Michael Wildt

Generation des Unbedingten

Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes

Hamburger Edition Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH Mittelweg 36 20148 Hamburg www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2013 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-573-9 E-Book Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde

© der durchgesehenen und aktualisierten Neuausgabe 2003 by Hamburger Edition ISBN 3-930908-87-5

Redaktion: Ingke Brodersen Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras Herstellung: Jan Enns Satz: Stempel-Garamond von Utesch GmbH, Hamburg Für Leni Yahil Inhalt

Einleitung 7 Täterbilder 15 Generation, Institution, Krieg 23 Quellen und Forschung 29

I. Weltanschauung 1. Kriegserfahrungen 41 Frontgeneration 41 »Heimatfront« 46 Krieg als Spiel 49 Freikorps und Jugendbünde 53 Separatisten und Nationalisten 60 Gewinner und Verlierer 63 Die jungen Radikalen 67 2. Studentische Lehrjahre 72 Bildungschancen in der Weimarer Republik 72 Rechter Radikalismus 81 Revolutionäre Militanz. Der Fall Tübingen 89 Die »Schwarze Hand« in 104 »Voller Einsatz, höchste Intensität«. Die Miltenberger Tagung 115 Auseinandersetzung mit dem NSDStB 125 »Unbedingter Wille zur Tat« 128 Weltanschauungselite 137 3. Das Jahr 1933 143 Annäherungen. Heinz Gräfe und das NS-Regime 152 Karrieren. Wege zum SD und zur Gestapo 163 »Kompromisslos und vorwärtsdrängend« – Erich Ehrlinger 167 »Scharfe Logik und zu allem zu gebrauchen« – Martin Sandberger 170 Der Germanist als Zensor – Wilhelm Spengler 174 Der Rassereferent – Hans Ehlich 176 Europaweit einzusetzen – Walter Blume 180 Der Hoffnungsträger – Hans Nockemann 185 Die Ehefrauen 190 Heydrichs »kämpfende Verwaltung« 203 II. Institution 4. Planung und Konzeption des Reichssicherheitshauptamtes 209 Staat und Volk 210 Politische Polizei 214 Vom »Staatsfeind« zum »Volksfeind« 230 des Reichsführers SS (SD) 239 Verschmelzung von SS und Polizei 251 »Erhalt kämpferischer Linie«. Konzeptionelle Auseinandersetzungen 259 Bildung des Reichssicherheitshauptamtes 276 5. Struktur und Akteure 283 Verwaltung (Ämter I und II) 285 Kriminalpolizei (Amt V) 301 Der Fall Arthur Nebe 301 Soziogramm einer Kriminalelite 310 Rassenbiologische Verbrechensbekämpfung 314 Labor der Vernichtung: Das Kriminaltechnische Institut 321 Gestapo (Amt IV) 335 Verfolgung der politischen Gegner (IV A) 336 Schutzhaft und Abwehr (IV C und IV E) 345 Besetzte Gebiete (IV D) 352 Verfolgung der Kirchen und Juden (IV B) 358 Weltanschauliche Gegnerforschung (Amt VII) 364 SD-Inland (Amt III) 378 SD-Ausland (Amt VI) 391 Eine Institution neuen Typs 410

III. Krieg 6. Polen 1939. Die Erfahrung rassistischen Massenmords 419 Kriegsvorbereitungen 421 Der Überfall 428 »Bromberger Blutsonntag« 432 »Sonderauftrag Himmler« 447 Vertreibung von Polen und Juden 455 »Germanisierung« der westpolnischen Gebiete 473 Die Entstehung des RSHA aus der Praxis rassistischen Massenmords 480 7. Verfolgung, Vertreibung, Vernichtung 1940/41 486 Deportationen ins Generalgouvernement 488 Madagaskar-Plan 499 Einsatz in Westeuropa 1940 506 Norwegen 508 Niederlande 511 Frankreich 514 Belgien 522 Elsaß-Lothringen 524 Neue Horizonte 531 Einsatzgruppen in der Sowjetunion 538 Führungspersonal 546 Auftrag 553 Erwin Schulz und das Einsatzkommando 5 561 Martin Sandberger, KdS Estland 578 Erich Ehrlinger, BdS Kiew 591 Entgrenzung 601 8. Zenit und Zerfall 607 Ermächtigung zur »Endlösung« 607 Tschechien 617 Frankreich 622 Wannsee-Konferenz 627 Grenzen 637 Auseinandersetzung um die »Mischlinge« 638 Zwangsarbeiter 642 Konflikte mit dem Auswärtigen Amt 646 Ostpolitik 654 Nationalistische Unabhängigkeitsbestrebungen 655 663 »Unternehmen Zeppelin« 671 Heydrichs Nachfolger 679 Das RSHA unter Himmler 681 Entscheidung für Kaltenbrunner 693 Das RSHA im letzten Kriegsjahr 697 Fragmentierung 698 Übernahme des OKW-Amtes Ausland/Abwehr 702 20. Juli 1944 706 Deportationen in Ungarn und der Slowakei 1944 712 Kontakte zu den Alliierten 718 Auflösung 725

IV. Epilog 9. Rückkehr in die Zivilgesellschaft 731 Wandlungszonen 731 Regierung Dönitz 732 Unter falschen Namen 737 Nürnberger Prozesse 746 Gestapo und SD als verbrecherische Organisationen 750 Einsatzgruppen-Prozeß 755 Gnadengesuche 762 Nachkriegskarrieren 767 Erwin Schulz oder das kurze Gedächtnis der Bremer Sozialdemokratie 779 Martin Sandberger oder die ehrbaren Bande württembergischer Familien 785 Karl Schulz oder der Wiederaufstieg eines Kriminalpolizisten 790 Hans Rößner oder die Taubheit deutschen Geistes 797 Strafverfolgung 814 RSHA-Verfahren 823 Integration und Ignoranz. Die RSHA-Führung in der Bundesrepublik 838 Schluß 846 Generation 847 Weltanschauung 850 Institution 855 Praxis 861 Nachkrieg 868 Abkürzungen 872 Quellen 875 Literatur 878 Quelleneditionen, Dokumentationen, Tagebücher 878 Zeitgenössische Literatur (bis 1949) 881 Darstellungen 884 Biographischer Anhang 933 Dank 950 Zum Autor 951 Einleitung

Am 3. Januar 1946, während des Nürnberger Prozesses gegen die Haupt- kriegsverbrecher, schockierte der Zeuge und spätere Angeklagte Otto Ohlendorf durch sein freimütiges Bekenntnis, er habe als Leiter der Ein- satzgruppe D 1941/42 die Ermordung von 90 000 Menschen in der Sowjet- union zu verantworten. Der amerikanische Chefankläger Telford Taylor, der Ohlendorf als einen zierlichen, gutaussehenden jungen Mann schil- derte, der leise, mit großer Genauigkeit und offenkundiger Intelligenz sprach, erinnerte sich fünfzig Jahre später noch sehr gut an das lähmende Schweigen im Zuschauerraum, das der kalten und unbeteiligten Aussage Ohlendorfs folgte.1 Otto Ohlendorf, 1907 nahe Hannover als Sohn eines Landwirts gebo- ren, trat 1925 noch als Gymnasiast in die SA ein, von der man ihn zwei Jahre später zur SS mit der Mitgliedsnummer 880 überstellte. Er studierte Rechts- und Staatswissenschaften in Leipzig und Göttingen, ging 1931 als vielversprechender Stipendiat nach Italien an die Universität Pavia und folgte 1934 seinem akademischen Lehrer, dem Nationalökonom Jens Peter Jessen, nach , wo er Abteilungsleiter am Institut für angewandte Wirtschaftswissenschaften wurde. Von dort wechselte er in den Sicher- heitsdienst des Reichsführers SS (SD) und stieg zum Chef des Amtes III (SD-Inland) des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) auf. Ebenfalls wurde er Geschäftsführer der Reichsgruppe Handel und avancierte 1943 im Reichswirtschaftsministerium zum stellvertretenden Staatssekretär.2 In dem Versuch, eine Erklärung für den Täter Otto Ohlendorf zu finden, nahm der amerikanische Richter in der Begründung des Todesurteils am 10. April 1948 mehr oder weniger ratlos zu einer literarischen Metapher Zuflucht: Er verglich den RSHA-Täter Ohlendorf mit Robert Louis Stevensons Figur Dr. Jekyll und Mr. Hyde, jenem Mann, der sich in der Nacht aus einem angesehenen, fürsorglichen Arzt in eine mörderische

1 Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 17, 295. 2 Zu Otto Ohlendorf vgl. die kurzen Porträts: Sawade, Ohlendorf; Kitterman, Ohlen- dorf; sowie die Dissertation von Stollhof, SS-Gruppenführer. Zu Ohlendorfs wirt- schaftspolitischem Engagement: Herbst, Der Totale Krieg, passim; zu Ohlendorf als Chef der Einsatzgruppe D: Angrick, Einsatzgruppe D, 1999.

11 Bestie verwandelte3 – und schrieb damit den seither immer wieder kolportierten, aber wenig taugli- chen Erklärungsversuch einer ge- spaltenen Täterpersönlichkeit fest, deren Teile voneinander unabhän- gig existierten.4 Das Reichssicherheitshauptamt, am 27. September 1939 aus Gehei- mer Staatspolizei, Kriminalpolizei und dem SD, also aus staatlichen Institutionen wie Parteiorganisa- tionen, geschaffen, scheint in der Perspektive herkömmlicher Ver- waltungstheorie eine eher unein- deutige, fast improvisierte Institu- Otto Ohlendorf, Chef des RSHA-Amtes tion darzustellen, was manche III SD-Inland und der Einsatzgruppe D Historiker dazu verleitet hat, das (Bundesarchiv, BDC, RuSHA-Akte Otto RSHA für eine bloße »Sammelbe- Ohlendorf) zeichnung« oder »organisatorische Klammer« (Johannes Tuchel)5 zu halten oder zumindest als »schwachen Kompromiß« (Gerhard Paul) zu charakterisieren.6 Der US-Ankläger, Oberst Robert G. Storey, bezeichnete

3 Urteil des Internationalen Militärgerichtshofes gegen Otto Ohlendorf et al. (Fall 9), Official Record, S. 7009 f. (roll 21, fol. 238 f.). 4 Vgl. vor allem Lifton, der dieses Modell der gespaltenen Persönlichkeit auf die KZ- Ärzte angewandt hat (Lifton, Ärzte, insbesondere S. 491–559; eine anregende Kritik dieses Modells findet sich bei Kaminer, Normalität). 5 Tuchel, Gestapa und Reichssicherheitshauptamt, S. 97; ders./Schattenfroh, Zentrale des Terrors, S. 104. 6 Paul, Verwaltung, S. 43. Paul greift damit einen Begriff auf, den Heinz Höhne bereits für das RSHA verwandt hat (Höhne, Orden, S. 237). Martin Broszat urteilte diffe- renzierter, daß zwar die Eigenständigkeit der beteiligten Behörden oder Parteiämter nicht ausgelöscht wurde, aber die Bildung des RSHA »den Prozeß der institutionel- len Verschmelzung unter Leitung des ›Chefs der Sicherheitspolizei und des SD‹ (Heydrich) und die SS-mäßige Ausrichtung auch der Kriminalpolizei« verstärkt habe (Broszat, Staat Hitlers, S. 344). Während für Karl Dietrich Bracher das RSHA

12 das RSHA im Nürnberger Prozeß gar als »Verwaltungsbüro« mehrerer als verbrecherisch angeklagter Organisationen.7 Doch erschließt sich die poli- tische Funktion des RSHA in diesen Umschreibungen nicht. Das RSHA stellte keine Polizeibehörde im preußisch-administrativen Sinn dar, son- dern muß als eine spezifisch nationalsozialistische Institution neuen Typs gesehen werden, die unmittelbar mit der nationalsozialistischen Vorstel- lung der »Volksgemeinschaft« und ihrer staatlichen Organisation verbun- den war. Das Reichssicherheitshauptamt bildete demnach den konzeptio- nellen wie exekutiven Kern einer weltanschaulich orientierten Polizei, die ihre Aufgaben politisch verstand, ausgerichtet auf rassische »Reinhaltung« des »Volkskörpers« sowie die Abwehr oder Vernichtung der völkisch defi- nierten Gegner, losgelöst von normenstaatlichen Beschränkungen, in ihren Maßnahmen allein der im »Führerwillen« zum Ausdruck kommenden Weltanschauung verpflichtet. Reinhard Heydrich, bis zu seinem Tod im Juni 1942 Chef des RSHA, setzte sich konzeptionell von der »liberalistischen« Vergangenheit ab, in der vom Staat aus gedacht und der Gegner entsprechend als »Staatsfeind« bekämpft worden sei. Der Nationalsozialismus hingegen, so Heydrich, »geht nicht mehr vom Staate, sondern vom Volke aus. […] Dementspre- chend kennen wir Nationalsozialisten nur den Volksfeind. Er ist immer derselbe, er bleibt sich ewig gleich. Es ist der Gegner der rassischen, volklichen und geistigen Substanz unseres Volkes«,8 unter denen Heyd- rich selbstverständlich in erster Linie die Juden verstand. Werner Best, Heydrichs Stellvertreter bis Mitte 1940, verglich eine solcherart umris- sene nationalsozialistische Polizei mit einem Arzt, »als eine Einrichtung, die den politischen Gesundheitszustand des deutschen Volkskörpers

7 das »zentrale Organ des SS-Staates« war, das sich im Krieg gewaltig erweiterte (Bra- cher, Diktatur, S. 384), bildete es in den Augen Hans Buchheims »nicht so sehr den Anfang als vielmehr den Abschluß einer Entwicklung«, da die Sicherheitspolizei schon »entstaatlicht« war und der SD in einer Nebenrolle blieb (Buchheim, SS, S. 67). 7 Erhebung der Anklage gegen die Geheime Staatspolizei, 20. 12. 1945, Der Prozeß ge- gen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Nürn- berg 1947, Bd. 4, S. 262. 8 Reinhard Heydrich, »Die Bekämpfung der Staatsfeinde«, in: Deutsches Recht, 6. Jg. 1936, Heft 7/8, 15. April 1936, S. 121–123, hier: S. 121.

13 sorgfältig überwacht, jedes Krankheitssymptom rechtzeitig erkennt und die Zerstörungskeime […] feststellt und mit jedem geeigneten Mittel be- seitigt«.9 Diese Biologisierung des Sozialen findet sich gleichermaßen bei der Kri- minalpolizei. Kriminelle galten als genetisch minderwertig, von schlechter Erbanlage oder »minderen Blutes«. Aus der »professionellen Kriminali- tät« wurden »kriminelle Anlagen«, die, erbbiologisch einmal festgestellt, nicht mehr zu bessern waren, sondern »ausgesondert« und »ausgemerzt« werden sollten. Arthur Nebe, Chef des Reichskriminalpolizeiamtes, zu- gleich Amt V des RSHA, betonte, daß es auf dem Gebiet der Kriminalpo- lizei »nicht allein um die Vernichtung des Verbrechertums, sondern gleich- zeitig auch um die Reinhaltung der deutschen Rasse« gehe.10 Der Besonderheit der Institution entsprach die ihrer Akteure. Von den Führungsangehörigen des RSHA wurde mehr verlangt als nur die bloße Ausführung von Befehlen. Sie hatten selbst die Konzeptionen zu entwer- fen, die Praxis zu bestimmen, mit denen der weltanschauliche »Siche- rungsauftrag« verwirklicht werden konnte. An diesem zentralen Ort der Verfolgungs- und Vernichtungspolitik des NS-Regimes brauchte es keine subalternen Beamten, sondern engagierte politische Männer wie Otto Ohlendorf, der als Amtschef des RSHA wie Chef der Einsatzgruppe D ebenjene beiden Seiten vereinigte, die der US-Richter Musmanno nur als getrennte, ja gegensätzliche wahrnehmen konnte, Reinhard Heydrich und Werner Best hingegen als zusammengehörig begriffen. Wer den »Volks- körper« pflegen und »gesund erhalten« wollte, durfte sich nicht scheuen, alle »Zerstörungskeime« mit »jedem geeigneten Mittel zu beseitigen«. Diese Täter lassen sich nicht in ein gängiges Verbrecherbild einordnen. Sie waren keineswegs sadistische oder gar psychopathische Massenmör- der, sondern offenkundig weltanschaulich überzeugt von dem, was sie taten. Sie stammten nicht vom Rand als vielmehr aus der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft, hatten eine akademische Ausbildung hinter sich, etliche führten sogar einen Doktortitel. Vielleicht war deshalb die frühe, öffentliche Konfrontation mit diesen zentralen Tätern des nationalsozia-

9 Zitiert nach Herbert, Best, S. 164. 10 Arthur Nebe, »Aufbau der deutschen Kriminalpolizei«, in: Kriminalistik, 12. Jg. 1938, Heft 1, S. 4–8, Zitat: S. 4 f. Vgl. dazu umfassend Wagner, Volksgemeinschaft.

14 listischen Völkermords für die Zeitgenossen so verstörend und, wenn man das von Telford Taylor beschriebene Schweigen in diesem Sinn deutet, so lähmend, daß der Tätertypus, den Otto Ohlendorf verkörperte, rasch wieder verblaßte. Ohlendorf und mit ihm auch die übrigen wegen hun- dert- und tausendfachen Mordes Verurteilten des Nürnberger Einsatz- gruppen-Prozesses (Fall 9) verwandelten sich im Laufe der Kriegsverbre- cherdiskussion im Westdeutschland der fünfziger Jahre gewissermaßen in »Kriegsgefangene«, die aus alliierter Haft zu »befreien« selbst Theodor Heuss oder Carlo Schmid kein Engagement scheuten.11 Stimmiger schie- nen andere Täterbilder zu sein: NS-Täter als sozial Deklassierte, als Büro- kraten und Schreibtischtäter, als ideologiefreie Technokraten oder ratio- nale Sozialingenieure, als »ordinary men« oder »ganz normale« Täter.

Täterbilder

Als Ohlendorf, Sandberger, Schulz, Steimle, Blume und andere Angehö- rige des RSHA als Einsatzkommandoführer vor Gericht standen, zeichne- te der ehemalige Buchenwald-Häftling Eugen Kogon in seinem Buch über den »SS-Staat« ein ganz anderes Soziogramm der Täter: »Die Mannschaft des Apparates bestand erneut aus Menschen, die im normalen Polizei- dienst nicht vorwärtsgekommen waren, und aus einer Fülle frisch herein- genommener verkrachter Existenzen, meist ohne jede charakterliche oder fachliche Vorbildung. […] Die Gestapo entsprach sonach in ihrer ganzen Art vorzüglich der Lager-SS: die Mitglieder beider Einrichtungen waren sozial deklassierte Primitive, die man wirklich zu nichts anderem gebrau- chen konnte.« Auch die »Intellektuellen« in den Reihen der SS waren laut Kogon vorwiegend Studienabbrecher gewesen, darunter »übrigens auch unverhältnismäßig viele entgleiste Volksschullehrer«, die ihre Mißerfolge durch Überheblichkeit abreagierten.12

11 Vgl. Frei, Vergangenheitspolitik; Brochhagen, Nach Nürnberg; siehe auch unten Kapitel 9. 12 Kogon, SS-Staat, S. 290, 291. Auch Karl Otto Paetel, ein Zeitgenosse des NS-Staa- tes, aus der nationalbolschewistischen Bewegung stammend, schrieb 1954 über den SS-Mann, er sei der »sozial entwurzelte, rastlose, mit der eigenen Herkunft und

15 Mögen Kogons persönliche Erfahrungen mit der »Konzentrationsla- ger-SS« zweifelsohne zutreffen,13 das Führungspersonal des Reichssicher- heitshauptamtes wurde mit solchen Charakterisierungen weit verfehlt. Zugleich aber war mit Kogons Täterprofil ein Ton angeschlagen worden, der sich auch in der frühen, verdienstvollen Studie zum Mord an den eu- ropäischen Juden von Gerald Reitlinger wiederfindet. Er charakterisierte das Personal der Einsatzgruppen als einen »seltsam zusammengewürfel- ten Haufen von Halbintellektuellen«, als eine »verlorene Legion arbeits- loser Intellektueller«, die es »im normalen Leben zu nichts gebracht« hät- ten.14 In den Landserromanen und Illustrierten der fünfziger Jahre, die voll von Gruselgeschichten über den verschollenen Martin Bormann oder Josef Mengele waren, traten die NS-Täter in einer dämonischen Verklei- dung auf, die sie als Teufel in Menschengestalt eben dem Menschlichen entrückten.15 Erst der Eichmann-Prozeß in Jerusalem 1961 entzauberte dieses faszi- nierend dämonische Bild, da auf den Fernsehmonitoren einer der wichti- gen Täter der Shoah erschien und sich als ganz und gar undämonisch ent- puppte. Daß dieser beflissene, unterwürfige und unscheinbare Mann im Jerusalemer Gerichtssaal tatsächlich der gefürchtete Adolf Eichmann ge- wesen sein sollte, war kaum zu glauben.16 Hannah Arendts ungemein nachwirkendes Diktum von der »Banalität des Bösen« entsprach so sehr allem Anschein – und doch traf es mehr den Angeklagten als den Täter Eichmann, dessen rastloses Engagement zwischen 1935 und 1945 ihn als

13 jeder Sozialordnung zerfallene Landsknecht jeder Klasse, dem Bildung und Her- kommen nichts, dem aber auch oft genug Ideen nur ›Vorwände der Bestimmung‹ waren« (Paetel, SS, S. 30). 13 Vgl. dazu die gründliche Studie von Orth, Konzentrationslager-SS, die damit die äl- tere, in vielem unbefriedigende Untersuchung von Tom Segev ablöst (Segev, Solda- ten des Bösen). 14 Reitlinger, Endlösung, S. 208, 215 f. 15 Vgl. Schornstheimer, Bombenstimmung. 16 Aus der Fülle der zeitgenössischen Reportagen und Artikel zum Eichmann-Prozeß vgl. Nellessen, Der Prozeß von Jerusalem; Mulisch, Strafsache 40/61. Es bleibt ein bemerkenswerter Umstand, daß trotz der Vielzahl an Dokumenten, Zeugenaussa- gen und Einlassungen Eichmanns bis heute Hannah Arendts Buch der einzige bio- graphische Versuch zu Eichmann geblieben ist (Arendt, Eichmann); vgl. jetzt aber Wojak, Eichmanns Memoiren.

16 eifrigen, von seiner Sache überzeugten Judenreferenten und Deporta- tionsexperten zeigt.17 Doch war seit Hannah Arendts spektakulärem Buch das dämonische, entrückte Bild von NS-Tätern endgültig zerstoben. Zeitgleich erschien Raul Hilbergs bahnbrechende Studie, in der er – ausgehend von der Gesellschaftstheorie seines akademischen Lehrers Franz Neumann – die Vernichtung der europäischen Juden als bürokratischen Prozeß analy- sierte:

»Rückblickend mag es möglich sein, das gesamte Geschehen als Mosaik aus kleinsten Einzelteilen zu sehen, die für sich betrachtet gewöhnlich und nichtssagend sind. Doch diese Abfolge alltäglicher Erledigungen, diese aus Gewohnheit, Routine und Tradition diktierten Aktenvermerke, Denkschriften und Fernschreiben mündeten in einen gewaltigen Vernichtungsprozeß. Gewöhnliche Menschen sahen sich unversehens vor außerordentliche Aufgaben gestellt. Eine Phalanx von Funktionären in öffentlichen Ämtern und privaten Unternehmen wuchs über sich hinaus. […] So unterschied sich die Vernichtungsmaschinerie nicht grundlegend vom deutschen Gesellschafts- gefüge insgesamt; der Unterschied war lediglich ein funktioneller. Die Vernichtungs- maschine war in der Tat nichts anderes als eine besondere Rolle der organisierten Gesellschaft.«18 Zygmunt Bauman spitzte diesen theoretischen Ansatz in seinen kritischen soziologischen Überlegungen zur Ambivalenz der Moderne noch weiter zu, indem er den Holocaust als eine extreme Entwicklungsmöglichkeit der Moderne kennzeichnete, die zwar nicht zwangsläufig sei, aber nur von ihr hervorgebracht werden könne.

»Der Holocaust entsprang genuin rationalistischen Überlegungen und wurde von ei- ner Bürokratie in Reinkultur produziert. […] Der Holocaust ist ein legitimer Bewoh- ner im Haus der Moderne, er könnte in der Tat in keinem anderen zu Hause sein.«19

17 Zu Eichmanns zielstrebigen Aktivitäten siehe Safrian, Eichmann-Männer; Lozo- wick, Hitlers Bürokraten; Wildt, Judenpolitik. 18 Hilberg, Vernichtung, S. 1061 f. Die amerikanische Originalausgabe erschien 1961, und es sollte mehr als zwanzig Jahre dauern, bis die deutsche Übersetzung 1982 in einem kleinen Berliner Verlag herauskam (zum schwierigen Weg, einen deutschen Verleger zu finden, siehe Hilberg, Erinnerung, S. 147–151; zum Einfluß Franz Neu- manns und Hans Rosenbergs auf den theoretischen Ansatz Hilbergs vgl. ebenda, S. 50–58; Hilberg/Söllner, Schweigen). 19 Bauman, Dialektik, S. 31.

17 Hilbergs Studie machte den Weg frei für eine Gesellschaftsgeschichte der Shoah, in der die Täterschaft weder einem einzelnen – etwa Hitler – noch einer kleinen Gruppe in NSDAP und SS, sondern allen Institutionen der deutschen Gesellschaft zugerechnet wurde. Der Anteil der Bürokratie am Massenmord ließ ebendiese Bürokratie zum vorrangigen Gegenstand der Analyse werden. Die als Gutachten zum Frankfurter Auschwitz- Prozeß 1963/64 entstandenen Beiträge von Martin Broszat, Hans Buch- heim, Hans-Adolf Jacobsen und Helmut Krausnick, die in Anspielung an Kogons Buch unter dem Titel »Anatomie des SS-Staates« veröffent- licht wurden,20 haben die Struktur des Vernichtungsapparates ebenso nüchtern untersucht wie Broszats Untersuchung über den Staat Hitlers oder Hans G. Adlers umfassende Analyse der Deportation der Juden aus Deutschland, die den bezeichnenden Titel »Der verwaltete Mensch« trug.21 Der Bürokrat, der in jeder gesellschaftlichen Institution anzutreffen war, der vom Schreibtisch aus per Erlaß den Mord organisierte, wurde zu einem zentralen Tätertypus. Nur auf seinen Teil des Arbeitsablaufes be- schränkt, darauf zugeschnittene Verwaltungsaufträge entgegennehmend und diese korrekt und gewissenhaft ausführend, ohne sich für das Ganze verantwortlich zu fühlen, kurz: sich selbst nur als ein kleines Rädchen in einem großen, nicht zu beeinflussenden Getriebe begreifend – dieses Bild entsprach nicht nur den Rechtfertigungen zahlreicher Täter, sondern auch der Alltagserfahrung in einer modernen, bürokratisierten, arbeits- teiligen Gesellschaft. Der Massenmord wurde als fabrikmäßiges, indu- strielles Töten betrachtet; der Bürokrat geriet zum »unsentimentalen Technokraten der Macht« (Hans-Ulrich Thamer), zum Techniker des Todes, der kalt und unbeteiligt seinen Teil der großen Vernichtungsma- schine instand hält und optimiert, ohne einen Gedanken an den mörde-

20 Buchheim/Broszat/Jacobsen/Krausnick, Anatomie des SS-Staates. Zum Ausch- witz-Prozeß vgl. Langbein, Auschwitz-Prozeß; Werle/Wandres, Auschwitz vor Gericht; Frei, Auschwitz-Prozeß; sowie das Jahrbuch 2001 des Frankfurter Fritz- Bauer-Instituts. 21 Broszat, Staat Hitlers; Hans G. Adler, Der verwaltete Mensch. Studien zur Depor- tation der Juden aus Deutschland, Tübingen 1974. Zur deutschen Historiographie des Holocaust vgl. jetzt Herbert, Vernichtungspolitik.

18 rischen Sinn des Ganzen zu verlieren, geschweige denn moralische Skru- pel zu entwickeln. Ein Täter wie Albert Speer, dessen 1969 veröffentlichte »Erinnerungen« für die deutsche Diskussion über den Nationalsozialismus kaum unter- schätzt werden können, zeichnete von sich selbst das Bild eines an Sach- problemen orientierten Managers, der in steter Auseinandersetzung mit den »Ideologen« der SS an der Optimierung von politischen und wirt- schaftlichen Prozessen interessiert war.22 Ähnlich charakterisierte Chri- stopher Browning die für die europäische »Endlösung der Judenfrage« wichtige Figur im Auswärtigen Amt, den Leiter der Deutschland-Abtei- lung Martin Luther, als »unconventional, hard-headed ›type of modern manager‹« und »amoral technician of power«.23 Noch weiter gehen die Annahmen von Robert Koehl und Harald Welzer, die die SS-Täter als »Sozialingenieure« klassifiziert haben. In dem Bemühen, die soziale Bin- nenlogik der Täter zu erhellen, gerät der Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß nach Welzer gar zum »Prototyp eines ›social engineers‹«, der »indu- strielle und bürokratische Funktionsabläufe mit wissenschaftlich fundier- ter und geschmeidig angepaßter Menschenbehandlung zu kombinieren versuchte«.24 Zweifelsohne hat die Maschinenmetapher, die den Massenmord als ei- nen vor allem technischen, reibungslosen, von handelnden Akteuren na- hezu unabhängigen Vorgang darstellte, den Vergleich von NS-Tätern mit Technikern oder Ingenieuren in starkem Maße beeinflußt.25 Dagegen ha-

22 Speer, Erinnerungen; vgl. auch ders., Sklavenstaat. 23 Browning, Final Solution, S. 27 f. 24 Koehl, Toward an SS Typology; Welzer, Härte und Rollendistanz, Zitat: S. 367 (zu den verschiedenen psychologischen Ansätzen, Täter zu erklären, siehe den Über- blicksartikel von Blass, Psychological Perspectives). Historisch gesicherte Informa- tionen zu Rudolf Höß finden sich in Martin Broszats Einleitung zu den von ihm herausgegebenen Aufzeichnungen von Höß sowie bei Orth, Konzentrationslager- SS, S. 105–115, 146–150, 176–181. 25 Zur Kritik an der Vorstellung des »maschinellen« Tötens vgl. Herbert, Vernich- tungspolitik, S. 57; Lüdtke, Fiktion. Der 1953 publizierte Bericht von Kurt Ger- stein über die Technik der »Vergasung« in Belzec schilderte bereits die Qualen der Opfer, die fast drei Stunden zusammengepreßt in der Gaskammer eingepfercht waren, weil der Dieselmotor, der die Abgase in die Kammer leiten sollte, nicht an- sprang (Augenzeugenbericht zu den Massenvergasungen).

19 ben die jüngeren, empirisch ausgerichteten Regionalstudien über die be- setzten Gebiete in Osteuropa und der Sowjetunion wieder in Erinnerung gerufen, daß die Vernichtung der Juden keineswegs »maschinell« oder »industriell« vonstatten ging, als vielmehr unter brutalen, grausamen Um- ständen.26 Das Bild des NS-Täters als Techniker des Todes wird durch diese Forschungen erheblich relativiert. Allerdings bleibt der Gedanke Jeffrey Herffs fruchtbar, den Techniker als Ideologen zu verstehen und das dem Ingenieur eigene Element des Konstruierens und der technischen Vision in den Mittelpunkt der Analyse zu rücken. Im Gegensatz zur Re- duktion des Technikers auf bloße Technik öffnet Herff damit den Blick auf das Engagement und den utopischen Ehrgeiz von Ingenieuren, neue, bessere Welten zu entwerfen, die sich oftmals als totalitäre Schreckens- szenarios erweisen.27 Diesen Gedanken haben Susanne Heim und Götz Aly in ihrem Buch »Vordenker der Vernichtung« weitergetrieben, in dem sie die Planungsvi- sionen von Ökonomen, Bevölkerungswissenschaftlern, Historikern, Geographen in den dreißiger und vierziger Jahre untersuchten.28 Ihre These einer »Ökonomie der Endlösung«, in deren Rationalität der Anti- semitismus und die Shoah gänzlich verschwanden, ist auf deutliche Kritik gestoßen.29 Die Planungseuphorie und Rücksichtslosigkeit jedoch, mit denen in den zahllosen Denkschriften, Artikeln, Gutachten Millionen von Menschen wie auf einem Schachbrett hin und her geschoben oder »rationeller« gleich für die Ermordung vorgesehen wurden, stellen unge- achtet der weitgespannten These der Autoren nachdrücklich unter Be-

26 Manoschek, »Serbien ist judenfrei«; Pohl, Judenverfolgung in Ostgalizien; Sand- kühler, »Endlösung« in Galizien; Gerlach, Kalkulierte Morde. 27 Herff, Reactionary Modernism, insbesondere das Kapitel »Engineers as ideo- logues«, S. 152–188; zur Monstrosität technischer Großprojekte vgl. auch van Laak, Weiße Elefanten. 28 Aly/Heim, Vordenker der Vernichtung. 29 Ihre These haben Susanne Heim und Götz Aly am prononciertesten in dem Auf- satz: Sozialplanung und Völkermord vertreten. Zur Kritik an ihrem Ansatz siehe Herbert, Rassismus und rationales Kalkül; Browning, Vernichtung und Arbeit; sowie die in den »Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte« ausgetragene Kontroverse zwischen Dan Diner und Götz Aly (Diner, Rationalisierung und Methode; Aly, Erwiderung).

20 weis, daß ein Gutteil der (Mit-)Täter der »Endlösung« aus den akademi- schen Eliten kam.30 Von einer ganz anderen Seite hat die Forschung zu NS-Tätern ebenfalls neue Impulse erhalten. In der Alltagsgeschichte wurden jenseits überge- ordneter Strukturzusammenhänge und weit entfernt von Hitler und der NS-Führung die Praxis nationalsozialistischer Herrschaft, Ausgrenzung und Verfolgung vor Ort untersucht.31 Dabei gerieten die »normalen«, all- täglichen Täter in den Blick, von deren Mittun entscheidend abhing, ob sich nationalsozialistische Politik durchsetzen konnte. Kaum zwei andere Bücher haben die »ordinary men« und den Judenmord so nachhaltig in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt wie die Studien von Christopher Browning und Daniel Goldhagen, die sich zum Teil auf den- selben Quellenbestand eines umfassenden staatsanwaltlichen Ermitt- lungsverfahrens gegen die Angehörigen des Reserve-Polizeibataillons 101 stützen.32 Während Browning die Entwicklung dieser Männer zu Massen- mördern als eine Geschichte von Gruppendruck, Anpassung, Gehorsam, situativer Gewaltbereitschaft und zunehmender Abstumpfung schildert, erscheinen dieselben Männer bei Goldhagen als mordwillige, antisemiti- sche Gewalttäter, die schossen, weil sie durften, und nicht, weil sie muß- ten. Daniel Goldhagens Buch ist sicher zu Recht wissenschaftlich heftig kri- tisiert worden.33 Doch obwohl die methodisch wie historisch höchst frag- würdige These eines allumfassenden deutschen »eliminatorischen Antise- mitismus« sicherlich keinen Bestand haben dürfte, so behält die eingangs gestellte Frage doch ihre Gültigkeit. Denn alle bisherigen Deutungen der Täter, so Goldhagen, laufen auf die Frage hinaus, »wie man Menschen

30 Seither hat in allen wissenschaftlichen Disziplinen die Beteiligung von Wissen- schaftlern an der Vernichtungspolitik des NS-Regimes stärkere Aufmerksamkeit erfahren. Es würde den Rahmen einer Fußnote sprengen, hier eine vollständige Bibliographie aufzuführen; vgl. vielmehr als Überblick zu den jüngsten Forschun- gen und Thesen: Raphael, Radikales Ordnungsdenken. 31 Vgl. die von der Berliner Geschichtswerkstatt herausgegebene Dokumentation über 152 Projekte: »Geschichte zurechtrücken, Unbekanntes aufdecken«; sowie Gerstenberger/Schmid, Normalität oder Normalisierung?; Lüdtke, Funktionseli- ten. 32 Browning, Ganz normale Männer; Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. 33 Vgl. Schoeps, Ein Volk von Mördern?; Birn/Rieß, Revising the Holocaust.

21 dazu bringen kann, Taten zu begehen, denen sie innerlich nicht zustim- men und die sie nicht für notwendig oder gerecht halten«. Für Goldhagen ist klar, daß der Antisemitismus als zentrales Element nationalsozialisti- scher Weltanschauung das Handeln der Täter bestimmte. »Die Täter, die sich an ihren eigenen Überzeugungen und moralischen Vorstellungen orientierten, haben die Massenvernichtung der Juden für gerechtfertigt gehalten, sie wollten nicht nein dazu sagen.«34 Beide Bücher, die explizit den Begriff »ordinary« im Originaltitel füh- ren, gelangen, wenn auch von jeweils verschiedenen Polen aus, zu einem problematischen Verständnis des Gewöhnlichen. Bei Browning, der sein Buch charakteristischerweise mit der Analyse einer gegebenen Gewaltsi- tuation, nämlich dem Massaker in Józefów am 13. Juli 1942, beginnen läßt, tritt das situative Moment in den Vordergrund. Folgerichtig ver- flüchtigt sich der Judenhaß als Motiv in Brownings Untersuchung, und das von Goldhagen aufgeworfene Problem, ob die Täter nicht wollten, was sie taten, verwandelt sich am Schluß in die eher ratlose Frage: Wenn diese »normalen Männer« unter solchen Umständen zu Mördern werden konnten, für welche Gruppe von Menschen ließe sich noch Ähnliches ausschließen? Goldhagen hingegen, dem das Verdienst zukommt, den Antisemitismus, der im technokratischen Rationalitäts- und strukturali- stischen Bürokratiediskurs zu verschwinden drohte, wieder in den Mit- telpunkt gerückt zu haben, entzieht sich der Aufgabe, das Gewöhnliche und das Außergewöhnliche analytisch voneinander zu trennen, indem er einen extremen, eliminatorischen Antisemitismus zur deutschen Norma- lität erhebt. So scheint sich am Ende der Kontroverse die Erkenntnis herauszubil- den, es mit mehreren Typen von NS-Tätern zu tun zu haben, die je nach Stellung im Vernichtungsprozeß, je nach Rolle und Engagement, Her- kunft und Ausbildung differenziert werden müssen.35 Je mehr die Verfol- gung und Vernichtung der europäischen Juden nicht als Tat Hitlers oder nur spezifischer bürokratischer Instanzen, sondern die gesellschaftliche Dimension, die Tatbeteiligung zahlreicher Gruppen und Institutionen wahrgenommen wird, desto eingehender wird sich auch die Analyse der

34 Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, S. 28. 35 Zur NS-Täterforschung siehe Paul, Psychopathen, Technokraten.

22 Täter differenzieren müssen. Nicht die Annahme eines dominanten Täter- typus wird den Weg der künftigen Forschung weisen, als vielmehr die Analyse des Zusammenhangs verschiedener Akteure und Institutionen, von intentionalem Vernichtungswillen und strukturellen Bedingungen, von Ideologie und Funktion, individuellem Vorsatz und situativer Ge- waltdynamik.

Generation, Institution, Krieg

An diesem Punkt setzt die vorliegende Untersuchung über die führenden Akteure des Reichssicherheitshauptamtes ein. In die vorgestellten Täter- bilder passen sie offenkundig nicht hinein. Otto Ohlendorf zum Beispiel gehörte weder zu den sozial Deklassierten, noch verfügte er über eine ver- waltungsjuristische Ausbildung, die ihn zum Bürokraten oder Schreib- tischtäter qualifiziert hätte. Ebensowenig ließe sich die Figur Otto Ohlendorf als Techniker oder Sozialingenieur beschreiben. Ohlendorfs kalte Erklärung jedoch, daß die Juden getötet werden mußten, weil sie ein »Sicherheitsproblem« dargestellt hätten, verweist wiederum auf den mo- dernen Rationalitätsmodus, mittels dessen in einer arbeitsteilig organisier- ten Gesellschaft selbst das Ungeheuerliche eine kalkulierende Begründung erhält, die ihren antisemitischen Ursprung sachlich-kühl zu kaschieren weiß. Die Tatsache, daß Ohlendorf kein Jurist war, verhinderte keines- wegs, daß er Amtschef einer Reichsbehörde und stellvertretender Staats- sekretär, also Entscheidungsträger im bürokratischen Geflecht des NS- Staates wurde. Mit monokausalen Zuschreibungen läßt sich das Führungs- korps des Reichssicherheitshauptamtes offensichtlich nicht erfassen. Um das Gewöhnliche wie Außergewöhnliche dieser RSHA-Täter, der »Kern- gruppe des Genozids« (Ulrich Herbert), zu erklären, wird es notwendig sein, ihre verschiedenen, abweichenden wie übereinstimmenden, Profile zu untersuchen. Summiert man sämtliche Personen, die im Reichssicherheitshauptamt, das insgesamt annähernd 3000 Mitarbeiter besaß, führende Funktionen eingenommen haben, also Amtschefs, Gruppenleiter und Referenten, so kommt man auf eine Zahl von etwa 400 Männern (und einer Frau), von de- nen zu einem großen Teil bislang nicht einmal die Namen bekannt waren. Allerdings gab es eine nicht unbeträchtliche Fluktuation, und etliche die-

23 ser Führungsmitglieder gehörten dem RSHA nur für kurze Zeit, oftmals nur wenige Monate, an. Um daher ein aussagefähiges Sample zusammen- zustellen, sind für die vorliegende Untersuchung diejenigen Führungsan- gehörigen ausgewählt worden, die dem RSHA entweder mindestens an- derthalb Jahre oder in der wichtigen Phase seiner Gründung 1939 bis 1941 angehört haben. Dieses Sample umfaßt 221 Personen, auf deren Daten sich die vorliegende Studie zum RSHA-Führungskorps stützt. Betrachtet man die altersmäßige Zusammensetzung dieser Gruppe, sticht deren weitgehende generationelle Homogenität ins Auge. Mehr als drei Viertel von ihnen entstammten den Jahrgängen 1900 und jünger, ge- hörten also jener Kriegsjugendgeneration an, die den Krieg an der »Hei- matfront« erlebten, aber selbst nicht mehr eingezogen, geschweige denn Frontsoldaten wurden.36 Zu Recht hat Hans Jaeger darauf hingewiesen, daß ein historischer Generationenbegriff weniger zur Analyse von gleich- förmig ruhigen Phasen der Geschichte taugt, als vielmehr seinen interpre- tatorischen Wert erst mit den Einschnitten großer, die ganze Gesellschaft erfassenden geschichtlichen Ereignissen wie Kriegen, Revolutionen, Na- turkatastrophen oder wirtschaftlichen Zusammenbrüchen entfaltet, die die Gesellschaften spalten und ihre Mitglieder zu Stellungnahmen zwin- gen.37 Zweifellos war der Erste Weltkrieg, die »Urkatastrophe des Jahr- hunderts« (George F. Kennan), ein solcher generationsbildender Ein- schnitt. Die umfassenden existentiellen Erfahrungen des massenhaften Sterbens auf dem Schlachtfeld, der Zusammenbruch der alten kaiserlichen Welt und der Zerfall der Wertvorstellungen aus der Vorkriegszeit haben

36 Die von Friedrich Zipfel früh geäußerte und von Ulrich Herbert nachdrücklich un- terstützte Vermutung, daß es sich bei der Führung des Reichssicherheitshauptamtes um eine junge, generationell homogene Gruppe handele, erhält damit eine empi- risch gesicherte Bestätigung (Zipfel, Gestapo und Sicherheitsdienst; Herbert, Best, S. 526 f.). 37 Jaeger, Generationen in der Geschichte; ebenso Bude, Deutsche Karrieren, S. 36 f. »Generationen«, hält auch Andreas Schulz jüngst fest, »eignen sich nicht als als uni- versale Deutungskonzepte, um historischen Wandel zu erklären.« Aber mit Hin- weis auf Ulrich Herberts Studie über Werner Best: »In einer Generation können sich hingegen Gemeinschaften oder Gruppen bilden, deren innerer Zusammenhalt durch die beschriebenen Merkmale – Abgrenzung zur älteren Generation, Prägung durch gemeinsame Zeiterfahrungen und Zeiterleben, Übereinstimmung in Sprache, Gestus, Habitus – begründet wird.« (Schulz, Individuum und Generation, S. 413)

24 alle europäischen Gesellschaften erfaßt und Deutschland, das 1914 sieges- gewiß auszog und sich 1918 in der Rolle des Geschlagenen wiederfand, sicherlich in besonderer Weise. Die Kriegsjugendgeneration, der in ihrer eigenen Perspektive die »Be- währung« an der Front versagt geblieben war, bildete das Reservoir, aus der das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes zu mehr als drei Vierteln stammte. Hinsichtlich ihrer sozialen Herkunft und akademischen Ausbildung hoben sich die RSHA-Angehörigen keineswegs von ihren Al- tersgenossen ab. Im ersten Kapitel kommen daher bewußt Zeitgenossen wie Klaus Mann (Jahrgang 1906) oder Sebastian Haffner (Jahrgang 1907) zu Wort, deren antinationalsozialistische Position außer Frage steht, die jedoch aufgrund ihrer scharfen Beobachtungsgabe und Fähigkeit zur Re- flexion Deutungen ihrer Generation formulieren konnten, die anderen Altersgenossen verschlossen blieben. Nicht nur die Erfahrung der Kriegs- zeit, sondern mindestens ebenso die unmittelbaren, entbehrungsreichen wie politisch instabilen Nachkriegsjahre und besonders das Erlebnis des politisch wie wirtschaftlich desaströsen Inflationsjahrs 1923, in dem die bürgerliche Welt gewissermaßen auf den Kopf gestellt wurde, haben die Kriegsjugendgeneration geprägt.38 Diese Generationslage gibt Aufschluß über das spezifische politische Weltanschauungsprofil, wie es für die späteren RSHA-Angehörigen wäh- rend ihrer Universitätsjahre in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren zu beobachten ist. Als Analysefaktoren reichen Generation und Weltanschauung jedoch allein nicht aus. Beide Elemente strukturieren Wahrnehmungen und Erfahrungen, sie disponieren indessen keineswegs zwangsläufig zum Massenmord. Bei keinem der jungen Männer, die später im RSHA führende Positionen einnahmen, finden sich zu Beginn des NS- Regimes irgendwelche Anzeichen auf einen »eliminatorischen Antisemi- tismus« oder auf eine Bereitschaft zur Vernichtung, die nur auf den Mo-

38 Zum Generationenbegriff und dessen Bedeutung für die Sozialwissenschaften heute siehe neben dem berühmten und nach wie vor grundlegenden Aufsatz von Karl Mannheim, Das Problem der Generationen, die bereits erwähnten Aufsätze von Jaeger, Generationen in der Geschichte; Schulz, Individuum und Generation; sowie Fogt, Politische Generationen; Roseman, Generation Conflict; sowie die Ar- beiten von Heinz Bude (Deutsche Karrieren; Das Altern einer Generation) und Schneider/Silke/Leineweber (Erbe der Napola; Trauma und Kritik).

25 ment des Auslösens wartete. Dennoch waren etliche dieser Männer we- nige Jahre später Führer von Einsatzgruppen und -kommandos und ver- antwortlich für den Mord an Zehntausenden von Juden, Männern, Frauen und Kindern. Welche Faktoren also müssen über den »Generationszu- sammenhang« (Karl Mannheim) hinaus Eingang in die Analyse dieser RSHA-Täter finden? Wenn man nicht ein deterministisches biographi- sches Modell verfolgen will, dem zufolge sich aus den Erlebnissen und Er- fahrungen in Kindheit und Jugendzeit die späteren Auffassungen und Handlungen von Menschen ableiten – eine Annahme, die oftmals den »in- tentionalistischen« Erklärungsansätzen für Hitler zugrunde liegt –, dann ist ein komplexeres Modell gefordert, das den politischen Kontext, die Struktur des NS-Regimes und insbesondere die spezifische Institution der nationalsozialistischen Polizei und des SD einbezieht. So erhöhte die NS-Diktatur ohne Zweifel auf der einen Seite den An- passungsdruck auf junge Akademiker, wenn sie eine Berufskarriere in Deutschland planten und nicht an Emigration dachten, sich in den Dienst des Regimes zu stellen. Auf der anderen Seite bedeutete die Zer- störung rechtsstaatlicher, zivilgesellschaftlicher und moralischer Schran- ken in der wissenschaftlichen Forschung und Praxis eine ungeheure me- phistophelische Öffnung des Möglichkeitshorizonts, die gerade diese jungen, radikalen Akademiker nicht unbeeinflußt ließ. Insbesondere er- fuhr die politische Polizei, die in jeder Diktatur eine maßgebliche Rolle spielt, im Nationalsozialismus eine bedeutsame Strukturveränderung wie Aufgabenerweiterung. Die Entscheidung Hitlers, die staatliche Polizei mit der SS zu vereinigen und unter die Führung des Reichsführers SS zu stellen, war, wie Martin Broszat zu Recht schrieb, »der weitaus folgen- reichste Vorgang der Verselbständigung eines Teils der Reichsgewalt bei gleichzeitiger Verschmelzung von Partei- und Staatsaufgaben«.39 Die Frage nach der Struktur des NS-Regimes stellt sich für das Reichs- sicherheitshauptamt in besonderer Weise, da es sich sowohl von einer tra- ditionellen Behördenorganisation abhob als auch seine Struktur einen deutlichen politischen Gestaltungswillen offenbarte. Das RSHA sollte eine politische Institution mit der Aufgabe der »rassischen Generalprä- vention« (Ulrich Herbert) sein, losgelöst von bürokratischen Bindungen

39 Broszat, Staat Hitlers, S. 336; vgl. auch Herbert, Best, S. 163–180.

26 allein nationalsozialistischer Politik verpflichtet, eine genuine Institution des »Maßnahmenstaates« (Ernst Fraenkel). In der Art, mit der die Ak- teure des RSHA auf die Eroberungserfolge des NS-Regimes reagierten be- ziehungsweise sie projektiv im Ausbau oder in der Neubildung von Refe- raten und Gruppen vorwegnahmen, Referate zusammenlegten, anders verorteten oder ganz strichen, wenn es die politische Situation erforderte, zeigt das Reichssicherheitshauptamt als eine flexible Institution, die sich rasch den politischen Gegebenheiten anpaßte, um wiederum auf sie größt- möglichen Einfluß zu nehmen.40 Die dem RSHA inhärente entgrenzte Struktur, die es signifikant von herkömmlichen Behörden oder Vorstel- lungen bürokratischer Staatlichkeit abhebt, stieß jedoch innerhalb einer bürgerlich-verrechtlichten Gesellschaft, wie es das Deutsche Reich auch in der NS-Diktatur blieb, an immanente Grenzen. Erst der Krieg und die Politik in den eroberten, besetzten Gebieten, vor allem im Osten, boten einer Institution wie dem RSHA die Möglichkeit, entgrenzte Radikalität nicht nur als organisatorische Struktur, sondern auch als politische Praxis zu verwirklichen. Schon das Datum seiner Gründung, der 27. September 1939, offenbart, wie sehr das RSHA mit dem Krieg verbunden war. Zwar wurde es mit weitgehenden konzeptionellen Vorgaben geschaffen, aber seine Bewäh-

40 Der Begriff der Institution ist daher mit Bedacht gewählt. Nachdem durch die kul- turkonservative Institutionenlehre Arnold Gehlens, Hans Freyers und Helmut Schelskys der Begriff in der neueren Soziologie lange Zeit als altmodisch und un- brauchbar galt, hat die praxeologische Wende in den Sozialwissenschaften, insbe- sondere durch die Arbeiten von Pierre Bourdieu, auch die Diskussion um den Ter- minus der Institution neu belebt (Blänkner/Jussen, Institutionen; Göhler u. a., Po- litische Institutionen; Göhler, Eigenart, Revel, L’institution). Die Öffnung der Blicks über staatliche Administration (Institution als Behörde) und gesellschaftli- che Verbände hinaus ermöglicht nun, im Begriff der Institution eben die Interde- pendenz von Konzeption und Organisation, Akteur und Struktur, Theorie und Praxis zu fassen. Wenn politische Institutionen nach der neueren Definition von Karl-Siegbert Rehberg als »Regelsysteme der Herstellung und Durchführung ver- bindlicher, gesamtgesellschaftlich relevanter Entscheidungen und Instanzen der symbolischen Darstellung von Orientierungsleistungen einer Gesellschaft« (Reh- berg, Institutionen, S. 57) bezeichnet werden, dann kommt diese zivilgesellschaftli- che Bestimmung, ins Totalitäre übersetzt, der Eigenart des Reichssicherheitshaupt- amtes als konzeptionelle, entgrenzte, Weltanschauung und Praxis verbindende In- stitution sehr nah.

27 rung, seine Tauglichkeit hatte es im Krieg, im »Einsatz«, unter Beweis zu stellen. Entgegen der Betrachtung des RSHA als »Verwaltungsbüro« ent- hüllten sich seine Macht und Bedeutung in den mobilen Einheiten, den Einsatzgruppen und Einsatzkommandos, die in den eroberten Gebieten sowohl die polizeiliche »Sicherung« als auch das Projekt einer politischen »Sicherung«, das heißt einer völkisch-rassenbiologischen Neuordnung Europas, verfolgten, die im destruktiven ersten Schritt die Vernichtung des europäischen Judentums bedeutete. Dabei spielte der Krieg gegen Po- len 1939 eine entscheidende Rolle, da er durch die Absicht, die geistige Elite des polnischen Volkes zu vernichten, sowie durch die Vertreibung und Deportation von Polen und Juden aus den westpolnischen Gebieten einen unverkennbar völkisch-rassistischen Charakter besaß. In Polen, wo im Herbst 1939 zahlreiche spätere RSHA-Führungsangehörige als Kom- mandoführer oder Stabsangehörige in den Einsatzgruppen fungierten, wurde der rassistische Massenmord in großer Dimension zum ersten Mal praktiziert. Die Radikalität der RSHA-Praxis in Polen setzte sich in West- europa und vor allem von 1941 an in den besetzten sowjetischen Gebieten fort, wie im siebten Kapitel, insbesondere an drei Fallstudien, gezeigt wird. Selbst der Zerfall, die räumliche Fragmentierung in einzelne Ämter, Gruppen und Referate in den Jahren 1944/45 durch die Auslagerungen et- licher Dienststellen aus dem zerbombten Berlin in eine Vielzahl von Aus- weichquartieren, minderte nicht die Radikalität und Gefährlichkeit des RSHA. Die Deportation der ungarischen Juden im Sommer 1944, die Jagd auf die slowakischen Juden 1944/45 und auch die Verfolgung der Wider- standskreise nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 vollzogen die RSHA- Akteure mit unbedingtem Engagement. Der Krieg, die Entgrenzung alltäglichen Tötens, ist daher nach Genera- tion und Institution der dritte entscheidende Faktor, der für die Analyse des RSHA-Führungskorps von Bedeutung ist. Will man das Problem der Radikalisierung, die Frage nach Entwicklung und Entscheidung, erhellen, so wird man ebendiesen Zusammenhang von Akteuren, Institution und Praxis untersuchen müssen. Das RSHA entstand gewissermaßen durch die Politik seiner Akteure, deren Praxis wiederum durch die von ihnen ge- schaffene Institution gelenkt und strukturiert wurden. Nicht individual- oder sozialpsychologische Vorstellungen einer gespaltenen Persönlichkeit, nicht die soziologische Festschreibung von technokratischen Erfüllungs- gehilfen bürokratischer Machtstrukturen oder modernisierungstheoreti-

28 sche Annahmen von NS-Tätern als Sozialingenieuren bilden die Leitlinie dieser Studie, sondern die Untersuchung eines Prozesses dynamischer Ra- dikalisierung von weltanschaulich radikalen Akteuren, entgrenzter Insti- tution und mörderischer Praxis im Krieg.41

Quellen und Forschung

Hinsichtlich der Quellen kann sich eine solchermaßen angelegte Studie zum RSHA-Führungskorps in erster Linie auf die SS-Personalakten, die ehemals im Berlin Document Center und nun im Bundesarchiv lagern, so- wie auf staatsanwaltliche Ermittlungsunterlagen stützen. Unter der Feder- führung des Generalstaatsanwaltes beim Kammergericht in Berlin hat in den sechziger Jahren eine länderübergreifende Sonderkommission von Staatsanwälten und Kriminalbeamten Ermittlungen gegen die Angehöri- gen des RSHA aufgenommen. Obwohl es in der Mehrzahl der Fälle nicht zur Anklageerhebung und Verhandlungseröffnung gekommen ist, wie im neunten Kapitel erläutert wird, bieten diese Ermittlungsakten dennoch für den Historiker eine Fülle an Dokumenten, Vernehmungen und Beweisauf- nahmen, die für diese Untersuchung genutzt werden konnten.42 Darüber hinaus sind gegen etliche RSHA-Angehörigen in den sechziger und siebzi- ger Jahren Ermittlungsverfahren eingeleitet worden, die zum Teil auch zu einer Verurteilung führten. Für diese Fälle konnten die umfangreichen Be- stände der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg ausgiebig herangezogen werden. Persönliche Dokumente wie Tagebücher und Briefe sind nur in den seltensten Fällen erhalten geblieben beziehungs-

41 In einem wenig beachteten Aufsatz hat Martin Broszat darauf aufmerksam ge- macht, daß man bei der »Judenpolitik« des Dritten Reiches nicht »ohne Annahme einer Radikalisierung« auskommt, was nicht bedeute, daß die physische Ausrot- tung der Juden nicht schon als radikalste »Lösung« von Hitler und anderen als Möglichkeit gedacht worden sei, »aber eben nur als Möglichkeit, die erst später, aufgrund späterer Bedingungen, wirklich durchzuführen beschlossen wurde« (Broszat, Soziale Motivation und Führer-Bindung, S. 406). 42 Diese Unterlagen sind mittlerweile dem Landesarchiv Berlin übergeben worden und dort unter der Signatur B Rep. 057 einzusehen. Da ich diese Akten noch im Kammergericht Berlin eingesehen und ausgewertet habe, sind sie entsprechend die- ser Provenienz in den Fußnoten nachgewiesen.

29 weise dem Verfasser zugänglich gewesen, bis auf einige Fälle, die dann al- lerdings, wie bei Heinz Gräfe, sehr anschaulich gerade über die Zeit der Annäherung an das NS-Regime und den Eintritt in den SD Aufschluß ge- ben. Zusätzlich hat die Recherche in Universitätsarchiven wie Leipzig oder Jena aussagekräftiges Material für die studentischen politischen Aktivitä- ten der späteren RSHA-Angehörigen zutage fördern können. Für die Institution des Reichssicherheitshauptamtes bietet in erster Linie der von Heinz Boberach akribisch rekonstruierte Aktenbestand RSHA (R 58) des Bundesarchivs die Quellenbasis. Aber insbesondere zum SD- Hauptamt waren die seit 1991/92 zugänglichen Bestände des Sonderarchivs in Moskau ebenso wie die Fülle an überlieferten Originalakten des SD aus der Abteilung IX/11 des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, die heute im Bundesarchiv/Zwischenarchiv Dahlwitz-Hoppegarten lagern, wichtig und ertragreich. Für die Praxis des RSHA, das sowohl im Deutschen Reich selbst als auch in allen besetzten Gebieten tätig war, mußte in etlichen Archiven recherchiert werden, die Dokumente zur Ver- folgungs- und Vernichtungspolitik des NS-Regimes enthalten, wie die Ge- denk- und Forschungsstätte Yad Vashem in Jerusalem, die US National Ar- chives oder das US Holocaust Memorial Museum in Washington, ganz zu schweigen von der Fülle an Forschungsliteratur zur Shoah, die für eine Ge- schichte des RSHA-Führungskorps auszuwerten war. Hier hätte ich mich sicherlich als einzelner im Dickicht der Forschung verloren, wenn nicht die gemeinsame Editionsarbeit am Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/ 42 nicht nur gerade diese zwei für die »Endlösung« entscheidenden Jahre erschlossen, sondern auch die Gelegenheit geboten hätte, mit anderen kompetenten Forscherinnen und Forschern zur Vernichtungspolitik des NS-Regimes Probleme, offene Fragen und Forschungsdebatten zu disku- tieren. Ganz ohne Zweifel hat die vorliegende Arbeit viel der wegweisenden Studie von Ulrich Herbert über Werner Best zu verdanken – nicht zuletzt stammt von Ulrich Herbert der Anstoß für eine Untersuchung des Füh- rungskorps des Reichssicherheitshauptamtes.43 Mit Best stellte Herbert ei-

43 Die vorliegende Studie über das Führungskorps des RSHA ist Teil des von Ulrich Herbert, damals Direktor der Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalso- zialismus in Hamburg, geleiteten und von der VW-Stiftung finanziell geförderten Forschungsprojekts »Weltanschauung und Diktatur«, zu dem ebenfalls Karin

30 nen exemplarischen, hochrangigen SS-Täter vor, der ebenfalls weder Tech- nokrat noch »normal« war. Werner Best unterschied sich durch Ausbil- dung, Weltanschauung und politische Praxis von anderen Deutschen und gehörte doch einer spezifischen Generation an, deren Erfahrungen und politische Schlußfolgerungen einer konkreten historischen Phase zuzu- rechnen sind. Die Biographien der späteren RSHA-Führer weisen daher bis zu ihrem Eintritt in das Reichssicherheitshauptamt durchaus Ähnlich- keiten und Gemeinsamkeiten mit Werner Best auf. Allerdings verließ Best das RSHA kurz nach dessen Gründung im Juni 1940 als Folge einer kon- zeptionellen Auseinandersetzung mit Reinhard Heydrich, wie im vierten Kapitel eingehender geschildert werden wird. Insofern gibt Herberts Stu- die über Best wichtige Aufschlüsse über den Werdegang der RSHA-Füh- rer, aber im Moment der Entfaltung und Entgrenzung der Institution auf der einen und des »Einsatzes« im Krieg auf der anderen Seite gehörte Wer- ner Best nicht mehr dem Reichssicherheitshauptamt an. Er führte nie eine Einsatzgruppe, sondern blieb als Kriegsverwaltungschef in Frankreich und Reichsbevollmächtigter in Dänemark im klassischen Sinn ein Schreib- tischtäter. Mittlerweile kann auf eine durchaus beachtliche Forschung zur Sicher- heitspolizei und zum SD zurückgegriffen werden. Zwar brauchte es über zehn Jahre, bis nach den ersten Ansätzen von Friedrich Zipfel und Hans Buchheim mit Shlomo Aronsons Dissertation über die Anfänge von Ge- stapo und SD eine erste, solide und umfassende Grundlage geschaffen wurde.44 Die nach dem Krieg erschienenen Aufzeichnungen von früheren Protagonisten von Gestapo und SD waren allenfalls als Quelle, nicht als Analyse zu gebrauchen,45 und auch ein so beachtliches Buch wie das von

44 Orths Untersuchung der Konzentrationslager-SS und Christoph Dieckmanns Analyse der deutschen Besatzungspolitik in Litauen gehören. 44 Zipfel, Gestapo und Sicherheitsdienst; Buchheim, SS; Aronson, Reinhard Heyd- rich. Alwin Rammes Studie ist trotz der marxistisch-leninistischen Orthodoxie der Thesen und der Verbindung Rammes mit dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR in den empirischen Befunden beachtenswert (Ramme, Sicherheitsdienst der SS; zur Verbindung Rammes mit dem MfS vgl. BStU, AS 269/68). 45 Diels, Lucifer ante Portas; Hagen (i. e. Wilhelm Höttl), Die geheime Front; Schel- lenberg, Memoiren. Fragwürdig in Quellenkritik und Schlußfolgerungen waren gleichfalls Delarue, Geschichte der Gestapo; Crankshaw, Gestapo.

31 Heinz Höhne über die SS konnte die wissenschaftliche Untersuchung nicht ersetzen.46 Dagegen entstanden in England und den USA in den sieb- ziger und achtziger Jahren eine Reihe von Arbeiten zur SS, die für die Be- schäftigung mit Sicherheitspolizei und SD unverzichtbar sind.47 Vor allem ist George Browder zu nennen, dessen Studien zum SD, zum größten Teil leider bis heute nicht ins Deutsche übersetzt, mit empirischer Akribie und wissenschaftlicher Zuverlässigkeit die Frühzeit von SD und Gestapo be- handeln.48 In den achtziger und neunziger Jahren nahm auch die deutsche For- schung wieder die Fäden aus den frühen sechziger Jahren auf. Wichtige Arbeiten entstanden, wie die Studie von Helmut Krausnick und Hans- Heinrich Wilhelm über die Einsatzgruppen, Bernd Wegner über die Waf- fen-SS, Christoph Graf zur politischen Polizei, Ruth Bettina Birn über die Höheren SS- und Polizeiführer oder Johannes Tuchel zur Inspektion der KL.49 Nicht zuletzt die von Reinhard Rürup initiierte und geleitete Aus- stellung »Topographie des Terrors« auf dem Gelände des ehemaligen Ge- stapo-Gebäudes in Berlin, Prinz-Albrecht-Straße, lenkte den Blick auf die »Zentrale des Terrors«.50 Hans Safrian hat mit seinem Buch über die »Eichmann-Männer« das Personal und vor allem die Praxis des RSHA- Referats IV B 4 untersucht, wie jetzt Yaacov Lozowick gewissermaßen als Pendant die Deportationen in Westeuropa und die bürokratische Struktur das Eichmann-Referats analysierte.51 Christian Ingraos Studie über die

46 Höhne, Orden unter dem Totenkopf (zuerst als »Spiegel«-Serie erschienen); das Niveau von Höhne nicht erreichend: Reitlinger, SS; Neusüss-Henkel, SS. 47 Boehnert, Sociography of the SS-Officer Corps; ders., Jurists in the SS-Führer- korps; Koehl, Black Korps; Ziegler, Nazi’s German New Aristocracy. 48 Browder, SD; ders., Anfänge des SD; ders., Foundations of the Nazi Police State; ders., Hitler’s Enforcers; siehe Wildt, Nachrichtendienst. 49 Krausnick/Wilhelm, Truppe des Weltanschauungskrieges. Hans-Heinrich Wil- helms umfangreiche Studie zur Einsatzgruppe A, 1973 als Dissertation eingereicht, ist erst 1996 erschienen (Wilhelm, Einsatzgruppe A); Wegner, Hitlers Politische Soldaten; Graf, Politische Polizei; Birn, Die Höheren SS- und Polizeiführer; Tu- chel, Konzentrationslager. 50 Topographie des Terrors; sowie Tuchel/Schattenfroh, Zentrale des Terrors. 51 Safrian, Eichmann-Männer; Lozowick, Hitlers Bürokraten; siehe auch Pätzold/ Schwarz, Auschwitz.

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