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5/2016 Themen der Katholischen Akademie in Bayern

2 11 15 31 Bundesaußenminister Dr. Frank-Walter Prof. Dr. Thomas Sternberg, Präsident Zentralratspräsident Dr. Josef Schuster Prof. Dr. Markus Lienkamp sieht in Elek- Steinmeier plädiert für neue Wege des des ZdK, stellt den Außenminister in sei- stellt jüdisches Leben im Deutschland troautos die Grundlage zukünftiger Mo- Dialogs in Europa ner Laudatio als „Knotenlöser“ vor von heute vor bilität 10 14 23 35 Ein Grußwort der Bayerischen Staats- Das Schlusswort bei der Preisverleihung Bedeutende Werke und entscheidende Albert von Schirnding begrüßte diesmal regierung überbrachte Staatsministerin hielt Reinhard Kardinal Marx Punkte in der Biographie von in seiner Reihe Jenny Erpenbeck Dr. Beate Merk erläutert Prof. Dr. Dr. Michael Hartmann

Ökumenischer Preis 2016 an Frank-Walter Steinmeier

Anlässlich eines Festaktes mit rund 300 Ehrengästen erhielt Elke Büdenbender, die Ehefrau des Geehrten, Außen- Bundesaußenminister Dr. Frank-Walter Steinmeier am 11. minister Dr. Frank-Walter Steinmeier, Laudator Prof. Dr. Juli 2016 den Ökumenischen Preis der Katholischen Aka- Dr. Thomas Sternberg und Akademiedirektor Dr. Florian demie Bayern. Die Laudatio hielt Prof. Dr. Thomas Stern- Schuller (v.l.n.r.). Lesen Sie im Anschluss die überarbeite- berg, Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholi- ten Reden des Festaktes, eine Presseschau sowie die Preis- ken. Auf dem Foto zu sehen: Kardinal Reinhard Marx, begründung und sehen Bilder rund um die Preisverleihung. Die Welt ist aus den Fugen – Editorial was hält uns zusammen? Bundesminister Frank-Walter Steinmeier

Liebe Leserinnen und Leser!

Es ist mir eine Ehre, mit dem Öku- Politik (bzw. Gesellschaft), Kultur menischen Preis der Katholischen Aka- (bzw. Kunst) und Religion (bzw. bib- demie Bayern ausgezeichnet zu werden. lisch fundierter Glaube): dieses Drei- Als mich die gute Nachricht vor ein eck präsentiert deutlich die neue paar Monaten erreichte, habe ich mich gefreut. Aber ich habe mich gleichzeitig Ausgabe unserer „debatte“. gefragt: Bin ich der Richtige? Wie in politischem Handeln Reli- Ich komme, wie manche vielleicht gion präsent sein kann, wurde bei- wissen, aus einem kleinen Dorf im Lip- spielhaft deutlich bei der Verleihung pischen. Seit 1538 ist unser Landstrich des Ökumenischen Preises an Bun- evangelisch, seit dem 17. Jahrhundert ist desaußenminister Dr. Frank-Walter unser Landstrich evangelisch-reformiert, und das mit allem, was dazu gehört! Ich Steinmeier. Es war eine Veranstal- erinnere mich an Menschen mit großem tung, die immer noch Wellen innerem Ernst, an Pastoren mit wort- schlägt. starker, zuweilen donnernder Predigt. Anders gelagert, aber genauso in- Und die hatte lang und ausführlich zu tensiv zeigte sich die Zuordnung sein! Ein Gottesdienst unter einer Stun- de wäre als Arbeitsverweigerung ver- von Politik und Religion im Grund- standen worden. Die Liturgie bei uns ist satzreferat von Dr. Josef Schuster, karg, ein Kreuz in manchen reformier- dem Präsidenten des Zentralrats der ten Kirchen der einzige Schmuck, in Juden in Deutschland, zur Situation vielen nicht einmal das. Das war meine jüdischen Lebens in Deutschland Welt. Und daneben gab es keine andere bis zum Ende meiner Grundschulzeit. Kardinal Reinhard Marx und Dr. heute. In der Oberschule ging es dann in die Hans-Jochen Vogel trafen sich schon Aber auch der Bericht über den nächstgrößere Stadt. Auch die überwie- vor dem Eingang. Stand der Forschung und Entwick- gend reformiert, aber eben nicht nur: Es lung von Elektromobilität gehört in gab eine lutherische Kirche. Und für diesen Kontext. Nicht erst seit Lau- uns Kinder oder schon Jugendliche war das eine andere Welt. Die Lutherischen dato si‘ von Papst Franziskus steht erschienen uns genauso fremd wie die das Thema Nachhaltigkeit und Katholiken. Oder noch anders: Das Re- im Jahre 1958. Ich glaube, keiner von Tagung damals fand nicht nur große Schöpfungsverantwortung ganz formierte war das Normale, das Luthe- uns war dabei, obwohl ich hier im Raum öffentliche Beachtung, sie löste auch er- oben auf der kirchlichen Agenda. rische die „andere“ Kirche, oder die Kir- viele weiße Schöpfe sehe. Damals fand hebliche politische Irritationen aus. Sie Übrigens sind die kirchlichen Insti- che der „Anderen“, auch weil es Katho- an der Katholischen Akademie die so- war ein prägendes Ereignis für die ge- tutionen im deutschen Register von liken nicht gab. Jedenfalls nicht in mei- genannte „Sozialismustagung“ statt. sellschaftliche Neuordnung der jungen ner kleinen Welt, wo Schulen und Ar- Einer, der sich gut daran erinnert – der Bundesrepublik. Es waren Veranstal- EMAS, dem EU-weiten Validie- beitsplätze nah waren und Mobilität – ehemalige Vizepräsident der Katholi- tungen genau wie diese hier in Ihrem rungssystem für Nachhaltigkeit, mit auch als Wort – noch nicht erfunden schen Universität Eichstätt, Heinz Hür- Haus, Herr Dr. Schuller, die allmählich am stärksten vertreten. Nicht zu- war! Nur sieben Kilometer von meinem ten, – hat eindringlich beschrieben, dass dazu führten, das Eis zwischen SPD letzt unsere Akademie nimmt ihre Dorf verlief die Landkreisgrenze, weit es dabei um nicht weniger ging, als das und katholischer Kirche zu brechen. EMAS-Validierung weiterhin sehr mehr als die Grenze einer kommunalen Verhältnis der katholischen Kirche zur Und damit bin ich beim Thema: Öku- Einheit, eine scharfe konfessionelle SPD. Das war zu dieser Zeit ein Wag- mene. Der Überwindung von Trenn- ernst und verbindet sie mit gesell- Grenze. Dort auf der anderen Seite do- nis! Das war delikat! Und man möchte linien. Von konfessionellen Trennlinien, schaftlicher Verantwortung nach minierte Paderborn! Damals noch präg- sich die Diskussionen hier im Hause ideologischen, auch politischen? innen und außen. te das Wort des allgegenwärtigen Bi- gerne vorstellen. Etwa, die Ausführun- Was bedeutet Ökumene denn in unse- Umgekehrt wurden Kultur und schofs dort kirchliches Leben und All- gen von Carlo Schmid, der dafür warb, rer Gesellschaft? Was bedeutet Ökume- Religion in ihrer gegenseitigen Be- tag der Menschen durch und durch! ideologische und konfessionelle Linien ne in einer Welt, in der religiöse und po- Obwohl nur einen Steinwurf weit von- in einem gemeinsamen, politischen litische Gegensätze mit immenser Kraft reicherung deutlich, als es um den einander entfernt, hatten diese Welten Menschenbild zu überwinden. Die aufeinander zu prallen scheinen. Und – 100. Todestag des Komponisten kaum, eher keine Berührung. Obwohl Max Reger ging, dessen Choral- die Schule, das Gymnasium in der ka- phantasien für Orgel religiöse The- tholischen Kleinstadt näher war, blieb men bearbeiten, wie auch viele sei- man doch lieber im Evangelischen, auch wenn’s ein paar Kilometer mehr ner Chorwerke. waren. Selbst beim Fußball begegnete Politik und Kultur wiederum zeig- man sich nicht, da auch die Fußball- ten sich am Autorenabend mit der Ligen sich an den Kreisgrenzen orien- Erzählerin Jenny Erpenbeck, die ge- tierten. sellschaftliche Herausforderungen Da komme ich her! Da darf man sich faszinierend ins Wort bringt. schon mal fragen, ob man der Richtige für diesen Preis ist. Oder mit anderen Die drei Bereiche Gesellschaft – Worten: Ökumene war mir jedenfalls Kultur – Glaube als thematisches nicht in die Wiege gelegt. Dreieck mit immer neu austarierten Der Ökumenische Preis wird verlie- Querverbindungen in Beziehung zu hen für die Förderung der Una-Sancta- setzen, gehört zur Kernarbeit einer Bewegung, des Gedankens der „einen Kirche“ und damit für das Bemühen um Akademie. Lassen Sie sich überra- eine gelebte Ökumene. Ich glaube, mei- schen, wie wir dies nach den Som- ne Damen und Herren, mehr als wir hier merferien im zweiten Halbjahr 2016 gerade, kann man die Ökumene kaum fortsetzen. Zunächst aber einen er- leben: Hier vor Ihnen, in Bayern, in der freulichen, erholsamen, lektüre- Katholischen Akademie, steht ein – wie Sie jetzt gelernt haben – Evangelisch-Re- freundlichen, aufbauenden Monat formierter aus Ostwestfalen. Ein Sozial- August! demokrat noch dazu. Und: Eine Katholi- kin habe ich auch noch geheiratet! Ihr Lieber Herr Schuller, für gelebte Ökumene steht Ihre Akademie aber nicht erst, seitdem hier Ostwestfalen auf der Bühne sprechen. Für Gemeinschaft Landesbischof Heinrich Bedford- – über konfessionelle, über ideologische Strohm und Frank-Walter Steinmeier: Trennlinien hinweg – steht Ihr Haus Austausch im Park der Akademie. Dr. Florian Schuller seit Jahren! Ich will hier an eine beson- dere Tagung in der Akademie erinnern,

2 zur debatte 5/2016 darauf möchte ich heute ganz beson- ders eingehen: was bedeutet Ökumene in Europa? Einem Europa, an dem un- Themen heimliche Fliehkräfte zerren, in dem Nationalismen wieder aufbegehren. „zur debatte“ „Europa“ wie „Ökumene“ haben viel- leicht nicht ganz zufällig beide ihre Editorial 2 Wurzeln im Griechischen. „Oikein“ = „wohnen“ und „oikos“ = „Haus“, viel- Ökumenischer Preis 2016 leicht „bewohnte Erde“. Sie, lieber Herr an Frank-Walter Steinmeier 1 Dr. Schuller, haben hier in diesem Haus einmal ausgeführt, dass vor allem der Die Welt ist aus den Fugen – Apostel Paulus ein Verb verwendet, das was hält uns zusammen? sich davon ableitet: „oikodomein“, „auf- Bundesminister bauen“, „ein Haus bauen“. Diese Be- Frank-Walter Steinmeier 2 schreibung finde ich sehr schön, sie Begrüßung malt ein Bild von Gemeinschaft. Und: Florian Schuller 8 sie beschreibt die Gestaltung dieser Ge- meinschaft als einen Prozess. Grußwort Wir alle wissen aus eigener Erfahrung: Staatsministerin Dr. Beate Merk 10 wenn man auf engem Raum zusammen Laudatio lebt – unter einem Dach, dann muss Thomas Sternberg 11 man Verständnis und Toleranz mitbrin- gen. Und je größer die religiöse aber Schlusswort auch weltanschauliche Vielfalt unter Reinhard Kardinal Marx 14 dem Dach, desto mehr Mühe muss man sich mit gegenseitiger Verständigung ge- Prof. Dr. Carla Schulz-Hoffmann, Mit- spacher, der SPD-Fraktionsvorsitzende Jüdisches Leben ben – und desto beharrlicher muss man glied der Akademieleitung, Prof. Dr. h.c. im Bayerischen Landtag, Sr. Lea in Deutschland versuchen, Konflikte produktiv zu lösen. Roland Berger, Dr. Albert Schmid, Vor- Ackermann, Trägerin des Romano heute Türen zu verschließen und sich abzu- sitzender des Landeskomitees der Guardini Preises 2008 (v.l.n.r.). Josef Schuster 15 schotten, bringt nichts. Den anderen je- Katholiken in Bayern, Markus Rinder- doch zu betrachten, seine Sichtweise Der „Accord-Arbeiter“ verstehen zu lernen, Trennendes zu be- Zum 100. Todestag kennen und Gemeinsamkeiten zu entde- des Komponisten cken – daraus kann echter Dialog entste- Max Reger hen, Verständigung und ein tragbares Fundament für die Gemeinschaft. Max Regers Orgelmusik So verstehe ich die Ökumene. Als Michael Hartmann 23 Denkprinzip, das Verständigung und Max Regers geistliche Vokalmusik Dialog in den Vordergrund rückt, um Michael Hartmann 27 Gemeinschaft, um „ein Haus“ zu gestal- ten. Und wenn wir Ökumene so be- Elektromobilität trachten, dann hat sie auch eine politi- sche Dimension! Denn wenn ich hier Hype oder Revolution? heute vor Ihnen nicht nur als Christ, Markus Lienkamp 31 sondern eben auch als Außenminister stehe, dann kann ich Ihnen versichern: Autoren zu Gast Der Versuch, durch Verhandlungen bei Albert von Schirnding Konflikte zu lösen und Trennlinien zu Jenny Erpenbeck überwinden; das Bemühen, durch ge- meinsame Regeln und Absprachen eine Heimsuchung und Heim-Suchung. Basis für unser Zusammenleben in der Die Kunst der Erzählerin internationalen Gemeinschaft zu finden Jenny Erpenbeck – das ist mein täglich Brot! Albert von Schirnding 35 Wie wir Protestanten und Katholiken in Offenheit und im Dialog zusammen- Impressum 34 leben, das haben wir in den letzten Jahr- hunderten oft auf schmerzhafteste Wei- se lernen müssen. Aber haben wir wirk- Udo Hahn (li.), Direktor der Evangeli- Ruhwandl waren unter den zahlreichen lich ausgelernt? Wenn wir unsere Welt schen Akademie Tutzing, und der ehe- protestantischen Gästen der Preisverlei- betrachten, dann mag manch einer dar- malige evangelische Dekan Dr. Helmut hung. an zweifeln, dass wir alle den ökume- nischen Gedanken von Dialog und Ver- ständigung wirklich im Grundsatz ver- standen haben. Was ist da los? Noch nie in meiner eigenen Biographie habe ich eine Zeit erlebt, in der die Krisen und Konflikte in solcher Dichte und Vehemenz auf uns einstürmen. Gleichzeitig findet hier bei uns in Europa eine Debatte statt, die an den Grundfesten unserer Union rüt- telt. Und was mich besonders beunru- higt, in diesen stürmischen Zeiten, das sind die dumpfen Parolen, die wir dabei hören. Der Ton wird rauer, nicht nur hier bei uns in Europa. Auch auf der anderen Seite des Atlantiks hören wir Abgrenzungsparolen. Hier und dort werden Ängste geschürt, gegenüber „den anderen“, auch und gerade gegen- über Muslimen. In Europa sind es po- pulistische Parteien, die Sorgen der Bür- gerinnen und Bürger instrumentalisie- ren und den Islam als solchen an den Pranger stellen. Behauptet wird da, Is- lam und Demokratie seien unvereinbar. Ich widerspreche dem ganz entschie- den, denn ich bin sicher: Demokratie gibt dem Islam Raum, und der Islam gibt der Demokratie Raum! Es ist eine „Blechschaden“, ein Fixstern des Professor Dr. Willibald Folz, Vorsitzen- der entscheidenden Aufgaben für unse- Münchner Musiklebens, dirigiert vom der des Vereins der Freunde und re Gesellschaft in den kommenden Jah- Schotten Bob Ross. Gönner der Katholischen Akademie ren, für Muslime und Christen, den Be- Bayern. weis dafür anzutreten.

zur debatte 5/2016 3 Die erste Reihe: Kardinal Reinhard Bundesminister a. D. Hans-Jochen Joachim Menze, der Leiter der EU-Ver- Prof. Dr. Werner Weidenfeld ist Mit- Marx, Staatsministerin Beate Merk, Vogel, Bundesminister a. D. Theo tretung in München, Landesbischof glied der Akademieleitung und stellte EU-Kommissar Tibor Navracsics, Waigel (v.l.n.r.). In der zweiten Reihe a. D. Johannes Friedrich (Träger des den ersten Kontakt mit dem Büro des Bundestags-Vizepräsident Johannes von links: Adrienne Kiraly, Kabinetts- Ökumenischen Preises 2011) und seine Bundesaußenministers her. Singhammer, Ehepaar Liselotte und chefin von EU-Kommissar Navracsics, Frau Dorothea.

Schlichte Parolen mögen zwar Ap- unsere großen Herausforderungen an- pa zurückkehren. Trennlinien tun sich fast 100 Prozent protestantische Bevöl- plaus bringen, auf den Marktplätzen un- zugehen – wie zum Beispiel die Bewäl- zwischen den Völkern auf. Dabei soll- kerungen. In Großbritannien fühlt sich seres europäischen Kontinents, aber sie tigung der Flüchtlingssituation. ten gerade wir in Europa es besser wis- ein großer Teil der Menschen der angli- bringen uns kein Stück weiter bei den Nicht viel besser waren die Parolen, sen! kanischen Kirche zugehörig. Griechen- Herausforderungen, vor denen wir ge- die wir während der Finanzkrise gehört Sowie Papst Franziskus uns anläss- land, Bulgarien und Rumänien sind meinsam in Europa stehen und bei de- haben: Viele Stimmen haben ein geteil- lich der Verleihung des Karlspreises im mehrheitlich orthodox. Gerade die nen die Menschen Antworten erwarten, tes Europa in dramatischen Worten be- Mai gemahnt hat, als er über das Haus friedliche Vielfalt der Kirchen in Euro- die tragen. schrieben: Einen Norden, in dem das Europa sprach: „(Die Gründerväter) pa ist doch ein Beispiel für die europäi- Es macht mir Sorge, wie wir mit der Gefühl wächst, nur noch Zahlmeister legten das Fundament für ein Bollwerk sche Gesellschaft insgesamt! Brexit-Debatte derzeit eine Renaissance für die verschwenderischen Länder des des Friedens, ein Gebäude, das von Und deshalb ist für mich klar: Wir nationaler Stereotype und Egoismen in Südens zu sein. Und einen Süden, der Staaten aufgebaut ist, die sich nicht aus Christen sind gefragt, diese Tradition zu Europa erleben. „Wir haben genug eige- sich vom Norden drangsaliert fühlt. Zwang, sondern aus freier Entscheidung verteidigen. Gerade jetzt, wo starke ne Probleme. Lasst die Welt mit ihren Meine Sorge ist, dass alte Spaltun- für das Gemeinwohl zusammenschlos- Fliehkräfte an unserem Europa zerren, Problemen draußen!“ Das scheint die gen, die wir schon längst überwunden sen und dabei für immer darauf verzich- an den Wänden des Hauses, das wir Ansage zu sein, wenn es darum geht, glaubten, in neuer Gestalt nach Euro- tet haben, sich gegeneinander zu wen- gemeinsam gebaut haben. Wenn der den. Nach vielen Teilungen fand Euro- pa endlich sich selbst und begann sein Haus zu bauen.“ „Oikodomein“ – da ist es wieder, auch in der Sprache des Papstes über Europa! Es stimmt. Mit und durch den Bau unseres „Haus Europa“ haben wir ge- lernt, Konflikte einzuhegen, sie in zivili- sierten Formen auszutragen. Aber wir merken jetzt: Das Haus hat Risse! Seine Stabilität ist keine Selbstverständlich- keit mehr! Es zu stützen ist unsere ge- meinsame Aufgabe! Und wenn wir – in Anlehnung an den Begriff der Ökumene – diese Arbeit als eine Arbeit an einem Haus verstehen, das Raum für alle hat, ein Haus, in dem wir zusammenleben wollen –, dann muss unsere Antwort das genaue Gegenteil von Abschottung und Abgrenzung sein. Dann muss es uns darum gehen, neue Wege des Dia- logs und der Zusammenarbeit in Euro- pa zu öffnen! Dabei sollten wir uns daran erinnern, dass es die Kirchen sind, die bei allen weiter bestehenden Unterschieden, eine Art Vorreiterin der Idee von der euro- päischen „Einheit in Vielfalt“ waren. Die große Leistung der europäischen Einigung besteht doch gerade darin, Dr. Hildegard Kronawitter, Mitglied der Verschiedenheit zu versöhnen: das gilt Staatsminister a. D. Dr. Wolfgang Akademieleitung, war mit ihrem Sohn für nationale Identitäten ebenso wie für Heubisch (FDP). Der Schwabinger und Florian zur Preisverleihung gekommen. Konfessionen. Die Mehrheit der EU- jetzige Münchner Stadtrat ist ein enger Bürger ist römisch-katholisch. Aber in Freund der Akademie und häufiger Dänemark und Schweden haben wir zu Besucher unserer Veranstaltungen.

4 zur debatte 5/2016 Ökumene auch mit der Orthodoxie: Dr. Ulrich Netzer, der Präsident des Tutzing, ist Friedemann Greiner jetzt Erzpriester Apostolos Malamoussis Bayerischen Sparkassenverbandes (li.), Honorarkonsul der Republik Ruanda gratulierte dem Preisträger im Namen und Dr. Friedemann Greiner. Früher und Generalsekretär des Konsulari- der Griechisch-Orthodoxen Metropolie. Direktor der Evangelischen Akademie schen Corps in Bayern.

Nahm sich nach dem Festakt auch Kennen und schätzen Frank-Walter Professor Hans-Jürgen Drescher, noch Zeit für die Gäste aus Berlin: Steinmeier als Förderer der Kultur: Präsident der Bayerischen Theateraka- Staatsministerin Dr. Beate Merk (CSU). Erfolgsautor Albert Ostermaier (li.) und demie August Everding.

Seine Kollegin Prof. Dr. Ursula Münch, Zeit für Gespräche: Sr. Lea Ackermann, Direktorin der Akademie für Politische Trägerin des Romano Guardini Preises, Bildung Tutzing, begrüßte Dr. Florian und General a.D. Klaus Naumann mit Schuller besonders herzlich. dem Preisträger.

zur debatte 5/2016 5 Dr. Annekathrin Preidel, Präsidentin Münchner Katholiken: Bundestags-Vize- der Landessynode der Evangelisch präsident Johannes Singhammer (CSU) Lutherischen Kirche in Bayern (li.), mit mit Dr. Stephanie von Luttitz, der zwei Katholiken: Kardinal Friedrich Diözesanvorsitzenden des Bundes der Wetter und Elke Büdenbender. Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ).

Ton rauer wird, wenn Abgrenzung und Frieden und Versöhnung gebracht hat. Abschottung die neuen Lockrufe der Lasst uns aufstehen für das Haus Eu- Populisten sind, dann ist für mich klar: ropa, und zwar bevor es zu spät ist! Es wir Christen müssen noch viel deutli- ist ja schön, dass jetzt in Großbritan- cher sagen, dass die Ökumene auch nien mit Demonstrationen, Petitionen eine politische Dimension hat! und flammenden Reden der Geist Euro- Wolfgang Huber hat einmal darauf pas entdeckt wird – nur wo war diese hingewiesen, dass ein wichtiger Beitrag Leidenschaft vor der Abstimmung? der Kirche für die Zukunft Europas in Papst Franziskus hat es im Mai in ihrer Fähigkeit besteht, sich in der je- Rom gesagt: „Am Wiederaufblühen eines weiligen Unterschiedlichkeit zu respek- zwar müden, aber immer noch an Ener- tieren und mit Verschiedenheiten ge- gien und Kapazitäten reichen Europas schwisterlich umzugehen. Das ist eine kann und soll die Kirche mitwirken.“ Botschaft, die nie notwendiger war als Aber, so fügte er hinzu, „nur eine Kirche, gerade jetzt! die reich an Zeugen ist, vermag von neu- Deswegen sage ich: Geht raus! em das reine Wasser des Evangeliums Sprecht mit Euren Brüdern und Schwes- auf die Wurzeln Europas zu geben.“ tern in Polen, in Italien, in Griechen- Eine Kirche „reich an Zeugen!“! Mit land und Großbritannien! Die Antwor- diesem Begriff bin ich jetzt, am Ende ten, die wir in diesen Gesprächen hören meiner Rede, bei der eigentlichen Frage werden – da bin ich mir ziemlich sicher angelangt, nämlich: wem Sie heute die- – sind nicht immer die Antworten, die sen wunderbaren Preis eigentlich über- wir hören wollen! Aber wir müssen die- geben. Gilt er einem „Zeugen der Kir- se Antworten hören! Besser zuhören als che“: dem Christen Frank-Walter Stein- in der Vergangenheit, um einander ver- meier? Oder dem Politiker, dem Außen- Charlotte Knobloch, die Präsidentin der stehen zu lernen! Und streiten für eine minister? Israelitischen Kultusgemeinde Mün- europäische Kultur, die seit 70 Jahren Klar ist doch: Politik wird nicht mit chen, kennt den Außenminister schon für einen Kontinent, der über Jahrhun- der Bibel in der Hand gemacht. Nicht sehr lange. derte in Krieg und Gewalt zerrissen war, für jede Erbschaftssteuerregelung gibt es

Frank-Walter Steinmeier war im Park Markus Horst, Geschäftsführer der Steinmeier im Gespräch mit Gästen, nicht abgeschottet, sondern freute sich Katholischen Erwachsenenbildung in darunter Prälat Dr. Christoph Kühn, über Gespräche – hier mit Dr. Hans Erlangen. Domkapitular aus Eichstätt (2.v.l.), und Dr. Stephanie von Luttitz (li.).

6 zur debatte 5/2016 Der Schriftsteller Tilman Spengler aus Ambach am Starnberger See ist ein enger Freund des Außenministers und beglei- tete Frank-Walter Steinmeier an diesem Tag bei dessen Terminen in München.

Waren begeistert von der hervorragen- den Musik: Kardinal Friedrich Wetter, Landesbischof Heinrich Bedford- Strohm, Frank-Walter Steinmeier und Elke Büdenbender (v.l.n.r.).

eine Antwort in der Heiligen Schrift, Mut macht, das Notwendige zu tun! gelung des Ehrgeizes, die Verschieden- nicht einmal für schwierige Fragen im In unserem Haus Europa jedenfalls heit zum Keim der Identität zu machen. Umgang mit aktuellen Bedrohungen. lebe ich als Christ und als Politiker. Und Das kann Europa von den christli- Aber auch wenn nicht alle Antworten ich sehe es als unsere gemeinsame Auf- chen Kirchen lernen! Was muss Kirche schon gegeben sind: Genauso klar ist, gabe, als Christen und als Europäer, lernen? Dass es die kleinen Welten, wie dass ich meinen christlichen Glauben dieses Haus zu gestalten. Von der „ver- ich sie am Anfang beschrieben haben, nicht an der Garderobe abgebe, wenn söhnten Verschiedenheit“, wie wir sie nicht mehr gibt. Und nicht die kleinen ich morgens an meinen Schreibtisch als gelebtes Prinzip in der Ökumene der und großen Gewissheiten, mit denen gehe oder ins Flugzeug steige. Meine christlichen Kirchen beschreiben, schei- meine Generation noch aufgewachsen christliche Überzeugung und das Ver- nen wir uns im politischen Europa die- ist. trauen auf Gott, sind mir ein Kompass, ser Tage wieder zu entfernen. Aber auch Die traditionellen Verhältnisse, in de- Shmuel Aharon Brodman, Rabbiner an geben ein inneres Gerüst, das Ängstlich- hier sollten wir erinnern, dass dieses nen unsere Eltern und Großeltern auf- der Synagoge der Israelitischen Kultus- keit vermeidet (in Angesicht einer un- Prinzip gerade nicht den Verzicht auf gewachsen sind, haben sich aufgelöst. gemeinde München, repräsentierte den übersichtlich gewordenen Welt) und Unterschiede fordert, wohl aber die Zü- Flucht, Vertreibung, Verstädterung, Mo- interreligiösen Dialog. bilität, in den letzten Jahrzehnten auch die wachsende Zuwanderung haben Deutschland nachhaltig verändert: seine Sozialstruktur, seine Mentalitäten, aber eben auch das Verhältnis zur Religion. Und nicht nur in Ostdeutschland gilt: Die christlichen Kirchen bleiben wichti- ge Institutionen, aber sie haben an Prä- gekraft in der Gesellschaft eingebüßt. Der Prozess der Säkularisierung in den westlichen Gesellschaften ist auch an den Kirchen Deutschlands nicht spurlos vorbeigegangen. Das hat Folgen, die wir uns bewusst machen müssen: In einer weiter zusammenwachsenden Welt, die sich nicht mehr allein um die europäi- sche Sonne dreht, geht es auch um Glaubwürdigkeit des Christentums ins- gesamt: Solange unser Horizont das Dorf, die Stadt, die Region oder ein Na- tionalstaat ist, kann man vielleicht noch unbeschwert reformiert, lutherisch oder katholisch sein. Wenn unser Horizont aber die gesamte Welt ist, sieht das an- ders aus! Oder in den Worten der Leu- enberger Konkordie: „Die Bemühung um Gerechtigkeit und Frieden in der Welt verlangt von den Kirchen zuneh- Auch CSU-Politiker waren bei der sowie Dr. Hans-Peter Uhl, einer der mend die Übernahme gemeinsamer Zollte parteiübergreifend Respekt: Preisverleihung prominent vertreten, direkt gewählten Münchner Abgeordne- Verantwortung.“ Margarete Bause, die Fraktionsvorsit- hier der frühere Parteichef und Bundes- ten im Bundestag. Dieser Verantwortung dürfen wir uns zende der Grünen im Bayerischen finanzminister Dr. Theo Waigel (li.) um der Welt, aber auch um der Kirchen Landtag. willen nicht entziehen. „

zur debatte 5/2016 7 IV. in Vertretung des Ministerpräsidenten Begrüßung ein Grußwort sprechen wird. Gehe ich in der Geschichte des Wor- Offiziell für die Fraktionen aus dem Florian Schuller tes „Haus“, „oikos“, wieder zu den anti- Maximilianeum, in alphabetischer Rei- ken Quellen zurück, findet es sich dort henfolge, Frau Margarete Bause, Frakti- als eine von mehreren Metaphern für onsvorsitzende der Grünen, Karl Freller das Weltgebäude insgesamt. „Über die für die CSU, Markus Rinderspacher, Sorge für das gemeinsame Haus“, die- SPD-Fraktionsvorsitzender, zusammen sen Untertitel gab Papst Franziskus sei- mit etlichen weiteren Landtagsabgeord- ner Enzyklika Laudato si‘ zur Heraus- neten. „Ökumene“ – eines unserer großen forderung ökologisch angemessenen Den Souverän der Politik unseres Worte. Es stammt bekanntlich vom Verhaltens. Diese weltweite Dimension Landes, das deutsche Volk, repräsen- griechischen Wort für „wohnen“ ab, des Wortes „Haus“ hat sich dann in das tiert der stellvertretende Präsident des „oikein“, und dieses wiederum vom Partizip Passiv des Verbums „oikein“, Deutschen Bundestags, Johannes Sing- Wort „Oikos“, „Haus“. „wohnen“ hinübergerettet: „hä gä oiku- hammer, begleitet von einer ebenfalls mene“, „die bewohnte Erde“. In der An- deutlichen Anzahl von Bundestagsabge- I. tike war das zunächst der Begriff für ordneten. Dazu kommen die früheren jene Bereiche der Welt, die von Men- Bundesminister Hans-Jochen Vogel und Wenn ich deshalb dem Wortsinn von schen gestaltet werden, wo also Kultur Theo Waigel. Ökumene nachgehe, darf ich zunächst entsteht, im Gegensatz zu den men- Auch Brüssel ist heute sehr hochran- als „Haus“-Herr Sie alle sehr herzlich schenlosen Bereichen der Welt. Ich freue gig vertreten, und zwar durch das Mit- begrüßen: Sie, ökumenisch gesinnte mich, dass viele aus solcher Kulturöku- glied der EU-Kommission, Tibor Nav- Vertreterinnen und Vertreter unter- mene heute da sind: racsics, den Kommissar für Bildung, schiedlicher christlicher Traditionen; Natürlich vor allem unter seinem Kultur, Jugend und Sport, zusammen Ordensobere, Patres und Schwestern, Gründer und Dirigenten Bob Ross der mit seinem Team. 19 General- und Ho- Priester, Theologinnen und Theologen, „Blechschaden“; vornehmer formuliert: norarkonsuln haben sich angemeldet, Domkapitulare und weitere Repräsen- die hoch berühmten und höchst gelob- an ihrer Spitze der Generalsekretär des tanten kirchlicher Leitungsebenen, Ins- ten Blechbläser der Münchner Philhar- Konsularischen Corps in Bayern, Frie- titutionen, Hilfswerke, Verbände und moniker, begleitet von ihrem Intendan- demann Greiner. Gremien; Professoren der Wissenschaft, ten Paul Müller. Damen und Herren der Medien; Ver- Dann eine große Zahl von Präsiden- VI. antwortliche aus Wirtschaft und Fi- ten und Direktoren wichtiger Kultur- nanzwelt, von Politik und Verwaltung; institutionen: Prof. Klaus-Dieter Leh- Bald nach den ersten christlichen die Romano-Guardini-Preisträgerin Sr. mann für das Goetheinstitut, Prof. Konzilien, ab dem vierten Jahrhundert, Lea Ackermann; den Ökumenepreisträ- Dr. Florian Schuller, Akademiedirektor Hans-Jürgen Drescher für die Bayeri- verband man mit „ökumenisch“ das, ger Landesbischof i.R. Johannes Fried- sche Theaterakademie August Everding, was allgemein gültig in der Kirche war, rich; und all die vielen anderen Freunde BR-Hörfunkdirektor Martin Wagner, autoritativ und verpflichtend. Zu sol- unseres Hauses. Danke, dass Sie der Angelika Nollert, Chefin der „Neuen cher autoritativer Ökumene passen gut, Einladung gefolgt sind. und Prälat Eugen Kleindienst kommen Sammlung München“, Prof. Ursula als Vertreter der hohen Justiz: der Präsi- aus der Diözese Augsburg, Domkapitu- Münch, Akademie für Politische Bil- dent des Bayerischen Verwaltungsge- II. lar Prälat Dr. Christoph Kühn aus Eich- dung Tutzing, und Udo Hahn für die richtshofs Stephan Kersten, und Chris- stätt und Dr. Josef Zerndl ist Domkapi- Evangelische Akademie Tutzing, Car- toph Strötz, Präsident des Oberlandes- Dieses Haus hat stabile Fundamente, tular der Erzdiözese Bamberg men König-Rothemund, Vorsitzende der gerichts Nürnberg. sieben an der Zahl, die sieben bayeri- Vollmar-Akademie. schen katholischen Diözesen. Das Ur- III. VII. fundament gleichsam repräsentiert der V. Erzbischof von München und Freising, Dass unser Akademie-Haus die zutref- Bei unserer Wortsinnsuche von Reinhard Kardinal Marx, der Protektor fenden Grundrisse aufweist, manchmal Im römischen Reich, später dann „Ökumene“ landen wir dann mit einem unserer Institution. Er hat eigens eine auch entsprechend renoviert wird, dafür also, verstand man unter Ökumene die riesigen Zeitsprung mitten im 19. Jahr- wichtige Tagung im Vatikan verschieben sorgen die Mitglieder der Akademielei- politische Gestalt des Imperium Roma- hundert. Da entstand jene sich bewusst lassen, um heute hier dabei sein zu kön- tung, gleichzeitig die Juroren des heute num. Für die vielen Anwesenden, die in so nennende „ökumenische Bewegung“. nen. Ihm zur Seite Friedrich Kardinal auszulobenden Preises: Hildegard Kro- der Politik Verantwortung tragen, seien Die hatte und hat ein doppeltes Ziel: Wetter, uns seit Jahrzehnten verbunden. nawitter, Wolfgang Schirmer, Prof. Carla stellvertretend genannt: erstens, die getrennte Christenheit im Die anderen Fundamente, sprich Di- Schulz-Hoffmann, Prof. Werner Weiden- Von der kommunalen Basis begin- einen Haus zusammenzuführen, dessen özesen, vertreten in offiziellem Auftrag feld, Prof. Johann Wittmann, Prälat Lo- nend, wie es sich für ein gutes Subsidia- Grundstein Jesus Christus selbst ist. ihrer jeweiligen Bischöfe Domkapitular renz Wolf. Sie mögen stehen für alle Mit- ritätsprinzip gehört: Alexander Reissl, Und auf diese Weise die bezeugende Wolfgang Klausnitzer aus Bamberg; glieder der Gremien unserer Akademie, Fraktionsvorsitzender der SPD im Kraft des christlichen Glaubens in der Domkapitular Thomas Pinzer und deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Stadtrat, und Frau Anja Burkhardt für Welt zu stärken. So bin ich bei den heu- Wolfgang Stöckl aus Regensburg. Bi- des Vereins der Freunde und Gönner mit die CSU; dann für den Freistaat Bayern te hier versammelten Repräsentanten schofsvikar Prälat Karlheinz Knebel Prof. Willibald Folz an der Spitze. Frau Staatsministerin Beate Merk, die der christlichen Ökumene angelangt:

Oberlandesgerichtspräsident Dr. Chris- Zentralkomitee der deutschen Katholi- Hohe Diplomatie: EU-Bildungskom- toph Strötz (re.) aus Nürnberg traf auf ken und auch im Bildungsausschuss der missar Tibor Navracsics (li.) und den Juristen Dr. Walter Bayerlein. Über Katholischen Akademie. Joachim Menze, der Leiter der EU-Ver- Jahrzehnte wirkte Walter Bayerlein im tretung in München.

8 zur debatte 5/2016 Preisbegründung

Die „Ökumenische Stiftung der Ka- glaubenden gegenseitig respektiert wer- tholischen Akademie in Bayern“ wur- den. de von Rechtsanwalt Hanns Gierlichs Frank-Walter Steinmeier zeigt durch (1907-1993) zum Andenken an seine die Art seines politischen Handelns, Eltern Wilhelm und Antonie Gierlichs welche Kraft christlicher Überzeugung errichtet. Ihre Zweckbestimmung ist innewohnt, wenn sie eingebracht wird „die Förderung der Una-Sancta-Bewe- in Gesellschaft, Politik und Staat. Sol- gung“ durch die Verleihung von Aner- ches Tun ist im echten Sinne ökumeni- kennungspreisen „für erbrachte Leis- scher Dienst, weil es in einem zuneh- tungen zur Förderung der Ökumene im mend weltanschaulich pluralen wie sä- Sinne Karl Rahners im Verhältnis der kularen Gemeinwesen hilft, dass Men- katholischen Kirche zu den Kirchen schen, die dem Christentum distanziert der Reformation“. Aus den Mitteln die- oder kritisch gegenüberstehen, die ser Stiftung wird satzungsgemäß der gläubige Grundüberzeugung von Chris- „Ökumenische Preis bei der Katholi- ten als wertvoll und wichtig verstehen schen Akademie in Bayern aus der können. Stiftung Wilhelm und Antonie Gier- Frank-Walter Steinmeier steht fest in lichs“ vergeben. der reformierten Tradition, engagiert sich ehrenamtlich und ist nominiert als Die Welt ist in Unordnung wie sel- künftiger Präsident des Evangelischen ten seit dem Zweiten Weltkrieg. In die- Kirchentages; er pflegt die Ökumene ser Situation sind Christen besonders auch im persönlichen Umfeld. Dass er gefordert, aktiv zu Frieden und Ge- darüber hinaus immer wieder den un- rechtigkeit beizutragen. Damit legen sie terdrückten Christen im Nahen Osten ein Zeugnis gelebten Glaubens in der beisteht, verdeutlicht seinen Einsatz in Gesellschaft ab. In einer sich immer ökumenischer Verantwortung. mehr globalisierenden Welt gelingt dies In diesem Sinne nimmt er eine Vor- Das Team des Außenministers – hier die stellvertretende nur, wenn die Grundüberzeugungen bildfunktion wahr und stärkt die ge- Pressesprecherin Sawsan Chebli (vorne rechts) und sein von Glaubenden, Anders- und Nicht- meinsame christliche Position. persönlicher Referent Dr. Günter Sautter – koordinierte die Termine Steinmeiers in München.

Für die evangelische Tradition Lan- das Judentum, hier an der Spitze mit geben. Nur drei Schlagworte: Armenien, Christen in der Gesellschaft gelassen- desbischof und EKD-Vorsitzender Frau Charlotte Knobloch. Russland, Großbritannien. selbstbewusst verstärkt. Heinrich Bedford-Strohm; Simon Fro- Zweitens, eine ökumenische Grund- Erinnern wir uns deshalb nochmals ben vom Moderamen der Evangelisch- VIII. haltung zeigt sich in weit mehr als Mit- an die fünf Stationen des Verständnisses reformierten Kirche in Bayern; Anneka- gliedschaften in ökumenischen Gremien, von Ökumene, die wir vorhin kurz ab- thrin Preidel, Präsidentin der Landes- Ja, und heute nun steht die Verlei- so wichtig diese auch seien. Auch weit geschritten sind: Verantwortung für das synode der ELKB. Sie wird sich mit un- hung des Ökumenischen Preises 2016 mehr als beim Verfassen ökumenischer gemeinsame Haus der Welt, Kultur als seren Albert Schmid und Prof. Hans der Katholischen Akademie Bayern an. Resolutionen, so wichtig diese auch sei- gesamtmenschliche Aufgabe, die poli- Tremmel über die Räteerfahrungen in Der Name des diesjährigen Trägers hat en. tisch-rechtliche Staatsgestalt, das allge- unseren Kirchen austauschen. erfreulicherweise für einen deutlichen Denn, drittens, zur Ökumene trägt mein verpflichtende Erbe der christ- In Vertretung von Erzbischof Agosti- Aufmerksamkeitseffekt gesorgt, nicht ganz fundamental das konkrete Han- lichen Botschaft, überzeugendes und nos Bischofsvikar Apostolos Malamous- zuletzt wegen der Preisbegründung. Uns deln jedes Einzelnen in der Gesellschaft damit glaubensbezeugendes Handeln. sis; Weihbischof Sofian von Kronstadt war wichtig: bei, dessen Engagement für die Men- Wenn wir diese fünf Dimensionen für die Rumänisch-Orthodoxe Metropo- Erstens, wir verstehen den Ökumeni- schen man den gläubigen Impetus an- zusammennehmen, dann, ja dann hät- lie München und Erzpriester Nikolai schen Preis natürlich nicht als Aus- sieht, anhört; dessen Handeln deshalb ten wir schließlich wohl fast das spiritu- Zabelitch von der Berliner Diözese der zeichnung für konkrete politische Posi- ein öffentliches Zeichen christlicher elle Psychogramm jener Person, wegen Russisch-Orthodoxen Kirche. tionen und deren Durchsetzung. Da Grundüberzeugung ausstrahlt; und das derer wir heute hier sind. Sehr verehrter In diese biblisch fundierte Gemein- wird es, nicht nur unter Christen, häufig deshalb die gemeinsame, die ökumeni- Herr Bundesaußenminister, ganz inten- schaft gehört selbstverständlich auch ziemlich unterschiedliche Meinungen sche Präsenz von Christinnen und siven Dank dafür, dass Sie bereit sind,

Prof. Dr. Georges Tamer, Professor für Nürnberg, ist Nahost-Experte und war Dr. Elfriede Schießleder, die Landesvor- Orientalische Philologie und Islamwis- für Frank-Walter Steinmeier ein sehr sitzende des Katholischen Deutschen senschaft an der Universität Erlangen- interessanter Gesprächspartner. Frauenbundes Bayern (KDFB), tauschte sich mit Markus Rinderspacher aus, dem Chef der SPD-Landtagsfraktion.

zur debatte 5/2016 9 in der Katholischen Akademie Bayern IX. deren Ökumenischen Preis 2016 entge- Grußwort genzunehmen. Ihnen und Ihrer verehr- Sehr dankbar bin ich, dass Prof. Tho- ten Gemahlin, Frau Elke Büdenbender, mas Sternberg die Laudatio halten wird. Staatsministerin Dr. Beate Merk die Sie erfreulicher- und ehrenderweise Er ist der ideale Laudator, und das aus begleitet, sage ich ein herzliches Grüß- mindestens fünf Gründen. Erstens, bis gott. vor kurzem hat er über mehr als zwei Manchmal hat man ja in unseren Ta- Jahrzehnte ein ähnliches Haus wie die- gen fast den Eindruck, als hätte „Öku- ses hier geleitet, die renommierte katho- mene“ jene Bedeutung, mit der zum lisch-soziale Akademie Franz-Hitze- Beispiel der Evangelist Lukas in der Haus in Münster. Zweitens, er ist wie Die Katholische Akademie hat einen Versuchungsgeschichte Jesu rechnet, Frank-Walter Steinmeier kirchlicher hervorragenden Ruf in Bayern und weit wenn er unter „Ökumene“ die gesamte Laie. Drittens, wie dieser ist er Abge- darüber hinaus. Die Mandlstraße 23 gilt Welt meint, insofern sie unter der Herr- ordneter, und zwar im Landtag von als Premium-Adresse für den anspruchs- schaft des Satans steht, des Versuchers, Nordrhein-Westfalen. Viertens, anders vollen Austausch von Kirche und Welt. des Diabolos, der alles durcheinander- als der Außenminister gehört er der In diesen Räumen wird um Einsicht wirft. Da kommen wohl auf einen Au- Union an, wodurch das Rednertableau und Verständigung gerungen – leiden- ßenminister, so stelle ich mir das jeden- des heutigen Tages schön ausgeglichen schaftlich, differenziert, immer mit Res- falls vor, fast jeden Tag europaweit, ist. Und fünftens, am wichtigsten: Tho- pekt vor der Meinung und Haltung des weltweit bezogene Krisensitzungen zu. mas Sternberg ist Präsident des Zentral- Gegenübers. Wir in Bayern sind stolz Um so wunderbarer, dass dieser Termin komitees der deutschen Katholiken und auf diesen Leuchtturm des gelehrten in der Prioritätenliste immer ganz oben damit Chef der Katholikentage. Eben Dialogs! stand, wie uns Ihr Büro versichert hat. erst hat er dessen 100. Auflage in Leip- Hier werden die Werte unseres Danke allen, die dazu mitgeholfen zig verantwortet. So fungiert er gleich- christlich-jüdischen Menschenbildes ge- haben: zunächst den Verantwortlichen sam als Kollege von Frank-Walter Stein- lebt. Humanität, Rechtsstaatlichkeit, im Büro des Herrn Außenministers; meier, der seinerseits zum Präsidenten Freiheit – all das macht unser christ- und von München aus haben Prof. des 37. Evangelischen Kirchentages liches Wertebild aus. Diese christlich- Weidenfeld, anschließend Hans-Jochen 2019 in Dortmund designiert wurde. jüdische Tradition ist auch das Funda- Vogel mit Frau Hildegard Kronawitter ment für den Zusammenhalt in Europa Unterstützung geleistet, damit unser X. und den Frieden in der Welt. Studienleiter Bernhard Forster für die Zusammenhalt in Europa und Frie- Organisation immer neue Hoffnung Wir hier, wir wissen gemeinsam, was den in der Welt – wer hätte noch vor schöpfen konnte. der Psalm 127 so formuliert: „Wenn zwei oder drei Jahren gedacht, dass die- Ich komme nochmals auf Oikos, das nicht der Herr das Haus baut, müht se Themen und damit die Außenpolitik Haus, zurück. In Ihrem persönlichen sich jeder umsonst, der daran baut.“ In so sehr in den Mittelpunkt der Auf- Dr. Beate Merk, Bayerische Staats- Haus, sehr verehrter Herr Bundesminis- diesem Sinne Ihnen, uns allen gesegne- merksamkeit von uns allen rücken. ministerin für Europaangelegenheiten ter, pflegen Sie konkret die Ökumene te eineinhalb Stunden. „ Deshalb erhält der diesjährige Preisträ- und regionale Beziehungen mit Ihrer katholischen Gattin. Und was ger des Ökumenischen Preises den Preis „Haus“ als Symbol für Geborgenheit genau zur rechten Zeit! und Sicherheit angeht: Sie haben uns gebeten, das Preisgeld von 10.000 Euro Sehr geehrter Herr Bundesminister sie hoffen auf unsere Werte: Jeder als Spende an das Flüchtlingsnetzwerk Steinmeier, Mensch ist einmalig in seiner Würde – Brandenburg weiterzuleiten. ich heiße Sie herzlich in Bayern will- vom Anfang bis zum Ende seines Le- kommen. Gratulation zu dieser Aus- bens. Menschenrechte, Gleichberechti- zeichnung! Der Ökumenische Preis ist gung von Mann und Frau, Freiheit in eine Anerkennung für Ihr Wirken als Verantwortung für den Nächsten und Christ und Brückenbauer – und zugleich die Schöpfung. Ermutigung für alle, denen Solidarität, Frieden und Freiheit am Herzen liegen. Meinen herzlichen Glückwunsch! Gerade in Zeiten der Krise in Euro- Gerade in Zeiten der Krise pa, der weltweiten Herausforderungen in Europa, der weltweiten durch Terror und Krieg, müssen wir uns wieder stärker auf unsere Werte als Herausforderungen durch Kern unseres Zusammenlebens besin- Terror und Krieg, müssen nen. Sie, Herr Bundesaußenminister, prä- wir uns wieder stärker auf gen in zentralem Maße die deutsche unsere Werte als Kern unse- Antwort auf die vielen Krisen und Her- ausforderungen, mit denen wir konfron- res Zusammenlebens besin- tiert sind. Wie viele es sind, erfahre auch nen. ich jede Woche aufs Neue. Wo auch im- mer ich als für die Außenbeziehungen des Freistaats Bayern zuständige Minis- Ich selbst habe Menschen in Flücht- terin hinkomme: die Themen Flucht lingscamps im Libanon, in der Türkei und Migration, Ukraine und Russland, und in Jordanien besucht. Gerade die jetzt Brexit stehen sofort im Mittelpunkt Kinder haben mich tief berührt. Da ist des Gesprächs – um nur einige ganz be- so viel Hoffnung in den Augen dieser sonders aktuelle Beispiele zu nennen. Mädchen und Buben – trotz all dem Und ich merke: außen- und europa- Leid, das sie erfahren haben. Diese Kin- politische Themen dominieren jetzt auch der dürfen wir nicht vergessen. Bayern – ganz anders als früher – die Gesprä- stellt sich seiner Verantwortung. Wir che mit den Bürgerinnen und Bürgern wollen Perspektiven in den Herkunfts- hier zu Hause. ländern schaffen. Dafür werden wir im Wir müssen uns angesichts der Fülle neuen Doppelhaushalt die Mittel um der Probleme umso stärker unseres ein Vielfaches erhöhen. grundlegenden Wertekanons rückver- Für eine bessere Welt brauchen wir sichern. Papst Franziskus hat bei der Vorbilder, die sich stark machen für Verleihung des Karlspreises am 6. Mai Schwächere, die Probleme anpacken 2016 mahnende Worte an uns alle ge- und handeln, statt sich wegzuducken. richtet: „Was ist mit Dir los, humanis- Wir brauchen Menschen, die ihre Über- tisches Europa, Du Verfechterin der zeugung als Christen leben und wissen: Menschenrechte, der Demokratie und Für Versöhnung, Frieden und Freiheit der Freiheit?“ müssen wir uns Tag für Tag einsetzen. Die Flüchtlingskrise stellt uns alle vor Der Ökumenische Preis der Katholi- große Herausforderungen und fordert schen Akademie ist ein starkes Signal: gerade von uns Christenmenschen ein Setzen wir uns gemeinsam weiter ein mutiges Handeln. Klar ist aber auch: für Verständigung über Grenzen hin- Wir können diese Herausforderung weg, für Frieden und Hoffnung in der nicht alleine stemmen. Hier müssen alle Welt! Ich freue mich auf die Preisverlei- Der Ökumenische Preis: die Urkunde in Europa zusammenstehen. hung. „ bleibt Außenminister Steinmeier, das Millionen von Menschen machen Preisgeld in Höhe von 10.000 Euro sich weltweit auf den Weg. Sie flüchten spendete er an das Flüchtlingsnetzwerk vor Krieg und Terror, vor Hunger und Brandenburg. Not. Die Menschen hoffen auf Europa,

10 zur debatte 5/2016 seiner reformierten, calvinistischen der zuvor nicht wahrgenommene Lands- Laudatio Form, der die dortigen schnörkellosen mann Gerhard Schröder ins Spiel, mit Menschen prägt. dem „die Chemie“ stimmt, und der ihn Thomas Sternberg Politisch finden sich in dieser Gegend als Medienreferent nach Hannover holt, seit langem sozialdemokratische Mehr- wo er es bis zum Chef der Staatskanzlei heiten auf allen Ebenen. Steinmeier bringt und später mit seinem Dienst- wird 1975, mit 19 Jahren, Mitglied der herrn in die Bundesregierung wechselt, Jusos. Die Vorstellung von sozialer Ge- wo er bald Kanzleramtsminister wird. rechtigkeit ist tief verwurzelt und man In Hannover – der „am meisten un- sucht ihre Verwirklichung – ich sage lei- terschätzten Großstadt in Deutsch- Ein Ökumene-Preis an einen Politi- der – vor allem bei der Sozialdemokra- land“, wie er sagt – heiratet er Elke Bü- ker? Es ist ungewöhnlich, dass dieser tie. Sie werden sich denken können, denbender, die er seit Studienzeiten Preis an den amtierenden Außenminis- dass die wichtigsten politischen Vorbil- kennt; Juristin wie er und zeitweilig am ter der Bundesrepublik Deutschland der des SPD-Politikers Frank-Walter selben Lehrstuhl tätig. Es ist eine ‚kon- verliehen wird. 15 Preisträger gab es Steinmeier andere als die meinen sind. fessionsverbindende Ehe‘, wie man heu- bislang, darunter acht Bischöfe aus vier Doch zu Recht zitiert er immer wieder te sagt, denn sie kommt aus einer ka- Konfessionen und vier Theologieprofes- Willy Brandt, dessen Politik der Suche tholischen Familie im sonst so refor- soren. Nun ein Jurist und erstrangiger nach einem Ausgleich zwischen den mierten Siegerland. Einige Jahre später Verantwortungsträger deutscher Politik. Blöcken, des behutsamen Aufwärmens wird eine Tochter geboren. In Äußerun- Ein SPD-Politiker, der in seinem Dienst im Kalten Krieg für ihn politisch leitend gen über familiäre Angelegenheiten hält nicht zuletzt durch seinen evangelisch geworden ist. sich dieser Spitzenpolitiker ebenso auf- geprägten Glauben getragen wird. Und Er kommt aus einem „bildungsfernen fallend wie sympathisch zurück. Im Au- nun soll ich als katholischer CDU-Ab- Elternhaus“, wie man das heute so pa- gust 2010 verlässt er für einige Zeit die geordneter eine Laudatio halten. pieren nennt. Der Vater ist Tischler in Politik. Die Öffentlichkeit erfährt nur, Der Preis wird mit Ihnen sehr verehr- Brakelsiek, die Mutter kommt aus dass er eine Organspende zugunsten ter und lieber Herr Bundesminister Dr. Schlesien. Mit einem Bruder wächst er seiner Frau durchgeführt hat. Bei aller Steinmeier auch dem Präsidiumsmitglied auf. Ein Grundschullehrer hat ihn ge- Dezenz zeigt sich doch eine Prioritäten- des DEKT, des Deutschen Evangelischen prägt, der sich in der evangelischen Lai- setzung in diesem Schritt. Ehe und Fa- Kirchentags und Kirchentagspräsident enarbeit engagierte und das Interesse an milie hält er nicht für Auslaufmodelle; 2019 in Dortmund verliehen. Er wird ei- der ‚Dritten Welt‘ – wie man damals „verpflichtende Werte“, so schreibt er, nen Mann des öffentlichen Lebens ver- sagte – weckte. Das Gymnasium liegt in „haben sich nicht irgendwohin verflüch- liehen, der aus seiner Religiosität weder Blomberg, neun Kilometer entfernt. Er tigt“. Die Jahre des Pendelns zwischen Aufsehen noch einen Hehl macht. ist der erste in der Familie, der sich auf Hannover, und Berlin endeten das Studium vorbereitet und einer der 2000, als die dreiköpfige Familie ihr I. Der Ökumene-Preis Prof. Dr. Dr. Thomas Sternberg, ersten in seinem Dorf. Heim in Berlin-Zehlendorf bezog. Präsident des Zentralkomitees der „Gesunder Menschenverstand, tiefe Freunde rühmen an ihm, neben sei- Der Name des Preises legt die Verga- deutschen Katholiken Abneigung gegen Aufschneiderei und ner Zurückhaltung bei Privatheit und be an einen Außenpolitiker geradezu eine gute Portion Gelassenheit.“, das sei Öffentlichkeit, seine offene Art des Zu- nahe. Ökumene ist nicht allein der Be- es, was er aus Brakelsiek mitgenommen gehens auf Andere, seine sympathisch- griff für das Zusammenleben und das habe. „Wir fangen alle irgendwo an. Wir freundliche Art und nicht zuletzt seine Zusammenarbeiten der christlichen Staat und Kirchen, von Glauben und können uns das nicht aussuchen. Doch Fähigkeit zur Selbstironie, wie sie in sei- Konfessionen. ‚Oikuméne‘, das meinte Politik ist bis heute nicht zu einem Still- wir bleiben damit nicht identisch.“, so nen Facebook-Einträgen häufig auf- in der Antike die gesamte bewohnte stand gekommen und gilt bei weitem formuliert es Steinmeier in seinem Buch blitzt. Von 2005 bis 2009 war er Bun- Welt, den „Orbis Terrarum“. Ökume- nicht weltweit. Unser religionsfreundli- „Mein Deutschland. Wofür ich stehe“ desminister des Auswärtigen in der ers- nisch, das hieß zugleich „weltweit“. Und ches Grundgesetz schützt in Deutsch- aus dem Jahr 2009. ten Großen Koalition. Seit 2009 Mit- so ist es bis heute in der Geographie, land nicht allein die christlichen Kon- Nach dem Wehrdienst, wurde es im glied des Bundestags, war er bis 2013 wo die Ökumene den ständig besiedel- fessionen, sondern bedeutet zugleich, Studium statt der Architektur das „Brot- Vorsitzender von dessen SPD-Fraktion. ten und ackerbaulich nutzbaren Teil der sich für die Freiheit der Religionsaus- und Butterstudium schlechthin“ – wie Seit Dezember 2013 ist er wieder für Erdoberfläche meint. Knapp 50 Prozent übung darüber hinaus einzusetzen. Vor er das nennt –, die Jurisprudenz. Die ‚sein‘ Ministerium zuständig. sind das; und dieser große Teil der Welt allem betrifft das heute Christentum Universität Gießen wurde seine Welt als Dabei hätte sich Frank-Walter Stein- ist es, mit dem der Außenminister der und Islam. Student, Assistent, Doktorand bis 1991. meier auch ein intensiveres Engagement Bundesrepublik Deutschland vor allem In einer Rede aus dem vorigen Jahr Der akademische Übervater, das große in den Bereichen Wissenschaft oder zu tun hat. klingt das so: „Religion und Demokratie Vorbild, wurde der Verfassungsrechtler Kultur vorstellen können. Die liegen treffen sich im Glauben, dass jeder ein- Helmut Ridder, ein Lehrer aus dem zwar in der Kompetenz der Länder, II. Zeitansage und Islam zelne Mensch die Freiheit zum guten linkskatholischen Milieu, dem die inter- wandern aber wegen dortiger Vernach- Handeln hat. Da treffen sich auch Chris- nationale Politik und darin die deutsch- lässigung zunehmend zum Bund. Die Nahezu täglich melden die Agentu- tentum und Islam: im Glauben, dass polnische Aussöhnung ein besonderes kulturelle Bildung liegt ihm am Herzen. ren erschreckende Fälle von Terroris- Gott jedem Menschen sein Vertrauen Anliegen war – eine leider wieder Und immer wieder die „kulturelle Er- mus, Kriegen und anderen Gewalttätig- schenkt. ‚Fürchtet euch nicht!‘ und stellt höchst aktuelle und wichtige Aufgabe! zählung unseres Landes“, die von Hö- keiten. Die Welt ist keineswegs friedli- euch nicht über den Anderen, heißt es An der Uni Gießen legt er seine Dis- hen und Tiefen, von Katastrophe und cher geworden nach dem Zusammen- in der Bibel.“ sertation unter dem Titel „Tradition und Neubeginn spreche. Ich zitiere Frank- bruch der Blöcke vor einem Vierteljahr- Perspektiven staatlicher Intervention Walter Steinmeier: „Dazu gehören auch hundert. Eine alte Ordnung ist zerbro- III. Vita zur Verhinderung und Beseitigung von die Unterschiede in Lebensformen, von chen – eine neue ist noch nicht an ihre Obdachlosigkeit“ vor. Die Möglichkeit Bekenntnissen, die das Miteinander ge- Stelle getreten. „Wir leben in einer Welt Wer ist Frank-Walter Steinmeier? Er einer Habilitation schlägt Steinmeier lernt haben, dem katholischen, dem auf der Suche nach Ordnung“, sagt kommt aus dem Land und Kreis Lippe, 1990 aus, um in der kurzen Zeit des evangelischen, dem jüdischen – und Steinmeier auf dem Kirchentag Stuttgart dem dritten, sehr kleinen, aber umso historisch „offenen Fensters“ die deut- mehr und mehr auch dem muslimischen. 2015. Die Eine Welt und damit die Inter- selbstbewussteren Teil Nordrhein-West- sche Einheit mitzugestalten. Da kommt Sie zumindest zu kennen ist nicht zu nationale Soziale Frage ist nicht mehr falens. Dorther, wo auch andere politi- ein Randthema, sondern rückt ange- sche Persönlichkeiten aufgewachsen sichts der weltweiten Flüchtlingsströme sind: Gerhard Schröder und Andreas ins Zentrum der Politik. Die deutsche Voßkuhle werden dort nicht ohne Stolz Außenpolitik ist mit neuen und auch mi- genannt. Und Steinmeier stammt – wie litärischen Beteiligungen in die Pflicht auch ich – vom Dorf. Er ist aufgewach- genommen. Deutschland steht in einer sen in Brakelsiek, einem Ort in der Nähe neuen, internationalen Verantwortung. der Stadt Detmold, die als Geburtsort Am Montag letzter Woche meldeten im Pass unter dem Datum 5. Januar die Zeitungen die Reaktion des Außen- 1956 steht. Der Familienname Stein- ministers zu dem grässlichen islamisti- meier ist häufig in dieser Gegend. Gut schen Anschlag auf Ausländer in Bang- 1.000 Einwohner gibt es in Brakelsiek. ladesch: Er sprach von der „perversen Leben auf dem Dorf schafft Boden- Logik der Terroristen, die mit Mord und haftung. Man kann das sagen, ohne den Gewalt versuchen, ganze Gesellschaften falschen Idealisierungen des Landlebens zu spalten und das friedliche Miteinan- aufzusitzen. Die Unterschiede von Klas- der von Menschen unterschiedlicher sen, Schichten, Gruppen und Eliten Herkunft und Religion zu zerstören“. können mangels Masse nicht so wir- Solche Äußerungen Steinmeiers ließen kungsvoll werden wie in großen Ge- sich vielfach zitieren. Die Frage der meinden; man kennt sich viel zu gut als friedlichen Koexistenz treibt ihn innen- dass man sich Exzentritäten erlauben und außenpolitisch um. Er sieht sich könnte. Die Lipper gelten als sparsam mit seiner eigenen Religiosität in einer und strebsam, geprägt von einer nie üp- öffentlichen Verantwortung für das Mit- pigen Wirtschaft. Die Lippische Landes- Die Verleihung des Ökumenischen einander nicht zuletzt der Religionen. kirche, der die Steinmeiers angehören, Preises an Frank-Walter Steinmeier fand Das in Europa in langen Jahrhunder- ist eine der kleinsten Mitgliedskirchen großes Echo in den Medien. ten mühsam austarierte Verhältnis von der EKD. Es ist der Protestantismus in

zur debatte 5/2016 11 Dr. Albert Schmid, Vorsitzender des Bundesregierung von Helmut Schmidt, Florian Wolfart, Geschäftsführender war einer der zahlreichen Vertreter des Landeskomitees der Katholiken, und mit Kardinal Friedrich Wetter und dem Gesellschafter der „WolfartKlinik“ in Konsularischen Corps. Er war mit früher für die SPD Staatssekretär in der Preisträger. Gräfelfing, Honorarkonsul von Ghana, seiner Frau Torita Wolfart gekommen.

viel erwartet. Sie in ihrer Konsequenz Gesellschaft stärker machen.“ Da ist ihrer Weltverantwortung. Die kirchli- Leben Sicherheit geben. In dieser Behut- zu verstehen heißt, den gemeinsam ge- wieder die reflektierte Frömmigkeit, die chen Großereignisse Katholikentag und samkeit, was den humanen Kern unse- teilten Raum der Demokratie mit Res- weder vereinnahmt noch spaltet, son- Deutscher Evangelischer Kirchentag res Zusammenlebens ausmacht, sollten pekt zu betreten.“ dern integriert. werden längst selbstverständlich öku- wir als Politiker die Gesellschaft unter- Auch persönlich hat er eine Nähe zu menisch begangen. „Auch das Reforma- stützen.“ Das klingt wie die Behutsam- künstlerischen Ausdrucksformen. Vor Konfessionen tionsjubiläum verstehe ich“, so schreibt keit, die Jürgen Habermas hier in dieser allem die Liebe zum Jazz, zur Literatur Wenige Tage danach hielt Steinmeier er, „nicht als eine unzeitgemäße Über- Akademie im Umgang mit den Quellen und zur Architektur ist ihm geblieben. eine Rede über Reformation und Politik höhung der Person Martin Luthers. anmahnte, aus denen sich unser Werte- Begegnungen mit Künstlern sind ihm in einer Nürnberger Kirche. Nach ei- Sondern vielmehr als ein gemeinsames bewusstsein speise. auch deshalb wichtig, weil „wir durch nem Brand hatte die evangelische Ge- Christusfest, bei dem wir gemeinsam auf In seinem Buch erwähnt Steinmeier den Eigensinn des Kulturellen die Gele- meinde vorübergehend in der katholi- den schauen, der der Grund unserer seine Bibelarbeit auf dem Kirchentag genheit erhalten, uns in Distanz zu un- schen St. Klara-Kirche Heimat gefun- Kirchen und Garant unserer Einheit ist: 2005 zu Deuteronomium 6, dem so seren eigenen nur kleinen Ausschnitt den – wie es schon einige Jahre zuvor Christus.“ wichtigen Text des Judentums mit dem der Welt zu setzen“, wie er schreibt. umgekehrt war. Das außergewöhnliche Für einen offensiveren Umgang mit Ruf „Höre Israel“ über die Erinnerung Und so ist es kein Wunder, dass die ökumenische Klima in Nürnberg im der Ökumene setzt er sich gemeinsam an die Rettung und den Aufbruch ins Fachleute die auswärtige Kulturpolitik Gegensatz zu den rechtspopulistischen mit 22 anderen Erstunterzeichnern im Offene. Er weist darauf hin, dass sich in zur Zeit in guten Händen wissen. Vereinfachern macht er zum Thema ei- September 2012 ein, als er einen vor al- der Moderne das Religiöse keineswegs In seinen Reden thematisiert der Au- ner Rede zur Ökumene. Der offene und lem von Bundestagspräsident Norbert auflöse, sondern weltweit gesehen wach- ßenminister bei aller Zurückhaltung in positive Austausch zwischen den Kir- Lammert initiierten Aufruf „Ökumene se. Das komplizierte Verhältnis zwi- privaten Dingen auch seine Religiosität. chen und Religionen sende eine Bot- jetzt“ von inzwischen fast 10.000 Per- schen religiösen Überzeugungen, kultu- schaft der Ermutigung. Der leider heute sönlichkeiten aus Wirtschaft, Wissen- reller Tradition und gesellschaftlicher IV. Religion in den Texten populär gewordenen Vorstellung, die schaft, Kultur, Sport und anderen Berei- Praxis sieht er als eine der Schlüsselfra- Religion sei an allem schuld, sie sei ein chen für „gelebte Einheit im Bewusst- gen unseres Jahrhunderts. „Dass eine Allgemein Spaltpilz und der Grund für globale Kri- sein historisch gewachsener Vielfalt“ Kultur in die offene Zukunft aufbricht, Besonders bemerkenswert ist eine sen, erteilt er eine klare Absage und for- unterstützt. ist religiösen Extremisten und Funda- Rede im Januar 2015 vor Studierenden dert alle Gläubigen dazu auf, den Beweis In einer Zeit, in der die Glieder der mentalisten“, so schreibt er „ein uner- in Tunis. „Hütet euch vor einfachen für das Gegenteil anzutreten. Wir Chris- großen Kirchen sich in einer Minderheit träglicher Gedanke. Denn Fundamenta- Antworten!“ ist sein Leitgedanke darin. tenmenschen sollen uns einmischen in sehen, ist ökumenisches Auftreten schon listen ersetzen die Zukunftsverheißung Der Lockruf der Feindbilder, so sagt er, diese Diskussion. Denn die Religion leh- von den Zahlen her geboten – gemein- Gottes durch ein religiös verklärtes, sei genauso falsch wie gefährlich. Sie re Toleranz und Ausgleich. Mit dem ers- sam machen wir sechzig Prozent der letzten Endes aber doch irdisch-politi- beziehen sich häufig auf die Religion, ten Petrusbrief (2, 17) fordert er seine Bevölkerung aus. Die Praxis der Öku- sches Gesellschaftsideal, das an der ei- aber, so weiter „wer mit Religion auf- Hörer auf „‘Ehret jedermann!‘“ und er- mene läuft vor allem an der Basis der genen Vergangenheit orientiert ist. Auch hetzt, tut genauso übel wie der, der ge- gänzt: „und nicht nur die Christen!“ Gemeinden und Gruppen sehr gut. das ist in meinen Augen eine Form von gen Religion aufhetzt.“ Wer die Welt Die Quintessenz der Reformatori- Aber sie ist auch kein abgeschlossenes Götzendienst.“ durch krude Schablonen erkläre, werde schen Lehre ist für ihn die tröstliche Projekt; die Arbeit für die innerchrist- nur krude Antworten geben können. Botschaft, „weil wir uns nicht mehr um liche Ökumene ist nicht unwichtig ge- V. Politikfeld Europa Die Religion ermuntere zu Toleranz ge- uns selbst kümmern müssen, können worden angesichts der neuen Heraus- genüber dem Ungewissen, zum Aushal- wir uns um andere kümmern!“ Der Ein- forderungen des interreligiösen Dialogs. Die Sirenentöne des Fundamentalis- ten des Andersartigen, denn es heiße in satz für Versöhnung statt Krieg, für Lie- Christlichkeit ist in Deutschland auch mus hören wir zur Zeit besonders in- Bibel wie Koran „Gott hat die Welt und be statt Hass sei auch dann, wenn es außerhalb der formalen Kirchenmitglied- tensiv, wenn es um Europa geht. Ein die Menschen in Vielfalt erschaffen – anstrengend wird, die Lehre aus diesem schaft zu spüren. Der Wahlkreis von ganzes Krisengebräu koche hier bei uns und in dieser Vielfalt haben wir sie zu Wissen. Er mache sicher nicht seine täg- Frank-Walter Steinmeier liegt in Bran- in Europa hoch, während wir es mit ei- achten.“ liche Krisenpolitik mit der Bibel in der denburg, wo sich das vor allem in kultu- ner Erschütterung der gesamten Welt- Er wiederspricht der allzu einfachen Hand, sie sei kein ‚Navi‘ für den Ballast rellen Spuren zeigt. Was ist angesichts ordnung zu tun haben, so diagnostizier- These, Islam und Demokratie seien un- der tagesaktuellen Entscheidungen, sie von aktuellen Identitätsängsten gebo- te der Minister vor zwei Monaten noch vereinbar. Demokratie brauche einen sei eher ein Kompass, der zur Rückver- ten? Immer wieder mahnt der Außen- vor dem Brexit. So unverhofft, wie 1989 ethischen Nährboden – und Religion sicherung und zur Selbstüberprüfung minister die Wahrnehmung der zugrun- der Eiserne Vorhang niedergerissen wur- könne ihn bereiten helfen. Hier, in Tu- anhalte. Als Christen sind wir verant- de liegenden Narrative an, die Haltun- de, so kalt habe uns die Rückkehr der nesien, wird er einmal ganz persönlich: wortlich für unser Tun – und auch un- gen und Taten bestimmen. Gelingt es Schlagbäume in Europa erwischt. Den „Ich selbst lebe meinen Glauben. Ich ser Nicht-Tun. uns, die christlichen Narrative in einer Stürmen könne man nur trotzen, wenn bin Christ und bin in der protestanti- In einem aktuellen, noch nicht veröf- Gesellschaft zu bewahren, in der jene wir in Europa zusammenhalten. Gegen schen Kirche aktiv. Und natürlich hat fentlichten Beitrag für den katholischen Konjunktur zu haben scheinen, die die den Populismus der Einfachheit helfen mein Christsein mit meinem Handeln indischstämmigen Theologen Georges Zukunftssorgen und Ängste der Men- nur Differenzierungen, nur das sorgsa- zu tun: Meine Religion gebe ich ja nicht Augustin in Vallendar geht Steinmeier schen ausnutzen. me Horchen auf die Sorgen der Partner an der Garderobe ab, wenn ich morgens auf die innerchristliche Ökumene ein: und der gegenseitige Austausch darüber. ins Büro gehe. […] Mein Glaube inspi- das Christsein verbinde beide in einer Religion und Staat Europa ist vielfach angefragt und be- riert mein Handeln, im privaten wie im Zeit, in der alte Gräben zwischen den Gesellschaft und Staat sind auch in droht. Wie können die europäischen öffentlichen Raum. Aber: Mein Glaube Konfessionen verschwunden seien. Ka- säkularen Zeiten auf den Beitrag der Ideale bekräftigt werden? Wie erreichen darf selbst nicht zum Gegenstand der tholiken und Protestanten eine die ge- Christen angewiesen. Steinmeier formu- wir mit der europäischen Idee wieder die Politik werden, und schon gar nicht meinsame Taufe, die Kanzelgemein- liert hierzu: „In krisenträchtigen Zeiten Herzen der Menschen? Europa ist auch zum Instrument gegen Andersgläubige. schaft und der gemeinsame, unermüd- sollte die Gesellschaft sehr behutsam ein christliches Projekt, auch als Chris- […] So gesehen kann Religion, wenn liche Einsatz in der diakonischen Hilfe. mit kulturellen Beständen und Glau- ten sind wir gefragt. Gegen das Gerede sie nicht ausgrenzt und abschottet, die Seite an Seite ständen die Kirchen in bensbekenntnissen umgehen, die dem vom Christlichen Abendland müssen

12 zur debatte 5/2016 gionen die Wahrheitsfrage auszuklam- mern und die Handlungsperspektive und die gemeinsamen Ziele der Weltverant- Presse wortung ins Zentrum zu stellen, so ist Katholische Nachrichtenagentur der erste Schritt auf dem Weg zum Frie- 11. Juli 2016 – Bundesaußenminister den gegangen“, schreibt er in seinem Frank-Walter Steinmeier (60) hat die Beitrag für Georges Augustin. Das erin- Kirchen als „Vorreiter der Idee“ gewür- nert den Laudator aus Münster an den digt, Verschiedenheit zu versöhnen. „Die Westfälischen Frieden vor 368 Jahren: friedliche Vielfalt der Kirchen kann ein dort wurde ein Friede gefunden, der, um Beispiel sein für die Gesellschaft Europas weiteres Leiden zu verhindern, die Frage insgesamt“, sagte Steinmeier. Gerade nach der Durchsetzung der je eigenen jetzt, wo der Ton rauer werde, das „Haus Wahrheit ausklammerte, ohne zu relati- Europa“ Risse zeige und Populisten der vieren, zu vereinfachen und der den fes- Abschottung das Wort redeten, müssten ten Glauben als tragenden Grund der je Christen „noch viel deutlicher werden“ verschiedenen Menschen akzeptiert. und „neue Wege des Dialogs“ beschrei- Ein solcher Grundkonsens ist in un- ten. Christoph Renzikowski serer Gesellschaft gegenwärtig in Ge- fahr. Wir erleben eine Entfremdung KathPress zwischen auseinanderstrebenden Le- 11. Juli 2016 – Der Vorsitzende der bensweisen, von Bekenntnissen, Regio- Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, rief die Christen auf, nen, Berufswelten – von Sparten der sich politisch zu engagieren. Dafür sei es Gesellschaft, die kaum noch in Kom- „höchste Zeit“. Der christliche Glaube munikation untereinander stehen. Ver- sei „absolut unvereinbar mit Rassismus mittelnde Leitbilder können von den und Nationalismus“, betonte der Münch- Münchens Alt-OB Christian Ude (re.) managt das Ensemble, das auch Medien nicht mehr erzeugt werden – ner Erzbischof. Die biblische Botschaft mit Prof. Arnold F. Riedhammer von zusammen mit Christian Ude auftritt. das Internet gibt neben Richtigem auch von der die Grenzen von Rassen, Religio- „Blechschaden“. Der Schlagwerker jeder Form von Polemik und Diffamie- nen und Geschlechtern überschreitenden rung Raum. Die diffusen Ängste schaf- gleichen Würde aller Menschen sei „die fen sich Raum in bislang nicht für mög- größte Revolution“, die Europa je erlebt lich gehaltenen Hasstiraden und Verro- habe. hung der Sprache, wie wir sie nach wir entschieden auf der Definition des Grundlegend sei es, die Welt mit den 1945 nicht mehr möglich gehalten hat- Evangelischer Pressedienst Christlichen im Abendland beharren, Augen der anderen zu sehen und den ten. Der Enthemmung der Sprache folgt 12. Juli 2016 – Islam und Demokratie das eben nicht von Ausgrenzung, son- anderen zuzutrauen, dass sie einen viel- die Enthemmung der Handlungen. Die sind nach Überzeugung von Bundesau- dern von den Fähigkeiten geprägt ist, leicht sogar schärferen Blick haben. In schwindende Bindekraft von Institutio- ßenminister Frank Walter Steinmeier die Papst Franziskus bei der Verleihung festgefahrenen Situationen von zwei nen betrifft nicht allein die Kirchen – (SPD) kein Widerspruch. „Demokratie des Karlpreises im Frühjahr genannt Konfliktparteien soll ein Dritter durch aber als Christen sind wir aufgefordert gibt dem Islam Raum, und der Islam gibt der Demokratie Raum“, sagte Steinmeier hat: die Fähigkeit zum Dialog, die Fä- Verstehen und Vermitteln Brücken bau- in einer neuen Dialogbereitschaft, de- higkeit zur Integration und die Fähig- en zwischen Welten, die scheinbar weit mütig, werbend und argumentierend, in München, wo er den mit 10.000 do- tierten Ökumenischen Preis der Katholi- keit zur Kreativität. auseinander liegen. Er nennt dies das die gesellschaftlichen Grenzen zu über- schen Akademie Bayern entgegennahm. „Sechs Augen Prinzip“, das von der ei- winden. Es sei eine der entscheidenden Aufgaben VI. Politik treiben genen Wahrnehmung ausgehend, zur für die Gesellschaft in den kommenden Wahrnehmung des Gegenübers kommt VII. Schluss Jahren, für Muslime und Nicht-Muslime, Im Konzept Steinmeiers für eine „vo- und in einem dritten Schritt eine Pers- den Beweis dafür anzutreten. rausschauende Außenpolitik“ findet pektive entwickelt, die für beide Seiten In Augsburg gibt es ein ungewöhnli- sich eine sehr grundsätzliche Bemer- einsichtig ist. „Das ist unser täglich Brot ches Marienbild, das nicht zuletzt durch Münchner Merkur kung, die nach der unerträglichen Ver- in der Diplomatie – diese feine Grenze die Begeisterung des Papstes Franziskus 12. Juli 2016 – Laudator Thomas Stern- antwortungslosigkeit der Spieler um des Machbaren Stück für Stück zu ver- eine erstaunliche Karriere in Südamerika berg, Präsident des Zentralkomitees der den Brexit von besonderer Aktualität schieben in den Raum des Wünschens- und auch in Deutschland gemacht hat. deutschen Katholiken und CDU-Ab- ist: Es gehe ihm im Kern um eine Hal- werten“, so der Minister im Mai dieses Es zeigt ohne eine ikonografische Paral- geordneter im nordrhein-westfälischen tung, die er als angemessen und gerade- Jahres vor dem Europäischen Schrift- lele Maria mit einem Band, das vielfach Landtag, macht deutlich, warum Stein- zu verpflichtend ansieht: „um Ernsthaf- stellerkongress. verknotet ist. Sie ist damit beschäftigt, meier und Ökumene zusammenpassen. tigkeit in der Politik“. Diese Ernsthaftig- Diesen Dienst tut er mit dem Risiko einen der Knoten zu lösen. Der Bildtitel Steinmeier ist ein reformierter Christ, keit in der beharrlichen und unermüdli- des Vertrauens. „Wer vertraut, der han- lautet deshalb die „Knotenlöserin“. studierter Jurist, der auch als Außen- chen Vermittlungsarbeit, sie zeichnen delt; er traut sich etwas.“ In solcher Po- Unser diesjähriger Preisträger ist ein minister aus seiner Religiosität kein diesen Politiker aus. Nicht der rasche litikauffassung kann ihm jeder ernsthaf- solcher ‚Knotenlöser‘. Er zerhaut sie Geheimnis mache. Claudia Möllers Effekt mache erfolgreiche Politik aus, te Politiker – gleich welcher Partei – nicht wie Alexander es mit dem gordi- Süddeutsche Zeitung sondern sie sei das Resultat von Vorbe- nur zustimmen. schen Knoten gemacht hat, er lässt sie 12. Juli 2016 – Nach so viel Lob tritt reitung, Sondierung und klugen, oft be- Die beharrliche Vermittlungsarbeit gilt auch nicht ungelöst, sondern arbeitet Steinmeier erst einmal auf die Bremse. hutsamen Weichenstellungen am An- auch für uns als Christen: „Wenn es uns mit Beharrlichkeit und Ausdauer daran, Er freue sich über den Preis, aber er habe fang und Geduld. gelingt, im Gespräch mit anderen Reli- die teils alten, festen Verknotungen in sich sogleich gefragt, ob er der Richtige Konflikten, Streitigkeiten und Verhär- sei. „Die Ökumene war mir nicht in die tungen geduldig aufzudröseln – im Ge- Wiege gelegt“, sagt er und erzählt von füge der Staaten und Völker ebenso wie seiner Heimat Brakelsiek im nordrhein- zwischen Konfessionen und Religionen. westfälischen Kreis Lippe, wo man den „Aufhören ist dabei keine Option, Ta- reformierten Glauben pflegte und mit tenlosigkeit keine Haltung“ formuliert den Lutherischen, geschweige denn mit er mit Bezug auf Dorothee Sölle, die den Katholiken kaum in Berührung kam. auch befand, „Da kann man nichts ma- Wolfgang Görl chen“ sei ein gottloser Satz. Und von Münchner Kirchenzeitung dem jungen Theologen und Wider- 17. Juli 2016 – Als erster Politiker war standskämpfer Hans Scholl nimmt er die Steinmeier mit dem Ökumenischen Preis Ermutigung: „Das Ziel fest vor Augen, der Katholischen Akademie Bayern aus- aber auf dem Weg dahin – mit Rück- gezeichnet worden. Der 60-jährige Sozi- schlägen und Umwegen – nicht die Kraft aldemokrat stiftete das Preisgeld in Höhe und die Geduld verlieren.“ Die Kraft und von 10.000 Euro dem Flüchtlingsnetz- Geduld erwächst aus einem Glauben, werk Brandenburg, wo er seinen Bundes- der trägt und Sicherheit gibt. In der Be- tagswahlkreis hat. kna gründung für den heutigen Preis heißt Augsburger Allgemeine es: „Er nimmt eine Vorbildfunktion wahr 12. Juli 2016 – Sein Glaube dürfe nicht und stärkt die gemeinsame christliche selbst zum Gegenstand der Politik wer- Position“. Ja, dieser Politiker stärkt uns den, und schon gar nicht zum Instrument im Kampf gegen Vereinfacher und gegen Andersgläubige, betonte er 2015 in Scharfmacher, gegen neue und alte der „Offenen Kirche St. Klara in Nürn- Grenzen in den Köpfen und Herzen. berg“. In der benachbarten St.-Martha- Die Antwort auf die rhetorische Ein- Kirche hatte es gebrannt, der Zusammen- gangsfrage ob denn ein Politiker diesen halt evangelischer und katholischer Ge- Preis zu Recht erhalte muss ein vehe- meinden danach beeindruckte Steinmei- mentes ‚ja‘ sein. Der Ökumenische Preis er. Er sprach von einer Botschaft der Er- geht zu Recht an den Politiker Frank- mutigung – „auch an mich als Außen- Walter Steinmeier. minister, der sich jeden Tag mit bedrohli- Georg Randlkofer, Geschäftsführender Akademie, bei seiner Ankunft im Ich sage den Auslobern wie dem chen und grausamen Krisen in der Welt Gesellschafter der Dallmayr AG und Gespräch mit Akademiedirektor Dr. Preisträger dazu herzlichen Glück- beschäftigt“. Gelebte Ökumene. Mitglied im Allgemeinen Rat der Florian Schuller. wunsch! „ Daniel Wirsching

zur debatte 5/2016 13 Schrift: Der Mensch wird geschaffen als Das sind noch keine Lösungen für Schlusswort Mann und Frau, beide auf einer Ebene, alle Probleme. Aber den Blick abzuwen- es geht um eine Menschheitsfamilie. den und zu sagen, die Folgen für andere Reinhard Kardinal Marx Also sind alle Brüder und Schwestern. gehen mich nichts an – etwa in der Jeder Mensch ist Bild Gottes, ob er Flüchtlingskrise oder in der politischen gläubig oder ungläubig ist, Muslim, aus- Frage des Friedens oder der Versöh- getreten, homosexuell, heterosexuell, nung; Hauptsache, wir haben unsere In- Mann oder Frau, schwarz oder weiß. teressen durchgesetzt; die Folgen, lang- Jeder ist Bild Gottes. Das ist die größte fristige Folgen für andere, sind nicht un- Revolution, die jemals auf dieser Erde ser Problem. Das sind Haltungen, die Liebe Anwesende bei dieser festli- ausgesprochen wurde, in dieser Ver- eben nicht christlich inspiriert sind, chen Veranstaltung, die hoffentlich uns bindlichkeit, in dieser Proklamation ei- und, so darf ich doch auch sagen, im allen Mut gemacht hat, Hoffnung ge- ner Botschaft. Letzten auch unvernünftig sind. Denn macht hat. Von dieser Akademie soll Haben wir immer auf dem Niveau das will ich abschließend sagen: Die ein neuer Impuls für das christlich ge- dieses Satzes gelebt? Sicher nicht, auch christlich inspirierte Politik – die von prägte politische Handeln ausgehen, für wir als Kirche nicht. Bleibt dieser Satz Christen geprägte Politik, die von sol- das Arbeiten in den verschiedenen Be- gültig? Natürlich bleibt er gültig. Das chen Narrativen herkommt – ist nicht reichen des menschlichen Lebens. kann ich nur unterstreichen – das ist unvernünftig. Ich spreche ab und zu Ich gehöre auch zu denen – ich bin jetzt nicht auszuführen, es ist schon ge- auch von der Vernunft der Seligprei- jetzt der Dritte – die sich gefragt haben: sagt worden: Deswegen ist christlicher sungen. Warum Frank-Walter Steinmeier? Zwar Glaube, biblischer Glaube absolut un- Manchmal ärgere ich mich, wenn ich hat die Jury entschieden, aber wir sind vereinbar mit Nationalismus, Ausgren- durch Museen gehe oder auch durch ja in der katholischen Welt. Da ruft man zung und Rassismus. Absolut unmög- große Schlösser geführt werde: Die Ge- natürlich den Kardinal an und sagt: Herr lich! Deswegen ist ein Christ nicht nur schichte scheint hauptsächlich aus Kö- Kardinal, was sagen Sie zu der Idee? ein Europäer, jemand, der über Gren- nigen und Feldmarschällen zu bestehen, Da habe ich gesagt: Lasst mich mal eine zen hinausschaut und den anderen großen Politikern, die Kriege geführt Nacht drüber schlafen. Aber nicht, weil nicht als Bedrohung, sondern als Bru- haben. Gut, oft wird auch an andere er- ich irgendein Problem mit der Person – der und Schwester sieht, er ist ein Uni- innert. Aber die Dominanz insgesamt ist das wissen Sie, Herr Minister – Frank- versalist. Christen sind im Prinzip Uni- doch relativ stark. Jesus sagt nicht, selig, Walter Steinmeier habe, sondern eben versalisten. Das müssen wir als Kirche, die Kriege gewonnen haben, sondern er tatsächlich in der Überlegung: Was ist als Verantwortliche in der Kirche, im- sagt, selig, die Frieden stiften, selig, die jetzt der Sinn dieses Preises? Erklärt mer wieder in Erinnerung rufen. keine Gewalt angewandt haben, selig, noch einmal, was ihr damit meint, mit Oder denken wir an den wunderba- die andere Mittel in Anspruch genom- diesem Preis, mit diesem Ökumene- ren Text, der im Bereich des Politischen men haben, um das Ziel zu erreichen. Preis. Reinhard Kardinal Marx, Erzbischof immer wieder zitiert wird: „So gebt dem Das ist doch nicht unvernünftig! Und Ich bin ja erst einige Jahre hier und von München und Freising, Vorsitzen- Kaiser, was dem Kaiser gehört, und wir haben es ja eben sozusagen herun- habe eben auch in Erinnerung, dass es der der Deutschen Bischofskonferenz Gott, was Gott gehört!“ (Mt 22,21) Das tergebrochen auf die ganz praktische in der Regel Bischöfe und Professoren wurde oft falsch verstanden als eine Politik des Dialogs, des Denkens vom waren, die mit dem Ökumenischen Trennung, eine absolute Trennung. Bei Anderen her. Wir haben gesehen, was Preis ausgezeichnet wurden. Aber beim Matthäus ist aber eine Orientierung ge- es bedeutet, diese Perspektive im Blick Blick auf diese Preisbegründung und kleinen Widerspruch zu dem, was ge- meint: „Gebt Gott, was Gott gehört“. zu behalten. auch auf die Idee fand ich es dann be- sagt wurde: Doch, doch! Aber in der Was gehört Gott? Eben der Mensch, sonders wichtig, jetzt in dieser Stunde rechten Weise, und darauf haben Sie der Bild Gottes ist, den ich nicht ver- einen überzeugten Christen, der im po- hingewiesen. Was sind die großen Per- zwecken kann, der „Zweck an sich Die wichtigste Aufklärung, litischen Handlungsfeld steht, auszu- spektiven? Es wurde auf die Narrative (selbst)“ ist, wie Kant sagt, der nicht be- zeichnen und damit zu ermutigen, und hingewiesen, die wir brauchen, und na- nutzt wird, nicht versklavt wird, nicht die Europa je erreicht hat, auch andere zu ermutigen, in der Politik türlich ist die Bibel eine Bibliothek. Es ausgebeutet wird, nicht Instrument in ist für mich das Evangeli- ihren Beitrag als Christinnen und Chris- ist ja nicht nur ein Buch, sondern es ist der Hand eines anderen sein darf. Das ten zu leisten, in einer ökumenischen, eine Bibliothek mit vielen Erzählungen, ist gemeint mit „gebt Gott, was Gott ge- um, die biblische Botschaft weiten Vernetzung. Eine ausgezeichnete die aber immer auf das Zentrum hin- hört“: der Mensch. Das ist eine ökume- Idee! Ich glaube auch die Veranstaltung weisen wollen. nisch gemeinsame Botschaft; keine ka- heute zeigt das. Ich kann ja nur ein klei- Das will ich zum Schluss dann doch tholische Politik, keine evangelische Po- Noch einmal: Das ist nicht eine naive nes Schlusswort sagen, einen i-Punkt tun: Als Bischof darf ich dann die Bibel litik, keine jüdische Politik, sondern Romantik, sondern ich glaube, diese oder ein Ausrufungszeichen draufset- einmal zu Wort kommen lassen als das eine vom biblischen Glauben her christ- große Perspektive muss im Blick blei- zen. Die wesentlichen Punkte sind ja in große Narrativ Europas. Die wichtigste lich-ökumenische Inspiration für die ben, sonst verlieren wir uns im Einzel- der Laudatio und auch in der großarti- Aufklärung, die Europa je erreicht hat, Politik. nen und verheddern uns in Interessen, gen Rede des Herrn Bundesaußenmi- ist für mich das Evangelium, die bibli- Oder die wunderbare Geschichte, die die im Grunde genommen langfristig nisters deutlich geworden. sche Botschaft. Und die beginnt eben wir am Sonntag in allen katholischen nicht bedeutend sind. Heute ist, wie Kann man mit der Bibel in der Hand nicht mit Jesus von Nazareth; sie be- Kirchen im Evangelium gehört haben schon gesagt wurde, das Fest des heili- Politik machen? Da sage ich, mit einem ginnt mit den ersten Seiten der Heiligen und die für mich zu den schönsten Tex- gen Benedikt, des Vaters Europas. Jo- ten Europas gehört. Ob ich gläubig bin hannes Paul II. hat ihn zum Patron oder nicht, ob ich Christ bin oder nicht, Europas ausgerufen. Ja, was wissen wir spielt dabei überhaupt keine Rolle. Es sonst noch von Politikern aus dem 5. ist die Geschichte vom barmherzigen und 6. Jahrhundert? Nicht so viel. Samariter, im 15. Kapitel des Lukas- Kaum, dass wir einen Namen in Erinne- Evangeliums. Jesus widerspricht dort rung haben. Aber der heilige Benedikt dem Gesetzeslehrer, der ja eine Defini- hat mit seiner Art, das Evangelium zu tion will und sagt: es muss doch einmal leben, sich zurückzuziehen, Klöster zu eine Grenze geben, es muss doch ein- organisieren Europa vielleicht nachhal- mal Schluss sein, es geht doch um mei- tiger geprägt als mancher, der damals ne Interessen. Definiere mir bitte, wo als großer Mann oder große Frau galt. ich aufhören muss, zu lieben. Definier‘ Diese Hoffnung sollten wir einbrin- mir das, Jesus von Nazareth. gen, auch in die konkrete Politik, auch Und Jesus erzählt die Geschichte, die in die Gestaltung der Welt. Ich glaube, Sie alle kennen, die Geschichte vom wir haben es gespürt, und wir haben ja barmherzigen Samariter, und dreht das auch Zeit genug gehabt in den letzten Ganze um. Er sagt: Es geht gar nicht Jahren, Frank-Walter Steinmeier zu be- darum, dass du eine Definition be- obachten: Der Preis geht an den Richti- kommst, wann du nicht mehr helfen gen. Aber es ist ein Preis zur Ermuti- sollst. Es geht darum, dass du begreifst, gung für alle. Ich möchte dies wirklich wie du denn auf die Welt schaust. Alle, noch einmal nutzen, um viele, viele die dem Samariter vorausgegangen sind, Christinnen und Christen aufzurufen, sagen: Was wird aus mir? Da ist ein sich in den politischen Parteien, im ge- Überfallener – was wird aus mir, wenn sellschaftlichen Leben, zu engagieren. ich ihm helfe, fragt der Priester, der Le- Es ist höchste Zeit, unsere Narrative auf- vit. Und der Samariter, der Ausländer, zurufen und mit praktischem Engage- der Verachtete, der nicht dazugehört, ment zu erfüllen. Gottes Segen dazu! „ sagt: Was wird aus ihm? Was wird aus ihm, wenn ich vorübergehe? Es ist der Die frei vorgetragene Ansprache wurde teilnehmende Blick; der auch noch für die Drucklegung geringfügig nicht alle Probleme löst, aber offen bleibt sprachlich bearbeitet. Der Stil des für den Anderen. Deshalb beklagt Papst gesprochenen Wortes bleibt erhalten. Zum Abschied noch ein Foto: Frank- Franziskus das Fehlen dieses teilneh- Walter Steinmeier und Elke Büdenben- menden Blickes, wenn er von einer Glo- der balisierung der Gleichgültigkeit spricht.

14 zur debatte 5/2016 auf Deutschland anwenden konnten. dung beschäftigt ist, nimmt sich meis- Zu diesen Veränderungen in unseren tens nur noch wenig Zeit für so etwas Gemeinden passt auch ein Foto vom jü- wie Gemeindeleben. Diese Erfahrung dischen Teil des Friedhofs in Düsseldorf machen ja alle Verbände und Vereine, Jüdisches Leben in (Abb. 2). Sahen Sie früher auf jüdischen die mit Ehrenamtlichen arbeiten. Und Friedhöfen häufig nur karge Gräber mit diese Prioritätensetzung ist in der Le- meist hebräischen Schriftzeichen und bensphase nur allzu verständlich, und ein paar Steinen auf dem Grabstein, so war bei mir selbst übrigens nicht anders. Deutschland heute finden Sie heute Marmor und Blumen. Uns muss es aber gelingen, dass diese Auch hier haben die Zuwanderer aus Abwesenheit in den Gemeinden wenigs- der ehemaligen Sowjetunion eine eige- tens nur eine vorübergehende bleibt. Da- ne Tradition mitgebracht. Manchmal rum bemühen wir uns mit immer wie- streiten wir über solche Dinge. Manch- der neuen Projekten. In diesem Jahr ha- mal lachen wir auch gemeinsam und ben wir zum Beispiel zur Jewrovision staunen über unsere Unterschiede. auch ehemalige Teilnehmer eingeladen Die Integration der Zuwanderer war und ihnen ein eigenes Programm gebo- Dr. Josef Schuster, der Präsident des mit dem Titel „Jüdisches Leben in und ist eine große Herausforderung für ten. Zentralrats der Juden in Deutsch- Deutschland heute“ zog Josef Schuster die jüdische Community. Sie ist zugleich Bei unserer interreligiösen Zusam- land, war am 28. Juni 2016 zu Gast in Bilanz darüber, erwähnte Positives wie eine Bereicherung. Das gilt sogar für menarbeit geht es selten um diese The- der Katholischen Akademie Bayern. Negatives, warb für die Integration der das Thema Schoa. Die Zahl der Schoa- men wie Nachwuchsgewinnung oder Josef Schuster, von Beruf Internist Flüchtlinge, die Zeit erfordere, forder- Überlebenden wird natürlicherweise schwindende Mitgliederzahlen. Aber in Würzburg, ist seit November 2014 te im Gegenzug aber auch Toleranz immer kleiner. Das Thema bleibt aber vielleicht können wir hier alle mehr oberster Repräsentant der offiziell der Flüchtlinge, die deren Pflicht sei. auch in der zweiten und dritten Gene- voneinander lernen, als uns bewusst ist. rund 100.000 jüdischen Bürger in Lesen Sie den leicht überarbeiteten ration präsent, und zwar jetzt aus unter- Jetzt wird es Zeit für das Foto eines Deutschland. In der Veranstaltung Vortrag. schiedlichen Perspektiven. Durch unse- Rabbiners, um unser jüdisches Leben in re Zuwanderer ist zu der Opferperspek- Deutschland zu bebildern (Abb. 4). Das tive die Sicht der Befreier hinzugekom- Judentum in Deutschland ist wie auf der men. Während die alteingesessenen Ju- ganzen Welt kein monolithischer Block. den auf Daten wie den 9. November Es gibt von traditionell über konservativ blicken, haben die zugewanderten Juden bis zu liberal sehr unterschiedliche Strö- viel stärker den 9. Mai als Tag des Sie- mungen. Daher haben wir in Deutsch- ges im Fokus. land eine Orthodoxe Rabbinerkonfe- Es ist ein sehr fruchtbarer Austausch, renz und eine liberale Allgemeine Rab- der dadurch zustande gekommen ist. binerkonferenz, in der auch Rabbinerin- Die Frage, wie eine moderne Gedenk- nen Mitglied sind. kultur aussehen kann, stellt sich auch in Eine sehr erfreuliche Entwicklung unserer jüdischen Community. Deshalb haben wir in der Rekrutierung von Rab- kann ich nur wiederholen: Zuwande- binern. Mussten in den vergangenen rung bereichert und weitet den Blick. Jahrzehnten Rabbiner immer aus dem Ich freue mich sehr, heute hier in der Manchmal muss um den Konsens zwi- Ausland geholt werden, so ordinieren Katholischen Akademie zu Gast zu sein schen Alt und Neu gerungen werden, wir seit 2006 wieder in Deutschland und danke herzlich für diese Einladung! aber es lohnt sich. ausgebildete Rabbiner und Rabbinerin- Sehr gerne werde ich versuchen, Ihnen Das sehen wir vor allem an der zwei- nen. Daher können wir immer mehr einen kompakten Überblick über das ten Generation der seit 1990 eingewan- Gemeinden mit einem eigenen Rabbi- heutige jüdische Leben in Deutschland derten Juden. Deshalb ein Foto der Jew- ner ausstatten, was nicht nur für die zu geben. Vielleicht mögen Sie sich ein- rovision; die Jewrovision (Abb. 3) – das Seelsorge, sondern auch für den Zusam- mal selbst fragen, welche Bilder Sie im Wort bildet sich in Anlehnung an die menhalt der Gemeinde sehr wichtig ist. Kopf haben, wenn vom modernen jüdi- Eurovision mit dem englischen Wort für schen Leben in Deutschland die Rede Jude – Jew – die Jewrovision also ist der ist. Was wird in den Medien transpor- größte Tanz- und Gesangswettbewerb Das Judentum in Deutsch- tiert? Natürlich Fotos prominenter Ver- für jüdische Jugendliche in Europa, treter wie seit Ende 2014 meine Wenig- jährlich ausgerichtet vom Zentralrat der land ist wie auf der ganzen keit oder gerade hier in München na- Juden. Bei diesem Wettbewerb, der im- Welt kein monolithischer türlich von Frau Knobloch. mer mit einer religiösen Jugendfreizeit Und welche Bilder fallen einem dann verbunden ist, erleben Sie bei den rund Block. Es gibt von traditio- ein? Wenn ich mich das fragen würde, 1.000 Teilnehmern Jahr für Jahr etwas nell über konservativ bis zu würde ich, ehrlich gesagt, ziemlich Wunderbares: ein neues jüdisches schnell an Bilder aus Israel denken. Selbstbewusstsein. Ähnlich wie in den liberal sehr unterschiedliche Denn gerade im Fernsehen treffe ich Achtziger Jahren verstehen sich die jün- Strömungen. viel häufiger auf Berichte aus Israel als geren Juden auch heute wieder als deut- auf Berichte über das hiesige jüdische sche Juden und betrachten Deutschland Leben. Deshalb assoziieren wahrschein- als ihr Zuhause. Dies ist umso bemer- Zugleich symbolisiert dieses Foto: Im lich gar nicht wenige Bürger in diesem kenswerter, als der weitaus größte Teil Zentrum des jüdischen Lebens steht die Land beim Thema Judentum das Bild Dr. Josef Schuster, Präsident des der jungen jüdischen Generation Eltern Religion, steht unser Glaube. So gerne eines ultraorthodoxen Juden mit Schlä- Zentralrats der Juden in Deutschland hat, die nicht in Deutschland geboren sicher auch viele von Ihnen in ein Klez- fenlocken und Gebetsschal. Und wenn sind, sondern in der früheren Sowjet- mer-Konzert gehen oder mit Ihren Kin- wir ehrlich sind, müssen wir feststellen: union. dern ein Purim-Spiel in einer Synagoge Die Kenntnisse über das jüdische Leben Die Kinder dieser Zuwanderer sind besuchen, so gerne Sie über einen Wizo- in Deutschland sind ziemlich gering. von Gebetbüchern, die neben Hebräisch vollständig integriert: Sie sprechen flie- Basar mit leckeren israelischen Speisen Das meine ich nicht als Vorwurf. auch eine russische Übersetzung enthal- ßend und akzentfrei Deutsch, sie besu- flanieren, als dies ist letztlich nur das Wenn ich ein Foto über modernes mus- ten, finden Sie tatsächlich in unseren Sy- chen in der Regel ein Gymnasium, ma- Drumherum. Wir sind, wie ich immer limisches Leben in Deutschland aus- nagogen. Sie spiegeln sehr gut die Verän- chen Abitur und studieren – und be- sage jüdische – oder wie es in Bayern wählen müsste, käme ich auch ins derungen in unseren 105 Gemeinden in trachten eben Deutschland als ihre Hei- heißt: Israelitische Kultus-Gemeinden–, Schwitzen. Bei der evangelischen und den vergangenen 25 Jahren wider. mat. Diese Integration hat eine Genera- keine Kultur-Gemeinden. Mir ist dies katholischen Kirche fiele es mir etwas Die jüdischen Gemeinden standen ja tion gedauert. Das ist unsere Erfahrung, besonders wichtig zu betonen in einer leichter. Aber ich bin schließlich in seit 1990 vor der Aufgabe, in großer die wir auch in der aktuellen politischen Zeit, in der die Religionsgemeinschaften Würzburg aufgewachsen. Und das Zahl neue Mitglieder integrieren zu müs- Situation gerne in Erinnerung bringen. in unserer Gesellschaft um ihren Stel- kirchliche Leben hat immer auch in sen, Mitglieder, die vom Judentum wenig Nun ist es allerdings in unseren jüdi- lenwert ringen müssen. In der manches, mein jüdisches Leben hineingespielt. wussten. Von den heute knapp 100.000 schen Gemeinden nicht anders als in was jahrzehntelang selbstverständlich Und geschadet hat es mir nicht! Mitgliedern der jüdischen Gemeinden Kirchengemeinden: Auch bei uns gibt es war, in Frage steht. Jüdisches Leben heute – wie könnte haben rund 90 Prozent ihre Wurzeln in eine ungünstige Altersstruktur. Knapp Denn dass das Judentum trotz aller man es denn treffender bebildern? Viel- der Ex-Sowjetunion. Es galt zunächst, die Hälfte unserer Mitglieder sind über Anfeindungen, aller Verfolgung, aller leicht mit einem Foto von einer Thora, den Zuwanderern bei Behördengängen 60 Jahre alt. Und auch wir kämpfen seit Pogrome und trotz des größten Verbre- die allerdings mit kyrillischen Buchsta- und der Suche nach Arbeit und Woh- ein paar Jahren mit sinkenden Mitglie- chens, der Schoa, überlebt hat, das lag ben bedruckt ist (Abb. 1). nung zu helfen, aber vor allem galt es, derzahlen. Hier in Bayern zählen wir und liegt bis heute an diesem Kern: der Erstens entspricht dieses Foto ganz sie wieder mit ihrer Religion vertraut derzeit 18.260 Mitglieder in unseren Religion. Die zehn Gebote, die uns am wunderbar dem Klischee vom Volk des zu machen. Denn an deren Ausübung Gemeinden. Vor sechs Jahren waren es Berg Sinai übergeben wurden, die Tho- Buches. Es gibt viele Klischees über wurden sie in der Sowjetunion weitge- noch rund 100 mehr. ra, in der unsere Religion niedergelegt Juden. Dieses lassen wir uns gerne ge- hend gehindert, so dass gerade in der Daher versucht der Zentralrat der Ju- ist – dieses Wissen und diese Werte fallen. Man braucht häufig nur zu er- jüngeren Generation kaum noch Kennt- den mit verschiedenen Programmen für wurden über Generationen weitergege- wähnen, man sei jüdisch, schon denken nisse der Traditionen vorhanden waren. jüdische Studenten und für Young Pro- ben und haben uns Orientierung verlie- die Menschen, man sei belesen und wer- Über die Jahre hat sich damit hier in fessionals gerade jene Menschen in den hen. Ohne unsere Gebete und Segens- de jetzt jüdische Philosophen zitieren. den Gemeinden still und leise eine jüdi- Gemeinden zu halten, die sozusagen sprüche wären familiäre Feiern wie am Das Foto bildet aber auch die Realität sche Willkommenskultur etabliert, lan- leicht verloren gehen: Wer mit dem Schabbat oder zu Pessach nur eine leere ab. Solche mehrsprachigen Ausgaben ge, bevor wir diesen Begriff zu Recht Start ins Berufsleben und Familiengrün- Hülle. Ohne den religiösen Kern hätte

zur debatte 5/2016 15 Deshalb erfordert es sehr viel Know- how, sehr viel Einfühlungsvermögen und vor allem sehr viel Zeit, bis wir die- se emotionale Integration erreichen können. Wenn wir sie überhaupt errei- chen können. Und wie ich bereits er- wähnte: Nach unserer Erfahrung dauert dies eine Generation. Bundespräsident Joachim Gauck hat in seiner Rede zum Holocaust-Gedenk- tag 2015 vor dem Deutschen Bundestag sehr treffend beschrieben, was wir den neu hinzugekommenen Bürgern vermit- teln müssen. Er sagte, ich darf zitieren: „Das Gedenken an die Opfer des Natio- nalsozialismus (ist) zu einem festen Be- standteil unseres Selbstverständnisses geworden. Und mag der Holocaust auch nicht mehr für alle Bürger zu den Kernelementen deutscher Identität zäh- len, so gilt doch weiterhin: Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz. Die Erinnerung an den Holocaust bleibt eine Sache aller Bürger, die in Deutsch- land leben. Er gehört zur Geschichte dieses Landes (…) Der Holocaust als Menschheitsverbrechen – diesen Weg der Annäherung haben auch Eingewan- derte, selbst wenn sie sich nicht oder noch nicht als Deutsche fühlen. Dieser Weg ist nicht immer leicht, auch nicht selbstverständlich. Manche Einwande- rer erlitten in ihren Herkunftsländern selbst Verfolgung. Manche kommen aus Ländern, in denen Antisemitismus und Hass auf Israel verbreitet sind. Wo der- artige Haltungen bei Einwanderern Foto: Zentralrat der Juden/Jörn Neumann nachwirken und die Wahrnehmung ak- Abb. 1: Thora-Bände mit hebräischen tueller Ereignisse bestimmen, haben wir und kyrillischen Buchstaben. Ein ihnen beharrlich die historische Wahr- Großteil der heutigen deutschen Juden heit zu vermitteln und sie auf die Werte stammen aus der ehemaligen Sowjet- dieser Gesellschaft zu verpflichten.“ union. Vielleicht sind auch unter Ihnen eini- ge, die sich in der Flüchtlingshilfe enga- giert haben oder weiterhin engagiert sind. Gerade in den beiden christlichen Kirchen gibt es viel Elan für die Flücht- lingshilfe und eine wahrhaft christliche die Tradition niemals über Jahrtausende und ob diese Schule ausreichend be- Zahl seit dem vergangenen Jahr bei uns Willkommenskultur. Verstehen Sie mich Bestand gehabt. wacht ist. In allen unseren Gemeinden Zuflucht suchen, kommen ganz über- deshalb bitte nicht falsch: Ich möchte Was wir bisher bebildert haben, ist das sind die Sicherheitsvorkehrungen ein wiegend aus Staaten, die mit Israel tief Ihnen mit meinen kritischen Anmer- sehr schöne jüdische Leben in seiner erheblicher Kostenfaktor. Das ist leider verfeindet sind. Dort stehen die Proto- kungen zu den Flüchtlingen weder Ih- ganzen Vielfalt in Deutschland. Ich die traurige Realität im Jahr 2016. kolle der Weisen von Zion neben ande- ren Elan nehmen, noch sehe ich Ihr En- könnte Fotos von neu eröffneten Syna- Das Sicherheitsgefühl erhöht sich ren antisemitischen Machwerken in den gagement skeptisch. Ganz im Gegenteil. gogen oder Mikwen hinzufügen. Vom jü- nicht gerade, wenn bekannt wird, dass Buchhandlungen. In Atlanten fehlt Is- Ich bin den Kirchen sehr dankbar für dischen Zentrum am Jakobplatz oder mit den Flüchtlingen auch Terrorver- rael auf der Landkarte. Antisemitische ihren Einsatz. Das ganze Land sollte von jüdischen Kulturfestivals. Doch wir dächtige nach Deutschland eingeschleust Fernsehserien sind in diesen Ländern dankbar sein, denn viele Flüchtlingsun- müssen auch Anderes zur Kenntnis neh- wurden. Dennoch wäre es aus meiner normal. Wer mit einem solchen Feind- terkünfte funktionieren überhaupt nur, men. Zum Beispiel: ein Blumenmeer vor Sicht die völlig falsche Konsequenz, Eu- bild groß geworden ist, legt es nicht ein- weil kirchliche Sozial- und Wohlfahrts- der Synagoge in Kopenhagen, auf die im ropa wegen dieser Gefahren zu verlas- fach beim Grenzübertritt ab. verbände die Träger sind und die ehren- Februar 2015 ein islamistischer Anschlag sen. Unter den französischen Juden ist Deshalb gibt es in den jüdischen Ge- amtliche Hilfe organisiert haben. Die verübt wurde. Dabei kam der Wach- die Auswanderungswelle nach Israel meinden Sorgen. Denn schon jetzt exis- Deutsche Bischofskonferenz hat Anfang mann ums Leben. größer geworden. Aber, übersehen wir tiert ein recht ausgeprägter Antisemitis- dieses Jahres sehr durchdachte und klu- Ich könnte auch von Toten im Jüdi- nicht: Die ganz große Mehrheit der mus unter jungen Muslimen in Deutsch- ge Leitsätze für das kirchliche Engage- schen Museum in Brüssel oder von ei- französischen Juden bleibt in Frank- land. Das haben wir 2014 bei den anti- ment für Flüchtlinge verabschiedet. Da- nem riesigen Polizeiaufgebot vor dem reich! Es kann immer gute Gründe für israelischen Demonstrationen deutlich rin werden die Sorgen der jüdischen Koscher-Supermarkt in Paris sprechen. Juden geben, nach Israel auszuwandern. und in erschreckendem Ausmaß ge- Gemeinschaft aufgegriffen, und es wird Nun könnten Sie einwenden, dass dies Der Terror sollte keiner sein! spürt. Wird sich dieser Antisemitismus ein Lösungsansatz aufgezeigt. Ich darf keine Ereignisse in Deutschland waren. Denn dann würden die Terroristen jetzt noch verstärken? Werden wir bei zitieren: Das stimmt. Wir alle hatten in Deutsch- genau das erreichen, was sie möchten. einer Demo in drei Jahren nicht 2.000, „Auch unter den Muslimen und Ju- land bisher Glück, dass einige Attentate Ebenso, wie sich die gesamte Gesell- sondern 20.000 Menschen auf der Stra- den unseres Landes wecken die aktuel- verhindert werden konnten. schaft nicht abschrecken lassen darf, ihr ße haben, die brüllen: „Jude, Jude, feiges len Fluchtbewegungen ein großes Maß Wir können unser jüdisches Leben in ganz normales, freiheitliches Leben wei- Schwein, komm heraus und kämpf al- an Solidarität und Hilfsbereitschaft. Da- Deutschland aber nicht losgelöst von terzuführen, dürfen auch wir Juden uns lein!“? Wenn wir das nicht möchten, raus ergibt sich die Möglichkeit, den Europa betrachtet. Und in Europa ist nicht von der Bedrohung einschüchtern liegt viel Arbeit vor uns. Weg des interreligiösen und interkultu- modernes jüdisches Leben auch beglei- lassen! Es bedeutet, dass wir die Flüchtlinge rellen Dialogs mit Nachdruck fortzuset- tet von Gefahren. Was wir in jüngster Es gibt in unseren Gemeinden hier in nicht nur generell mit unseren Grund- zen und gemeinsame Projekte zur Un- Zeit in Europa erleben mussten, hat uns Deutschland zwar eine Verunsicherung rechten wie etwa der Religionsfreiheit terstützung von Flüchtlingen zu initiie- alle erschüttert. Was uns, in der jüdi- und beim ein oder anderen auch Ängs- vertraut machen müssen. Grundrechte, ren. Eine derartige Zusammenarbeit schen Gemeinschaft, aber noch stärker te. Aber der weitaus größte Teil der hie- die sie aus ihren Herkunftsländern kann unter anderem auch für den gegen- auffällt als der übrigen Bevölkerung: sigen Juden denkt nicht an Auswande- nicht kennen. Wir müssen sie auch seitigen Respekt zwischen christlichen Sehr oft wählen die Terroristen bewusst rung. Die Debatte darüber, ob wir auf emotional erreichen. Sie müssen verin- und muslimischen Flüchtlingen und die jüdische Einrichtungen als Ziel aus. Dauer sicher in Deutschland leben kön- nerlichen, dass die Menschenwürde Überwindung antisemitischer Ressenti- Diese fanatischen Islamisten sind eben nen, die ist allerdings wieder da. Das universell gilt, auch für Juden. Sie müs- ments, vor denen die jüdischen Gemein- auch fanatische Judenhasser. Es nutzt hat jedoch neben der terroristischen Be- sen einsehen, dass ihnen Schauermär- den zurecht warnen, förderlich sein.“ nichts, vor dieser Tatsache die Augen zu drohung auch sehr viel mit den Flücht- chen erzählt wurden. Sie müssen sich Diese Einschätzung teile ich: Direkte verschließen. lingen zu tun. eingestehen, in Teilen mit einem fal- Begegnung zwischen den Religionen Und deshalb lässt sich feststellen: Wir Ich komme jetzt zu dem Teil, mit schen Weltbild durchs Leben gegangen kann sehr viel bewirken und dazu bei- Juden fühlen uns in Deutschland sicher. dem ich mich bei Ihnen vielleicht unbe- zu sein. Das ist sehr schwer. Das wäre tragen, Vorurteile abzubauen. Mit Ih- Das Sicherheitsgefühl war aber schon liebt mache. Mit dem ich Wasser in den für jeden Menschen schwer. Für Men- rem ehrenamtlichen Engagement für die größer. Das hat mehrere Gründe, ein Wein kippe. Ich halte es jedoch für not- schen, die gerade ihre Heimat, vielleicht Flüchtlinge haben Sie für die Integrati- wesentlicher ist die Bedrohung durch Is- wendig für unser Land, mit schonungs- Familienangehörige und ihren Besitz on und Wertevermittlung einen ganz lamisten. So ist es nicht verwunderlich, losem, glasklaren Blick auf die aktuelle verloren haben, die traumatisiert sind wichtigen ersten Schritt geleistet. In der dass sich Eltern fragen, wie sie ihre Kin- Lage zu blicken. Rosarot hilft hier nicht und sich in einer neuen Kultur zurecht- Tat sind auch jüdische Gemeinden und der sicher zur jüdischen Schule bringen weiter. Die Flüchtlinge, die in so großer finden müssen, ist es noch schwerer. Organisationen in der Flüchtlingshilfe

16 zur debatte 5/2016 Foto: Zentralrat der Juden/Jörn Neumann Abb. 2: Marmor und Blumen sind heute auch auf jüdischen Friedhöfen zu se- hen. Diese Tradition brachten Gläubige aus ihrer russischen Heimat mit nach Deutschland.

aktiv. Wenn wir uns also noch einmal digkeit der Wertevermittlung als auch Vor allem gegen Muslime, Ausländer sprechen. Die neuen rechtspopulistischen überlegen wollen, wie man jüdisches für eine tolerante Gesellschaft zu wer- und Sinti und Roma wird Abneigung Bewegungen und Parteien haben einen Leben in Deutschland bebildern könnte, ben. Hier in Bayern haben wir seit 2005 geschürt. Wir könnten übrigens Juden erheblichen Anteil an der erwähnten können wir auch ein Foto vom Mitzvah das Bündnis für Toleranz. Auf Bundes- hinzufügen. Antisemitismus und vor al- Polarisierung. Sie schaden massiv der Day im vergangenen November aus- ebene haben wir Anfang dieses Jahres lem Antizionismus wurden für die Stu- politischen Kultur in diesem Land. Into- wählen (Abb. 5). mit ganz ähnlichen Trägern die „Allianz die nicht gesondert untersucht, die Au- lerante Ansichten über Muslime und Der Mitzvah Day ist ein vom Zent- für Weltoffenheit, Solidarität, Demokra- toren haben aber selbst eingeräumt, über Ausländer sowie Antisemitismus, ralrat der Juden initiierter Tag des Eh- tie und Rechtsstaat – gegen Intoleranz, dass weiterhin von 20 bis 30 Prozent gekleidet in eine Kritik an Israel, finden renamts, mit zahlreichen Projekten in Menschenfeindlichkeit und Gewalt“ Anti-semiten auszugehen sei. sich inzwischen bis in die Mitte der Ge- den jüdischen Gemeinden, zum Teil üb- mitgegründet. Aus Berliner Sicht stellte Der Zentralrat der Juden in Deutsch- sellschaft. rigens mit christlichen Partnern. Im ver- sich das für einige Akteure als Weltneu- land hat sich von jeher auch für andere Dagegen müssen wir angehen – in gangenen Jahr stand dieser Tag ganz im heit dar. Ich war dann doch so frei, dar- Minderheiten und für Toleranz einge- Toleranz-Bündnissen und Vereinen, Zeichen der Flüchtlingshilfe. auf hinzuweisen, dass wir in Bayern be- setzt. Neben der „Allianz für Weltoffen- aber auch jeder Einzelne von uns in sei- Und so haben auch Mitarbeiter des reits ein solches Bündnis haben, das heit“ sind wir daher in diesem Jahr auch nem Alltag. Denn worum geht es? Das Zentralrats einen ganzen Tag lang für sehr gute Arbeit leistet und von dem wir dem „Bündnis für Solidarität mit den hat Paul Spiegel im Jahr 2000 unter Flüchtlinge in einer Berliner Turnhalle durchaus lernen können. Solche zivilge- Sinti und Roma Europas“ beigetreten. dem Eindruck zahlreicher ausländer- Programm gemacht. Ich habe ein wenig sellschaftlichen Bündnisse sind heute Denn die Atmosphäre in unserer Ge- feindlicher Gewalttaten und unter dem geholfen, Luftballons aufzublasen und wichtiger denn je! sellschaft vergiftet sich zunehmend. Das Eindruck des Anschlags auf die Synago- habe Hummus verteilt. Diese Kicher- Wir brauchen Bürger, die sich aktiv ist eine Entwicklung, die uns alle beun- ge in Düsseldorf so formuliert: „Wir erbsen-Speise wird ja in Israel genauso für eine respektvolle und solidarische ruhigt, die in der jüdischen Gemein- dürfen bei der Bekämpfung von Rechts- gern gegessen wie in Syrien. Denn es Gesellschaft einsetzen. Deshalb unter- schaft aber auch dazu beiträgt, sich Ge- radikalismus, Antisemitismus und gibt ja nicht nur Trennendes. Es gibt ja stützt der Zentralrat solche Bündnisse danken darüber zu machen, welche Zu- Fremdenfeindlichkeit nicht innehalten. auch Dinge, die uns verbinden. auf Bundesebene. Deshalb haben wir kunft wir in diesem Land haben. Denn es geht nicht allein um uns Juden, Und die Erfahrung von Flucht, von erst vor wenigen Wochen den Verein Ich weiß nicht, ob es Ihnen geht wie um Türken, um Schwarze, um Obdach- Exil, von geschlossenen Grenzen oder „Gesicht Zeigen!“ mit dem Paul-Spie- mir: Eigentlich ärgert es mich, wieviel lose, um Schwule. Es geht um dieses schlicht von einem Neuanfang in einem gel-Preis für Zivilcourage ausgezeichnet Aufmerksamkeit die AfD bekommt. Land,es geht um die Zukunft jedes ein- fremden Land – diese Erfahrungen sind (Abb. 6). Denn der Verein „Gesicht Zei- Beim Katholikentag mussten wir erle- zelnen Menschen in diesem Land.“ Die- in jeder jüdischen Familie präsent. Noch gen!“, der vom früheren Zentralratsprä- ben, dass fast häufiger über die Frage se Sätze haben an Aktualität nichts ver- stärker als unser Unbehagen über wo- sidenten Paul Spiegel mitbegründet diskutiert wurde, ob der Ausschluss der loren! Sie könnten auch in diesem Jahr möglich importierten Antisemitismus ist wurde, macht seit Jahren großartige AfD richtig war, als über die anstehen- gefallen sein! daher unser Verständnis für die Not die- Projekte gegen Rechtsextremismus, vor den Themen selbst, um es etwas zuge- Es geht nicht allein um Juden und ser Menschen. Es sind einfach zwei allem mit jungen Leuten. spitzt zu formulieren. Muslime oder um Flüchtlinge – es geht Herzen, die da in unserer Brust schla- Ich habe eben gesagt, die Arbeit sol- Doch wir kommen um das Thema um unser Land. Es geht um die Frage, gen. cher Toleranz-Bündnisse sei heute nicht herum. Angesichts der Zustim- wie wir die Errungenschaften unserer Als Zentralrat der Juden in Deutsch- wichtiger denn je. Gerade erst hat eine mung, die die AfD erhält, angesichts sol- westlichen Demokratie und Wertege- land sind wir auf vielen Ebenen poli- neue Studie die fortschreitende Polari- cher Bewegungen wie Pegida müssen wir meinschaft schützen und im 21. Jahr- tisch aktiv, um sowohl für die Notwen- sierung unserer Gesellschaft aufgezeigt. von einem Rechtsruck der Gesellschaft hundert erhalten.

zur debatte 5/2016 17 Foto: Zentralrat der Juden/Gregor Zielke Abb. 3: Die Jewrovision ist der größte Gesangs- und Tanzwettbewerb für jüdische Jugendliche in Europa.

Im vergangenen Jahr gab es mehr als 1.000 Überfälle auf Flüchtlingsunter- künfte. Das war eine Verfünffachung ge- genüber dem Jahr zuvor. Nur ein Bruchteil der rechtsextremen und aus- länderfeindlichen Taten wird aufgeklärt. Wir sind zudem mit einer immer größe- ren Gewaltbereitschaft unter den Rechtsradikalen und einer besseren Vernetzung konfrontiert. Noch immer läuft der Prozess gegen Beate Zschäpe. Noch immer befassen sich Untersu- chungsausschüsse mit dem NSU, um die kriminellen Strukturen dieser rech- ten Terrorgruppe aufzudecken. Und erst vor kurzem sind im sächsischen Freital offenbar Rechtsterroristen festgenom- men worden. Und wir sind heute mit technischen Möglichkeiten konfrontiert, die es sehr leicht machen, Menschen aufzuhetzen oder in kürzester Zeit zu Protest-Auf- märschen zusammenzurufen. Die Ha- cker-Angriffe auf Universitäten, bei de- nen plötzlich antisemitische Pamphlete aus den Druckern kamen, haben uns gezeigt, wie perfide heutzutage die Me- thoden der Rechtsextremen sind. In die- sem Mosaik stellt im Übrigen die NPD einen Stein von nicht zu unterschätzen- der Größe dar. Die Partei lenkt häufig ausländerfeindliche Aufmärsche und Proteste. Ihre Staatsgelder fließen in Neo-Nazi-Kanäle. Der Zentralrat der Foto: Zentralrat der Juden/Jörn Neumann Juden hofft daher sehr, dass sich das Abb. 4: Ein deutscher Rabbiner in einer Bundesverfassungsgericht für ein Verbot Synagoge. Seit 2006 werden in Deutsch- dieser rechtsextremistischen Partei aus- land wieder Rabbiner ausgebildet. sprechen wird. Viele dieser Entwicklungen konnte Paul Spiegel noch gar nicht erahnen.

18 zur debatte 5/2016 Aber er wusste: Wenn wir den Kampf gegen Hass und Gewalt nicht aufneh- men, haben wir schon verloren. Ich bin sehr froh, dass wir hier einen großen Konsens mit den Kirchen haben. Erst vor wenigen Wochen haben wir ein weiteres Bündnis ins Leben gerufen, ein interreligiöses Projekt, das genau diesen intoleranten Tendenzen entgegenwirken soll. Unter dem Titel „Weißt du, wer ich bin?“ unterstützen die beiden Kirchen, der Zentralrat der Juden und vier musli- mische Verbände lokale interreligiöse Flüchtlingsinitiativen. Diese Initiativen können vom Bundesinnenministerium mit bis zu 15.000 Euro gefördert wer- den. Genau solche Projekte brauchen wir in hohem Maße in Deutschland. Denn je besser wir einander kennen, desto weniger halten sich Vorurteile. Und je größer unser Wissen über andere Reli- gionen ist, desto schwerer haben es Rechtspopulisten, Ressentiments zu schüren. Machen wir uns nichts vor: Die AfD hat zwar vor allem den Islam im Visier. Doch ich gehe fest davon aus, dass sich ihre Ablehnung auch gegen eine andere Minderheit richten kann, wenn es der Partei opportun erscheint. In ihrem neuen Grundsatzprogramm hat die AfD ein Verbot des Schächtens Nach seinem Vortrag stand Josef beschlossen. Damit trifft sie uns Juden Schuster noch für ein Podiumsgespräch ebenso wie die Muslime. zur Verfügung, moderiert von Akade- Wir alle sind aber auch aufgefordert, miedirektor Dr. Florian Schuller. im Alltag gegen Diskriminierung einzu- schreiten. Jeder von uns kann sich selbstkritisch fragen: Mache ich den Mund auf, wenn auf einer Familienfeier Schwulen- oder Judenwitze erzählt wer- den? Schreite ich ein oder informiere die Polizei, wenn ein Schwarzer be- Nazizeit gelingt besser an den Orten, an und Rassenwahn.“ Jetzt werden Sie über- Ich bin daher sehr froh, dass die bay- droht wird? Was denke ich als erstes, denen die Verbrechen geschahen. rascht sein, aber da stimme ich Wolfgang erische Landesregierung einen Modell- wenn ich eine Gruppe von Sinti und Der Historiker Wolfgang Benz hat vor Benz sogar zu. Ein Gedenkstättenbesuch versuch mit Mittelschulen für verpflich- Roma sehe? kurzem in der „Süddeutschen Zeitung“ kann nur ein Baustein sein und muss na- tende Gedenkstättenbesuche gestartet Alle Wege führen nach Rom, und vie- festgestellt: „Der verordnete Besuch einer türlich vor- und nachbereitet werden. Al- hat. Dabei hat sich gezeigt, dass eine be- le Wege führen zu einer toleranten Ge- Gedenkstätte heilt nicht soziale Schäden, lerdings räumt auch Wolfgang Benz ein: achtliche Anzahl von Mittelschulen be- sellschaft. Ein in meinen Augen sehr immunisiert junge Menschen nicht gegen „Der Lernort KZ kann jedoch einen Bei- reits regelmäßig mit ihren Schülern nach wichtiger Weg ist die Bildung. Dabei lie- rechtsextremistische Ideologie, ist nicht trag zur Integration neuer Bürger im Ein- Dachau oder Flossenbürg fährt. Und gen mir aus meiner Sicht als Zentral- das Patentrezept gegen Ausländerhass wanderungsland leisten.“ dass die Schüler eine große Offenheit rats-Präsident zwei Themen besonders am Herzen: Es muss unser Ziel sein, die religiöse beziehungsweise interreligiöse Bildung in Deutschland zu erhöhen. Halten wir uns einfach beispielhaft vor Augen, dass in einem durch und durch christlich geprägten Land wie Deutsch- land in Umfragen nur noch die Hälfte der Menschen sagen kann, was die Be- deutung von Karfreitag ist. Und um auf unseren Gedanken der richtigen Bebilderung zurückzukom- men. Welche Bilder finden sich denn in Schulbüchern, wenn das Kapitel Juden- tum an der Reihe ist? Auch dort sind es wie in den Medien sehr häufig Fotos von ultraorthodoxen Juden an der Kla- gemauer in Jerusalem. Selbstverständ- lich gibt es diese Juden. In Deutschland trifft man sie allerdings nicht. Und diese Fotos verfestigen letztlich ein Klischee. Warum sind nicht einfach jüdische Kin- der und Jugendliche zu sehen, wie auf diesem Bild? Der Zentralrat der Juden erarbeitet gerade mit der Kultusminis- terkonferenz eine Erklärung, um die Vermittlung der jüdischen Geschichte, Kultur und Religion in der ganzen Viel- falt in den Schulen zu verbessern. Darin werden wir auch die Begegnung mit Ju- den empfehlen. Denn, wie ich eingangs schon fest- stellte, das Wissen über das moderne jü- dische Leben in Deutschland ist gering. Darüber hinaus liegt mir am Herzen, was ich schon seit längerem öffentlich fordere: Gedenkstättenbesuche von Schülern. An den authentischen Orten können junge Menschen auch heute noch die Dimension der NS-Verbrechen Foto: Zentralrat der Juden/Gregor Zielke viel besser erfassen als aus dem Schul- Abb. 5: Der Mitzvah Day ist der Tag des buch. Empathie mit den Opfern und Ehrenamtes. Zahlreiche Projekte jüdi- Verantwortungsbewusstsein entstehen scher Gemeinden werden vorgestellt. nicht anhand nackter Zahlen. Eine indi- viduelle Auseinandersetzung mit der

zur debatte 5/2016 19 Foto: Zentralrat der Juden/Jörn Neumann Abb. 6: Beim Paul-Spiegel-Preis werden Menschen oder Gruppen ausgezeichnet, die Projekte gegen Rechtsextremismus durchführen.

und großes Interesse mitbringen! Ich Ich bin gar nicht pessimistisch, dass hoffe, dass schlussendlich auch für die sich die Erinnerung an die Shoa nicht Mittelschulen ein verpflichtender KZ- auch in einer Migrationsgesellschaft Gedenkstättenbesuch das Ergebnis des vermitteln lässt. Unter den Migranten Modellversuchs sein wird. sind viele Menschen, die selbst Diskri- Zugleich müssen unsere Gedenkstät- minierung und Rassismus erlebt haben ten natürlich auch ausreichend finanzi- oder immer noch erleben. Es sind Men- ell ausgestattet werden. Der Obersalz- schen darunter, deren Familien aus ih- berg ist gewiss auch ein wichtiger histo- rer Heimat fliehen mussten, Menschen, rischer Ort. Auch dort lässt sich viel über die in Diktaturen, in Flüchtlingslagern den Charakter des Nationalsozialismus oder Armut gelebt haben. Warum soll- erklären. Aber in Dachau und Flossen- ten diese Menschen weniger in der Lage bürg ist die Perspektive eine andere – sein, Empathie für die Opfer der Shoa und mit Verlaub: Sie liegt mir mehr am aufzubringen? Oder warum sollten sie Herzen! Und das sage ich nicht nur, weniger interessiert sein an der Frage, weil mein Vater in Dachau inhaftiert wie es dazu kommen konnte? war, sondern im Namen der Überleben- Wir brauchen für diese Vermittlung den der Konzentrationslager. Die vom gut ausgebildete Lehrer. Zumindest in bayerischen SPD-Abgeordneten Martin Bayern, wo ich es am besten mitbekom- Güll geübte, heftige Kritik an der Kon- me, haben wir die auch. Wir dürfen die zeption der Ausstellung in der Gedenk- Lehrer mit dieser Aufgabe aber nicht al- stätte Dachau teile ich übrigens aus- leine lassen. Gedenkstätten können drücklich nicht! Was in Dachau an päd- eine wertvolle Hilfestellung bieten. agogischer Arbeit geleistet wird, ist vor- Eine moderne Form der Erinnerung bildlich. Und das hat auch mit der Aus- sind für mich auch die Stolpersteine des stellung zu tun. Das bedeutet ja nicht, Künstlers Gunter Demnig. Mir ist klar, dass am Konzept nie etwas geändert dass dieses Thema in München ein hei- werden sollte. Aber eine Totalrevision ßes Eisen ist. Vielleicht kann der ein Heidrun Piwernetz, die Regierungs- zu fordern ist übertrieben. oder andere unter Ihnen das Thema präsidentin von Oberfranken, war unter Jenseits der Gedenkstätten sind wir auch nicht mehr hören. Ich möchte den- den rund 130 Gästen des Abends. gefordert, eine Gedenkkultur zu entwi- noch ein paar Gedanken zum Thema ckeln, die auch 70 Jahre nach Kriegsen- Stolpersteine formulieren. Der Münch- de noch die Menschen erreicht, und die ner Stadtrat hat sich für eine andere zu einer Einwanderungsgesellschaft Form des Gedenkens entschieden. Das passt. Das ist eine große Herausforde- kann ich gut akzeptieren. Die Stolper- rung, was wir auch daran merken, wie steine haben keinen Alleinvertretungs- lange schon das Thema in den Feuille- anspruch. Und ich bin sehr gespannt, tons immer wieder auftaucht. wie schließlich das neue Konzept in

20 zur debatte 5/2016 München aussehen wird. Der Stadt wün- sche ich vor allem, dass sie bei dem The- ma bald zur Ruhe kommt und im Kon- sens eine würdige Form des Gedenkens findet. Ich möchte Ihnen aber auch erläu- tern, warum ich die Stolpersteine befür- worte. Die Stolpersteine überraschen uns mitten im Alltag. Ich nehme mir manchmal die Zeit, in Würzburg am Kaufhof die Passanten zu beobachten. Nicht wenige bleiben abrupt stehen, wenn sie die kleinen Messingsteine ent- decken, die dort zur Erinnerung an die früheren jüdischen Kaufhausbesitzer Ruschkewitz liegen. So werden die Bür- ger mit der Geschichte konfrontiert, ohne dafür aktiv einen Erinnerungsort oder ein Museum aufsuchen zu müssen. Zugleich wird für jedermann sicht- bar: Die Juden, die im Nationalsozialis- mus entrechtet, verfolgt und ermordet wurden, lebten ganz normal mitten in der Stadt. Sie verschwanden, und die wenigsten haben sich dafür interessiert, wohin. Die Stolpersteine regen zum Nachdenken und Nachfragen an. Sie werfen sehr direkt die Frage auf, wie die Verfolgung so vieler unschuldiger Men- schen möglich war, obwohl sie nicht im Geheimen geschah. Warum griff nie- mand ein? Und wie würde ich heute re- agieren? Das sind Fragen, die gerade junge Menschen stellen – über die sie buchstäblich stolpern. Zum Kunstprojekt Stolpersteine ge- hört auch die Recherche, die der Verle- Foto: Zentralrat der Juden/Rafael Herlich gung eines Steins vorausgeht. Gunter Abb. 7: Josef Schuster bei seiner Rede auch kritische Punkte an, ohne dass Demnig macht es den Menschen zum zu „Nostra Aetate“ im Frankfurter dadurch die positive Gesamtwürdigung Glück nicht bequem und erledigt das „Haus am Dom“. Dort sprach der dieser Konzilserklärung geschmälert für sie. Wer einen Stolperstein verlegen Präsident des Zentralrats der Juden wurde. lassen möchte, muss selbst nachfor- schen: Wer wohnte in meinem Haus? Wohin wurden die Menschen ver- schleppt? Wie wurden sie ermordet? Gibt es noch Angehörige? Durch diese Recherchen findet eine Auseinander- tus zu nennen. Nach wie vor warten wir Dass heutzutage ein Vertreter der jü- religionslose Gesellschaft oder den Wer- setzung mit der NS-Vergangenheit statt, auf die Revision der Wiedereinführung dischen Gemeinschaft eingeladen wird, teverfall betreffen. Und als 2012 plötz- wie sie intensiver kaum vorstellbar ist. der alten Formulierungen. Daneben be- zu 50 Jahre „Nostra Aetate“ oder in ei- lich durch das Urteil des Kölner Land- Ich habe Verständnis dafür, dass nicht obachten wir etwas angespannt die An- ner katholischen Akademie zu spre- gerichts die Beschneidung in Frage jeder sich mit den Stolpersteinen an- näherungsversuche an die Pius-Bruder- chen, und dass auch niemand erwartet, stand, stand die katholische Kirche, freunden kann. Für mich überwiegen schaft. Ich hoffe sehr, dass Papst Fran- dann nur Lobeshymnen zu hören, das ebenso wie übrigens die evangelische die positiven Seiten aber die Bedenken. ziskus die volle Anerkennung der Be- steht für mich symbolisch für das gute Kirche, solidarisch an unserer Seite. Und wenn wir gerade beim Thema schlüsse des Zweiten Vatikanischen Verhältnis zwischen Judentum und ka- Papst Johannes Paul II. hat das Ju- Gedenken sind: Ich plädiere ich auch Konzils zum Maßstab macht für eine tholischer Kirche. dentum einmal als den älteren Bruder dafür, feste Gedenktage beizubehalten. Rückkehr in den Schoß der katholi- Wir sprechen nicht übereinander, des Christentums bezeichnet. Das ist Kritiker sprechen von starren Ritualen, schen Kirche. Die erneute Exkommuni- sondern miteinander. Und es gibt im- nicht nur theologisch sehr treffend. Es die heute niemanden mehr erreichen. kation von Richard Williamson wäre mer häufiger Situationen, in denen wir beschreibt auch gut unser heutiges Ver- Diese Einschätzung teile ich nicht. Fest- zudem die angemessene Antwort auf uns in einem Boot fühlen. Etwa wenn hältnis: Natürlich kann es in einzelnen stehende Gedenktage disziplinieren seine Holocaust-Leugnung. In dieser es um Fragen geht, die eine zunehmend Fragen mal, wenn ich es so salopp aus- uns, in der sich scheinbar immer schnel- Frage gibt es keine Kompromisse! ler drehenden Welt innezuhalten und Im kommenden Jahr feiert die evange- den Blick zurückzuwerfen. Auch das ist lische Kirche das große Reformationsju- wichtig und sinnvoll. biläum. Nicht nur, aber auch aus diesem Das schwierige historische Erbe an- Anlass sind wir mit der EKD ebenfalls in zunehmen, das ist inzwischen auch in intensiven Gesprächen. Denn eine ein- der katholischen und evangelischen deutige Abkehr von jeder Art der Juden- Kirche Konsens. Beide Institutionen ha- mission ist eben noch nicht in allen ben sich intensiv mit ihrer Rolle im Na- evangelischen Gruppierungen zu finden. tionalsozialismus beschäftigt. Im ver- Hier erwarten wir ein klares Signal der gangenen Jahr konnten wir auf 50 Jahre EKD, die sich im Übrigen sehr vorbild- „Nostra Aetate“ zurückblicken. Ich lich mit den judenfeindlichen Schriften habe bei einer Veranstaltung zu diesem von Martin Luther auseinandergesetzt Jubiläum im „Haus am Dom“ in Frank- hat und dieses Thema beim Reformati- furt (Abb. 7) die Konzilserklärung als onsjubiläum auch nicht aussparen will. „Meilenstein“ im christlich-jüdischen Doch da ich hier ja in der Katholi- Verhältnis bezeichnet. In dieser Ein- schen Akademie in Bayern spreche, schätzung fühlte ich mich bestätigt, als möchte ich noch auf ein weiteres Jubilä- der Vatikan im Dezember vergangenen um im nächsten Jahr aufmerksam ma- Jahres eine Erklärung zu „Nostra Aeta- chen. Sehen Sie es mir, dem Würzbur- te“ veröffentlichte und darin erneut die ger, nach. Im kommenden Jahr begeht Abkehr von der Judenmission bekräftig- Würzburg den 400. Todestag von Julius te. Ebenso wurde betont, dass aus sich Echter. Eine kritische Auseinanderset- einst skeptisch gegenüberstehenden Ge- zung mit der sehr ambivalenten Persön- meinschaften „verlässliche Partner und lichkeit des einstigen Fürstbischofes hat sogar gute Freunde geworden“ seien. bereits begonnen. Julius Echter war Das ist zutreffend, und für diese Ent- Universitäts- und Spitalstifter, aber auch wicklung dürfen wir dankbar sein. ein strenger Verfechter der Hexen- und In meiner Rede zu „Nostra Aetate“ der Judenverfolgung. Sein Spital errich- im vergangenen Jahr war ich jedoch so tete er auf dem jüdischen Friedhof. Bei frei, auch kritische Punkte anzuspre- allem Stolz auf das Juliusspital und na- chen. Denn gänzlich unbelastet ist un- türlich das dazugehörige Weingut dür- ser Verhältnis zur katholischen Kirche fen diese Seiten nicht ausgeblendet wer- Der Vortrag des Zentralratspräsidenten „mediathek.kath-akademie-bayern.de/ noch nicht. Da wäre zum einen die Kar- den. Das gilt auch für die geplante Diö- wurde live gestreamt und ist in der video/juedisches-leben-in-deutschland- freitagsfürbitte für den lateinischen Ri- zesan-Ausstellung. Mediathek der Akademie unter stream“ als podcast zu sehen.

zur debatte 5/2016 21 Jugendliche an Austauschprogrammen teilgenommen. 2015 besuchten rund 200.000 Deutsche Israel, davon 60 Pro- zent nicht zum ersten Mal. Auch hier gilt: Wenn wir einander begegnen, wächst das gegenseitige Ver- ständnis. Wer einmal in Israel war und einen Sirenenalarm miterlebt hat, wer die Sicherheitskontrollen an Einkaufs- zentren mitgemacht hat und wer plötz- lich selbst ein unsicheres Gefühl an der Bushaltestelle verspürt, weil dort eine herrenlose Tasche steht, der wird sich künftig mit vorschnellen Urteilen über die israelische Politik vermutlich ein wenig zurückhalten. Dieser Vortrag war überschrieben mit dem Titel: „Jüdisches Leben in Deutsch- land heute“. Ich hoffe, ich konnte Ihnen ein paar Eindrücke vermitteln. Ich habe Ihnen auch von unseren Sorgen berich- tet und von Bedrohungen des jüdischen Lebens. Trotz allem überwiegt bei mir aber die Zuversicht. Und ich hoffe, das haben Sie gespürt. Daher möchte ich schließen mit ei- nem meiner persönlichen Leitsprüche. Er stammt von David Ben-Gurion, dem ersten Ministerpräsidenten von Israel: „Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.“ „

Foto: Zentralrat der Juden/Marco Limberg Abb. 8: Außenminister Frank-Walter Steinmeier, Israels Botschafter Yakov Hadas-Handelsman und Josef Schuster (v.l.n.r.). Presse

KNA 29. Juni 2016 – Ein Internist schaut ins Innere des Körpers. Es geht ihm darum, drücken darf, Zoff geben. Dann rumpelt gehört auch Israel. Und wenn ich mir Haltung zu Israel. Jeder zweite Deut- mögliche Fehlfunktionen der Organe zu es mal. Dann kriegen sich die beiden die Bedeutung anschaue, die Israel für sche lehnt eine politische Unterstützung erkennen und zu heilen. Josef Schuster Brüder auch schon mal in die Haare. uns Juden hat, hätte ich eigentlich schon Israels im Nahostkonflikt ab. 62 Pro- hat sich als Mediziner diesem Fachge- Aber, und das ist der entscheidende viel früher darauf zu sprechen kommen zent gaben an, eine schlechte Meinung biet verschrieben. Am Dienstagabend Unterschied zu den Jahrhunderten zu- müssen. Wollen wir das jüdische Leben über die israelische Regierung zu haben. stand er in München aber als Präsident vor: Sie ringen in gegenseitigem Res- in Deutschland also bebildern, können Und nur 40 Prozent waren der Mei- des Zentralrats der Juden in Deutsch- pekt und nicht wie Kain und Abel. Sie wir auch ein Foto des Israelischen Bot- nung, dass Deutschland eine besondere land am Rednerpult der Katholischen haben das Ziel, sich gegenseitig am Le- schafters Yakov Hadas-Handelsman mit Verantwortung gegenüber dem jüdischen Akademie in Bayern. Seit zwei Jahren ben zu lassen. mir und Außenminister Frank-Walter Volk trägt. hat der 62-Jährige das Amt inne. (…) Ziemlich häufig werde ich inzwi- Steinmeier zeigen (Abb. 8). Es war vor 50 Jahren alles andere als Detailreich, pointiert und mit einem hu- schen gefragt, ob der jüdisch-christliche Israel hat in Deutschland insgesamt selbstverständlich, dass Israel bereit war, morigen Unterton spricht er Klischees Dialog noch zeitgemäß sei, oder ob er einen besonderen Stellenwert. Das gilt die Hand zur Versöhnung auszustre- und unliebsame Wahrheiten an. Die nicht zu einem Trialog mit dem Islam natürlich vor allem für die Politik. Doch cken und mit der Bundesrepublik diplo- Kenntnisse über das jüdische Leben erweitert werden müsste. Es ist sicher- auch wenn wir uns die Debatten in un- matische Beziehungen aufzunehmen. hierzulande seien nun mal gering. Die lich eine gute Absicht, die hinter dieser serem Land anschauen, lässt sich fest- Solche Umfragewerte stimmen mich da- meisten Bürger würden eher ein Bild Frage steckt. Ich sage aber klipp und stellen: Es gibt wohl kaum ein anderes her sehr nachdenklich. Es geht ja nicht aus Israel mit ultraorthodoxen Juden an klar: Am jüdisch-christlichen Dialog Land dieser Größe – Israel ist etwa so darum, dass man Israel nicht kritisieren der Klagemauer im Kopf haben, als ein sollten wir unbedingt festhalten. Die Ju- groß wie Hessen –, das so viel Aufmerk- dürfte. Jeder ist frei darin, die Politik der modernes Judentum in Deutschland. denfeindschaft, die die Kirchen über samkeit und so viel Kritik erntet wie Is- israelischen Regierung zu bewerten. Wir Barbara Just Jahrhunderte gepflegt haben, lässt sich rael. So erhält auch der Zentralrat sehr erwarten allerdings, dass an Israel die nicht innerhalb weniger Jahrzehnte bei- häufig Medienanfragen zu Israel, und gleichen Maßstäbe und keine strenge- dpa seite wischen. Noch gibt es offene Fra- gelegentlich müssen wir darauf hinwei- ren angelegt werden als an andere Staa- 29. Juni 2016 – Der Präsident des Zent- gen und auch nicht verheilte Wunden. sen, dass wir nicht die Konsular-Abtei- ten. Wieso konnte sich der Begriff „Isra- ralrates der Juden, Josef Schuster, hat Es ist so wichtig, dass wir das Funda- lung der Israelischen Botschaft sind. el-Kritik“ einbürgern? Es gibt aber nicht vor einem neuen Antisemitismus durch ment, auf dem wir stehen, noch weiter Israel zu kritisieren, ist in weiten Tei- die Ausdrücke „Irak-Kritik“ oder „Nord- die Zuwanderung von Flüchtlingen ge- festigen. Und glauben Sie mir, Rabbiner len der Bevölkerung fast so etwas wie korea-Kritik“ – Staaten, bei denen sol- warnt. „Die Flüchtlinge, die in so großer und christliche Theologen sind viel zu ein Gesellschaftssport geworden. Daher che Begriffe eindeutig mehr Berechti- Zahl seit dem vergangenen Jahr bei uns diskussionsfreudig, um nicht noch für will ich hier ganz deutlich unterstrei- gung hätten. Wieso bilden sich Grup- Zuflucht suchen, kommen ganz über- Jahrzehnte ausreichend Stoff für den chen: Für alle Juden weltweit ist Israel pen, die israelische Waren besonders wiegend aus Staaten, die mit Israel tief Dialog zu haben! der sichere Hafen. Israel ist unsere Rück- etikettieren oder gar boykottieren wol- verfeindet sind“, sagte Schuster am Der Dialog sollte bleiben, aber kann versicherung. Daher werden wir dem len? Wieso werden keine Waren aus Abend in München (…). Schon jetzt natürlich um einen Trialog ergänzt wer- jüdischen Staat niemals neutral gegen- Diktaturen boykottiert? Leider hat die- sieht Schuster nach eigenen Angaben den. Das geschieht ja auch schon. Die überstehen. Die Existenz Israels ist für ser Umgang mit Israel oft nichts mehr seine Angst begründet: Unter jungen beiden Kirchen und wir Juden sind im uns nicht eine Frage der Staatsräson, mit einer sachlichen Kritik zu tun. Nein, Muslimen in Deutschland gebe es einen Austausch mit muslimischen Verbän- sondern der Lebensräson. Hätte es 1933 es ist der alte Antisemitismus in neuem recht ausgeprägten Antisemitismus, sag- den. Die Tatsache, dass es nicht einen bis 1945 den jüdischen Staat gegeben, Gewand, dem wir begegnen. Doch wie te er. kry/dpa großen muslimischen Verband gibt, der wäre es nicht zu dem gekommen, zu sagte einst Golda Meir, die frühere Mi- die deutliche Mehrheit der Muslime in dem es gekommen ist. nisterpräsidentin Israels? „Pessimismus Deutschland vertritt, macht das Ge- Diese Bedeutung Israels für uns Juden ist ein Luxus, den ein Jude sich nicht Mittelbayerische Zeitung spräch etwas schwieriger, aber verhin- wird außerhalb der jüdischen Commu- leisten kann.“ 01. Juli 2016 – Der Präsident des Zent- dert es nicht. Und je mehr islamisch- nity häufig nicht in vollem Ausmaß Es gibt ja auch noch eine andere Sei- ralrats der Juden in Deutschland, Josef theologische Lehrstühle wir in Deutsch- wahrgenommen. Und leider schwindet te der Medaille. Viele Bürger in Deutsch- Schuster, hat vor neuem Antisemitismus land haben und je mehr es muslimi- der Rückhalt, den Israel in Deutschland land engagieren sich für Israel. Und aus durch die Zuwanderung von Flüchtlin- schen Religionsunterricht an staatlichen hat. Anlässlich des Jubiläums „50 Jahre dem anfangs zarten Pflänzchen der dip- gen gewarnt. (…) In den jüdischen Ge- Schulen gibt, desto häufiger ergeben diplomatische Beziehungen zwischen lomatischen Beziehungen ist eine wahre meinden in Deutschland sei das Sicher- sich ohnehin Begegnungen. Desto not- Israel und Deutschland“, das im vergan- Erfolgsgeschichte geworden: Es gibt heitsgefühl schon größer gewesen, sagte wendiger wird allerdings auch der Aus- genen Jahr gefeiert wurde, hatte die mehr als 100 Partnerschaften zwischen Schuster weiter. Die Katholische Aka- tausch. Bertelsmann Stiftung eine Umfrage ge- deutschen und israelischen Städten. Seit demie Bayern hatte Schuster zum The- Es klingt vielleicht merkwürdig, aber macht. Dabei kam heraus: 48 Prozent Bestehen der Beziehungen haben insge- ma „Jüdisches Leben in Deutschland zum jüdischen Leben in Deutschland der Deutschen haben eine ablehnende samt 700.000 israelische und deutsche heute“ nach München geladen.

22 zur debatte 5/2016 vernichteten Ouvertüre h-Moll von der seiner Charaktersätze manifestiert: Seele, die ohne Wissen des Vaters Adal- Echowirkungen durch häufige Manual- bert Lindner an den damals aufstreben- wechsel, tänzerische Bewegtheit, starke den Musikwissenschaftler Hugo Rie- Reduzierung der Chromatik. Eine rie- Der „Accord-Arbeiter“ mann sendete; dieser erkannte das da- senhafte Passacaglia beschließt das hinterstehende Talent, warnte aber auch Werk. vor Wagner-Epigonentum, vor „Motiv- Von größtem inhaltlichem Gewicht Zum 100. Todestag des Komponisten Sucht“, empfahl des Studium von Bach aber ist der zweite Satz „Adagio assai“; und Beethoven sowie zur Verbesserung dieser erinnert in seiner melismatischen Max Reger der melodischen Gestaltung das Schrei- Melodieführung und Satzstruktur an ben von Liedern und Kammermusik. Choralvorspiele von Bach. Im Mittelteil Zugleich schickte er das Handbuch von ändert sich die Atmosphäre grundle- der musikalischen Komposition von gend: Piano erklingt die Melodie „Aus Adolph Bernhard Marx und sein eige- tiefer Not schrei ich zu Dir“, die jedoch nes Lehrbuch des einfachen, doppelten alsbald in massiven Akkordballungen und imitierenden Kontrapunkts, deren und wilden Doppelpedalsprüngen bis Studium Reger eifrig betreibt. zum Fortissimo gesteigert wird. Nach 1889 unterzieht er sich zwar noch er- einer Generalpause setzt pianissimo zu- folgreich der Aufnahmeprüfung am nächst einstimmig-rezitativisch, dann Musikkenner und Musikliebhaber starb der 1873 in der Oberpfalz gebo- Schullehrer-Seminar in Amberg, doch schlicht homophon der Choral „Wenn waren am Abend des 26. April 2016 rene Komponist, der in seinem leider als auch Josef Rheinberger die Kompo- ich einmal soll scheiden“ ein; darauf in die Katholische Akademie Bay- nur kurzen Leben ebenso musika- sitionen des Autodidakten positiv wer- folgt die Reprise des Eingangs: Der Hö- ern gekommen, um Musik von und lisch Grenzen auslotete wie er Werke tete, durfte Reger 1890 am Konservato- rer erfährt dabei eine Erschütterung, die fundierte Informationen über Max fast wie am Fließband produzierte. rium Sondershausen das Studium des einerseits eine wohlkalkulierte künst- Reger zu genießen. Vor fast genau 100 „Accord-Arbeiter“ lautete daher der Kontrapunkts bei Hugo Riemann auf- lerische Absicht sein dürfte, da Reger Jahren (Todestag ist der 11. Mai 1916) Titel der Abendveranstaltung. nehmen sowie die Fächer Orgel, Klavier den von ihm hochverehrten Johannes und Violine belegen. Mit Riemann Brahms, dem er auch die Druckausgabe wechselt er noch im selben Jahr an das der Suite zuschickte, rühmte hinsicht- Konservatorium Wiesbaden, wo er bis lich dessen Fähigkeit, „daß er neue, un- 1893 Musiktheorie, Komposition und geahnte seelische Stimmungen auszulö- Klavier studiert und zugleich einen sen wußte aufgrund seiner eigenen see- Lehrauftrag für Klavier und Orgel, spä- lischen Persönlichkeit“. ter auch Theorie erhält. Nach Studien- Andererseits entspringt die Erschüt- abschluss beziehungsweise dem Austritt terung auch dem Wissen um den bio- aus der Kompositionsklasse Riemanns graphischen Hintergrund Regers, der bleibt er bis 1898 in Wiesbaden als frei- sich finanziell ständig in großen Nöten schaffender Komponist, privater Kla- fand. Psychisch setzte ihm sicher die Max Regers Orgelmusik vierlehrer und Lehrbeauftragter des auch gerade wegen seiner ungesicherten Konservatoriums. wirtschaftlichen Lage gescheiterte Ver- Michael Hartmann lobung mit einer Wiesbadener Beam- II. Frühe Orgelwerke tentochter zu, und letztlich treten zu dieser Zeit auch offen depressive Schü- In Wiesbaden komponiert er im Au- be zutage, welche Reger häufig im Al- gust 1892 als Erstlingswerke für dieses kohol zu ertränken suchte. Verschärft Instrument seine „Drei Orgelstücke“ wurde diese Krisenzeit durch das op. 7. Diese dem holländischen Orgel- 1896/97 abzuleistende Einjährig-Frei- I. Biographisches virtuosen Samuel de Lange gewidmeten willigen-Militärjahr. Dieses nutzten vie- Werke sind zwar von Bach beeinflusst, le Künstler, um dem dreijährigen Mili- In dem kleinen Dorf Brand in der jedoch zeigt sich ein starker Formwille tärdienst zu entgehen, was aber hohe Oberpfalz wurde Max Reger am 19. gerade in der Fuge G-Dur, welche kei- Kosten verursachte, da der Rekrut die März 1873 in ein katholisches, durch- neswegs regelgerecht abläuft, sondern Kosten für Ausrüstung, Unterbringung aus musikalisches Elternhaus geboren. eher an Liszt und César Franck erin- und Verpflegung selbst zu bezahlen Sein Vater Joseph, aus armen Verhält- nert, wobei die mehrfach eingeschobe- hatte. nissen stammend, musste seinen Berufs- nen virtuosen, glitzernden Zwischen- Überhaupt scheint das Militär Reger wunsch Musiker zugunsten des Brot- spiele dem Widmungsträger durchaus stark zugesetzt zu haben, da er lange berufs Volksschullehrer aufgeben. Seine Spaß gemacht haben dürften. Überdies Zeit im Arrest und Lazarett zubrachte. Mutter Philomena spielte Klavier und finden sich die chromatisch aufsteigen- Ärzte attestierten ihm „krankhafte Idio- brachte später dem jungen Max auch de Sext und die Vier-Ton-Seufzergruppe syncrasie“, ja sogar „Geisteskrankheit“. erste Klavierkenntnisse bei. 1874 zieht als bestimmende Motivzellen (op. 7: Zu den wenigen Lichtblicken jener Tage die Familie nach Weiden, wo der Vater Takte 42ff. In op. 135b: passim, beson- zählt die Begegnung mit dem gleichalt- eine Stelle an der Präparandenschule ders Takte 30ff.) sowie die springenden rigen Organisten Karl Straube, der 1897 antrat. Achtel (op. 7: T. 56ff. In op. 135b: T. in der Berliner Dreifaltigkeitskirche die Unter dessen Schülern war auch 13f.) sowohl im Werk des 19-Jährigen Orgelsuite op. 16 uraufführte und Reger Adalbert Lindner, den er in Deutsch, wie auch im letzten vollendeten Orgel- lebenslang ein treuer Freund geblieben Geographie und Harmonielehre unter- werk op. 135b (Richard Strauss gewid- ist. Da die Eltern die finanzielle Unter- richte; und dieser wiederum wurde Max met) und bilden somit einen motivi- stützung verweigerten – sie waren dazu Regers erster regulärer Klavier- und Or- schen Rahmen des Gesamtwerks für schlicht nicht in der Lage –, der Vater gellehrer (1884 –1889). Bei ihm lernte Orgel. ihn für größenwahnsinnig hielt, Druck- Reger das klassische deutsche Klavier- Das zweite Stück ist eine Fantasie legungen neuer Werke ausblieben und repertoire kennen und wurde zugleich über das gregorianische „Te Deum“, Bewerbungen um Kapellmeisterstellen durch die beliebten Klavier-Transkrip- Prof. Dr. Dr. Michael Hartmann, welches in seiner imitatorischen Faktur in Bonn und Heidelberg scheiterten, tionen auch mit der Orchestermusik Professor für Orgelspiel an der Münch- wiederum vorausweist auf das gleich- kehrte Reger, von blanker Existenzangst von Bach, Wagner und Brahms vertraut. ner Musikhochschule und Musikdirek- namige Werk aus op. 59. getrieben, im Juni 1898 mit Hilfe seiner Lindner blieb Reger lebenslang in tor am Bürgersaal Die abschließende Fuge in d-Moll be- Schwester Emma in das Elternhaus Freundschaft verbunden und wurde ihm ginnt im Stil eines Riccercar, bietet im nach Weiden zurück. Dort setzte als- zu einem wichtigen Ratgeber und Wei- Mittelteil ein zweites Thema, dessen bald ein unfassbarer Schaffensschub chensteller. 1885 konnte Joseph Reger, Durchführung von rezitativischen Pas- ein, der ihn aus der Krise herausführte. der selbst das absolute Gehör besaß von Felix Mottl) sowie „Die Meistersin- sagen unterbrochen wird und abschlie- In Wiesbaden begonnene Werke wur- und mehrere Instrumente spielte, ein an ger“ (mit Hans Richter) erlebte. Diese ßend mit dem Hauptthema kombiniert den beendet, so die Geistlichen Lieder der Präparandenschule nicht mehr ge- Aufführungen erschütterten ihn nach- wird. op. 19, zahlreiche Klavierwerke, die nutztes Harmonium unter Mithilfe von haltig und führten zu dem unwiderruf- 1895 entsteht die Orgelsuite e-Moll Lieder op. 23. Neu angegangen wurden Max in eine Übungsorgel umbauen. Früh lichen Entschluss, die Musikerlaufbahn op. 16. („Den Manen Joh. Seb. Bach‘s“). eine (verschollene) Orgelbearbeitung schon spielte der junge Reger zur Messe einzuschlagen: „Als ich als fünfzehnjäh- Dieses gewaltige Werk zeigt die über- des „Wohltemperierten Klaviers“ sowie an der Simultankirche in Weiden die Or- riger Junge zum ersten Mal in Bayreuth bordende Phantasie, die satztechnische die Johann-Strauß-Paraphrase „An der gel, wobei er sich auch mit dem evangeli- den Parsifal gehört habe, habe ich vier- Könnerschaft, den individuellen Aus- schönen blauen Donau“. schen Gesangbuch vertraut machte. zehn Tage lang geheult, und dann bin druckswillen sowie eine Fülle von Emo- Angeregt durch die kürzlich erschie- Mit hervorragenden Noten schließt ich Musiker geworden“ (So Reger spä- tionen, die den späten Reger bereits nene Choralphantasie „Wie schön Reger 1886 an der Königlichen Real- ter zu dem Geiger Carl Wemling). Dies vorwegnehmen. Die recht zerklüftete leuchtet der Morgenstern“ von Heinrich schule Weiden ab. Auf Wunsch des Va- rief den entschiedenen Widerstand des Fuga des ersten Satzes bietet nach Reimann, dem Lehrer von Karl Straube ters wechselt er an die Präparanden- Vaters hervor und muss wohl als Auf- Durchführungen des Themas in Origi- und Organisten der Berliner Kaiser-Wil- schule – und sieht sich damit auf dem takt zu der andauernden Zerrüttung des nalgestalt sowie dessen Umkehrung ein helm-Gedächtniskirche, schrieb Reger, Weg zum Grundschullehrer. Eine Einla- Verhältnisses zwischen Vater und Sohn zweites Thema, das auch mit dem ersten das Vorbild deutlich überbietend, im dung seines Patenonkels ermöglichte gelten. gekoppelt wird. Der dritte Satz bringt August 1898 seine Phantasie über den ihm 1888 den Besuch der Bayreuther Indes schreibt der Fünfzehnjährige ein heiteres Intermezzo, welches auch Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“ Festspiele, wo er den Parsifal (dirigiert sich seine Begeisterung in einer später später oft wiederkehrende Elemente op. 27.

zur debatte 5/2016 23 soll mein Herz ihn loben“ triolisch in op. 47, darin finden sich Canon, Gigue, Sextparallelen geführte jauchzende Ma- Canzonetta, Scherzo, Siciliano, Fuge. nualläufe über dem Choral im Doppel- Also eine Folge von Charakterstücken, pedal. Mit der hinreißenden Fuge ent- wie sie immer wieder zwischen den wickelt Reger die Steigerungsfuge mit Großwerken entstehen sollten. Sie sind der abschließenden Kombination von intimeren Seelenschichten zugeordnet Fugen- und Choralthema; eine Technik, und manifestieren zugleich auch die die auch in den großen Variationswer- zarte Seite des Orgelspiels und des Ins- ken für Orchester (Hiller-Variationen, truments. Mozart-Variationen) zu grandiosen Schlusswirkungen führt. Das neue Jahrhundert hebt an mit der Das Werk schließt, im Un- Komposition eines seiner berühmtesten terschied zu den beiden an- Werke überhaupt, der Phantasie und Fuge über B-A-C-H op. 46, welche auf deren Phantasien, ohne Wunsch der Mutter Josef Rheinberger Fuge. gewidmet ist und in lediglich einer Wo- che, vom 10. bis zum 17. Februar 1900, niedergeschrieben wurde. Dieses gran- Eine gute Vorstellung von der un- diose Werk ist eine wahrhafte Hom- glaublichen Schaffenskraft Regers in mage an den von ihm meist bewunder- dieser Zeit zeigt der Blick auf die weite- ten Musiker, wie folgende Sentenzen ren Werke des Jahres 1900: Neben 10 zeigen: Bach ist „nicht nur ein großer Vortragsstücken op. 44, sechs Intermezzi Polyphoniker, sondern ein ebenso be- op. 45 und Silhouetten op. 53 jeweils deutender Harmoniker gewesen. Denn für Klavier, entstehen zwei Liederzyklen jede wahre Harmonik ist das Ergebnis op. 48 und op. 55, die beiden Klarinet- der Stimmführung. Es gibt nichts so tensonaten, Vier Sonaten für Violine kompliziertes in unserer modernen solo op. 42, die beiden Romanzen für Harmonik, was nicht der alte Bach Violine und kleines Orchester op. 50 Kirchenmusiker als Gäste: Bernward längst vorweggenommen hätte.“ In ei- (als die ersten Orchesterpartituren mit Beyerle (li.), langjähriger Münchner nem Brief an Adalbert Lindner nennt er Opuszahl), die beiden Streichquartette Diözesanmusikdirektor, und Bernhard sich „den glühendste[n] Verehrer Joh. op. 54, und schließlich im Herbst und Hofmann, Kirchenmusiker von Seb. Bachs, Beethovens und Brahms‘“. Winter noch drei Choralphantasien für St-Martin, in München-Moosach. Und 1905 beantwortet er im Bach-Jubi- Orgel op. 52: „Alle Menschen müssen läumsjahr eine Umfrage der Zeitschrift sterben“; „Wachet auf, ruft uns die Stim- „Die Musik“ mit der klassisch geworde- me“; „Hallelujah! Gott zu loben“. nen Sentenz: „Johann Sebastian Bach Die erste („Alle Menschen“) über- ist für mich Anfang und Ende aller Mu- zeugt durch textnahe Tonsymbolik. So Man kann hier von einer symphoni- klassisch, geradezu regelgerecht im Auf- sik“. erklingen zunächst markant im Pedal schen Dichtung sprechen; in ihr wird bau und erzeugt einen fabelhaften mo- Eine von Umfang und Gehalt derart und später auch in den begleitenden der „Choral als Cantus firmus in Wort torischen Sog, an welchem die langge- beeindruckende Orgelkomposition Manualstimmen expressive Intervalle und Weise … zum Sinnträger“ (Helmut zogenen Pedalpassagen großen Anteil ohne zugrunde liegendes Choralthema wie Tritonus, fallende Septen, Quatuor- Wirth). haben. ist für die damalige Zeit ungewöhnlich, dezimen, die stark an Bach und die ba- Wenngleich hier die Chromatisierung Unmittelbar folgt die zweite Choral- zeigt aber den Rang, den Reger der Or- rocke Rhetorik erinnern und mit Sünde, noch zurückhaltend angewandt wird, ist phantasie über „Freu dich sehr, o meine gel als Instrument jenseits und außer- Krankheit, Tod konnotiert sind. Dage- doch die durchgängig polyphone Ge- Seele“ op. 30. Der schwungvollen „Intro- halb der Kirche beziehungsweise des gen wird die gläubige Zuversicht: „Er staltung des Choralthemas von aus- duzione“ folgen wieder die den Text Kirchenraums zumisst, wenn er etwa an hat mir das Heil erworben; drum fahr schlaggebender und wegweisender Be- ausdeutenden Strophen-Variationen. den Essener Organisten Gustav Beck- ich mit Freud dahin, hier aus diesem deutung für die folgenden sechs Choral- Nach der machtvoll-stimmenreichen mann schreibt: „Ist denn ganz und gar Weltgetümmel in den schönen Gottes- phantasien. Alle vier Strophen werden Schilderung von „Welt, Teufel, Sünd vergessen worden, daß die Orgel nicht himmel, da ich werde allezeit schauen vollständig auskomponiert. Die erste und Hölle“ wirkt die verhauchende, ins nur ein Kircheninstrument ist, sondern die Dreieinigkeit“ in einem langgezoge- zeigt den Cantus firmus im Tenor, wel- Tonlose führende Wiedergabe „Ob mir auch ein Konzertinstrument ersten Ran- nen Crescendo und Stringendo in jubi- cher als Trio von virtuosen Pedal- und schon die Augen brechen“ stark berüh- ges?“ Dieses reizt der Komponist hier lierenden Triolen verkündet. Das Werk Manualläufen begleitet wird, unterbro- rend. voll aus, in dynamischer, harmonischer, schließt, im Unterschied zu den beiden chen von homophonen Choralzeilen im Bereits im Frühjahr des Folgejahres polyphoner und spieltechnischer Hin- anderen Phantasien, ohne Fuge. Fortissimo. Kurz vor Ende der tumultu- erscheint die Sonate fis-Moll op. 33. sicht. Das nur aus vier Tönen bestehen- Die Introduzione von „Wachet auf“ arischen vierten Strophe mit der sieg- Dieses selten gespielte Werk wartet de Thema wird in bewundernswerter verzichtet auf irgendwelche Andeutun- haft im Tutti vorgetragenen Halbzeile nicht mit einem Sonatenhauptsatz auf Weise zur Grundlage immer neuer Vari- gen der Choralmelodie, inszeniert aber „das Reich muß uns doch bleiben“ (Reger an Arthur Egidi: „Es ist keine anten. Es bleibt der Bezugspunkt, dem mit dumpfen, sich hinschleppenden bricht der Satz regelrecht zusammen Sonatenform. Der Titel ist hier nur Kol- eine Fülle neuer Stimmen entgegenge- Akkorden packend eine düstere Stim- und führt in Adagio und Pianissimo lektivtitel“), aber mit der an César stellt werden und das dabei alles zusam- mung, ja eine Grabesruhe. „Reger malt zum terzverwandten F-Dur-Ruhepunkt. menhält. einen Friedhof, der in Todesruhe liegt – Diese Stelle erläuterte Reger später Nachdem mehrfach im Manual die und in Erwartung des Jüngsten Tages. selbst als das „Zusammensinken des Die Expressivität ist bislang Tastatur komplett durchrauscht und das Gleich Blitzstrahlen fahren zweimal ganzen Weltalls vor der Allmacht und B-A-C-H nochmals in Akkordblöcken Läufe und Akkorde in die Ruhe hinein, Größe Gottes“. ungehört, zudem werden im Tutti hin gemeißelt wurde, hebt die eine Vorahnung des Kommenden“ (Vik- Wenige Wochen später schreibt Reger lang gezogene dynamisch attaca einsetzende Fuge in ruhiger Be- tor Lukas). Bei „sehr lichter Registrie- die Richard Strauss gewidmete choral- an- und abschwellende wegung und pianissimo an. Ein zweites, rung“ (Reger) und „nur äusserst zart freie Phantasie und Fuge c-Moll op. 29. bewegteres Thema wird eingeführt, wo- hervortretend“ (Reger) erhebt sich im Die Phantasie ist dicht gearbeitet und Phasen eingeführt. bei sich Dynamik und Tempo kontinu- vierfachen pianissimo der Choral. Zu wechselt zwischen rezitativischen, imi- ierlich steigern. Mit dem Wiederaufgrei- dem Text: „Mitternacht heißt diese tatorischen und chromatisch verschobe- fen der einleitenden Phantasieakkorde, Stunde“ und „Wo seid ihr klugen Jung- nen Akkordblöcken dramatisch hin und Franck erinnernden Ableitung der the- jetzt aber unterlegt vom drängenden frauen“ erklingt kaum wahrnehmbar her. Die Expressivität ist bislang unge- matischen Elemente aller dreier Sätze zweiten Fugenthema, wird das Werk zu tief im Pedal ostinat eine zuckende Se- hört, zudem werden lang gezogene dy- aus einem Zentralmotiv (erstmals im triumphalem Abschluss geführt. kundbewegung, die naiv bildlich als das namisch an- und abschwellende Phasen Takt 14 auftauchend) betritt Reger Neu- Natürlich war – und dies gilt teils bis Sich-Regen der Knochen im Grab ver- eingeführt. Diese sind überhaupt erst land betreffend der formalen Gestal- heute – diese Musik nicht einfach zu standen werden soll, die der Begegnung möglich geworden durch den zeitgenös- tung, welche das Fehlen des Cantus fir- hören und sofort jedermann verständ- mit Christus harren. Die unbeschwert sischen deutschen Orgelbau, welcher mus ausgleicht. lich. Und auch sein ehemaliger Lehrer fröhliche Schlussfuge wird gekrönt von auf der Basis pneumatischer Spiel- und Im September 1899 schreibt Reger Hugo Riemann hat eine weniger chro- der Kombination des Chorals mit dem Registertrakturen, mit Hilfe von Regis- wiederum zwei Choralphantasien, über matisch überladene und formal fass- Fugenthema. ter- und Jalousieschweller, die erstmals „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ barere Kompositionsweise Reger gegen- „Hallelujah“ Gott zu loben, bleibe ein lückenloses (De-)Crescendo ermög- op. 40/1 und über „Straf mich nicht in über angemahnt. Dieser antwortet Rie- meine Seelenfreud“ op. 52/3 ist formal lichten, und einer Registerpalette, die deinem Zorn“ op. 40/2, wobei die erste mann am 2. Juni 1900 diesbezüglich: leichter zugänglich, da hier die Durch- von extrem leisen Registern bis zu zu seinen meistgespielten Werken zählt. „Sie schrieben, ich solle einfacher schrei- führung der einzelnen Strophen deut- Hochdrucktrompeten neue Klangbilder In der Einleitung fehlt der Choral. Da- ben. Das sagt mir alles! Überall heißt es lich voneinander getrennt ist, jeweils evozierten, die am Orchesterklang ori- für wird eine dramatische Szenerie vor- – das ist zu schwer, zu compliziert! etc.! mit klar hervortretendem eigenen Mo- entierte Schreibweise Regers unterstütz- gestellt, inklusive Gegenüberstellung Und mir kommt meine Musik so ein- tiv. Karl Straube sah in diesem Werk te und ermutigte. Nicht zuletzt sind die von hellen und dunklen, lärmenden fach, so klar vor! Nur Freund Straube „formal angesehen die Krönung seines außerordentlichen technischen und mu- und ruhigen Passagen, die eine Unheil- jauchzt, wenn er so was recht gepfeffer- Schaffens in diesem Kunstgebiet“. sikalischen Fähigkeiten seines Freundes situation vergegenwärtigen, aus welcher tes erhält.“ Sein avanciertestes Orgelwerk schuf und Uraufführungsorganisten Karl sich tröstend im Pianissimo der Choral Gewissermaßen als emotionalen Aus- Reger im Frühjahr 1901 mit der „Sym- Straube als conditio sine qua non der erhebt. In der letzten Strophe erklingen gleich zu diesem Tongebirge schreibt phonischen Phantasie und Fuge“ op. 57, Komposition solcher Tongebirge zu zu den Worten „Eia, eia, himmlisch Le- Reger im Frühjahr 1900 die kammer- der Inferno-Phantasie, die von Dante nennen. Die anschließende Fuge ist ben wird er geben mir dort oben. Ewig musikalisch gehaltenen „Sechs Trios“ angeregt ist. Schon der erste Akkord

24 zur debatte 5/2016 Foto: akg-images Dieses Gemälde von Franz Nölken, das den Komponisten Max Reger bei der Arbeit zeigt, entstand 1913. Es ist heute im Besitz des Max-Reger-Instituts in Karlsruhe.

führt an die Grenzen der Tonalität und Grundstimmung ist bemerkenswert. Am mittlung von Richard Strauss zustande artig-ruhiges Motiv entgegen. Der drei- gleicht einem Aufschrei de profundis. häufigsten gespielt wird die virtuose gekommene Vertrag mit dem Verlag teilige zweite Satz („Invocation“) ist Die extremen Dynamik-Kontraste und Toccata d-Moll op. 59/5. Als „Kleine Joseph Aibl (1899) bei. Reger selbst von überbordender Chromatik geprägt die zunehmend erweiterte Tonalität Orgelmesse“ sind Kyrie eleison, Gloria zeigte sich alsdann großzügig, indem er und steigert sich bis zum Tutti, um sich sprengen die Hörererwartungen. Die in excelsis, Benedictus op. 59/7-9 sowie wiederholt Sammlungen zu Gunsten dann dynamisch und harmonisch stark ständige Aneinanderreihung dissonan- das ergänzende Te Deum op. 59/12 be- von Künstlern in Not veranstaltete. zu beruhigen und bei „sehr lichter Re- ter Akkorde, der schnelle Tonartenwech- kannt geworden. gistrierung“ den Choral „Vom Himmel sel und das Überwiegen alterierter Ak- Eine schöne Deutung inklusive Auf- III. Die Münchner Jahre hoch“ anzustimmen. Eine packende, von korde machen die Orientierung schwer; nahme des Benedictus verdanken wir einem launigen Intermezzo im Scherzo- doch ist die dadurch ausgelöste enorme Franz Lehrndorfer; er sieht darin „ein Im September 1901 übersiedelte Re- stil unterbrochene Fuge beschließt das seelische Erregung ganz im Sinne des Glanzstück musikalischer Aussagekunst. ger nach der krankheitsbedingten Pensi- Werk. Komponisten. Die Fuge wiederum ist Tief religiös empfunden, zieht es einen onierung seines Vaters mit den Eltern Im darauf folgenden Jahr verzichtet von klarem Aufbau, stets gut zu verfol- Bogen vom mystischen Klang zum strah- und seiner Schwester Emma nach Mün- der Komponist auf große Formen, gen und von mitreißendem Schwung. lenden Hosannajubel, und vom verherr- chen, in die Wörthstraße 35. Er erhoffte schreibt aber 24 Stücke (Monologe op. Die Zeit in Weiden geht zu Ende mit lichenden Hosanna zurück zu einer se- sich mehr Aufführungen und eine An- 63; 12 Stücke op. 65): Präludien/Tocca- den 12 Orgelstücken op. 59, die am 17. raphischen Anbetungsstimmung“. stellung in diesem Musikzentrum. Schon ten und Fugen, Charakterstücke wie Juni begonnen und bereits am 1. Juli Damit findet auch musikalisch die so in der ersten Saison kann Reger zehn Canzonen, Scherzi, Capriccio, Canons, 1901 abgeschlossen werden und einen dramatisch begonnene Zeit in Weiden Konzerte (Lieder- und Kammermusik- die harmonisch deutlich entspannter Gegenpol zu den massiven Klangwelten einen versöhnlichen Abschluss, zumal abende sowie Kirchenkonzerte) geben. und formal stets übersichtlich gestaltet der freien Phantasien darstellen. Sie Reger sich gesundheitlich stabilisieren Mit der Zweiten Sonate d-Moll op. 60 sind. Dazu kommen die Choralvorspie- sind durchwegs von gut fassbarer Struk- konnte und auch seine finanziellen Ver- wird eines der gelungensten Orgelwerke le op. 67: „Zweiundfünfzig leicht aus- tur, bei reduzierten spieltechnischen hältnisse sich günstig entwickelten. Er noch im selben Jahr vollendet. Der erste führbare Vorspiele zu den gebräuchlichs- Anforderungen. Die Qualität der Ein- konnte seine Schulden abtragen. Nicht Satz stellt zwei stürmischen, rhythmisch ten evangelischen Chorälen.“ Die Lied- fälle, ihre Vielfalt und oft auch heitere zuletzt trug dazu auch der durch Ver- geprägten Themen ein drittes, choral- melodie erscheint klar hervorgehoben

zur debatte 5/2016 25 renden op. 73 mit „Fünf leichten Prälu- Piano-Fuge von zurückhaltender Har- dien und Fugen“ op. 56 und „Vier Prae- monik und Motorik, charakterisieren ludien und Fugen“ op. 85. Das Jahr Capriccio, Intermezzo, Melodia den 1905 bringt einerseits den Umzug des seelischen Stimmungsgehalt – wenn- seit 1902 mit Elsa von Bercken, geb. gleich ein gewisser melancholischer von Bagenski verheirateten Komponis- Grundzug allen Werken eigen ist. ten in die Victor-Scheffel-Straße 10, und im Mai die Berufung an die Münch- ner Akademie der Tonkunst als Dozent Bis heute wird aus den vie- für Orgel, Klavier und Komposition in der Nachfolge von Josef Rheinberger. len Anfeindungen ein nega- Die Orgelmusik spielt in diesem Jahr tives Generalvorzeichen aber keine besondere Rolle; sie wird lediglich mit der eher harmlosen Suite über die Münchner Zeit ge- op. 92 bedacht. setzt. Im April 1906 kommt es zu einem schweren gesundheitlichen Zusammen- bruch. Gründe hierfür werden einmal in Zum 1. Dezember 2011 hatte Reger der strapaziösen, geradezu selbstzerstö- die Stelle des Hofkapellmeisters in Mei- rerischen Konzerttätigkeit gesehen, die ningen angetreten, womit er einem be- Reger neben seinen Unterrichtsver- rühmten Orchester vorstand, das vorher pflichtungen (auch privater Natur) und auch schon von Hans von Bülow und seinem immensen kompositorischen Richard Strauss geleitet worden war. Pensum durchgezogen hat, zum andern Die zahlreichen Aufführungen und Rei- in der seelischen Belastung durch die sen dieses Orchesters, vermeintliche Anfeindungen durch Kritiker und öf- Missachtungen seiner Person, die Fülle Prof. Sylvia Hewig-Tröscher (re.) im fentliche Meinung, und nicht zuletzt von kompositorischen Arbeiten, der Gespräch mit Inge Lehrndorfer, der durch die – quasi als Kompensation die- Unterricht in und der immense Witwe des langjährigen Münchner ser komplexen Belastungssituation – Alkohol- und Nikotinkonsum führten Domorganisten Prof. Franz Lehrndorfer. nicht mehr zu übersehenden Alkohol- im Frühjahr 1914 zu einem erneuten exzesse. Reger gibt bereits im August schweren körperlichen und nervlichen den Lehrauftrag an der Akademie wie- Zusammenbruch. Reger gibt daraufhin der auf. die Meininger Position auf. Im Septem- Bis heute wird aus den vielen Anfein- ber, kurz nach Kriegsausbruch, schreibt dungen ein negatives Generalvorzei- er 30 kleine Choralvorspiele op. 135a. meist im Sopran oder im Bass, gelegent- Originalthema op. 73 ein Werk heraus, chen über die Münchner Zeit gesetzt. Anfang 1916 entstehen „Sieben Or- lich auch in Tenorlage. Selten findet das mit den Bach-Variationen op. 81 für Durchaus zu Unrecht: „Mit der seine gelstücke“ op. 145: 1. Trauerode. „Dem sich der Choral koloriert – hier wieder Klavier, den Beethoven-Variationen Zeit insgesamt prägenden Geschwindig- Gedenken der im Kriege 1914/15 Gefal- deutlich im Anschluss an das Orgel- op. 86 für zwei Klaviere und den Hiller- keit machte Regers Musik Konjunktur lenen“; 2. Dankpsalm. „Dem deutschen büchlein von Johann Sebastian Bach. Variationen op. 100 sowie den Mozart- wie die kaum eines anderen seiner Zeit- Heere“; 3. Weihnachten; 4. Passion; 5. Das Jahr 1903 bringt im Frühjahr Variationen op. 132 für Orchester zu genossen. In und außerhalb Münchens Ostern; 6. Pfingsten; 7. Siegesfeier. Wäh- „Zehn Stücke“ op. 69, welche in Stil seinen besten Arbeiten zählt. Auf dem gewann dieser so öffentlichkeitswirk- rend letztgenanntes Werk das Deutsch- und Form (Präludien, Fugen, Romanze, Gebiet der Variationen konnte sich der sam Aufmerksamkeit erregende Kom- landlied plakativ zum Schluss bietet, Moment musical, Basso ostinato, Cap- enorme Einfallsreichtum Regers gerade- ponist ständig weiter wachsende Aner- sind die anderen Stücke durchaus eher riccio) den beiden vorausgehenden zu austoben. Das Werk bietet extreme kennung, und zu dieser gehörten die verhalten und introvertiert zu nennen. Sammlungen ähneln. Unter dem Titel spiel- wie registriertechnische Heraus- Verrisse und Kritiker-Anrempelungen Weihnachten hebt dunkel und suchend „Schule des Triospiels. J. S. Bachs zwei- forderungen. Das Originalthema, dessen als notwendige Kehrseite, wie sich auch an („Es kommt ein Schiff geladen“, stimmige Inventionen, für Orgel bear- zweiten Teil Reger als „melancholisch“ an den ähnlich erfolgreichen Karrieren „Ach, was soll ich Sünder machen“) beitet von Max Reger und Karl Straube“ bezeichnete, bietet immer wieder Orien- von Strauss, Mahler und selbst Pfitzner und mündet in eine feinsinnige Kombi- publizieren die beiden Freunde ein um- tierung und Beruhigung, bevor das circa zeigen läßt. … So finden sich eigentlich nation des „Vom Himmel hoch, da strittenes Werk, da den Bach‘schen Ori- halbstündige Werk in eine brillante, tän- mehr positiver Respekt und auch tätige komm ich her“ („äußerst lichte Fär- ginalstimmen (in der rechten Hand und zerische Fuge mündet, die ihre Ge- Förderung, als es die verbitterten Kla- bung“) mit „Stille Nacht! Heilige im Pedal gespielt) eine frei imitatorische schlossenheit dadurch gewinnt, dass die gen glauben machen wollen, die sich in Nacht!“ („sehr zart hervortretend“). Die Stimme für die linke Hand hinzugefügt „einzelnen Motive (Auftakt, Takt 2 und Regers überreicher Korrespondenz nie- Trauerode mündet in den Choral „Was wird. Die Autoren wollen damit den Takt 3) auch in den Zwischenspielen dergeschlagen haben“ (Rainer Caden- Gott tut, das ist wohlgetan“. Sinn für Polyphonie erwecken und stär- verarbeitet werden“ (Viktor Lukas). bach). Im März 1916, wenige Wochen vor ken (so im Vorwort vom Oktober 1903). Das kleinere Format bedient Reger seinem Tod, kann Reger sein letztes Or- Im Sommer schleudert Reger mit den 1904 gewissermaßen als Erholung von IV. Leipzig und gelwerk abschließen, die Richard Strauss Variationen und Fuge fis-Moll über ein dem bis an die Tonalitätsgrenzen füh- gewidmete Fantasie und Fuge d-Moll 1907 zieht Reger mit Familie nach op. 135b, an der er schon seit Sommer Leipzig, wo er als Professor für Kompo- 1914 gearbeitet hatte und nun zur sition bis zu seinem Tod etwa 200 Schü- Drucklegung nochmals gestrafft und ler aus aller Welt unterrichtete. Die Or- starken Kürzungen unterworfen hat. gelmusik spielt jahrelang keine Rolle. Gerade die Fantasie besticht durch ei- Erst im Sommer 1913 entstand Intro- nen klaren Aufbau, der zwar auch die duktion, Passacaglia und Fuge op. 127 typischen Akkordkaskaden bietet, je- als Auftragswerk der Stadt Breslau zur doch deutlich weniger chromatisch Einweihung der riesigen Sauer-Orgel – überladen, aber im Wechsel von hurti- mit 200 Registern auf fünf Manualen gen, glitzernden ein- bis zweistimmigen die damals größte Orgel der Welt – in Arpeggien und im Adagio vorgetrage- der Jahrhunderthalle. Die Uraufführung nen melodischen Abschnitten gut ver- spielte Karl Straube am 24. September ständlich bleibt. Seinen Abgesang als 1913. Die Dimensionen dieses halb- Orgelkomponist schreibt Reger mit der stündigen Werkes sind dem gewaltigen Doppelfuge, die nach der in ruhigem, Kuppelbau und dessen Orgel direkt pro- „erhabenen“ Duktus durchgeführten portional. Der Aufbau ist allerdings gut ersten Thema mit dem tänzerischen nachvollziehbar, und die Chromatik zweiten Thema zu einem bezwingenden durchaus – für Reger‘sche Verhältnisse Finale führt, das die ganze kontrapunk- zumal – gebändigt. Die sehr tänzerische tische Meisterschaft aufs schönste auf- Fuge entlässt nach umfangreichen blühen lässt. „ Durchführungen und motivisch neues Material bietenden Zwischenspielen un- verhofft ein zweites, in gemessener Be- wegung geführtes Thema, das letztlich mit dem Hauptthema gekoppelt wird und ein hymnisches Finale erzeugt. Wie so oft korrespondiert mit diesem Tongebirge eine Sammlung von „Neun Stücken“ op. 129, die sowohl hinsicht- lich ihres Umfangs als auch der spiel- Der frühere evangelische Oberkirchen- technischen Anforderungen und der rat und Reger-Bewunderer Dr. Martin formalen Dichte als Erholung bezie- Bogdahn (li.) mit Studienleiter Dr. hungsweise seelisches Korrektiv gelten Johannes Schießl von der Katholischen können. Neben kurzer Toccata, Prälu- Akademie. dium und das Konvolut beschließender

26 zur debatte 5/2016 spiele für Orgel (ohne Opus-Zahl ge- Aus der Hochstimmung der ersten Max Regers geistliche Vokalmusik blieben) betreffen bezeichnenderweise Ehejahre heraus entstanden die fünf „O Traurigkeit, o Herzeleid“ (1893) und Choralkantaten 1903-1905. Angeregt Michael Hartmann „Komm süßer Tod“ (1893/94). Bereits durch den evangelischen Theologiepro- in seiner Orgelsuite op. 16 von 1894/95 fessor der Kaiser-Wilhelms-Universität hat er den Choral „Wenn ich einmal soll Straßburg Friedrich Spitta (1852-1924), scheiden“ im langsamen Satz vollstän- widmete sich Reger im Sommerurlaub dig vertont. Auch in dem späten, „Dem in Berchtesgaden zunächst dem Choral Andenken der im großen Kriege gefalle- „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ nen deutschen Helden“ gewidmeten Re- WoO V/1, in der von Spitta vorgeschla- Lieder und Chöre, Vokalstimmen ge- den Tod und die Auferstehung Jesu quiem op. 144b auf Text von Friedrich genen Besetzung für zwei Violinen, So- nerell spielen bei Reger eine bedeutende Christi, musikalisch fixiert. Hebbel vom August 1915, das weniger lostimmen, Gemeindegesang und Orgel, Rolle, wie sie andere Komponisten mit Der bedeutende Reger-Forscher Rai- die Weltkatastrophe musikalisch erfasst, denen noch ein Kinderchor hinzugefügt ähnlich umfangreichem Instrumental- ner Cadenbach sieht in diesen beiden vielmehr zu deuten ist als eine auf „die wurde. Reger war durchaus fasziniert oeuvre nicht aufweisen. Man mag dies frühen Werken in ihrer „freien Deklama- eigene Existenz bezogene Vision von von der Idee einer Kirchenkantate, die mit dem frühen Rat Hugo Riemanns in tion und Harmonik“ (Max Hehemann Tod und Vergessen“ (Susanne Popp), Verbindung bringen, durch das Schrei- 1917) den Reifestil Regers vorwegge- erklingt dieser Choral. ben von Liedern die melodische Ein- nommen und deutet die beiden späte- Der große Gesang für Bariton, Chor Bezeichnend ist nun die fallskraft zu stärken. Nicht minder plau- ren „Zwei geistlichen Lieder“ StV. 480 und Orchester „“ op. 144a sibel erscheint aber der Verweis auf die aus dem Jahr 1900 (von Reger selbst (vom Juli 1915) nach Joseph von Eichen- Verbindung der Schilderung durch die kirchenmusikalische Praxis mit dem Sänger Joseph Loritz in Mün- dorff, eine Art Künstlerbiographie, die existentieller Grenzerfah- gebotene Beschäftigung mit dem geist- chen am 26. Januar 1902 uraufgeführt) Regers Selbstverständnis als Künstler lichen Lied, dem Choral, der Vokalmes- sowie die „Zwei geistlichen Lieder“ nahekommen dürfte, bedient sich des rungen mit dem Schicksal se. Tatsächlich hat Reger selbst den Kir- op. 105 (vom August 1907, ebenfalls Chorals „O Welt, ich muss dich lassen“. Jesu beziehungsweise dem chengesang sehr geschätzt, auch in sei- von Reger uraufgeführt am 5. Mai 1910 Ja selbst in reinen Instrumentalkonzer- ner protestantischen Ausprägung: „Die in Kolberg) – alle für mittlere Stimme ten bringt er dezente Hinweise auf diese rettenden Eingreifen Gottes. Protestanten wissen gar nicht, welch und Orgel – als eine Art Wiederaufneh- Gedankenwelt durch das mehr oder musikalischen Schatz sie an ihren Cho- men der frühen Gesänge aus der Kri- weniger deutliche Anspielen der ge- rälen besitzen.“ senzeit in Wiesbaden. nannten Choräle, so etwa im Violinkon- im Umfang wie der technisch-künstleri- Bemerkenswert ist jedenfalls, dass Offenkundig bearbeitet der Kompo- zert A-Dur op. 101 von 1908. Noch ge- schen Anforderung eine zwischen dem unter den ersten 15 Werken, die einer nist in diesen Liedern auch seine Le- haltvoller und deutlicher finden sich in großen Oratorium und dem einfachen Opus-Zahl gewürdigt wurden (entstan- bensängste und depressiven Zustände, seinem einzigartigen Klavierkonzert f- Choralgesang der Gemeinde vermitteln- den bis 1894), sieben (!) Lieder- bezie- denn es ist nachweisbar, dass „Reger Moll op. 114 von 1910 im langsamen de Funktion einnehmen sollte. hungsweise Chorzyklen jeweils mit Kla- unter äußerlich schwierigen Umständen Mittelsatz folgende Liedmotive: „Wenn Während die beiden ersten Strophen vierbegleitung sind. Unter den Textdich- immer dann tiefer in psychische Pro- ich einmal soll scheiden“, „O Welt, ich vom Solosopran dargeboten werden, tern finden sich Friedrich Hebbel, bleme hineingeriet, wenn man ihn dar- muss dich lassen“, „Vom Himmel hoch“. übernimmt der bis zu vierstimmige Kin- Friedrich Rückert, Nikolaus Lenau, an hinderte zu komponieren“ (Rainer Diese Liedauswahl manifestiert wieder- derchor die beiden nächsten Strophen. Goethe, Ludwig Uhland, Eichendorff. Cadenbach). um die angesprochene Dialektik von Tod Mit dem typischen 12/8tel-Takt einer Hauptsächlich aber wandte er sich der Bezeichnend ist nun die Verbindung und durch Gott geschenktes neues Le- Pastorale wird das in Windeln gewickel- zeitgenössischen Lyrik zu, wobei die der Schilderung existenzieller Grenz- ben; Reger verbleibt nicht in seiner me- te Kind in der Krippe im fünften Vers ernsten Gedichte Christian Morgen- erfahrungen mit dem Schicksal Jesu be- lancholischen Traurigkeit, sondern findet tonmalerisch nahegebracht. Im von der sterns hervorzuheben sind, oder die ziehungsweise dem rettenden Eingrei- auch Hoffnung und Trost, die in diesen Orgel im einfachen Kantionalsatz be- Vertonungen der Gedichte von Otto fen Gottes. Die beiden Lieder aus dem Chorälen zum Ausdruck kommen. gleiteten Vers 6 „Des laßt uns alle fröh- Julius Bierbaum, Richard Dehmel und Jahr 1900 belegen dies ebenfalls. Das Der Komponist verdrängte keines- lich sein“ fällt die Gemeinde in den Stefan Zweig. Texte des jung verstorbe- Novalis-Gedicht des ersten Liedes wegs – bei allen Erfolgen, die er trotz Festtagsjubel ein. Der vorletzte Vers ist nen Ludwig Jakobowski (1868-1900) „Wenn in bangen trüben Stunden“ auch heftiger Anfeindungen doch über- nochmals dem Kinderchor vorbehalten, liegen unter anderem dem Spätwerk bringt diesen Gegensatz direkt zur reich erfahren durfte – den Aspekt der während abschließend sich im Tutti alle „Hymnus der Liebe“ op. 136 für Bariton Sprache und setzt die rettende Bot- Endlichkeit des Lebens, wie wir ersehen Mitwirkenden vereinen. und Orchester zugrunde. schaft des Dichters in „sehr lichte Regis- aus folgender Bemerkung gegenüber der Der „Volkstümlichkeit“ des ganzen trierung“ und harmonisch beruhigten Sozial- und Kulturpolitikerin Edith Werkes diente auch das „Hineinweben“ I. Geistliche Musik als Spiegel Akkordflächen zu den Worten: „O dann Mendelssohn-Bartholdy: „Denken Sie (Reger) von „Stille Nacht, heilige Nacht“ persönlicher Frömmigkeit neigt sich Gott herüber, seine Liebe an Mendelssohn, an Mozart, an Schu- in die Bearbeitung. Diese Liedkombina- kommt uns nah, sehnen wir uns dann bert, an Wolf! Uns wird nicht viel Zeit tion hat er später nochmals in seinem In der Zeit seiner schweren Lebens- hinüber, steht sein Engel vor uns da, gelassen, und ich muss mein Werk fertig Orgelwerk Weihnachten op. 145/3 ge- krise, die zu dem ersten gesundheitlichen bringt den Kelch des frischen Lebens, haben“. Gehen wir den geistlichen Ge- staltet. Die zweite Kantate „O wie selig (und finanziellen) Zusammenbruch und lispelt Mut und Trost uns zu“. sängen weiter nach, findet sich immer seid ihr doch, ihr Frommen“ für Solo- zur daran anschließenden Rückkehr Das zweite Gedicht „Heimweh“ wieder die Koppelung der beiden Fun- gesang, Gemeinde, Streichorchester nach Weiden im Juni 1898 führt, schreibt (Julius Sturm) stellt das Leben in der damentalthemen Tod und Leben. und Orgel nach Text von Simon Dach Reger im April „Zwei geistliche Gesänge“ Allegorie des Schiffleins auf hoher See für mittlere Stimme und Orgel op. 19: vor, das dem Vaterlande zustrebt, zu un- 1. „Passionslied“, 2. „Doch du ließest serem „Herrn, wo die Liebe nicht erkal- ihn im Grabe nicht“. Die düstere Stim- tet, wo der Friede ewig währt und die mung des ersten Liedes beschreibt die Freude sich verklärt … Aus den Fluten Todesangst Jesu auf Golgotha. Der Text- steigt ein Stern; drüben liegt das Reich stelle: „Doch Gott hat dich im Tod er- des Herrn! Ach, hinüber!“ Das klingt quickt, dich ewig aller Qual entrückt schon recht todessüchtig und passt in und dein Gebet erhöret“ unterlegt Re- diese problematische frühe Zeit in Mün- ger die Melodie „Wenn ich einmal soll chen vor seiner Verheiratung. Der Dich- scheiden“. Doch belässt es der Kompo- terfreund Richard Braungart berichtet nist beim Passionsgesang nicht bei der sogar davon, Reger eines Abends daran düsteren Stimmung, sondern klärt auf gehindert zu haben, in die Isar zu sprin- über die Hoffnung, die aus dieser Be- gen. Neben den Freunden und Elsa von drängnis herausführt, indem die Orgel Bercken war notorisch auch der christ- während der Gesangsphase zum Thema liche Glaube eine fundamentale Le- „Leid auf Golgotha“ den Choral „Es ist benshilfe. Das Lied op. 105/2 „Meine das Heil uns kommen her“ einführt, der Seele ist still zu Gott“ besingt diesen in katholischen Gesangbüchern be- Glauben mit dem Psalm 62: „Hoffet auf kannt ist als „Nun freue dich, du Chris- ihn allezeit, schüttet euer Herz vor ihm tenheit“. aus; Gott ist unsere Zuversicht“. Diese hoffnungsvolle Perspektive be- kräftigt Reger auch mit dem zweiten II. Das Thema Leid und Tod Lied „Doch du ließest ihn im Grabe nicht“ nach einem Text aus Händels Den melancholischen Charakterzug Messias. Auch hier gibt es beide Aspek- kann unser Komponist aber nie ablegen; te, das Leid und den Tod einerseits, die wie ein Cantus firmus durchzieht sein Hoffnung auf die Auferstehung anderer- Schaffen das Motiv des Todes. Die ein- seits. Doch stimmt jetzt die Orgel den schlägigen Choräle „O Welt ich muss Choral „Herzliebster Jesu, was hast du dich lassen“, „O Haupt voll Blut und verbrochen“ an, während die Gesangs- Wunden“ – hier besonders die Strophe partie den Text „Die Schmach bricht ihm „Wenn ich einmal soll scheiden“ –, „Alle Prof. Sylvia Hewig-Tröscher, Professorin das Herz; er ist voll von Traurigkeit“ zu Menschen müssen sterben“, „Wer weiß, für Klavier an der Münchner Musik- der bereits erwähnten österlichen Lied- wie nahe mir mein Ende“ und andere hochschule, spielte mehrere Stücke von melodie „Es ist das Heil uns kommen finden sich offen oder versteckt in sei- Max Reger. her“ präsentiert und damit die beiden nem gesamten, auch instrumentalen Pole christlicher Glaubensüberzeugung, Schaffen. Schon die ersten Choralvor-

zur debatte 5/2016 27 Foto: Robert Kiderle Das Grab des Komponisten am Münchner Waldfriedhof.

(1605-1659) und Jakob Baumgarten an der Orgel am 4. März 1905 die Ur- acht Strophen chromatisch angereichert bilder Bach und Brahms sind unüberhör- (1668-1722) ergeben einen „Wechselge- aufführung der Karfreitagskantate „O sind, versinnbildlicht der ausgedünnte, bar, die persönliche biographische Re- sang“ zwischen den Lebenden und den Haupt voll Blut und Wunden“ statt. Zu der Gemeinde (beziehungsweise dem levanz der ausgewählten Texte offen- bereits Verstorbenen, dabei werden den Alt- und Tenorsolisten sowie Chor Chor unisono) übertragene, lediglich kundig. „Mein Odem ist schwach“ op. Dachs Texte vom Gemeindegesang und Orgel treten diesmal Violine und von der Orgel begleitete Satz die Ver- 110/1 (in Leipzig 1909 entstanden) ent- übernommen, während die Baumgar- Oboe hinzu. Der engen Bindung an den gänglichkeit menschlichen Lebens zu stammt dem Buch Hiob 17; 19; 26. Die ten-Strophen von Chor bzw. Solisten Choral ist die vergleichsweise geringe den Worten „Wenn ich einmal soll einzelnen Textpassagen sind klassisch vorgetragen werden; schließlich verei- harmonische Kühnheit dieser Verto- scheiden“. Violine und Oboe lassen nur imitatorisch angelegt. Das erste Thema nen sich „in der siebten und achten nung geschuldet; mehr als ausgleichend am Ende der Choralzeilen wenige – chromatisch und abwärts gerichtet – Strophe alle Kräfte zum Lobe Gottes“ wirken jedoch die „vielverästelte Poly- Echo-Noten aufklingen. gibt die Grundstimmung an, die zu der (Jürgen Schaarwächter). phonie der immer selbständig geführten Die bedeutendsten Vokalkompositio- pianissimo vorgetragenen Feststellung, In der Leipziger Thomaskirche fand Instrumentalstimmen [sowie die] zarten nen haben wir mit den „Drei Motetten. der dramaturgisch höchst effektvoll eine unter der Leitung des Thomaskantors Partien mystischer Textausdeutung“ Geistliche Gesänge“ op. 110 für gemisch- Generalpause vorangeht, führt: „Das Gustav Schreck und mit Karl Straube (Hermann Grabner). Während die ersten ten Chor a cappella vor uns. Die Vor- Grab ist da“. Nach der Bitte: „Sei du

28 zur debatte 5/2016 selbst mein Bürge“ erklingt eine höchst schen geschiedenen Frau geschuldeten artifizielle Doppelfuge, deren zweites Exkommunikation sowie den zahlrei- Thema chromatisch sich nach oben chen Kompositionen mit Liedzitaten windet und damit – gleichsam als Um- aus evangelischen Chorälen abgeleitet, kehrung der Eingangsmotivik – die Auf- Reger habe sich von seiner katholischen erstehung evoziert. Im Schlussteil er- Herkunft losgesagt. Dies ist keineswegs klingt die frohe Botschaft, homophon der Fall. Unstrittig ist die konfessionell und besonders nachdrücklich gesetzt: engstirnige Haltung der Eltern und ins- „Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebet“. besondere seiner Schwester Emma. So Die zweite Motette „Ach Herr, strafe hat etwa seine Schwester – subjektiv in mich nicht in deinem Zorn“ (1911 in Sorge um das Seelenheil des Bruders – Leipzig und während des Sommerur- eine in Reinschrift vorliegende achtseiti- laubs am Tegernsee geschrieben) ist im ge Komposition für die Beilage zur evan- ersten Teil traditionell imitatorisch an- gelischen „Monatsschrift für Gottes- gelegt und mündet in den choralartigen dienst und kirchliche Kunst“, die Reger Mittelteil: „Ich liege und schlafe“. Die auf seinem Schreibtisch offen liegen abschließende Doppelfuge zeigt die Zu- hatte, verschwinden lassen, so dass ihr versicht des Gläubigen (wir dürfen er- Bruder nach Rückkehr von einem aus- gänzen: Komponisten), indem zuerst wärtigen Konzerttermin die Kompositi- der Choral „Herzlich lieb, habe ich dich, on nochmals schreiben musste, was na- Herr“ angestimmt wird, gefolgt vom turgemäß dessen Weihnachtsstimmung zweiten Thema: „Vor dir ist Freude“. kräftig eintrübte (Brief vom 29. Dezem- Die dritte Motette „O Tod, wie bitter ber 1900 an Arthur Seidl). bist du“ (beendet am 23. Juli 1912) ist Und schon den hartnäckigen Wider- dem Andenken an Lili Wach, der jüngs- stand gegen die Aufnahme eines Musik- ten Tochter Felix Mendelssohn-Barthol- studiums in Sondershausen sah Reger dys gewidmet. Schroffe dynamische in der Furcht begründet, „ich könnte als Musikfachleute unter sich: Professor Kontraste und zahlreiche Vorhalte kor- Protestant zurückkehren“ (Brief vom Michael Hartmann und Professor Hans relieren dem dichotomischen Text: 23. November 1889 an Hugo Riemann). Maier. Während der Tod für denjenigen, der Noch im Mai 1901 beklagt der Kompo- gute Tage erlebt, „dem es wohl gehet in nist in einem Brief an seinen Freund allen Dingen und wohl auch essen mag“, Karl Straube: „Meine protestantische Bibel ist spurlos verschwunden! (Man fürchtet für meinen Glauben!).“ eignet sich das fünfstimmige Chor-a- gegeben, kann nicht belegt werden – „Zwölf deutsche geistliche Gesänge cappella-Werk „Palmsonntagmorgen“, übernommen, was auch die strikte Ver- Auch sein Alkoholproblem für gemischten Chor“ StV 448ff. widmet StV. 442, nach Text von Emanuel Geibel wahrung der Einnahmen des Sohnes wollte Reger – ausweislich Reger 1899 dem evangelischen Kirchen- aus dem Jahr 1902. aus Konzert- und Verlagshonoraren ein- seiner Brautbriefe – defini- chor zu Wesel und dessen Dirigenten Nachdem 1904 „Vier Kirchengesän- schloss. Karl Straube. Ein Jahr später entsteht ge“ für gemischten Chor, StV. 446f., ent- Über diese, für einen bald dreißigjäh- tiv in den Griff bekommen. „Der evangelische Kirchenchor“. Vier- standen waren, die eher für den evange- rigen Mann entwürdigenden Umstände, zig leicht ausführbare geistliche Gesän- lischen Gottesdienst gedacht scheinen berichtet in seinen Erinnerungen an ge zu allen Festen StV451ff. („Laß mich dein sein und bleiben“; Max Reger der befreundete Schriftstel- durchaus bitter zu nennen ist, verliert Bedenkt man die geradezu bigott „Tretet her zum Tisch des Herrn“), ler Richard Braungart, der Reger nach er für denjenigen, welcher bedürftig, katholische Haltung von Mutter und schrieb er 1905 mit dem Weihnachtslied dessen Übersiedlung nach München im „schwach und alt ist, der in allen Sor- Schwester, ist die beachtliche Zahl der „Ehre sei Gott in der Höhe“ (L. Ha- August 1901 häufig zu Hause aufsuchte: gen steht und nichts Besseres zu hoffen Vertonungen von Marienliedern bezie- mann) für Singstimme und Klavier, „Man behandelte Reger, in der besten noch zu erwarten hat“ allen Schrecken, hungsweise marianischer wie katho- Harmonium oder Orgel, StV. 481f., das Absicht (so heißt es in solchen Fällen vielmehr tut der Tod dann „wohl“. Der lisch-liturgischer Texte über die gesamte in der Begleitung „Vom Himmel hoch“ immer), wie ein kleines Kind, über- Schrecken des Todes wird in der ständi- Schaffenszeit hinweg bemerkenswert. zitiert, sowie mit dem Lied „Schönster wachte seine Ausgänge und hielt ihn gen chromatischen Verstrickung der Von einer Abwendung vom katholi- Herr Jesu“ für Singstimme und Orgel, auch mit Geld so knapp, daß er öfter Stimmen hörbar. schen Lebensgefühl kann schlichtweg StV. 616 zwei Werke überkonfessionel- genötigt war, mich um ein paar Mark zu Die Dialektik des Textes manifestiert nicht geredet werden. So enthält das im ler Bestimmung. bitten, was ihm und mir Beschämung sich auch in der Gegenüberstellung von Sommer 1901 in Weiden entstandene Dies gilt natürlich auch für die un- und Kummer bereitet hat.“ Oberstimmenchor (Frauenstimmen) Konvolut op. 61 mit dem Titel „Leicht vollendet gebliebene 12-stimmige Mo- Aus dieser fürchterlichen Situation und Unterstimmen (Männerchor). Nach- ausführbare Kompositionen zum gottes- tette Vater unser aus den Jahren 1909/10 befreite ihn faktisch die Ehe, was auch drücklich beklagen mehrere eingefügte dienstlichen Gebrauch“: Acht „Tantum für drei Chöre a cappella. Dieses beein- Karl Straube, der Elsa Reger – und vice Unisono-Passagen: „O Tod, wie bitter ergo“ für gemischten Chor; Vier „Tan- druckende Werk bricht mitten in der versa – sehr kritisch gegenüberstand, bist du“. Den Aspekt der Befreiung aus tum ergo“ für Sopran, Alt und Orgel; Doxologie „Denn dein ist das Reich und bestätigte: „Frau Elsa bleibt das Ver- aller erdenschweren Mühsal durch den Vier „Tantum ergo“ für gemischten die Kraft“ ab, nachdem bereits 59 Parti- dienst, Max Reger 1902 aus dem Nied- Tod vermittelt der choralartige zweite Chor und Orgel; Acht Marienlieder für turseiten mit 324 Takten geschrieben rigen gerettet, ihm Mut und Vertrauen Teil „O Tod, wie wohl tust du“, der durch gemischten Chor mit Orgel, darunter waren. Bei Takt 240 erklingen die Wor- zu seiner Persönlichkeit gegeben zu ha- weitgehenden Verzicht auf Chromatik „Sei Mutter der Barmherzigkeit“, „Er- te „Sondern erlöse uns von dem Übel“ ben“. (Straube 1927 an Fritz Stein). und die Dominanz von Fundamental- hab‘ne Mutter unsres Herrn“, „Maria zu den Melodienoten des Chorals „Je- Auch sein Alkoholproblem wollte harmonik eine aufgelöste Spannung Himmelsfreud“. Dabei handelt es sich sus, meine Zuversicht“. Reger – ausweislich seiner Brautbriefe – mitteilt. Das Werk schließt in geradezu durchwegs um homophone Sätze mit 1912 entstand eine Ostermotette definitiv in den Griff bekommen. Die entrückt-verklärter Stimmung pianissi- eingängigen Melodien, die man typisch „Lasset uns den Herren preisen“ für Gefährdung durch den Alkohol hat mo; ein demütiges Einverständnis mit romantisch nennen könnte und durch- fünfstimmigen gemischten Chor, Reger selbst früh erkannt und sicher dem Leben suggerierend. aus im Stil der Zeit verbleiben, also StV.443. Für die Liturgie der lutheri- auch versucht, dagegen anzusteuern; so Was in dieser Zusammenfassung eini- eher konventionell klingen. Ergänzt schen Kirche Nordamerikas bestimmt schreibt er 21-jährig in einem Brief: germaßen zugespitzt erscheint, nämlich wird die Sammlung durch Sechs Trauer- waren Twenty für vier- „Und auch solide bin ich geworden. In die deutliche Hinwendung zur Todes- gesänge (Untertitel: Leichenlieder). stimmigen gemischten Chor aus dem rein moralischer und sittlicher Bezie- problematik, die gerade aus einer Le- Nachdem er bereits 1898 vier Geist- Spätsommer 1911. hung war ich stets in höchstem Grade bensangst erwächst, die Reger wohl vi- liche Lieder nach Gedichten von Edu- Als Fazit dieses Kapitels darf festge- zurückhaltend und werde es auch stets rulent stets begleitet hat, wird validiert ard Mörike von Hugo Wolf für Sing- halten werden: Reger war ein überkon- sein, da ich es als eine der größten Ge- durch Aussagen des Komponisten selbst, stimme und Orgel bearbeitet hatte, ließ fessioneller Musiker, der aber unbefan- fahren betrachte, in dieser Beziehung wie folgende, an den Musikkritiker Ar- er 1902 die zehn Transkriptionen der gen aus den christlichen Konfessionen nicht gut zu leben. Allein bisher hatte thur Seidl gerichtete briefliche Bemer- „Geistlichen Lieder aus dem Spani- musikalische wie geistliche Anregungen ich doch eines übersehen, nämlich die kung von 1913 zeigt: „Haben Sie noch schen Liederbuch“ des von ihm verehr- erhielt und seinerseits bereichernd auf Gefahren des Alkohols.“ nicht bemerkt, wie durch alle meine Sa- ten Hugo Wolf folgen, wobei in vier der die unterschiedlichen kirchenmusikali- Und seiner Braut Elsa verspricht er: chen der Choral hindurchklingt: ,Wenn insgesamt 14 Lieder die reine Jungfrau schen Traditionen einwirkte. „Mein Leiden (Sie wissen, was ich mei- ich einmal soll scheiden‘ “. Mit Rainer und Gottesmutter Maria besungen wird. ne) habe ich überwunden, das kann ich Cadenbach darf also zusammengefasst Mit diesen Bearbeitungen sowie den be- IV. München als Wendezeit sagen ohne zu lügen … Ich verspreche werden: „Weniger als um Leben und reits genannten geistlichen Gesängen es Ihnen bei meiner so tiefen u. aufrich- (sic) Tod ging es in Regers Komponie- erweiterte Reger das kirchenmusikali- Wahrscheinlich hatte Reger bis zu sei- tigen Liebe zu Ihnen, daß Sie nie, nie, ren in erster Linie um den Tod selbst, sche Repertoire vor allem für den ka- nem 29. Lebensjahr – also der Heirat mit niemals nur den geringsten Grund ha- vielleicht temporär auch um das ewige tholischen Gottesdienst und insbeson- Elsa von Bercken, geb. von Bagenski, ben sollen mir in diesem Punkte zu Leben und die ‚Verklärung‘, was Reger dere für Kirchenkonzerte ganz erheb- standesamtlich im Oktober 1902, evan- mißtrauen d.h. daß ich nie nie Ihnen wohl ein ähnliches bedeutet haben mag lich. Schon am 11. Januar 1899 hat Re- gelisch-kirchlich für das konfessionell Gelegenheit geben werde, mich in ei- [Das Thema Tod] beherrscht sozusagen ger dem Verlag Breitkopf & Härtel sei- gemischte Ehepaar am 7. Dezember nem anderen als völligst normalen Zu- sein Werkverzeichnis“. ne Intention mitgeteilt: „Die geistlichen 1902 im Dorf Boll bei Göppingen – stand zu sehen, – d.h. eben alkoholfrei, Gesänge schrieb ich deshalb, da man in kein eigenes Girokonto. Die Eltern hat- vollständigst alkoholfrei zu leben“ III. Konfessioneller Musiker? Kirchenconcerten als ‚Sologesänge‘ ten nach dem Zusammenbruch in Wies- (Brief vom 4. August 1902). nicht gerade die größte Auswahl in der baden und der Rückkehr des Sohnes Dieses Versprechen konnte Reger Gerne wird aus der Tatsache der sei- betreffenden Literatur hat.“ Eher für nach Weiden praktisch die Vormund- nicht halten. Ein zweites, ihn lebenslang ner Verheiratung mit einer evangeli- konzertante denn liturgische Zwecke schaft – ob auch im juristischen Sinne begleitendes Hauptproblem spricht Re-

zur debatte 5/2016 29 ger im selben Brief ebenfalls an: seine stücke für Violine (oder Cello) und Kla- Dieses monumentale Tongemälde be- Die „Acht geistlichen Gesänge“ für Minderwertigkeitsgefühle, die ihn so- vier zu liefern. sticht durch die „absolute Einheit zwi- vier- bis achtstimmigen gemischten wohl ehrgeizig als auch ehrsüchtig wer- Als Hochzeitsgeschenk komponierte schen Form, Wort und Melodie, dazu Chor a cappella reflektieren die Düster- den ließen. Reger den Gesang der Verklärten op. 71 sind Chor und Orchester ausgewogen“ nis der Zeit, den Kampfeslärm auf den Hinsichtlich des Alkoholproblems für Chor und Orchester im Sommer (Ulrich Haverkampf). Schlachtfeldern und die Vergänglichkeit muss allerdings gesagt werden, dass der 1903, der allerdings bei C.F.W. Siegel in Das gesamte Werk ist in vier Sätze des Daseins (Der Mensch lebt und be- Komponist in einem „permanente[n] Leipzig erscheinen musste, da ausge- unterteilt und kann als großer sympho- stehet nur eine kleine Zeit – Matthias Erregungszustand des Geistes [lebte]. rechnet Straube auf Anfrage des Verlags nischer Wurf gelten. Die lebenslang an- Claudius); sie rufen den Beistand der Reger trank nicht zur Stimulierung – Lauterbach & Kuhn von der Druckle- gestrebte große Orchestersymphonie ist Heiligen an (Kreuzfahrerlied: Sankt Pe- seine kalligraphischen Notenhand- gung abgeraten hatte, was sowohl zu Reger nie gelungen. Das vorliegende trus der ist gut, der uns viel seiner Gna- schriften zeugen von allzeit hoher geis- einer (dauerhaften) Entfremdung zwi- Werk aber zeigt symphonischen Reich- den tut. Nun hilf uns, Maria, reine tiger Präsenz – sondern zur Betäubung schen Reger und Lauterbach als auch tum und Zuschnitt. Der erste Satz (Ma- Magd. Schlachtgesang: Maria halt uns … Das Gehirn konnte sich nur erholen, einer (vorübergehenden) Trübung der estoso. Animato) hebt an mit einem ful- in der Wart! Sankt Peter unser Haupt- indem es in andere geistige Tätigkeiten Freundschaft zwischen Reger und minanten Crescendo der Bassstimmen mann sei); sie bringen aber auch das wie Bearbeiten, Konzertieren oder Kor- Straube führte. (Orgel, Pauken, Kontrabass) auf dem feste Vertrauen auf den barmherzigen rigieren auswich, die weniger Kraft als Das offizielle Musikleben Münchens Ton „C“, worauf der Chor und das gan- Gott und den Retter Jesus Christus klar Komponieren erforderten“ (Susanne nahm durchaus positiv von Reger Notiz. ze Orchester mit einem gewaltigen zur Sprache (Unser lieben Frauen Popp). So wählt die Münchner Ortsgruppe des „Jauchzet“ in der Haupttonart D-Dur Traum: Der Heiland ist unser Heil und Allgemeinen Deutschen Musikvereins einfallen; diesem größte Spannung er- Trost, mit seiner bittern Marter hat er (ADMV) Reger in ihren Ortsausschuss zeugenden Sekundakkord analog wirkt uns all erlöst. Wir glauben an einen Das Phänomen des Gött- und stellt in ihrem ersten Konzert aus- das zweitaktige Fortissimo auf „alle Gott: Für uns wollte er leiden, ob wir schließlich Regers Werke vor, darunter Welt“ in Es-Dur, also dem sogenannten möchten vermeiden, schwere Pein, den lichen in seiner doppelten auch die Inferno-Phantasie op. 57. Re- Neapolitaner, dem Reger besonders zu- Tod der Ewigkeit). Gestalt als „tremendum et gers Auftritt beim Tonkünstlerfest dieses getan war. Pauken, große Trommel und Die Sorge um das persönliche Heil wichtigsten Veranstalters der musikali- Becken („sehr lang haltend“) lassen den und um einen guten Tod sowie die fascinosum“ wurde musika- schen Moderne Ende Mai 1904 – er musikalischen Kosmos erzittern, wozu Hoffnung auf die ewige Seligkeit sind lisch je kaum überwältigen- spielte dabei seine eigene Violinsonate auch die Doppelpedal-Triller der Orgel die vorherrschenden Themen dieser bei- C-Dur op. 72 mit dem Geiger Henri beitragen. Ein rasches Decrescendo hin den Sammlungen. Offenbar haben sie der hörbar. Marteau – bedeutete seinen spektakulä- zu „Dienet dem Herrn mit Freuden“, Reger persönlich stark umgetrieben. In ren Durchbruch. Von jetzt ab ging er nur von Chor und Orgel im vierfachen diesem Kontext wird die von evangeli- unermüdlich bis zu seinem Lebensende Pianissimo vorgetragen, bringen die schen Freunden des Komponisten so- Vor der Hochzeit schreibt Reger für auf Konzerttourneen, in geradezu ex- Nichtigkeit der Welt ebenso zum Aus- wie dessen Ehefrau vehement bestritte- Elsa von Bercken ein Trauungslied „Be- zessiver Weise bis an die Grenzen der druck wie die gewaltigen geistigen und ne, wohl aber tatsächlich abgelegte sak- fiehl dem Herrn deine Wege“ (Psalm physischen Belastbarkeit – und darüber klanglichen Dimensionen dieser Psalm- ramentale Beichte Regers in Amsterdam 37,5) für Sopran, Alt und Orgel, StV. hinaus. Seine allgemeine wirtschaftliche vertonung. völlig plausibel. Nach einem zeitgenös- 481. Ein singuläres Ereignis ist für den Situation verbesserte sich signifikant, Der zweite Satz (Andante sostenuto) sischen Bericht in der Berliner Allge- 19. September 1903 dokumentiert: das auch durch die Lehrtätigkeit an der Aka- beginnt mystisch-verhalten zu den Wor- meinen Musik-Zeitung (AMZ 43 [1916], Geistliche Lied „Wohl denen“ für mitt- demie der Tonkunst (ab Mai 1905) und ten „Erkennet, dass der Herr…“, doch Nr. 23, S. 348ff.) habe Reger am 23. lere Stimme und Orgel, StV. 481, wird die zahlreiche Konzertverpflichtungen. bei „Gott ist“ explodiert der Klang in März 2016, also wenige Wochen vor von dem frisch verheirateten Paar Elsa überlaute, härteste Dissonanzen. Das seinem Tod am 11. Mai in Leipzig, in und Max Reger während des Sommer- V. Höhepunkt geistlicher Musik Phänomen des Göttlichen in seiner einem Hotelrestaurant einen katholi- urlaubs in Berchtesgaden uraufgeführt. und Abgesang doppelten Gestalt als „tremendum et schen Wiener Priester in Begleitung des Naturgemäß komponiert Reger vom fascinosum“ wurde musikalisch je kaum polnischen Komponisten Feliks Nowo- August 1902 (Zwölf Lieder op. 66 für Vom Ausbruch des Krieges im August überwältigender hörbar. Zudem bestim- wiejski (1877-1946, Schüler von Max mittlere Stimme und Klavier) bis in das 1914 zeigte sich Reger im Unterschied men zahlreiche unvermittelt nebenein- Bruch, bekannt vor allem durch sein Jahr 1912 (Sechster Band der Schlich- zu vielen Zeitgenossen unter den Künst- ander gesetzte terzverwandte Akkorde Oratorium Quo vadis?) gebeten, ihm ten Weisen op. 76) hinein eine Fülle lern nicht begeistert. Sein Anfang Sep- die Klangwelt. Der bewegten Passage die Beichte abzunehmen. Der Priester von weltlichen Liedern (viele Liebes- tember vollendeter Hymnus der Liebe „Er hat uns gemacht“ antwortet beru- berichtete am nächsten Vormittag da- lieder darunter) in Sammlungen, darun- op. 139 (Text von Ludwig Jacobowski) higt der Chor: „und zu Schafen seiner von, bis in den Morgenstunden bei Re- ter am bekanntesten wohl die sechs für Bariton und Orchester taugte über- Weide“. ger gewesen zu sein, welcher eine Ge- Bände umfassenden „Schlichten Weisen“ haupt nicht zur künstlerischen Mobil- Der dritte Satz (Allegretto con grazia): neralbeichte abgelegt habe. Seine ka- op. 76. Die letzte Widmung „Meiner ge- machung, weshalb die geplante Druck- „Gehet zu seinen Toren ein“ erhält tholischen Wurzeln hat Reger also nie liebten Elsa“ datiert allerdings aus dem legung zurückgestellt wurde. Unter dem durch die mehrfach eingesetzte Solo- geleugnet. Band IV von 1909. Auch daran lässt erschütternden Eindruck der Kriegs- Violine eine neue Atmosphäre bei deut- Am Morgen des 11. Mai 1916 ist sich die allmählich erkaltende Bezie- ereignisse mit den Materialschlachten lich „gelichtetem“ Satz und teils pasto- Reger in einem Leipziger Hotelzimmer hung der beiden Eheleute ablesen. und ihren enormen Menschenopfern ralem, teils tänzerischem Habitus. – er war am Abend vorher bei seinem Im Band VI der „Schlichten Weisen“ begann Reger mit seinem lateinischen Das Finale des vierten Satzes (An- Verleger C. F. Peters eingeladen – ge- findet sich das populärste Reger-Werk , StV. 437ff, für Soli, Chor, Or- dante sostenuto. Allegro maestoso) fin- storben. Die Druckfahnen seiner „Acht überhaupt: Mariä Wiegenlied (Text von gel und Orchester. Nach der Vollendung det seinen grandiosen Höhepunkt in geistlichen Gesänge“ lagen auf seinem Martin Boelitz). Dieses hat Reger später des ersten Satzes, dessen Beginn des in der majestätischen Doppelfuge „Denn Nachttisch. Was in vielen Werken als noch zweimal bearbeitet, einmal für die Quintschichtungen aus dem Pianissimo der Herr ist freundlich“, der größten je Spurenelement und andeutungsweise Besetzung Mezzosopran, Violine und sich erhebenden Orchesterklangs an das von Reger erbauten Polyphonie. Ab vorhanden war, wird in diesen letzten Orgel, sodann noch als Orchesterlied. Brahms-Requiem erinnert, brach der Takt 440 werden beide Themen gekop- Gesängen dechiffriert und als Klartext Neben dem biographischen Hinter- Komponist Mitte Dezember 1914 die pelt, dazu erschallt jeweils der Choral verkündet; in ihnen entfaltet sich das grund hat sicher auch ein sehr vorteil- Arbeit am „Dies irae“ ab, was zu einer „Ein feste Burg ist unser Gott“ mit vier Glaubensbekenntnis Max Regers: Alle hafter, Ende 1902 mit dem neu gegrün- massiven Schaffenskrise führte. Trompeten und vier Posaunen unisono; Menschen müssen sterben, doch Hoff- deten Verlagshaus Lauterbach & Kuhn Ausgerechnet Freund Straube konnte die Wiederholung der Choralzeile über- nung, Rettung und Heil liegt in der Er- ausgehandelter Vertrag die umfangrei- diesem avantgardistischen Werk, das nehmen jeweils Posaunen, Tuba und die lösungstat Jesu Christi und in der Barm- che Liedproduktion begünstigt. Über sich auszeichnet durch eine „hochex- Pedaloktaven der Orgel. herzigkeit Gottes. „Der Eingangschor die dann eingehenden Honorare konnte pressive Sprache, die Kontrapunktik Die große Bandbreite von geistlicher Der Mensch lebt und bestehet nur eine der Komponist nach der Abnabelung und Motivarbeit zurückstellt und groß- Musik aus Regers Feder zeigen die bei- kleine Zeit … ist symbolisch für Regers von den Eltern selbst verfügen. Ein Blick angelegte Steigerungen aus dem Klang- den geradezu intimen, im Kriegsmonat Leben und Sterben geworden, ebenso in die Details beleuchtet die sich erfreu- raum entwickelt“ (Susanne Popp) September 1914 entstandenen Samm- der Schlusschor „Wir glauben all an ei- lich entwickelnde finanzielle Situation nichts abgewinnen und riet zur Aufgabe lungen „Zwölf geistliche Lieder“ für nen Gott“: beim Lesen der Korrekturen des Komponisten. So erhält er ein jähr- dieser Komposition. Beeindruckend eine Singstimme mit Orgel op. 137 so- ist der Komponist im Leipziger Hotel- liches Honorarfixum von 4000 Mark wirken die ungeheuren Kontraste der wie die „Acht geistlichen Gesänge“ für zimmer sanft hinübergeschlummert“ sowie zusätzliche Einzelvergütungen. massiven instrumentalen Klangballun- gemischten Chor op. 138. Die Texte der (Helmut Wirth). „ Für die 24 Stücke der Orgelwerke op. 63 gen einerseits und der luziden homo- 12 Lieder sind dem bei Langewiesche- und 65 erhielt Reger je 60 Mark. Für phonen Chorstellen andererseits, exem- Brandt in Ebenhausen bei München die kürzeren 52 leichte Choralvorspiele plarisch bei „et lux perpetua luceat eis“, verlegten „Deutschen Psalter“ (Ein op. 67 wurde ihm ein Seitenhonorar wo im pianissimo und hellem A-Dur- Jahrtausend geistlicher Dichtung) ent- Literatur zu beiden Texten: von 20 Mark zugestanden, ebenso für Chorklang ein verklärend-tröstendes nommen. Neben zwei schlichten Weih- die insgesamt 35 Lieder und Gesänge Licht aufscheint. Was als „Hauptwerk“ nachtsgesängen und einem Aufruf, Helmut Wirth: Max Reger in Selbst- op. 66, 68 und 70. Im Jahr 1907 schließt des Lebens gedacht war, hat der Kom- Christus, dem Morgenstern entgegenzu- zeugnissen und Bilddokumenten, Reger rechtswidrig ohne Rücksprache ponist nicht mehr weiterverfolgt. gehen, stehen „Dein Wille, Herr, ge- Reinbek bei Hamburg 1973. mit seinem Exklusivverleger Lauterbach Als Zentralwerk geistlicher Musik schehe!“, ein „Grablied“ und die „Klage einen Gesamtvertrag mit C. F. Peters ab. darf deshalb „Der 100. Psalm“ für Soli, vor Gottes Leiden“. Den Rahmen bil- Rainer Cadenbach: Max Reger und Ein gerichtlicher Vergleich setzte fest: Chor, Orgel und Orchester gelten, den den die „Bitte um einen seligen Tod“ seine Zeit, Laaber 1991. Der Vertrag mit Peters bleibt bestehen, Reger als Dank für die im Juli 1908 er- und „Herr Jesu Christ, wir warten dein“; doch Lauterbach erhält bis 1913 das folgte Promotion zum Dr. phil. h.c. der letzteres mit der Zeile: „Am End der Susanne Popp: Artikel zu Reger, Max, Vorkaufsrecht auf Regers Werke, und Universität Jena zu deren 350-Jahr-Jubi- Welt bleib nicht lang aus und führ uns in: MGG². Personenteil Bd. 13, Kassel, dieser ist verpflichtet, jährlich mindes- läum widmet. Die endgültige Fertigstel- in deins Vaters Haus“. Sämtliche Lieder Basel u.a. 2005, Seiten 1402-1433. tens eines Sammlung von Klavierwer- lung erfolgt erst 1909, die Uraufführung sind homophon vertont, jedoch äußerst ken, einen Band Schlichte Weisen oder des Gesamtwerkes 1910 unter Leitung abwechslungsreich, mit delikater Har- Susanne Popp: Max Reger. Werk statt sechs leichte bis mittelschwere Vortrags- des Komponisten. monisierung. Leben – Biographie, Leipzig 2016.

30 zur debatte 5/2016 so viel Öl verbrauchen wie wir fördern jetzt acht Jahren für 2013 den Grenz- können, 2050 wäre bereits das Vierfa- wert auf 130 Gramm gesenkt, was zu che der möglichen Maximalproduktion großem Wehklagen in der Automobilin- vonnöten, und 2064 schließlich lägen dustrie führte, der Untergang der Welt Elektromobilität wir beim Achtfachen. wurde an die Wand gemalt. Doch was Die Erdölindustrie selbst behauptet, ist passiert? Gar nichts. Seit 2013 gilt sie könne die Förderung in den kom- diese 130-Gramm-Grenze, alles ist in menden Jahrzehnten konstant halten. Ordnung. Manche Hersteller haben es Aber selbst wenn wir das als wahr un- geschafft, indem sie die Testzyklen be- terstellen, verschiebt sich der Zeitpunkt sonders gut durchgeführt haben, aber Ohne Elektroautos ist die Mobilität „MUTE“ und „Visio.M“ an der Tech- der Verknappung nur leicht, auf 2040, alle haben es geschafft, auf die geforder- – vor allem in Ballungsräumen – in nischen Universität München. Der 2070 und 2100. Viel haben wir also ten 130 Gramm zu kommen. der Zukunft nicht sicherzustellen, Diplomingenieur sprach am 21. April nicht gewonnen. Und: Wenn wir mehr Jetzt peilt die Europäische Union für wenn gleichzeitig die Umweltbelas- 2016 bei der Veranstaltung „Elektro- fördern wollen, dann wird der Rohstoff das Jahr 2021 bereits einen Grenzwert tung durch den Verkehr verringert mobilität: Hype oder Revolution?“ in teurer, denn die Erschließung von neu- von 95 Gramm an. Da sind wir dann werden soll. Das ist die Kernaussage der Katholischen Akademie Bayern. en Ölvorkommen ist trotz neuer För- bei ungefähr dreieinhalb Litern pro ein- von Professor Markus Lienkamp, dem Lesen Sie im Anschluss das überarbei- dertechniken aufwändiger und damit hundert Kilometer, im Zyklus. Nach Initiator der Elektroauto-Projekte tete Referat von Markus Lienkamp. kostenintensiver. Und wir sehen dem VW- Skandal hat man nun kurz- Schwankungen des Erdölpreises, von fristig entschieden: Wir verschärfen die Analysten „Schweinezyklen“ genannt: Regelung noch einmal um zehn Pro- Ist Öl teuer, werden massenhaft neue zent. Das heißt: Wir reden jetzt eigent- Förderstellen erschlossen und viel pro- lich nicht über 95 Gramm, sondern duziert, der Rohstoff wird – wie aktuell schon über nur noch 85 Gramm. zu sehen – billig. Das Ergebnis: Seit Und die EU diskutiert aktuell darü- zwei Jahren hat kein Mensch mehr in ber, im Jahr 2025 nur noch 70 Gramm Hype oder Revolution? die Ölförderung investiert, sodass in zu erlauben, was dann deutlich unter spätestens ein, zwei Jahren die Preise drei Liter Kraftstoffverbrauch pro hun- Markus Lienkamp wieder anziehen werden. dert Kilometer im Mittel bedeuten wür- de. Damit erzwingt die EU regelrecht Elektroautos. Denn wenn man nicht zu- Auch die Entwicklung von mindest einen gewissen Anteil des Ver- kehrs mit Elektroautos bewältigt, ist die Biokraftstoffen ist auf lange Einhaltung der Grenzwerte faktisch un- Sicht keine Lösung. möglich. Verstöße sind mit spürbaren Mit folgender Agenda will ich Sie Strafzahlungen bei CO2-Grenzwert- durch meinen Vortrag führen: Zuerst überschreitungen belegt. Das gilt übri- werde ich auf die Megatrends eingehen, Ein zweiter Effekt, der für Europa gens schon heute. Wenn ein Wagen ak- die uns in den nächsten Jahrzehnten er- eine entscheidende Rolle spielt: Wir tuell mehr als die geforderten 95 warten; es sind wohl zwei, die eine ge- sind abhängig vom Import. Wir müssen Gramm ausstößt, dann ist pro 100 wichtige Rolle spielen. Danach möchte fast 100 Prozent unseres Bedarfs impor- Gramm CO2 eine Strafzahlung von Ihnen, zweitens, meine Vision von Mo- tieren und sind dadurch erpressbar – 10.000 Euro fällig, die der Automobil- bilität vorstellen, um dann drittens auf ein weiterer Grund, warum wir vom Öl hersteller tragen muss. Das heißt, er technische Verbesserungen bei den Ver- unabhängig werden wollen. müsste das Auto 10.000 Euro teurer brennungsmotoren zu sprechen zu Auch die Entwicklung von Biokraft- machen. kommen, sodass wir den Verbrauch auf stoffen ist auf lange Sicht keine Lösung. Viele Länder bewegen sich in die die Hälfte senken. Wir haben durchaus Selbst wenn man die heutigen Verfah- gleiche Richtung wie die EU. Es gibt al- die Chance, die Kurzstreckenmobilität ren, bei denen nur Teile der Pflanzen lerdings eine Ausnahme: Die USA ha- mit Elektrofahrzeugen abzudecken, für verwendet werden, verbessern würde – ben zwar ebenfalls einen strengen Langstrecken sind allerdings weiterhin was technisch möglich ist –, würde die Grenzwert, 97 Gramm. Aber es gibt ei- – verbrauchs- und dadurch abgasarme – Produktion nicht ausreichen, um den nen kleinen oder bedeutenden Unter- Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor nö- Bedarf zu decken. schied: Der Grenzwert gilt nur für PKW; tig. Und schließlich, viertens, wollen Eine weitere Möglichkeit läge in der aber etwa 50 Prozent des Marktes in wir über vernetzte Mobilität sprechen. Erdgas-Verflüssigung. Dabei kommt ein den USA sind SUV oder kleine Trucks, sehr hochwertiger Kraftstoff heraus, für für die es keine Beschränkung gibt. I. dessen Herstellung allerdings hohe In- vestitionen erforderlich wären. Dasselbe Welches sind nun die Megatrends, gilt für die Kohleverflüssigung, „coal to Jetzt peilt die Europäische die uns beeinflussen werden? Die Ant- liquid“ – das Fischer-Tropsch-Verfahren wort ist recht einfach. Alles wird knapp. Prof. Dr.-Ing. Markus Lienkamp, wäre hier eine denkbare Technik. Aller- Union für das Jahr 2021 be- Zeit wird knapp: Die Menschen wollen Inhaber des Lehrstuhls für Fahrzeug- dings sind sich die Experten auch hier reits einen Grenzwert von Zeit sinnvoller nutzen, nicht nur im technik an der TU München, Initiator einig: Mehr als zehn Prozent des aktu- Stau stehen. Raum wird knapp: In den der Fahrzeug-Forschungsprojekte ellen Bedarfs an Kraftstoff sind mit die- 95 Gramm an. Großstädten – das sieht man hier in „MUTE“ und „Visio.M“ sen Techniken nicht zu produzieren. München beispielhaft – geht in der Selbst wenn wir weiterhin genug Erd- Rushhour mit dem Auto nicht mehr all- öl fördern beziehungsweise auf andere Viele Länder wollen sogar schärfer zu viel. Rohöl wird knapp. Wir sehen Weise Kraftstoffe für Verbrennungsmo- regulieren und wollen nur noch kom- im Moment zwar eine Vergrößerung des Prognose hat sich in den vergangenen toren herstellen könnten, bleibt die Pro- plett emissionsfreie Autos, also nur Angebotes, weil die Förderung stark zu- Jahren auch nicht verkürzt, weil immer blematik der Umweltverschmutzung: noch Elektrofahrzeuge, fahren lassen. genommen hat. Aber das dürfte nur wieder neue Erdölvorkommen entdeckt neben der Verschmutzung der Atmo- Norwegen hat das zumindest gerade an- eine Momentaufnahme sein; zumindest wurden. Sehen wir uns die Ressource sphäre durch CO2, auch die Feinstaub- gekündigt: Ab 2025 werden nur noch wird Rohöl bald wieder teurer. Und an, dann sprechen die Prognosen von Belastung oder die negativen Folgen des Elektrofahrzeuge neuzugelassen. Die gute Luft wird ebenfalls knapp: Das rund 160 Jahren, wenn man den ge- Ausstoßes von NOx. Schon planen grö- Niederlande diskutieren das im Moment

Thema CO2-Ausstoß wird immer mehr schätzten Verbrauch zugrunde legt. Bei ßere Städte Umweltzonen mit Fahrbe- auch. Indien hat es angekündigt, für ins Bewusstsein der Menschen dringen. Erdgas liegen die Schätzungen ähnlich, schränkungen oder versuchen eine City- etwa 2030, und es gibt die ZEV-Allianz Ich will nun zwei Punkte herausgrei- weil dessen Förderung technisch noch Maut einzuführen, deren Höhe sich (Zero-Emission Vehicle Alliance), zu fen: die Verfügbarkeit von Rohöl und sehr stark an die des Rohöls gekoppelt nach CO2-Ausstoß und Verschmutzung der auch Deutschland gehört, die die den CO2-Ausstoß. Wenn wir uns die ist. Die Vorräte von Kohle gelten sogar bemisst. Wobei die Emission von CO2 Null-Emission zumindest ab 2050 for- Verfügbarkeit von nicht erneuerbaren als nahezu unendlich, sowohl bei Stein- kein lokales Problem ist, sondern ein dern. Energieträgern anschauen, müssen wir kohle als bei Braunkohle. Auch bei globales. Es gibt schon ganze Länder, Und China wird die Karte der Elek- begrifflich zwischen Reserven und Res- Uran würde es wohl lange nicht zu ei- blicken wir auf China, die wegen des tromobilität ganz massiv spielen, denn sourcen unterscheiden. Unter Reserven ner Verknappung kommen. CO2-Ausstoßes und des Feinstaubprob- für China ist Elektromobilität die einzi- versteht man die Bestände, die aktuell Wenn wir uns die verschiedenen Pro- lems in den Städten erkannt haben, ge Chance, technologisch gleichzuzie- entdeckt und wirtschaftlich förderbar gnosen – optimistischere und weniger dass Elektromobilität die einzige Chan- hen. Denn bei Verbrennungsmotoren sind. Unter Ressourcen hingegen ver- optimistische – zur Erdölförderung an- ce ist, das Problem zu lösen. kann China den Rückstand zu den steht man das, was es geben könnte. schauen, so stimmen sie überein, dass Mittlerweile haben sich nahezu alle hochentwickelten Autonationen kaum

Genaue Zahlen sind dabei schwer zu zwischen 2020 und 2030 der Peak er- Staaten der Welt entschlossen, die CO2- aufholen, denn die Entwicklung eines ermitteln, denn man weiß zum einen reicht sein wird. Dann geht die Produk- Grenzwerte zu senken, und zwar mas- solchen Motors ist hochkomplex, be- nicht, ob die Lagerstätten überhaupt tion zurück. Das wäre an sich noch siv. Damit wird es ernst für die Herstel- sonders was Regelungstechnik und die ausgebeutet werden können, oder man nicht dramatisch. Wenn wir aber dage- ler von Verbrennungsmotoren. Zurzeit dazugehörige Software angeht. Wäh- hat die Lagerstätten sogar noch nicht genhalten, welche Mengen an zusätzli- liegt der Ausstoß bei Fahrzeugen mit rend ein Elektromotor dagegen tech- einmal lokalisiert, oder aber die Förde- chem Öl die Weltwirtschaft bei einem Verbrennungsmotor im Durchschnitt al- nisch vergleichsweise eine Kleinigkeit ist. rung wäre zumindest extrem teuer oder linear fortgeschriebenen Wirtschafts- ler Wagen bei 180 Gramm CO2 pro Ki- Zwischenfazit: Es ist der politische energieaufwendig. wachstum benötigt, dann zeichnen sich lometer; das sind rund sieben Liter Wille, vom Öl unabhängig zu werden

Bei Erdöl-Reserven reden wir von ei- am Horizont Probleme ab. Dann wür- Kraftstoffverbrauch pro hundert Kilo- und die CO2-Emissionen herunterzu- ner Reichweite von 62 Jahren. Diese den wir nämlich im Jahr 2037 doppelt meter. Die Europäische Union hatte vor fahren, der den Weg zum Elektroauto

zur debatte 5/2016 31 orientieren sich im Moment nicht an wir 25 Prozent Verbrauch und sogar dem, was Toyota vorgegeben hat. Toyo- noch Geld. Das bietet sich gerade für ta hat ein sehr aufwendiges und damit die Benzinfahrzeuge an, wäre aber auch teures Hybridsystem. Die deutschen bei Lkw zu machen, also bei Diesel-fahr- Hersteller gehen eher in die Richtung zeugen. Ein weiterer Vorteil wäre, dass 48 Volt, das reicht für etwa 10 Kilowatt wir Erdgas auch aus Strom erzeugen und somit für den Prüfzyklus ausrei- könnten, also den Überschuss aus erneu- chend. Auch eine ganz ordentliche erbaren Energien in Methan umwandeln Sprit-ersparnis ist damit erreichbar. könnten. Wir könnten dieses Erdgas Aerodynamik wird ebenfalls ein The- auch sehr gut über mehrere Wochen im ma sein. Fahrzeuge werden immer fla- deutschen Erdgasnetz speichern, das cher, immer stromlinienförmiger. Das sehr gut ausgebaut ist. Und letztlich sind ist schön zu beobachten an der neuen auch die Reserven und Ressourcen bei A-Klasse. Früher war die A-Klasse rich- Erdgas größer als bei Erdöl. Allerdings tig hoch, ergonomisch hervorragend und hässlich. Heute ist sie flach, man kann kaum noch einsteigen, aber sie ist Aerodynamik wird ebenfalls schön, aerodynamisch gut und damit verbrauchsärmer. Wir müssen auch ein Thema sein. Fahrzeuge noch mehr in Richtung Leichtbau ge- werden immer flacher, im- hen. Das geht durch hochfeste Stähle oder durch Aluminiumeinsatz. mer stromlinienförmiger. Die letzte Maßnahme, die man immer treffen kann, ist die kostengünstigste, ef- fektivste und einfachste: Wir machen die hat sich VW gerade aus der Entwicklung Autos einfach kleiner. Dann werden wir von Erdgas-Antrieben zurückgezogen, vielleicht nicht solche Fahrzeuge auf den weil der Kunde es nicht will. Straßen sehen wie heute, die konzeptbe- Kommen wir noch einmal auf die dingt Verbräuche haben im Bereich von Einsparung von ein Prozent pro Jahr zehn Litern auf hundert Kilometer – Re- zurück, die wir mit der Optimierung alverbrauch. Sie wiegen aber eben zwei- von Brennstoffmotoren realistischer einhalb Tonnen. Da können wir als Inge- Weise schaffen könnten. Ganz grob nieure überhaupt nichts machen. Sie kann man sagen, dass die Hälfte der können so viel hybridisieren wie sie wol- Mobilität Kurzstreckenmobilität, die len, bei den geltenden Energiegesetzen Hälfte Langstreckenmobilität ist. Ich bleibt der Verbrauch hoch. behaupte, dass die Kurzstreckenmobili- Bei konventionellen Fahrzeugen mit tät mit Elektrofahrzeugen sicherzustel- Verbrennungsmotor können wir – wenn len ist, und zwar schon heute auch wirt- wir die Entwicklungen der vergangenen schaftlich. Wir sehen Elektrofahrräder, Jahrzehnte zugrunde legen – durch wei- wir sehen über hundert Millionen Elek- tere technische Verbesserungen rund tro-Scooter in China. Professor Lienkamps Vortrag war sehr ein Prozent Verbrauch pro Jahr einspa- Und genau dahin haben wir uns auch instruktiv und kurzweilig. ren. Die ambitionierten Ziele der Politik mit unserem Elektrofahrzeug „Visio.M“

von heute 130 Gramm CO2-Ausstoß bis bewegt, als wir vor sechs Jahren mit der 2021 auf 95 Gramm ist dadurch aber Entwicklung begannen: ein Zweitfahr- nicht zu schaffen; denn das wären 30 zeug mit einer realen Reichweite von Prozent. Und völlig utopisch wäre es, etwa 120 Kilometern ausgelegt für zwei die weiterhin geforderten Einsparungen Personen. Es gibt natürlich weitere Her- ebnen wird. Der Wunsch, lokale Emissi- auch nicht braucht. Wenn er einmal mit bis 2025, noch einmal 20 Gramm oder steller wie Tesla Motors, die sich im Lu- onsfreiheit zu erreichen, indem man In- einem Auto fahren möchte, kann er sich 20 Prozent, zu schaffen. xussegment tummeln, BMW mit dem i3 nenstädte für Fahrzeuge mit Verbren- eins bestellen, das dann in wohl schon Wenn wir vollständig auf Erdgas be- agiert im mittleren Segment, Lieferfahr- nungsmotor sperren muss, wird den naher Zukunft sogar vorgefahren kommt. triebene Autos umstellen würden, sparen zeuge wie ein Renault Kangoo werden Durchbruch bringen. Denn wenn man Und wenn er es nicht mehr braucht, den Kohlendioxid-Ausstoß im Durch- dann stellt er es einfach ab und es fährt schnitt der Fahrzeuge auf 70 Gramm selbstständig wieder weg. Und falls er senken will, heißt das mindestens 20 längere Strecken fährt, bestellt er sich Prozent Elektroautos. einfach ein Busticket und fährt los.

II. III. Kommende Akademieveranstaltungen Diese Terminvorschau ist vorläufig. Sie entspricht dem Stand unserer Planungen. Zu Stellen wir uns einmal vor, Sie sind Kommen wir noch einmal zurück allen Veranstaltungen werden rechtzeitig jeweils gesonderte Einladungen ergehen. Abteilungsleiter bei BMW, wohnen in zum Verbrennungsmotor, dessen Ver- Dort, wie auch auf unserer Homepage unter www.kath-akademie-bayern.de finden Haidhausen oder Bogenhausen und ha- brauch um 50 Prozent sinken muss, um Sie das verbindliche Datum, den endgültigen Titel sowie nähere Informationen. ben ein Einfamilienhaus. Dann werden überhaupt noch ein Mitspieler im Kon- Sie in Zukunft, schon in sehr naher Zu- zert sein zu können. Diese Verbesserun- Abendveranstaltung Philosophische Tage kunft, zwei Autos besitzen: ein Elektro- gen sind technologisch nicht völlig un- Donnerstag, 1. September 2016 Donnerstag bis Samstag, auto für die Kurzstrecken, für die Fahrt realistisch, aber ambitioniert. Man wird Quo vadis, Europa?! 6. bis 8. Oktober 2016 zur Arbeit, und eines für Langstrecken, kleinere Motoren entwickeln, immer Mit Manfred Weber, Vorsitzender der Zukunft vielleicht um einmal eine Reise zu un- mehr Zweizylinder-, Dreizylindermoto- Fraktion der Europäischen Volkspartei Welchen Fragen stellt sich ternehmen. Das wird vielleicht sogar ren, in der Luxusoberklasse noch Vier- im Europäischen Parlament die Philosophie? noch ein Auto mit Verbrennungsmotor zylindermotoren. Dadurch ist es mög- Tagung in Zusammenarbeit mit der Forum sein. Denn wenn Sie über hunderte Ki- lich, den Hubraum zu reduzieren. Feh- Evangelischen Akademie Tutzing und Mittwoch, 12. Oktober 2016 lometer fahren wollen, wird das in den lende PS werden dann über einen Tur- der Hanns-Seidel-Stiftung in Tutzing Genome Editing kommenden Jahren mit einem Elektro- bolader ergänzt. Viele Hersteller planen Freitag/Samstag, 9./10. September Chancen und Grenzen auto noch nicht so einfach sein. auch noch Zusatzmaßnahmen. Das Christen in der Politik mit Michael Sendtner, Eberhard Dann schauen wir uns aber einmal geht im Wesentlichen in Richtung Elek- Zwischen Kompromiss Schockenhoff, Jochen Taupitz den typischen Professor an der TU trifizierung der Aggregate, zumindest und Kompromittierung und Brigitte Schlegelberger München an. Der wohnt in Schwabing der Nebenaggregate, sprich der Wasser- oder der Maxvorstadt, hat eine Woh- pumpe, Ölpumpe, Lenkunterstützung, Vernissage Abendveranstaltung nung, hat vielleicht noch eine Garage; bei der nur bedarfsgerecht zugesteuert Montag, 12. September 2016 Montag, 24. Oktober 2016 und da steht dann sein Elektroauto. Das wird. Diese Entwicklungen nennt man Warum bleibt die Tankstelle als wäre „Gott los werden. Wenn Glaube reicht ihm eigentlich, denn die meiste bei BMW „EfficientDynamics“, VW sie von Michelangelo? und Unglaube sich umarmen“ Zeit fährt er sowieso nur kürzere Stre- spricht von „BlueMotion“, jeder Her- Ausstellung mit Werken Mit Tomáš Halík und cken, und wenn er einmal längere Dis- steller gebraucht einen anderen Aus- von Martin Gensbaur Pater Anselm Grün tanzen zu bewältigen hat, schaut er auf druck. Wir werden im Antriebsbereich Nachbarschaftsfest Podiumsdiskussion in Zusammen- sein Smartphone, meldet, wo er hin will auch sehen, dass mehr Automatikgetrie- Freitag, 16. September 2016 arbeit mit der Redaktion der Zeit- und findet einen Anbieter, der ihm diese be eingesetzt werden müssen. Denn Altschwabinger Sommerausklang schrift „OST-WEST. Europäische Mobilität zur Verfügung stellt, zum Bei- beim heutigen Zyklustest ist das Auto- Abendveranstaltung Perspektiven“ spiel ein Auto durch Car Sharing oder matikgetriebe besser als das Schaltge- Mittwoch, 21. September 2016 Donnerstag, 27. Oktober 2016 einen Mietwagen. triebe, weil der Fahrer beim Automatik- Migration und Integration Polen in Europa Und dann nehmen wir noch den Stu- getriebe im Zyklustest frei schalten dürf- in historischer Perspektive Zwischen Isolation und Integration denten der TU München, der auch in te, während beim Schaltgetriebe die Mit Marita Krauss Mit Irena Lipowicz, Andrezej Osiak Schwabing, allerdings in einem WG- Gänge vorgegeben sind. Erzbischof Wiktor Skworc und Zimmer, wohnt. Der hat weder eine Was wir auch sehen werden, ist eine Thomas Urban Garage noch ein eigenes Auto, das er Hybridisierung. Die deutschen Hersteller

32 zur debatte 5/2016 schon gebaut, oder Smarts von Daimler. Wir haben auch das Tesla-Projekt Ich glaube, das ist das Feld, in dem es durchgerechnet, übrigens schon 2014, profitabel ist, ein Elektroauto zu ent- als alle anderen noch gelacht haben. wickeln. Denn: Wer ist schon bereit, Unsere Voraussage war, dass der Tesla mehr Geld auszugeben für ein Elektro- Model 3 im Jahr 2020 für einen Preis auto, das weniger kann? um die 33.000 Euro zu haben ist. Und 2010 haben wir mit den Entwicklun- das ist ungefähr der Preis, den auch Tes- gen begonnen und gesagt, wir glauben la jetzt genannt hat. Keiner hat damals erstens, dass es technologisch möglich daran geglaubt, wir hatten aber recht. ist, solch ein Fahrzeug zu bauen. Und Die Kalkulation für unseren Visio.M er- zweitens, wir glauben, dass die Produk- gab, dass man ihn für rund 16.000 Euro tion auch wirtschaftlich rentabel ist, verkaufen könnte. denn es wird kostengünstiger herzustel- Und das ist nur die eine Seite. Unser len sein als heutige Kleinwagen mit Ver- Elektroauto ist per definitionem mit brennungsmotor. Das ist uns auch, zu- Null Gramm CO2 belegt, was eine gro- mindest theoretisch, sehr gut gelungen: ße Ersparnis erbringt. Denn wir sparen, Wir haben einen Kleinwagen, für zwei wenn wir dieses Auto auf den Markt Personen und zwei Gepäckstücke. Die bringen, Strafzahlungen für ab 2021 un-

Reichweite beträgt garantiert immer erlaubte CO2-Emissionen in Höhe von über hundert Kilometer, egal in welcher 9.000 Euro, die Hersteller eines gleich- Fahrsituation und unter welchen Witte- wertigen Wagens mit Verbrennungsmo- rungsverhältnissen. tor zahlen müssten, da sie die strenge Abgasnorm nicht einhalten könnten. Fakt ist, dass der Kunde für ein Elek- troauto nicht mehr zahlen will. Um dem 2010 haben wir mit den Kunden die Wirtschaftlichkeit eines Entwicklungen begonnen Elektroautos weiter zu verdeutlichen, und gesagt, wir glauben, gibt es einmal die Möglichkeit, eine sehr Foto: TU München hohe Laufleistung zu schaffen. Wir ha- Der „Visio.M“ auf der Teststrecke: Die dass es technologisch mög- ben ein Elektrotaxi konzipiert und ge- Konstrukteure garantieren eine lich ist, solch ein Fahrzeug baut, das als Taxi in Singapur über 500 Reichweite von 120 Kilometern. Kilometer pro Tag fährt. Wir haben das zu bauen. Fahrzeug mit einem Schnellladesystem versehen und können die Batterie in zwölf Minuten wieder zu etwa 70 Pro- Die Kosten für den Kunden, die „to- zent aufladen. Das heißt, jedes Mal, tal cost of ownership“, sollten gleich wenn das Taxi Pause macht, weil der und nur mehr Elektroautos zuzulassen. sind erheblich niedriger sind als die sein wie bei einem heutigen Kleinwa- Fahrer Kaffee trinkt oder irgendwo kurz Hat der Kunde sich für ein Elektro- Benzin- oder Dieselkosten. Es bleiben gen. Wir haben dafür die Anforderun- hält und auf Kunden wartet, kann er die fahrzeug entschieden, weil er den Preis- aber die höheren Kosten in der An- gen etwas reduziert. Das Auto fährt nur Batterie laden, und das Fahrzeug kann vorteil erkannt hat, muss er dennoch schaffung – da brauchen wir nicht lange 120 Kilometer pro Stunde, ist relativ somit rund um die Uhr in Betrieb sein. noch mit zwei praktischen Problemen herumreden. leicht und hat auch eine geringere Leis- Ein nächster Punkt ist es, die Batte- kämpfen: Zum einen muss das Fahr- Um die Akzeptanz zu fördern, sind tung. Es ist so breit und so lang wie ein riekosten zu senken. Und das geht nur zeug aufgeladen werden, was zu Hause weitere technische Verbesserungen si- Fiat 500 und so hoch wie ein Porsche durch Massenfertigung und Innovation. – zumal in Großstädten – oft kompli- cher nötig, aber jeder Zeit auch mög- „Neunelfer“. Schon heute gibt es eine „Giga-Facto- ziert ist. Sie müssen das Auto also zu ei- lich. Dazu zählt die Energiedichte von Wir haben auch versucht, den Ener- ry“, deren Produktionsvolumen größer ner Ladestation bringen, und wenn Sie Lithium-Ionen-Zellen. Wir haben in gieverbrauch möglichst zu verringern, ist als die sämtlicher anderer Fabriken damit fahren wollen, wieder zurück. den letzten zwanzig Jahren etwa sieben über sehr gute Aerodynamik mit besten für Batterieproduktion weltweit. Diese Damit sind wir beim zweiten prakti- Prozent pro Jahr an Energiedichte ge- cw-Werten (Strömungswiderstandskoef- „Giga-Factory“ senkt die Fertigungskos- schen Problem: automatisches Fahren. wonnen. Sie haben noch die Zahl von fizient) und einer kleinen Stirnfläche. ten etwa um 30 Prozent. Wir müssen Elektroautos so bauen, dass einem Prozent im Kopf, die der Ver- Wenn man sich das Ergebnis einmal im Was nun staatliche Förderung der sie sich, auf Kurzstrecken, selbstständig brennungsmotor pro Jahr an Effizienz Verhältnis zu anderen Fahrzeugen an- Elektromobilität angeht, so halte ich bewegen können. Zumindest sollten sie gewann. Bei den Batterien waren es sie- schaut, dann liegen wir mit dem Ener- nicht allzu viel davon. Wir müssen ein- einen halben Kilometer automatisch ben Prozent. Die Chemiker – auf die- gieverbrauch schon sehr, sehr niedrig. fach ein paar Jahre warten, bis in einem fahren können. Das haben wir mit un- sem Gebiet die Spezialisten – sind sich Das Ganze ist mit einem Hochvoltspei- Innovationszyklus Neues entwickelt serem Versuchswagen auch erfolgreich cher versehen, also einer Batterie, die wird. Ich glaube, es wird sich – auch realisiert – er fährt automatisch. Wir ha- von der Energiespeicherdichte besser ist ökonomisch – schon von selbst ergeben. ben uns eines kleinen Tricks bedient: Um die Akzeptanz zu för- als das Produkt, was die Firma Tesla Ein politischer Ansatz wäre es allerdings, Das Auto hat Kameras. Wir senden das heute zu bieten hat. eine Monopolsituationen zu schaffen Kamerasignal über das Handynetz an dern, sind sicher weitere unser Taxi-Callcenter, und das Auto technische Verbesserungen wird ferngesteuert gefahren. Am Anfang hat keiner daran geglaubt, dass es gehen nötig, aber jeder Zeit auch könnte, aber es funktioniert tatsächlich, möglich. LTE-Netze haben heute schon eine aus- reichende Datenrate. Es ist unser An- satz, die Bereitstellung auch kurzfristig relativ sicher, dass dieser Effizienzge- zu organisieren. Und wenn Sie – so un- winn in den nächsten fünf, sechs, sogar sere Vision – einmal ein größeres, schi- sieben Jahren wahrscheinlich weiterhin ckeres Auto fahren möchten, können bei je sieben Prozent pro Jahr liegen Sie auch das ausleihen. Es wird Ihnen wird. dann auch vor die Haustüre gefahren Natürlich müssen wir immer auch werden. Alternativen zum Elektroantrieb im Wenn wir in die Zeit nach 2025 Auge haben. Nehmen wir den Wasser- schauen – wir haben schon eingerech- stoff, dessen Einsatz als Antriebsenergie net, dass die Batteriepreise massiv sin- technisch sehr wohl möglich ist. Was- ken, das ist der größte Stellhebel –, dann serstoffautos, gerade auf Brennstoffzel- ergibt sich, dass in vielen Fahrzeugkate- lenbasis, werden zum Beispiel von gorien, mit Ausnahme der Oberklasse, Daimler entwickelt, Toyota hat sogar das Elektrofahrzeug in der Vollkosten- schon einen Motor in Serienreife kons- rechnung schon dann am günstigsten truiert. Solch ein Fahrzeug kostet zwar wäre. Deutschland ist noch dazu ein 80.000 Euro, aber es gibt schon eine Se- sehr schwieriger Markt, denn wir haben rienproduktion, wenn auch nur in sehr hohe Strompreise. In anderen Län- kleinsten Stückzahlen. Aber Wasserstoff dern der EU sieht das schon deutlich hat einige Nachteile. Wasserstoffautos besser aus. EU-weit würde sich das Elek- brauchen viermal so viel Energie wie troauto schon bei niedrigeren Kilometer- vergleichbare Elektroautos, weil die leistungen ab rund 10.000 Kilometer pro Energiewandlungsketten bis hin zum Jahr rechnen. Das gilt übrigens auch für Wasserstoff und dann in der Brennstoff- die USA. Fahrzeuge mit Elektroantrieb zelle katastrophal schlechter sind im Foto: TU München wären auch dort schon bei relativ mo- Verhältnis zum Elektroauto. Unterscheidet sich von außen nicht von deraten Laufleistungen wirtschaftlich. Nachteile gibt es auch mit Blick auf einem gleichwertigen Fahrzeug mit Generell gilt: Elektroautos sind in der den Katalysator. In den Brennstoffzell- Verbrennungsmotor: der „Visio.M“ Anschaffung teurer, im Betrieb billiger. membranen sitzt Platin als Katalysator, Denn ihr Betrieb verursacht weniger aktuell 22 Gramm pro hundert Kilowatt. Wartungskosten, auch die Stromkosten Wenn man diese Zahl auf die Jahres-

zur debatte 5/2016 33 geführt: alternativ mit Bus, Bahn, Auto fünf Jahre, bis dieses Fahrzeug in die oder Flugzeug von Hamburg nach Frank- Produktion geht: testen, Werkzeuge da- furt zu kommen. Mein Resümee war: Ich für konstruieren und ähnliches. Autos hätte den Bus oder die Bahn genommen haben in der Regel eine Produktions- – preiswert, sicher und komfortabel. laufzeit von zehn Jahren. Ein gekauftes Inzwischen spricht man nämlich von Fahrzeug ist etwa 15 Jahre in Betrieb. der Qualitätszeit. Autofahren gilt nicht Elektrofahrzeuge wohl eher noch län- als Qualitätszeit, denn dabei können Sie ger, weil sie keine Verschleißteile mehr nichts anderes machen. Sie können haben, oder zumindest kaum mehr wel- nicht lesen, Sie können nicht mit dem che. Das heißt, wenn wir heute ein Laptop arbeiten oder telefonieren. Es Auto entwickeln, dann verschwindet macht vielleicht noch ein bisschen Spaß, dieses erst in rund 30 Jahren wieder von aber das war‘s dann auch. Wenn ich der Straße. Wenn wir also heute anfan- von Garching nach München hinein- gen, Entscheidungen zu treffen, dann fahre, setze ich mich immer in die U6, wird erst im Jahr 2046 diese Entschei- Station Garching-Forschungszentrum, dung von der Straße wieder verschwin- klappe meinen Laptop auf und habe den. dann zwanzig Minuten Zeit, zum Bei- spiel um meine E-Mails abzuarbeiten. Sobald ich angekommen bin, klappe ich Wenn wir heute anfangen, meinen Laptop zu, marschiere los und bin völlig stressfrei – nach genossener Entscheidungen zu treffen, Qualitätszeit – dort, wohin ich wollte. dann wird diese Entschei- Und ein letzter Punkt ist: gar keine Mobilität. Als ich damals von Braun- dung erst im Jahr 2046 wie- schweig nach München gekommen bin, der von der Straße ver- Foto: TU München nach Garching an die TU, habe ich mir So sieht eine Batterie für ein Elektro- überlegt wo ich hinziehe. Meine we- schwinden. fahrzeug von innen aus. sentlichen Kriterien waren: Erstens, ich brauche einen U-Bahn-Anschluss, zwei- tens, ich möchte maximal zehn Minuten Mein Resümee: Hype oder Revoluti- zur Arbeit fahren, und drittens, es muss on? Revolution! Aber nicht für die In- eine Schule für die Kinder in der Nähe genieure. Wir packen das – es ist tech- sein. Seitdem wohnen wir in Garching. nisch nicht so schwierig. Ich glaube produktion von Platin weltweit hoch- gern Auto. Also 55 mal 200 Kilometer, Ich könnte jetzt mit dem Elektroauto auch nicht, dass die deutsche Automo- rechnet, könnten wir maximal zehn einfache Strecke, mal acht Liter auf 100 fahren, aber das würde viel zu lange bilindustrie die Entwicklung verschlafen Prozent aller Neufahrzeuge mit Brenn- Kilometer, macht 880 Liter Treibstoff. dauern: sieben Minuten. Stattdessen hat. Sie hat gewartet, bis es ökonomisch stoffzellen ausrüsten. Dann wäre aber Ich habe damals meine Sekretärin gebe- fahre ich mit dem Fahrrad, denn das sinnvoll ist, zu investieren. Für Ingeni- auch sämtliches Platin, die ganze Jahres- ten zu eruieren, ob vielleicht noch an- dauert nur sechs Minuten. Und betrach- eure und Industrie ist es nur ein kleiner produktion, aufgebraucht. Und weil die dere Mitarbeiter aus Wolfsburg mit mir ten wir Großstädte: Dort werden die Schritt, für die Kunden aber ein sehr Platinproduktion an die Goldprodukti- mitfahren wollten. Wir sind schließlich meisten Strecken zu Fuß zurückgelegt. großer. Die Kunden müssen sich um- on gekoppelt ist, kann man sie auch zu viert gefahren und hatten sogar ei- Es werden mittlerweile sogar gesamte stellen, sie müssen es akzeptieren, und nicht beliebig erhöhen. nen Riesenspaß im Auto. Städte darauf hin entworfen, so etwa sie müssen wir auf dem Weg zum Elek- Was noch gänzlich ungelöst ist, ist Alles wächst immer mehr zusammen. eine neue Mega-City in China, Lingang. troauto mitnehmen. „ das Thema Erzeugung und Verteilung Wir haben mittlerweile Mitfahrgelegen- Dort wurde vor allem für Fußgänger ge- von Wasserstoff, also der Aufbau eines heiten, ÖPM, Car Sharing, Taxi, immer plant. Im Prinzip wird im Innenstadtbe- Ausführliche Informationen zum Wasserstoffnetzes. Wir können der Poli- mehr Angebote über Smartphones. So- reich nur noch gelaufen, dort verkehren Thema finden sich in einem neuen tik jetzt nicht allen Ernstes klar machen: gar die Automobilhersteller bieten es keine Fahrzeuge mehr, es gibt für sie Buch, das kostenlos downloadbar ist. Wir brauchen einmal sofort ein flächen- schon an. Auch neue Reisebuslinien keine Verkehrsflächen mehr. Mit Zu- Zu finden unter: deckendes Netz von Schnellladestatio- sind auf dem Markt. Dagegen hat sich bringerbussen wird die Verbindung in https://www.researchgate.net/publica- nen für die Elektroautos, zweitens, wir die Bahn zuerst massiv gewehrt, sogar die Schlafstädte sichergestellt. tion/304247929_STATUS_ELEKTRO- brauchen Wasserstoff-Tankstellen, auch geklagt. Und inzwischen bietet sie es so- Würden wir alle Verbesserung zu- MOBILITAT_ 2016_ODER_WIE_TES- flächendeckend bitte und bestens funk- gar selbst an. sammenzählen, die ich angesprochen LA_NICHT_GEWINNEN_WIRD tionierend. Das ist nicht durchsetzbar. Die Geschichte von Uber: Uber wird habe, kämen wir für die Zukunft auf Und die meisten Länder haben sich ge- immer als Synonym für Taxi gebraucht. etwa 15 Prozent des heutigen Öl- rade für das Elektroauto entschieden. Dabei hat diese Firma eine ganz andere verbrauchs. Das heißt, auch auf nur 15

Deshalb liegt darin die Zukunft. Zielsetzung. Die Grundidee von Uber Prozent CO2-Ausstoß, verglichen mit ist, mehr als eine Person in ein Auto heute, und das, ohne gravierende Ein- IV. hineinzubekommen und dadurch den schränkungen in der Mobilität zu erlei- Transport zusammenzufassen, damit den. Und ich glaube, dass wir sogar et- Wir kommen zu meinem letzten zur Reduzierung der Verkehrslast bei- was mehr Qualitätszeit haben würden Punkt: die vernetzte Mobilität. Dabei zutragen und die Vernetzung der Ver- als heute. geht es um nichts anderes als um die kehrsteilnehmer zu erreichen. AUTO Wenn wir heute anfangen, ein Auto zur debatte Frage, wie wir es schaffen, dass mehr als BILD hat einmal einen Versuch durch- zu entwickeln, dann brauchen wir etwa eine Person in einem Auto transportiert Themen der Katholischen Akademie wird. Heute sitzen im Schnitt 1,2 Men- in Bayern schen in einem Wagen. Das ist ver- Jahrgang 46 schenkte Transportkapazität. Städte be- gannen ihre Mobilität mit ÖPNV, dann Herausgeber und Verleger: Katholische Akademie in Bayern, München kam ein bestens ausgebautes Straßen- Direktor: Dr. Florian Schuller netz, denn alle wollten Auto fahren. Verantwortlicher Redakteur: Dr. Robert Walser Das führte zum Verkehrsinfarkt und Mitarbeit: Simon Berninger merkte man, dass der Verkehr auf diese Fotos: Akademie Weise nicht mehr bewältigt werden Anschrift von Verlag u. Redaktion: konnte. Dann entstanden U-Bahn-Net- Katho lische Akademie in Bayern, Mandlstraße 23, 80802 München ze, Transportknotenpunkte, wobei Mün- Postanschrift: Postfach 401008, chen übrigens vorbildlich agierte: „park 80710 München, and ride“, Mietwagenkonzepte, Car Sha- Telefon 0 89/38 10 20, Telefax 0 89/38 10 21 03, ring, Mobilität auf sehr hohem Komfort- E-Mail: [email protected] niveau. Druck: Kastner AG – Das Medienhaus, Schloßhof 2 – 6, 85283 Wolnzach. Ich möchte Ihnen meine Erfahrung zur debatte erscheint zweimonatlich. von vor knapp zehn Jahren erzählen. Kostenbeitrag: jährlich 35,– (freiwillig). Über- Ich war damals bei VW, in Wolfsburg. weisungen auf das Konto der Katholischen Aka- Wie kommt man von Wolfsburg nach demie in Bayern, bei der LIGA Bank: Hamburg, wohin ich zu einem Seminar Kto.-Nr. 2 355 000, BLZ 750 903 00 musste? Mit dem Auto, geht nicht an- IBAN: DE05 7509 0300 0002 3550 00 SWIFT (BIC): GENODEF1M05. ders, wenn man einigermaßen schnell Nachdruck und Vervielfältigungen jeder Art sind unterwegs sein will. 55 Teilnehmer aus nur mit Einwilligung des Herausgebers zulässig. Wolfsburg nahmen an diesem Seminar teil. Wie viele Autos fuhren? Kleiner Foto: TU München Tipp: Es waren dienstwagenberechtigte Die Struktur des „Visio.M“: einer Mitarbeiter von VW. Also ergab sich der Schritte bei der Konstruktion die Zahl von 55 Autos. Der eine musste des Fahrzeugs. ein bisschen früher los, der andere ein bisschen später, man fährt ja sowieso

34 zur debatte 5/2016 Autoren zu Gast bei Albert von Schirnding Jenny Erpenbeck

Rund 150 Literaturfreunde waren am Abend durch ein Gespräch der beiden Abend des 6. Juli 2016 in der Katho- Literaten und eine Lesung der Schrift- lischen Akademie Bayern, um Jenny stellerin, die mit Romanen wie „Ge- Erpenbeck zu erleben. Die Schrift- hen, ging, gegangen“ immer wieder stellerin war zu Gast in unserer Reihe auf Bestsellerlisten stand und die im „Autoren bei Albert von Schirnding“. Herbst 2016 erneut zwei hochkarätige Lesen Sie im Folgenden den ein- Auszeichnungen verliehen bekommt: führenden Vortrag von Albert von den Thomas Mann-Preis sowie den Schirnding. Komplettiert wurde der Walter-Hasenclever-Literaturpreis.

Albert von Schirnding bei seiner Ein- Heimsuchung und Heim-Suchung. Die führung: wie immer selbst schon ein Kunst der Erzählerin Jenny Erpenbeck literarischer Hochgenuss.

Albert von Schirnding

In dieser Akademie-Reihe gibt es na- Hänsels und Gretels aus unseren El- Der geborene Erzähler, die geborene sehr vorübergehend, da sie demnächst türlich nie einen unerwünschten Gast. ternhäusern, Ausgestoßene aus unseren Erzählerin dürfen erst recht nicht Wur- neunzig wird; der Abend aller Tage Aber es gibt erwünschte, sehr er- Freundschafts- und Liebesbindungen, zeln schlagen; sie müssen wie die altge- steht unmittelbar bevor – ist jedes Es- wünschte, hocherwünschte und höchst- unseren Arbeitsbedingungen und Le- wordene Heldin in Jenny Erpenbecks war-einmal ihres Lebens zum jederzeit erwünschte Gäste. Jenny Erpenbeck ge- bensgewohnheiten; Krankheit, Alter Roman „Aller Tage Abend“ von 2012 sich wiederholen könnende Jetzt gewor- hört für mich in diese nur selten bean- und Tod sorgen schließlich dafür, dass einen Ort jenseits ihrer Lebenszeit er- den. Am Anfang des verfluchten Jahr- spruchte oberste Kategorie. Ich habe sie wir auch aus unseren Körpern vertrie- reicht haben, von dem aus sie sich in hunderts ist sie in einem galizischen vor drei Jahren, als sie in Koblenz mit ben werden. Zeitvergehen und Raum- der Zeit frei bewegen können. Die alte Städtchen zur Welt gekommen, viermal dem Breitbach-Preis ausgezeichnet Veränderung wirken zusammen, dass Frau Hoffmann schließt beim Frühstück muss sie sterben: als Baby in ihrem Ge- wurde, kennenlernen dürfen. Die Be- wir nicht bleiben können – niemals und im Altenheim die Augen und zählt die burtshaus, als junge Frau im aller Wal- gegnung bescherte mir ein unvorherge- nirgends. Heimkehr existiert nur als Sekunden, weil sie weiß, dass seit acht zerseligkeit abgestorbenen Wien der sehenes, nur geschenkweise erhältli- flüchtig vorübergehende. Schon Odys- Uhr mit den Erschießungen begonnen Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, in Sibi- ches Glück. Aber ich muss nüchtern seus muss Ithaka ein zweites Mal ver- wird. Pro Minute werden zehn Häftlin- rien als Opfer der stalinistischen „Säu- bleiben. lassen. Fremd sind wir eingezogen, ge erschossen. Für sie, die in ihre letzte berungen“, in Ostberlin, als es noch So beginne ich einfach mit den Titeln fremd ziehn wir wieder aus. Station eingekehrt, heimgekehrt ist – Ost-Berlin ist und sie als hochangesehe- der drei Romane dieser großen Schrift- stellerin: „Heimsuchung“, „Aller Tage Abend“, „Gehen, ging, gegangen“. Die 2007 erschienene Geschichte eines an einem märkischen See unweit von Ber- lin gelegenen Sommerhauses und seiner Bewohner durch mehrere Generatio- nen, die das ganze 20. Jahrhundert um- fasst, heißt „Heimsuchung“. Tatsächlich wird von den furchtbaren Erschütterun- gen erzählt, die dieses Zeitalter heimge- sucht haben, eines, das noch der Rück- schau einer fernen Zukunft einen tief- schwarzen Anblick bieten wird, auch wenn es, wie die Autorin ganz am An- fang zu verstehen gibt, sub specie geo- logischer Entwicklungsvorgänge nur einen Augenblick dauert. Erst wenn man in der Lektüre ein gutes Stück fort- geschritten ist, begreift man, dass mit dem Titel noch ein anderes, weniger an der Oberfläche liegendes Phänomen ge- meint ist: Heim-Suchung, die dem Men- schen unaustilgbar eingepflanzte Sehn- sucht nach einem Punkt im Universum, wo er sich niederlassen, wo er zu Hause sein und sich zu Hause fühlen kann. Dieser Sehnsucht wirkt in der physi- schen und geschichtlichen Welt eine Kraft entgegen, der sie immer wieder Die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck unterliegen muss: die Kraft der Vertrei- und Albert von Schirnding im inten- bung. Wir alle sind Vertriebene: ewige siven Gedankenaustausch.

zur debatte 5/2016 35 ISSN 0179-6658

alten Kind“, ihren Erstling von 1999, mit fünfzehn Jahren mitangesehen hat, die Erzählungen „Tand“, den aus Zei- wie man seinen Vater und seine Freun- tungskolumnen hervorgegangenen de erschlug, hat auf Richards Frage Nachruf auf „Dinge, die verschwinden“, nach etwas, das er gern machen würde, und die sich hinter dem harmlos klin- überraschend „Klavierspielen“ geant- genden Titel „Wörterbuch“ verbergende wortet. Also lädt ihn der Professor ein, grauenhafte Geschichte eines Mäd- in seine Wohnung zu kommen, was chens, das zu einer Wahrheit erwacht, auch die Gelegenheit für einen wichti- die es zwingt, die Augen immer fester gen Integrationsfortschritt bedeutet: zu verschließen. Wer, sage ich, dieser eine Übung im Zurücklegen größerer höchst bewundernswerten Schriftstelle- Entfernungen in der Riesenstadt. Es rin mit der Aufmerksamkeit, die sie ver- stellt sich heraus, dass Osarobo noch dient, zugehört hat, der weiß, in wel- nie ein Klavier berührt hat. Aber das chem grotesken Widerspruch zur Ge- Klimpern und dann unter Richards An- nauigkeit ihres Hinschauens die Be- leitung das Erlernen elementarer Hand- hauptung jenes Rezensenten steht, hier griffe macht ihm Freude. Zutrauen stellt habe es jemand besonders eilig gehabt, sich ein, etwas wie Freundschaft keimt. einen verkaufsträchtigen Stoff aufzu- Einmal wird der Latinist aus seinem greifen. Ruhestand zu einem Vortrag über Wie von ungefähr wird der gerade Seneca nach Frankfurt eingeladen. Bei emeritierte Altphilologe Richard in die seiner Rückkehr stellt er fest, dass in Oranienplatz-Affäre hineingezogen, be- der einzigen Nacht seiner Abwesenheit sucht in dem Heim, in dem sie vorläufig bei ihm eingebrochen worden ist. Ein untergebracht sind, einzelne Flüchtlin- paar Schmuckstücke seiner Mutter und ge, wirbt geduldig um ihr Vertrauen und seiner verstorbenen Frau fehlen. Nur gewinnt es in einem Prozess langsamer Osarobo wusste etwas von Richards Annäherung. Einzelne bringt er zum Reise. Als Leser hält man den Atem an, Sprechen (jemanden zum Sprechen d.h. ich hielt den Atem an angesichts bringen, das ist doch ihm wie zu einer der Möglichkeit, dass er‘s gewesen sein Musikalisch umrahmt wurde der Lite- Erpenbeck Lieder aus dem Zyklus zweiten Geburt verhelfen), nimmt ihre könnte. Woher kommt diese Furcht? raturabend durch Stefan Laux (li.) am „Winterreise“ von Franz Schubert im Geschichten auf Tonband auf, setzt sich Nicht weil man fürchtet, dass durch Flügel und dem Bariton Johannes Repertoire hatten. nach Kräften für ihre Sache ein. Als ein eine solche Tat dem Engagement des Mooser, die auf Wunsch von Jenny partieller Doppelgänger der Erzählerin Professors ein Rückschlag versetzt wür- könnte dieser Richard den Appell an de. Es geht um den Jungen. Er ist einem den Innensenator formuliert, auch eine durch die Vergegenwärtigungskunst der Reportage seiner Eindrücke und Erkun- Autorin so nahe gekommen, ich möchte dungen verfasst haben, nicht aber den fast sagen: ans Herz gewachsen, dass Roman, als dessen Protagonist er figu- der Verdacht eines solchen Vertrauens- ne DDR-Schriftstellerin ihr Staatsbe- gestellt vom Berliner Senat und jedem riert. Da liegt der gravierende Unter- bruchs sich einfach nicht bestätigen gräbnis erster Klasse bekommt. Flüchtling um den Hals gehängt – zum schied zur Autorin. Moralisches Enga- darf. Schließlich bleibt keine Alternati- Die Todesarten – Säuglingstod, Suizid Abschied, zum Abschieb. gement genügt beim besten Willen noch ve. Ach ja, natürlich war er der Einbre- aus enttäuschter Liebe, Teil eines Mas- Den zentralen Inhalt des Romans: lange nicht zur Herstellung eines Kunst- cher, auch wenn es gnädigerweise offen sensterbens im Straflager, ein Treppen- die Geschichte der Flüchtlingsgruppe – werks; es ist eine unter Umständen not- bleibt. sturz – sind alle bemerkenswert banal, Geschichte im zweifachen Sinn als Dar- wendige, aber keineswegs hinreichende Um so dankbarer lässt man sich in wie fast jeder Tod in unserer Zeit ent- stellung einer nach Ausdruck schreien- Voraussetzung. Erst der Dichter ver- den Märchenschluss des Buches mit- setzlich banal ist. Zur Banalität des To- den Situation und als Aufhellung der wandelt den Einzelnen aus einer bere- nehmen, der 147 der nach langem Hin des gehört seine Zufälligkeit: Er könnte Vergangenheit, aus der sie entstand – chenbaren Summe von Daten in einen und Her Abgeschobenen mit Schlafplät- ebenso gut nicht sein. Schon eine Hand- konnte man schon ein Jahr vor dem Er- lebendigen Menschen, der in keiner ad- zen in Richards Bibliothek, Musikzim- voll Schnee hätte genügt, hat genügt, scheinen des Buches in Kurzform ken- ministrativen Rechnung aufgeht. Nur mer, Wohnzimmer, Küche, im Biotop das acht Monate alte Baby ins Leben nenlernen. Am 6. September 2014 ver- durch die Kunst der Erzählung, die von Freunden und Bekannten versorgt. zurückzuholen. Der Wille zum Selbst- öffentlichte Jenny Erpenbeck in der Kunst einer Jenny Erpenbeck wird den Mit Karon, Yaya, Khalil, Raschid und mord kann im letzten Augenblick erlah- F.A.Z. einen scharfen Appell an den nordafrikanischen schwarzen Männern, Rufu sitzt man in festlicher Stimmung men. Der Name einer zum Tod Verur- Berliner Innensenator Frank Henkel, die aus Libyen vertrieben wurden, das rings um das Feuer vor dem Haus des teilten gerät aus Versehen auf eine an- dem sie vorwarf, bei den Verhandlun- zuteil, was sie am dringendsten wün- Wohltäters, das wie das Haus in der dere Liste. Der Sturz von der Treppe gen mit den auf dem Oranienplatz cam- schen: to become visible. „Heimsuchung“ an einem See liegt, und verläuft gnädig, oder man ist gar nicht pierenden 550 Flüchtlingen aus Libyen Ich greife ein einziges Beispiel her- feiert die Utopie eines humanen Welt- ausgerutscht. Das Stirb und Werde im dem Einigungspapier durch das Fehlen aus. Der achtzehnjährige Osarobo, der Augenblicks. „ zwanzigsten Jahrhundert ist das herun- seiner Unterschrift die juristische Gül- tergekommene, verhunzte Goethesche tigkeit vorenthalten zu haben. Die des frühen neunzehnten, dessen fernes Flüchtlinge waren also um die ihnen zu- Echo indirekt anklingt („Und solang du gesagte Duldung betrogen worden. Ein das nicht hast,/Dieses: Stirb und wer- sehr konkreter politischer Vorgang, der de!/Bist du nur ein trüber Gast/Auf der jeden sogenannten mündigen Bürger dunklen Erde“). Und das noch fernere zur Empörung, zur Einmischung, zum „Lebt wohl!“ des Thoas am Schluss der Engagement auffordert. „Iphigenie“ wird in Jenny Erpenbecks Wie wird daraus Literatur? Gewiss Roman unmittelbar hörbar: In all dem nicht dadurch, dass der Autor, die Auto- jüdischen Hausrat, den die Großmutter rin durch literarische Mittel der persön- der Hauptfigur bei ihrer Flucht aus Ga- lichen Stellungnahme mehr Nachdruck lizien nach Wien mitschleppt und dann zu verleihen sucht und eine Entschei- bei ihrer Deportation aus Wien in ein dung im Sinn der eigenen moralischen Nazi-Vernichtungslager nicht mehr mit- Überzeugung herbeiführen will. Und schleppen kann, befindet sich eine andererseits schon gar nicht mit Hilfe zwanzigbändige in Leder gebundene des entgegengesetzten Verfahrens: Eine Goethe-Ausgabe. bestimmte erschütternde Erfahrung In den dunkelsten Punkt unserer Ge- dient als Anlass, ein brandaktuelles genwart trifft der Titel des jüngsten, im Thema gewissermaßen an Land – ans vergangenen Herbst veröffentlichten Land der eigenen Schriftstellerei – zu Romans: „Gehen, ging, gegangen“. Er ziehen und damit, wie es in einer Re- verknüpft den Deutschunterricht, der zension des Buches hieß, „aufs saisona- den von keiner Willkommenskultur be- le Debattenkarussell aufzuspringen“ – grüßten, nur geduldeten und bald nicht und zwar so rasch als möglich, damit in mehr geduldeten illegalen afrikanischen dem von Rivalität stigmatisierten litera- Migranten zugestanden wird – die Kon- rischen Leben dem eigenen Unterneh- jugation der unregelmäßigen deutschen men kein anderer zuvorkomme. Dieser Verben will gelernt sein –, mit der jeder- Vorwurf ging schon deshalb ins Leere, zeit drohenden, schließlich rigoros weil der Vorgang, der dem Buch zu- durchgesetzten Abschiebung (ein Wort, grunde liegt, in eine Zeit fällt, in der das das im Wortschatz des barbarischen Flüchtlingsproblem noch keineswegs Königs der Taurier nicht vorkommt, die Ausmaße seiner seit dem letzten gar nicht denkbar ist). „Gehen, ging, ge- Herbst uns nur zu vertrauten Aktualität Am Ende des Abends nahm sich Jenny gangen“ könnte die Inschrift einer Me- erreicht hatte. Und wer Jenny Erpen- Erpenbeck noch Zeit, Bücher für ihre daille bilden, deren beide Seiten zu- becks Bücher kennt, nicht nur die drei Leser zu signieren. gleich das Versprechen und die Verwei- erwähnten Romane, sondern auch ihre gerung der Integration verbürgen, aus- anderen Bücher: „Die Geschichte vom

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