Johannes R. Becher: Vom Münchner Schüler Zum Expressionisten

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Johannes R. Becher: Vom Münchner Schüler Zum Expressionisten , 1 8. APR. 1988 AUS nFM"A-NTWy»AfcTAT 1988 3 Herausgeber: DR. KARL H. PRESSLER, RÖMERSTRASSE 7, 8ooo MÜNCHEN 40 ISSN 0343-186 X München - Beiträge zur Literatur, Buchkunst und Bibliophilie LITERATEN, KUNSTLER Michael Reiter SAMMLER, LESER, ANTIQUARE UND VERLAGE City of Beer and Books. Thomas Wolfe und München A 106 Werner Bodenheimer Eberhard Dünninger Bachmairs >Bücherhirt<. Ludwig Steub (1812-1888). Eine wenig bekannte Zu Leben und Werk eines Bibliophilenzeitschrift aus bayerischen Schriftstellers des München A 146 19. Jahrhunderts A 74 ANSICHTSKARTEN, STADTFÜHRER, SPIELKARTEN Resi-Annusch Dust Organisierte Bibliophilie Hans Ries in München. Ein kurzer Dilettantismus als Kunstform. historischer Überblick A 155 Franz Graf Pocci als Illustrator A 81 Adolf Kugler Münchner Ansichtskarten. Anmerkungen zu ihrer Carl-Ludwig Reichert Rolf Selbmann. Geschichte AHO Versuche und Hindernisse Johannes R. Becher. Vom Carls auf seinen Kreuz- und Münchner Schüler zum Querzügen durch die Expressionisten A 85 Antiquariate Münchens A 158 Ludwig Hollweck Stadtführer geleiten durch München A127 Hans-Dieter Holzhausen Noch mehr Münchner Annette Kolb, ihre Dichtungen Antiquariate A 163 und ihre anderen Schriften aus der Sicht eines Sammlers A 96 Hellmut Rosenfeld Das waren noch Preise . .! Fünfhundert Jahre Münchner (Ruth Steinbauer) A 163 Spielkarten. Von karten­ Heike Pressler spielenden Fürsten und Jakob Wassermanns literarische Königen zu Kartenspiel- Anfänge in München A 103 Königen A 134 IMPRESSUM A 164 Zu dieser Nummer Die bayerische Landeshauptstadt ist in den kommenden Metropole als eine der großen und bedeutenden Verlags­ Tagen Schauplatz der >Buchhändlertage 1988< mit einer städte der Welt unserer Tage nicht nur heute leuchtet, Vielzahl von Veranstaltungen rund um das Buch. Als - sondern auch gestern auf dem Gebiet der Buchkunst, wie wir hoffen - bleibender Beitrag dazu erscheint diese Literatur und Bibliophilie in hellem Lichte lag. Sondernummer von >Aus dem Antiquariate Hier sind Gestern und heute wurden und werden von den Verla­ Arbeiten bekannter Wissenschaftler, Sammler und Anti­ gen viele - manche meinen zu viele - Bücher herausge­ quare zusammengetragen. bracht. Was gestern gut war und die unerbittliche Prüfung Diese Zeitschrift ist in ihrer Zielsetzung, wie unsere durch die Zeit bestanden hat, können die Bücherfreunde Leserschaft in aller Welt weiß, mehr der geschichtlichen heute bei den Antiquaren finden. Von ihnen gibt es, wie Betrachtung und Besinnung verpflichtet als dem oftmals an anderer Stelle in dieser Nummer zu lesen ist, in Mün­ so kurzlebigen Tagesgeschehen. Daraus ergibt sich der chen nicht weniger als siebzig. Sie alle, Antiquare, Biblio­ Charakter der hier versammelten Beiträge, die zumeist thekare und Büchersammler mögen als Bewahrer des historische Bezüge von Literatur und Buchkunst in Mün­ Vergangenen an dieser Sondernummer besondere Freude chen aufzeigen. Sie beweisen auch, daß die bayerische haben. KHP Λ 73 Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel - Frankfurter Ausgabe - Nr. 26, vom 31. März 1988 ROLF SELBMANN Johannes R. Becher. Vom Münchner Schüler zum Expressionisten München Du warst der Spielplatz meiner Kindheit: Stadt Voll Kirchen, Säulen, Gärten und Arkaden, Und von der Großhesseloher Brücke hat Fern das Gebirg mich zu sich eingeladen. Du warst die Stadt der ersten Abenteuer, Und als die erste Strophe mir gelang, Da war es mir, als wichen die Gemäuer Und neigten sich und wurden zu Gesang. Das Spiel verging, und der Gesang verwehte. Still steht das Karussell, das einst sich drehte, Drehorgelklang mit Elefant und Schwan. Es fließt die Isar, grün und ohne Ende. Vorbei, vorbei. Du Kindheit bist Legende. Die Stadt und ich, wir schaun uns staunend an.1 So bedichtet Johannes R. Becher, einer der profiliertesten Lyriker des Expressionismus und späterer Kulturminister der DDR, im Rückblick seine Jugend in München - als sollte die strenge Form des Sonetts die eigene Vergangen- A 85 Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel - Frankfurter Ausgabe - Nr. 26, vom 31. März 198S heit Bechers als Provozierer bürgerlicher Lebenswelten, geschichte zwischen der Silvesternacht 1900 und dem als Revolutionär der poetischen Sprache und als enfant Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Die familiären Verhält­ terrible des literarischen Lebens bannen. Denn aufgefallen nisse im Hause des Staatsanwalts Dr. Heinrich Gastl war Johannes R. Becher (1891-1958) als sprachradikaler spiegeln die bedrückende Atmosphäre im Elternhaus Aufschrei-Lyriker schon früh. Ebenfalls früh, 1917, läßt Bechers wider. Undurchsichtige Verbote und harte Stra­ sich sein politisches Engagement für die russische Okto­ fen verlangen vom Kind die bedingungslose Unterwer­ berrevolution, für die USPD und dann für die KPD datie­ fung unter eine übermächtige Vatergestalt. Die Mutter, ren. Neben dieser eindeutigen parteipolitischen Zuord­ selbst unterdrückt, kann die Rolle der ausgleichend wir­ nung, die ihn von der Mehrzahl der expressionistischen kenden Hausfrau nicht ausfüllen; sie dient dem Vater als Schriftsteller unterschied, arbeitete Becher in den zwanzi­ Blitzableiter seiner Zornesausbrüche und als Verbündete ger Jahren auch als Organisator des literarischen Lebens in bei der Erziehung des Sohnes. Die renommierten Juristen München und Berlin. Nach dem Exil in der Sowjetunion Becher und Gastl, protestantisch und erst in dieser Gene­ gehörte Becher zum Führungskreis der SED, deren kultur­ ration nach München zugewandert, erstreben den Auf­ politische Vorstellungen er maßgeblich mitbestimmte. stieg in die besseren Kreise des Großbürgertums. Der 1949 trat er als Textdichter der DDR-Nationalhymne >Skandal<, die an die Öffentlichkeit gekommene Abwei­ >Auferstanden aus Ruinen< hervor; 1953 bis 1956 war er chung, ist die Drohung, die jedermann im Haus in perma­ Präsident der Deutschen Akademie der Künste in Ostber­ nente Enthüllungsangst versetzt. Hans Gastl erahnt schon lin, seit 1954 Minister für Kultur der DDR. Dies mag in früher Kindheit, daß die bürgerliche Ordnung die allseits bekannt sein. Weniger bekannt ist indes, daß häusliche Harmonie nur an der Oberfläche erhalten kann; Becher aus einer angesehenen Münchner Juristenfamilie darunter brodeln die ungelösten verdrängten Konflikte: stammt und zwischen 1903 und 1910 das Wilhelmsgym­ Ich bemerkte, wie der Vater eine Lust dabei empfand, die nasium, das älteste Münchner Gymnasium, besucht hat. Wohnung zum Klirren zu bringen. Er lauerte darauf, einen Hier geschah eine >Liebestragödie<, bei der Becher Insze- Gegenstand zerspringen zu lassen. Meine Fehler mußten nur herhalten für etwas anderes, ganz anderes. Er tobte gegen die nator, Hauptdarsteller, Opfer und Kommentator in einer Wohnung an, gegen ihre schöne Geordnetheit, die er aus eigener Person war, und die insofern mehr als privaten Charakter Kraft sich erschaffen hatte. Am liebsten hätte er in einem solchen hat, als das Ereignis genau den Wendepunkt markiert, an Anfall alles kaputt geschmissen, er sehnte sich nach einer Trüm­ merstätte, als sollte das Leben dann noch einmal, aber ganz dem aus dem dilettantisch dichtenden Schüler der expres­ anders beginnen.2 sionistische Schriftsteller entsteht. Der Fall ist, sowohl in Auch hier erleben Becher und Gastl Zeittypisches. Im rechtlicher wie in literatur-geschichtlicher Hinsicht, bis verschärft aufgebrochenen Generationenkonflikt werden heute nicht vollständig aufgeklärt worden, obwohl Becher die sozialen Widersprüche des Kaiserreichs in die Familie daraus nie ein Geheimnis gemacht hat. Im Gegenteil: in hereingeholt und dort stellvertretend ausgetragen. Vater seinem Roman >Abschied<, der im Untertitel >Einer deut­ und Sohn stehen auch für den Kampf des alten Obrigkeits­ schen Tragödie erster Teil< heißt und den er in den 30er staates, der dem jugendlichen Aufbegehren der neuen Jahren begonnen und 1940 im Moskauer Exil abgeschlos­ Epoche den Garaus machen möchte. Im Generationen­ sen hat, erzählt Becher ausführlich und unverschlüsselt konflikt verdichtet sich die verweigerte Anpassung und autobiographisch von seiner Kindheit im Elternhaus, sei­ der Widerstand der Jugend sehr bald zum Traumbild des ner Schullaufbahn und den Hintergründen des Falles. Vatermords. Am literarischen Motiv des Vatermords, das Darf man jedoch für bare Münze nehmen, was im Roman mehr ist als ein literarisches Motiv, könnte nicht nur für scheinbar ungefiltert, aber offensichtlich als Literatur, die Generation Johannes R. Bechers der Bezugspunkt noch dazu im Rückblick nach Jahrzehnten angeboten gezeigt werden, an dem sich kindliche Widersetzlichkeit, wird? Aber beginnen wir ganz von vorn. gesellschaftliche Abweichung und politischer Aufstand zusammenballen. Franz Kafkas >Brief an den Vater< Elternhaus und Schule (1919), Walter Hasenclevers Drama >Der Sohn< (1916) oder Arnolt Bronnens >Vatermord< (1922) belegen ja Über das Elternhaus Bechers in München sind wir ver­ ebenfalls, daß der »literarisch vorgestellte Vatermord«3 gleichsweise gut informiert. Die autobiographischen Auf­ das Verbrechen nicht scheut, um die gesellschaftliche zeichnungen Bechers, seine autobiographischen Skiz­ Freiheit zu erringen. In Bechers Kindheitserinnerungen zen (1929) und >Wachstum und Reife< (1937) sowie seine ist eine solche gesellschaftliche Ausdeutung des klassi­ Jugendbriefe stimmen mit dem Bild überein, das man aus schen Ödipusfalles noch nicht geleistet, allerdings schon Bechers Roman >Abschied< entnehmen kann. 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