Quick viewing(Text Mode)

Sonntag, 3. Januar 2021 Treffpunkt Klassik – Neue Cds: Vorgestellt Von Christoph Vratz

Sonntag, 3. Januar 2021 Treffpunkt Klassik – Neue Cds: Vorgestellt Von Christoph Vratz

Sonntag, 3. Januar 2021 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Christoph Vratz

Orchestrales Duo / Franz Liszt Sinfonie Nr. 9 Philippe Cassard, Cédric Pescia (Klavier) La Dolce Volta CD LDV 82; 3770001904115; LC 55458

Verpasste Chance Ludwig van Beethoven Klaviersonaten Nr. 1-32 Diabelli-Variationen op. 120 (Klavier) DG 13 CDs 483 932; 0289483 9320; LC 00173

Aufregend und zart Ludwig van Beethoven/ Carl Reinecke Tripelkonzert op. 56 Frédéric Chopin Klaviertrio g-Moll op. 8 Gidon Kremer (Violine) Giedrė Dirvanauskaitė (Cello) Georgijs Osokins (Klavier) Accentus CD ACC30529

Romantisch nachschimmernd Arnold Schönberg Gurre-Lieder , Camilla Nylund, Christa Mayer, Markus Marquardt, Franz Grundheber MDR Rundfunkchor Leipzig, Sächsischer Staatsopernchor Dresden Gustav Mahler Jugendorchester Christian Thielemann (Ltg.) Profil 2 CDs PH 20052; 881488200522; LC 13287

Eine pianistische Ära Wilhelm Kempff Edition Werke von Bach, Beethoven, Schumann, Schubert u.a. DG 80 CDs; 483 9075; 028948390755; LC 00173

Signet SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs..

Das musik-kalendarische Großereignis des Jahres 2020 liegt erst gute zwei Wochen zurück: der 250. Geburtstag von Ludwig van Beethoven. Auch wenn der geplante Ansturm auf diverse Live- Feierlichkeiten virus-bedingt abgeblasen werden musste, so herrschte doch zumindest auf dem CD- Markt eine Form von Dauerbrise, die den Jubilar in allen denkbaren Facetten gewürdigt hat. Und auch in der ersten Sendung des neuen Jahres bilden Nachwirkungen des Beethoven-Jahres einen Schwerpunkt.

Damit heiße ich Sie „Herzlich willkommen“. Am Mikrophon begrüßt Sie Christoph Vratz.

Zu Beginn möchte ich Ihnen eine Aufnahme der neunten Sinfonie Beethovens in der Fassung für zwei Klaviere von Franz Liszt vorstellen. Anschließend eine Gesamtaufnahme der 32 Klaviersonaten, die Daniel Barenboim vorgelegt hat – es ist bereits sein vierter Zyklus dieser Werke. Carl Reinecke hat eine Kammermusik-Fassung von Beethovens Tripelkonzert erstellt, die nun - mit dem Klaviertrio von Frédéric Chopin – Gidon Kremer und zwei seiner Kammermusikfreunde veröffentlicht haben. Aus Dresden stammt ein Konzertmitschnitt der Gurre-Lieder von Arnold Schönberg unter der Leitung von Christian Thielemann, aufgenommen kurz vor dem ersten Lockdown im vergangenen Frühjahr. Am Ende der Sendung steht ein Pianist im Fokus, dessen Karriere vor den Aufnahmemikrophonen rund sechs Jahrzehnte währte und dessen diskographisches Erbe nun auf 80 CDs zugänglich gemacht worden ist. Die Rede ist von Wilhelm Kempff.

Wäre 2020 ein normales Jahr gewesen, frei von der weltweit lähmenden Virus-Wirkung, hätte es am Silvestertag quer über den Globus sicher etliche Aufführungen der neunten Sinfonie Ludwig van Beethovens gegeben. Wenn es etwas zu feiern gibt, steht meist die Neunte auf dem Programm. In Japan etwa erlebt sie zum Jahreswechsel regelmäßig mehr als 200 Aufführungen. Wohl nirgends klingt sie so monumental wie in Osaka, wo sich (in normalen Zeiten) alle Jahre wieder rund 10.000 Sänger versammeln, um gemeinsam die „Ode an die Freude“ zu schmettern. In dieser Klavierfassung ist die Neunte hingegen eher selten zu erleben:

Beethoven: Sinfonie Nr. 9 2’42

1865 schreibt Franz Liszt in einem Brief rückblickend über die neunte Sinfonie von Ludwig van Beethoven:

„1840 betrachteten die meisten Musiker und sogenannten ‚Musikkenner’ in Europa die 9. Symphonie als ein gar erschreckliches Schrecknis. Man versuchte sich mehr schlecht als recht an ihr, zunächst fragmentarisch und zu irgendeinem besonderen Anlass“.

Liszt hat alle neun Beethoven-Sinfonien für Klavier bearbeitet, auch um ihre Verbreitung zur fördern. Sie sind höllisch schwer zu spielen, weshalb auch die diskographische Auswahl eher begrenzt ist. Glenn Gould hat sich einmal an die fünfte Sinfonie gewagt, zyklische Einspielungen gibt es unter anderem von Cyprien Katsaris, Yury Martinov und zuletzt durch Hinrich Alpers. Nun haben Philippe Cassard und Cédric Pescia die Neunte aufgenommen, allerdings in der Fassung für zwei Klaviere, die Franz Liszt noch vor seiner Fassung für zwei Hände erstellt hat, auch um sich in mehreren Schritten an die besondere Herausforderung heranzutasten, einen komplexen Satz wie das Finale mit Gesangssolisten, Chor und Orchester auf dem Klavier möglichst umfassend abzubilden. Dass Cassard und Pescia auf dieser CD nicht zum ersten Mal als pianistisches Doppel auftreten, hört man in allen vier Sätzen gleichermaßen. Denn Liszts Bearbeitung braucht zweierlei: einerseits zwei gute Solo-Pianisten, die jeder für sich ihren eigenen Part souverän beherrschen, andererseits zwei Musiker, die genau aufeinander Rücksicht nehmen. Schließlich vertritt jeder von ihnen, grob gerechnet, ein halbes Orchester. Es folgt ein Ausschnitt aus dem Scherzo:

Beethoven: Sinfonie Nr. 9 2’06

Rhythmisch prägnant, im Anschlag klar und dennoch dynamisch sehr variabel – Philippe Cassard und Cédric Pescia haben ihr Spiel an zwei Klavieren genau aufeinander abgestimmt. Wie genau, soll das nun unmittelbar folgende Beispiel zeigen, ein Ausschnitt aus dem langsamen dritten Satz, in dem die beiden Pianisten mit größter Umsicht die jeweiligen Stimmen verteilen – das Ergebnis gemeinsamen Phrasierens und gemeinsamen Atmens. Die lyrischen Momente werden äußerst gesanglich moduliert. Kammermusik für 20 Finger:

Beethoven: Sinfonie Nr. 9 2’42

Bis ins Jahr 1812 reichen nachgewiesene erste Pläne, nach denen Beethoven Schillers „Ode an die Freude“ vertonen wollte. Doch schon 20 Jahre früher, also noch zu Beethovens Bonner Zeit, hat er sich diesem Text bereits genauer zugewandt, mit Blick auf eine mögliche musikalische Ausarbeitung. Warum hat Beethoven mit einer Vertonung so lange gezögert hat, liegt möglicherweise an der besonderen Qualität der Schillerschen Vorlage. Während Schillers Dramenvorlagen verschiedenen Komponisten immer wieder als ideale Ausgangsbasis für Libretto-Bearbeitungen gedient haben, galten seine Gedichte als ungleich schwerer zu vertonen.

Dass Beethoven auf seinen alten Plan ausgerechnet in der Neunten zurückkommt, ist sicher kein Zufall: Denn die Wahl des Schiller-Textes ist natürlich ein Bekenntnis, sie ist nicht Laune, nicht Notstopfen. Außerdem findet Beethoven in diesem Text seine eigene Mentalität wieder: ein Aufbegehren gegen die bürgerliche Ordnung, Sprengkraft gegen politische Fesseln und Ausdruck einer tiefen Sehnsucht nach Freiheit.Ohne gesungenen Text liegt die Hürde für die Interpreten noch höher, denn diese gerade genannten Aspekte wollen trotz der instrumentalen und vokalen Reduktion angedeutet und damit hörbar gemacht werden.

Piano total – so hat der Pianist Cyprien Katsaris vor vielen Jahren einmal eine Fernsehsendung zum Thema Bearbeitungen benannt – und dieser Titel könnte auch für die neue CD mit Philippe Cassard und Cédric Pescia gelten. Beiden Pianisten gelingt es staunenswert selbstverständlich, ja beinahe mühelos, die Kontraste dieses Finalsatzes einzufangen und die Stimmen der vier Solo-Sänger sowie die des Chores so organisch in den pianistischen Gesamtklang einzugliedern, als habe es nie eine Trennung gegeben. In diesem engen Stimmenverbund gibt es keinerlei Störungen: keine Verspätungen, keine sanften Kollisionen, keine unverhofften Baustellen. Es folgt der Schluss der neunten Sinfonie in der Bearbeitung für zwei Klaviere von Franz Liszt.

Beethoven: Sinfonie Nr. 9 3’59

Philippe Cassard und Cédric Pescia haben die neunte Sinfonie von Ludwig van Beethoven in der Transkription für zwei Klaviere von Franz Liszt aufgenommen - eine künstlerisch rundum gelungene und auch aufnahmetechnisch überzeugende Einspielung, die den Reiz solcher Klavierbearbeitungen hoffentlich auch über das Ende des Beethovenjahres hinaus hochhalten kann. Erschienen ist diese Produktion beim Label La Dolce Volta.

Ein solch rundum positives Fazit lässt sich bei der nun folgenden Gesamteinspielung der 32 Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven nicht ziehen. Daniel Barenboim hat diesen Zyklus nun bereits zum vierten Mal auf CD veröffentlicht. Damit übertrifft er selbst eingefleischte Beethovenianer wie Alfred Brendel, der diesen Kosmos immerhin dreimal auf Platte bzw. CD dokumentiert hat. Ursache für diese Neueinspielung war, laut Barenboim, die aktuelle Weltlage: „Die Möglichkeit, Beethovens Sonaten […] aufzunehmen, erschien mir wie die ideale Antwort auf die Pandemie. In den letzten 50 Jahren ist es nicht einmal vorgekommen, dass ich mich drei ganze Monate lang ausschließlich mit dem Klavierspiel beschäftigen konnte.“

Ende Mai dieses Jahres hat Barenboim damit begonnen, die 32 Sonaten neu aufzunehmen, und jetzt muss er sich eben messen lassen: sowohl an den zahlreichen alternativen Gesamteinspielungen, die es mittlerweile gibt – als auch an sich selbst.

Beethoven: Klaviersonate Nr. 4 op. 7 2’25

„Allegro molto e con brio“ hat Beethoven über den ersten Satz seiner „Grand Sonata“ op. 7 geschrieben, er fordert also ein sehr schnelles Tempo und einen feurigen Vortrag. Barenboim fängt diesen Charakter in den ersten Takten am ehesten durch die Ton-Wiederholungen der bohrenden Bassstimme ein – aber eben auch nur da. Denn im weiteren Verlauf verflacht das innere Feuer; selbst bei den lodernden, energischen Apellen, die Beethoven hier formuliert, baut Barenboim seltsame Verzögerungen ein – was dem Vorwärtsdrängen, dem Gestus dieser Musik entgegensteht. Wenn man sich durch den kompletten Zyklus dieser 32 Sonaten hört, stößt man bei Barenboim immer wieder auf ausgesprochen klangschöne Passagen, auf tiefes Empfinden, das den Vollblutmusiker Daniel Barenboim auf treffende, nicht zuletzt unmittelbar-persönliche Weise abbildet. Doch damit allein ist es bei diesen Werken nicht getan. Immer wieder kommt der Pianist zu befremdlichen, mehr noch: zu verzerrenden Interpretationen. Den zweiten Satz der „Sonata quasi una fantasia“ op. 27 Nr. 1 hat Beethoven mit „Allegro molto e vivace“ überschrieben, eine Vorgabe, die keinerlei Zweifel zulässt, was Tempo und Gestus betrifft. Und wer diesen Satz einmal auf einem historischen Flügel der Beethoven-Zeit gehört hat, weiß, wie sehr die Musik lodern und Funken sprühen kann. Daniel Barenboim jedoch entscheidet sich für einen ganz anderen Weg. Vereinfacht gesagt: Er rückt diesen Satz in die Nähe einer Nocturne als Vorbote Chopins…

Beethoven: Klaviersonate Nr. 14 op. 27, 1 2’28

Von einem Scherzo-ähnlichen Charakter ist in dieser Aufnahme mit Daniel Barenboim wenig zu spüren. Den Gedanken einer Fantasie-Sonate in dieser Sonate op. 27 Nr. 1 bringt er im Sinne einer Temporeduktion zum Ausdruck, die ihm gleichzeitig als Türöffner für eine romantisierend-verzärtelnde, seichte Deutung dient.

Ich habe dieses Beispiel ausgewählt, weil es kein Einzelfall ist, sondern weil sich innerhalb dieses Zyklus immer wieder ähnliche Beobachtungen anstellen lassen. Das gilt übrigens auch für einen ungewöhnlich großzügigen Einsatz beim Pedalgebrauch. Damit wären wir bei der Frage, wie diese Neueinspielung in Summe einzuordnen ist. Möchte Daniel Barenboim seine Sicht auf Beethoven noch einmal mit dem Wissen um einen jahrezehntelangen Erfahrungsschatz präsentieren? Und führen diese vielfältigen Erfahrungen automatisch zu einer gewissen Milde?

Man muss nun nicht die ganze Aufnahmegeschichte von Artur Schnabel bis Fazil Say zu Rate ziehen und auch nicht Barenboims eigene frühere Aufnahmen, um am Ende festzustellen: Mit diesem Zyklus schlägt der fast 78-jährige Musiker einen Weg ein, der mehr Zweifel schürt als Einsichten bietet. Diese Edition ist grenzwertig in der Art des Romantisierens und grenzwertig wegen einer fast salbungsvollen Gutmütigkeit – oder, meinetwegen, auch „Schonung“, die diese Musik nicht nur nicht braucht, sondern die ihrem Gestus und ihren Botschaften geradezu entgegensteht.

Das gilt auch für die späten Sonaten. Man höre nur das verhaltene „Prestissimo“, das Scherzo aus op. 109, ein Alles-oder-Nichts-Satz, extrem knapp und dicht komponiert, vom Charakter her beinahe eine Groteske, der bei Barenboim vergleichsweise gutmütig wirkt. Doch stattdessen möchte ich Ihnen die ersten Variationen aus dem anschließenden Schlusssatz einspielen. Hier zeigt sich eines der Hauptmerkmale dieser Aufnahme. Barenboim formt immer wieder Klangflächen, deren milchiger Charakter nicht nur durch moderate Tempi intensiviert wird, sondern überhaupt erst zustande kommt, weil Barenboim vor allem in den schnelleren Abschnitten keine überzeugende Trennschärfe erzielt, sei es bei Akkorden (so etwa am Beginn von Opus 111) oder bei Läufen.

Dass seine Finger nicht mehr ganz so sicher über die Tasten fliegen und sich vermehrt Unsauberkeiten einstellen, ist eine Beobachtung, die man in den vergangenen Jahren auch schon im Konzertsaal erleben konnte. Doch dies ist nicht das entscheidende Kriterium. Auch der späte Rudolf Serkin war technisch nicht mehr ganz auf der Höhe und hat dennoch faszinierend-wagemutige Dokumente hinterlassen, auch zu Beethoven. Hier also Daniel Barenboim und einige der Variationen über das gesangvolle und mit innigster Empfindung zu spielende Thema aus op. 109.

Beethoven: Klaviersonate Nr. 30 op. 109 (Var. 1-4) 5’16

Soweit ein Ausschnitt aus dem letzten Satz der Klaviersonate Nummer 30 op. 109 von Ludwig van Beethoven, eingespielt von Daniel Barenboim. Ein Fazit zu ziehen, fällt zugegebenermaßen schwer. Man könnte es sich einfach machen, und diese Gesamtaufnahme mit sehr unterschiedlichen, aber letztlich pauschalen Prädikaten wie „Altersstil“ oder „Romantisch“ abstempeln. Doch das wäre sicher zu einfach, denn Daniel Barenboim ist nie ein Künstler gewesen, der Entscheidungen aus Verlegenheit oder aus dem Bauch heraus trifft (es sei denn, unter massivem Zeitdruck - was in diesem Fall jedoch auszuschließen ist). Also wünschte man sich, dass er seine Sicht erklären würde. Denn das hier dokumentierte Beethoven-Bild irritiert und verstört. Für Beethoven waren die 32 Klaviersonaten immer eine Art Labor, in dem er mit der Form gerungen und zu damals wahrhaft un-erhörten Ergebnissen gekommen ist. Dieses Un-Erhörte, diese explosive Mischung aus klassischem Ideal und Aufbruch, aus traditionellem Aufbau und verstörenden Wagnissen – genau das hört man bei Daniel Barenboim viel zu selten.

Ergänzt wird diese Edition um einen Konzertmitschnitt aus Berlin mit den Diabelli-Variationen sowie um zwei CDs mit fünf Beethoven-Sonaten, die der junge Barenboim im Jahr 1958 in New York aufgenommen hat. Insgesamt handelt es sich um 13 CDs, die beim Label erschienen sind.

SWR2, im Treffpunkt Klassik – Neue CDs, heute mit Christoph Vratz.

Die nächste CD enthält zwei Werke, zwischen denen es keine direkte Verbindung gibt – außer der Besetzung: Beethovens Tripelkonzert und das einzige Klaviertrio von Frédéric Chopin. Dennoch ist das ausgewählte Repertoire in gewisser Weise bezeichnend für Gidon Kremer, der seit einigen Jahren schon allem, was mainstream-verdächtig erscheint, weitgehend zu entfliehen versucht. In den 80er Jahren bereits hatte Kremer mit Martha Argerich eine (schillernde) Gesamtaufnahme der Beethoven- Violinsonaten vorgelegt, auch das Violinkonzert hat er bereits dokumentiert. Für das Beethoven-Jahr 2020 suchte er nach einer Entdeckung abseits des Populären und ist bei Carl Reinecke fündig geworden. Der hatte 1866/67 Beethovens Tripelkonzert für Trio ohne Orchester bearbeitet (wie zuvor schon der von geschätzte Eduard Wilsing). An Gidon Kremers Seite spielen die Cellistin Giedrė Dirvanauskaitė und Georgijs Osokins am Klavier.

Beethoven: Tripelkonzert 2’36

Bearbeitungen sinfonischer Werke für Kammermusik waren im 19. Jahrhundert keine Seltenheit, insofern reiht sich Fassung des Tripelkonzerts von Ludwig van Beethoven durch den Komponisten Carl Reinecke nahtlos ein in eine reiche Tradition, zumal Beethoven selbst etwa seine zweite Sinfonie für Klaviertrio eingerichtet hat.

In der Urteilsfindung über diese CD könnte man kurzen Prozess machen: Hier erlebt man die Dreieinigkeit des Triospiels. Kremer, Dirvanauskaitė und Osokins harmonieren miteinander prächtig. Das ist Kammermusik im eigentlichen Sinne, ohne auftretende Starallüren eines einzelnen. Alle drei Musiker phrasieren sehr natürlich, bauen im Kopfsatz immer wieder auf ein unterschwelliges Brodeln als Fundament für arios vorgetragene Oberstimmen. Die Tutti-Passagen erscheinen als kraftvolles Ganzes.

In Ermangelung des Orchesterparts erscheinen die drei Soloinstrumente in diesem Konzert plötzlich noch unmittelbarer und direkter, zugleich feiner, auch im Vergleich zu einer der wenigen alternativen Einspielungen dieser Fassung mit dem Arensky-Trio.

Ich habe als zweites Beispiel aus dem Tripelkonzert den Schlussabschnitt des langsamen Satzes sowie den Beginn des Rondos ausgewählt. Das Largo scheint wie aus einer anderen, entrückten Welt, geradezu sphärisch. Eine Musik, die mehr andeutet als ausspricht, die aus einem Innen heraus erwächst und von allen äußeren Einflüssen, insbesondere Effekten, befreit scheint. Das Rondo deuten die drei Musiker mit der Gelassenheit eines Volksliedes. Wenn dann das erste markante rhythmische Signal auftritt, bekommt der Satz eine keck-spielerische Wendung, die bis zum Schluss prägend bleibt.

Beethoven: Tripelkonzert, Übergang Largo-Rondo 5’08

An die interpretatorische Qualität von Beethovens Tripelkonzert knüpfen Geiger Gidon Kremer, Giedrė Dirvanauskaitė am Cello und Pianist Georgijs Osokins beim folgenden Werk nahtlos an. Frédéric Chopin war ein Komponist des Klaviers. Daher findet man in seinem Werkkatalog kaum Stücke mit Orchesterbeteiligung und ebenso wenige für Kammermusik. Zu den wenigen Ausnahmen zählt sein Klaviertrio, ein Werk des noch 18-Jährigen, fertig gestellt in den ersten Monaten des Jahres 1829. Was dieses Werk so besonders macht, ist die Entwicklung in seinem Kompositionsprozess, die sich hier abzeichnet. Chopin zeigt bereits eine Neigung zu Ökonomie und Präzision, die für seinen späteren Stil charakteristisch sein wird.

Kremer, Dirvanauskaitė und Osokins stellen immer wieder, selbst in Momenten, wo Chopin ein „con fuoco“ fordert, wie im Kopfsatz, auch die melancholischen Seiten dieser Musik heraus. Ähnlich wie bei Beethoven erwartet den Hörer am Schluss ein Satz, der in dieser Aufnahme vor allem von seinem spielerischen Gestus lebt: ein filigran-nervöses Allegretto, das nicht als Rausschmeißer dient und daher von den Interpreten einen besonderen Sinn fürs Feinsinnige erfordert. Genau das kommt in der vorliegenden Einspielung wunderbar zur Geltung.

Chopin: Klaviertrio, Allegretto 4’10

Gidon Kremer (Geige), Giedrė Dirvanauskaitė Cello und Georgijs Osokins (Klavier) haben eine ebenso aufregende wie zart gespielte Kammermusikaufnahme vorgelegt, mit einer Bearbeitung des Tripelkonzerts von Ludwig van Beethoven und dem Klaviertrio von Frédéric Chopin, aus dem Sie gerade den Schluss hören konnten. Auch die Aufnahmetechnik erfüllt höchste Ansprüche, denn alle drei Instrumente klingen gleichermaßen direkt und natürlich. Erschienen ist diese CD beim Label Accentus.

Sie haben SWR2 eingeschaltet, den Treffpunkt Klassik – Neue CDs, heute moderiert von Christoph Vratz.

Am 10. März 2020 schlossen Christian Thielemann und die Sächsische Staatskapelle in der ihre planmäßige Konzertsaison 2019/2020 frühzeitig ab. Unmittelbar danach folgte der Stillstand des kulturellen Lebens in Dresden und weiten Teilen Europas. Auf dem Programm dieses Konzerts standen die „Gurre-Lieder“ von Arnold Schönberg, deren musikhistorische Verortung schwierig fällt, nicht nur wegen der langen Entstehung zwischen 1900 und 1911: irgendwo zwischen Mahler und Wagner, irgendwo zwischen Spätromantik und Aufhebung der Tonalität, irgendwo zwischen Kantate und weltlichem Oratorium. Thielemann ist bislang zwar als Liebhaber spätromantischer Musik, nicht aber unbedingt als Verfechter der Musik von Arnold Schönberg aufgefallen. Es folgt das Vorspiel.

Schönberg: Gurre-Lieder 2’49

Dirigent Christian Thielemann deutet schon im Vorspiel von Arnold Schönbergs „Gurre-Liedern“ an, wohin die musikalische Reise gehen soll: ins Romantische, in ein Zwischenreich aus Realität und Traum, aus Fiktion und Wahrhaftigkeit. Und: in ein Reich voller Farben. Erstaunlich, dass man nicht wirklich erkennen kann, dass hier zwei Orchester zu einem verschmolzen sind. Denn für dieses Projekt hat sich die Staatskapelle Dresden mit knapp 40 Musikern des Gustav Mahler Jugendorchesters verstärkt. Doch darin liegt für Thielemann keine besonders hohe Hürde, denn von seinen vielen Bayreuther Festspiel-Auftritten her ist er es gewöhnt, ein bunt zusammengesetztes Orchester zu einem einheitlichen Klangkörper zu formen.

Schönberg hat in seinen „Gurre-Liedern“ eine Geschichte um Rache und Sehnsucht vertont, die seit Jahrhunderten zum nationalen Sagen-Erbe Dänemarks zählt. König Woldemar (im Deutschen: Waldemar) hat eine Geliebte, Tove. Doch diese Liaison gefällt der eifersüchtigen Königin überhaupt nicht, daher lässt sie Tove kurzerhand ermorden. Das nun stößt bei Waldemar nicht unbedingt auf Gegenliebe. Er legt sich daraufhin verbittert mit Gott an und will Tove rächen. Schließlich aber sieht sich Waldemar dazu verdammt, lange ruhelos umherzulaufen – ein Wahnsinniger in der irdischen Endlosschleife. Hier nun ruft Waldemar Gott an – Auflehnung und Klage zugleich. Er wirft Gott vor, als Herrscher falsche Wege einzuschlagen. Harter Tobak, den Stephen Gould mit aller Nachdrücklichkeit zum Ausdruck bringt.

Schönberg: Gurre-Lieder 2’18

Der Tenor Stephen Gould singt seit Jahren (auch unter Christian Thielemanns Leitung) vor allem Wagner-Partien. Dirigent und Sänger können sich aufeinander verlassen – auch in dieser Aufführung von Schönbergs „Gurre-Liedern“: Gould, ganz heldentenörig, verleiht der Partie des Waldemar wahre Herrscherwürde, er singt mit Wucht und einer Unerbittlichkeit, auch in der gerade gehörten Passage, die zeigt: der Mensch will nicht länger Gottes Abbild sein, sondern eher sein Gegenspieler. Auch die zweite zentrale Partie ist exzellent besetzt: Die Rolle der Tove singt Camilla Nylund. Die finnische Sopranistin bringt hier all ihre Oratorien- und Lied-Erfahrungen ein. Sie kann ungemein zart gestalten und die Melodien ungetrübt strömen lassen. Vor allem aber verleiht sie Tove, diesem jungen Bauernmädchen, ein hohes Maß an Sinnlichkeit.

Schönberg: Gurre-Lieder 4’52

Das war Camilla Nylund als Tove, der Königs-Geliebten in Arnold Schönbergs „Gurre-Liedern“. Die Besetzung erinnert in ihren Dimensionen an Gustav Mahlers achte Sinfonie oder (zumindest was das Orchester betrifft) an Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ oder „“ von . Entsprechend waren bei der Dresdner Aufführung im vergangenen März 150 Orchestermusiker im Einsatz, außerdem neben 6 Vokalsolisten auch 150 Sänger: Mitglieder des MDR Rundfunkchores und des Sächsischen Staatsopernchores. Das Ende der Geschichte bleibt letztlich offen; doch die Kraft, die sich am Schluss der „Gurre-Lieder“ entfaltet, deutet an, dass der Spuk böser Mächte überwunden ist und etwas (abstrakt) Positives besungen wird.

Schönberg: Gurre-Lieder: 5’03

Christian Thielemann, der Klangfarben-Maler mit dem untrüglichen Gespür für Timing und Balance, prescht nicht als hurtiger Reiter durch Schönbergs balladeske Erzählung. Er nimmt sich oft die nötige Zeit, um Momente auszukosten, Details in den Blick nehmen und diese einfach wirken lassen. Dass er in Arnold Schönberg (zumindest im Schönberg der „Gurre-Lieder“) nicht den Erneuerer und radikalen Klang-Revolutionär sieht, sondern eher einen Erben des Romantischen, darf nicht verwundern – passt aber zu diesem Stück.

Erschienen ist dieser (auch in den Begleitheften gut dokumentierte) Konzertmitschnitt vom März 2020 auf zwei CDs beim Label Profil.

Zum Schluss der Neuen CDs im Treffpunkt Klassik auf SWR2 möchte ich auf einen Pianisten eingehen, dessen Geburtstag sich im vergangenen November zum 125. Mai jährte: Wilhelm Kempff. Oft wurde er mit dem Etikett „Poet am Klavier“ bezeichnet, eine ebenso treffende wie gefahrvoll verkürzende Darstellung, denn Kempffs Aufnahme-Karriere erstreckte sich über mehr als sechs Jahrzehnte.

Nun liegt sein diskographisches Erbe auf 80 CDs vor. Man kann diese Box an dieser Stelle natürlich nur exemplarisch vorstellen. Ein umso größeres Gewicht erhalten die wenigen ausgewählten Stücke; insofern soll es bezeichnend wirken, wenn an erster Stelle nicht der Beethoven-Interpret Kempff, sondern der Schubert-Erheller Kempff Erwähnung findet.

In den späten 1960er Jahre hat der Pianist sämtliche Schubert-Sonaten aufgenommen, einschließlich der unvollendeten Werke, was zur damaligen Zeit schon ungewöhnlich genug war. Auch sein Ansatz, Schuberts Sprache von ihrer intimen Seite her verständlich zu machen, in ihrer Verletzlichkeit, um nicht zu sagen: in ihrer Zerbrechlichkeit, auch dieser Interpretationsweg besaß etwas Neuartiges. Aus heutiger Sicht betrachtet ist dieser Ansatz im besten Sinne zeitlos. Aus diesem Grund habe ich nun nicht einen Abschnitt aus einer der großen Sonaten ausgewählt, sondern das scheinbar unscheinbare Andante aus der As-Dur-Sonate D 557. Der Versuch, Schuberts Musik in all ihrer Unmittelbarkeit einzufangen, gelingt Kempff, weil er einerseits in der kantabel-ariosen Gestaltung der Melodielinien eine wesentliche Essenz seines Musikverständnisses sah, und weil er andererseits selbst in der vermeintlichen Idylle immer auch die Nähe zu einem möglichen Abgrund, zu einem möglichen Scheitern angedeutet hat.

Schubert: Sonate D 557, Andante 3’13

Franz Schubert, Andante aus der As-Dur-Sonate D 557, eingespielt im Jahr 1968 von Wilhelm Kempff. Kempff war 1895 im brandenburgischen Jüterborg zur Welt gekommen, als Brahms, Bruckner, Wolf und Verdi noch zu den Lebenden zählten. Als er 1991 in seiner süditalienischen Wahlheimat Positano starb, hatte die Postmoderne die Moderne längst abgelöst. Bereits Kempffs erste Schallplattenaufnahme im Jahr 1920 galt dem Komponisten, mit dem er sich so intensiv auseinandergesetzt hat wie mit keinem anderen: Ludwig van Beethoven. Auch bei seinem Debüt zwei Jahre zuvor bei den Berliner Philharmonikern unter Arthur Nikisch in der Berliner Singakademie hatte sich Kempff für Beethoven entschieden.

Dreimal hat er die 32 Klaviersonaten im Aufnahmestudio zyklisch erschlossen, zuletzt Mitte der 60er Jahre in einer Stereo-Produktion. Zwischen 1951 und 1956 hatte er die Sonaten zum ersten Mal komplett aufgenommen (in Mono), da ein im Jahr 1926 begonnenes Aufnahme-Projekt nicht ganz vollendet werden konnte. Damals wurden noch Schellack-Platten produziert, mit 78er Geschwindigkeit. Dass diese frühen und lange Zeit nicht erhältlichen Aufnahmen nun Teil der vorliegenden Edition sind, ist umso erfreulicher: zeigt sich hier doch sowohl die künstlerische Entwicklung des Pianisten als auch die weite Spanne technischer Fortschritte, in die die Ära Kempff fällt.

Zu einer Zeit, als es noch keine oder nur sehr wenige Urtext-Editionen gab, suchte Kempff immer nach einer Art Urzustand von Beethovens Musik; er deutet diese Werke wie ausgearbeitete Fantasien, wie improvisierte Monologe. Sein Spiel wirkt – um das Kleistsche Wort umzumünzen – wie die ‚Allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Klavierspiel‘. Wie kaum ein anderer Beethoven-Interpret hat Kempff in seinen Interpretationen darauf hingewiesen, dass der Komponist keine dynamische Vorgabe so oft verwendet hat wie ein „“ bzw. „pianissimo“.

Das gilt auch für seine Kammermusikaufnahmen, zu denen unter anderem zwei Gesamteinspielungen der Violinsonaten mit Wolfgang Schneiderhan und Yehudi Menuhin zählen, eine Produktion der Werke mit Violoncello und Pierre Fournier sowie ein Zyklus mit Klaviertrios, an der Seite von Henryk Szeryng und abermals Pierre Fournier. Dass selbst das Nervöse bei Kempff immer einher ging mit einem Moment des Noblen und Kantablen, zeigt ein Ausschnitt aus dem Presto-Finale des zweiten Klaviertrios aus op. 1.

Beethoven: Klaviertrio op. 1, Nr. 2, Finale 3’47

Die Werke Beethovens bilden natürlich auch einen Schwerpunkt der vorliegenden Gesamtedition des Pianisten Wilhelm Kempff, erwähnt seien auch die beiden Einspielungen der fünf Klavierkonzerte. Nun könnte und sollte man an dieser Stelle auch all die Komponisten vertiefend betrachten, denen Kempff ein Leben lang aus tiefer Überzeugung seine Aufmerksamkeit geschenkt hat, etwa Brahms, Schumann, Mozart. Auch Werke von Chopin und Franz Liszt wären zu nennen, besonders aber die Musik von Johann Sebastian Bach. Doch ich möchte diese Sendung ausklingen lassen ohne weitere Worte – mit einer Transkription aus Kempffs eigener Werkstatt. Denn der Komponist Wilhelm Kempff ist, neben diesen Bearbeitungen, in der vorliegenden Edition lediglich in Form einiger Lieder dokumentiert. Befiehl du deine Wege, BWV 727.

Bach/Kempff: Befiehl du deine Wege BWV 727 2’06

„Befiehl du deine Wege“ - wenn Wilhelm Kempff seine eigene Bearbeitung dieses Bach-Chorals spielt, könnte man auch das Goethesche Diktum über den Augenblick als sanfte Befehlsform heranziehen: „Verweile doch! Du bist so schön!" Daher schweige ich an dieser Stelle, nicht ohne eine nachdrückliche Empfehlung für die vorliegende Edition: Das diskographische Erbe von Wilhelm Kempff liegt auf 80 CDs vor, veröffentlicht von der Deutschen Grammophon.

Das war sie, die erste Ausgabe mit Neuen CDs im neuen Jahr, hier in SWR2 Treffpunkt Klassik. Das Manuskript dieser Sendung finden Sie im Internet unter www.swr2.de mit allen Angaben zu den ausgewählten CDs, außerdem (eine Woche lang) die komplette Sendung und etliche weitere lohnende Beiträge. Ich danke fürs Zuhören. Hören Sie wohl, sagt Ihr Christoph Vratz.