DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 06.09.2011 Redaktion: Hermann Theißen 19.15 – 20.00 Uhr

Der Fall Lynne Stewart Eine amerikanische Geschichte Von Martina Groß Co-Produktion DLF/NDR

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 Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript -

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Musik Doors: Unknown soldier

Einspielung 1: George W. Bush: But we won‘t allow this enemy to win the war by changing our way of live or restricting our freedoms. Justice will be done. Either you are with us or you are with the terrorists.

Musik Bill Frisell - Struggle

O-Ton 1: Lynne Stewart: I am Lynne Stewart, I am an attorney in City. I’ve practiced Criminal Defense Law for over 30 years. In April of 2002 the US government arrested me for aiding materially a terrorist organization based solely upon my representation of Sheik Omar Abdel Rahman who was a convicted terrorist from Egypt.

1. Übersetzerin: Ich bin Lynne Stewart. Über 30 Jahre war ich Strafverteidigerin in New York City. Im April 2002 hat mich die Regierung wegen Unterstützung einer terroristischen Gruppe verhaftet, nur weil ich Scheich Omar Abdel Rahman vertreten habe, einen verurteilten Terroristen aus Ägypten.

Musik: Bill Frisell - Struggle

Einspielung 3: : Today's indictment charges four individuals, including Rahman's lawyer, a United States citizen, with aiding Sheik Abdel-Rahman in continuing to direct terrorist activities of the Islamic Group from his prison cell in the United States.

3. Übersetzer: Vier Personen werden heute angeklagt, - auch Rahmans Anwältin, eine US-Bürgerin, Scheich Abdel Rahman geholfen zu haben, aus seiner Gefängniszelle in den USA heraus terroristische Aktivitäten der Islamischen Gruppe zu leiten.

Musik: Bill Frisell - Struggle - 3

O-Ton 2: Lynne Stewart: Ahm, the background of this was that the Sheik was charged shortly after World Trade Center I with a plot to blow up New York City landmarks. He was ultimately in 1995 convicted of that plot, of the conspiracy.

1. Übersetzerin: Kurz nach dem ersten Anschlag auf das World Trade Center wurde der Scheich angeklagt. Wegen einer Verschwörung, Bauwerke in New York, in die Luft zu sprengen. Dafür wurde er 1995 verurteilt.

Musik: 1 Bill Frisell: Struggle

Haussprecher: Der Fall Lynne Stewart Eine amerikanische Geschichte Ein Feature von Martina Groß

Erzählerin: Am 9. April 2002 war US-Justizminister John Ashcroft höchstpersönlich nach New York gekommen. Er hatte zu einer Pressekonferenz geladen. Ort: Ground Zero. Fast alle Trümmer waren abgeräumt. Von den Türmen des World Trade Center war nur noch ein riesiger Krater übrig. Im Schutt fand sich ein Teil einer Metallplakette. Bis zum 11. September erinnerte sie an die sechs Opfer des ersten Anschlags auf das World Trade Center 1993. Anders als damals, stand jetzt die ganze Nation unter Schock. Angst beherrschte das Land. Angst vor neuen Anschlägen. Irgendwann. Irgendwo. George W. Bushs War on Terror richtete sich nicht nur gegen den äußeren, sondern auch gegen den inneren Feind. Der Patriot Act, ein fast 400 seitenlanges Gesetzesbündel, vereinfachte die Überwachung aller Bürger. Jeder war jetzt verdächtig. Auch Anwälte. Erst recht Bürgerrechtsanwälte, die wie Lynne Stewart politisch motivierte Mandanten vertraten.

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Einspielung 4: John Ashcroft. To those who scare peace loving people of phantoms of lost liberty my message is this: Your tactic only aids terrorists. 0’09“

3. Übersetzer: An jene, die friedensliebende Menschen mit dem Phantom verlorener Freiheit ängstigen, lautet meine Nachricht: Eure Taktik hilft nur Terroristen.

Regie: Atmo

Erzählerin: New York im April 2011. Ralph Poynter, Lynne Stewarts Ehemann, ist auf dem Weg zu dem Haus, in dem er mit seiner Frau zehn Jahre lang gewohnt hat.

O-Ton 5: Ralph Poynter: … but one of the things she says, the American legal system and the whole its woods, racism, sexism, classism, she says, it‘s the best system. And she says, I am going to participate in it and I‘m trying to keep it even.

1. Übersetzter: … sie sagte, trotz des ganzes Krempels, des Rassismus, Sexismus und der Klassenjustiz, das amerikanische Rechtssystem ist immer noch das Beste. Ich will daran beteiligt sein, dass es so bleibt.

O-Ton 6: Ralph Poynter: I never met a person with greater empathy than Lynne Stewart. And when anybody asks me, I say she has so much empathy, she even empathizes with white people and I am saying, man, can you imagine that? (lachen) Schlüssel. Auto aus.

1. Übersetzer: Ich kenne niemanden mit mehr Mitgefühl als Lynne Stewart. Sie hat sogar Mitgefühl mit Weißen. Kannst Du Dir das vorstellen?.

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Erzählerin: Poynter parkt das Auto gegenüber einem kleinen, schmalen zweistöckigen Haus. Neun Jahren ist es her, als FBI-Beamte morgens vor der Tür standen, um Lynne Stewart zu verhaften. Eine Mutter von drei Kindern und mehrfache Großmutter. Damals war sie 63. Eine kleine stämmige Frau, mit grauem Bubikopf, Brille und ausgestattet mit der typischen New Yorker Schlagfertigkeit. In einem Interview erinnerte sie sich 2003 an den 9. April des Vorjahres. Ein Dienstag.

O-Ton 3: Lynne Stewart: Ah, I was arrested at my home. I had the cuffs put on me, I was taken by the FBI in a waiting car to a FBI headquarters. I was fingerprinted, photographed. None of the niceties that one would assume with a quote „prominent“ lawyer. And I was pretty prominent, but may be that was the problem.

1. Übersetzerin: Sie haben mir Handschellen angelegt. Draußen wartete ein Auto. Das brachte mich zum FBI-Hauptquartier. Meine Fingerabdrücke wurden abgenommen. Ein Foto gemacht. Keine Nettigkeiten, die man einer prominenten Anwältin zugestehen könnte. Ich war ziemlich bekannt, aber das war vielleicht das Problem.

Erzählerin: Noch am selben Abend kam Lynne Stewart gegen Kaution frei. Ebenso der Mitangeklagte und Übersetzer Mohammed Yousry. Der dritte Angeklagte, der Postbote, Anwaltsgehilfe und enge Vertraute des Scheichs Ahmed Sattar blieb in Haft. Entgegen dem Ratschlag vieler Kollegen und Freunde tat Stewart, was sie in politischen Prozessen immer tat: Öffentlichkeit herstellen. Sie lud zu einer Pressekonferenz:

O Ton Steward I do think that this will become hopefully a touchstone case as many of my other cases have become. Something that points out the limits that the government can go to in prosecuting people they don‘t like. And we hope that it will stand for that. They have now arrested the lawyer and the interpreter, I mean how much further. Are they 6 gonna arrest the lady that cleans the sheikhs cell? I mean it goes too far. And I think we all have a sense of that.

1. Übersetzerin: Das wird hoffentlich wie viele meiner Fälle ein Prüfstein werden und zeigen, wo die Grenzen der Regierung liegen, Leute anzuklagen, die ihnen nicht gefallen. Wir hoffen auf einen Präzedenzfall. Bis jetzt haben sie die Anwältin und den Übersetzer verhaftet. Ist als nächstes die Frau dran, die in der Zelle des Scheichs putzt? Das geht zu weit. Das wissen wir alle.

Musik: Bill Frisell: Struggle

Erzählerin: Als Lynne Stewart im April 2002 verhaftet wurde, lag ihr Vergehen zwei Jahre zurück. Im Sommer 2000 hatte sie eine Presseerklärung für ihren Mandanten veröffentlicht, in der Scheich Omar Abdel Rahman die Aufkündigung des Waffenstillstandes der Islamischen Gruppe mit der ägyptischen Regierung forderte. Der blinde Kleriker war das geistige Oberhaupt der fundamentalistischen Islamisten. Mit der Veröffentlichung habe die Anwältin, so die Regierung, gegen spezielle Haftregeln verstoßen. Seit 1997 sollten sogenannte „Special Administrative Measures“ - kurz SAMs - die Kommunikation des Scheichs mit der Außenwelt unterbinden. Lynne Stewart wurde der Kontakt zu ihrem Mandanten untersagt.

Musik Bill Frisell: Struggle

Ein Jahr später durfte sie ihn wieder besuchen. Was sie nicht wusste, gedeckt durch ein seit 1978 gültiges Gesetz, das die Regierung ermächtigte, Agenten ausländischer Mächte abzuhören, wurden ihre Besuche auf Video aufgezeichnet. Mit diesem Gesetz wurde das Grundrecht auf Vertraulichkeit zwischen Anwalt und Mandant außer Kraft gesetzt. Im Januar 2001 löste George Bush Bill Clinton als Präsident der USA ab. Es folgte der 11. September 2001. Ein halbes Jahr später wurde Lynne Stewart verhaftet. Ihre Anwaltskollegin Martha Rayner:

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O-Ton 8: Martha Rayner: The crime she was charged with wasn‘t that she had violated Special Administrated Measures that she had actually materially aided terrorism. A very, very serious charge crime in the United States. … I think it sent a message to lawyers who represent people charged with terrorism: Look out! We are watching you. We will watching every move and if there is any miss-step on your part, we are gonna go after you too. And that has a chilling effect on lawyers.

2. Übersetzerin: Das Verbrechen, dessen sie angeklagt wurde, war nicht der Verstoß gegen die speziellen Haftregeln, sondern Beihilfe zum Terrorismus. Eine sehr ernsthafte Anschuldigung in den USA. Das war eine Botschaft an Anwälte, die Leute vertreten, die wegen Terrorismus angeklagt waren. Passt auf! Wir beobachten euch genau. Jeden Schritt und wenn ihr daneben tretet, dann werden wir euch auch verfolgen. Das wirkt und schüchtert Anwälte ein.

Erzählerin: Obwohl die Staatsanwaltschaft Lynne Stewart wegen Beihilfe zum Terrorismus anklagte, wurde sie erst zwei Jahre nach ihrem Vergehen verhaftet. Ihr drohten 35 Jahre Gefängnis. Für die konservativen Medien stand fest: Stewart ist eine radikale Linke. Eine Verräterin, die mit Terroristen gemeinsame Sache macht. Eine Feindin der USA. Die Terror-Großmutter aus . Ihre Privatadresse und - Telefonnummer wurden veröffentlicht. Sie erhielt Drohanrufe und -briefe. Auf Youtube kursierte ein Hassvideo. In dem Klima nach dem 11. September kam Unterstützung nur noch von liberalen und Bürgerrechts- Anwälten. Einige sahen in ihr die wahre Patriotin. Eine radikale Verteidigerin der amerikanischen Grundrechte, der Bill of Rights. Der Teil der Verfassung, in dem die Macht der Regierung begrenzt wird.

O-Ton 9: : That idea that according rights to your fiercest enemy is enshrined in the two provisions of the American constitution that are the basis of Lynne Stewart‘s case. So there is the first Amendment which deals with Freedom of Expression. There is the Sixth Amendment which deals with the Right to Counsel. And both of those 8

Amendments are involved here, because Lynne‘s freedom to express herself and her freedom to help the sheikh to express political views are at stake as a matter of the First Amendment, Freedom of expression and the Right to Counsel which includes the right to the effective and confidential assistance of counsel.

2. Übersetzer: Die Idee, selbst seinem größten Feind, Rechte zu gewähren, ist in zwei Bestimmungen der amerikanischen Verfassung garantiert, die Lynne Stewarts Fall zugrunde liegen. Hier geht es um beide, um Lynnes eigene Redefreiheit und ihre Freiheit, dem Scheich dabei zu helfen, seine politischen Ansichten zu äußern. Das sind selbstverständliche Grundsätze des ersten Amendments, Redefreiheit, und das Recht auf Rechtsbeistand, das heißt auf einen wirkungsvollen und vertraulichen Rechtsbeistand.

Erzählerin: Gemeinsam, mit einem Team von Anwälten, vertrat Michael Tigar Lynne Stewart in ihrem Prozess. In den USA gilt er als einer der besten Strafrechtler. Er hat unter anderem die schwarze Bürgerrechtlerin vertreten, er verteidigte den KZ Aufseher John Demjanjuk und bewahrte den rechtsradikalen Oklahoma-Attentäter Terry Nichols vor der Todesstrafe. Nach dem Ende des Apartheidregimes in Südafrika beriet er den Nationalkongress bei dem Entwurf einer neuen Verfassung.

O-Ton 10: Michael Tigar: Yes, those were the constitutional issues. That‘s the legal part. At bottom there is this human being called Lynne Stewart, who‘s journey is the journey of a young woman, born in , who meets and marries an African American, who is a teacher. Who sees, what the system, that calls itself education is doing, particularly in the African American communities in New York, who decides that if she wants to make more of a difference that she could become a lawyer.

2. Übersetzer: Das waren die verfassungsrechtlichen Fragen. Das ist nur der rechtliche Teil. Im Grunde geht es um dieses menschliche Wesen, das Lynne Stewart heißt. Das ist die Reise einer jungen Frau, geboren in Staten Island, sie trifft einen afro- 9 amerikanischen Lehrer und heiratet. Sie sieht, die Auswirkungen, dieses Systems, das sich Bildungssystem nennt, vor allem in der afro-amerikanischen Gemeinschaft von New York. Sie beschließt, wenn sie wirklich etwas bewirken will, dann sollte sie Anwältin werden.

O-Ton 12: Lynne Stewart: I have for many years defended people that are probably disliked, this is a mild form of the word by the government. Back in the 80s I represented members of the . I represented members of the , the Black Liberation Army, the United Freedom Front.

1. Übersetzerin: Jahrelang habe ich Leute verteidigt, die von der Regierung wahrscheinlich nicht gern gesehen waren. Gelinde gesagt. In den 80ern vertrat ich Mitglieder der Weather Underground. Mitglieder der Black Panther, der Black Liberation Army, der United Freedom Front.

Einspielung 8: Anschlag auf das WTC 1 This afternoon at 12.18 pm a car bomb exploded in the underground garage of the Twin towers of the World Trade Center in New York City. Six people were killed and more then 1000 are injured by what is been reported a 15.000 pound explosive device. It‘s unclear to what damage it had done to the structure of the Twin Towers of the World Trade Center the tallest buildings in New York City. 0’22“

Haussprecher: 26. Februar 1993. Um 12.18 Uhr erschüttert eine Detonation die Tiefgarage des World Trade Center. Sechs Menschen werden getötet. Mehr als 1.000 verletzt. Die meisten durch Rauchvergiftungen.

Erzählerin: Die Täter wurden kurz nach dem Anschlag gefasst. Eine kleine isolierte Gruppe junger, militanter Islamisten. So schien es. Tatsächlich entkam der Hauptattentäter Ramzi Yousef. Die jungen Männer hatte er alle aus dem Umkreis des blinden Klerikers Omar Abdel Rahman angeworben. Der wird vier Monate später als 10

Mastermind einer weiteren, geplanten Anschlagsserie verhaftet. Von Anfang bis Ende begleitet von einem FBI-Informanten.

Einspielung 9: The FBI claims that the mastermind behind the attack is a blind Egyptians cleric sheikh Abdul Rahman. The plot is said to include the UN and the Lincoln and the Holland Tunnels. Rahman faces charges in Egypt of plotting to assassinate President Hosni Mubarak. 0‘17“

Haussprecher: Das Komplott zielte auf das UN-Gebäude, den Lincoln und den . In Ägypten droht Rahman eine Anklage wegen eines Mordkomplotts gegen Präsident Hosni Mubarak.

O-Ton 15: Peter Waldman: There was no question that Omar Abdel Rahman believed in violence as a means to accomplishing certain goals for his people. His violence, his advocacy of violence generally related to Egypt, where he had been a victim of torture and other repression by the regime of Hosni Mubarak.

5. Übersetzer: Ohne Frage sah Omar Abdel Rahman Gewalt als Mittel zum Zweck, um bestimmte Ziele für sein Volk zu erreichen. Sein Eintreten für Gewalt bezog sich auf Ägypten, wo er gefoltert wurde und anderen Repressionen des Regimes von Hosni Mubarak ausgesetzt war..

Musik

Erzählerin: Peter Waldman arbeitete damals im Nahen Osten als Korrespondent für das Wall Street Journal. In Ägypten hatte er von dem dort verehrten Religions- und Rechtsgelehrten, Scheich Omar Abdel Rahman gehört. Dem Mentor der „Al-Gama‘ al-Islamiyya“, der Islamischen Gruppe. Sie war für Anschläge mit Hunderten von Toten in Ägypten verantwortlich. Abdel Rahman war ihr gewählter Führer, der die 11

Fatwah unterzeichnet hatte, die den Mord an Anwar Al-Sadat sanktionierte. Im Namen Allahs kämpfte die Gruppe für einen islamischen Gottesstaat und gleichermaßen gegen die Unterdrückung in Ägypten wie gegen liberale Freigeister. Vor Gericht berief Abdel Rahman sich darauf, er würde nur religiöse Empfehlungen geben und sei nicht verantwortlich für die Taten seiner Anhänger. Als der blinde Prediger 1990 in die USA einreiste, stand die Gruppe bereits auf der Terrorliste der USA. Trotzdem bekam er ein Visum. Sehr wahrscheinlich mit Hilfe seiner CIA- Kontakte. Als „Freiheitskämpfer“ gegen die Sowjetunion hatte er sehr erfolgreich junge Männer für den „Jihad“ in Afghanistan rekrutiert. Ausgerüstet mit Waffen im Wert von drei Milliarden Dollar. Gespendet vom amerikanische Geheimdienst.

Atmo: 1: Demonstration am 9. April

Erzählerin: Der 9. April 2011 ist ein strahlender Frühlingstag. Der arabische Frühling ist in New York angekommen. Zumindest liegt die Hoffnung in der Luft. Mehr als 10.000 Menschen drängen sich auf dem Union Square. Es ist die größte Anti- Kriegsdemonstration seit Jahren. Ein breites Bündnis aus Bürgerrechts- und muslimischen Gruppen hat gegen die Kriege in Übersee und die sozialen Verwerfungen in den USA aufgerufen. Dicht gedrängt steht die bunte Mischung aus Linken, Kriegsveteranen, Bürgerrechtlern und arabisch sprechenden Menschen auf dem Platz. Viele muslimische Väter haben ihre Söhne oder ihre ganze Familie mitgebracht. „Kein Krieg. Kein Terrorismus. Keine Islamophobie“ - steht auf einem der ungezählten Plakate. Einige Demonstranten sind in den orangefarbenen Anzügen der Guantanamo-Häftlinge gekommen. Es wird viel über die Agents Provokateur des FBI gesprochen, die in den muslimischen Communities unterwegs sein sollen. Und es wahrscheinlich sind. Auf dem Podium wechseln sich die Redner alle drei Minuten ab. Mehr Zeit bleibt nicht. Es sind zu viele, die reden wollen.

Erzählerin: Zu den Rednern gehört auch . Unter Präsident Lyndon B. Johnson war er von 1967 bis 69 Justizminister. Er ist eine schillernde Figur der radikalen Linken. Aktiver Vietnamkriegs-Gegner. Unterstützer der Anklagen gegen George W. Bush, Dick Cheney, John Ashcroft wegen Kriegsverbrechen und Verstößen gegen die 12 amerikanische Verfassung. Als juristischer Berater hat er sich für Saddam Hussein, Slobodan Milosevicz und den liberianischen Rebellenführer Charles Taylor engagiert.

Atmo Ramsey Clark is a former US Attorney General. He‘s been a long time human rights lawyer and he is the winner of the UN Peace Award. Give it up to Ramsey Clark. Applaus.

Erzählerin: George Bushs „Krieg gegen den Terror“ bezeichnet er als „Krieg gegen den Islam“. Kerzengerade steht der alte Mann auf dem Podium vor dem Mikrophon.

Atmo 2 0‘34“ What a great crowd. Our country make war, the way of life, the way of dominating other peoples and exploiting their resources. You and I have to end that. … Just take the Arab countries in recent years. How long has Palestine suffered because of our military support for Israel? How long is Iran been threaten by us? How long dominated - 25 years under the Shah because we wanted their oil...

7. Übersetzer: Unser Land, unsere Lebensweise, wie wir andere Völker und ihre Ressourcen ausbeuten. Ihr und ich müssen dem ein Ende setzen. Schaut auf die arabischen Länder. Wie lange leidet Palästina, wegen unserer militärischen Unterstützung Israels? Wie lange wird der Iran von uns bedroht? Wie lange dominiert? 25 Jahre unter dem Schah, weil wir ihr Öl wollten …

Erzählerin: Ramsey Clark ist eine der Schlüsselfiguren im Fall Lynne Stewart. Von hatte er das Mandat für Abdel Rahman übernommen, als der im Herbst 1994 auf der Suche nach einem Prozessanwalt war:

O-Ton 19: Michael Tigar: And the second part of the story is: One fine day she gets a phone call from Ramsey Clark, the former Attorney General of United States who asks her to take up the 13 representation of Sheikh Abdel Rahman who is charged in this conspiracy in New York. She didn‘t really know a lot about Middle Eastern politics. She had never done a case of that length and complexity. She certainly was able to deal with all of the issues in it. But it was all of the issues that you could possibly imagine having that she ever worked with all in one case.

2. Übersetzer: Eines schönen Tages bekommt sie einen Anruf von Ramsey Clark. Er bittet sie, die Verteidigung von Scheich Abdel Rahman zu übernehmen. Sie kannte sich kaum in der Politik des Nahen Ostens aus. Sie hat noch nie einen so langen und komplexen Fall gehabt. Zwar konnte sie mit allen Aspekten umgehen, aber es waren alle, mit denen sie jemals zu tun hatte; alle in diesem einen Fall.

Erzählerin: Im November 1994 besuchte Lynne Stewart Omar Abdel Rahman in der Untersuchungshaft. Erstaunlich, dass der islamische Fundamentalist eine Frau als Verteidigerin nehmen wollte. Und umgekehrt? Warum verteidigte eine Anwältin, die aus der Bürgerrechtsbewegung kam, die für eine liberalere amerikanische Gesellschaft stand, einen radikalen Islamisten?

O-Ton 20: Lynne Stewart: We hit it off as a very easily said of course it’s ironic because I am of course a woman which one would say, how could you hit it off with this fundamentalist Muslim cleric? And although I guess I am a, I probably would describe myself as a left wing atheist. Where as he is certainly not left wing and far from an atheist. But we, on a certain intellectual level, we liked each other. And he said, what do you think is the worst thing in my case? What do you think is the best thing from what you‘ve read, and I was able to answer that. And he communicated with his people and Ramsey that he would like me to be his lawyer.

1. Übersetzerin: Wir kamen gleich miteinander klar. Natürlich ist es paradox, ich bin eine Frau, und man könnte fragen, wie kannst du mit diesem fundamentalistischen muslimischen Geistlichen klarkommen? Wahrscheinlich würde ich mich als linke Atheistin 14 bezeichnen. Wobei er bestimmt nicht Links ist und alles andere als ein Atheist. Aber wir mochten uns auf einer intellektuellen Ebene. Er fragte, was glauben Sie ist das Schlimmste in meinem Fall? Was ist das Beste für mich? Das konnte ich beantworten. Er hat seinen Leuten und Ramsey mitgeteilt, dass er mich als Anwältin wollte.

Erzählerin: Im Februar 1995 begann einer der größten Terrorprozesse der USA: Die Vereinigten Staaten gegen Abdel Rahman und neun Mitangeklagte wegen staatsgefährdender Verschwörung. Die Staatsanwaltschaft bezog sich auf ein Gesetz aus dem amerikanischen Bürgerkrieg, das selbst dann eine Verurteilung ermöglichte, wenn es bei der Planung eines Attentats geblieben sein sollte. Lynne Stewart war von der Unschuld ihres Mandanten überzeugt.

O-Ton 22: Lynne Stewart: I made, what I have to say, in my own mind was a truly wonderful opening statement in which I expressed to the jury who this man was to his own people, and why they might mistake acts as criminal but actually they were in the great tradition of Americans speaking out and etc and so we tried that case for ten month and ultimately lost it.

1. Übersetzerin: Meiner Ansicht nach hielt ich ein wundervolles Eröffnungsplädoyer. Ich erklärte den Geschworenen, was dieser Mann seinem eigenen Volk bedeutet, und warum sie vielleicht Aktionen als kriminell missverstehen könnten, die in der großartigen Tradition der amerikanischen Redefreiheit stehen. Der Prozess dauerte zehn Monate, und am Ende haben wir verloren.

Musik

Erzählerin: Der Hauptbelastungszeuge der Anklage war Emad Salem, ein Informant, dem das FBI eine Million Dollar gezahlt hatte, um die Gruppe um den Scheich zu infiltrieren. Er wurde zu dessen engsten Vertrauten. Von Anfang bis zum Ende hatte er für das 15

FBI die gesamte Anschlagsplanung aufgezeichnet. Diese Aufzeichnungen bildeten das Hauptbeweismaterial im Prozess. Musik John Coltrane: A Love Supreme

5. Übersetzer Zitat: Peter Waldman: „Emad Salem war im Zeugenstand ein Desaster für die Anklage. Er gesteht in einem vorhergehenden Fall unter Eid gelogen und als Doppelagent für die US- und für die ägyptische Regierung gearbeitet zu haben. Er gab zu, gegen FBI-Regeln verstoßen zu haben, in dem er verbotenerweise, und im Geheimen fast alle internen Konversationen aufgenommen hat. In einem der sogenannten Bootleg-Aufnahmen, die er aufgenommen hat und die als Beweismittel benutzt wurden, hört man Mr. Salem seinen Geheimdienst-Betreuer in Ägypten fragen, ob die Ägypter ihn hier oder dort im Käfig haben wollen?“

Erzählerin: Die Beweislage gegen die neun Mitangeklagten Abdel Rahmans war eindeutig. Während sie gegen den Scheich vor allem auf seinen religiösen Anweisungen beruhte.

O-Ton 25: Peter Waldman: Did he inspire them with his religious instructions to commit war against America? And in that case it was pretty ambiguous as to what he actually said and to the extent to which he supported war against America.

5. Übersetzer: Hat er sie mit seinen religiösen Anweisungen zu einem Krieg gegen Amerika inspiriert? Es war sehr unklar, was er wirklich gesagt hat und inwiefern er einen Krieg gegen die USA unterstützte.

O-Ton 26: Lynne Stewart: None the less ... he was sentenced then, the Sheik, to life plus 64 years in US prisons.

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1. Übersetzerin: Der Scheich kriegte lebenslänglich und noch 64 Jahre in US-Gefängnissen.

Musik

Erzählerin: Einen anderen Blick auf den Prozess und die Beweggründe Lynne Stewarts hat der Autor und Journalist George Packer:

O-Ton 28: George Packer: I think she was stuck in a view of America that was easier to subscribe to in the Sixties than it is now. Which is extremely race conscious and revolutionary, I mean convinced that we are nothing but a revolution can cleans our society of its ills and its evils and that thinking let her to take on the defense of a client who seemed to stand for nothing that she stood for. She imagined that the enemy of her enemy was her friend and so Sheik Abdel Rahman became her friend and to me that was a political catastrophe for her. It was also a personal catastrophe because of what had happened.

4. Übersetzer: Sie war steckengeblieben in einer Vorstellung von Amerika, der man eher in den 60ern folgen konnte als heutzutage. Ihr galt Amerika als extrem rassistisch und sie war überzeugt davon, dass nichts anderes als eine Revolution unsere Gesellschaft von ihren Krankheiten und Übeln reinigen kann. Dieses Denken führte dazu, die Verteidigung des Scheichs zu übernehmen, der nichts vertrat, wofür sie kämpfte. Sie bildete sich ein, der Feind ihres Feindes sei ihr Freund. Also wurde Scheich Abdel Rahman ihr Freund. Meiner Meinung nach war das eine politische und eine persönliche Katastrophe.

Erzählerin: George Packer zeichnet das Bild einer warmherzigen, mütterlichen Frau, die den militanten Islamismus auch als Folge der Zustände in den Heimatländern verstehen wollte. Damit war sie nach dem 11. September isoliert von der Mehrheitsmeinung der Amerikaner. Sie sah die Anschläge nicht als einen Anfang, sondern als „Blow back“, 17 als Folge der Außenpolitik der USA. Sie war überzeugt, die Aufgabe von Grundrechten sei die verkehrte Antwort.

O-Ton 29: Lynne Stewart: I think that the greatest protection is the constitution is having full debate and robust debate and I am disheartened by the fact that we never had that debate in this country. We have not ever talked about why? Why did this happen? What can we do to prevent it ever happening again? Not by checking everybody’s shoes at the airport, but by really understanding what the fundamental problem is, why twenty young men will kill themselves to do this. What was there and why don’t we understand, and it’s not because they hate democracy, which our government wants us to believe.

1.Übersetzerin: Der größte Schutz ist die Verfassung und eine offene und robuste Diskussion. Ich bin entmutigt, weil es diese Diskussion in diesem Land nie gegeben hat. Wir haben nie gefragt: Warum? Was können wir tun, damit das niemals wieder geschieht? Nicht, indem wir jedermanns Schuhe am Flughafen kontrollieren, aber indem wir das grundsätzliche Problem verstehen, warum zwanzig junge Männer bereit waren, sich selbst zu töten. Es ist nicht so, wie unsere Regierung uns glauben machen möchte, weil sie die Demokratie hassen.

Atmo 3: Anti-Kriegs-Demonstration

Erzählerin: Die Demonstranten auf der Antikriegs-Demonstration haben sich in Richtung Süden in Bewegung gesetzt. Ralph Poynter ist jetzt mit dabei. Immer wieder kommen Leute und fragen, wie es seiner Frau geht. Gemeinsam mit einer Freundin trägt er ein gelbes Banner: „We support People‘s Attorney Lynne Stewart“. „Wir unterstützen Volks-Anwältin Lynne Stewart“. Der Weg bis um Platz vor der City Hall, wo die Abschlusskundgebung stattfindet, ist lang. Nur ein paar Blocks von City Hall entfernt liegt Foley Square mit seinen neo- klassizistischen Bauten und dem Strafgericht. Hier hat Lynne Stewart 30 Jahre lang, ihre Mandanten vertreten. Sie kennt die Richter und die Staatsanwälte; die Leute in 18 der Kantine. Hier hatte sie 1995 Abdel Rahman verteidigt. Neun Jahre später, im Juni 2004, musste die Anwältin selbst auf der Anklagebank Platz nehmen.

Musik

Erzählerin: Mehr als 88.000 Abhörbänder- und Protokolle mussten die Anwälte durchsehen. Die meisten waren auf Arabisch und betrafen zu 99,9% Stewarts Mitangeklagte, den Übersetzer Mohammed Yousry und vor allem Ahmed Sattar, den Anwaltsgehilfen, Postboten und engen Vertrauten des Scheichs. Seit 1997 hatte er keine Besuchserlaubnis mehr, schon vorher wurde er abgehört. Im selben Jahr wurden spezielle Haftregeln, die erwähnten SAMs, für den Scheich eingeführt. Trotzdem wurde im Sommer eine Pressemitteilung veröffentlicht, in der Abdel Rahman einem Waffenstillstand der Islamischen Gruppe mit der ägyptischen Regierung zustimmt. Sehr wahrscheinlich von Ramsey Clark. Trotzdem kam es im November zu einem letzten Anschlag der Islamischen Gruppe. In Luxor wurden 62 Touristen niedergemetzelt. In einem Bekennerschreiben forderte die „Al-Gama‘ al-Islamiyya“ die Freilassung ihres geistigen Führers. Die ägyptische Regierung griff mit aller Härte durch. Viele Gruppenmitglieder wurden getötet oder verschwanden in Gefängnissen. Es kursierten Gerüchte über Abdel Rahmans schlechten Gesundheitszustand. Es gab Befürchtungen, sollte er im Gefängnis sterben, könnte das zu weiteren Anschlägen führen. Ramsey Clark sorgte dafür, dass sein Mandant in ein Gefängnis mit besserer medizinischer Versorgung verlegt wurde. Die speziellen Haftregeln blieben bestehen.

O-Ton 30: Lynne Stewart: He was not allowed to meet with the media. He was not allowed to have visitors. He was not allowed to meet with other clergy Muslim or otherwise. He had … one phone call a week to his lawyers, which I was one and Ramsey Clark was another and Abdeen Jabarra was the third. He had one phone call a month to his wife. But he was not permitted to speak to anyone else during these phone calls; his children, no one else was allowed to get on the phone. … So in a fact he was held what we would call “incommunicado”.

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1. Übersetzerin: Er durfte nicht mit den Medien sprechen. Er durfte keine Besucher haben. Er durfte keinen anderen muslimischen Kleriker oder irgendwen sehen. Einmal in der Woche konnte er mit seinen Anwälten telefonieren, davon war ich eine, Ramsey Clark, der andere und Abdeen Jabarra der dritte. Einmal im Monat konnte er mit seiner Frau telefonieren. Während dieser Telefonate durfte er mit niemand anderem sprechen, nicht mit seinen Kindern, mit niemand. Faktisch wurde er in Isolationshaft gehalten.

O-Ton 31: Michael Tigar: Under those conditions in a world in which nobody else speaks Arabic, he is all alone and he is blind. So human contact becomes very important. And a kind of human contact that is important includes people who visit him and keep him apprise about the things that are going on in the country from which he came and so on. Now, at the same time Ramsey Clark was working, would meet sometimes with the Egyptian authorities to see if may be there could be an exchange of prisoners and he could get out or what ever. But it was Lynne believe that it was important that the people engaged with him. Now, that‘s a part of the trouble. She doesn‘t speak Arabic.

2. Übersetzer: Unter diesen Bedingungen, in einer Welt, in der niemand Arabisch sprach, ist er allein und blind. Also wird menschlicher Kontakt sehr wichtig. Zu diesem wichtigen, menschlichen Kontakt gehören Leute, die ihm über die Dinge berichten, die in seinem Land vor sich gehen. Ramsey Clark traf sich zu dieser Zeit ab und zu mit dem ägyptischen Militär und versuchte herauszufinden, ob es einen Gefangenenaustausch geben könnte, oder was auch immer. Aber Lynne glaubte, es wäre wichtig, dass sich die Leute für ihn engagierten. Das ist Teil des Ärgers. Sie spricht kein Arabisch.

O-Ton 32: Lynne Stewart: I remember one of the things he said to me, extremely touching, he said: Lynne, you must become a Muslim and he said, because, he said, because it is unthinkable for me to be in heaven without you.

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1. Übersetzerin: Einmal sagte er mir etwas sehr Berührendes. Lynne, sagte er, du musst Muslimin werden. Im Himmel, ohne dich zu sein, kann ich mir nicht vorstellen.

Erzählerin: Innerhalb von drei Jahren besuchte Lynne Stewart ihren Mandanten dreimal. Ihre Kollegen hatten weitaus mehr Kontakt. Bei ihrem Besuch am 19. und 20. Mai 2000 im Gefängnis von Rochester, Minnesota hatte sie einen Brief dabei, den der Übersetzer Mohammed Yousry Omar Abdel Rahman vorlas. Der Hintergrund: Die Islamische Gruppe war zerstritten darüber, ob sie den Waffenstillstand mit der ägyptischen Regierung beibehalten oder aufkündigen sollte. Einer ihrer Führer, der zur Gewalt zurückkehren wollte, bat Omar Abdel Rahman in dem Brief um seine Unterstützung.

O-Ton 33: Lynne Stewart: During this visit he asked … if I was making a press release on his behalf. He felt that it was very important to make sort of opinion, merely an opinion about the ceasefire that had been in fact in Egypt for about three years at that point. …

1. Übersetzerin: Während des Besuchs fragte er, ob ich eine Pressemeldung in seinem Namen herausgeben könnte. Er hatte das Gefühl, es sei wichtig, seine Meinung - nicht mehr - zum Waffenstillstand in Ägypten zu äußern, der seit drei Jahren in kraft war.

Erzählerin: Erst einen Monat nach ihrem Besuch - am 14. Juni 2000 - rief Stewart einen Korrespondenten von Reuters in Kairo an.

O-Ton 34: Lynne Stewart: This was not Abdul the parrot sings at midnight, it was a straight forward out, I have done a hundred press releases for political prisoners. You know, people wanting to put their opinion out there, people wanting to speak to the world as large. It was no different from any of those.

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1. Übersetzerin: Das war nicht „Abdul: der Papagei singt um Mitternacht.“ Es war ganz offen. Ich habe hundert Presseveröffentlichungen für politische Gefangene herausgegeben. Leute, die ihre Meinung rausbringen wollen, die der Welt etwas sagen wollen. Da gab es keinen Unterschied.

Erzählerin: Im Prozessprotokoll steht:

3. Übersetzer Zitat: Ankläger: An diesem Tag gab Stewart die Nachricht an die Presse, in welcher sie erklärte: „Abdel Rahman zieht seine Unterstützung für den existierenden Waffenstillstand zurück.“ Mit anderen Worten, Stewart verkündete der Welt, dass Abdel Rahman die Rückkehr zur Gewalt unterstützte. Nun, in ihrer Verlautbarung sagte Stewart nicht ausdrücklich, „Abdel Rahman ordnet das Töten von Menschen an“. Das ist nicht notwendig. Seine Worte waren deutlich.

Erzählerin: Tatsächlich kündigte die Islamische Gruppe den Waffenstillstand nicht auf. Unter dem Druck der Repression der ägyptischen Regierung und dem Hass der Bevölkerung schwor die Gruppe der Gewalt ab. Bis heute. Auch die Staatsanwälte konnten keine Beweise für unmittelbare Folgen aus der Mitteilung vorlegen. Aber sie haben ein Video, auf dem der Briefschreiber zusammen mit Bin Laden zu sehen war und den USA droht. Ron Kuby war der erste Verteidiger des Scheichs nach dessen Verhaftung.

O-Ton 36: Ron Kuby: The historically mistake that Lynne made, which there is no way she could have known, she engaged in conduct that was fairly common among lawyers. Particularly with respect to communications and transmission of communications. And in the area in which Lynne committed the acts that she committed these were not considered to be particularly serious. The consequences would be, may be you would be suspended, your visits would be stopped. You are thrown out of this facility... Unfortunately for Lynne, she was not judged by the policies and standards and 22 morals that existed in the area where she committed the act. She was judged in the post 9/11 area and that was obviously something profoundly different. And that had the deepest consequences in terms of the government’s response.

6. Übersetzer: Den historischen Fehler, den Lynne beging, konnte sie unmöglich vorhersehen. Sie verfuhr so, wie es ziemlich normal für Anwälte war. Besonders in Hinsicht auf Kommunikation und Übermittlung von Nachrichten. In dem Bereich, in dem Lynne die Sachen beging, wurden sie nicht als besonders schwerwiegend betrachtet. Die Konsequenzen wären wahrscheinlich die Aufhebung des Besuchsrechts. Der Rauswurf aus einem Gefängnis. Unglücklicherweise wurde Lynne nicht nach den Regeln, dem Standard und den Gepflogenheiten beurteilt, die bei vergleichbaren Übertretungen üblich waren. Sie wurde in der Zeit nach 9/11 beurteilt. Das war offensichtlich etwas vollkommen anderes. Auf die Reaktion der Regierung hatte es eine folgenschwere Auswirkung.

Musik

Erzählerin: Der Fall lässt trotzdem viele Fragen offen. Wurde Lynne Stewart ausgewählt? War sie „the weakest link“? Diejenige, die am leichtesten angreifbar war? Am berechenbarsten? Alle drei Anwälte hatten die SAMs unterschrieben und keine rechtlichen Schritte dagegen eingelegt. Ramsey Clark sagte nach dem Prozess in einem Interview: „Ich weiß von nichts, was Lynne getan hat, was ich nicht getan habe.“ Bis zur Presseveröffentlichung im Juni 2000 wurde nie dagegen eingeschritten. Keiner ihrer Kollegen wurde angeklagt. Nur Lynne Stewart. Ausschnitte der Videoaufnahmen ihrer Gefängnisbesuche im Juli 2001 wurden noch vor Prozessbeginn der Presse zugespielt. Zu hören waren Kommentare Lynne Stewarts, die offensichtlich die Gefängniswärter davon ablenken sollten, was Abdel Rahman auf Arabisch vorgelesen wurde. Eine Sprache, die weder sie noch die Wärter verstanden. Die Aufnahmen wurden im Prozess gegen sie verwendet.

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O-Ton 37: Kim Lane Scheppele: You know I think the US government was trying to make a point that lawyers were not above their version of what the law the was. And their view was that legal defense was a kind of privilege that somebody earned by virtue of being loyal to the United States almost. And so for these clients who were very interested in attacking the United States, the US government was functionally saying, they deserve no legal representation. And the Lynne Stewart case was that the model case that they were using to make the point.

2. Übersetzerin: Die Regierung machte deutlich, dass es nicht die Anwälte waren, die die Gesetze auslegten. Ihrer Ansicht nach war, die Rechtsverteidigung fast eine Art Privileg, das man durch seine Loyalität zu den USA erwarb. Für diejenigen Mandanten, deren großes Interesse es war, die USA zu attackieren, sagte die US-Regierung sinngemäß, sie verdienen keine Rechtsverteidigung. Und der Fall Lynne Stewart war der Modellfall, mit dem sie das klar machen wollten.

Erzählerin: Kim Lane Scheppele unterrichtet Recht in Princeton. Sie hat sich mit den Auswirkungen des 11. September und dem Krieg gegen den Terror, auf das Rechtssystem und die Arbeit von Anwälten beschäftigt. Rückblickend erkennt auch George Packer, welch seismographisches Gespür Lynne Stewart für die kommenden rechtlichen Verwerfungen in den USA hatte.

O-Ton 38: George Packer: It was a fundraiser for her legal defense. And she began to talk with me about Guantanamo, it was may be in the middle of 2002, very few Americans knew much about it. She knew about it, because she, I think she knew some lawyers who were representing some of the inmates in Guantanamo and she was telling me about the conditions there and how people were losing their minds and how they were humiliated and I admit that at the time I thought, come on! Is that the worsted thing that is going on in the world right now? When we just have had this massive attack on the country and these guys who were caught in Afghanistan probably in training camps or were part of the Taliban, was that really where our sympathy should go? 24

But you know, Lynne was right about that. She was right to see that as a blight that indicated that things were moving in a bad direction as far as the US system of justice and we haven‘t resolved it to this day.

4. Übersetzer: Auf einer Spendenveranstaltung für ihre Prozesskosten, erzählte sie mir Mitte 2002 von Guantanamo. Sehr wenige Amerikaner wussten etwas darüber. Sie wusste davon. Sie kannte einige Anwälte, die Guantanamo-Häftlinge vertraten. Sie erzählte mir von den Zuständen dort. Wie Menschen ihren Verstand verloren, wie sie erniedrigt wurden. Ich muss zugeben, damals dachte ich: Also wirklich! Ist das das Schlimmste, was auf der Welt passiert? Nachdem wir gerade diesen massiven Angriff auf unser Land hatten, und diese Typen wurden wahrscheinlich in afghanischen Trainingscamps gefangen, oder waren Mitglieder der Taliban. Denen sollte unser Anteilnahme gelten? Aber darin hatte Lynne recht. Sie sah es als Schandfleck an, der anzeigte, in welche schlimme Richtung, sich das amerikanische Justizsystem entwickelte. Das haben wir bis heute nicht gelöst.

Musik: Raging Grannies: Song for Lynne Stewart

O-Ton 41: Michael Tigar: This is Lynne Stewart. This is what you get. And if you members of the jury were charged with a crime. If the government ever focuses its attention on you, in the way that is has focused it on this man, you would want a lawyer who was as compassionate and courageous and careful as Lynne Stewart. But that, you know, we didn't succeed. Because the sheikh was the other.

2. Übersetzer: Das ist Lynne Stewart. Das ist, was Sie bekommen, und wenn Sie, die Geschworenen, eines Verbrechens angeklagt werden, sollte Ihnen die Regierung jemals die Aufmerksamkeit zukommen lassen, wie diesem Mann, dann würden Sie sich eine Anwältin wünschen, die so leidenschaftlich und mutig und besorgt ist wie Lynne Stewart.“ Aber wir haben verloren weil der Scheich der Andere war.

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Erzählerin: Am 10. Februar 2005 wurden Lynne Stewart und ihre Mitangeklagten nach zweiwöchiger Beratung von den Geschworenen in allen Punkten schuldig gesprochen. Der Beihilfe zum Terrorismus und der Irreführung der Regierung. Ihr drohten 35 Jahre Gefängnis. Mit sofortiger Wirkung verlor sie ihre Zulassung als Anwältin. Für Lynne Stewart und ihre Unterstützer war das Urteil ein Schock. Damit hatte niemand wirklich gerechnet. Trotzdem gab sie sich weiter kämpferisch und ungebrochen. Sie verweigerte sich dem amerikanischen Ritual der öffentlichen Reuebekundung. Das ist konsequent, aber es ist nicht klug. Nach dem Schuldspruch erklärte sie auf der Pressekonferenz:

Einspielung 12: I was asked that on the witness stand wether I „would do it again“? And I had a moment because of course and the tears on my face are not for myself but for my colleagues and the movement and my wonderful family and my almost 13 grandchildren and that I‘ll may be separated from them for the rest of my life and that I feel so much that I have brought grief to people who didn't deserve to have grief. (Seufzen) But I like to think, I would do it again. Because it was the right thing to do. It‘s the way a lawyer is supposed to behave.

1. Übersetzerin: Im Zeugenstand wurde ich gefragt, ob ich es wieder tun würde? Natürlich gab es den Moment, und meine Tränen gelten nicht mir, sondern meinen Kollegen und der Bewegung und meiner wundervollen Familie und meinen fast 13 Enkeln, dafür dass ich vielleicht bis an mein Lebensende von ihnen getrennt sein werde. Dass ich auf diese Weise so vielen Menschen Kummer bereite, die es nicht verdienen. Aber ich gehe davon aus, ich würde es wieder tun. Denn es war richtig. Anwälte sollten sich so verhalten.

Musik: Bill Frisell

Erzählerin: Für die Regierung und John Ashcroft bedeutete das Urteil einen Sieg. Es machte deutlich, wie weit das Gesetz zur Beihilfe zum Terrorismus ausgelegt werden konnte. 26

Nachträglich legitimierte das Urteil die Ausweitung der SAMs und das Abhören der vertraulichen Gespräche von Anwälten und ihren Mandanten, die von der Regierung des Terrorismus verdächtigt wurden. Nach 9/11 dürfen nicht nur bereits Verurteilte, sondern auch die Gespräche zwischen Angeklagten und deren Anwälten vor Prozessbeginn abgehört werden. „Never Again“ - „Nie wieder“ ist der Titel von John Ashcrofts Memoiren über seine Zeit als Justizminister. Dem Fall Lynne Stewart widmete er darin ein ganzes Kapitel.

3. Übersetzer Zitat: John Ashcroft: In der Verurteilung Lynne Stewarts haben die Geschworenen sich die Definition des Präsidenten von einem ‚Terroristen’ zu Herzen genommen. Jemand der Terroristen hilft, ist genau so ein Terrorist.“

Erzählerin: Dass Richter John Koeltl das etwas anders sah, ließ sich am Strafmaß absehen, das er am 16. Oktober 2006 verkündete. Dabei wog er die Schwere der Anklagepunkte gegen Stewarts Arbeit als Strafverteidigerin ab.

Haussprecher (Zitat-Richter): „Eine hingebungsvolle Dienerin der Öffentlichkeit, die während ihrer gesamten Karriere, die Armen, die Benachteiligten und die Unpopulären verteidigt hat. Es ist keine Übertreibung, wenn man sagt, Lynne Stewart hat nicht nur ihren Mandanten geholfen, sondern auch der Nation einen Dienst geleistet.“

Erzählerin: 28 Monate Haft lautet das Strafmaß. Skandalös niedrig, fanden die Staatsanwaltschaft und Stewarts Kritiker. Draußen vor dem Gericht wartete bereits die Presse. Lynne Stewart wird sagen:

O-Ton 40: Ron Kuby: Oh, I can do this standing on my head. Now, I know Lynne, I understand that she went in there thinking she was going to die and never see the outside again. And she got out and she was so giddy with, I‘ve been literally born again. I have my life back, 27 that her enthusiasm and her happiness overflowed but the way she gave voice to it, unfortunately was profoundly damaging to her in terms of what happened next.

6. Übersetzer: „Das sitze ich mit links ab“. Ich kenne Lynne, ich verstehe, sie ging da rein und dachte sie würde sterben und nie wieder frei sein. Sie kam raus und war so leichtfertig. „Ich bin buchstäblich neu geboren. Ich habe mein Leben wieder.“ Sie floss über vor Enthusiasmus und Glück. Unglücklicherweise hat ihr die Art und Weise, wie sie sich ausdrückte, für das Folgende zutiefst geschadet.

Erzählerin: Die Verteidigung ging in Berufung und für die USA sehr ungewöhnlich, auch die Staatsanwaltschaft. Sie machte Fehler geltend, die zu einem zu milden Strafmaß geführt hätten. Bis zur Entscheidung des Berufungsgerichts reiste Lynne Stewart auf Vortragsreisen durch die USA und sprach über ihren Fall. Sie erkrankte an Brustkrebs. Als das Gericht im November 2009 ihre Berufung ablehnte, musste sie ihre Haftstrafe umgehend antreten. Die Staatsanwaltschaft hatte hingegen Erfolg. Mit einer deutlichen Empfehlung, das Strafmaß zu erhöhen, gab das Berufungsgericht das Verfahren zurück an Richter John Koeltl. Am 15. Juli 2010 stand Lynne Stewart erneut vor Gericht. In seiner Begründung für die Revision des Urteils argumentiert der Richter auch, Lynne Stewart habe keine Reue gezeigt. Dabei verwies er auf ihre Äußerung nach dem Urteil. „Das sitze ich mit links ab“. Der Richter beugte sich dem Berufungsgericht und erhöhte die Haftstrafe von 28 auf 120 Monate. Von knapp zweieinhalb Jahre auf 10 Jahre. Lynne Stewart wurde in ein Staatsgefängnis in Carswell, Texas, gebracht. Sollte sie ihre Haftstrafe überleben, wird sie 80 Jahre alt sein, wenn sie 2019 entlassen wird.

Musik 1: Bill Frisell - Struggle 2

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Absage (Haussprecher): Der Fall Lynne Stewart Eine amerikanische Geschichte Ein Feature von Martina Groß Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks mit dem Norddeutschen Rundfunk 2011.

Es sprachen: Hüseyin Michael Cirpici, Walter Gontermann, Therese Hämer, Anja Herden, Volker Niederfahrenhorst, Marianne Rogee, Hans Schulze, Hendrik Stickan, Karlheinz Tafel, Michael Weber und Christoph Wittelsbürger

Ton und Technik: Michael Morawietz und Anna Dhein

Regie und Redaktion: Hermann Theißen