freyermuth.com Fluchtpunkt Hollywood Folge 5 Eine ganze Kultur wanderte aus, als die Nazis die Macht übernahmen. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde die Neue Welt zur letzten Zuflucht. Eine Spurensuche bei letzten Überlebenden des deutschen Anti- Nazi-Exils in Hollywood

Reprint Wunderkind in der Traumfabrik Gottfried Reinhardt ist 19 Jahre alt und zu Besuch in New York, als in die Nazis an die Macht kommen. In Holly- wood gelingt ihm ein steiler Aufstieg. Der junge Emigrant, Sohn eines berühmten Vaters, wird schnell zu einem der wichtigsten Mittler zwischen dem Film-Establishment und der wachsenden Gemeinde deutscher Flüchtlinge Von Gundolf S. Freyermuth vol. 2009.05 info fluchtpunkt hollywood.1988 folge 5 1/25 freyermuth.com

In Amerika fühle ich mich ein wenig als Europäer, und in Europa bin ich Amerikaner«, sagt Gottfried Reinhardt, während wir den Santa Monica Boulevard hinunterfahren und in Overland biegen. »Viele Europäer, die in den dreißiger Jahren hierher kamen, waren hochnäsig und schauten auf die Amerikaner als Barbaren herab. Zum Teil natürlich mit Recht, denn der Film war nicht unbedingt von sehr kultivierten Leuten bevölkert.« Gottfried Reinhardt lächelt. Wir sind auf dem Weg zu seinem alten Arbeitsplatz. Über zwanzig Jahre hat der 75jährige Hitler-Flüchtling in der Traumfabrik namens Metro- Goldwyn-Mayer gearbeitet, von 1934 bis 1954. Heute wird er zum ersten Mal seit seiner Kündigung damals vor 31 Jahren das Gelände wieder betreten. »Dafür ist hier in Kalifornien das Leben soviel leichter, Europa geht ein wenig auf Stel- zen. Ich habe halt beide Seelen in mir ... Sie müssen jetzt links abbiegen.« Vor uns taucht ein weißes Wachthäuschen auf.

Als Kind im Kino habe ich mir oft vorgestellt, was wohl zum Vorschein käme, wenn man die Leinwand mit all den wunderschönen Menschen und verzauberten Orten

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beiseite schieben und in die Wirklichkeit dahinter schauen könnte. Nie hätte meine Phantasie für etwas so trostlos Nüchternes wie die A Street ausgereicht, eine Reihe schäbiger Holzhäuser, Tonfilmbühnen und Garderoben, dicht beim alten, von unifor- mierten Studiopolizisten bewachten Haupt- eingang zu den legendären Metro-Goldwyn- Mayer-Studios. Traumhaft sind einzig ihre Namen. »Das ist das Clark-Gable-Building«, sagt Gottfried Reinhardt. Dann zeigt er auf zwei weiter entferntere Bruchbuden, die den Hangars eines stillgelegten Militär-Flugha- fens gleichen: »Joan-Crawford-Building«, sagt er, »und das ist das Judy-Garland- Building.«

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Seine wuchtige Gestalt steht inmitten der A Street, die verlassen in der kalifornischen Nachmittagssonne dahinbrütet. Der alten Mann vergleicht die Wirklichkeit mit seiner Erinnerung. »Von außen hat sich nicht viel verändert«, sagt er nach einer Weile. »Aber es ist ziem- lich tot, früher war hier die Hölle los.« Reinhardt macht ein paar Schritte vorwärts und bleibt wieder stehen, ein wenig ratlos. »Na ja«, sagt er, und es klingt fast vorwurfsvoll, weil ich ihn zu diesem Ausflug in die Vergangenheit überredet habe. Langsam, sehr langsam geht er weiter. Sein Gesicht schaut, als würden seine Augen etwas ganz anderes sehen als meine. »Da«, sagt er schließlich und deutet auf ein einstöckiges Holzhaus mit Außentreppe, »das war die Garderobe der Garbo.« Dann schüttelt er den Kopf und lacht in sich hinein. »Wissen Sie, dass sie da nie ein wichtiges Gespräch geführt hat, weil sie davon überzeugt war, dass sie abgehört wurde?« »Und, stimmte das?« Reinhardt schaut amüsiert drein. »Sicher, sie hat schon recht gehabt.«

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Gottfried Reinhardts Hollywood-Karriere begann am frühen Morgen des 1. März 1933 in der New Yorker U-Bahn. Nach Amerika hat sich der 19jährige abgesetzt, um ein wenig Gras wachsen zu lassen über den Misserfolg einer Inszenierung, die er in Berlin verbrochen hatte. An New York begeistert den Jungen aus der Alten Welt neben der Skyline vor allem die »Negermusik«. Jeden freien Abend fährt er nach Harlem in die schwarzen Nachtclubs und bleibt bis in die Morgenstunden. Auf dem Rückweg sieht er in der U-Bahn die Zei- tungen verkünden: In Berlin brennt der Reichstag! »In Deutschland hatte ich immer geglaubt, die Nazis seien eine Minorität, mit der man fertig werden könnte. Aber aus der Distanz habe ich das dann besser beurteilt. Ich habe die Schlagzeilen gelesen und gedacht: Europa, damit ist es jetzt erst mal vorbei.« Von dem Auftakt zur vollständigen Machtergreifung der Nazis, zu Mord und Vertreibung, erfährt Gottfried Reinhardt so noch einige Stunden vor seinem Vater, der nach einer langen Premierenfeier tief und fest in seiner Wohnung im Schloss Bellevue schläft, dem heutigen Amtssitz des Bundespräsidenten – während um die Ecke die Ruine des Reichs- tags verkohlt und mit ihr die letzten Reste der ersten deutschen Demokratie.

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Am nächsten Tag bereits sitzt der bedeutendste Mann des deutschen Theaters, den die Nazis »den Juden Goldmann« schimpfen, im Nachtzug nach Wien. Er hat den Hut tief in die Stirn gezogen und studiert mit übergroßer Aufmerksamkeit eine Zeitung, hinter der er sein allzu prominentes Gesicht versteckt. »Beim Fliehen befand man sich in guter Gesellschaft«, sagt der Schriftsteller Hans Sahl, der sich mit demselben Zug aus Berlin rettete.

Es ist das Ende einer Ära. Wie kein anderer hatte im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts das deutsche Theater geformt. Er überwand den naturalistischen Inszenierungs-Stil, nutzte avantgardistische Bühnentechnik , um mit ihr sinnliche Thea- ter-Phantasien zu realisieren, er erweiterte die Guckkasten-Bühne zum Zuschauerraum hin, schuf opulentes Welttheater, in riesigen Sälen, Zirkus-Arenen, im Freien. Binnen weniger Jahre baute er ein Bühnen-Imperium auf, das auf dem Höhepunkt seiner Machtentfaltung allein in Berlin zehn Bühnen umfasste. Ihm verdankte es die deutsche Hauptstadt, dass sie zum Zentrum der internationalen Theaterwelt wurde. Mit seiner Vertreibung durch die Nazis begann der Niedergang – der des Berliner Theaters und der

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von Max Reinhardt. Mit sechzig Jahren musste der »große Zauberer« einen Neuanfang versuchen. »Mein Vater hatte genug von Europa. Er war verliebt in Amerika, und er war verliebt in den Film«, sagt Gottfried Reinhardt. »Ihm imponierte die Pionierleistung der Leute, die dieses Hollywood mit einem enormen Einsatz an Wagnis und Phantasie aus dem Boden gestampft hatten. Leider war es eine unglückliche Liebe.« Der Einstieg glückt dem erfahrenen Theater-Illusionisten noch. Nach einem Überra- schungs-Erfolg mit Shakespeares »Sommernachtstraum« in der Hollywood-Bowl, erhält er einen hochdotierten Vertrag, den Bühnenzauber zu verfilmen. Max Reinhardt richtet sich in Kalifornien so fürstlich ein, wie er es aus Europa gewohnt ist. Doch der große Shakespeare-Film A Midsummer Night’s Dream (1935), heute ein Objekt kultischer Verehrung, ist ein Flop. Über Nacht wird Reinhardt in der Traumfabrik zur persona non grata. Der alte Mann, der einmal der große Zauberer war, stirbt 1943 verarmt und ver- bittert im New Yorker Exil. »In Deutschland war sein Wort Gesetz am Theater«, sagt Gottfried Reinhardt, »mein Vater hatte verlernt, um seine Existenz zu kämpfen.«

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Der Sohn hingegen, viel jünger als die meisten Emigranten, findet sich schnell im Filmgeschäft zurecht und macht eine steile Wunderkind-Karriere. »Ich lernte die Sprache im Nu. Und au- ßerdem war ich nicht wie viele Ältere durch eine große Reputation belastet. Ich konnte einfach von unten anfangen.« Als Assistent von kommt er zur Paramount, wechselt dann mit einem Gehalt von 150 Dollar die Woche zu MGM und klettert erfolgreich die Hier- archie hinauf: Lektor für deutsche und französische Stoffe, Drehbuchautor, mit 27 Jahren bereits Produzent. Reinhardt arbeitet mit Regisseuren wie Robert Siodmak und John Huston, mit Autoren wie Christopher Isherwood und Alfred

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Döblin, mit Schauspielern wie Ingrid Bergmann und Hedy Lamarr, Clark Gable und Ava Gardner und auch mit , für die er 1939 die Story-Idee zu Ninotchka ankauft und deren letzten Film er 1942 produziert.

Wo die Garbo war, wurde sie der Mittelpunkt«, erzählt Reinhardt, während wir in der heißen kalifornischen Sonne über das Gelände wandern, vorbei an der Tischlerei, dem Elektronik-Labor, den Schneideräumen, der Maske. »Die Frau war ein Mysterium, ein Star, auch privat.« Die göttliche Garbo hat er gut gekannt, lange Jahre ist er mit ihrer engsten Freundin und Lieblings-Drehbuchautorin Salka Viertel liiert gewesen. Die beiden, der Sohn von Max Reinhardt und die 22 Jahre ältere Frau des Dichters und Regisseurs Berthold Vier- tel, sind das wohl bekannteste Liebespaar der klatschsüchtigen Exil-Kolonie, deren berühmteste Mitglieder sich jeden Sonntag in Salka Viertels Salon an der Mabery Road versammelten. Diese Gipfeltreffen der Exil-Kolonie hat Gottfried Reinhardt in den Erinnerungen an sei- nen Vater beschrieben: »Da setzte Greta Garbo Max Reinhardt auseinander, wie sie den

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Hamlet zu spielen gedenke; da ergänzte Chaplin sein Universalgenie und kaperte sich seinen zukünftigen musikalischen Ghostwriter, den brillanten Ohrenbläser Hanns Eisler; da begegneten sich der liebenswürdige, virtuose Rubinstein und der unliebenswürdige, seherische Schönberg; ... da versöhnten sich nach jahrzehntelanger Entfremdung und wochenlangen protokollarischen Verhandlungen die Brüder Heinrich und Thomas Mann an einem festlich gedeckten Pingpong-Tisch; ... da kniete die Garbo vor Stokowski und lauschte anbetend dessen Erzählungen von seinen Gesprächen mit indischen Wei- sen ...« Während die sinkende Sonne sich Technicolor-Rot färbt, schlendern wir langsam weiter durch das riesige Studiogelände, im weiten Bogen zurück zu dem u-förmigen Thalberg- Building. »Die Garbo hatte wunderschöne, tiefe blaue Augen und ein fabelhaftes Gesicht«, sagt Reinhardt und lächelt spöttisch. »Wenn sie sprach, war der Eindruck allerdings nicht so gut, denn sie redete oft ziemlichen Unsinn. Trotzdem hatten alle einen enormen Re- spekt vor ihr. Sie besaß diese Aura.«

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Im kühlen Foyer des Thalberg-Building, in dem Reinhardt zwei Jahrzehnte lang sein Büro hatte, hängen Bilder aus MGMs ruhmreicher Zeit. Bei einem der Fotos bleibt Rein- hardt stehen» »Waterloo Bridge, mit Vivien Leigh und Robert Taylor. Das war 1940, der erste Film, bei dem ich als Produzent dabei war.« Wir kommen zum nächsten Eckbüro. Von dem Sekretariat gehen zwei Räume ab. Rein- hardt zeigt auf die rechte Tür. »Da habe ich gearbeitet.« Dann erklärt er den beiden Chefsekretärinnen, die dort hinter ihrer Make-Up-Maske die Zeit absitzen, dass wir gerne das rechte Büro besichtigen würden. »Es war ein paar Jahre lang mal meins«, sagt Gottfried Reinhardt in wüstem Under- statement. Die beiden Plastik-Schönen schauen uns an, als kämen wir von einem anderen Stern. Aber irgendwie flößt ihnen der alte Herr Achtung ein. Vielleicht, weil er neben dem akzentfreien Englisch, das er zu ihnen spricht, mit mir auch noch diese seltsamen ande- ren Laute machen kann.

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»Please wait!« sagt die Allerwasserstoffblondeste und ruft die Security an. Reinhardt zeigt auf eine Sitzecke mit Glastisch und Metallstühlen. »Da stand eine Couch«, sagt er, »auf der saßen all die vielen Emigranten und warteten, bis sie dran kamen.« Ich versuche mir vorzustellen, wie sie dort hockten, Fritz Kortner oder Curt Bois, Hanns Eisler oder Heinrich Mann, und über ihre Film-Projekte sinnierten oder gar auf eine Anstellung hofften. »Das war teilweise sehr peinlich«, sagt Reinhard, während die Sekretärin telefoniert. »Ich wollte denen ja helfen. Andererseits hatte es keinen Zweck, jemanden anzustel- len, der vom Film überhaupt keine Ahnung hatte. Das habe ich zwar oft gemacht, aber das wurde immer ein Krampf.« An eins dieser Treffen erinnert sich Gottfried Reinhardt noch sehr genau.

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Der 7. Oktober 1941 ist ein Dienstag. Am Samstag zuvor hat Bert Brecht zusammen mit seinem amerikanischen Freund Ferdinand Reyher eine Filmidee entwickelt. Heute nun ist er mit einem Filmproduzenten verabredet, dem er die Story zu verkaufen ge- denkt. Von seinem Haus in der Nähe des Ocean Boulevard fährt Brecht den Santa Monica Bou- levard hinauf nach Culver City. Am Haupteingang zu dem Studiogelände von MGM muss er sich von den bewaffneten Studiowächtern einen Passierschein ausstellen lassen. Die Männer in den schmucken blauen Phantasieuniformen weisen dem Dichter mit dem ver- dächtigen Außenseiter-Habitus – Drillichjoppe und Sträflings-Frisur – den Weg: vorbei an den Garderoben der Stars und dann links an der exklusiven Kantine der Produzenten, zu der selbst die »greatest stars on earth« keinen Zutritt haben, und von dort weiter ge- radeaus zum Thalberg-Building, benannt nach einem früh gestorbenen Genie der Bran- che, dem Produzenten Irving Thalberg, Vorbild für F. Scott Fitzgeralds nachgelassenen Hollywood-Roman The Last Tycoon. Auf dem Weg durch die langen Gänge kann Brecht ein halbes Dutzend seiner Kollegen in ihren kleinen Bürozellen arbeiten sehen: Alfred Polgar und Walter Mehring, Bruno Frank und Georg Froeschel, Christopher Isherwood und Aldous Huxley, und Alfred

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Döblin. Sie alle, emigrierte Deutsche, Engländer und Amerikaner, eint der meist vergeb- liche Versuch, mit dem Hollywood-System der Lohnschreiberei zu Rande zu kommen. Im ersten Stock, am Ende eines weiteren langen Ganges, residiert in einem großzügigen Eckbüro der Produzent, mit dem der mittellose Dichter verabredet ist. Gebeten, einen Augenblick zu warten, versinkt Brecht wie so viele Hitler-Flüchtlinge vor ihm in dem weichen Sofa des Vorzimmers. Dem Gespräch kann er halbwegs entspannt entgegensehen. Anders als die meisten Hol- lywoodianer weiß der junge Produzent wenigstens, wer der Bittsteller einmal war. Und, was fast noch wichtiger ist: man wird miteinander Deutsch sprechen.

Als Brecht sich bei ihm melden lässt, nimmt der 28jährige Reinhardt als eine der wichtigsten Verbindungspersonen zwischen der Exil-Kolonie und dem Hollywood- Establishment eine Schlüsselstellung ein. Ohne seine Meinung einzuholen, wird bei MGM, dem größten Filmstudio der Welt, kein Emigrant eingestellt. Ihm ist es auch zu verdanken, dass MGM-Chef Louis B. Mayer – wie die anderen von dem Agenten Paul

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Kohner bearbeiteten Filmmogule – geholfen hat, die bei Kriegsausbruch noch in Europa festsitzenden Literaten mit »Notverträgen« vor den heranrückenden Nazis zu retten. Brecht, der die Produkte der Studios wenig schätzt und für das »metro-goldwyn-mayer- evangelium« nur Spott übrig hat, schildert dem jungen Produzenten mit vielen Worten eine wahrhaft originelle Story-Idee. Der Arbeitstitel lautet: Der Brotkönig lernt backen. Im Zentrum der Handlung steht Brechts Lieblingsspeise, die er im Land der verpackten Fertigwaren so sehr entbehrt: frisches Brot. Seine Herstellung und Vermarktung soll der Film schildern, Brechts Ansicht nach ein ungemein spannendes Thema. Natürlich weiß Gottfried Reinhardt, dass ein solcher Vorschlag auf den durchschnitt- lichen Hollywood-Produzenten geradezu bizarr wirken muss. Nachdem ihn der über- zeugte Autor aber eine Stunde bearbeitet hat, ist Reinhardt schon weniger skeptisch. Zwei Stunden später hat er sich für Brechts Idee begeistern lassen. »Ich war von ihm so beeindruckt«, erzählt Reinhardt, »dass ich mich nicht entblödet habe, hinaufzugehen zu meinen Chefs und denen das vorzuschlagen.« Reinhardt lacht laut auf. »Die haben mich für verrückt gehalten. Das Ganze hatte in Hollywood soviel Chancen wie Vom Winde verweht später in Ostberlin beim Brechtschen Ensemble.«

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Die Auskunft vom Werkschutz scheint die Sekretärin mehr als befriedigt haben. Selbstverständlich darf Mister Reinhardt in das Büro – einen Raum, der die Öde eines Möbellagers ausstrahlt: Der alte Insasse ist gefeuert, der neue zieht erst in ein paar Wochen ein. In der Zwischenzeit herrscht Verwaltungsleere. Reinhardt geht schnurstracks auf den verlassenen Schreibtisch zu, setzt sich und sieht sich um. Sein Blick wird ein wenig leer. Verloren und plötzlich sehr alt sitzt er in dem ausgeräumten Büro. »Nur noch die Türen sind von damals«, sagt er schließlich und seufzt. Dann seufzt er wieder und jetzt klingt es so ironisch, wie ein Seufzen nur klingen kann. Gottfried Reinhardt hat seine Fassung wiedergefunden, die überlegene Haltung eines Menschen, den das vergebliche Rackern und Strampeln der anderen und erst recht die vergänglichen eigenen Bemühungen schon immer amüsiert haben. Der Anblick der Leere scheint ihn nun fast zu freuen: Besser nichts mehr von der großen Vergangenheit als die schäbigen Überreste draußen auf dem Studiogelände. Wie vornehm er einmal residierte, hat Lilian Ross 1951 in ihrem Reportage-Klassiker Film beschrieben: »Reinhardt hatte ... eine ganze Zimmerflucht mit einem kleinen

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Badezimmer und einem Konferenzzimmer mit ledernen Klubsesseln. An seiner Tür war eine Messingtafel, auf der sein Name eingraviert stand ... « Gottfried Reinhardt gibt sich sichtbar einen Ruck, steht auf, klopft entschlossen auf die Tischplatte und scheint wieder frisch und jung. »Nichts wie raus hier«, sagt er.

Wir gehen den langen schmalen Gang hinunter, vorbei an offenen Türen zu kleinen, voll geräumten Bürozellen. Reinhardt deutet in einen Raum, in dem eine junge Frau an einem Bildschirm arbeitet. »Hier saß der Scott Fitzgerald. Der kam jeden Tag, ganz zuverlässig, aber er schrieb nie etwas.« Die fremdartigen deutschen Laute lassen die Frau aufsehen. Mehr erschreckt als neu- gierig schaut sie zu uns herüber. Gottfried Reinhardt nickt ihr freundlich zu. Es ist schon beim flüchtigen Hinsehen die Geste eines wichtigen Mannes, der sein Leben lang gewohnt war, nur nicken zu müssen. Beruhigt lächelt die Frau zurück und wendet sich wieder ihrem Bildschirm zu.

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»Hier arbeitete Aldous Huxley«, zeigt Reinhardt im Weitergehen, »da war der Alfred Döblin. Der war auch so ein hoffnungsloser Fall, hatte nicht die blasseste Ahnung von Film. Es war schlimm, denn er nahm die Dinge sehr tragisch. Der Alfred Polgar kam bes- ser zurecht, der war zynisch. Er wusste, dass für ihn nichts zu holen war.« »Der erzwungene Acht-Stunden-Tag als Schreib-Angestellter«, sage ich, »muss sehr ungewohnt gewesen sein für ältere Schriftsteller wie Döblin oder Heinrich Mann, die ihr Leben lang künstlerische Unabhängigkeit gewohnt waren.« Reinhardt nickt. »Aber das war nun mal das System.« Er sieht in einen der größeren Räume, in denen ein halbes Dutzend Menschen vor Com- putern sitzt, aber sein Blick geht durch sie hindurch. Ungläubig schüttelt er den Kopf. »Die Elite der Weltliteratur arbeitete hier. Damals fand ich das normal, aber heute denke ich: Das ist doch unglaublich gewesen.«

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Als wir das Thalberg-Building verlassen, bleibt Reinhardt bei einem kleinen Anbau stehen. »Eine schöne Zeit war es«, sagt er, »aber auch eine fürchterliche Zeit. Sehen Sie, eines Abends, als wir Ninotchka drehten, fand ich Lubitsch hier in seinem Raum völlig ver- zweifelt. Gerade war die Nachricht gekommen, dass die Affina torpediert worden war, als erstes Schiff im Zweiten Weltkrieg. Sie war gesunken. Und an Bord war Lubitschs Tochter.« Reinhardt geht weiter, nach ein paar Metern schaut er noch einmal über die Schultern zurück. »Sie hat dann zu den wenigen gehört, die gerettet wurden«, sagt er, und es klingt, als denke er dabei auch an sich und an die – gemessen an den Millionen Ermordeten – we- nigen anderen, die vor dem sicheren Tod aus Europa nach Hollywood entkommen konn- ten.

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Es war gut, dass wir noch einmal bei MGM waren«, begrüßt mich Reinhardt, als ich ihn das nächste Mal in Berlin treffe. »Das Studio ist verkauft worden, heute käme ich gar nicht mehr rein. Selbst die Reklame mit dem Löwen haben sie abgerissen.« Unsere zweite Begegnung findet anlässlich der monströsen Ungeschicklichkeiten statt, die im Westteil als 750. Geburtstagsfeier firmieren. Auf der Bühne des Hebbel- Theaters sitzen Verwandte, Freunde und Mitarbeiter von Max Reinhardt, der hier geehrt werden soll: ein Stück später Wiedergutmachung für einen, den man davon gejagt hat. Ein Moderator, dessen Vertreter-Verbindlichkeit nur durch seine arrogante Selbstver- liebtheit übertroffen wird, stellt den Zeitzeugen, die zum Teil eigens aus Los Angeles eingeflogen sind, banale Bildungs-Fragen, die jedes einschlägige Lexikon besser beant- worten kann als ein lebendiger Mensch. Erfahrungen, persönliche Erlebnisse interessie- ren ihn nicht. Gottfried Reinhardt, ein Mann voller Erinnerungen, sitzt auf der Bühne und verstummt mehr oder weniger. Der 89jährige Schauspieler Fritz Feld, der die verschollene Szenen- musik zu vielen Reinhardt-Inszenierungen wunderbar am Klavier nachspielen und kom- mentieren kann – »Melodien, die nirgends aufgeschrieben sind, die nur noch in meinem

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Kopf existieren!« erhält vor lauter Halbbildungsgewäsch keine Gelegenheit zum Auf- tritt. Der jugendliche Teil des Publikums lacht hilflos, viele verlassen das Theater. Der Abend wäre nicht der Erwähnung wert, bezeugte diese Pleite nicht die fortdaue- renden Konsequenzen der Vertreibung einer ganzen Kultur, die ungeheure Lähmung, die über der alten Hauptstadt liegt, eine Lähmung, die sich nur in spastischen Krämpfen löst wie jenen feuerhellen Kreuzberger Nächten. Amerikaner nennen es eine ver- schärfte Form der Eurosklerose, keine eingebildete Krankheit, aber eine der Einbil- dungskraft, das Dahinsiechen einer verknöcherten ex-hauptstädtischen Gesellschaft, die Phantasie schon lange durch Konventionen und Subventionen ersetzt hat. Ich beobachte Gottfried Reinhardts spöttisches Gesicht. Woran mag er denken? Dass sein Vater, der große Bühnenzauberer, die entzauberte Hommage nicht verdient hat? Oder überlegt er, was Brecht wohl halten würde von dem Leerlaufstück, dieser zum Drama verfremdeten Kultur-Bürokratie?

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Nachtrag: Ich sitze an meinem Berliner Schreibtisch und versuche, den Mief aus meinem Kopf zu bekommen. In der Stereoanlage dreht sich die Kassette des Interviews, das ich vor drei Jahren mit Gottfried Reinhardt führte. Ich drehe laut auf: Fahrtwind rauscht im offenen Fenster eines Wagens, der den Santa Monica Boulevard in Richtung Küste rollt. »Haben Sie nach dem Krieg überlegt«, höre ich meine Stimme Gottfried Reinhardt fra- gen, »ob Sie zurückkehren sollten?« »Nein, keinen Augenblick. Ich gehörte zu denen, die Deutschland gar nicht mehr betre- ten wollten. Aber als ich dann in Österreich war, um Erbschaftsangelegenheiten meines Vater zu erledigen, lud mich mein Freund Hans Habe nach München ein. Ich wollte nicht. Da sagte er: ›Du bist doch kein Deutscher mehr, sondern Amerikaner. Und der Eisenhower war hier, also kannst du auch kommen.‹« Reinhardts rauhe Zigarren-Stimme lacht freundlich. »Und das stimmte ja irgendwie. Warum sollte ausgerechnet ich als einziger Amerikaner Deutschland nicht mal besuchen?«

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»Sie haben dann fast zwanzig Jahre lang immer mal wieder hier gearbeitet, in Berlin und München, große Filme gedreht wie Vor Sonnenaufgang und Stadt ohne Gewissen. Kamen Sie da nie in Versuchung, sich wieder in ihrer alten Heimat niederzulassen?« »Nein, der Unterschied zu früher ist ja zu enorm. Das Land ist heute judenrein, das ist eins der wenigen Dinge, die Hitler geschafft hat. Aber die Juden waren nun einmal im Kulturleben das Salz der Erde, als Künstler und mehr noch in der Kritik und im Publikum,

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wie heute noch in Los Angeles oder New York. In Deutschland ist mir alles zu langweilig geworden.« »Viele sind zurückgekehrt ...« »Die haben sich was vorgemacht. Ein Zurück gab es und gibt es nicht. Die Bundesre- publik ist ein neues Land, das man mögen kann oder nicht. Aber es ist nicht mehr das Land, das wir einmal verlassen mussten.«

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Dieses Werk ist unter Impressum einem Creative Commons Namensnennung-Keine Druckgeschichte kommerzielle Nutzung- Fluchtpunkt Hollywood. Fünfte Folge: Wunderkind in der Traumfabrik. (Portrait Keine Bearbeitung 2.0 Gottfried Reinhardt). In: STERN, 24/88, S. 96-108. Deutschland Lizenzvertrag igitaler eprint lizenziert. Um die Lizenz D R anzusehen, gehen Sie bitte Dieses Dokument wurde von Leon und Gundolf S. Freyermuth in Adobe InDesign zu http://creativecommons. und Adobe Acrobat erstellt und am 1. Mai 2009 auf www.freyermuth.com unter der org/licenses/by-nc-nd/2.0/ Creative Commons License veröffentlicht (siehe Kasten links). Version: 1.0. de/ oder schicken Sie einen Über den Autor Brief an Creative Com- mons, 171 Second Street, Gundolf S. Freyermuth ist Professor für Angewandte Medienwissenschaften an der ifs — Internationale Suite 300, San Francisco, Filmschule Köln (www.filmschule.de). California 94105, USA. Weitere Angaben finden sich auf www.freyermuth.com.

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