihnen selbst die Auch die Frage nach der seelischen Äußerung von Grund- größte Dominanz hätte, ist leicht nachvollziehbar. Dass aber gefühlen wie Freude, Zorn, Trauer, Sehnsucht, Liebe und Ei- auch die Zuschauer sich durch das Stück angeregt fühlten, fersucht stellte sich bei der Verkörperung der Rollen. Wie über ihr eigenes temperamentbedingtes Verhalten in der drückt sich bei einem Melancholiker Wut aus? Wie trauert Familie oder Partnerschaft ins Gespräch zu kommen, wurde ein Choleriker? Hier lassen sich durch improvisatorische erst durch die Rückmeldungen der Gäste deutlich und war
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THEMA KINDER, LEHRER, TEMPERAMENTE 11
Fotos: Charlotte Fischer
überraschend und erfreulich zugleich. Offensichtlich haben wählten, fand ein die Temperamente viel mit uns zu tun und lassen uns nicht in der Tendenz entge- unberührt, wenn wir sie in Reinform vor das Auge gestellt gengesetzter Prozess statt. Sie bekommen. erweiterten ihren Horizont und lernten neue Möglichkeiten des Ausdrucks und des Erlebens kennen. Sie entdeckten Verkörperung der Temperamente wird zur Katharsis dabei neue Seiten an sich selbst und der Rolle. Auch hier Als Fazit der Arbeit an dem Stück lassen sich zwei Tenden- fand eine Erweiterung der Grenzen statt. zen wahrnehmen. Die Schüler, die ihre eigene Tempera- Für beide Gruppen stellte sich die Aufgabe, die gewonnene mentslage in der Rolle suchten und wiederfanden, Erfahrung künstlerisch zu verarbeiten und für das Publikum arbeiteten sich in gewisser Hinsicht an ihr ab und erfuhren anschaubar zu gestalten. Die subjektive Erfahrung wurde durch das bis ins Extrem führende Ausleben zunächst eine verobjektiviert. Art Erschöpfung oder ein inneres Ermüden und schließlich Insgesamt hat sich für alle an dem Stück Beteiligten durch als Reaktion darauf einen Ausgleich, eine Form der Har- die Mittel des Spiels und die Freude am schauspielerischen monisierung. So konnte der cholerische Darsteller die phy- Ausdruck ein großes Feld der Selbst- und Welterfahrung sische Anstrengung bis in die Stimme hinein erleben und eröffnet. Die Schüler haben unterschiedliche Perspektiven aus dieser Erfahrung heraus die Notwendigkeit der Mäßi- eingenommen und dadurch ihren Erlebnis- und Erfah- gung und Differenzierung im Ausdruck erkennen. Oder die rungshorizont erweitert. Ist das nicht letztlich das, was wir Schwermut und Tiefsinnigkeit des Melancholikers, der jedem Heranwachsenden wünschen und mit der theater- durch ständiges Zweifeln in seiner Dynamik gebremst wird. pädagogischen Arbeit an dem Achtklassspiel erreichen Durch die Einseitigkeit der Darstellung und das damit ver- wollen? ‹› bundene extreme Ausleben der eigenen Gemütslage fand
nicht nur eine Grenz- und Selbsterfahrung, sondern auch Zum Autor: Ulrich Maiwald ist Sprech- und Theaterpädagoge an eine Art Ausgleich statt. der Freien Waldorfschule Haan-Gruiten und Dozent für Sprech- Bei den Schülern, die ein ihnen fremdes Temperament und Theaterpädagogik an der Alanus-Hochschule Alfter/Bonn
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12 THEMA KINDER, LEHRER, TEMPERAMENTE Temperamente im Klassenzimmer – ein Praxisbericht
von Martin Schnabel
Wie man im täglichen Unterricht mit den Temperamenten umgeht, schildert der langjährige Klassenlehrer Martin Schnabel von der Michael Bauer Schule in Stuttgart So. Welches Mäntelchen ziehe ich denn heute an? Das um die Gefühlswelt zu harmonisieren (Morgenspruch, cholerische? Oder doch besser das melancholische? Braucht gleichmäßiger Ablauf), oder ich lege den Schwerpunkt auf die Klasse das phlegmatische oder eher das sanguinische? das bewusste Wiederholen (Abbrechen des Gedichtes, mehr- Morgens, vor dem Unterricht, spürt man, so wie die Kran- mals einige Zeilen üben, einzeln sprechen lassen). Dabei kenschwester den Puls fühlt, den »Stimmungspuls« der lässt sich wunderbar mit den Temperamenten spielen. Jedes Klasse: eine gelangweilte, müde, träge Ruhe? Ein Durchei- darf zur Geltung kommen, und man spürt, was an diesem nanderschwatzen, in dem fast nur geredet, und kaum zu- Tag überwiegen muss. gehört wird? Prügeln sich die Jungs schon vor dem ersten Dann beginnt der eigentliche Hauptunterricht: Dreigeteilt! Läuten? Dann sagt man sich als Lehrer: Nein, doch lieber Es ist jetzt gegen halb Neun. Zuerst kommt der Denkteil, jenes Mäntelchen anziehen. mit der Wiederholung und den neuen Inhalten der Epoche. Für mich dauert der rhythmische Teil nicht so lange, bis die Gegen Neun folgt der Teil, der den Willen anspricht, viel- Kinder müde und ausgelaugt sind, er dient nur zum Sam- leicht das Schreiben im Epochenheft. In der letzten Viertel- meln, Konzentrieren und dazu, dass die Klasse »ein Ganzes stunde liegt der Schwerpunkt auf dem Fühlen. Übrigens wird«. Entweder überwiegt das unbewusste Wiederholen, muss das nicht durch eine Geschichte geschehen. Es könnte auch im Rechnen die Frage angesprochen werden: Wie viele Primzahlen gibt es denn und werden die Abstände zwischen ihnen wohl enger oder weiter, je größer die Zahlen werden? »Die Schüler sitzen nach Tempera- Idealerweise gilt diese Gliederung ja auch in den Fachunter- menten geordnet in Gruppen, die richten, selbst im Werken, wo aber natürlich der Schwer- punkt beim Tun liegt. natürlich verschieden groß sind. Die Temperamente? Mal vergesse ich sie völlig, mal klappt die intensive Zuwendung zu einer Gruppe instinktiv. Die Deshalb frage ich mich auch immer, Schüler sitzen nach Temperamenten geordnet in Gruppen, wie man denn in halbierten oder die natürlich verschieden groß sind. Deshalb frage ich mich auch immer, wie man denn in halbierten oder kleineren kleineren Klassen überhaupt genügend Klassen überhaupt genügend Choleriker finden will, um Choleriker finden will, um diese diese gruppenweise zu setzen. Aber das nur nebenbei … Bei der Geschichte ist es am einfachsten, mit den Tempera- gruppenweise zu menten zu »spielen«. Auch beim »Stoffteil« geht es gut, und wenn man die Unruhe bei den Sanguinikern bemerkt, wird setzen.« man sich ihnen besonders zuwenden und die Geschwin- digkeit so anziehen, dass sie bald wieder dabei sind. Oder
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THEMA KINDER, LEHRER, TEMPERAMENTE 13
Fotos: Charlotte Fischer
man wendet sich mit gründlichen, genauen Schilderungen Ich denke »von sich aus« ist das Zauberwort. Nicht dadurch, vorwiegend den Phlegmatikern zu. Dann darf man auch dass der Lehrer seine Schüler dressiert, wirkt er grundle- mal poltern oder schimpfen. Brauchen die Choleriker ein gend und dauerhaft. Vielmehr lautet die Frage: Wie schaffe Gewitter, so versuche ich, nicht über sie, sondern über ir- ich eine Umgebung, in der der junge Mensch sich selber än- gendetwas loszudonnern, das mit dem Unterrichtsinhalt zu- dert? Dabei muss der Lehrer zunächst mehr aushalten. Bis sammenhängt, vielleicht über die Ungerechtigkeit der Welt, die beiden Choleriker sich aneinander abgeschliffen haben, die es einem Kolumbus so schwer macht, sein Lebensziel kann mehr als ein Jahr vergehen. Und wenn zwei Sangui- zu verfolgen. Dabei ist darauf zu achten, nicht unmotiviert niker, die anfangs beste Freunde waren, sich nur streiten herumzubrüllen, sondern dass sich die Lautstärke langsam und anzicken und mich fragen, wie lange sie noch neben- steigert, sonst werden womöglich die dahinter sitzenden einander sitzen müssen, ist die ruhige, freundliche Antwort Melancholiker zu sehr verschreckt. meist: »Bis Ihr es könnt!« Zwei Störer auseinanderzusetzen Für mich ist die Beschäftigung mit den Temperamenten das bringt etwas, aber nur kurzfristig. Und wenn am Ende des Mittel, um mit großen Klassen, unkonzentrierten Kindern Jahres zwei, die sich dauernd abgelenkt haben, zu mir kom- und der Gefahr der Langeweile besser fertig zu werden! men und mich bitten, im kommenden Schuljahr einen an- deren Nachbarn zu bekommen, weil sie mehr aufpassen Das Zauberwort heißt »von sich aus« wollen und neben so einem Schwätzer sich einfach nicht konzentrieren können, dann freue ich mich, so ganz still Wie wirken die Gruppen aufeinander? Ein Kind erzählte und heimlich für mich … ‹› einmal zu Hause: »Du, Vater, ... Pause ... der, der neben mir sitzt ... Pause … der ist ... Pause ... sooo langweilig!« Hier hat ein Phlegmatiker den anderen offensichtlich wahrgenom- Zum Schluss eine Warnung: men ... Sie wirken aufeinander, aber das braucht viel Zeit Die Temperamente der Kinder sollen nicht und nicht alle paar Monate eine andere Sitzordnung. Dann werden die Phlegmatiker durch ihre Umgebung von sich umgewandelt werden, es gilt »die Stärken zu aus aktiver. stärken« und »die Schwächen zu schwächen«!
2011 | Juli / August erziehungskunst 14_15_16_17_18_EK07/08_2011:EZK 10.06.2011 14:52 Uhr Seite 14
14 THEMA KINDER, LEHRER, TEMPERAMENTE
Die Temperamente sind die Farben der Seele
von Elke Leipold
Bei kleineren Kindern sind »Temperamentdiagnosen« mit Vorsicht zu genießen. Die Kindergärtnerin Elke Leipold begründet dies anhand von Beispielen.
Denke ich an Temperamente im Kindergartenalter, dann aber auch schon der dritte Kindergarten, seine Eltern waren sehe ich Farben, die immer wieder in anderem Licht er- mehr als einmal umgezogen. scheinen, höre Töne, die immer wieder in anderen Tonar- Auch Anton kam schweren Schrittes in die Gruppe. Er hielt ten erklingen. Eine weit verbreitete Ansicht ist: Bei Kindern die Hand des Vaters fest, der Mund schmollte etwas, nichts im Kindergartenalter ist das sanguinische Temperament war so richtig gut. Erst wenn der Vater den Raum verlassen vorherrschend ... Das ist sicher nicht von der Hand zu wei- hatte, bewegte sich Anton in Richtung Tisch, legte sich etwas sen, doch wir sollten offen sein für wechselnde Konfigura- drüber und betrachtete ein Bild, das ein Kind malte: »Da tionen und wechselnde Farben. Jedes Kind muss individuell fehlt aber ein Fenster.« Ein phlegmatisch-melancholisches angeschaut werden. Festlegungen sind – zumindest im Kin- Kind. Oder? Könnte man meinen, wenn man Anton nicht in dergartenalter – pädagogisch kontraproduktiv. Sie verbauen heftigem Zorn erlebt hat, weil Mutter oder Vater ihm beim den Blick auf das ganze Wesen des Kindergartenkindes, sind Abholen nicht die Schuhe binden wollten … Temperamentsäußerungen doch oft auch situationsgebun- Felix den und dementsprechend vielfältig. Felix David und Anton Ein anderer Gedanke kommt mir bei Felix. Tief melancho- David und Anton lisch, mit stark cholerischen Zügen. Aber warum? Felix Da sind zum Beispiel David und Anton. David war bei an- wächst zweisprachig auf, lebt mit seiner alleinerziehenden deren Müttern nicht sehr beliebt, musste er doch für alles Mutter, die all ihre Nöte mit ihm teilt, zusammen. Sie erklärt herhalten, was ein Kind angestellt haben könnte. Manchmal alles intellektuell, mit drohenden Untertönen, und – damit hatte er ja auch, aber nicht immer. Jeden Morgen kam er mit nicht genug –, sieht er Filme, die seinen Intellekt und vor kräftigem Schritt in den Kindergarten, schnell hatte der am allem sein Seelchen überfordern, ja verletzen. Wenn ihm nächsten Stehende einen freundschaftlichen – was auch etwas nicht gefällt, andere Kinder nicht tun, was er »be- sonst – Rempler bekommen. Das Stuhlbein bekam etwas fiehlt«, oder wenn er meint, sich über mangelnde Auf- ab, ein Malblatt fiel herunter und schließlich landete er bei merksamkeit beklagen zu müssen, schreit er hysterisch und mir mit festem Händedruck. Cholerisch? Er konnte schnell ist kaum zu beruhigen. In ihrer Not wendet die Erzieherin und leicht springen, entdeckte tausend Dinge auf einmal, zu guter Letzt dann an, was pädagogisch als nicht sinnvoll war blitzschnell im Erkennen von Situationen. Sanguinisch? erachtet wird: die ›Unmethode‹ »wenn – dann«: »Lieber Hatte er keine Lust, kuschelte er in der Bauecke, war zu Felix, wenn Du jetzt nicht aufhören kannst zu schreien, keinem Spiel zu bewegen, kroch hervor, wenn es etwas dann ruf ich Deine Mutter an, damit sie dich abholt.« Felix zu Essen gab. Phlegmatisch? Melancholisch? Schließlich ist still und verwandelt sich in ein herziges Lämmchen. Ein konnte er auch anhaltend herzzerreißend traurig sein, wenn melancholiches Temperament? Mag sein, dass es in der er einsah, dass er etwas angestellt hatte ... Für David war es Disposition gegeben ist. Sicher ist, dass ihn seine Lebens-
erziehungskunst Juli / August | 2011 14_15_16_17_18_EK07/08_2011:EZK 10.06.2011 14:52 Uhr Seite 15
THEMA KINDER, LEHRER, TEMPERAMENTE 15
Foto: Charlotte Fischer
umstände auf unglückliche Art und Weise beeinflussen. sind ja ohnehin im Fokus der Pädagogen. Sie gelten stärker Vielleicht möchte sich aus dem Urgrund seines Wesens als ADS/ADHS gefährdet, so mancher ist kaum zu bändi- etwas ganz anderes entwickeln, vielleicht auch ein anderes gen und der Ruf nach einer geschlechtsspezifischen Erzie- Temperament. Das gilt es herauszufinden, um die Zacken, hung ertönt immer wieder. die aus dem kleinen Buben schießen, zu runden und zu So kann das gesehen werden. Aber meine Beobachtung sagt mildern. Vielleicht hat er dann eine Chance, sich seinem mir, dass jedes Kind, ganz gleich ob Junge oder Mädchen, Wesen gemäß zu entwickeln, auch im Hinblick auf sein eine individuelle Antwort fordert. Das heißt, ich muss weder Temperament. vor einer scheinbar kraftstrotzenden Ruppigkeit zurückwei- chen, noch mich nur den »so süßen« Mädchen zuwenden. Warum, so frage ich mich, fielen mir als erstes drei Buben Beobachte ich die Individualität ohne vorschnelles Urteilen, ein? Liegt es vielleicht daran, dass Mädchen ihre »Hüllen« sagt sie mir, wie das jeweilige Kind angesprochen sein will anders drapieren? Es mag sein, dass Buben im Kindergar- und in welcher Temperamentslage es gerade steckt, was tenalter unverblümter ihr Gemüt zu erkennen geben. Sie durchaus auch situationsbedingt sein kann. ›
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16 THEMA KINDER, LEHRER, TEMPERAMENTE
› Die Temperamente malen im Kindergartenalter ein Bild aus Melancholischen, Lena eine Neigung zum Cholerischen verschiedenen Farben. Mal ist es die eine, mal die andere, zeigt. Lotte kommt nicht so leicht ins Tun, im kleinen Köpf- die den Ton angibt. Und dass Sanguinik ein kindliches chen denkt es sichtbar und erst wenn sie zu einem Ergebnis Temperament par exellence ist, nehmen wir dankbar als gekommen ist, folgt allmählich die Tat. Anders bei Lena. Sie gegeben. stolpert schon mal über einen aufgebauten Turm, greift zum Susanne nächstliegenden Spielangebot und schafft bereitwillig mit. Susanne Deutlich wird der Unterschied auch bei den gemalten Bil- Susanne ist ein Mädchen, das nicht immer gekämmt und dern. Lotte malt genau das, was sie sich vorstellt, während ordentlich gekleidet in den Kindergarten kommt. Es ist eines Lena zumeist eben malt, weil es gerade dran ist und sie ist von mehreren Geschwistern und stolz darauf, sich selbst an- wesentlich schneller fertig. »Ich glaube, du hast ein ›Husch- zukleiden. Sie betritt wie selbstverständlich den Raum, geht husch-Bild‹ gemalt«, sage ich. Ein strahlendes »Ja« bestätigt entweder zum Frühstückstisch, je nachdem, was dieser dies. Nun ja, es könnte auch gesagt werden: Lotte ist eher gerade – vielleicht auch zum Naschen – bietet. Mal ist ihr der intellektuelle Typ und Lenas Kraft kommt mehr aus dem Gesichtsausdruck etwas verhangen und sie lümmelt sich an Herzen. den Tisch, vielleicht nimmt sie sich noch Malutensilien und es dauert eine ganze Weile, bis sie sich ins allgemeine Spiel- geschehen einfindet. Ein anderes Mal kommt sie strahlend Rudolf Steiner lässt uns wissen, dass der Bildekräfteleib herein, erzählt, was am Morgen zu Hause schon alles pas- (Lebens- oder Ätherleib) der Träger der Temperamente ist, siert ist, weiß, was sie spielen will und ihre warme Energie aber auch der Gewohnheiten, Neigungen, des Gewissens, strömt in den Raum. Von der Statur her würde man sie eher des Gedächtnisses und des Charakters. Mit dem Freiwerden als phlegmatisch einordnen – solange man sie noch nicht dieses »Leibes« nach dem Zahnwechsel wird auch manche beim Reigen erlebt hat. Sie hüpft leichtfüßig und geschickt, »Farbe« deutlicher, wenn sie auch noch lange nicht als end- freut sich an der Bewegung und erlebt alle Polaritäten ge- gültig angesehen werden kann. Das bedeutet aber, dass auch nussvoll mit. Sozial gesehen ist sie ein ausgleichendes, ver- Neigungen, Gewohnheiten sowie Lebensumstände und mittelndes Kind, das jeder Gruppe gut tut. Man kann Emotionen das Bild einer Individualität malen und zu be- gespannt sein, welches Temperament einmal die Führung rücksichtigen sind, wollen Erzieher, Lehrer und Eltern übernehmen wird. dieser Individualität gerecht werden. Lena Mit Stefan Lebers Worten möchte ich schließen: »Das In- Lotte und Lena strument der Seele und des Geistes hat wenigstens eine Lotte und Lena sind Zwillinge, beide zumeist recht freund- kammermusikalische Besetzung, um die Melodie des Le- lich und fröhlich. Es gibt Tage, an denen jeder Beobachter bens zu intonieren und zum Klingen zu bringen. Ein sagen würde, das sind zwei sanguinische Kinder. Doch über Instrument ist dabei das Temperament« (Aus: »Die Men- einen längeren Zeitraum angeschaut, wird deutlich, dass schenkunde der Waldorfpädagogik«). – Ein kleines Stück Lotte, die um ein paar Minuten »ältere«, eine Neigung zum dieser Melodie erklingt im Kindergarten. ‹› Lotte und erziehungskunst Juli / August | 2011 14_15_16_17_18_EK07/08_2011:EZK 10.06.2011 14:52 Uhr Seite 17
THEMA KINDER, LEHRER, TEMPERAMENTE 17 Temperamente ad acta?
Kritiker meinen, die »Temperamentenlehre« Rudolf Steiners sei vorwissenschaftlich und empirisch nicht haltbar.
von Mathias Maurer
Die sogenannte Temperamentenlehre Rudolf Steiners wird zwar an den Waldorflehrerseminaren und -hochschulen gelehrt, findet aber im Unterricht der Waldorfschulen immer weniger praktische Anwendung. Insofern kann man es begrüßen, dass Erziehungs- wissenschaftler diese »spätantike hippokratische« Persönlichkeitstypologie kritisch unter die Lupe nehmen und Waldorflehrern wieder ins Stammbuch schreiben, was eigentlich alles zu ihren pädagogischen Essentials gehört. Zwei erziehungswissenschaftliche Positionen, wie man mit einer als »empirisch unhaltbar« geltenden Lehre umgehen kann, seien im Folgenden kurz vorgestellt.
Einer der kritischen Erziehungswissenschaftler ist Heiner mente und ihre hier angedeuteten Tiefendimensionen Ullrich, Professor an der Universität Mainz. Er interpretiert sicherlich nicht. Es sei denn, man erweitert oder spezifiziert die Ausführungen Steiners zu den Temperamenten als »psy- seinen Begriff der Empirie. Pädagogen, die sich über ihre chophysische Totaltypologie«, von der sich »die moderne Wahrnehmungen an Kindern austauschen, kommen in Wissenschaft« schon längst verabschiedet habe, weil sie einen »intersubjektiven Falsifikationsprozess«, auch wenn nur »empirisch-quantitative Erkenntnisformen« akzeptiere. sie dabei ihr Subjekt nicht ausklammern. Was wäre auch eine Ullrich hat im Prinzip Recht: Es ist ein Ding der Unmög- Pädagogik ohne Subjekte? lichkeit, Waldorfpädagogik und Anthroposophie empirisch- Die Experten der erfahrungsgesättigten Kinderbetrachtung quantitativ »abzubilden«. Wie will man einen bio-physischen, können am besten darüber urteilen, ob sich die vier klassi- seelisch-geistigen, altersspezifischen, schließlich karmisch, schen Temperamente durch die beiden Merkmale »Erreg- das heißt durch mehrere Erdenleben hindurch bedingten, barkeit durch äußere Eindrücke« und »Stärke der seelischen komplexen Wirkungszusammenhang in seiner Entwick- Empfindungen« (Steiner) ausreichend bestimmen lassen lungsdynamik quantifizieren? Vorsicht gegenüber psycho- (siehe Grafik auf Seite 18). logischen Stereotypen scheint geboten. Bedauerlich ist, dass die jahrelangen Erfahrungen von Klas- Die Frage ist nur, ob Steiner überhaupt eine »psychophysi- senlehrern auf diesem Gebiet nicht stärker kommuniziert sche Totaltypologie« beabsichtigt hat und nicht etwas ganz werden. Liegt hier ein Forschungs- oder nur ein Kommuni- anderes. Im Original klingt es schlichter und auf Anhieb ein- kationsdefizit vor? Die »Materie« ist jedenfalls zu heikel leuchtend: »Das Temperament steht mitten drin zwischen und zu komplex, um schnelle Temperaments-Diagnosen im dem, was wir uns individuell mitbringen, und dem, was aus Elternabendformat anhand angepinnter Kinderbilder durch- der Vererbungslinie stammt. Indem die beiden Strömungen zuführen. sich vereinigen, färbt die eine Strömung die andere ... So wie Für den emeritierten Göttinger Universitätsprofessor Chris- sich die blaue und die gelbe Farbe etwa vereinigen in dem tian Rittelmeyer, auch er ein Erziehungswissenschaftler, sind Grün ...« die Temperamente nicht Schnee von gestern. Vielmehr un- Doch was ist die Melange vorhergehender Erdenleben eines ternimmt er den Versuch, ihnen empirisch auf die Spur zu Individuums und der genetische Anteil der Vorväter? Man kommen, ohne sie mit Implikationen zu überfrachten. Er kann den Gegenbeweis nicht erbringen, solange man den hält, im Gegensatz zu Ullrich, die Temperamente für durch- geistigen Durchblick nicht hat. Mit »quantitativ-empiri- aus vereinbar mit der modernen Persönlichkeitspsychologie. schen« Methoden gelingt das in Bezug auf die Tempera- Die Art, wie Steiner die Temperamente behandelt, stellt sie ›
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Wenig Erregbarkeit, viel Stärke beim melancholischen Temperament
Stärke und Stärke und Erregbarkeit Erregbarkeit am geringsten am größten beim beim phlegmatischen cholerischen Temperament Temperament
Der Augentröster Viel Erregbarkeit, wenig Stärke für Naturliebhaber beim sanguinischen Temperament
WALA Euphrasia Schema der Temperamente › nach seiner Auffassung nicht in die schlichte Tradition einer Augentropfen »vorwissenschaftlichen« antiken Säftelehre, sondern in den konsequent natürlich Kontext einer völlig neuen Anthropologie. Mit Steiners Hin- bei Reizungen und Rötungen weisen auf die pädagogische Bedeutung der Temperamente sei uns kein Schematismus an die Hand gegeben, sondern gut verträglich »Charakterisierungen bestimmter Verhaltensstile« (nicht auch für Kontaktlinsenträger Verhaltensmerkmale!), die sich mischen und – in einseitiger und Kinder geeignet Ausprägung – pathologische Züge annehmen können (beim Choleriker »Tobsucht« zum Beispiel). Rittelmeyers schlichte und klare Frage lautet, ob es Überein- stimmungen mit der empirisch-psychologischen Tempera- mente-Forschung gibt. Und in der Tat: Er wird bei einigen »modernen« Wissenschaftlern fündig, die gar nicht weit von Steiner liegen – zum Beispiel hinsichtlich der »Vererbung« oder der biographischen Komponenten – wenn auch insge- samt der Begriff »Temperament« Unschärfen aufweise. Rittelmeyer wendet das sogenannte Drei-Faktoren-Modell – das EAS-Modell von Arnold Buss und Robert Plomin – auf die klassischen Temperamente an und setzt die Tempera- mentseigenschaften Emotionalität, Aktivität und Soziabilität in Beziehung zu ihnen. Rittelmeyer hält als ein erstes Ergebnis fest, dass die Temperamente methodisch sauber entwickelbar und mit den Begriffen der neueren Persön- lichkeitspsychologie kompatibel sind. Die Akte »Tempera- mente« kann also auch aus Sicht der Persönlichkeits- psychologie nochmals geöffnet werden. Weitere Forschun- gen wären wünschenswert. ‹›
Literatur: Erziehungskunst, Heft 7/8-2004 und Heft 11-1991 Heiner Ullrich: Rudolf Steiner. Leben und Lehre, München 2011 Christian Rittelmeyer: »Die Temperamente in der Waldorfpädago- gik. Ein Modell zur Überprüfung ihrer Wissenschaftlichkeit«, in: Harm Paschen (Hrsg.): Erziehungswissenschaftliche Zugänge zur Waldorfpädagogik, Wiesbaden 2010 WALA Euphrasia Augentropfen: Anwendungsgebiete gemäß der anthroposophischen Menschen- und Naturerkenntnis. Dazu gehört: katarrhalische Bindehautentzündung. Zu Risiken und Nebenwirkungen erziehungskunst Juli / August | 2011 lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker. Rezeptfrei in Ihrer Apotheke. WALA Heilmittel GmbH, 73085 Bad Boll. www.walaarzneimittel.de 19_20_21_22_23_24_25_26_27_EK07-08_2011:EZK 10.06.2011 15:29 Uhr Seite 19
THEMA KINDER, LEHRER, TEMPERAMENTE 19
Mit Temperament in den Urlaub
von Lorenzo Ravagli
Temperamente gibt es nicht, Temperamente sind olle Kamellen, so tönt es von manchen Lehrkanzeln. Temperamente gibt es, sagen wir trotzig. Nur welches ist welches? Die Auflösung – falls Sie es nicht selbst herausfinden – finden Sie auf Seite 98 dieses Heftes.
Unterwegs nach Krk
»Hey, schau mal, da ist dieses Kristallmuseum, da wollt ich immer schon mal hin!« Petra auf dem Beifahrersitz legt die Stirn in Falten. »Hält uns das nicht zu lange auf? Die Kin- Grüße vom kroatischen MEHR! der sind schon ganz quengelig.« »Iwo, das schaffen wir schon.« Runter von der Autobahn, rauf auf die Bundes- straße, rein in die Ausstellung, die Kinder, Inge (6) und Berti (11) und die Ehefrau im Schlepptau. Nach rund fünf Minuten: »Irgendwie hab ich Hunger, ich glaube, wir sollten was essen. Hier muss es irgendwo ein chinesisches Restaurant geben.« »Ein chinesisches Restau- rant«, wirft die Ehefrau schon etwas mürrisch ein, »hier im tiefsten Österreich? Außerdem haben wir Proviant im Auto. Und für die Kinder ist ein Restaurant immer eine Strapaze ...« »Iwo, das schaffen wir schon. Ich brauche was Am Strand Richtiges zum Essen, nicht nur eine Stulle, immerhin fahre ich schon seit acht Stunden Auto.« Raus aus der Ausstel- »Berta, magst Du nicht mal schwimmen gehen?« Die Wellen lung, rein ins Dorf, die Hauptstraße entlang. Aber man sieht plätschern ans Ufer, verlockend, das Wasser ist tiefblau, die auf den ersten Blick, dass es kein chinesisches Restaurant Bucht ist einsam, die Felsen gelb, die Pinien bizarr, am gibt. Ingilein frägt ständig: »Wann sind wir endlich in Himmel keine Wolke. Irgendwo tuckert ein Motorboot, aber Krikri?«, Berti lässt sich von der Mutter ziehen. Vor dem ansonsten: paradiesisch. Nach einer halben Stunde frägt der »Ochsenwirt« ein abrupter Stopp. »Ich glaube, ich will doch Ehemann: »Berta, magst Du nicht mal schwimmen gehen?« lieber einen Kaiserschmarrn ...«. »Hör mal Stefan«, raunzt Berta liegt auf ihrem Strandtuch unter dem Sonnenschirm die Ehefrau, »wir sollten jetzt wirklich langsam weiterfahren, und reagiert nicht. Sie hat den Sand zu einer Kuhle geformt, die Vermieter warten bestimmt schon und wir haben bereits in der ihr Körper lagert und für ihren Kopf hat sie eine acht Stunden Verspätung, weil Du unbedingt auf dem Chiem- kunstvolle Wölbung aufgeschichtet. In Reichweite steht die see Bötchen fahren und dann noch Pony reiten und die Tropf- Kühlbox mit Mineralwasser, Obst und jeder Menge Eis. In steinhöhle besuchen wolltest und ...« »Na und, da erleben wir einer zweiten Box befinden sich die Utensilien für einen wenigstens was – das ist doch Urlaub, oder?« erfolgreichen Strandurlaub, die gar nicht alle aufgezählt ›
2011 | Juli / August erziehungskunst 19_20_21_22_23_24_25_26_27_EK07-08_2011:EZK 14.06.2011 13:01 Uhr Seite 20
20 THEMA KINDER, LEHRER, TEMPERAMENTE
Das Wetter ist schön, die Früchte sind süß und es weht ein lauer Wind.
lassen konnte! Der Ärger fängt ja schon auf der Autobahn an. Die fahren wie die Wilden! Was, das waren Deutsche? Nein, das waren keine Deutschen, Deutsche fahren anstän- dig! Immer mit quietschenden Reifen und diese unzwei- werden können. Der Ehemann deutigen Zeichen mit dem Mittelfinger! Was, ich bin ständig vertieft sich wieder in seinen SPIEGEL. Nachdem er die end- links gefahren? Man darf doch sowieso nicht mehr als 120 losen, nichtssagenden Artikel des Politikteils durch hat, wirft fahren, da ist es doch egal, ob man rechts oder links fährt! er einen erneuten Blick auf Berta. Sie scheint zu dösen. Er Aber immer müssen sie drängeln. Was hat das mit ›dolce stupst sie mit dem Fuß an. »Berta, magst Du nicht mal far niente‹ zu tun? Die wollen sich doch nur wichtig ma- schwimmen gehen?« Keine Reaktion. Die Stunden strei- chen, mit ihren Alfa Romeos, diese Möchtegern-Romeos! chen dahin. Er wendet sich dem Feuilleton zu, danach dem Was – mäßigen soll ich mich? Warum soll ich mich mäßi- Wirtschaftsteil, wirft das Magazin weg und stürmt ins Was- gen? Man muss dem Ärger Luft machen, sonst platzt man ser. Prustend und platschend ruft er ziemlich laut: »Berta, irgendwann, oder? Wo gehst Du hin? Aufs Zimmer? Wieso willst Du nicht mal ins Wasser?« Soweit ersichtlich keine denn? Wir wollten doch noch am Strand spazieren gehen! Reaktion. Gegen Abend, der SPIEGEL ist schon ganz zer- Du immer mit Deinen Launen. Jetzt sind wir gerade mal fleddert, der Ehemann war schon etwa fünfzehn Mal im einen Tag hier und der Urlaub stinkt mir schon wieder Wasser und hat die halbe Insel umrundet, regt sich was. dermaßen!« Berta dreht ihren Kopf ein wenig und sagt: »Sag mal Gustav, kannst Du nicht wenigstens in den Ferien ein bisschen ent- spannen?«
Bei Luigi
»Hast Du diesen blasierten Sack gesehen? So was gibt’s nicht. Der hat das horrende Trinkgeld eingesteckt, ohne mit der Wimper zu zucken. Und dabei hat er mich angeschaut, als hätte ich seine Großmutter bestohlen. Und dann besitzt er auch noch die Dreistigkeit, Dir schöne Augen zu machen. Was, das hast Du nicht bemerkt? Ständig dieses ›bella mia‹ Bella Italia! und ›cara mia‹ und mich hat er behandelt, als säße ich gar La dolce vita! nicht am Tisch. Aber das Trinkgeld einstreichen, ohne eine Spur von Dankbarkeit! Diese Italiener! Ich sage Dir – das war das letzte Mal, dass ich in Italien im Urlaub war. Ich ver- stehe gar nicht, wie ich mich schon wieder breitschlagen
erziehungskunst Juli / August | 2011 19_20_21_22_23_24_25_26_27_EK07-08_2011:EZK 10.06.2011 15:29 Uhr Seite 21
MÜNCHEN BEI NACHT Was macht Ihr Geld in erneuerbaren Energien? Sinn. Urlaubsplanung Die GLS Bank wurde 1974 als erste sozial-ökologische »Wo gehen wir denn diesen Sommer in Urlaub, Schatzi?« Universalbank der Welt mit einer klaren Aufgabe gegründet: Geld soll für die Menschen da sein. Deshalb »Lieber Egon, ich kann diesen Sommer nirgends in Urlaub fließt es bei uns ausschließlich in sozial, ökologisch gehen.« »Was, wieso nicht?« »Hast Du Dir schon mal über- und ökonomisch sinnvolle Vorhaben. Als erste Bank legt, was für eine Verschwendung das ist? Eine Verschwen- haben wir dazu transparent gemacht, wo und was wir dung von Zeit, Geld, Luft, Benzin, Energie, Umwelt und finanzieren. vielem mehr? Außerdem, bei all dem Elend in der Welt: Wie könnte ich da ruhig in Urlaub fahren? Wo sollten wir denn Vom Girokonto bis zur Vermögensanlage – informieren auch hin? Mit dem Flugzeug zu fliegen, kommt schon gar Sie sich noch heute über unsere zukunftsweisenden nicht in Frage, bei der skandalösen Ökobilanz des Luftver- Angebote unter www.gls.de kehrs. Und irgend so ein exotisches Urlaubsziel, wo diese po- temkinschen Dörfer für die Touristen aufgebaut werden, während es der Bevölkerung dreckig geht und man die Ein- heimischen nur als Bimbos zu Gesicht bekommt, die das Essen servieren und die Betten machen? Auf dem Rücken des Elends anderer ein paar schöne Tage genießen, nein, das finde ich grausam.« »Aber Schatzi, wir müssen uns doch auch ein bisschen erholen!« »Erholen? Was ist das für eine Erholung, wenn man weiß, dass es der Bevölkerung so schlecht geht, dass sie kaum was zu essen hat, dass sie unterdrückt wird und im Hinterland Bürgerkrieg herrscht?« »Dann gehen wir eben in ein südeuropäisches Land ...« »Tut mir leid, ich kann nicht. Ich kann einfach nicht, wenn ich weiß, wie elend es der Um- welt geht und so und so viele Tierarten am Tag verschwinden und die ganzen Freiflächen zubetoniert werden, damit die Ur- lauber schön am Strand sitzen können und schneller ans Meer kommen. Und wusstest Du, dass in Spanien ganze Heere von rechtlosen Leiharbeitern aus Nordafrika beschäftigt Jetzt Konto mit Sinn eröffnen: werden? Und was die Italiener mit den afrikanischen Flücht- www.gls.de // 0234 - 57 97 332 lingen machen? Oder die Franzosen mit ihren Migranten? Nein, mein Lieber, ich werde dieses Jahr zu Hause bleiben und mein Urlaubsgeld ›Amnesty International‹ spenden oder den ›Ärzten ohne Grenzen‹.« ‹›
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22 THEMA KINDER, LEHRER, TEMPERAMENTE Wenn Temperamente nicht zu bremsen sind …
von Birgit Olayiwola-Olosun
Temperamente können Konflikte verursachen, Lösungen blockieren oder zu Kooperationen führen, die für alle Beteiligten ge- winnbringend sind. Es ist in jedem Fall lohnend, sie zu berücksichtigen, meint die Bonner Mediatorin und Schülermutter Birgit Olayiwola-Olosun.
Temperamente in der Mediationspraxis Die Mediatorin teilt ihm daraufhin mit, sie verstehe, dass es Eine frei erfundene Konfliktsituation: Die Schulleitung einiges gebe, was ihn umtreibe, und es unter der Voraus- möchte mit einem Vater keine öffentliche Auseinander- setzung für ihn auch schwierig sei, Frau S. zuzuhören. setzung über einen schulischen Vorfall. Die Lehrerin hat Damit würdigt sie seine Gefühle. Diese schlichte Anerken- nach Auffassung des Vaters ihre Aufsichtspflicht verletzt; nung ist wesentlich: jede Person ist – mit all ihren Eigenar- ein Mädchen hatte unbeabsichtigt mit einem Stein einen ten – erwünscht. Die Mediatorin macht ihm auch klar, dass Jungen an der Stirn getroffen. Der Vater des Jungen wendet ein fairer Umgang miteinander Grundvoraussetzung für sich daraufhin mit weitreichenden Handlungsaufforderun- eine Mediation sei und diese beinhalte, dass jedem Betei- gen an die Schule. Er lässt keine Diskussion zu, ist aufge- ligten dieselbe Redezeit zugebilligt werde. Dadurch wird an bracht, vertritt seine Meinung lautstark und verteilt seine Vernunft appelliert und seine Redepraxis hinterfragt. verletzende Seitenhiebe. Durch sein cholerisches Tempera- Zu diesem Zeitpunkt wird bereits an den Regeln der Me- ment wirken seine Aufforderungen unangemessen. diation gearbeitet. Der Vater wird gefragt, ob er der Rege- Nachdem schulinterne Versuche, den Konflikt gemeinsam lung gleicher Redezeiten zustimmen kann. Wenn er dies zu lösen, gescheitert sind, einigt man sich, durch eine Me- bejaht, geht es weiter zum nächsten Punkt, wenn nicht, wird diation eine gemeinsame Lösung herbeizuführen. Die die Mediatorin hinterfragen, warum er dieser Regelung Schulleitung lässt sich durch Frau S. vertreten. Sie will der nicht zustimmen kann. Möglicherweise hat er Befürchtun- Sache besonnen und analytisch auf den Grund gehen; sie gen, dass er nicht alles, was ihm zu dem Konflikt »unter den wünscht sich, dass der Streit mit dem Vater ein harmoni- Nägeln brennt« anbringen kann. Aber er kann darauf ver- sches Ende nimmt. Ihre Nachdenklichkeit und Vorsicht wiesen werden, dass Mediation ein strukturiertes Verfahren trägt melancholische Züge. ist, in dem sich alle Schritt für Schritt an den Konflikt annä- hern und die Mediatorin darauf achtet, dass »nichts unter Auch Choleriker und Melancholiker können Konflikte den Tisch fällt«. miteinander lösen Vielleicht sagt er aber auch: »Bei mir ist es so, dass manch- Es wird eine externe Mediatorin beauftragt. Ihre Aufgabe ist mal bestimmte Sachen einfach auf der Stelle ›raus müssen‹, es, als unparteiische Dritte das Verfahren so zu strukturie- sonst fühle ich mich den ganzen Tag schlecht und bringe ren, dass die Konfliktpartner die für beide Seiten beste dann auch nichts mehr zustande.« Die Mediatorin fasst zu- Lösung für ihren Konflikt finden. sammen: »Sie meinen, dass Sie bestimmte Sachen sagen Gleich zu Beginn der ersten Sitzung lässt der Vater die Ver- müssen, damit es Ihnen gut geht, auch wenn Ihre Konflikt- treterin der Schulleitung nicht ausreden. Sobald die Media- partnerin dann weniger Zeit zum Reden hat? Habe ich Sie torin ihr das Wort erteilt, wird sie vom Vater unterbrochen. richtig verstanden?«
erziehungskunst Juli / August | 2011 19_20_21_22_23_24_25_26_27_EK07-08_2011:EZK 10.06.2011 15:29 Uhr Seite 23 Foto: Charlotte Fischer
Mit dieser Reaktion zeigt die Mediatorin, dass ihr daran ge- achten, dass das Gebot der Fairness nicht untergraben wird, legen ist, den Konfliktpartner zu verstehen und dass seine alle Konfliktpartner sich wohl fühlen und das Verfahren als Sicht der Dinge wichtig ist. Indem die Mediatorin das, was solches nicht missbraucht wird, ist Aufgabe der Mediatorin. der Vater sagt, zusammenfasst, entschleunigt sie sein Das anfängliche Verhandeln der Konfliktpartner über die Tempo. Dadurch, dass sie seine Aussage wiederholt, wird er Regeln des Umgangs miteinander öffnet deren Bereitschaft, dazu veranlasst, mit seinem spontan gezeigten Verhalten re- auch später in der Sache mit dem Konfliktpartner an einer flektierend umzugehen und auch darüber nachzudenken, Lösung zu arbeiten. welche Folgen es für die Konfliktpartnerin hat. Durch das Rückfragen wird ihm der Ball wieder zugespielt, er kann er- Wie zügelt man einen Choleriker? neut aktiv werden und antworten. Er könnte zu dem Ergeb- Was passiert, wenn ein Choleriker während der Mediation nis kommen, dass es unfair ist, wenn die Konfliktpartnerin dennoch die Regeln des Verfahrens übertritt, wenn er die weniger Zeit zum Reden hat als er. Konfliktpartnerin unterbricht und ihr ständig ins Wort fällt Auf der anderen Seite ist es auch möglich, dass die Kon- oder sie sogar verbal angreift? fliktpartnerin ihrerseits das Verhalten des Vaters versteht Zunächst wird die Mediatorin ihn an die ausgemachten und Vorschläge liefert, wie damit im Rahmen der Mediation Regeln erinnern. Es kann sein, dass dies nicht ausreicht, um umgegangen werden kann. Wie weit die Konfliktpartner in- eine konstruktive Arbeitsatmosphäre wieder herzustellen. dividuelle Modifikationen der Verfahrensregeln vornehmen, Dies deutet darauf hin, dass einer der Beteiligten seine bleibt ihnen überlassen. Die Eigenverantwortlichkeit der Temperamente und seine Gefühle an einem bestimmten Konfliktpartner in der Mediation ermöglicht dies. Darauf zu Punkt nicht mehr beherrschen kann; zugleich weist diese ›
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24 THEMA KINDER, LEHRER, TEMPERAMENTE
»Jedes Temperament und jede Kombination von Temperamenten erfordert eigene und neue Ansätze. Das Wissen um die Temperamente zu lenken, versucht sie bei der Melancholikerin zu hinter- hilft der Mediatorin, ihre Werkzeuge fragen, ob eine geäußerte Meinung wirklich ihre Einstellung widerspiegelt und was sie fühlt, wenn sie sich mit einer zu sortieren und zu finden. Äußerung oder Haltung des Konfliktpartners konfrontiert sieht. Emotionen liefern oft den Schlüssel für die dahinter ste- Welche sie letztendlich wann an- henden Interessen und Bedürfnisse. Daher ist es wichtig, bei überwiegend introvertierten Temperamenten auch auf wendet, muss sie stets aufs Neue dezent geäußerte Emotionen zu achten. Eine ähnliche Strategie bietet sich daher auch beim phleg- entscheiden, je nach Situation, matischen Temperament an; hier steht eine Förderung der Interessensartikulation im Vordergrund. Dem sanguini- Konflikt und Personen.« schen Temperament begegnet die Mediatorin dagegen ähn- lich wie dem cholerischen Temperament. Jedes Temperament und jede Kombination von Tempera- menten erfordert eigene und neue Ansätze. Das Wissen um › »Blockade« auf den Kern des Konfliktes bei dem jeweils Be- die Temperamente hilft der Mediatorin, ihre Werkzeuge zu teiligten. Die Mediatorin könnte dies wie folgt zum Aus- sortieren und zu finden. Welche sie letztendlich wann an- druck bringen: »Ich habe den Eindruck, dass es Ihnen wendet, muss sie stets aufs Neue entscheiden, je nach Si- immer dann besonders schwer fällt, ihrer Konfliktpartnerin tuation, Konflikt und Personen. Aber vielleicht kommt es ja zuzuhören, wenn wir beim Thema X sind. Liege ich damit gar nicht so weit und die Konfliktpartner schaffen es, ihren richtig?« Konflikt ohne Mediatorin temperamentvoll alleine zu lösen. Wenn die Mediatorin richtig liegt, ist dies ein wunderbarer Dies wird umso eher gelingen, je mehr Wissen über das Einstieg, zu klären, warum das spezielle Thema für den eigene Temperament und das der Konfliktpartner vorhan- Vater so gewichtig ist. Sobald auch das konfliktbeherr- den ist. Die Temperamentslagen der Konfliktpartner liefern schende Thema (es können natürlich auch mehrere sein) wertvolle Hinweise, welche Lösungswerkzeuge wirksam an- der Konfliktpartnerin sichtbar ist, ist die Lösung des Kon- gewendet werden können. ‹› fliktes meist nicht mehr weit.
Wie löst man Melancholikern die Zunge? Zur Autorin: Birgit Olayiwola-Olosun ist Mediatorin und Während beim cholerischen Verhalten eines Konfliktpart- Rechtsanwältin. Sie führt Schulmediationen, Interkulturelle ners die Aufmerksamkeit der Mediatorin darauf gerichtet Konfliktlösungen und Seminare durch. ist, die Energie, den Tatendrang und die stark zum Vor- schein tretende Emotionalität in konstruktive Bahnen Link: www.bolaw.net
erziehungskunst Juli / August | 2011 19_20_21_22_23_24_25_26_27_EK07-08_2011:EZK 10.06.2011 15:29 Uhr Seite 25
Was ist PÄDAGOGISCHE GRUNDLAGEN 25 Was ist Schulreife? von Elke Schaffrath
Der Begriff der Schulreife ist wissenschaftlich nicht eindeutig definiert und wird daher seit einigen Jahren abgelehnt. Man spricht nur noch von »Schulfähigkeit«. Waldorfpädagogen halten dennoch an dem Begriff fest. Elke Schaffrath, Ärztin am Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke, war Kindergarten- und Schulärztin an der Freien Waldorfschule am Kräherwald in Stuttgart. Sie erörtert, was auf der Grundlage der anthroposophischen Menschenkunde unter Schulreife zu verstehen ist.
Voraussetzungen der Schulreife Das merken wir den Kindern in der Regel sofort an. Sie sind Waldorfpädagogen unterscheiden neben dem Ich drei wei- blass, müde, nehmen sich eventuell eine Auszeit durch tere Schichten oder »Wesensglieder« am Menschen, die sich Krankheit. Die eigentliche »Quittung« kommt aber erst in der die geistige Individualität zu eigen macht: den physischen zweiten Lebenshälfte. Es ist anzunehmen, dass wir durch un- Leib, den Lebenskräfteleib und den Seelenleib. Das Indivi- sere Früheinschulungstendenzen wesentlich zur »Burn-Out«- dualisieren dieser drei Wesensschichten ist ein stufenweiser Problematik des mittleren Lebensalters beitragen. Eine Prozess, der durch die drei sogenannten Jahrsiebte verläuft Schwäche im Substanzaufbau der Organe zeigt sich erst unter und eine Grundlage für den Grad der Gesundheit im ganzen den organischen Abbaubedingungen des Alterns. Das Anam- Leben bildet. nesegespräch in der anthroposophischen Medizin fragt diese im Lebenslauf viel früher liegenden Bedingungen bei der Ur- Denkkräfte sind umgewandelte Lebenskräfte sachenerforschung von Volkskrankheiten wie Rheuma und Entscheidend für die »Schulreife« ist, dass ein Teil der Le- Arteriosklerose ab. Die funktionellen Organprozesse werden benskräfte, die im physischen Leib für die Ausgestaltung der von uns in der frühen Kindheit geprägt. Sie zeigen im Alter inneren Organe, für die Ausreifung des Gehirns und der Ner- ihre Schwachstellen. venbahnen, der Verdauungstätigkeit und des Atem- und Zir- Wenn das Kind in Ruhe reifen darf, erzeugen wir einen Über- kulationssystems sorgen, frei wird und als Denkkraft zur schuss an Kraft, der für den Schulstart willkommen ist, und Verfügung steht. Dies geschieht ungefähr zum Zeitpunkt des für vielfältige Lernaufgaben, zum Beispiel das Erlernen eines Zahnwechsels. Die Lebenskräfte haben ihre Aufgabe an den Musikinstrumentes, genutzt werden kann. Organsystemen erfüllt. Im weiteren Leben wachsen und rei- fen die angelegten Grundstrukturen nur noch aus. Der phy- Erst Greifen – dann Begreifen sische Leib muss in Ruhe ausreifen können, weil er die Was müssen wir mit unseren Kindern üben? Grundlage des seelischen und geistigen Lebens des Men- In der Vorschulzeit übt das Kind mit den Kräften des Le- schen ist. bensleibes Fähigkeiten im physischen Körper ein. Als Beispiel besonders gut nachvollziehbar ist die Bewegungsentwicklung Lasst den Kindern Zeit am Muskel. Bis zur Erlangung einer Geschicklichkeit übt das Schicken wir ein Kind zu früh in die Schule, muss es immer Kind unermüdlich den Muskel. Zunächst ist die Kraftsteue- wieder auf Kräfte zurückgreifen, die es für die Ausbildung sei- rung noch grob. Eine Bewegung ist schnell fertig und wird ner physischen Organisation benötigt. Wir betreiben damit mit zu viel Kraft ausgeführt. Der Einzelmuskel kommt schnell Raubbau an den Kräften, die es für den Organaufbau braucht. in die maximale Anspannung. Eine feinfühlige Kraftdosie- ›
2011 | Juli / August erziehungskunst 19_20_21_22_23_24_25_26_27_EK07-08_2011:EZK 10.06.2011 15:30 Uhr Seite 26 Fotos: Charlotte Fischer
› rung muss für jede Muskelgruppe neu geübt werden, ange- Das Vorschulkind springt zunächst schwer und unrhyth- fangen vom Turmbauen bis zum Scherenschneiden entlang misch. Ein Seil selbst zu schwingen und gleichzeitig zu sprin- einer Linie. gen, überfordert es. Aber auch wenn man das große Seil für Diese motorische Schwingungsfähigkeit zeigt sich im Frei- es schwingt, muss man es zunächst für jeden Sprung abho- werden der Kräfte ins Seelische hinein an der Fähigkeit des len. Man muss ihm das Seil buchstäblich vor die Füße legen Mitschwingens mit dem, was die Klasse macht. Vor der Schul- und sich seinem unrhythmischen Springen anpassen. Erst reife kann das Kind einen großen Eigensinn zeigen. Es er- allmählich lernt es, nicht hinunter in die Schwere, sondern scheint wie gefangen in seiner eigenen Vorstellungs- und federnd hinauf ins Leichte zu springen. Dann ist der Weg frei Wunschwelt. Diese Befangenheit löst sich mit zunehmender zum rhythmischen Springen. Das Kind springt vom Boden in motorischer Geschicklichkeit. die Höhe und holt sich beim Absprung Spannkraft für die Feine Kraftdosierung wird zu Feinheit in den Denkbewegun- aufrechte Körperhaltung. Der Schwingende kann jetzt auch gen und Feinfühligkeit im sozialen Kontakt. Ein guter Mus- den Rhythmus vorgeben und variieren. Das Kind kann in- keltonus ergibt eine gut gespannte Saite und damit eine gute nerlich mitschwingen und sich anpassen. Kann es unter dem Aufrichtekraft in der Wirbelsäule. Das ermöglicht Wachheit geschwungenen Seil hindurchlaufen oder in ein vorge- und Freude im Zuhören, Konzentration und Durchhaltekraft. schwungenes Seil hineinspringen, hat es die Prüfung des in- Das Selbstvertrauen der Kinder wird durch ein gutes Darin- nerlichen Mitschwingens bestanden. nenstehen im »Muskelmenschen« grundlegend gestärkt. Durch den schwingungsfähigen Muskeltonus, die gut ge- Vor wenigen Jahrzehnten waren Ball- und Springspiele noch spannte Saite, befreit sich die Seele von allen störenden per- selbstverständliche Beschäftigungen eines Kindes im Freien. sönlichen Befangenheiten in Stimmungen, Wünschen und Diesen Spielraum hat die Erwachsenenwelt den Kindern ge- Träumereien und wendet sich dem Lernen und Schaffen vol- nommen. Deshalb müssen solche Spielräume wieder ange- ler Freude zu. boten werden. Kinder sollten in vielen Variationen Ball spielen: mit dem Gymnastikball, einem Tennisball, einem Die Mitte finden zwischen Überschuss Reissäckchen oder einem Medizinball. und Antriebsarmut Der Muskel reagiert auf das unterschiedliche Gewicht der Das Kind, das den Bewegungsimpuls noch zu wenig be- Bälle. Im wiederholten Tun lernt er, sich im Tonus feiner ein- herrscht, wird dazu neigen, im Bewegungsteil des Unter- zustellen. Jetzt kann man noch die Bewegung und deren Aus- richts über das Ziel hinaus zu schießen, das Ende der gangslage variieren. Wir werfen nach oben über eine Schnur, Bewegung nicht zu finden. Die schwungvoll nachgeahmte nach unten in einen Korb, geradeaus zum Spielpartner. Das Flugbewegung der Vögel aus dem Gedicht wird dann erst alles sind Beispiele für zielmotorisches Üben. durch die Wand gestoppt. Das Wort und der Rhythmus Das Seilspringen rhythmisiert und harmonisiert das Kind bis können die Bewegung noch nicht führen, gliedern und be- in den Atem-Pulsrhythmus hinein. Durch den Sprung vom enden. Jede Bewegung kommt vom Impuls her aus dem Boden nach oben erhält das Fußgewölbe Spannkraft und rich- Stoffwechsel-Gliedmaßenbereich, also von unten, ist von tet sich auf. Der kindliche Plattfuß verschwindet. sich aus eher schnell und überschießend. Der »Kopfpol«
erziehungskunst Juli / August | 2011 19_20_21_22_23_24_25_26_27_EK07-08_2011:EZK 10.06.2011 15:30 Uhr Seite 27
PÄDAGOGISCHE GRUNDLAGEN 27
bringt von oben Ruhe, Überschau und Planung. Das Rhyth- die Medien, Comics, selbst die Bilderbücher aufgenomme- mische System hat die Aufgabe, diese beiden Komponenten nen Bilder sind fertig und fordern die Phantasie des Kindes auszugleichen. nicht heraus. Die innere Bildekraft wird nicht angeregt. Das Kind neigt mit seinen Begabungen immer nur zu Der Tätigkeitsquell der eigenen Phantasie muss immer aktiv einem der beiden Pole. Herrscht der »Gliedmaßenpol« vor, erschlossen werden. Durch Reime und Zungenbrecher kön- dann hat es viel Kraft, die Überschau jedoch reicht nicht nen wir die Kinder in die bildhafte und konturierte Sprache aus. Herrscht der Kopfpol vor, kommt es nicht genügend und in die Bilderwelt der Märchen mitnehmen. ins Tun. Der rhythmische Teil des Hauptunterrichtes hat die Aufgabe, die langsamen und träumenden Kinder zu Welcher König bist Du? – Die Macht der Gedanken beschleunigen und die schnellen zu beruhigen. Dies ge- In der Neujahrszeit spielen die Kindergartenkinder das Drei- lingt aber nur, wenn das Kind in seinem Bewegungsimpuls königsspiel. Die Vorschulkinder dürfen die Könige sein. Sie von der Sprache erreicht wird. werden von den Erziehern in schöne Gewänder gekleidet Beim noch verträumten Kind muss das Bild in der Spra- und gekrönt. Das letzte Kindergartenjahr ist das »Königs- che konkret und stark genug sein, um es ins Tun zu füh- jahr« und die »Krönung« einer der Höhepunkte. Die innere ren. Das überschießend bewegungsfreudige Kind muss Haltung der Erzieher ist bei dieser Tätigkeit das Entschei- dahingegen über die Sprache beruhigt werden. dende. Stellen diese sich innerlich die Frage: »Welcher Eine Rhythmisierung kann auch durch Gehen oder Wandern König bist Du?«, dann ist das Einkleiden für alle sichtbar über längere Strecken erreicht werden. Gerade an der Hand und fühlbar ein von Ehrfurcht geprägtes Zeremoniell. Diese eines Erwachsenen findet das Kind rasch in den geordneten Haltung ist ansteckend. Der Page des Königs und auch Rhythmus hinein. Auch das Singen wirkt sofort zurück auf die anderen Kinder schlüpfen in diese Stimmung. Das die Puls- und Atemfrequenz. »Königskind« wächst über sein augenblickliches Selbst hinaus und man kann eine Ahnung von der Individualität Vorstellungen, die fliegen oder zu fest sind bekommen, die es einmal werden will. Die Kräfte, die den Körper plastisch aufgebaut haben, wer- Immer ist es die verstehende Zuwendung, die dem Kind den mit der Schulreife zu plastischen Bildekräften der Seele. neue Räume eröffnet. Das Kind braucht die Führung, das Auch hier bringen die zukünftigen Schulkinder unter- Vorbild des Erwachsenen, um diese Räume zu betreten. schiedliche Begabungen mit. Das phantasievolle Kind malt Wenn es die äußeren Räume schön in Ordnung hält, ver- farbenfroh und unkonturiert. Ein Kind, das schon sehr kon- hilft ihm das zu einer harmonischen Grundstruktur. kret malt, verändert dagegen die Darstellung und Art seiner Dem Kind sollte unbedingt die Zeit gelassen werden, die Motive kaum. Bei dem einen fliegen die Vorstellungen organische Reifebildung ungestört abzuschließen, damit davon, bei dem anderen sind sie zu fest. dann ein fröhliches, aufgewecktes Kind mit allen ihm zur Ver- Innere Bilder müssen im Seelischen vom Kind selbst her- fügung stehenden Kräften den Schulstart beginnen kann, das vorgebracht werden. Dies ist ein aktiver Vorgang, der in un- eine gute Grundlage für die Gesundheit in der zweiten serer Zeit von der äußeren Bilderflut bedroht wird. Die über Lebenshälfte besitzt. ‹›
2011 | Juli / August erziehungskunst 28_29_30_31_32_33_EK07-08_2011:EZK 14.06.2011 13:03 Uhr Seite 28
28 PÄDAGOGISCHE GRUNDLAGEN
Sollen Kinder auswendig lernen?
von Axel Ziemke
Studien belegen, dass der schulische Erfolg nicht vom Intelligenzquotienten, sondern vom Wissen und Begriffskenntnissen ab- hängt. Dabei spielt nicht nur die innere Vernetzung, sondern das sogenannte episodische Gedächtnis eine Rolle.
Müssen Kinder wissen, wann der Westfälische Frieden ge- »schulischer Erfolg« denn unbedingt das letzte Kriterium schlossen wurde, was eine Sekante ist, wie die Hauptstädte zur Bewertung erfolgreicher Bildung sein muss. Doch rei- der europäischen Staaten heißen oder zu welchem Tier- hen sich diese Studien in viele andere ein, die zu ähnlichen stamm der Octopus gehört? Die Antwort auf diese Frage Ergebnissen kommen: Wissen scheint wichtiger zu sein als hängt davon ab, wem man sie stellt. Schülerinnen und Schü- Intelligenz. ler werden sie – besonders mit zunehmendem Alter – über- wiegend verneinen (auch wenn manche von ihnen nur nicht Wissen zieht Wissen an zugeben wollen, dass auch Auswendiglernen Spaß machen kann). Aber auch Lehrerinnen und Lehrer vertreten fast Woran mag das liegen? Die Ausbildung von Intelligenz hat, durchweg die Annahme, dass es viel mehr darauf ankommt, wie Zwillingsstudien zeigen, einen nicht unerheblichen erb- die Intelligenz zu entwickeln, um die Zusammenhänge der lichen Anteil: Die Intelligenzquotienten (genetisch identi- einzelnen Fachgebiete zu verstehen. Und selbst Eltern neh- scher) eineiiger Zwillinge liegen weit enger beieinander men die Auskunft, dass ihr intelligenter Sprössling viel als jene (genetisch verschiedener) zweieiiger Zwillinge. Den- mehr könnte, wenn er nur wollte, wesentlich gelassener hin noch lässt sich Intelligenz zweifelsohne schulen. Allerdings als die Mitteilung, dass er an seine intellektuellen Grenzen ist der so zu gewinnende Zuwachs begrenzt. Die Aneignung gelangt sei. Interessanterweise wird die Antwort vieler Lern- von Wissen hingegen weist geradezu einen Schneeball- psychologen anders ausfallen. Die Annahme, dass es mehr Effekt auf. Wissen zieht Wissen an. Je mehr ein Mensch auf Intelligenz als auf »angelerntes« Wissen ankäme, klingt weiß, desto mehr interessiert er sich für neues Wissen, das plausibel, lässt sich aber empirisch nicht bestätigen. mit dem bereits Gewussten in Beziehung steht, desto besser So hat zum Beispiel die Arbeitsgruppe des französischen merkt er es sich auch. Während Fortschritte in der Entwick- Psychologen Alain Lieury die schulische Entwicklung einer lung der Intelligenz also nur langsam zu schulischen Erfol- großen Anzahl von Schülerinnen und Schülern in einer gen führen, reißt ein einmal angestoßener Wissenszuwachs Langzeitstudie über mehrere Jahre verfolgt. In der achten das schulische Leistungsniveau unaufhaltsam mit sich. und neunten Klasse testeten sie einerseits die Intelligenz- Natürlich ist auch hier Wissen nicht gleich Wissen. Zu- quotienten der Jugendlichen und andererseits ihre Kennt- nächst resultiert aus dem Gesagten, dass Wissen »vernetzt« nis unterrichtsbezogener Fachausdrücke. Auf Grund dieser sein muss, um Interesse zu wecken und gemerkt werden Resultate prognostizierten sie die Abschlussleistungen. Das zu können. Diese Vernetzung wird wiederum durch Intelli- Ergebnis am Ende der Studie: Die Vorhersagen aufgrund genz gefördert. Allerdings ist dieses »begriffliche« Wissen, der Begriffskenntnisse erlaubte eine wesentlich zuverlässige das wir in unserem »lexikalischen Gedächtnis« behalten, Vorhersage des schulischen Erfolges als der Intelligenz- nur ein Aspekt. Wahrscheinlich noch wichtiger ist unser quotient. Man mag an diese Studie die Frage stellen, ob »episodisches Gedächtnis«, das diesem begrifflichen Wis-
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Wirksam lernen, Menschen stärken, Welt gestalten - die Möglichkeiten der Erlebnispädagogik
Tagung in Stuttgart 7.10.2011-9.10.2011 Vorträge: Henning Köhler Seelenkundliche Grundlagen der Erlebnispädagogik.
Prof. Dr. Renate Zimmer Lernen braucht Bewegung - und die Erfahrung der eigenen Wirksamkeit! Foto: Wolfgang Schmidt sen eine über seine inneren Vernetzungen hinaus gehende Bedeutung verleiht, Prof. Hans-Jochen Wagner indem es die Begriffe mit Erlebnissen, Bildern, Gefühlen und Geschichten ver- Die Botschaft der Berge Erziehung zwischen Höhen knüpft. Erst durch diese Verknüpfung wird Wissen im Prozess des Vergessens als und Tiefen. Erlebnispädagogik auf steilen Wegen und in unsicherem (pädagogischen) Gelände. wesentlich erkannt und somit auch erinnert. Lernen muss also vor allem »multi- episodisch« sein, wie es Alain Lieury nennt. Wenn Lernpsychologen die eingangs Dr. Andreas Weber Spielend Mensch werden. Über die Sehnsucht der gestellte Frage mit »Ja« beantworten, ist dies also keineswegs ein Plädoyer für das ge- Kinder nach Natur, Freiheit und schöpferischer danken- und gefühllose Auswendiglernen altpreußischer Prägung – aber vielleicht Lebendigkeit. für nicht wenige Aspekte der Waldorfpädagogik: vom Erzählteil in den unteren Klassen bis zum phänomenologischen Unterricht in der Oberstufe. ‹› Workshops: Zirkus, Alltagskunst, Baumklettern, Zum Autor: Dr. Axel Ziemke ist Oberstufenlehrer für Biologie, Chemie, Philosophie, Heldenreise, Clown, Jugendrituale, Schauspiel und Informatik an der Rudolf-Steiner-Schule Remscheid. Gruppenspiele und noch viele andere.
»Je mehr ein Mensch weiß, desto mehr interessiert Informationen und Anmeldung unter: er sich für neues Wissen, das mit dem bereits www.aventerra.de Gewussten in Beziehung steht, desto besser merkt er es sich auch.«
2011 | Juli / August erziehungskunst www.aventerra.de JOGP!BWFOUFSSBEF t 5FM in Kooperation 28_29_30_31_32_33_EK07-08_2011:EZK 10.06.2011 15:43 Uhr Seite 30
30 AUS DER FORSCHUNG Sind Waldorfschüler interessierter als Schüler von Regelschulen?
von Harald Erasmus
Empirische Studien? Zumeist ein Fremdwort in der wal- Dabei sind empirische Studien gar nicht so schwierig. Sie dorfpädagogischen Forschungslandschaft. Schließlich ist können interessante Details ans Licht bringen und Denk- Menschenbildung nicht in Zahlen abbildbar. Aus diesem anstöße für die Weiterentwicklung unserer Pädagogik (guten) Grund werden Notenzeugnisse abgelehnt, um das liefern. Vor den Ergebnissen braucht sich die Waldorfschule Schulkind nicht sklavisch bestimmten Kategorien zu un- nicht zu fürchten; als klassische Reformschule hat sie terwerfen. Ärgerlich nur, dass von PISA bis IGLU die schließlich viele Entwicklungen, die in der modernen Staatsschulen eine empirische Studie nach der anderen Didaktik eingefordert werden, längst vorweggenommen. heranfahren, um die Wirksamkeit von schulischen Bereits bewährte und standardisierte Fragebögen stehen Reformen aller Art zu bestätigen oder einzufordern. Das zu vielen interessanten Forschungsfeldern zur Verfügung. Nichtvorhandensein empirischer Studien im Waldorf- Etwas schwieriger gestaltet sich bei einer Befragung die schulbereich kann daher schnell den Eindruck erwecken, Aufgabe, eine genügend große Anzahl an Rückläufen zu Waldorfschulen hätten etwas zu verbergen oder wollten erhalten, die statistisch für eine repräsentative Erhebung sich notwendigen Erneuerungen verschließen. reichen. Im vorliegenden Fall wurden 2100 Schülerinnen und Schüler an hessischen Waldorf- und Regelschulen befragt. Die Stichprobe erfasste alle Jahrgangsstufen ab Klasse 5 und bei den staatlichen Regelschulen alle Schul- formen, um Verzerrungen zu vermeiden. Die Auswertung der Ergebnisse ist natürlich etwas mühsam und nur mit
Foto: Charlotte Fischer Hilfe gängiger Auswertungsprogramme wie »SPSS« zu be- werkstelligen.
Wie steht es mit dem Weltinteresse?
Ausgangspunkt der Befragung war das, was in Waldorfzu- sammenhängen als das »Weltinteresse« bezeichnet wird und von dem wir den Anspruch haben, dass es an der Wal- dorfschule in besonderen Maß gepflegt und erweckt wird. Eine Interessensstudie durchzuführen erscheint auch leich- ter, als die Befragten dazu zu bringen, Kenntnisse und Fähigkeiten offenzulegen; solch eine Kompetenzstudie hat zudem den Nachteil, dass man schnell in eine Leistungs- diskussion gerät – wie es im Falle von PISA geschehen ist – und eben andere Aspekte der Menschenbildung vernachläs- sigt. Die Frage nach dem Weltinteresse hingegen erscheint
erziehungskunst Juli / August | 2011 28_29_30_31_32_33_EK07-08_2011:EZK 10.06.2011 15:43 Uhr Seite 31
AUS DER FORSCHUNG 31
esse inter
WeltinteresseWelt
da unverfänglicher und ist doch, was eine pädagogische und Einzel-Regionen finden sich überwiegend gleiche Binsenwahrheit darstellt, Voraussetzung für den Lerner- Spitzenreiter und Schlusslichter. Allgemein ist das Inter- folg. esse an eher sozialgeographischen Themen bei den Wal- In kaum einem anderen Fach wird das Weltinteresse so dorfschülern höher platziert als bei den Regelschülern. direkt angesprochen wie im Fach Geographie. Obwohl Dies stimmt mit der oben erwähnten Zielsetzung der man das Weltinteresse mit dem geographischen Interesse Waldorfschulen überein, das Weltinteresse und das Inter- nicht hundertprozentig gleichsetzen kann, so ergibt sich esse an den Lebensverhältnissen der Mitmenschen zu stär- doch eine sehr große Überschneidungsmenge. Ein Aspekt ken. Nachdenklich sollte es jedoch die Waldorfschulen der inneren Begründung des Fachs Geographie in der machen, dass die Umweltthemen keinen so großen An- Waldorfschule ist die Weltverbundenheit, die aus dem klang finden – obwohl diese Thematik doch sowohl im Weltinteresse erwachsen kann. So hat der Geographieun- Waldorflehrplan als auch im Schulalltag (von der Gestal- terricht an der Waldorfschule nicht nur die Aufgabe, tung der Schulanlage bis zur Mittagsverpflegung) immer geographisches Faktenwissen zu vermitteln, sondern päd- wieder in das Bewusstsein der Schüler gerückt wird. Kann agogisch gesehen dem jungen Menschen »Erdenfestig- hier eine Übersättigung vermutet werden? keit« zu geben – dies jedoch nicht im egoistischen Sinn Im Bereich »Arbeitsweisen« ist das Interessenprofil bei der Lebensbehauptung, sondern im altruistischen Sinn beiden Schülergruppen grundsätzlich sehr ähnlich; auf- eines offenen Weltinteresses. Dazu sagte Rudolf Steiner in fallend ist das geringere Interesse der Waldorfschüler am seinem Vortrag »Menschenerkenntnis und Unterrichtsge- Item »Schulbücher« – die Methode, Schulbücher in Form staltung«: »Ein Mensch, mit dem wir offen Geographie der »Epochenhefte« selbst anzufertigen, scheint also, allen treiben, steht liebevoller seinen Nebenmenschen gegen- Unkenrufen zum Trotz, Akzeptanz bei den Schülern zu über als ein solcher, der nicht das Daneben im Raum er- finden, so dass das Interesse an vorgegebenen Büchern ge- lernt. Er lernt das Danebenstehen neben den anderen ringer ist. Menschen, er berücksichtigt die anderen. Diese Dinge Die vorliegende Studie ist bereits zehn Jahre alt, doch wurden gehen stark in die moralische Bildung hinüber, und das ihre Ergebnisse erst jetzt einem größeren Fachpublikum Zurückdrängen der Geographie bedeutet nichts als eine zugänglich gemacht. ‹› Aversion gegen die Nächstenliebe …« Um die Ergebnisse der empirischen Studie zusammenzu- fassen, kann zunächst einmal festgestellt werden, dass das geographische Gesamtinteresse sowie das Interesse an Literatur: H. Erasmus, G. Obermaier: »Sind Waldorfschüler interessierter geographischen Themen und Regionen bei den Waldorf- als Schüler von Regelschulen? Eine empirische Untersuchung schülern bei beinahe allen Subskalen und Items höher liegt der Schülerinteressen am Beispiel Hessen.« In: I. Hemmer, als das Interesse bei den Regelschülern. Das Interessen- M. Hemmer (Hrsg.): Schülerinteressen an Themen, Regionen und profil beider Schülergruppen ist jedoch gleich bis sehr ähn- Arbeitsweisen des Geographieunterrichts. Geographiedidaktische lich: Bei den geographischen Themenbereichen, Themen Forschungen, Bd. 46, Weingarten 2010
2011 | Juli / August erziehungskunst E28_29_30_31_32_33_EK07-08_2011:EZK 10.06.2011 15:43 Uhr Seite 32
Waldorfpädagogik heute www.geistesleben.com
Waldorfkindergarten heute. Eine Einführung. Waldorfschule heute. Eine Einführung. Hrsg. von Marie-Luise Compani und Peter Lang. Herausgegeben von Peter Loebell. Mit Beiträgen von M.-L. Compani, E. Göbel, Cl. Grah- Mit Beiträgen von K.-M. Dietz, M. Glöckler,W.M. Götte, Wittich, F.Jaffke, M. Kassner, B. Krohmer, P.Lang, E. Hübner, J. Kiersch, E.-M. Kranich, St. Leber, Chr. Lindenberg, Cl. McKeen,A. Neider,A. Prange und J.Walter. P.Loebell,W.Riethmüller, Chr. Rittelmeyer und A. Suchantke. 272 Seiten, zzgl. 32 Seiten farb. Bildteil, gebunden 396 Seiten, zzgl. 16 Seiten farb. Bilddteil, gebunden € 15,90 (D) | ISBN 978-3-7725-2472-1 € 16,90 (D) | ISBN 978-3-7725-2471-4 jetzt neu im Buchhandel! jetzt neu im Buchhandel!
Die Beiträge diesesBandesmachen mit Waldorfschule heute bietet einen optimalen allen wesentlichen Elementen des Einstieg für künftige Schuleltern und für alle, Waldorfkindergartensvertraut und zeigen, wie die sich über diese lebendige Pädagogik man den Alltag im Vorschulalter sinnvoll informieren möchten. Die Autoren geben eine gestalten kann. Das Buch kommt einem umfassende Einführung in die Waldorf- wesentlichen Bedürfnis vieler Eltern entgegen: pädagogik und bieten einen guten Überblick einer umfassenden, aktuellen Einführung in über die verschiedenen Gesichtspunkte dieser die Pädagogik der Waldorfkindergärten. Schulform, ihre Grundlagen und ihr Umfeld.
Verlag Freies Geistesleben : Wissenschaft und Lebenskunst 28_29_30_31_32_33_EK07-08_2011:EZK 14.06.2011 13:09 Uhr Seite 33
STANDPUNKT 33
Ich lese was, was Du nicht siehst
von Henning Kullak-Ublick
Im Gefängnis schrieb Rosa Luxemburg 1917 ihre berühmten Worte: »Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden, sich zu äußern. Nicht wegen des Fanatismus der Gerechtigkeit, sondern weil all das Belebende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die Freiheit zum Privilegium wird.« An diese Worte musste ich denken, als ich die folgende E-Mail einer Mutter an unsere Redaktion las: »...wie geht man eigentlich mit folgendem Sachverhalt um: Einige Lehrer unserer Waldorf- schule missbilligen bestimmte Artikel in der Erziehungskunst und haben daher beschlossen, sie schlicht nicht mehr auszuteilen. Der Lehrer meiner Tochter stellte es so dar: ›Wir sind der Meinung, dass einiges in der Zeitschrift nicht unserer Idee ... der Waldorfpädagogik entspricht.‹ Kurzerhand hat man das Verteilen der Zeitschrift in einigen Klassen (ohne Konferenzbeschluss) Henning Kullak-Ublick, eingestellt. Da dies mal ein ganz plastisches Beispiel dafür ist, wie sehr uns als Eltern hier vor Vorstand im Bund der Freien Ort ... die Mündigkeit abgesprochen wird, frage ich: Inwiefern ist ein solches Handeln überhaupt Waldorfschulen und bei den noch mit dem Freiheits-Gedanken Steiners vereinbar?« Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, seit 1984 In seiner Philosophie der Freiheit schrieb Rudolf Steiner viele Jahre, bevor er 1919 die Leitung der Klassenlehrer in Flensburg, Waldorfschule übernahm, einen bemerkenswerten Satz: »Man muss sich der Idee erlebend ge- Aktion mündige Schule genüberstellen können; sonst gerät man unter ihre Knechtschaft.« (www.freie-schule.de) Um welche Ideen geht es hier? Um Waldorfpädagogik, Freiheit und Mündigkeit – drei Ideen, denen sich die Redaktion und die Herausgeber der Erziehungskunst zutiefst verpflichtet wissen. Wir möchten diese Ideen für unsere Leserinnen und Leser erlebbar machen, ihre Urteilsbildung anregen und sie am liebsten auf eigene Ideen bringen. Wir wollen das pädagogische Leben fördern; konservieren mögen es andere. Rudolf Steiner kämpfte sein Leben lang für die Idee der Freiheit – erlebend: Zuerst entwickelte er seinen Freiheitsbegriff philosophisch, dann beschrieb er Wege zur Erlangung individueller Freiheit und seit 1917 kämpfte er für die Freiheit des Geisteslebens in einem gegliederten sozialen Orga- nismus. Und wie hielt er es mit der Mündigkeit der Eltern? Als sich die Arbeiter der Waldorf- Astoria Zigarettenfabrik nach einem politischen Vortrag Steiners mit der Frage an ihren Chef wandten, ob er eine freie Schule für ihre Kinder einrichten könne, übernahm Steiner sofort die Leitung. Die erste Waldorfschule war eine Initiative nicht-anthroposophischer Eltern! Sie ermög- lichte Rudolf Steiner, die Ergebnisse seiner dreißigjährigen anthropologisch-anthroposophischen Forschung in eine Pädagogik münden zu lassen, die wiederum den Weg zum freien, verantwor- tungsbewussten Menschen in den Mittelpunkt aller einzelnen Unterrichtsvorschläge stellt – bei den Lehrern, bei den Schülern und bei den Eltern. ‹›
PS: Pro Jahr wird für jeden Waldorfschüler der Gegenwert eines Eisbechers (€ 5,50) zur Finanzierung der erziehungskunst aufgewendet. Dafür steht jeder Familie jeden Monat ein Exemplar dieser Zeitschrift zu. (Im Handel kostet ein Heft € 4,90.) 2011 | Juli / August erziehungskunst 34_35_EK07/08_2011:EZK 10.06.2011 15:46 Uhr Seite 34
34 FRÜHE KINDHEIT
Generationenübergreifend Voneinander lernen fängt nicht im Altersheim an
von Karin Joost
Eine Waldorfkindergärtnerin macht sich gezielt auf die Suche nach neuen Betreuungsformen und besucht den ostdeutschen Waldorfkindergarten »Nesthäkchen«, der die »Familiengruppe« als altbewährte Lebensform wiederentdeckt.
»Ja, das stimmt, wir haben die Kleinen mit in der Gruppe. deckungsreise. Durch die geringe Anzahl der Kinder bietet Und wir wollen nie wieder anders arbeiten«, antwortet die sich mir ein Bild der Überschaubarkeit. Ich fühle, jeder hat Erzieherin aus dem Waldorfkindergarten »Nesthäkchen« hier den Raum, den er seinem Alter und seinen Bedürfnis- auf meine Frage, ob ich einmal in ihrer Einrichtung hospi- sen nach braucht. Dann ist auch hier Frühstückszeit. Die tieren dürfe. Also auf nach Waren an der Müritz im fernen Kleinen werden an den Tisch gesetzt und schauen den Gro- Osten Deutschlands. ßen zu, wie sie den Tisch decken und aufräumen. »Schau, Inmitten einer Plattenbausiedlung fällt wohl nur dem ge- hier muss noch das Lätzchen um«, sagt die Erzieherin und schulten Waldorfauge das in dem typischen Schriftzug ge- schon findet sich ein größeres Kind, das dem kleinen Kind haltene Holzschild auf. Schmunzelnd denke ich: eines umbindet – so lernen sie nebenbei das Knoten- Waldorfpädagogik kann eben überall stattfinden! und Schleifebinden. Ein Mädchen macht mich Es ist gerade Frühstückszeit und im ersten darauf aufmerksam, dass einem kleinen kleinen Raum sitzen neun Kinder und Jungen sein Becher mit Tee umgefallen ist. essen Hirsebrei. Ich werde eingeladen Helfende Hände holen ein Handtuch. Ich und setze mich dazu. »Dies ist unser denke, die realen Notwendigkeiten, die Durchgangszimmer«, sagt die Erziehe- durch diese Art des Zusammenlebens rin entschuldigend. »Wir sind so viele entstehen, fördern wie von selbst Hilfs- geworden, da mussten wir aus diesem bereitschaft, Aufmerksamkeit, Rück- Zimmer noch einen Gruppenraum ma- sichtnahme und Vorsicht. chen. Nun müssen immer alle hier durch, Nach dem Frühstück bilden die zwölf Kin- sowohl Eltern, die ihre Kinder bringen, als der dieser Gruppe eine Schlange, um in den auch die anderen Gruppen.« Ob zum Wasch- Waschraum zu ziehen, doch der ist noch besetzt. raum oder zur Garderobe, immer wieder zieht ein »Leis, leis, leis, wir machen einen Kreis« … Wie von »goldenes Band« durch den Raum, die Großen vorneweg, selbst verwandelt sich die Schlange und es wird ein kurzes die Kleinen hinterher, raus-rein, hin und her. Zuvorkom- Spiel daraus. Die größeren Kinder spielen vor, die kleineren mend rücken alle zur Seite, das Frühstück in dieser Gruppe schauen mit großen Augen zu, lachen und klatschen in die geht trotzdem weiter. Es scheint niemanden zu stören. Nach Hände. Ich spüre förmlich ihr Bedürfnis, doch auch endlich dem Frühstück besuche ich die Nachbargruppe. mitmachen zu können. Danach ist der Waschraum frei, Während dort die Erzieherin in Ruhe einer Näharbeit nach- denn die andere Gruppe ist schon in die Garderobe weiter geht, weben die großen Kinder konzentriert an ihren gezogen. Nun besuche ich die dritte Gruppe und auch hier ist »Schulkindarbeiten«, die kleineren gehen ihren Spielim- gerade das Frühstück zu Ende. Emsiges Aufräumen, stau- pulsen nach und die ganz kleinen sind ungestört auf Ent- nendes Zuschauen auch hier. Ruck-zuck ist alles fertig und
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35 Fotos: Charlotte Fischer
noch Zeit für ein Bilderbuch. Wie um eine Mutter hocken kurzer Zeit schlafen alle Kinder ein. Jede Gruppe hat ihre sich die Kinder um die Kindergärtnerin, die Großen ge- eigenen Gewohnheiten, fast schon eine eigene Lebensweise spannt mit dem Blick auf das Buch, die Kleinen Nähe su- entwickelt. Dadurch lebt in jeder eine spezifische Atmo- chend auf dem Schoß. Ich habe den Eindruck, jedes Kind sphäre, die besonders für die Jüngsten von großer Bedeu- bekommt das, was es gerade braucht. Dann ist auch für sie tung ist. Für die Erzieherinnen und mich als Gast gibt es der Waschraum frei. Während die Großen selbstständig nun Kaffee und Tee. Die Zeit, die an anderen Tagen für ihren Toilettengang erledigen oder den Jüngeren helfen, Vorbereitungen genutzt wird, nehmen wir uns für ein Ge- werden die Kleinen auf das Töpfchen gesetzt oder gewickelt. spräch. »Die Familiengruppen sind entstanden, weil immer »Schau, dein Schwesterchen hat was ins Töpfchen gemacht«. mehr kleine Geschwister nachrückten«, berichtet die Kin- Alle Kinder schauen neugierig und freuen sich. dergartenleiterin Frau Winter. »Den Versuch, eine Krippen- So geht der Tag weiter, Freispiel draußen, die größeren gruppe einzurichten, gab es auch bei uns, aber wir sind Kinder miteinander, die Kleinen für sich, aber doch immer schnell wieder davon abgekommen und haben dann die mittendrin. Ab und zu kommt ein größeres Kind vorbei und Familiengruppe in unser Konzept aufgenommen.« bringt ihnen etwas und setzt sich für ein Weilchen dazu. Es kommt mir so vor, dass wir in einer Zeit, in der nach der Oder ein kleines wird im Bollerwagen spazierengefahren, Großfamilie auch die Kleinfamilie im Begriff ist, sich auf- natürlich in Begleitung einer Erzieherin. zulösen, aufgefordert sind, diese Form des Zusammenle- Nach dem Mittagessen ziehen etwa zwanzig Kinder nach- bens bewusst zu gestalten. Wir können keine Familie einander in die kleinen, miteinander verbundenen Schlaf- ersetzen, wir können aber durch das Schaffen von fami- räume mit ihren dicht an dicht stehenden Etagenbetten. liären Strukturen in unseren Einrichtungen die Qualität »Pssst, der kleine Franz schläft schon!« Rücksichtsvoll und einer altbewährten Lebensform neu beleben. Generationen- erstaunlich leise ziehen sich die Kinder aus und steigen in übergreifend zu leben und voneinander zu lernen fängt ihre Bettchen. Für die anderen zwölf Kinder werden in nicht im Altersheim an! Für mich ist die Familiengruppe ein einem Gruppenraum rasch Kinderliegen aufgestellt und in sinnvolles Zukunftsmodell. ‹›
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36 AUS DEM UNTERRICHT
Der steinerne Horizont
von Sibylla Hesse
Potsdamer Waldorfschüler drehen einen Dokumentarfilm über den Verlauf der Mauer zwischen Potsdam und Berlin (West), erringen den dritten Platz beim History-Award 2011 und den ersten Preis der Geschichtswerkstatt Jena.
»Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen.« Den zwei Verhöre und eine Nacht im Gefängnis. Diese Zeit- Älteren unter uns ist die näselnde Stimme Ulbrichts aus zeugengespräche vermittelten den Nachgeborenen eine einer Pressekonferenz knapp zwei Monate vor der Errich- Heimatkunde besonderer Art. tung der Mauer im August 1961 noch im Ohr. Doch unsere heutigen Schülerinnen und Schüler haben den Eisernen Mauerfluchten – drüber und drunter Vorhang nicht mehr erlebt. Sie wussten vor diesem Projekt nicht, wo genau in Potsdam das menschenverachtende Alle Schüler und Schülerinnen recherchierten im Laufe des Grenzregime herrschte und was es für die Anwohner be- achtwöchigen Projekts einzelne Abschnitte des Grenzver- deutete. laufs und stießen dabei auf spannende Fluchtgeschichten. Im Laufe ihrer Recherchen stellten die Jugendlichen aus In Klein-Glienicke, einer verwinkelten Exklave der DDR, den Klassen zehn bis zwölf überrascht fest, dass einige gruben zwei Familien im Sommer 1973 bei Niedrigwasser ihnen aus der Schule vertraute Menschen ihre eigene Ge- einen 19 Meter langen Tunnel nach Westberlin. Den Weg schichte mit der Mauer hatten. Einen Passierschein über die Mauer schafften 1971 zwei Dachdecker, die die dor- brauchte der Sportlehrer, wenn er seine Oma in Sacrow tige Kirche zu reparieren hatten, dank ihrer Leitern. besuchen, die Hortnerin, wenn sie ihren Freund sehen Um auch Jugendliche ohne Vorkenntnisse zu erreichen, wollte, weil der Zugang zur Sperrzone überwacht wurde. verfassten die Schüler Off-Texte für den Film, die ein wei- Der Hausmeister erzählt von seiner Zeit in der Nationalen terer Schüler einsprach. Andere legten bei den Zeitzeugen- Volksarmee, in der er seine Kameraden bewachen musste, interviews einen Schwerpunkt oder interessierten sich für die die alten Grenzzäune durch neue ersetzten und mitun- das filmische Handwerk. Alle mussten über ihre Arbeits- ter versehentlich mit einem Bein in der Bundesrepublik schritte und Ergebnisse ein Portfolio verfassen. standen. Sich im Grenzgebiet zu verlaufen, empfand die Unser Dokumentarfilm »Der steinerne Horizont. Wo in Westberliner Eurythmistin in ihrer Kindheit als gruselig. Potsdam die DDR endete« erzählt Mauergeschichten multi- Die Mauer gab ihr aber auch Sicherheit, weil sie beim Hun- perspektivisch. Dabei kommt der DDR-Alltag ebenso zur despaziergang irgendwann auf sie stoßen musste und Sprache wie die weltgeschichtliche Rolle der Glienicker dann, an ihr entlang, leicht wieder nach Hause fand. Für Brücke mit dem Agentenaustausch in den 1950er- bis eine damals 17-jährige Potsdamerin dagegen bedeutete es 1980er-Jahren. Warum schüchterten die Grenzer Kinder
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50 Jahre Mauer
ein? Warum durfte Frau Donner, unsere Hortnerin und Ur- Potsdamerin, ihren ausgereisten Vater nicht mehr sehen? Heutige Jugendliche schütteln hierüber nur den Kopf, zu Recht, und beginnen ihre Freizügigkeit bewusster zu schätzen. Der Alltag im Grenzgebiet mit Passierschein, Be- spitzelung, Reglementierung und Angst rief viele Fragen hervor, die meist im Gespräch geklärt werden konnten – und einen Zugang zur Mentalitätsgeschichte öffneten. Die Zuschauer lernen Schicksale mit historischen Kollateral- schäden und Propagandaeffekte (»Rotlichtbestrahlung« nannte sie die DDR-Bevölkerung) kennen, die vom Ver- schweigenmüssen einer gescheiterten Flucht ebenso be- richten wie vom Mut eines jungen Mannes, der seinem Staat durch den Teltowkanal davonschwamm und einige Jahre später als Fluchthelfer wirkte. Wir konnten gar nicht alles aufgespürte Material in unseren Film aufnehmen, etwa fehlen die Haftstrafen für Grenzbeamte, die Flüch- tende nicht gestellt oder erschossen hatten.
Ein Film für das Hauptprogramm
Ein ehemaliger Grenzer wollte seinen Bericht nur im Ton aufnehmen, sich aber nicht filmen lassen. Um nicht eine schwarze Leinwand zu zeigen, bedurfte es weiteren Bild- materials. Dabei waren Rechtefragen zu beachten. Um un- sere historischen Erkenntnisse in einem knapp einstündigen Film zu erzählen, mussten wir neun Stunden Material in einen Spannungsbogen bändigen und uns mit Filmästhetik beschäftigen. Das erforderte Zusammenarbeit: ›
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38 AUS DEM UNTERRICHT
› Die Projektwerkstatt »Lindenstraße 54« half uns, Zeitzeugen zu finden und die Arbeit zu strukturieren. Unser Filme- Zeitzeugin Catrin Eich schildert, wie sie als Kind vom Potsdamer Dach- macher mit Ausrüstung wurde von der »Bundesstiftung boden aus in den verbotenen Westen mit dem Fernglas schaute und, Aufarbeitung« gefördert. In einem der fünf historischen In- statt Klassenfeinden, nur normale Menschen sah. stitute der Stadt ließen wir uns die großen Linien von einem Professor der Zeitgeschichte differenziert erklären. Die Schüler äußerten sich positiv über das Projekt. Fabian (11. Kl.) sagt, er habe »mehr über die Mauer aus der ›Ost- sicht‹ erfahren«. Seine Eltern hätten ja nur »Geschichten von der Westseite erzählen können«. Oliver (10. Kl.) lernte, was für die Interviewvorbereitung nötig ist. Lilli (11. Kl.) fand, »das Schreiben von Texten, das Führen von Interviews und die verschiedenen Ausflüge umfassten viele Methoden und Arbeitsweisen und gestalteten das Projekt sehr vielfältig«. Die völlig überfüllte Premiere feierten wir im Filmmuseum Potsdam. Zwei Zehntklässler moderierten anschließend ein Filmgespräch mit Zeitzeugen und Schülern. Beim History-
Anton und Jakob moderieren das Nachgespräch im Filmmuseum Potsdam Award 2011, vergeben vom Geschichtssender »History bei der Premiere. Channel«, errangen wir den dritten Platz: »Ein Film, den man ohne Probleme auch im offiziellen Programm zeigen könnte«, lobte Jurymitglied Christian Hartmann vom In- stitut für Zeitgeschichte München-Berlin. ‹›
Gedenkstätte für Opfer politischer Gewalt im 20. Jahrhundert Schülerprojektwerkstatt »Lindenstraße 54« Gedenkstättenlehrerin Catrin Eich Lindenstraße 54, 14467 Potsdam Tel./Fax: 03 31/2 01 57 14 E-Mail: [email protected] http://www.pw-gedenkstaette-potsdam.de.vu/ Hinweis: Der Film ist derzeit im Internet zu sehen unter http://www.history-award.de/history-award-2011/projekte/ projekte-waldorfschule-potsdam.html. Oder auf DVD zum Selbst- Verleihung der Urkunde des dritten Platzes im History-Award 2011 durch kostenpreis von EUR 5,– (+ EUR 2,– Versand, bitte Vorkasse). Dr. Auma Obama, Schwester des amerikanischen Präsidenten. Er wird auf der diesjährigen Waldorf-Geschichtslehrer-Tagung be- Foto: History-Award sprochen, die vom 11. bis 12. November 2011 in Potsdam stattfindet.
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AUS DEM UNTERRICHT 39 Chemie kann auch schmecken Eine Chemieepoche in der achten Klasse
von Bernd Kettel
Wenn man wie Bernd Kettel über 30 Jahre an der Freien Georgenschule in Reutlingen als Klassenlehrer gearbeitet hat, gibt es kaum noch etwas, das einen überraschen kann. Bei den Versuchen im Chemieunterricht können dennoch Situationen eintreten, in denen man ein leichtes Zittern in den Knien fühlt.
Im Schuljahr 2009 / 2010 erlebte ich das Finale meines fing ich guter Hoffnung nach den Winterferien mit der vierten Durchgangs, aber es gab eine Epoche, die ich bisher Epoche an. Im Folgenden einige ausgewählte Erlebnisse. noch nie gehalten hatte: Chemie in der achten Klasse. Das Die Geburt der Chemie aus dem Wunsch liegt daran, dass an unserer Schule die Klassenlehrer der nach Genuss achten Klassen in der Zeit zwischen Pfingsten und den Sommerferien vom Unterricht weitgehend befreit werden, Wir begannen mit Getreidekörnern, die ich mitgebracht soweit es die personellen Möglichkeiten zulassen. Epo- hatte. Jeder meiner 36 Schüler bekam eine Hand voll Körner chenfreie Oberstufenkollegen kommen in dieser Zeit gerne mit dem Auftrag, sie zu kauen und den Geschmack zu in die Klasse, um die Schüler schon ein wenig kennen zu prüfen. Gerne unterzogen sie sich dieser Aufgabe und stell- lernen. Dadurch kann der Klassenlehrer eine Weile ver- ten dabei fest, dass es mühsam war, die Körner zu zerklei- schnaufen, bevor der nächste Durchgang beginnt. In mei- nern. Der Gedanke, sich auf diese Weise satt zu essen, hatte nen früheren Durchgängen war die Chemieepoche immer nichts Verlockendes. Außerdem fiel ihnen auf, dass sich in meine unterrichtsfreie Zeit gefallen, dieses Mal jedoch während des Kauens und Einspeichelns der Geschmack nicht. veränderte: Sie nahmen eine leichte Süße wahr. Wir kamen Ich suchte also in den Winterferien meinen Kollegen auf, zu dem Schluss, dass offenbar schon im Mund ein chemischer der in der Oberstufe den Chemieunterricht erteilt und bat Prozess durch den Speichel ausgelöst wurde. ihn um eine Einführung. Er sagte sehr freundlich zu, traf Als nächstes folgte der Schwimmtest, der genau so verlief, sich mit mir, drückte mir das Standardwerk Manfred von wie im Lehrbuch beschrieben, die guten Körner sanken – Mackensens »Die Chemieepochen der 7. und 8. Klasse« in für die Schüler überraschend – in die Tiefe, einige wenige die Hand und ging die einzelnen Versuche sorgfältig mit schadhafte schwammen oben. Aber nun bemerkte ich, dass mir durch, wobei er mir zeigte, wo ich die jeweiligen Ge- meine Gedanken plötzlich eigene Wege gingen und von den rätschaften und Zutaten finden konnte, die dafür nötig Versuchen im Lehrbuch abwichen, zunächst nur ganz waren. Er bot mir an, jederzeit hilfreich zur Seite zu stehen, sachte, aber doch deutlich. Das beunruhigte mich ein wenig, wünschte mir Glück und verließ mich. aber ich war auch neugierig, was sich daraus entwickeln Irgendwie fühlte ich mich wie ein blutiger Anfänger und würde. Wir warfen die im Wasser versenkten Körner nicht hatte Lampenfieber. Ich begann mich in das Werk zu ver- weg, sondern beschlossen, sie bis zum nächsten Morgen tiefen und hoffte inständig, dass mir die Epoche gelingen weiterhin einzuweichen und dann erneut zu probieren. möge. Mir gefiel der Gedanke Mackensens, den Schülern Gesagt, getan. Am folgenden Morgen wurden die Körner darzustellen, wie der Mensch in die Lebensprozesse der abgeseiht und in zwei Häufchen geteilt. Die eine Portion Natur eingreift, um seine Ernährung zu sichern, und so blieb naturbelassen, die andere wurde leicht mit Kräuter- ›
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› salz aus dem Reformhaus gewürzt. Dann folgte der Test. Ganz eindeutig waren diese Körner viel leichter zu verzeh- ren, als die harten und trockenen vom Vortag, die gesalze- nen schmeckten sogar vergleichsweise gut. Nun überlegten wir, ob es noch andere Möglichkeiten gäbe, die Körner zu zerkleinern. Natürlich wurde sofort die Ge- treidemühle genannt, welche bei einigen Schülern zu Hause im Gebrauch war. Aber dann stellten wir uns vor, Getreide- mühlen seien noch nicht erfunden worden, also kamen nur flache Kieselsteine in Frage; die holten wir vom Schulhof und reinigten sie. Ein paar Schüler bekamen außerdem kleine Mörser mit Stößeln und eine Gruppe durfte mit einer hand- betriebenen Kaffeemühle arbeiten. Sie wurden vom Rest der Klasse beneidet, aber im Dienste der Wissenschaft durfte kein Neid aufkommen, das sahen sie schließlich ein. Schon nach etwa fünfzehn Minuten hatten wir ein gutes Pfund gro- bes Mehl zerstoßen und gemahlen und unsere Erfahrungen bezüglich der verschiedenen Werkzeuge ausgetauscht. Bei den Kieselsteinen fielen die Körner dauernd an den Seiten heraus, in den Mörsern ließen sich nur kleine Mengen zer- stoßen und die Kaffeemühle musste richtig eingestellt wer- den, damit das Korn zu Schrot wurde. Natürlich hatten wir auch Körner der Länge nach durchgeschnitten um Keimling, Mehlkörper und Schale in Augenschein zu nehmen. An dieser Stelle begann sich meine Phantasie erneut vom Lehrbuch zu entfernen. Es widerstrebte mir, das gewonnene Mahlgut einfach beiseite zu legen oder gar wegzuwerfen. »Was fangen wir nun mit dem gemahlenen Schrot an? Wer hat eine Idee?« Die Schüler blickten mich an und die Antwort kam prompt. Die Schüler schlugen vor, einen Teig anzurühren, mit etwas Wasser und Salz. Kurz darauf war
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ich damit beschäftigt, einen einfachen Teig zu kneten. Ei- nige Schüler wussten noch aus der dritten Klasse, dass ein Teig erst dann die richtige Konsistenz hat, wenn er nicht mehr an den Fingern klebt – davon war ich weit entfernt, ar- beitete jedoch zur Freude meiner Schüler hart daran und hatte ihre ganze Aufmerksamkeit. Das Chemielabor als Backstube
Schließlich war der Teig fertig und ging in der Schüssel still vor sich hin, während ich etwas abseits meine Hände wusch und fieberhaft überlegte, was zu tun sei. Einen Backofen hat- ten wir nicht, es galt also zu improvisieren. Unsere Urahnen hatten nur das offene Feuer zur Verfügung, in Indien, das ich vor 40 Jahren vier Monate lang bereist hatte, buken die Frauen Brotfladen auf einfachsten Lehmöfen, aber die hatten wir auch nicht. Da sah ich vor meinem geistigen Auge zwei Dreibeine mit dazugehörigen Bunsenbrennern. Als Nächs- tes fiel mir ein, dass ich im Vorbereitungsraum neben Draht- gittern auch kleine, feuerfeste Glasplatten gesehen hatte. Ich stellte die Dreibeine auf und setzte die Bunsenbrenner in Gang. Die Klasse beobachtete mich neugierig. Ich bat einen Schüler, mir zu assistieren. Ich wusste nun, dass ich kleine, handtellergroße Fladenbrote backen würde, aber unter sol- chen Bedingungen hatte ich das noch nie zuvor gemacht. Ich zwickte von dem großen Teigklumpen kleine Bällchen ab und rollte sie mittels einer kleinen Flasche auf einem Holz- brett aus. Dann legte ich sie auf die erhitzten Glasplatten über den Bunsenbrennern. Der assistierende Schüler war dafür verantwortlich, dass die Fladen rechtzeitig gewendet wurden und nicht anbrannten. Er tat das in Ermangelung rechten Küchengerätes mit einem Taschenmesser. Sofort, ›
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»Was fangen wir nun mit dem gemahlenen Schrot an? Wer hat eine Idee?« Die Schüler blickten mich an und die Antwort kam prompt. Die Schüler schlugen vor, einen Teig anzurühren, mit etwas Wasser und Salz. Kurz darauf war ich damit beschäftigt, einen einfachen Teig zu kneten.
› nachdem die Fladen gebacken waren, wurden sie unter die wenn Öl in der Pfanne überhitzt wird. Jetzt nahm ich eine Menge verteilt und mit sichtbarem Wohlbehagen verzehrt. Spritzflasche mit Wasser zur Hand und spritzte ein klein In einem weiteren Versuch untersuchten wir das Eiweiß wenig Wasser in das brennende Öl. Unmittelbar darauf er- näher, indem wir bei einem Ei den Dotter vom Eiweiß trenn- tönte ein Fauchen wie von einem wild gewordenen Raubtier ten und die im Buch angegebenen Versuche machten. und eine gewaltige Stichflamme erhob sich bis zur Decke des Diesmal war mir schon zu Hause der Gedanke gekommen, Chemiesaals. Die Schüler waren wie vom Blitz getroffen. Es dass sich sowohl das Eiweiß, als auch der Dotter in unsere war zu spüren, wie ihnen das Adrenalin bis in die Haarspitzen Entwicklungsreihe genussfähiger Nahrungsmittel einreihen schoss. Aber sie waren auch begeistert. Sie wollten es mehr- könnten. Vorsorglich hatte ich daher eine Bratpfanne und mals sehen und ich erlaubte ihnen schließlich, die erstaunli- etwas Milch mitgenommen. Im entscheidenden Moment, che Reaktion zu filmen. Anschließend machten wir uns nachdem die Versuche aus dem Buch abgeschlossen waren, Gedanken über den Vorgang. Wir betrachteten den Experi- zeigte ich also der Klasse Mehl, Eiweiß, Eigelb, Milch und mentiertisch und sahen, dass rings um die Schale alles voller Bratpfanne. Die Erleuchtung kam augenblicklich: Pfannku- Öl war. Offenbar waren Tausende von brennenden Öltröpf- chen. Also rührte ich in einem großen Becherglas Mehl, chen blitzartig in die Höhe gefahren, als sie vom Wasser ge- Milch, Eier und etwas Zucker zu einem zähflüssigen Teig, troffen wurden und dann wieder herunter auf den Tisch gab ein wenig Öl in die Bratpfanne, erhitzte es und goss den gefallen. In einer realen Situation in der Küche würde also Teig hinein. Die Schüler hatten derweil die Vorstellung, wir Wasser alles nur noch schlimmer machen. Wir überlegten, seien ein chemisches Institut, das sich mit der Entwicklung was in einem solchen Augenblick zu tun sei. Man müsste dem gesunder Nahrungsmittel befasst. Die Pfannkuchen wur- Feuer die Luft entziehen, einen Deckel auf die Bratpfanne set- den bis auf den letzten Rest verzehrt. zen oder ein dickes Handtuch darüber werfen, folgerten wir. Am Ende der Epoche war ich erleichtert und auch ein wenig Schüler filmen das Feuer speiende Ungeheuer stolz. Wir hatten neben den hier beschriebenen Versuchen Es folgte noch ein Aufsehen erregender Versuch mit Fett. Der auch Schokoladenpudding, Vanillesauce, Hüttenkäse und ging so: Ich erhitzte Speiseöl in einer kleinen Metallschale Lippenpflegestifte entwickelt. Ich hatte es gewagt, eigene über einem Bunsenbrenner.Dann setzte ich mir eine Schutz- Wege zu gehen und mich von den Vorgaben des Lehrbuches brille auf, die wie eine Motorradbrille aussah, und näherte zu entfernen, wobei die darin enthaltenen Versuche natürlich mich vorsichtig dem Öl, das schon zu rauchen und zu stinken hervorragende Grundlagen boten. Aber den Einfällen nach- begann – natürlich hatte ich den Versuch mit einer Schutz- zugehen, die mir im Unterricht in der Zusammenarbeit mit wand aus Plexiglas zur Klasse hin abgesichert. Den Schülern den Schülern kamen, das war ein Abenteuer, an das ich mich gefiel die Vorstellung, sie glaubten jedoch nicht, dass mit dem gerne erinnere – und die Schüler ebenfalls, soweit ich das be- bisschen Öl etwas Gefährliches passieren könne und unter- obachten konnte. ‹› hielten sich nebenher. Nun warf ich ein brennendes Zünd- holz in die Schale, worauf das Öl sofort Feuer fing – eine Zum Autor: Bernd Kettel Jahrgang 1949, seit 1979 Klassenlehrer an Situation, die durchaus in jeder Küche einmal passieren kann, der Freien Georgenschule Reutlingen; www.freie-georgenschule.de
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+++ Schicksal +++ Welt +++ Weisheit +++ Licht +++ ERZIEHUNGSKÜNSTLER 43 »O Mensch, erkenne Dich« Begegnungen mit der (über)sinnlichen Welt
von Mathias Maurer
Die Mysteriendramen Rudolf Steiners sind ein Kunstwerk, das die Kunst der Selbst- und Welterkenntnis auf den »Erziehungs- künstler« anwendet, einen Menschen also, der sich und andere erziehen möchte. Seit 2010 gehen sie in einer gelungenen Neuinszenierung am Goetheanum über die Bühne.
Die Mysteriendramen Steiners sind eine Wucht, eine Zu- praxis bieten und ihn ganz konkrete Probleme im Zusam- mutung: Sprachlich wortgewaltiger Anthroposophenbarock, menhang menschlicher Gemeinschaften lösen lassen. Die gedanklich eine Achterbahn, zeitlich ein 25-Stunden- Dramen zeigen, wie individuelle und soziale Entwicklung Marathon. Für Uneingedachte und Nicht-Anthroposophen durch schicksalhafte Konstellationen untrennbar miteinan- eine schiere Überforderung. Und dennoch: Lässt man sich der verbunden sind und wie wir ohne »geistigen Durchblick« unvoreingenommen auf das dramatische Geschehen ein, das schnell an Verständnisgrenzen stoßen und immer wieder – sich hier auf der Dornacher Bühne hauptsächlich in seelisch- sei es individuell oder in Gemeinschaften – an den gleichen geistigen Reichen abspielt, können dem Zuschauer Lichter Probleme scheitern. Steiner knüpft mit seinen Dramen, die aufgehen, die ihm Handlungsmöglichkeiten in der Lebens- er zwischen 1910 und 1913 niedergeschrieben hat und für › Fotos: Jochen Quast
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++ Irrungen +++ Wahnsinn +++ Geist +++ Kräfte +++ Me 44 ERZIEHUNGSKÜNSTLER
› die in München eigens ein »Tempel« errichtet werden sollte, nicht nur an die reiche Tradition des bis in die Antike zu- rückreichenden Mysterienspieles an, verarbeitet nicht nur Figuren aus Goethes »Märchen von der grünen Schlange«, sondern, und das ist das sensationell Neue, verarbeitet eigene schicksalhafte Begegnungen mit Menschen, mit denen er im Laufe seines Lebens zu tun hatte.
Gemeinsam in aller Verschiedenheit
Um nur einige Protagonisten zu nennen: Da gibt es einen Benedictus, den unangefochtenen Weisheitslehrer,der seinen Schülern immer wieder Tipps geben kann, auf ihren Weg der Selbsterkenntnis zurückzufinden. Es gibt einen Künst- ler, Johannes Thomasius, der sich meditierend in geistige gibt, blockiert die Selbsterkenntnis. So gilt es, sein Schatten- Höhen katapultiert und schnell die Bodenhaftung verliert, Ich (anthroposophisch: Doppelgänger) kennenzulernen, dann Capesius, ein ernsthafter Geisteslehrer alter Schule, ihm zu begegnen und es schließlich zu integrieren. einen Dr. Strader, der sich schwer tut, sich von seiner technisch-materialistischen Weltanschauung zu lösen, den Die Gesetze des seelischen und geistigen Lebens Naturmystiker Felix Balde in seiner schlicht-kindlichen kennenlernen Geistesschau, schließlich Maria als christlichen Prototyp, die ausgleichend vermittelt. – Unterschiedlicher könnten die Ein Stein fällt von oben nach unten, ein Lichtstrahl bricht Individuen, die hier in Erscheinung treten, nicht sein. sich in der Linse, Salz löst sich in Wasser … das Kennen- Alle erleiden ihr individuelles Schicksal, erleben Irrungen lernen dieser Gesetze der physikalisch-chemischen Welt gibt und Abstürze, nah dem Wahnsinn gar, aber auch das Glück uns Sicherheit. Unsicherer werden wir, wenn wir in unsere befreiender Erkenntnismomente, wenn sie sich mehr und Innenwelt eintauchen, in seelische und geistige Reiche ein- mehr als zusammenarbeitende Gemeinschaft sehen lernen treten. Steiner hinterließ mit den vier »Mysteriendramen« und ihre Selbstbezogenheit überwinden. Die Widerstände, einen kühnen Wurf, der in seiner konkreten Detailliertheit denen sie begegnen, sind allzu bekannt. Anthroposophie im vollen Leben auf der Bühne darstellt. Sie liegen nicht nur in widrigen äußeren Ereignissen, son- Dagegen wirken Psychologie und Psychoanalyse wie ausge- dern auch inneren Schwierigkeiten: Die Vergangenheits- hirnte anämische Spekulationskonstrukte. Die »Mysterien- kräfte dominieren, neue Impulse kommen nicht durch. dramen« bringen ins Bild und ins Erlebnis, dass in den Oder die Verbundenheit mit der gestellten Aufgabe ist nicht Seelen- und Geistesreichen genauso Gesetzmäßigkeiten – stark genug. Oder die Selbstliebe, die sich gerne altruistisch wenn auch andere – herrschen wie in der physisch-äußeren
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+++ Mensch +++ Erkenntnis +++ Schatten +++ Existenz ERZIEHUNGSKÜNSTLER 45
Einsicht, die uns meistens fehlt
Man kann es bedauern, dass diese Bildungsinhalte nicht All- gemeingut sind, weil sie, wie die Naturgesetze auch, bei Nichtberücksichtung voraussehbare Folgen zeitigen und im gegenteiligen Fall manches Lebensrätsel lösen könnten. Die Bedeutung für den erziehenden Menschen besteht darin, dass er sich in seinem Ich in der Gemeinschaft spiegelt und dadurch Hinweise erhält, sich zu erkennen und weiter- zuentwickeln. Esoterik wird in den »Mysteriendramen« konkret anschaulich, wird öffentlich und befreit sich aus dem Muff beschaulicher Stunden in mystischer Versenkung. Geht der Mensch den Erkenntnisweg auf Erden, der ihn aus seiner Opfer- oder Erduldungsrolle befreit, wird er zum Welt. Diese übersinnliche Welt, die hinter unserer sinnlich Schöpfer seines Schicksals, wird er auch Mitgestalter in der wahrnehmbaren Welt existiert und wirkungsvoll, ja erzie- geistigen Welt – das ist die Botschaft dieser Dramen. Viele hend in unserem Schicksal mitmischt, ist überhaupt die Beispiele aus dem Alltag in Schule, Kindergarten, Familie größte Zumutung für den heutigen Zeitgenossen. Ebenfalls oder Beruf, die sich in handfesten menschlichen Beziehun- eine Zumutung – für »Uneingeweihte« bloße Annahmen, gen darleben, weisen darauf hin, dass ohne die erhellende für Steiner Gewissheit: Es wirken in unserer Seele objektiv Macht karmischer Erkenntnis soziale und individuelle geistige Weltenkräfte, die man kennenlernen muss, will Probleme unverständlich bleiben müssen. man ihnen nicht unterliegen oder sich von ihnen beherr- »O Mensch, erkenne Dich« – eine wiederholte, nahezu be- schen lassen. schwörende Anrufung in diesen Dramen. Man sollte sich Emanzipiert sich der Mensch von solchen Kräften, die man solche Zumutungen gönnen. Den Beweis liefert das Leben – auch als Erdenflucht (»Luzifer«) und Erdensucht (»Ahri- vielleicht. Allerdings nicht eines allein. ‹›
man«) bezeichnen könnte, wird er frei, sich und sein Schick- Hinweise: Die »Mysteriendramen hautnah« können Sie nicht nur sal in die Hand zu nehmen. Und schließlich die Zumutung, in Dornach erleben. Die aktuellen Aufführungstermine und -orte dass ohne die konkrete Einbeziehung des Reinkarnations- einzelner Szenen finden Sie unter: mysteriendramen-hautnah.ch gedankens ein Menschenschicksal oder das Schicksal einer und können dort auch gebucht werden. Die gesamten »Mysterien- Gemeinschaft sich schlichtweg nicht verstehen lässt. Men- dramen« werden wieder vom 2. bis 7. August 2011 in Dornach aufgeführt. schen, die sich heute begegnen, hatten meistens schon Literaturtipp: Mysterienbilder, Texte zu den Mysteriendramen Rudolf einmal in einem früheren Leben miteinander zu tun, wenn Steiners – Theorie, Figuren, Momente, 128 S., Neuauflage 2011, zu auch möglicherweise in anderen »Rollen«. Das wird in bestellen bei: projekt.zeitung, Wichertstr. 44, 10439 Berlin, diesen Dramen dargestellt. E-Mail: [email protected], www.projektzeitung.org
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46 SCHULE IN BEWEGUNG
Waldorf boomt in China
von Nana Göbel
Als die Waldorfpädagogen Ben und Thanh Cherry 1994 auf einer langen Asienreise die chinesische Stadt Chengdu besuchten, be- gannen sie in einem Teehaus ein Gespräch mit den Eigentümern, das sich bald der Frage einer zukünftigen Pädagogik zuwendete. Die Besucher aus Australien erzählten von ihrer Arbeit. Sie erzählten so eindrücklich, dass in den Teehaus-Besitzern Li und Xiao der Entschluss reifte, diese Pädagogik zunächst in England und dann in den USA zu studieren. Damit beginnt die Geschichte der Waldorfschul-Bewegung in China.
erziehungskunst Juli / August | 2011 46_47_48_49_50_51_EK07/08_2011:EZK Kopie 10.06.2011 16:56 Uhr Seite 47
SCHULE IN BEWEGUNG 47 Ernst-Christian Demisch BENJAMIN FRANKLIN Die heutigen Eltern haben die Kulturrevolution nicht Von einem, der auszog, die Welt zu verändern mehr am eigenen Leib erlebt, wohl aber die ausschließlich leistungsorientierte und akademisch ausgerichtete chinesische Staatsschule, bei der Drill und Auswendig- lernen den Schulalltag bestimmt haben.
Freies Geistesleben www.geistesleben.com Als Li und Xiao nach dem Studium zurückkamen, gründeten sie zusammen mit Ernst-Christian Demisch Zewu, einem Grundschullehrer, 2004 den ersten Waldorfkindergarten mit fünf Benjamin Franklin Kindern in Chengdu. 2005 eröffnete Bei, die ein Jahr lang am Emerson College in Von einem, der auszog, die Welt zu verändern England studiert hatte, einen Kindergarten in Beijing. 2006 begann ein Kinder- 181 Seiten, geb. m. Schutzumschlag garten in Guangzhou. € 15,90 (D) | ab 12 Jahren ISBN 978-3-7725-1728-0 Weitere Vorarbeit hatte ein ehemaliger Waldorfschüler aus Hamburg geleistet: Eckart Löwe lernte schon als Schüler Chinesisch und absolvierte ein Jahr seines Benjamin Franklin – Buchdrucker, Architekturstudiums in China. Ab 1996 ging er immer wieder dorthin zurück; Erfinder, Staatsmann seit 1999 vertritt er die »Freunde der Erziehungskunst« in China. Er begann, sich um pädagogische Fragen zu kümmern, insbesondere in der abgelegenen Berg- Wer war Benjamin Franklin, dieser region von Nanning. Mit dieser Arbeit und seinem 2002 im Internet veröffent- Amerikaner, bei dessen Tod die franzö- lichten Buch über Waldorfpädagogik wurde er berühmt. Er hat dafür gesorgt, dass sische Nationalversammlung drei Tage die Waldorfpädagogik in China immer bekannter wurde. Staatstrauer anordnete? Ernst-Christian Demisch zeichnet in Günstiger Augenblick seiner anschaulichen Biografie ein authentisches Bild dieses Menschen. Diese Gründungsphase fiel in eine Zeit, in der erste zaghafte Versuche für Unter- Der Leser lernt einen universellen Geist richtsreformen in China unternommen wurden. Ein Erziehungskatalog ersetzte die und eine erstaunlich vielseitige und alten Festlegungen der zentralen Schulbehörde, das Vermitteln von Wissen trat etwas tatkräftige Persönlichkeit kennen. Mit in den Hintergrund, neue Bereiche wie das Gefühl pflegende Handlungen im Schul- 22 Jahren grundetë Franklin bereits eine alltag sollten eingeführt werden, Lernprozesse statt Abprüfen von Ergebnissen, eigene Druckerei, nach vielen natur- Schülerzusammenarbeit und Projektarbeit, Vielfalt bei der Wahl des Lehrmaterials. wissenschaftlichen Experimenten erfand 1979 hatte die Kommunistische Partei die Ein-Kind-Politik eingeführt, um das er unter anderem den Blitzableiter. Bevölkerungswachstum einzudämmen. Die heutigen Eltern haben in ihrer eigenen Durch ständige Arbeit an sich selbst Jugend die Auswirkungen dieser Politik zu spüren bekommen und wissen, was es gelang es Franklin schließlich, im politi- bedeutet, als »Goldschatz« von sechs Erwachsenen (zwei Eltern und vier Großeltern) schen und sozialen LebenVeränderun- und ohne Gleichaltrige aufzuwachsen. Sie kennen die Grenzen eines Aufwachsens gen herbeizufuhren,̈ die sich mit den bis ohne sozialen Bezug zu Geschwistern, die Einsamkeit im Kindesalter und den über- heute beruhmten̈ Worten ‹Freiheit, fordernden Erwartungs- und Leistungsdruck, der sich daraus ergibt. Schließlich Gleichheit, Bruderlichkeit›̈ umschreiben ruhen auf ihnen alle Hoffnungen. Die heutigen Eltern haben die Kulturrevolution lassen. – Ernst-Christian Demischs nicht mehr am eigenen Leib erlebt, wohl aber die ausschließlich leistungsorientierte eindrucklichë Schilderungen machen und akademisch ausgerichtete chinesische Staatsschule, bei der Drill und Aus- zugleich mit wichtigen Kapiteln der wendiglernen den Schulalltag bestimmt haben. Diese Erfahrung möchten sie ihren amerikanischen, englischen und franzö- eigenen Kindern nicht zumuten und suchen nach Alternativen. › sischen Geschichte vertraut.
2011 | Juli / August erziehungskunst Verlag Freies Geistesleben 46_47_48_49_50_51_EK07/08_2011:EZK Kopie 10.06.2011 16:56 Uhr Seite 48
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