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Anne-Marie Dubler

Die Geschichte von Rüfenacht

Dorf und Höfe am Dentenberg und die Patrizierherrschaft im Wandel der Zeit

© 2014 Anne-Marie Dubler, Dieser Beitrag ist eine Kurzfassung der Ortsgeschichte «Die Geschichte von Rüfenacht und Vielbringen» auf der Internet-Plattform: www.ruefenacht-vielbringen.net 1

Editorial

Zur Publikation als e-Book

Dieser Internet-Beitrag ist eine Kurzfassung der bebilderten Ortsgeschichte «Die Geschichte von Rüfenacht und Vielbringen», die als PDF auf der Internet-Plattform www.ruefenacht-vielbringen.net veröffentlicht und zu freier Benutzung und kostenlosem Herunterladen verfügbar ist ebenso wie diese Kurzfassung in den «Beiträgen zur Worber Geschichte». Die elektronische Vollversion enthält in Anmerkungen alle wünschbaren Quellen- und Literaturbelege sowie Quellen- und Litera- turverzeichnisse, auf die in dieser Kurzfassung verzichtet wird.

Zum Inhalt

Weshalb aber sollte Rüfenacht überhaupt eine eigene Geschichtsdarstellung erhalten, nachdem 2005 die schwergewichtige «Worber Geschichte» erschienen war? Tatsächlich ist in dieser das historische Rüfenacht praktisch nicht präsent, weil die «Worber Geschichte» für die Zeit vor 1834/42 quellenmässig hauptsächlich auf dem Worber Herrschaftsarchiv basiert. Worber Ge- meindeteile wie Rüfenacht oder Vielbringen lagen jedoch ausserhalb der alten Adelsherrschaft Worb und blieben so ohne ältere Geschichte. Dr. Marco Jorio, Chefredaktor des «Historischen Lexikons der Schweiz (HLS)», wohnhaft in Rüfenacht und Präsident der «Interessengemeinschaft (IG) Worber Geschichte», wollte sich nicht mit Rüfenachts Geschichtslosigkeit abfinden. Auf seine Intervention erteilte mir die «IG Worber Geschichte» im Juni 2013 den Auftrag zur Verfassung der «Geschichte von Rüfenacht». Gewünscht wurde ein Textumfang von 20 Seiten für die vom Vor- stand der «IG Worber Geschichte» beschlossene digitale Publikation auf der geplanten Internet- Plattform «Beiträge zur Worber Geschichte». Eine Buchpublikation war nicht geplant. Die Forschungsarbeit in den Archiven – Staatsarchiv Bern (StABE), Archiv der IG Worber Geschichte (HAW) und Privatarchiv Paul Gfeller, Rüfenacht (PA Gfeller) – förderte ein reiches Quellenmaterial zutage. Ergänzt wurde die Archivarbeit für die neue und neuste Zeit durch Befragen von Gewährsleuten – das Feld der Oral History. Alte Fotografien und Karten wurden auf historische Aussagen ausgewertet. Auf mehreren Gängen durch Rüfenacht und Vielbringen und auf zahlreichen Erkundungsfahrten durch die Fluren wurde das Erscheinungsbild der beiden Orte konkretisiert. Am Ende war eine fundierte Ortsgeschichte mit Einbezug von Vielbringen ent- standen, die eine Buchpublikation rechtfertigte, zumal «Die Geschichte von Rüfenacht und Viel- bringen» den verlangten Umfang bei weitem überstieg. Da die Gemeinde Worb jedoch einen Beitrag an die Publikationskosten ausschloss und andere Finanzierungsmöglichkeiten vom Vor- stand der «IG Worber Geschichte» nicht untersucht wurden, war eine Buchpublikation vom Tisch. Die Lösung des Problems brachte schliesslich mein Vorschlag einer zweifachen elektronischen 2

Publikation – wie «bestellt» als Kurzfassung «Die Geschichte von Rüfenacht» als ein von mir er- stelltes e-Book in den «Beiträgen zur Worber Geschichte» sowie in der Vollversion als e-Book auf der von mir zur Verfügung gestellten Website (www.ruefenacht-vielbringen.net).

Was nun erwartet Sie, liebe Leserin, lieber Leser, in der «Geschichte von Rüfenacht und Vielbringen»?

Der erste Teil der vierteiligen Darstellung befasst sich mit der frühen Geschichte Rüfenachts. Im zweiten Teil wird die Geschichte der Patrizierherrschaft Rüfenacht dargestellt, die für das Dorf Rüfenacht von eminenter Wichtigkeit war. Der dritte Teil widmet sich der Entwicklung Rüfenachts seit dem 19. Jahrhundert und behandelt damit eine Zeit, die uns zunehmend statistische Daten und Kartenwerke zur Verfügung hält, so dass wir uns – anfangs noch ohne Fotografie – dennoch ein immer präziseres Bild von Rüfenacht machen können. Es war eine Zeit, in der sich das an neuen Verkehrsadern gelegene Rüfenacht Neuem öffnete, wobei in den Bauernfamilien trotz neuer Berufe die Bewirtschaftung des eigenen Hofs stets Hauptberuf blieb. Der jüngsten Zeit nach 1950 kommt besonderes Gewicht zu: Sie machte mit dem Bauboom, der 1957 anbrach und bis um 1990 anhielt und seit kurzem erneut in Fahrt kam, Rüfenacht zur heutigen Agglomerationssied- lung. Damit begannen sich die Dörfer Rüfenacht und Vielbringen grundlegend zu unterscheiden.

Am Ende der Auseinandersetzung mit Rüfenacht steht der Dank der Autorin Am Ende der intensiven Auseinandersetzung mit Rüfenacht danke ich all jenen, von denen ich im Gespräch Hilfe bei der Klärung einstiger Verhältnisse erfuhr. Nennen möchte ich Herrn Architekt Peter Gfeller-Pfister (u.a. Baufragen um das «Türmli») und die Herren Urs Rüfenacht, Seftigen (u.a. Baugeschäft, Laden Choffat, Datierung der Neuquartiere), und Hans Rüfenacht, Chesalles- sur-Moudon VD (Rüfenachthof und Baugeschäft, Aussiedeln), sodann Frau Anna Aebersold (öffentlicher «Dorfbrunnen»), Frau Marianne Gfeller-Nobs, Koppigen (Abbruch Gfellerhof beim «Türmli»), und Dr. med. Mihaela Blaser (Kleinbauernhof am Scheyenholz), weiter die Herren Paul Gfeller (Hofdatierung, Hofareale), Franz Jost (Baudatierung Hinterhaus, Käserei in Rüfenacht), Christian Mathys («Dorfbrunnen») und Beat Münger (Kleinbauernhöfe am Scheyenholz). Mein Dank gebührt Frau Ursula Gfeller-Zürcher, die wichtige Urkunden rund um den Kauf der Herrschaft und die Gutsverwaltung der Familie Gfeller vor dem Vergessen und Verschwinden bewahrt hat; sie sind unter «Privatarchiv Paul Gfeller Rüfenacht (PA Gfeller)» verzeichnet. Ich danke Herrn Charles Vonlanthen-Imbach, Muri, und Herrn Heinz Utiger, Rüfenacht, für die aus der Fotosammlung der «Dorfgemeinschaft Rüfenacht» zur Verfügung gestellten Fotos sowie Herrn Urs Rüfenacht für den von ihm betreuten Fotoband «Rüfenacht im Wandel der Zeit», der aus dieser Fotosammlung viele historische und neue Aufnahmen von Gebäuden und Menschen enthält, die in der Rüfenachter Geschichte eine Rolle gespielt haben. 3

Dank gebührt Prof. Dr. Jürg Schweizer, dem ehemaligen Kantonalen Denkmalpfleger, der sich den Fragen um die Entstehungszeit des Herrenhauses und um die Datierung von Umbauten mit einer Bauanalyse angenommen hat, die auch prompt zu einer neuen Baudatierung führte. Dem Archäologen PD Dr. Armand Baeriswyl danke ich für seinen Bericht, der zusätzliche Klarheit über die Existenz einer Umfassungsmauer um den Landsitz schaffte. Der Kantonalen Denkmalpflege (Elisabeth Schneeberger, Jürg Frey) danke ich für die Überlassung der digitalisierten Bauinventar- Karten für Rüfenacht.

Editorische Bemerkungen

Im Kontakt mit den Gewährsleuten zeigte sich, dass einige in der Literatur kursierende Bezeichnungen unzutreffend sind: So etwa wird in der Literatur das Herrenhaus, der einstige Sommersitz der Patrizierherrschaft, als «Schlössli», «Schlösschen» oder sogar «Jagdschlöss- chen» bezeichnet. Diese Begriffe kamen im Bauboom der 1960er-Jahre in der Immobilienbranche auf, als es galt, Wohnungen in den Blöcken rund um das historische Gebäude zu vermieten. Die Einheimischen nennen das Herrenhaus «Türmli» oder auch «d's schmale Hus», was für Immobilienmakler in der Tat wenig werbewirksam ist. Im Lauf ihrer 116-jährigen Existenz änderte sich die Bezeichnung für die 1898 als Dampfstrassenbahn eröffnete Bahnlinie von Bern via Rüfenacht nach Worb viermal; bei den Einheimischen hiess die Bahn nur «d's Bähnli». Es war mir ein Anliegen, mich an die örtlich geltenden Bezeichnungen zu halten. Dagegen nahm ich in Absprache mit Dr. Marco Jorio Abstand zur Mundartwelle der Ortsnamenforscher bei den Hof- und Flurnamen, so wie sie in den neuern Ausgaben der Landeskarte der Schweiz 1:25'000 erscheinen. Das hat durchaus praktische Gründe: Da die Namen der Strassen und Bahnstationen, alle Beschilderungen, ebenso die Adressen im Telefonbuch in verdeutschter Form oder auch in der alten Form der Schriftquellen verblieben, war es von Vorteil, im Text nicht laufend zwischen Mundart (Hinderhus, Scheieholz, Hüenstu) und verdeutschter Form (Hinterhaus) oder der Schreibweise der Urkunden (Scheyenholz, Hünistal) wechseln zu müssen. Der Text ist der Neuen deutschen Rechtschreibung verpflichtet.

Bern, im Dezember 2014 Anne-Marie Dubler

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Zum Inhalt

Zur Einführung: Die Geschichte von Rüfenacht im Überblick 5

I. Rüfenacht – ein «Ort dazwischen» seit historischen Zeiten 6 Rüfenacht am Dentenberg: Zelgdorf und Einzelhöfe ausserhalb 6 Die Zeit der römischen Gutsbetriebe – auch in Rüfenacht? 8 Kirche, Freiherren und die junge Stadt Bern stecken sich gegenseitig ihre Herrschaftsräume ab 9 Das Überleben alter Strukturen in der Agrarwirtschaft der Hofgemeinschaft im Dorf Rüfenacht 10 Umstrittene Waldweide und die Entstehung von Dorf- und Gemeindegrenzen 12

II. Die «Herrschaft Rüfenacht» – wie sie entstand, und wie sie zu Ende kam 13 Frühes Interesse von Berner Ratsfamilien an Bodenrenten in Rüfenacht 13 Der Aufbau der Herrschaft Rüfenacht unter Marquard Zehender im 16. Jahrhundert 15 Zur Herrschaft der Landsitz: Der Bau des Herrenhauses 1582–1607 16 Das Ende der Ära Zehender: Neue Herren in Rüfenacht ab 1676 20 Die Bedeutung der Patrizierherrschaft Rüfenacht für das Dorf und seine Wirtschaft 21

III. Rüfenacht seit dem 19. Jahrhundert: Der Wandel vom Bauerndorf zur Agglo-Siedlung von Bern 23 Rüfenacht im 19. Jahrhundert: Ein kleines Dorf und seine Höfe im Dorf und ausserhalb 23 Neue Verkehrswege durchschneiden die Landschaft und eröffnen ab 1842 neue Perspektiven 25 Mit Strasse und Bahn kommen Zuzüger – Neubauten im Dorf und ausserhalb 28 Der Wandel vom Bauerndorf zur Agglomerationssiedlung von Bern nach 1960 29

IV. Rüfenacht – eine Agglo-Siedlung von Bern und ein Satellitendorf von Worb 33

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Zur Einführung: Die Geschichte von Rüfenacht im Überblick

Rüfenacht ist wie das nahe Vielbringen eine Ortschaft in der politischen Gemeinde Worb im Amtsbezirk und Verwaltungskreis Bern-Mittelland. Der Ort liegt auf knapp 600 m am Südhang des Dentenbergs an einer prähistorischen Durchgangsroute zwischen Worblen- und Aaretal. Er bestand einst aus dem Ackerbauerndorf, dessen Höfe Getreidebau in Zelgen betrieben und Allmenden und Wald gemeinsam nutzten. Die am Berg liegenden Einzelhöfe hatten am Zelg- bau des Dorfs keinen Anteil. Im Mittelalter gehörten Klöster und zunehmend Bernburgerfamilien zu den Güterbesitzern, bis sich 1538 die Berner Ratsfamilie Zehender zuerst als Zehntherrin, dann als Gründerin einer Patrizierherrschaft in Rüfenacht etablierte und den dortigen Landsitz baute. Auf die Zehender folgten ab 1676 die Bernburgerfamilien Stürler, Muralt, Stuber, Wyss und Knecht. 1768 veräusserte Johann Jakob Wyss die Herrschaft und allen Grundbesitz an die Bauernfamilie Gfeller, die 1771 auch das Herrenhaus übernahm, das noch im Besitz ihrer Nachkommen ist. Rüfenacht und Vielbringen gehörten kirchlich zu Worb, waren aber nicht Untertanen der Adelsherrschaft Worb. In Gerichts- und Herrschaftssachen unterstanden sie bis 1798 im «Stadt- gericht» der Stadt Bern. Nach der Reformation bildeten sie in der Kirchgemeinde Worb das «Viertel» Vielbringen-Rüfenacht, das zum Armensteuer- und Schulbezirk wurde. Als sich die Einwohnergemeinde Worb 1834 im Umfang der Kirchgemeinde konstituierte, kamen beide Orte zur Gemeinde Worb. Sie bildeten neben Worb, Richigen-Ried und Wattenwil-Enggistein eine Vier- telsgemeinde, die in ihrem Bezirk kommunale Aufgaben wahrnahm und im Gemeinderat vertreten war. Die Gemeindezentralisation von 1920 beendete die Zeit der Viertelsverwaltungen. Trotz der Einbindung in die Gemeinde Worb blieb Rüfenacht Bern zugewandt, was sich mit der verbesserten Verkehrssituation – mit der «Worbstrasse» (1842), der Strassenbahn von Bern über Muri nach Worb samt «Station Rüfenacht» (1898) und mit dem Autobahnanschluss (1973) – noch verstärkte. Die Nähe zu Bern in verkehrsgünstiger Lage war für Zuzüger attraktiv. Bis zum Zweiten Weltkrieg erfolgte eine erste Ausdehnung des Siedlungsraums, was zu mehr als einer Ver- doppelung der Bevölkerung von 339 (1900) auf 686 (1950) Einwohnern führte. Ab 1957 setzte eine ohne Bauordnung rasch fortschreitende Bautätigkeit ein, die sich in den Sechzigerjahren zum Bauboom steigerte. Das wachsende Angebot an Mietwohnungen, Reihen- und Einfamilienhäusern liess die Zahl der Einwohner auf 3'795 (1990) ansteigen. Danach sank sie im Gefolge der Immo- bilienkrise auf 3'453 (2000) und 3'404 (2010), stieg aber seither wieder auf 3'531 Einwohner an (Stand Juli 2014). In dieser Zeit wandelte sich das Bauerndorf zur halbstädtischen Agglo- merationssiedlung, deren Bevölkerung vor allem auf das Arbeitsplatzangebot von Muri-Gümligen und Bern, weniger auch auf Worb fokussiert ist.

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I. Rüfenacht – ein «Ort dazwischen» seit historischen Zeiten

Rüfenacht am Dentenberg: Zelgdorf und Einzelhöfe ausserhalb Der Ort Rüfenacht entstand am Übergang vom Worblen- ins Aaretal in der Hügellage des Dentenbergs an einem prähistorischen Durchgangsweg. Topografisch lag nicht nur Rüfenacht, sondern die ganze Gemeinde Worb am Übergang von der mittelländischen Ackerbauzone mit grossen Dörfern zur Feldgrasbauzone des Emmentals und seiner Einzelhöfe. Siedlungsland- schaften an solchen Übergängen verzeichneten beide Siedlungs- und Agrarformen Seite an Seite. Das war auch in Rüfenacht der Fall: Die Höfe im kleinen «Dorf» waren in einer Agrar- und Nutzungsgemeinschaft vereint. Ihre Äcker lagen in drei grossen weglosen Flächen, den «Zelgen» oder «Feldern», um das Dorf (Abb. 2). Die Feldbestellung war mit vorgeschriebenen Anbausorten und Arbeitsterminen streng geregelt. Die als «Allmenden» bezeichneten Weiden für die Zugtiere lagen in unproduktiven Moosen und wurden wie die Wälder gemeinsam genutzt. Ziel des inten- siven Ackerbaus war die Selbstversorgung mit Brot- (Dinkel) und Musgetreide (Hafer). Im Hügelgebiet ausserhalb des Dorfs lagen die Einzelhöfe, die mit Feldgrasbau neben Getreidebau auch Vieh- und Milchwirtschaft betrieben.

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Abb. 1: Aus der Vogelschau: Rüfenacht und Vielbringen in den Grenzen der ehemaligen Viertelsgemeinde

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Die Zeit der römischen Gutsbetriebe – auch in Rüfenacht?

Das von den Hängen am Dentenberg südwärts in Richtung Aaretal abfallende Terrain war mit sonnexponierten Flächen und einer reichlichen Quellwasserversorgung für den Ackerbau und die Besiedlung geeignet. Eine gallorömische Siedlung lässt sich zwar nicht durch Bodenfunde, jedoch im überlieferten Namengut feststellen: Der Ortsname «Rüfenacht» entstand aus dem römischen Namen «Rufinus» mit der aus dem gallisch-keltischen Sprachgebrauch stammenden Nachsilbe «âcus/âcum» im Sinn von «gehört zu». Land, das die römische Verwaltung einem verdienten Bürger – zum Beispiel unserem «Rufinus» – zur Bebauung verlieh, wurde nach diesem benannt und verzeichnet. «Rufiniacum» hiess so viel wie «dem Rufinus gehörende Güter». Die spätestens nach 700 n. Chr. eindringenden Alemannen trafen somit auf eine Siedlung, die noch den Namen ihres gallorömischen Erstbesitzers trug. Jahrhunderte später verzeichnen erste Schriftquellen den Ort noch gleich – «in villa Riuvenacho» (1248), «in Ruvennacho» (1261) und «Rúffennach» (1324/25). Ab 1550 schwankt die Namensschreibung zwischen «Rüfenach» wie Rüfenach bei Brugg und dem heutigen «Rüfenacht». Vermutlich fanden die Alemannen südöstlich von Rü- fenacht am Rand eines Moores auch Mauerwerk von verlassenen Gebäuden, so dass das Moos zum «Murmoos» (Maurmoos) wurde. Die romanische Siedlungstätigkeit endete südlich davon im romanischstämmigen «Vinitz» (Finiz). Für Vielbringen, das einstige «Vilmaringen» aus dem Rufnamen «Vilmar» und der Endung «-ingen», kamen Alemannen als Siedlungsgründer in Frage. Rüfenacht war eine kleine Siedlung an einer Art Passroute. Nur wenige Kilometer entfernt lagen an wichtigen Verkehrsrouten des Aare- und Worblentals grosse römische Gutshöfe («villae rusticae»): Über der Aare sind Gutshöfe in Muri (Standort Schloss/Kirche), Münsingen (Ross- boden/Kirche) und Oberwichtrach (Kirche), neu auch Bestattungen im Schlosspark von Allmen- dingen als Hinweis auf einen dortigen Gutshof archäologisch bezeugt. An der durch das Worblen- tal verlaufenden Route war es in Sinneringen der Gutshof (Hubel/Schlossgut) und in Worb die Villa Worb-Sunnhalde. Letztere wurde früh durch Brand zerstört und erst 1986 bei Bauarbeiten entdeckt. Den Getreide produzierenden Höfen, ob gross oder klein, oblag die Versorgung von Grosssiedlungen wie des römischen «vicus» (Siedlung) auf der Engehalbinsel. Das Landgut oder auch «villa» Rüfenacht lag damit an einer direkten Verbindungsroute zwischen den zwei wichtigen Gutshöfen von Worb und Muri und nicht weit entfernt vom Siedlungszentrum auf der Engehalbinsel. Für die Bedeutung von Rüfenacht spricht, dass keine geringeren als die Grafen von Kiburg-Dillingen, Erben der 1218 ausgestorbenen Herzoge von Zähringen, neben altem Eigengut in Muri und Krayigen auch über solches in Rüfenacht verfügten.

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Kirche, Freiherren und die junge Stadt Bern stecken sich gegenseitig ihre Herrschaftsräume ab

An Standorten der ehemaligen Gutshöfe, in oder über deren Gebäulichkeiten wurden im Frühmittelalter erste Kirchen gegründet, so in Muri, Münsingen und Oberwichtrach; in Worb geschah dies über nicht näher zu definierenden römischen und älteren Siedlungsresten. Die jungen Kirchspiele expandierten und bezogen Höfe und Siedlungen in weitem Umkreis in ihre kirchliche Organisation ein, ebenso in die kirchliche Betreuung wie auch ins Steuersystem des Zehnten zur Finanzierung der Kirchenbauten und der Priesterschaft. Die Kirche Worb war beson- ders expansiv: Ihr Kirchgang erstreckte sich nach Osten in Richtung auf das Emmental, im Westen erfasste er Rüfenacht und Vielbringen, während das nahe Gümligen zur Kirche Muri kam. Im 11. Jahrhundert steckten sich weltliche Kräfte gegenseitig Einfluss- und Machtbereiche ab: Von ihren festen Burgsitzen aus dehnten hochadelige Freiherrenfamilien ihre Herrschaft über Dörfer und Höfe aus. In ihren Grundherrschaften amteten sie als Richter und beanspruchten dafür Herrschaftsrechte wie etwa Jagd, Vogel- und Fischfang. Rüfenacht und Vielbringen kamen dabei zwischen die beiden Herrschaftsansprüche von Muri im Westen und Worb im Osten zu liegen. In der Worber Burg lebten die Freiherren «de Worwo», auf die im 13. Jahrhundert die Freiherren von Kien folgten. Nur wenige Jahrzehnte später, 1298, stieg im Westen die Stadt Bern nach ihrem Sieg im Treffen von Oberwangen (Gem. Köniz) gegen den welschburgundischen Adel und das öster- reichische Freiburg zum neuen Machtfaktor in der Region auf. Nach dem Treffen zerstörte sie die stadtnahen Burgen und Gerenstein (Gem. ) der ihr feindlich gesinnten Freiherren von Belp-Montenach. Mit der darauf erfolgten Erwerbung der vier Kirchspiele Bolligen, , und Muri schuf die Stadt Bern ihr erstes Territorium ausserhalb der Stadt. Um dieses zu schützen, band sie die Adelsfamilien im Umkreis um Bern mit Burgrechtsverträgen in ein Treueverhältnis ein, darunter auch die Belp-Montenach und die Freiherren von Kien in Worb. Unter Bern kam dem Adel indessen zunehmend der frühere Vorrang abhanden: Er verlor seine Ordnungsfunktion und die Landfriedenssicherung an die Stadt, und seine Naturaleinkünfte wogen die blühende städtische Fiskalwirtschaft nicht auf. Nun erst wurde für den Adel das Bürgerrecht der Stadt Bern und eine Ratskarriere attraktiv. Alle Worber Herrschaftsherren – die Herren von Kien, von Seedorf, von Krauchtal, die Rieder und ab 1469 die von Diesbach – gehörten als Burger von Bern dem städtischen Rat an. In diesem machtpolitischen Umfeld wurde Rüfenacht zum «Ort dazwischen»: Rüfenacht und Vielbringen waren zwar Kirchgenossen der Worber Kirche, aber nicht Untertanen der dortigen Herrschaft. Vielmehr kamen beide Orte wohl zur selben Zeit wie Muri-Gümligen in den Einflussbereich der Stadt Bern. Mit den vier Kirchspielen Bolligen, Vechigen, Stettlen und Muri gehörten sie zum Stadtbezirk, in welchem das mit Grossräten besetzte «Stadtgericht» für alle Nie- 10

dergerichtsfälle zuständig war – für die leichten mit Geldbussen zu sühnenden Delikte sowie für Zivilfälle mit Klagen um Güterbesitz und Geldschuld. Was östlich von Rüfenacht lag, unterstand der Herrschaft Worb und deren Nieder- und Zivilgericht, dem der Ammann der Herrschaft vorstand. Bei schwereren Delikten gehörte Worb mit anderen Privatherrschaften unter das Landgericht Konolfingen, das ein Berner Ratsmitglied von der Stadt aus verwaltete, wobei ab 1420 ein einheimischer Freiweibel als Stellvertreter amtierte. 1541 kam die Aufteilung in zwei Ver- waltungen: Worb gehörte nun unter den Freiweibel des oberen Teils des Landgerichts. Bei Kriminalfällen unterstanden sie alle der Jurisdiktion des Grossweibels der Stadt Bern.

Das Überleben alter Strukturen in der Agrarwirtschaft der Hofgemeinschaft im Dorf Rüfenacht

Im Hochmittelalter prägten der Hochadel und zunehmend von diesem gestiftete Klöster unsere Region. 1240 verkauften die zwei letzten Grafen von Alt-Kiburg ihre Eigengüter in Muri, Krayigen und Rüfenacht mit allen Rechten der Augustinerchorherren-Propstei Interlaken. Es lag im Trend: Klöster kauften Güter oder liessen sich diese lieber als Jahrzeitstiftung schenken. Besonders zielgerichtet war Interlaken, das im 13. Jahrhundert zur grössten geistlichen Grundherrschaft der Region aufstieg. Auch das Zisterzienserkloster Frienisberg und die Benediktinerabtei Engelberg waren in Rüfenacht begütert. Untereinander tauschten sie entfernten gegen näher gelegenen Grundbesitz oder verkauften Randpositionen. Unter deren Käufern befanden sich vermögende Berner Ratsfamilien; so etwa erwarb die Familie von Seedorf Güter in Rüfenacht.

Aus den Handänderungsverträgen wird ersichtlich, dass Rüfenacht aus sechs oder sieben Kleinhöfen bestand. Der Eindruck eines in kleine Höfe zerfallenen romanischen Landguts stimmt indessen nur bedingt: Die Höfe waren wirtschaftlich eng verbunden: Gemeinsam bearbeitete man die ungeteilte Ackerfläche und nutzte den gemeinsamen Wald, wie die Inhaber von sieben Höfen 1325 aussagten. Rund 200 Jahre später erfahren wir, dass die Höfe auch eine gemeinsame Wasserversorgung hatten – den «Dorfbrunnen» an der Wegkrümmung der Alten Bernstrasse bei der Hinterhausstrasse, am Standort der heutigen Grünanlage mit Rosskastanie. Die Höfe ringsum hingen für Mensch und Vieh von dessen Wasser ab. Die Sonderstellung des öffentlichen «Dorfbrunnens» dürfte auf die romanische Villa Rüfenacht zurückgehen. Noch um 1950 hingen vier Haushalte für ihren täglichen Bedarf vom Dorfbrunnen ab, da die Worber Wasserversorgung aus dem Reservoir Wislen erst 1951 das Dorf erreichte. Gemäss den Zinsabgaben wurden Dinkel und Hafer angebaut. Das weist auf die damals übliche Dreifelderwirtschaft in drei Zelgen: Eine Zelge wurde mit Winterfrucht (Dinkel) und eine mit Sommerfrucht (Hafer) bestellt, die dritte lag brach und wurde beweidet. Die Zelgnutzung rotierte jährlich. Um am ganzen Programm teilzunehmen, besass der einzelne Hof in jeder der drei Zelgen Ackerstücke. Wo die Rüfenachter Zelgen lagen, erfährt man 1539 aus einem Streit zwischen dem 11

damaligen Zehntherrn und den Rüfenachter Bauern. Es gab drei grosse Zelgflächen – im Osten die «üssre zelg gegen Worb» vom Hünistal und Schüni hangabwärts zur Bernstrasse und ostwärts an die Grenze von Worb-Dorf, südlich davon die «usser zelg gen Vilberingen» unterhalb der Bern- strasse hangabwärts bis oberhalb des Vielbringenmooses und im Westen die «zelg gen Güm- ligen». Moose wie Längi- und Murmoos dienten als Allmendweiden.

Abb. 2: Das Rüfenachter Zelgsystem um 1539 1 «üssre zelg gegen Worb» 2 «usser zelg gen Vilberingen» 3 «zelg gen Gümligen» Dorfbrunnen Mutmassliche Allmenden Das Dorf im Mittelalter

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Umstrittene Waldweide und die Entstehung von Dorf- und Gemeindegrenzen

Der von den Höfen gemeinsam betriebene, geregelte Ackerbau gab wenig Anlass zum Streit, dafür aber die von den Anrainern gemeinsam genutzten Wälder in teils steiler Hanglage wie Scheyen- und Hünistalholz, Hüenli- und Wislenwald. Wälder lieferten Bau- und Brennholz und dienten als Viehweide; besonders begehrt war das «Achram» – die herbstliche Eichelmast für Schweine. In den zwischen Dörfern liegenden Wäldern waren einst alle Anstösser weideberechtigt. Bei wach- sender Bevölkerung führte dies aber vielenorts zu Konflikten. Um 1470 war der Hüenliwald eine von den vier Dörfern Rüfenacht, Gümligen, Vielbringen und Allmendingen gemeinsam benützte weite, zusammenhängende Waldfläche. 1470 verlangten die Worber an dieser ein Nutzungsrecht. Auf die Klage der Bauern der vier Dörfer erklärte der berni- sche Rat indes deren alleiniges Nutzungsrecht und wies den Worber Anspruch ab. 1588 klagten Vielbringen und Rüfenacht vor dem Rat gegen Gümligen und Allmendingen, da diese im Wald Zäune gegen ihre Nachbarn errichtet hätten und die Teilung des Hüenliwalds verlangten. Der Rat hiess die Teilung des Hüenliwalds gut, der Zaun blieb und bildete fortan die Grenze zwischen den Berechtigten. 1593 kam es zum Streit um das Hünistalholz, an dem Worb und die Bauern von Rüfenacht, Denten- und Utzlenberg (Gem. Stettlen) sowie vom Amslenberg (Gem. Gümligen) nutzungsberechtigt waren. Auch in diesem Fall erlaubte der Rat die Waldteilung. Da Worb-Dorf ebenso viele nutzungsberechtigte Höfe wie die vier Bauernsamen zusammen hatte, wurde der Wald in zwei gleich grosse Areale geteilt. 1644 verlangte auch Vielbringen die Teilung des mit Rüfenacht gemeinsamen Hüenliwalds; der Teilung wurde ebenfalls stattgegeben. 1681 wurde die Nutzung des Hünistalholzes neu definiert: Rüfenacht erhielt eine Grenze gegen die Bauern vom Denten-, Utzlen- und Amslenberg, die aber nur die Holznutzung betraf. Die grenzüberschreitende gemeinsame Weide wurde dagegen aus guten Gründen beibehalten, wie wir noch sehen werden. Solche Streitigkeiten zwischen Dörfern, denen Wald- und Allmendteilungen folgten, beendeten die alte grenzenlose Weide- und Holznutzung im einstigen Niemandsland der Urwälder zwischen mittelalterlichen Siedlungen. Aus solchen Teilungen entstanden viele unserer heutigen Dorf- und Gemeindegrenzen. Rüfenacht und Vielbringen erhielten 1588 am Hüenliwald den kleineren Teil; der «Gross Hüenliwald» kam an Gümligen und mehr noch an Allmendingen. Mit der Teilung des Hünistalholzes 1593 lag Rüfenachts Waldtanteil entlang der Grenze zu Worb-Dorf. In Rüfenacht ging das Aufteilen von Wäldern und Allmenden jedoch in einer neuen Dimension weiter. Leider fehlen Schriftzeugen und damit die genaue Datierung: Wohl im Zug der grossen Rodungen ab den 1580er-Jahren teilten die berechtigten Dorfbauern sämtliche Wald- und All- mendareale unter sich auf. Dieser Prozess war in der Region einzigartig und konnte nur statt- haben, weil er im Einverständnis mit der Herrschaft Rüfenacht geschah, die ihrerseits ihr umfang- reiches Hofgut mit Wald- und Allmendstücken aus der Teilung reichlich ausstattete. 13

II. Die «Herrschaft Rüfenacht» – wie sie entstand, und wie sie zu Ende kam

Frühes Interesse von Berner Ratsfamilien an Bodenrenten in Rüfenacht

Die sozusagen herrschaftsfreie Situation von Rüfenacht scheint mit den Güterverkäufen der Grafen von Kiburg-Dillingen an Interlaken ihren Anfang genommen zu haben. Nach diesen und anderen Verkäufen gab es in Rüfenacht keine einigende, regelnde Grundherrschaft mehr, sondern nur noch wechselnde unterschiedliche Bezüger von Zinsen und Zehnten ab den Höfen. Nach 1250 begannen Stadtbürger von Bern, die zu Vermögen und Ratswürde gelangt waren, Grundeigentum in der Nähe der Stadt zu erwerben. In Rüfenacht löste 1267 die Ratsfamilie von Seedorf grund- besitzende Klöster als Inhaberin von Zinseinkommen ab, das von sechs bis sieben Hofgütern zu leisten war. Anders als die Familie von Seedorf betrieb Metzger Peter Kistler in Rüfenacht den Aufbau einer eigenen kleinen Herrschaft. Kistler wurde im Twingherrenstreit 1470 als Nichtadeliger zum Schultheissen gewählt. Aus der Mitgift seiner verstorbenen ersten Frau Anastasia Rieder hatte er einen Anteil am Laienzehnt von Rüfenacht erlangt, den er seinen Kindern erster Ehe vor- enthielt. Dieser Zehnt ging nicht an den Unterhalt der Kirche Worb, sondern lag bereits ab 1324 als vererb- und handelbarer Vermögenswert in der Hand von Bernburgern. Er betraf einen Zehntel der Hofproduktion, nämlich den Grosszehnt (Dinkel und Hafer), den Kleinzehnt (Hanf und Flachs, Obst und Gemüse), den Jungezehnt (das zehnte Jungtier) sowie Heu und Emd nach Schätzung. 14

Abb. 3. Der Laienzehnt von Rüfenacht Der Zehntherr erhält 10% der Hofproduktion an Getreide, Gemüse und Obst sowie an Jungtieren, Heu und Emd

Der üble Erbstreit in der Familie Kistler, der den Rat für Monate beschäftigte, bewog diesen, den Zehnt nach Kistlers Tod um 1480 in ein kriegsdienstpflichtiges «Mannlehen» umzuwandeln, das nur im Mannesstamm vererbbar war. Dieses ging zuerst an die Familie von Diesbach, welche die Herrschaft Worb besass. Als das Lehen nach dem Tod Ludwigs von Diesbach 1532 erbsweise an seine Tochter Barbara gefallen war, übertrugen es Schultheiss und Rat ihrem Ehemann Christoffel vom Stein als Treuhänder der Erbin. Nach Steins frühem Tod 1537 verkaufte die Witwe den Zehnt 1538 an Grossrat Hans Ulrich Zehender, damals Hofmeister zu Königsfelden, der von Schultheiss und Rat unter Lehenseid mit dem Mannlehen beliehen wurde. Der neue Zehntbesitzer musste sich im Jahr darauf gegen renitente Rüfenachter Bauern durchsetzen, die sich vor der Leistung des Junge- und auch des Heuzehnten mit Ausflüchten zu drücken suchten, indem sie ihre Wiesen als zehntfrei erklärten.

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Der Aufbau der Herrschaft Rüfenacht unter Marquard Zehender im 16. Jahrhundert

Mit Hans Ulrich Zehender (1533–1545†), Löwenwirt in Bern, kam eine Familie zum Mannlehen, die aus Aarau stammte und erst wenige Jahrzehnte davor, 1473, in Bern Wohnsitz genommen und das Burgerrecht erworben hatte, um darauf in den Rat aufzusteigen. Der Ratsfamilie Zehender gelang es damals wie anderen Ratsfamilien auch, im Umkreis um Bern Grund und Boden und Herrschaftsrechte zu erwerben und sich eine Herrschaft aufzubauen. Vorbild waren die Adels- herrschaften: Anstelle einer Burg bauten sich die neuen Herren Landsitze (Campagnen), die sie als Sommersitze nutzten. Zu jedem dieser Landsitze gehörte ein von einem Lehenbauern bewirt- schafteter Bauernhof, der die Familie mit den nötigen Lebensmitteln sommers und auch winters in der Stadt zu versorgen hatte. Mit dem Zehntkauf in Rüfenacht 1538 war indessen kein Grundbesitz verbunden und damit auch kein Bauland vorhanden. Zehender musste sich deshalb zuerst eigenen Grundbesitz erwerben, bevor er an den Bau eines Landsitzes gehen konnte. Das geschah aber erst unter Hans Ulrichs Sohn Marquard Zehender, der nach dem frühen Tod des Vaters und zweier älterer Brüder 1567 zum Mannlehen kam. Der junge Marquard Zehender (1542–1610†) stand zu diesem Zeitpunkt am Anfang einer bemerkenswerten Ratskarriere mit drei Landvogtszeiten: Ab 1564 war er Chorgerichtsschreiber anstelle seines verstorbenen Bruders Samuel, ab 1565 Grossrat, 1572–78 Landvogt von Nyon. 1580 kam er in den Kleinen Rat und wurde 1582 Zeugherr des Rats, 1583–85 ging er als Landvogt nach Aigle, 1588 kam er zum Amt des Böspfennigers, und noch im gleichen Jahr wurde er als Landvogt nach Lausanne entsandt, wo er während seiner Amtszeit 1588–1594 die vom damaligen Bürgermeister von Lausanne angezettelte Verschwörung gegen Bern zur Zufriedenheit der Berner Regierung zu Ende brachte. Das Jahr 1582 markierte den Aufstieg vom blossen Zehnt- zum Grundbesitzer und die Grün- dung der Patrizierherrschaft Rüfenacht: In drei Schritten erwarb Ratsherr Zehender nebst Zinstiteln vorerst Grundeigentum. Dazu gehörte das Obereigentum an den beiden Grosshöfen «Hinterhaus» oben am Scheyenholz und «Vorderhaus», den Hof beim späteren Herrenhaus. Dieses Eigentums- recht erlaubte ihm, die Höfe mit einem Lehenbauern zu besetzen oder einen solchen bei Misswirtschaft oder Renitenz auch abzusetzen. Er erwarb Weiderechte in den Gemeindewäldern für vier Schweine und Rechte auf der Allmend und auf der Brache für eine Kuh und zwölf Schafe; in den Gemeindewäldern durfte er Zaunholz schlagen. Ferner bedingte er sich vom Lehenhof Hinterhaus das Recht aus, eine oberhalb liegende Quelle auf seine Hofstatt leiten zu dürfen. Die Zuleitung des Quellwassers erfolgte erst Jahre später im Zeitraum 1605/07, als Zehender seine eigene Wasserversorgung einrichtete, unabhängig von jener des öffentlichen Dorfbrunnens. Ziel war die verbesserte Anlage von Wässerwiesen. Die Rüfenachter Bauern hatten mit der mine- ralreichen düngenden Hangwässerung vermutlich schon in den 1560er-Jahren begonnen und wa- 16

ren, vorerst ohne Erlaubnis des Zehntherrn, von der ausschliesslichen Getreideproduktion ab- und auf eine Kombination von Ackerbau und Milchwirtschaft übergegangen. Mit dem Verkauf von Butter und Käse auf dem Wochenmarkt in der nahen, mit nur anderthalb Stunden Fussmarsch entfernten Stadt Bern hatten sie sich eine zweite zehntsteuerfreie Einnahmequelle erschlossen. Wie ein Inventar von 1676 verzeichnet, hatte sich Zehenders Gutshof ebenfalls auf diese erweiterte Hofproduktion eingestellt: Damals besass der Hof der Herrschaft zwölf «Melkkühe», vier Schweine und ein Alprecht samt Schweinetränke auf der Alp Steinboden im Eggiwil. Ab 1582 vergrösserte Zehender seinen Grundbesitz aber nicht nur durch Landzukäufe, sondern durch eine intensive Rodetätigkeit. Aber nicht nur Zehender rodete, vielmehr rodete ganz Rüfenacht, und dies wohl bereits seit einiger Zeit: In seltener Einmütigkeit rodeten Bauern und Lehenherr in grossem Stil Wald und brachen vorher beweidete magere Allmenden neu zur Saat auf. Zum einen stiess dies aber zunehmend auf Widerstand bei den Nachbarn, mit denen Rüfenacht in Weidegemeinschaft verbunden war, weshalb jeweilige Nachbarn auch die Aufteilung des Hüenliwalds 1588 und 1644 sowie des Hünistalholzes 1593 und 1681 verlangten. Dass der Rat das sonst unerlaubte Roden nicht einfach verbot, sondern stillschweigend durchgehen liess, dürften die Rüfenachter Bauern Zehenders Einfluss im Ratskollegium verdankt haben. Erst viel später, nämlich 1752 und 1768, decken Schriftzeugen den grossen Umfang des Hofguts der Herrschaft Rüfenacht auf: An Äckern und Matten waren es 100 Juchart an einem Stück (36 ha), an Waldungen über 70 Juchart (25,5 ha), wobei allein der aufgeforstete Tannwald im Hüenli an der Grenze zu Vielbringen und Allmendingen 34 Juchart (12,24 ha) umfasste. Die Gesamtfläche von rund 61 Hektar ging in der Region weit über die Grösse damaliger Bauernhöfe hinaus.

Zur Herrschaft der Landsitz: Der Bau des Herrenhauses 1582–1607

Um 1582 besass Zehender demnach Grund und Boden und ein sattes Jahreseinkommen – nun konnte er sich den Sommersitz bauen. Zum Hausbau sind keine Schriftquellen überliefert. Publizierte Baudaten beruhten auf Stilvergleichen von Kunsthistorikern und lagen «um 1650», was mit meinen Forschungsdaten nicht übereinstimmen konnte, weshalb sich der frühere Denk- malpfleger Jürg Schweizer mit einer Bauuntersuchung der Frage annahm. Diese förderte zutage, dass der Bau früher und in zwei Etappen erfolgte, dass aber Jahrzehnte später ein Umbau die ursprüngliche Baugestaltung stark veränderte. Und so dürfte es sich zugetragen haben: Um 1582 errichtete Marquard Zehender neben seinem unteren Bauernhof in bester Wohnlage einen «spätgotischen gemauerten Wohnstock, der Vorrats- haltung mit repräsentativer Wohnmöglichkeit verband», einen Typus, wie er nach Schweizer damals in der Stadt vorkam. Der zweistöckige Wohnstock lag über einem gepflästerten Gewölbekeller, unschwer zu erraten, dass es mit der nun eingeführten Milchwirtschaft ein Käse- 17

keller war. Über dem Keller lag die Küche mit Eingang vom Hof her und mit einer grossen offenen Feuerstelle zur Gartenseite hin, wo sich sehr wohl Käse herstellen liess. Im Obergeschoss darüber gab es eine Stube als Unterkunft, die vom Hof her über eine Aussentreppe erschlossen war. Die zweite Bauetappe kam vermutlich zwischen 1605 und 1607, als sich Marquard Zehender mit der eigenen Quellfassung am Scheyenholz die unabhängige Wasserversorgung gesichert hatte. Diese Quellwasserversorgung existiert noch heute und dient sechs Anteilhabern. Damals erfolgte der Ausbau zum Herrenhaus – nach Westen die Verlängerung des Wohngebäudes um ungefähr 18 Meter und nach Osten der Bau des Laubengangs um 14 Meter, der in einem Abortturm endete, der neben seiner bekannten Nützlichkeit auch als Statussymbol im Bauerndorf diente. Von West bis Ost ergab sich so ein rund 32 m langes, schmales Gebäude, das die Einheimischen deshalb auch «d's schmale Hus» oder auch «d's Türmli» nennen.

Das Herrenhaus mitsamt dem Herrschaftsbezirk wurde von einer hohen Umfassungsmauer umgeben, die beim Bau der Worbstrasse um 1842 abgebrochen wurde und einst vermutlich im Trapez von Worbstrasse–Hinterhausstrasse–Alte Bernstrasse und südwärts zurück zur Worbstrasse verlief. In diesem Herrschaftsbezirk lagen Herrenhaus und Bauernhof mit Stall, Scheune, Wagenschopf, Speicher, Ofenhaus und «Kellerhaus» sowie Gärten. Und das dürfte der Schlüssel zum Verständnis des etappenweisen Baus sein: Die Familie Zehender war im Rat eine Aufsteigerin und nicht besonders begütert. Um 1582 waren Erfolg oder Misserfolg der teilweisen Umstellung auf Milchwirtschaft noch nicht abzusehen. Aber nicht nur bei der ersten Bauetappe, sondern auch bei der zweiten blieb Marquard einem sparsam-verantwort- lichen Bauen verpflichtet. Nach Schweizer fand ein späterer Umbau des Wohntrakts statt, der die ursprüngliche Gestaltung veränderte: Er betraf die Grundrissneugestaltung im Erdgeschoss, die neue Befens- terung der Räume und deren kostbare Wand- und Deckenvertäferung. Das Obergeschoss behielt die alte Einteilung und Befensterung, erhielt aber an Wänden und Balkendecke eine Dekora- tionsmalerei, die nach Schweizer vom bekannten Künstler Hans Conrad Heinrich Friedrich um 1670/80 angefertigt wurde.

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Abb. 4: Der Landsitz Rüfenacht um 1900: Die Süd- oder Gartenseite

Links im Bild das Herrenhaus mit der Küche im Erdgeschoss des Ostteils, darüber der Kamin, im Westen der gartenseitige Hauseingang, gegen Osten der offene Laubengang zum Abortturm. Das Erdgeschoss ist durchwegs gemauert, Geschosse darüber sind in Riegelwerk, das beim Haupttrakt verputzt ist; vor der Spalierwand liegt der eingezäunte Küchengarten. Westlich des Haupttrakts ist das freistehende Wohnhaus des Bauernhofs mit der Seitenlaube zu sehen, links im Bild der Telefonmast für das im Gasthaus «Zur Sonne» 1897 installierte erste Telefon in Rüfenacht; an der Turmmauer liegt der Brennholzvorrat.

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Abb. 5: Der Landsitz Rüfenacht um 1900: Die Nord- oder Hofseite Links im Bild das achteckige Riegtürmli auf quadratischem gemauertem Erdgeschoss, daneben der Ein- und Anbau des Schlachtlokals (um 1860) in den vorher offenen, säulengestützten Durchgang zum Abortturm; dieser Anbau machte eine neue Zugangstür zum Abortraum nötig. Zwischen Schlachtraum und Herrenhaus liegt die Treppe zum Obergeschoss und weiter zum Dachraum, unter der Treppe der Abgang in den Gewölbekeller. Die Küche im Ostteil des Herrenhauses hat einen eigenem Eingang vom Hof her, über der Tür sind die Rauchspuren aus der Küche zu sehen. Vor dem Wohnhaus liegt Brennholz für Küche und Trittöfen in den durch ein Hausportal erschlossenen zwei Stuben; Brennholzvorrat liegt auch an der Ostseite des Turms. Rechts im Bild das Bauernhaus und ein Mast der 1897 errichteten Telefonleitung.

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Das Ende der Ära Zehender: Neue Herren in Rüfenacht ab 1676

Der Umbau des Landsitzes fand unter Marquard Zehender (1611–1675†), dem Enkel des Herrschaftsgründers, statt. Seine Vollendung mündete überraschend in das Ende der Ära Zehender und ihrer 138-jährigen Präsenz in Rüfenacht: 1675 starb Marquard. Mit seinem Tod flog die hohe Verschuldung der Familie auf, die zum Konkurs und im Jahr darauf zur Versteigerung der Herrschaft führte. Anders als der ältere Marquard liess sein Enkel Marquard beim Umbau und der Baumodernisierung die Vorsicht vermissen, wofür seine Familie 1676 mit dem Verlust des schön hergerichteten Sommersitzes büssen musste. Fehlkalkulationen beim Bau von Herrenhäusern waren kein Einzelfall. Baufieber trieb auch andere Bauherren in den Ruin, wie etwa Abraham Hegi im nahen Muri, der den von ihm 1758 erworbenen Landsitz abbrechen und auf dessen Grundmauern das heutige «Schloss» erbauen liess, was seine finanziellen Mittel am Ende überstiegen hat. 1676 erwarb Ratsherr Beat Ludwig Stürler die Herrschaft, die er seiner Tochter gleich als Mitgift in die Ehe gab; ihr Ehemann, Franz Ludwig Muralt, wurde neuer Mannlehenträger. Damit kam auf die Zehender für 31 Jahre die Ratsfamilie Muralt bis zum Verkauf der Herrschaft 1706 durch die Witwe des letzten Muralt. Darauf folgten für 62 Jahre drei Ratsfamilien. Wieder gingen Herrschaft und Landsitz an Töchter als Mitgift, und Schwiegersöhne übernahmen die Herrschaft und das Mannlehen. Das schön hergerichtete Herrenhaus diente in der Folge den Ratsfamilien Stuber, Wyss-Stuber und Knecht-Wyss als Sommersitz. Wieder waren es Schulden, die den letzten Herrschaftsherrn, Oberst Johann Jakob Wyss, zum Verkauf der Herrschaft zwangen. 1768 ging diese mitsamt dem Mannlehenstatus durch Kauf an die einheimische Bauernfamilie Gfeller. 1771 übernahmen die Gfeller auch das Sommerhaus, das nun zum Ganzjahressitz von Bauernfamilien wurde. Der Sitz ist noch heute nach 243 Jahren in Gfellerscher Hand. Zu den Merkmalen der Herrschaft Rüfenacht gehörte, dass sie eine gut dotierte, wenn auch umfangmässig kleine Herrschaft war mit einem schönen, aber in den Dimensionen bescheidenen Landsitz. Wie die meisten kleinen Patrizierherrschaften war sie ohne Jurisdiktionsrechte, was sie von einstigen Adelsherrschaften wie beispielsweise Worb deutlich unterschied. Solchen Herr- schaften standen neben grundherrlichen Rechten auch gerichtsherrliche und kirchenrechtliche zu. Mit dem Mittel der Kirchenherrschaft setzte die Herrschaft Worb denn auch ihre grundherrlichen Gewerbemonopole im Umfang der ganzen Kirchgemeinde durch: In Rüfenacht, das nicht unter die Herrschaft Worb gehörte, hintertrieb sie die durch die Lehenbauern im Hof neben dem Herrenhaus geführte Weinschenke. Gegen die grosse Herrschaft Worb kam die vergleichsweise kleine Herr- schaft Rüfenacht nicht auf.

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Die Bedeutung der Patrizierherrschaft Rüfenacht für das Dorf und seine Wirtschaft

Die lange Präsenz von Patrizierfamilien im Bauerndorf Rüfenacht von insgesamt 233 Jahren wirkte sich auf die Rüfenachter Landwirtschaft des Ancien Régime segensreich aus. Eines ist klar: Die kleine Agrarrevolution mit der Kombination von Kornbau mit Milchwirtschaft ging nicht von den Herren, sondern von den Rüfenachter Bauern aus, die in der Weidegemeinschaft mit den Einzelhöfen am Dentenberg um deren Einkommen aus dem Verkauf von Butter und Käse am Berner Wochenmarkt wussten. Entscheidend war dann aber, dass die Herrschaft die Neuerungen nicht verbot, sondern vorerst tolerierte und ab 1582 unterstützte, indem sie sich an diesen beteiligte. Die städtischen Ratsherren brachten ihrerseits das Wissen um den im 16. Jahrhundert in der Voralpenregion angelaufenen Wandel in der Landwirtschaft nach Rüfenacht, Kenntnisse, die sie während ihren Amtszeiten als Landvögte erwarben. Und sie garantierten die Ratsnähe: Die Unterstützung, welche die Herren Zehender, Stürler, Muralt, Stuber, Wyss und Knecht durch ihre Ratskollegen erfuhren, wenn es um die ausgesprochene oder stillschweigende Genehmigung von sonst nicht zugelassenen Neuerungen ging, war für den Erfolg der Agrarmodernisierung wesentlich. Denn der alte Getreidebau in Zelgen war in den Dörfern dieser Region gleich wie im Mittelland noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts sakrosankt. Anders als zeitgleiche Herrschaftsherren – etwa die von Diesbach und deren Nachfolger in Worb –, die als Zehntherren unerbittlich an der ausschliesslichen Getreideproduktion festhielten, hatte sich Zehntherr Marquard Zehender auf das Wagnis einer teilweisen Umstellung auf Milchwirtschaft eingelassen. Die gleichzeitigen Wald- und Allmendrodungen waren das Korrektiv, womit Zehntherr und Bauern neue Ackerflächen hinzugewannen. Da sie diese mittels Hang- wässerung besser düngten, nahm im Endeffekt das Zehnteinkommen wohl eher zu als ab. Es gibt keine Schriftquellen zur Käserei in Rüfenacht: Es ist zu vermuten, dass die Herrschaft durch ihren angestellten Käser auch die Milch der Rüfenachter Bauern im hofeigenen Ofenhaus verkäsen liess und den grossen Keller unter dem «Kellerhaus» zur Käselagerung zur Verfügung stellte. Die auf die Gründerfamilie Zehender folgenden Patrizierfamilien führten die Agrarmodernisierung fort. Darunter fiel die wohl bereits im 17. Jahrhundert abgeschlossene Aufteilung der Gemeindewälder und Allmenden auf die berechtigten Höfe und auf das Hofgut der Herrschaft. Dazu gehörte aber auch die Entstehung von Aussiedelhöfen durch das Aussiedeln von Dorfbauern auf das Rodungsland im Gebiet Hüenli, Murmoos, Längimoos und Sperlisacker sowie die Entstehung der Taunersiedlung am Scheyenholz. Dank Kooperation gewannen sie alle – Lehenbauern wie Herrschaft. Nur eines gelang nicht: In Rüfenacht erlaubten die Herrschaftsherren ihren Lehenbauern im Hof neben dem Herrenhaus, das Eigengewächs aus ihrem Waadtländer Weingut bei der Pinte auszuschenken. Sie hatten die Rechnung jedoch ohne die Herrschaft Worb gemacht: 1628 und er- 22

neut 1688 liess diese kraft ihres Worber Tavernenmonopols im ganzen Kirchgang Worb, so auch in Rüfenacht, neu entstandene Weinschenken abschaffen.

Die Herrschafts- und Hofgutverwaltung der Patrizier aber war so gut eingerichtet, dass sie nach dem Übergang des Hofguts an die Bauernfamilien Gfeller 1768 von diesen im gleichen Stil weitergeführt wurde. Daher blieb in Rüfenacht eigentlich alles beim Alten: Einer der Gfeller wurde vom Rat bei gleichen Auflagen wie vordem die Herren mit dem Mannlehen betraut. Das Hofgut blieb ungeteilt und wurde von den Besitzerfamilien von ihren eigenen Höfen und vom Landsitz aus gemeinsam bewirtschaftet. Was aber geschah mit dem Laienzehnt von Rüfenacht? Dieser fiel mit dem Mannlehen an die Gfeller, die ihn wie davor die Patrizier jährlich von den zehntpflichtigen Mitbauern im Dorf und am Berg bezogen. Er ermöglichte den Gfeller die Abzahlung der hohen Kaufsumme.

Doch auf eine Weinschenke musste das Dorf noch für rund sieben Jahrzehnte warten. Erst als die alten Herrschaftsrechte unter der liberalen Regierung des jungen Kantons Bern obsolet geworden waren, gelang es zwei Rüfenachter Landwirten ein Weinschenke-Patent am Durch- gangsverkehr zu erwerben: Johann Stauffer eröffnete 1836 die erste Schenke in Rüfenacht, Gemeinderat Johann Gfeller 1844 die zweite. Während diese als «Restaurant Zur Sonne» bis zum Brand von 2012 Bestand hatte, ging die ältere nach nur sechzehn Jahren ein.

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III. Rüfenacht seit dem 19. Jahrhundert: Der Wandel vom Bauerndorf zur Agglo-Siedlung von Bern

Rüfenacht im 19. Jahrhundert: Ein kleines Dorf und seine Höfe im Dorf und ausserhalb

Ab dem späten Mittelalter vermelden Schriftquellen in Rüfenacht sechs, manchmal auch sieben berechtigte Höfe; darüber hinaus weiss man wenig über das Erscheinungsbild von Rüfenacht. Die Verfasser von Nachschlagewerken für die Verwaltung – 1783 Johann Friedrich Ryhiner und 1838 Karl Jakob Durheim – überliefern keine Seelenzahlen für den Ort. Dafür erfährt man, dass das Dorf aus berechtigten alten Bauernhöfen, den «höfen», und den nichtberechtigten Tauner- und Klein- bauernhäusern, den «häusern», bestand, und dass es im Dorf Rüfenacht stets noch sechs oder sieben alte Höfe sowie inner- und ausserhalb des Dorfs weitere 14 «häuser» gab. 1870 lässt sich Rüfenacht auf der Siegfriedkarte erstmals in seiner Anlage und Dimension erfassen: Der Ort ist klein und besteht klar ersichtlich aus Höfen im Dorf und Höfen ausserhalb des Dorfs. Im Dorf liegen die Höfe mehrheitlich an den wichtigen Verkehrssträngen Bernstrasse und Dorfstrasse (siehe Abb. 6). Dabei scharen sich einige Höfe recht eindrücklich um die platzartige Erweiterung der Bernstrasse in der Linkskurve, von wo die Strasse das Dorf in Richtung Gümligen verlässt. An der Bernstrasse sind es der Gfellerhof beim Herrenhaus «Türmli» (1) und dieses selbst, der Gfellerhof mit Restaurant «Zur Sonne» (2), der Hof der Familie Aebersold (3), der Hof der Familie Gehrig (4) sowie oben am Scheyenholz der Hof Hinterhaus der Familie Gfeller (5), fer- 24

ner der Hof der Familie Stauffer im Dreieck Alte Bernstrasse/Dorfstrasse/Worbstrasse (6), die den Hof nachweislich in den Jahren 1836 bis 1852 besass, diesen später an die Handelsgärtnerei Dähler verkaufte, bis ihn die Familie Rüfenacht 1928 erwarb. Die genannten Höfe sind die sechs

Abb. 6: Rüfenacht auf der Siegfriedkarte von 1870: Das Dorf und die Höfe ausserhalb des Dorfs

sechs alten berechtigten Höfe. Sie liegen alle nahe um die Dorfmitte, wo der öffentliche Dorf- brunnen die dörfliche Wasserversorgung sicherstellte. Zu den «Höfen ausserhalb» gehören die Höfe Längimoos, Sperlisacker, Hüenli und Murmoos. Sie sind typische Ausbauhöfe auf Rodungen des 16. und 17. Jahrhunderts wie auch der erst 1847 geschaffene Hof Worbstrasse 28 (Paul Gfeller), der mit Rodungsland aus dem ehemaligen Hofgut ausgestattet wurde. Ebenfalls auf Rodungsland liegen der Kleinhof Rüfenacht oben am Scheyen- 25

holz und der um 1690 erbaute Kleinhof im heutigen «Sunnedörfli», ebenfalls in der Hand der Fami- lie Rüfenacht. Neben ihm gibt es um 1870 am Scheyenholz weitere Kleinbauernhöfe, die im 18. oder erst im 19. Jahrhundert aus ehemaligen Taunerhäusern entstanden waren. Zu Rüfenacht ge- hören aber auch die Höfe am Dentenberg, nämlich die Höfe Holti (Halti), Schüni und das Neuhaus.

Abb. 7: Rüfenacht auf der Siegfriedkarte von 1870: Das Dorf und seine sechs alten Höfe

Neue Verkehrswege durchschneiden die Landschaft und eröffnen ab 1842 neue Perspektiven

Die Höfe mit ihren Nebenbauten wie Speicher und Ofenhäuser wurden von der Strasse aus, an der sie lagen, erschlossen. Das angebaute oder freistehende Wohnhaus war überall nach Süden gerichtet, egal wie die Strasse verlief. Als schönste Wohnlage im Dorf galt der Südrand der Geländestufe mit der besten Fernsicht. Hier reihten sich von Westen nach Osten der Bauernhof 26

beim «Türmli», das Herrenhaus selbst, der Gfellersche Erbhof (die spätere «Sonne») und der einstige Stammhof der Rüfenacht auf – alles Anwesen an der Alten Bernstrasse. Eine schöne Wohnlage hatte auch der mächtige Hof Hinterhaus oben am Hang. Während die alten Verbindungswege die Höfe einst miteinander verbanden, umfuhren die modernen Verkehrswege die Siedlungen: die neu angelegte Worbstrasse von 1842, die Schweizerische Centralbahn (heute SBB) Bern–Thun von 1859 sowie die Bernische Staatsbahn (SBB) Bern–Langnau von 1864 mit ihrer Station Worb östlich von Vielbringen, deren Trassee im Hüenliwald die ungefähre Dorfgrenze von 1644 zwischen Rüfenacht und Vielbringen markiert. Die neuen Verkehrswege schnitten sich recht eigentlich in die Landschaft ein, so auch die Worbstrasse: Von Worb kommend, durchschnitt sie ab 1842 die Vorgärten der Höfe Stauffer (später Dähler, dann Rüfenacht) und Gfeller sowie das Areal des Herrenhauses und dessen Bauernhof. Prominentes Opfer des Strassenbaus wurde die einstige hohe Umfassungsmauer, die wie bei andern Patriziersitzen den Hofbezirk mit Herrenhaus, Hofgebäuden und Gärten gross- räumig umgab. Sie stand den Strassenbauern im Weg und musste weg. Um 1957 stiessen Bauarbeiter bei der Verlegung der Alten Bernstrasse auf Fundamentreste im Garten der Lie- genschaft Alte Bernstrasse 12 (Vogt). Wilde Grabungen legten 1998 ein Stück des Fundaments frei, wie das vom Archäologischen Dienst nachträglich dokumentiert wurde. Die neue Worbstrasse griff zwar in gewachsene Strukturen ein, eröffnete aber den am meisten Betroffenen, den Familien Gfeller und Stauffer, neue Perspektiven für ihr Erwerbsleben und zog Gewerbetreibende von Aussen ins Dorf. Besonders unternehmerisch waren vom Strassenbau profitierende Familien. Der Steinhauer und Maurer Christian Rüfenacht eröffnete wohl in den frühen 1830er-Jahren den Reigen der Gewerbetreibenden im Bauerndorf: Als Aufträge im Stras- senbau anfielen, errichtete er im erworbenen Kleinhof auf dem Hübeli an der Bernstrasse seinen Steinhauerbetrieb, aus dem folgend das Baugeschäft zuerst im Hübeli, ab 1913 dann im separaten Gewerbebau an der Dorfstrasse wuchs. 1836 richtete Johann Stauffer in Erwartung des zunehmenden Durchgangsverkehrs in seinem Bauernhaus die erste Schenke im Dorf ein, deren Wirtepatent allerdings nach 1852 nicht mehr erneuert wurde. Johann Gfeller, Worber Gemeinderat, eröffnete 1844 in seinem neuerbauten Bauernhaus hart am Verkehr die zweite Schenke, die spätere «Sonne»; auch baute er innerhalb seines Hofstattareals 1848 eine Käserei. Die Gfeller im Hof beim Herrenhaus richteten um 1860 das öffentliche Schlachtlokal ein, in welchem ein Störenmetzger im Herbst den Bauern Tiere für die Metzgete nach den neuen Hygiene-Vorschriften schlachtete. Die Gfeller brachten 1897 das Telefon nach Rüfenacht und richteten den ersten Apparat in ihrem Gasthof ein; im Bauernhaus beim «Türmli» eröffneten sie die erste Postablage. Im Jahr darauf eröffnete Johann Gfeller im Hof an der Worbstrasse 28 den ersten Dorfladen. Nach Eröffnung der Bern–Worb-Bahn (BWB) 1898 wurde das Käsen eingestellt und ab da die Milch per Bahn nach Bern zur Verarbeitung spediert. Das Käsereigebäude fand 1902 einen Käufer: Der be- 27

nachbarte Bauunternehmer Rüfenacht erwarb es und richtete darin für seine Frau den zweiten Dorfladen in Konkurrenz zum ersten ein. Mit dem Strassenbau war Geld ins Dorf geflossen: Mit Abfindungsgeldern ersetzten die von der Landabtretung betroffenen Landwirte ihre Bauernhäuser nach Fertigstellung der Strasse durch bemerkenswert grosszügige Fachwerkbauten: 1843 entstand als erster der Wohnstock der Familie Stauffer, erbaut als Weinschenke mit Gewölbekellern (Abb. 7/7) durch Steinhauer Christian Rüfenacht. Diesem Bau folgte 1844 das dreistöckig hochragende Bauernhaus Gfeller mit der zweiten Weinschenke (die spätere «Sonne», Abb. 7/1) und um 1847 der Gfellerhof beim Herren- haus. Neuanlagen waren 1847 der Gfellerhof an der Worbstrasse 28 (heute Paul Gfeller) und 1848 der Gewerbebau mit Käserei an der Dorfstrasse (Abb. 7/6). Bauernhäuser dagegen, die nicht an die Worbstrasse grenzten wie die Höfe Aebersold und Gehrig und der Hof Hinterhaus, wurden baulich nicht erneuert.

Abb. 8: An Rüfenachts einst schönster Wohnlage: Bauernhöfe und Nebenbauten, Foto nach 1900 1 Hof und zweite Schenke («Sonne») 5 Haus Worbstrasse 35 2 Dependance mit Saal 6 Käserei, ab 1902 Dorfladen, Dorfstrasse 10 3–3 Scheune und Wohnhaus Gehrig 7 Scheune-Wohnhaus, Schenke von 1836–1852 4 Steinhauerei Rüfenacht im Hübeli 8 Bauernhaus Bernstrasse 34 (Reusser)

Die neuen Erwerbsmöglichkeiten galten in den Familien Gfeller als Zusatzeinkommen neben der dominierenden Landwirtschaft, bei den Rüfenacht dominierte das Baugeschäft. Überall wurden Neubauten daher zur Schonung des Ackerlands – einer Grundlage der bäuerlichen Existenz – in die durchwegs grossen Hofstattareale hineingebaut.

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Mit Strasse und Bahn kommen Zuzüger – Neubauten im Dorf und ausserhalb

Um 1900 – zwei Jahre nach Eröffnung der Station «Rüfenacht» an der Strassenbahn – verzeich- nete die Volkszählung ein an Bevölkerung und an Häusern gewachsenes Rüfenacht: Neuerbaute Häuser lagen inner- und ausserhalb der alten dörflichen Siedlungszone: Im Dorf entstanden Wohnhäuser im Umfeld der Bahnstation Rüfenacht sowie an der Alten Bern- und der Worbstrasse innerhalb von Hofstattarealen unter Schonung der Felder. Erste quartiermässige Überbauungen ausserhalb des Dorfs findet man in steilen, landwirtschaftlich unproduktiven Lagen wie das «Sunnedörfli» oben am Scheyenholz oder auch entlang von Wegen und Strassen wie die ersten Einfamilienhäuser um die «Haltestelle» Langenloh zwischen Worbstrasse und Siedlungsweg und am Weg zum Hof Murmösli und zur Wislenalp. Ab den 1860er-Jahren entstanden im Dorf neben den Bauernhäusern erste Gewerbebauten von Zuzügern, so etwa die ehemalige Schreinerei Läderach im Dorfzentrum, an der Alten Bernstrasse die ehemalige Schlosserei, erbaut 1866, oder das Gewerbehaus Vogt von 1885. 1901 entstand an der Alten Bernstrasse das erste Mehrfamilienhaus mit Gärtnerei (heute Überbauung «Rosenpark»). Mit dem Bau von Einfamilienhäusern kamen die ersten Pendler, die ihrer Erwerbsarbeit ausserhalb von Rüfenacht nachgingen – eine Neuheit im Bauerndorf. Aus den 1920er-Jahren datieren erste qualitätvolle Wohnbauten und Villen wie beispielsweise das gutbürgerliche Wohnhaus von 1925 an der Alten Bernstrasse 58 oder die 1927 im römischen Atriumsstil erbaute Villa an der Alten Bernstrasse 70. Rüfenacht begann sich somit schon vor dem Zweiten Weltkrieg sachte zu ändern. Doch noch in den 1950er-Jahren sah das Dorf gemäss der Landeskarte von 1956 nicht viel anders aus als achtzig Jahre zuvor auf der Siegfriedkarte von 1870. Auf einer Flugaufnahme um 1958 künden indes die ersten Wohnblöcke – Mittelweg 10 und Dorfstrasse 1 – die beginnende Überbauung des Dorfs an. Um die Haltestelle «Langenloh» des Worber Bähnlis zählte die Quartierüberbauung Worbstrasse–Siedlungsweg–Lindenstrasse bereits über zwei Dutzend Ein- familienhäuser und die Siedlung am Weg zum Hof Murmösli und zur Wislenalp deren 14. Noch ist das Dorf samt dörflichen Strukturen intakt: Es gab die Postablage, ab 1925 im Erdgeschoss des «Türmlis» untergebracht, und den Gasthof «Zur Sonne» mit Saal und Kegelbahn. Es gab drei Läden für den täglichen Bedarf – die Bäckerei Wanner (später kurzfristig Dennerfiliale), den Milch- und Käseladen «Chäshütte» sowie an der Dorfstrasse den Laden der Rosa Choffat-Rüfenacht, der damals einer der ersten Selbstbedienungsläden für Lebensmittel in der Region war. 2014 ist die Situation verändert: Der Gasthof war 2012 abgebrannt. Dafür gibt es die Pizzeria «Postillon» («Pöschtli») an der Alten Bernstrasse (zuvor «Restaurant L'Altro») und am Brandplatz der «Sonne» die Imbiss- und Apérobaracke als Provisorium. An Läden gibt es den Selbstbe- dienungsladen von COOP; die «Chäshütte» zog sich auf den Hauslieferdienst zurück. Um 1950 fanden in Rüfenacht achtzehn Landwirte ihr Auskommen. 2014 sind es noch drei Betriebe, die mit 29

Milchwirtschaft ihr Auskommen finden – der Hof der Erbengemeinschaft Gehrig an der Alten Bernstrasse, der Hof Scheyenholz der Familie Rüfenacht-Lüthi und der Hof Holti. Acht Höfe sind verschwunden, darunter auch die Schweinemästerei von Rudolf Gerber an der Scheyen- holzstrasse. Sieben Landwirte mussten ihre Betriebe umstellen, da sie mit zu wenig Land nicht konkurrenzfähig produzieren konnten: Zwei Höfe haben auf Pferdepension umgestellt – die Höfe Worbstrasse 28 (Paul Gfeller) und Murmoos (Fritz Walther); der Hof Scheyenholz (Beat Münger) mit Pferdezucht und Pferdehandel hat die Wislenalp hinzugepachtet. Vier weitere Höfe – Ober- und Unter-Längimoos, Hüenli und der Hof der «Sonne» – verpachten ihr Land zur Bewirtschaftung an auswärtige Bauern.

Der Wandel vom Bauerndorf zur Agglomerationssiedlung von Bern nach 1960

Die beiden Wohnblöcke Mittelweg 10 und Dorfstrasse 1 standen also am Anfang des grossen Baubooms der Sechzigerjahre: Erste Landverkäufe tätigte die Bauunternehmerfamilie Rüfenacht. Als Inhaberin eines Baugeschäfts war sie an Bauaufträgen interessiert; bei eigenem Land schloss sie Landverkäufe mit der Auflage ab, dass das Baugeschäft die Bauarbeiten zu Konkurrenzpreisen ausführen könne. Sie verkaufte vorerst von ihrem Hof und vom Dorf entferntes Land an der Grenze zu Gümligen. Unter den frühen Landkäufern im Westen war die Basler Versicherung, die Immobilien für ihre Vorsorgestiftungen plante. Bei steigendem Interesse an bernnahem Bauland begannen auch andere Hofbesitzer, darunter der Schweinehändler Rudolf Gerber an der Scheyenholzstrasse, nach 1950 Land zu verkaufen. An der oberen Alten Bernstrasse gaben etwas später die Kleinbauern von Gunten und Kunz ihre Betriebe auf und verkauften. An den sich mehrenden Bauprojekten waren unterschiedliche Baufirmen beteiligt. Was nach 1950 noch entfernt vom Dorf angefangen hatte, breitete sich, weil eine Bauordnung fehlte, rasch und unreguliert in Richtung auf das Dorfzentrum aus, vorerst mit Wohnblöcken in der Nähe zur Bahnstation «Rüfenacht», danach quartiermässig von der Alten Bernstrasse nordwärts über die Bächimatt- zur Breitfeldstrasse und ostwärts zur Hinterhausstrasse sowie um den Hof Rüfenacht. Auch ausserhalb des Dorfs wurde gebaut – im Norden im Sunnedörfli und besonders im Osten von Rüfenacht: Die hier entstandenen Neuquartiere mit Einfamilienhäusern, darunter das «Ramseierdörfli», unterschieden sich auch optisch von den Quartieren im Dorf mit ihren Wohnblöcken. Ab den 1950er-Jahren erlebten die Bauern im Dorf erschwerte Arbeitsbedingungen: Wachsender Autoverkehr erschwerte die Überquerung der Worbstrasse mit Landmaschinen und Weidetieren. Im Dorf störte sich die zugezogene Wohnbevölkerung an den Kuhglocken. Miststöcke und Jauchegruben im Dorf waren ein Ärgernis, wie der Traktorenverkehr auf den schmalen Dorfstrassen und das Ausführen von Mist und Gülle auf die Felder. Daraus wuchsen zwangsläufig 30

Unstimmigkeiten zwischen Alteingesessenen, die sich von Fremden überfahren fühlten, und den Zuzügern, die am neuen Ort urbane Verhältnisse erwarteten. Waren da Bauernbetriebe im Dorf Rüfenacht überhaupt noch am Platz? Einer der Ersten, der aufgeben und aussiedeln wollte, war Landwirt Ernst Rüfenacht-Schmutz aus der Bauunternehmerfamilie. Den Entscheid zum Weggehen fasste er, nachdem ihm die Gemeinde 1963 seine Längimoosparzelle für die Schul- und Sportanlage eingezont hatte; darauf verkaufte er auch seinen Grossacker an der Alten Bernstrasse und gab den Hof auf. Als die Gemeinde Worb 1967 ein Baureglement samt Zonenplan in Kraft setzte, war es dann allen Bauern im Dorf klar, dass ihre Höfe nunmehr mitten in der Wohnzone, teils auch in der Mischzone mit Wohnen und Arbeiten lagen und damit absehbar war, dass die schon vor der Einzonung erschwerte Betriebsführung noch schwieriger würde. Die von der Einzonung am meisten Betroffenen entschieden sich zur Betriebsaufgabe – 1972 die Bauern Anton Gfeller-Nobs auf dem Gfellerhof beim «Türmli» und Werner Aebersold an der Hinterhausstrasse. Der Hof Rüfenacht war bereits 1971 für den Bau von Mehrfamilienhäusern abgebrochen worden. Die Familie Gehrig an der Alten Bernstrasse verkaufte Bauland, arrondierte den Hof aber mit Landzukäufen und führte den Betrieb weiter. Das mit dem Zonenplan verbundene Baureglement von 1967 wirkte sich im westlichen Dorf auf das weitere Bauen aus: Je weiter hangaufwärts gebaut wurde vom Biber- zum Dachs- und Fuchsweg, desto anspruchsvoller wurden die Bauwerke von Reihenhäusern zu Einfamilienhäusern und zu Villen am Fichtenweg. Ähnliches lässt sich auch im Osten von Rüfenacht feststellen. Hier hatte die Gemeinde zwischen 1968 und 1972 die schulische Infrastruktur für den schnell wachsenden Ort mit Schul-, Tagesschul-, Bibliotheks- und Sportanlagen erstellt. Der Bau der Primarschule beendete die alte Schulgemeinschaft mit Vielbringen, das ab 1968 das bis dahin gemeinsame Schulgebäude allein übernahm. 1982 erfolgte neben dem Rüfenachter Schulbezirk der Bau des Kirchgemeindehauses auf Land des Hofs Sperlisacker. Damit erfuhr das Quartier eine Aufwertung zum heutigen kulturell-kirchlichen Dorfzentrum. Das Eiltempo, in welchem gebaut und bewohnt wurde, führte zu euphorischen Wachstums- prognosen, die von einer künftigen Ortsgrösse von 10'000 Einwohnern ausgingen. Eine solche «Zehntausend-Seelen-Vorstadt» musste, so die damaligen Planer, mit breiten Verkehrsadern einem grossen Verkehrsaufkommen gerecht werden. Auch war die Anbindung an die ebenfalls in Planung begriffene Autobahn zwischen Bern und dem Oberland zu gewährleisten. 1967 wurde das Projekt «Talstrasse Nr. 10» – einer vierspurigen Schnellstrasse zwischen Muri und Richigen als Umfahrungsstrasse von Dorf Worb – der Bevölkerung in drei Varianten vorgestellt. Alle drei waren für Rüfenacht mit grössten Nachteilen verbunden: Eine vierspurige Schnellstrasse – eine Art Autobahn wie heute zwischen Muri und Gümligen – hätte das Bauerndorf von seiner Agrarfläche im Süden getrennt beziehungsweise die Agrarfläche entzweigeschnitten. 31

Das Planungskonzept sah für das Dorf Rüfenacht eine nördlich hinter dem Dorf verlaufende breite Entlastungs- und nördliche Umfahrungsstrasse von der Gümliger Grenze ostwärts in Richtung Dorf Worb auf der Linie Breitfeldstrasse–Rosenweg–Schulzentrum vor, die unterhalb des Schulzentrums über die Linden- in die Worbstrasse münden sollte. Weiter sollte die nunmehr zur Worbstrasse hin verlängerte Hinterhausstrasse die innere Verbindung zwischen der vierspurigen Worb- und der neuen Entlastungsstrasse sicherstellen, wozu sie zwischen 1957 und 1966 eine erste und um 2002 eine weitere, nun radikale Verbreiterung erfuhr. Während Entlastungsstrasse und vierspurige Schnellstrasse auf dem Papier blieben, läuft die Hinterhausstrasse heute als breite Schneise vom millionenteuren Kreisel in der Worbstrasse nordwärts durch die kahl geschlagene, ausgeräumte alte Dorfmitte und stoppt am Hang vor dem offenen Feld, von wo sie als schmaler Bauernweg hangaufwärts führt.

Abb. 9: Der Bauboom der Sechzigerjahre im Spiegel der Bevölkerungszunahme 1960–1971

In der Tat hatte der Bauboom der Sechzigerjahre eine rapide Bevölkerungszunahme gebracht, die eine Entwicklung zum «Zehntausend-Seelen-Ort» nicht als abwegig erscheinen liess: Rüfenachts Einwohnerzahl stieg zwischen 1960 und 1971 in nur gut zehn Jahren um etwas mehr als das Dreifache (Abb. 8). Doch es ging nicht in diesem Tempo weiter. 1977 reduzierte die Ortsplanung durch Umzonungen die Einwohnerkapazität und wirkte so dämpfend auf die Bautätigkeit und die Bevölkerungszunahme der 1980er-Jahre mit einer nur kurzfristigen Spitze von 4'166 Einwohnern. Mit 3'795 Einwohnern war 1990 schliesslich der Höhepunkt erreicht, danach sank die Einwohner- zahl erst als Folge des Zonenplans von 1993, der eine Ortsplanungsrevision zum Schutz der Land- schaft beinhaltete, dann aber vor allem unter der Auswirkung der allgemeinen Immobilienkrise. 32

Mit dem Zonenplan von 1993 wird nun auch die von der Gemeinde verfügte Kom- petenzverteilung zwischen den Bevölkerungszentren Worb und Rüfenacht ersichtlich: Während sich Worb-Dorf im Bären-Areal ein grosszügiges neues Gemeinde- und Verwaltungszentrum schuf, wurde Rüfenacht bei den Öffentlichen Anlagen ein Abstrich zugemutet. Das in der Ortsplanungsrevision 1993 formulierte Ziel, den Zentrumsbereich von Rüfenacht für Versorgung, Begegnung und Kultur aufzuwerten sowie neue Arbeitsplätze zu schaffen, ist zwanzig Jahre später nicht erreicht, soll aber nach dem Brand der Sonne seit 2013 von einer Planungsgruppe für ein neues Ortszentrum weiterverfolgt werden. Dabei steht Rüfenacht vor Abstimmungen über Verän- derungen, die von Sparmassnahmen diktiert sind. Darunter fallen der Abbruch des Kultur- und Kirchenzentrums wegen des zu teuren Unterhalts und die Verlegung der Oberstufe von Rüfenacht hinunter in das Schulhaus im Worbboden wegen abnehmender Schülerzahlen. Gegen ein «Aus- bluten» Rüfenachts zugunsten von Worb-Dorf regt sich Widerstand.

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IV. Rüfenacht – eine Agglo-Siedlung von Bern und ein Satellitendorf von Worb

Ähnliche Formen der Expansion erlebten im Umkreis von Bern auch andere Dörfer, die heute zur Agglomeration Bern zählen. Während sich nun aber der «Gewerbeort» Gümligen in der klein- flächigen Nachbargemeinde Muri mit ihren 12'765 Einwohnern sowie Worb-Dorf mit 6'211 Einwohnern (Stand September 2014) dank Tausender Arbeitsplätze zu Gewerbe- und Industrie- standorten sowie Einkaufszentren entwickelt hatten, blieb das Arbeitsplatzangebot in Rüfenacht äusserst gering. Diese Entwicklung Rüfenachts ist historisch bedingt: Während Jahrhunderten hatte die Herrschaft Worb als Kirchenherrin im Rahmen der Kirchgemeinde die gewerbliche Entwicklung der Bauerndörfer, darunter auch Rüfenacht, zugunsten ihrer auf Worb-Dorf fixierten Gewerbemonopole unterbunden, wie etwa das Verbot der Rüfenachter Weinschenken gezeigt hat. Man kann sich fragen, ob die Gemeinde Worb mit ihrem vielfältigen Gewerbe- und Einkaufs- angebot in Worb-Dorf daran interessiert ist, dass in Rüfenacht im Rahmen der Ortsplanung vermehrt Arbeitsplätze geschaffen werden sollten, die wohl über kurz oder lang in Konkurrenz zum Gewerbe in Worb-Dorf treten würden. Rüfenacht wird wohl Schlafort bleiben mit einer Pendler- bevölkerung, deren Interessen zwischen Arbeits- und Wohnort geteilt sind. Das einstige kleine Bauerndorf hat im Wachstumsprozess seine Identität verloren: Es ist heute ein Ort ohne einheitlichen Auftritt, ohne Dorfcharakter, ohne dörfliches Zentrum – ein halb- städtischer Vorort mit einigen Bauernhöfen und einem ehemaligen Patriziersitz, eingeklemmt zwi- 34

schen schnell hochgezogenen Wohnquartieren und dem auch ohne vierspurige Schnellstrasse lärmig und stauanfällig gewordenen Pendlerverkehr von Strasse und Bahn am Südrand der Sied- lung. Mit dieser Qualifikation steht Rüfenacht allerdings nicht alleine da. So etwa ist Wabern, das als halbstädtischer Vorort Berns aus zwei mittelalterlichen Bauerndörfchen entstanden war, heute mit fast 7'000 Einwohnern sogar der grösste Ortsteil in der ausgedehnten Gemeinde Köniz. Aufgrund seiner topografischen Lage zwischen Aare und Gurten kann der Pendlerverkehr von ÖV und Autos nur mitten durch den Ort fahren, was auf Rüfenacht nicht zutrifft. Wer in Rüfenacht längs der Worbstrasse lebt, kann sich, wie die Lärmschutzwände zeigen, gegen den Verkehrslärm wehren; die höher gelegenen Einfamilien- und Villenquartiere sind vom Lärm weniger betroffen. Was einst und noch bis zum Zweiten Weltkrieg Rüfenachts schönste Wohnlage war – in der vordersten Reihe, südgerichtet und mit Fernsicht in die Alpenwelt –, muss sich heute allerdings hinter Lärm- schutzwänden verschanzen.