Heinz Rieter Gustav von Schmollers Erinnerungen an seine Jugendzeit in Heilbronn

Sonderdruck aus:

Christhard Schrenk · Peter Wanner (Hg.) heilbronnica 4 Beiträge zur Stadt- und Regionalgeschichte

Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Heilbronn 19 Jahrbuch für schwäbisch-fränkische Geschichte 36

2008 Stadtarchiv Heilbronn Gustav von Schmollers Erinnerungen an seine Jugendzeit

HEINZ RIETER

Der gebürtige Heilbronner Gustav Friedrich Schmoller (1838 – 1917) war im letz- ten Drittel des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts einer der führenden – wenn nicht sogar der führende – Volkswirt in Deutschland.1 Er hatte in Tübingen Staatswissenschaften, Philosophie und Geschichte studiert und über ein national- ökonomisches Thema promoviert. Er wurde 1864 Professor in Halle, ging 1872 an die Universität Straßburg und nahm 1882 den Ruf auf einen Lehrstuhl der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität an, als deren Rektor er 1897/98 amtierte und der er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1913 angehörte. Er vertrat die Uni- versität viele Jahre im Preußischen Herrenhaus, saß im Preußischen Staatsrat und war ein hoch angesehenes Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaf- ten. Und nicht zuletzt auf seine Initiative hin versammelten sich 1872 in Eisenach sozialpolitisch engagierte Gelehrte und Praktiker und gründeten den Reform- Verein für Socialpolitik, der besonders unter Schmollers Ägide wissenschaftlich wie politisch einflussreich war. Wegen seiner Verdienste wurde Schmoller 1908 geadelt. Er war ohne Frage ein bedeutender akademischer Lehrer und überaus produktiver Forscher, der in Wort und Schrift ein wissenschaftliches Programm entwickelte und vertrat, das schulenbildend wirkte. Es wurde zur Charta der soge- nannten jüngeren Historischen oder – treffender – Historisch-ethischen Schule, die die deutsche Nationalökonomie zumindest bis zu Schmollers Tod dominierte und ihr darüber hinaus zu jener Zeit im Ausland Ansehen verschaffte. Für Schmoller gehörte die Nationalökonomie zu jenen Wissenschaften, die sich von den Bedingungen des Raumes, der Zeit und der Nationalität nicht tren- nen lassen. Deshalb sei sie (zunächst) auf historische und statistische Methoden festgelegt; nur mit deren Hilfe erlange man umfassendes Wissen über das wirt- schaftliche Geschehen bei den verschiedenen Völkern in Vergangenheit und Gegenwart. Aber die Volkswirtschaftslehre dürfe sich nicht mit der Sammlung und Aufbereitung der gewonnenen Fakten begnügen, sie müsse vielmehr in einem nächsten Schritt daraus Schlüsse im Hinblick auf die praktisch zu lösen- den, namentlich die sozialen Probleme ziehen. Das wissenschaftliche Augenmerk

1 Siehe zur ersten Orientierung BORCHARDT, Schmoller (2007); RIETER, Schulen (2002); und SCHEFOLD, Schmoller (1998). Ausführlich über Schmoller aus unterschiedlichen Perspektiven u.a. BRINKMANN, Schmoller (1937); KAUFHOLD, Schmoller (1988); RECKTENWALD, Vademe- cum (1989); WINKEL, Schmoller (1989); SCHMIDT, Schmoller (1997); GRIMMER-SOLEM, hi- storical economics (2003). 323 HEINZ RIETER

Gustav von Schmoller. habe sich auf die Volkswirtschaft zu richten, verstanden als ein zweckgerichtet zu- sammenwirkendes Gebilde, verwoben mit Natur, Technik, Gesellschaft, Kultur, Sitte und Recht – alles Erscheinungen, die in Institutionen ihre jeweils typische Gestalt annehmen. Für Schmoller war die wichtigste dieser Institutionen der Staat, genauer seine Verwaltung bzw. Bürokratie, weil sie direkt in die sozialen und ökonomischen Prozesse eingreifen. Er glaubte daran, dass Gesellschaft und Wirtschaft vor allem dank „sittlicher Kräfte“ – allerdings in einem unsteten Pro- zess – zu höheren, sprich: humaneren Stufen voranschreiten werden. Kriterium dafür sei die Gerechtigkeit der Einkommens- und Vermögensverteilung, die der Staat gegebenenfalls korrigieren müsse, um soziale Missstände zu beseitigen und Klassenunterschiede einzuebnen. In den Dienst solcher vom „Vater Staat“ betrie- 324 Gustav von Schmollers Jugenderinnerungen benen Sozialreform habe sich auch der Wissenschaftler zu stellen, was in der Gründung des Vereins für Socialpolitik seinen sichtbaren Ausdruck fand und von liberaler Seite als „Kathedersozialismus“ verspottet wurde. Schmoller hat viel, ja sehr viel geschrieben – aber ganz wenig über sich selbst.2 Das überrascht insoweit nicht, als er Berufliches und Privates strikt trennte, zu seinen Kollegen Abstand wahrte und sich zeitlebens fast nur zu wissenschaft- lichen und politischen Themen äußerte. So kann man mit Schmollers Schaffen vertraut sein, ohne seine innere Biografie zu kennen. Erst ganz am Ende seines Lebens hat er davon etwas preisgegeben. Der Verleger Eugen Salzer, der in Schmollers Geburtsstadt Heilbronn einen Kalender für Schwäbische Literatur und Kunst unter dem Titel Von schwäbischer Scholle herausgab,3 hatte den Landsmann gebeten, über seine Jugendjahre zu berichten. Schmoller ging darauf ein, gewiss nicht ahnend, dass er mit diesem Aufsatz4 zugleich den Schlusspunkt unter sein monumentales Œuvre setzen würde. Denn Eugen Salzer musste im Oktober 1917 im Vorwort des Kalenders für das Jahr 1918 seinen Lesern mitteilen: „Ge- heimrat Professor Dr. Gustav von Schmoller ist hochbetagt am 26. Juli in Harz- burg unerwartet verschieden. Voll Freude schrieb er mir noch am 23. Juli, daß er mit den Aufzeichnungen seiner Jugenderinnerungen fertig sei und sie nur noch einmal in einer Durchsicht unterziehen wolle. Es war ihm nicht vergönnt. Die letzte Arbeit des greisen Gelehrten galt seiner Vaterstadt Heilbronn, die seine ‚eigentliche Heimat‘ geblieben ist.“ Diese „letzte Arbeit“ Schmollers ist schnell vergessen worden. Sie wird ganz selten in den deutschsprachigen Schriften zur Geschichte des ökonomischen Denkens und in einschlägigen Nachschlagewerken erwähnt, in denen sich Bio- grafisches über Schmoller findet.5 Im englischsprachigen Schrifttum ist sie mei- nes Wissens bislang nur von Nicholas W. Balabkins6 eingehender und von Erik Grimmer-Solem7 beiläufig berücksichtigt worden. Ihre Wiederentdeckung lohnt sich jedoch allemal. Nicht nur weil sich der Schwabe Schmoller am Ende eines langen Gelehrtenlebens, dessen Höhenflug – wie es Günter Schmölders8 treffend formuliert hat – „parallel mit dem Aufstieg der preußischen Macht“ verlaufen

2 Auf der Feier seines 70. Geburtstages am 24. Juni 1908 in seinem Haus in Berlin hat Schmoller zwar mehrmals auf Ansprachen seiner Gäste geantwortet, doch auch hier nur mehr am Rande etwas über sich selbst verraten. Siehe SCHMOLLER, Reden (1908), S. 11 f. und 47 – 54. 3 Eugen Salzer (1866 – 1938) gründete 1891 in Heilbronn den Salzer-Verlag, in dem u.a. für die Jahre 1913 – 1920, 1922 und 1938 der Literatur- und Kunstkalender „Von schwäbischer Schol- le“ erschien. 4 SCHMOLLER, Jugendjahre (1918), S. 53 – 61 5 Ausnahmen sind: BRINKMANN, Schmoller (1937), S. 12 – 16; MÜSSIGGANG, soziale Frage (1968), S. 135, Anm. 44; WINKEL, Schmoller (1989), Kap. I und S. 333. 6 BALABKINS, Theory (1988), Kap. I und II 7 GRIMMER-SOLEM, historical economics (2003), S. 32, Anm. 68 8 SCHMÖLDERS, Staatswirtschaftslehre (1993), S. 99

325 HEINZ RIETER war, darin zu seiner „eigentlichen Heimat“ bekannte. Und die Lektüre ist auch nicht nur deshalb interessant, weil man Genaueres über sein Elternhaus, seine Schulzeit und sein Studium in Tübingen erfährt, sondern weil der Text die le- benslange Zielstrebigkeit und Kontinuität Schmollerschen Denkens bestätigt und dessen frühe Wurzeln freilegt. Das „geistige Erbe“, das man von seinen „Vorfahren durch die Geburt mit empfängt“, sei „ebenso wichtig [...] für das Leben als die äußeren Einflüsse der Umgebung und Erziehung, die man erhält“, schreibt Schmoller.9 So sieht er sich in die lange protestantische Tradition seiner Familie gestellt, die sich „sofort“ der Reformation „angeschlossen habe“.10 Des Weiteren vermittelten ihm der Vater und andere Verwandte, alle in Diensten des Staates, von klein auf das Bild einer unantastbaren Obrigkeit, die sich aber auch ihrer Pflichten gegenüber den Bür- gern bewusst zu sein hat. Mit einer „stillen Bewunderung“ erfüllte ihn zugleich die „selbstlose Gelehrtenarbeit“ seines Großvaters Carl Friedrich Gärtner in Calw, eines Botanikers, „die keine Stellung, kein Amt, kein Verdienst begehr- te“.11 Es war das „Selbstgesehene und -erlebte“, das auf ihn „gewirkt habe“.12 Dazu gehörte namentlich die zu jener Zeit einsetzende Industrialisierung: „[...] ich erlebte heranwachsend 1848 – 64 ein großes wirtschaftliches Aufblühen der Stadt [Heilbronn], das meinen beginnenden nationalökonomischen Studien zur lebendigen Illustration gereichte. Aehnliches erlebte ich in Calw. [...] Ueber volkswirtschaftlichen Aufschwung und seine Ursachen hatte ich so eine große Summe von praktischen Anschauungen erhalten, ehe ich 1856 – 64 theoretisch über ihn nachzudenken lernte. Und das war für meine geistige Entwicklung sehr wichtig.“13 Dies alles unterstreicht auf höchst anschauliche Weise Peter R. Senns14 Vermutung, Schmoller müsse sich „stets von den Problemen seiner Um- gebung und seiner Zeit angesprochen gefühlt haben“. Auch Schmollers sozialreformerische Ideen sind gleichsam auf „schwäbischer Scholle“ gekeimt: Als er im Sommer 1864 „zum letzten Mal länger in Heilbronn“ war,15 arbeitete der damals Sechsundzwanzigjährige auch „den Artikel für die preußischen Jahrbücher ‚Die soziale Frage‘ aus,16 der als das Programm gelten konnte für die Nationalökonomen und Sozialpolitiker, die sich später im Verein für Sozialpolitik sammelten“, wie Schmoller wohl mit Befriedigung feststellte.17

9 SCHMOLLER, Jugendjahre (1918), S. 54 10 Ebd. 11 SCHMOLLER, Jugendjahre (1918), S. 55 12 SCHMOLLER, Jugendjahre (1918), S. 56 13 SCHMOLLER, Jugendjahre (1918), S. 57 14 SENN, Spuren (1993), S. 67, Anm. 92 15 SCHMOLLER, Jugendjahre (1918), S. 61 16 SCHMOLLER, Arbeiterfrage (1864 / 1865). Einen Überblick gibt BRINKMANN, Schmoller (1937), S. 66 – 75. 17 SCHMOLLER, Jugendjahre (1918), S. 61

326 Gustav von Schmollers Jugenderinnerungen

Das württembergische Kameralamt zwischen Schul- und Präsenzgasse, am heutigen Kiliansplatz, 1894 für den Bau der Kaiserstraße zur Allee hin abgerissen.

Es gibt drei gute Gründe dafür, nachfolgend Schmollers späten Rückblick auf seine Jugendjahre in vollem Wortlaut wiederzugeben. Erstens ist der Originalbei- trag nur schwer greifbar, denn nur wenige Bibliotheken besitzen ein Exemplar des Kalenders von 1918, in dem er damals erschienen ist. Durch den Nachdruck wird er allgemein zugänglich und vielleicht mehr rezipiert werden. Zweitens ver- dient der Aufsatz solche Publizität, belegt er doch, wie stark Schmoller in seinem wissenschaftlichen Denken und politischen Handeln bis an sein Lebensende durch Erfahrungen und Eindrücke geprägt worden ist, die er in seiner Jugend ge- sammelt und gewonnen hatte. Drittens sind diese biografischen Zusammenhänge nicht nur von historischem, sondern insoweit auch von aktuellem Interesse, als das wissenschaftliche Programm Schmollers und der Historischen Schule über- haupt, das jahrzehntelang für widerlegt und überholt galt, im Lichte moderner ökonomischer Forschung eine gewisse Renaissance erlebt.18 Neuere wirtschafts-

18 Siehe u.a. BOCK, Schmoller (1989); BACKHAUS, Schmoller (1993); PRIDDAT, Ökonomie (1995); SHIONOYA, German Historical School (2001); PEUKERT, Renaissance (2001), mit Bibliografie. 327 HEINZ RIETER wissenschaftliche Ansätze, die unter anderem die Entstehung und den Wandel von Institutionen sowie evolutorische Vorgänge wie die Transformation von Wirtschaftssystemen oder die Globalisierung erklären wollen, müssen die histori- schen, ethischen, anthropologischen sowie sozio-kulturellen Bedingungen wirt- schaftlicher Prozesse in ihre Untersuchungen einbeziehen und besinnen sich daher vermehrt auf bestimmte historistische Traditionen des Faches.19 Schmollers Aufsatz wird hier wortgetreu wiedergegeben. Zusätze in eckigen Klammern stammen von mir, darunter die Nummerierung der Seiten und Spal- ten dem Originaltext entsprechend. Wörter, die in der Vorlage gesperrt geschrie- ben oder durch eine andere Schriftart hervorgehoben worden sind, werden kursiv gesetzt. Von Schmoller erwähnte Namen und Ereignisse werden in Fußnoten kurz kommentiert, soweit dies zum besseren Verständnis der jeweils dargestellten Dinge beitragen kann.20

Literatur

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19 Siehe u.a. GOLDSCHMIDT, Schmoller’s Legacy (2006), darin MARTIN / RIETER, Early Years (2006). 20 Ich danke Rodney Martin, Luxemburg, Professor Dr. Christian Scheer und Privatdozent Dr. Joachim Zweynert, beide Universität Hamburg, für ihre Hilfe bei der Kommentierung einiger Stellen. Nicht zuletzt bin ich Professor Dr. Christhard Schrenk und Annette Geisler, Stadtarchiv Heilbronn, herzlich dankbar für ergänzende Erläuterungen und Einfügungen, die Persönlich keiten aus Heilbronn und Umgebung sowie lokale Ereignisse betreffen. 328 Gustav von Schmollers Jugenderinnerungen

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331 HEINZ RIETER

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332 Gustav Schmoller: Meine Heilbronner Jugendjahre

Meine Heilbronner Jugendjahre.

Von Gustav Schmoller.

[S. 53, Sp. 1] Am 24. Juni 1838 bin ich in Heilbronn geboren, wo mein Vater21 Kame- ralverwalter22 war. Das Amtsgebäude, in dem wir wohnten, lag gegenüber der Hauptkir- che der Stadt, der Kilianskirche; es ist jetzt einem Straßendurchbruch23 zum Opfer gefal- len. Der Gebäudekomplex hieß in der Reichsstadtzeit24 der „Herzogliche Hof“, weil hier ein herzoglicher Amtmann im Namen des Herzogs von Württemberg die zahlreichen Hoheits- und Nutzungsrechte verwaltete, die dem Herzog in der Umgegend der Stadt zu- standen, und weil hier auch wohl der Herzog auf der Durchreise abstieg.25 Wohnräume und Kanzleien, ganz große Speicher und Keller, Stallungen, eine große Kelter und Aehn- liches erfüllten den ziemlich großen Raum dieses Hofes. Als mein Vater 1833 nach Heil- bronn kam, setzte er gleich einen vollständigen Neu- und Umbau durch: die überflüssi- gen Gebäude wurden beseitigt, das Hauptgebäude instandgesetzt; immer blieben große Speicher und Keller erhalten; aber es wurde Raum geschaffen für einen geräumigen Zier- und Nutzgarten, der mitten in der Stadt lag; er wurde der Tummelplatz für uns Kinder; und die Pflege edler Obstsorten und schöner Rosen waren das Betätigungsfeld der freien Stunden für meinen Vater. Die großen Keller und Speicher waren verpachtet an Ge- schäftsleute, seit sie mit der zunehmenden Ablösung der bäuerlichen Naturallasten nicht mehr für die große staatliche Verwaltung nötig waren. Immer waren 1848 noch die gro- ßen Speicher gefüllt mit fiskalischem Getreide, das man in der Hungersnot von 1847 von auswärts bezogen hatte. [S. 53, Sp. 2] Meine frühesten Erinnerungen beziehen sich auf den Tod zweier Brüder, die 1841, und meiner Mutter, die 1846 starb.26 Ich sehe noch die sterbende Frau, wie sie Abschied von uns Kindern nahm. Dann prägte sich mir tief die Verheiratung meiner äl- tes ten Schwester27 mit Gustav Rümelin, dem Sohn des Oberamtsrichters, ein. Das Ober- amtsgericht lag uns gegenüber. Mein neuer Schwager war damals Rektor in Nürtingen,

21 Friedrich von Schmoller (1795 – 1865, württembergischer Personaladel). Siehe zu den persön- lichen Daten der Familie Schmoller vor allem BORCHARDT, Schmoller (2007), S. 260. 22 Kameralämter gab es in Württemberg seit 1806. Sie verwalteten und bewirtschafteten die ver- schiedenen Einkommensquellen des Staates. Siehe im Einzelnen DEHLINGER, Staatswesen (1953), § 344. 23 1894 – 1897 wurde die Kramstraße, die an der Kilianskirche vorbeiführte und auf das Kameral- amt zulief, in Richtung Osten verlängert, wofür zahlreiche Gebäude abgerissen werden muss- ten. Die neu geschaffene Ost-West-Achse wurde in Kaiserstraße umbenannt. 24 Heilbronn war eine von neun Reichsstädten, die dem Herzogtum Württemberg durch den Reichsdeputationshauptschluss von 1803 als Kompensation für die an Frankreich verlorenen linksrheinischen Gebiete zugesprochen worden waren. Siehe KÖBLER, Lexikon (1999), S. 738. 25 Als größte Grafschaft des Deutschen Reiches wurde Württemberg 1495 durch den Kaiser zum Herzogtum und am 30. Dezember 1805 mit Unterstützung Frankreichs zum Königreich erho- ben. Siehe KÖBLER, Lexikon (1999), S. 736 – 739, und in allen Einzelheiten DEHLINGER, Staatswesen (1951), §§ 9 – 28 und §§ 41 – 51. 26 Maria Therese Schmoller, geborene Gärtner (1801 – 1846), aus Calw. 27 Marie Schmoller (1824 – 1891), die 1847 geheiratet hat.

333 EDITION

1848 Mitglied des Frankfurter Deutschen Parlaments, später Chef des württembergi- schen Kultusministeriums, zuletzt Dozent und Kanzler der Universität Tübingen.28 Meine Kenntnisse im Lesen und Schreiben erhielt ich zuerst von einem Lehrer Bartel- meß29, dann in der Vorschule des Gymnasiums. Von den Lehrern des Untergymnasiums habe ich bis heute die Empfindung, daß sie alle nicht sehr viel taugten. In der zweiten Klasse saß ein träger, dicker, alter, wohlhabender Herr meist auf seinem Katheder, wesent- lich bemüht, sich nicht allzusehr anzustrengen. Es wurden viele Extemporalien geschrie- ben, Herr Drück30 saß dann schläfrig auf dem Katheder, vielfach mit der Reinigung sei- ner Ohren beschäftigt; ab und zu ermahnte er dazwischen: „so, gucket jetzt alle weg“, um diese Reinigung ungestörter vornehmen zu können. Ich war ihm oft dankbar, daß er mich zur Einwechslung seiner Coupons aufs Kameralamt während der Unterrichtsstunde schickte. Um so höher standen die Lehrer des Obergymnasiums; zwar fehlten auch da die Nieten nicht: Prof. Finkh31 tat alles, was er konnte, um uns die griechische Lektüre lang- weilig zu machen; der Physik-[S. 54, Sp. 1]lehrer Prof. Kehrer32 ließ sich jeden Schaber- nack gefallen. Einmal sagte ein Schüler zu ihm: „Herr Professor, warum mißlingen Ihnen denn alle Experimente?“ Er antwortete nur: so, sind jetzt alle vollkommen still. Um so höher stand der Unterricht von Prof. Rieckher33, und das Beste war der Unterricht von Rektor Mönch34 in Geschichte und deutscher Literatur. Ihm und Rieckher verdanke ich es wesentlich, wenn ich meine Gymnasialzeit nicht als eine verlorene bezeichnen soll. Im Frühjahr 1856 machte ich in Stuttgart mein Abiturientenexamen, als dritt bester der aus

28 Gustav von Rümelin (1815 – 1889, württembergischer Personaladel) war ein Sohn des Heil- bronner Oberamtsrichters Gustav Rümelin (1785 – 1850). Zur ersten Information siehe MANN, Rümelin (2005), S. 224, oder BEST / WEEGE, Handbuch (1998), S. 288; ausführlich MARCON / STRECKER, 200 Jahre (2004), S. 264 – 271. Über Schmollers Schwager ist viel geschrieben wor- den; auch Schmoller hat dies ausgiebig getan, vgl. SCHMOLLER, Rümelin (1907). Rückblickend bekannte er: „Derjenige, der mich in meinen Jugendjahren am meisten beeinflußt und be- herrscht hat, das war mein Schwager Gustav Rümelin [...]“; SCHMOLLER, Reden (1908), S. 49. Und: „Ich hatte von meinem Schwager Rümelin das Ideal übernommen: lieber ein allseitig ge- bildeter Mensch als ein Spezialist von Fach, reiner Fachgelehrter zu sein“; ebd., S. 52. 29 Georg Leonhard Barthelmeß (1798 – 1876), Lehrer an der Knabenschule, an der Mädchen- schule und an der (privaten) Höheren Mädchenschule in Heilbronn. Die Informationen über die Heilbronner Lehrer entstammen den jährlich erschienenen Einladungsschriften des Königl. Karlsgymnasiums zu Heilbronn sowie den Evang. Kirchenbüchern. 30 Johannes Drück (geb. 1802), 1827 Hauptlehrer, seit 1831 Praeceptor am sog. Unteren Gymna- sium. 31 Dr. Christoph Eberhard Finckh (1802 – 1869), seit 1841 Professor am Heilbronner Karlsgym- nasium (davor Rektor der lateinischen und Realschule in Reutlingen), seit 1860 Rektor. 32 Johann Georg Kehrer (1810 – 1888), seit 1839 als Oberreallehrer an der Heilbronner Realan- stalt, seit 1859 Professor; 1873 zum Rektor der Heilbronner Realanstalt ernannt. 33 Dr. Julius Rieckher (1819 – 1878), seit 1853 Professor am Heilbronner Karlsgymnasium; ab 1870 dessen Rektor. 34 Dr. Wilhelm Bernhard Mönnich (geb. 1799), seit 1854 Rektor des Heilbronner Karlsgymnasi- ums (davor Professor und Ephoratsverweser am evang. Seminar zu Urach); 1859 wegen Krank- heit in den Ruhestand versetzt. 334 Gustav Schmoller: Meine Heilbronner Jugendjahre dem ganzen Lande versammelten Schüler; im folgenden Halbjahr folgte ich noch einigen Kursen am Gymnasium, hatte Privatunterricht bei Rieckher in höherer Mathematik und begann in der Kanzlei meines Vaters mitzuarbeiten, was mich dann Herbst 1856 – 57 vollständig beschäftigte. Oktober 1857 bezog ich als Studierender der Kameralwissen- schaften die Landesuniversität. Ehe ich nun auf das Einzelne meiner Erinnerungen aus Heilbronn eingehe, füge ich vor- her noch ein Wort über meine Vorfahren hinzu. Das geistige Erbe, das man von ihnen durch die Geburt mit empfängt, ist doch oft ebenso wichtig, oder gar wichtiger für das Leben als die äußeren Einflüsse der Umgebung und Erziehung, die man erhält. Der älteste Schmoller, von dem wir heute noch Nachricht besitzen, lebte um 1500 in Neustadt a. d. Saale, einem Städtchen am Ostabhang der Rhön. Seine Nachkommen tref- fen wir hauptsächlich in Erfurt und Eisenach, wo jetzt noch der Name vorkommt. Mein Kollege Leo35 in Halle belehrte mich, daß „Smoler“ ein slawisches Wort sei und Kohlen- brenner bedeute. Der Reformation hat sich die Familie sofort angeschlossen. Mein Vor- fahr, der Pfarrer Oswald Schmoller, ist 1538 von Luther selbst in Wittenberg ordiniert; seinen Sohn und Enkel finden wir als Ratsherren in Eisenach. Im dreißigjährigen Krieg treffen wir meinen Ahnherrn Johannes Schmoller, dessen Oelporträt wir noch besitzen, als Kriegssekretär des Herzogs Bernhard von [S. 54, Sp. 2] ;36 er war und blieb seine rechte Hand, bis zu dessen frühem Tode. Er hat neben ihm die Schlacht bei Lützen, wo Gustav Adolf fiel, mitgemacht und hat ihn 1636 und 1637 nach Paris als Gehilfe für seine Verhandlungen mit Richelieu begleitet. Nach der Schlacht bei Nördlingen fiel er in bayrische Gefangenschaft. Er hatte auf dem Rückzuge seinen Weg über die Bagage ge- nommen, um hier die Kanzleiakten zu verbrennen, um sie nicht in Feindeshand fallen zu lassen. So wurde er gefangen, entkam aber nach fünf Tagen, ehe er nach München abge- bracht wurde. Nach Bernhards Tode blieb er mit der weimarischen Armee in Süddeutsch- land, trat 1651 in württembergische Dienste; wohl alle seine Nachkommen sind da ge- blieben, hauptsächlich als Kammerbeamte, Geistliche, Philologen. Er lebte, wie auch sein Sohn und Enkel, in Stuttgart als Beamte. Mein Großvater war zuerst im damals württem- bergischen St. Georgen, später in Hirsau Verweser des Oberamts und des säkularisierten Klostergutes. Mein Vater ist dort 1791 geboren;37 er hat als Knabe mehrere schwere fran- zösische Brandschatzungen und Plünderungen des Amtes miterlebt, wodurch die Familie ganz mittellos wurde. Er war 1811 nach Tübingen als Incipient aufs Kameralamt ge- bracht worden, sollte da zugleich Vorlesungen hören, wurde 1812 Substitut, aber Anfang 1813 zur militärischen Dienstpflicht ausgehoben. In das württembergische Regiment der

35 Heinrich Leo (1799 – 1878), Historiker und Philologe, von 1828 bis 1868 als Professor in Halle tätig, überzeugter Lutheraner, der dennoch für eine geeinte christliche Kirche eintrat. Er veröffentlichte unter anderem kulturgeschichtliche Arbeiten, die bereits soziologische Ansätze enthalten. Siehe WEIGAND, Leo (1992). SCHMOLLER, Reden (1908), S. 47, nannte Leo später einmal: „mein alter Gönner“. 36 Bernhard von Sachsen-Weimar (1604 – 1639) war einer der bekanntesten Feldherren König Gustav Adolfs im Dreißigjährigen Krieg. 37 In der Literatur – z.B. BORCHARDT, Schmoller (2007), S. 260 – wird als Geburtsjahr 1795 an- gegeben; ebenso im Evang. Familienregister Heilbronn, Band S, S. 510. 335 EDITION schwarzen Jäger38 eingereiht, wurde er da bald Leutnant und Adjutant und machte die Feldzüge 1814 – 15 gegen Frankreich mit. Er wurde bei Montereau schwer verwundet, mit einem Bauernkarren auf einem Strohbündel nach Mülhausen i. Elsaß gebracht, dort aber geheilt. Bald nach dem Frieden entlassen, wurde er in Merklingen Kameralverwalter und heiratete dahin. Die Erzählungen aus seinen Feldzügen waren für uns Kinder mit die stärksten und nachhaltigsten Jugendeindrücke. Mittlere Statur, blaue Augen, blonde Haare charakterisierten meinen Vater. Er war ein tatkräftiger, unermüdlicher Geschäftsmann, ein lebhafter, heiterer, liebens-[S. 55, Sp. 1] würdiger Gesellschafter. Unverdrossen in seiner Arbeit, saß er 8 – 10 Stunden an seinem Schreibtisch, nachdem er Sommers um 7 Uhr, Winters um 8 Uhr schon den jungen Leu- ten, die er in der Kanzlei beschäftigte, eine Stunde Unterricht in Finanz- und Verwal- tungslehre gegeben hatte. Gegen uns Kinder war er nicht eigentlich strenge, aber uner- müdlich in seinen Ermahnungen, wir sollten uns anstrengen und Mühe geben, sonst würde nichts aus uns. Die zahlreichen schriftlichen Nachrichten, die sich über die Familie Schmoller seit 1500 erhalten haben, hat der ältere Bruder meines Vaters, der Ephorus Schmoller39 in Blau- beuren, zu einer zusammenhängenden Darstellung verarbeitet. Eine Abschrift derselben ist in unserem Besitz schon seit Kindertagen gewesen, und von uns Kindern immer wie- der gelesen worden. Meine Mutter, Therese Gärtner, stammt aus Calw. Diese im anmutigen Nagoldtal liegen- de württembergische Stadt war im 17. und 18. Jahrhundert durch ihre Zeugindustrie empor gekommen; sie beschäftigte Spinner und Weber weit herum auf dem Schwarz- wald. Die armen Schwarzwaldbauern konnten diesen Zusatzerwerb wohl brauchen, nah- men aber auch durch ihn an Zahl fast übermäßig zu. Im Mittelpunkt des Bezirkes, in Calw, wurden die Zeuge gefärbt, fertig gemacht und in den Handel gebracht; hauptsäch- lich Italien war der Markt; die Händler und Färber, die sich zu einer Kompagnie vereinigt hatten, brachten sie auf den Bozener Markt und auch sonst weit in die Welt hinaus. Man wußte in Calw Bescheid über die Niederlande, über Paris, über Italien. Professor Tröltsch* hat die württembergische und deutsche Gewerbegeschichte durch eine sehr lehrreiche Darstellung der Kompagnie bereichert.40 Zu den Kompagnie-Verwandten ge- hören die heute noch dort blühenden Familien; unter ihnen sehen wir auch die Vorfahren

38 1799/1800 von dem späteren württembergischen König Friedrich als Fußjägerkorps geschaf- fen, ab 1801 als Bataillon, ab 1805 in zwei Bataillonen, in deren Uniformierung die Farbe schwarz dominierte. Die Schwarzen Jäger kämpften in den Koalitions- und Befreiungskriegen und machten 1812/13 den Feldzug gegen Russland mit. 1818 wurden die Fußjägerbataillone aufgelöst. 39 Gustav Heinrich von Schmoller (1789 – 1868). Siehe http://worldroots.com/ged/andreae/@[email protected] rev. 2008-06-09 * W. Tröltsch, Die Calwer Zeughandelskompagnie und ihre Arbeiter. 1897. 40 TRÖLTSCH, Zeughandelskompagnie (1897); der Ökonom Walter Troeltsch (1866 – 1933) stu- dierte in München, Tübingen und Berlin und wurde nach Lehrtätigkeiten in Tübingen und Karlsruhe 1902 ordentlicher Professor an der Universität Marburg. Siehe ausführlich zu ihm BRAEUER, Troeltsch (1977), der auf S. 554 das von Schmoller zitierte Werk als Troeltschs „un- bestrittenes Hauptwerk“ bezeichnet. 336 Gustav Schmoller: Meine Heilbronner Jugendjahre meiner Mutter, die Gärtner, Wagner, Dörtenbach usw. Die Gärtner waren zuerst Apothe- ker gewesen, wurden dann Aerzte, Naturforscher, Botaniker. [S. 55, Sp. 2] Der Großvater meiner Mutter, Joseph, war einer der angesehensten Botaniker seiner Zeit.41 Sein Vater Joseph war Hofmedikus des Herzogs von Württemberg; er selbst hat eine Anzahl Jahre als Professor und Mitglied der Akademie in Petersburg gelebt, dahin durch die Kaiserin Ka- tharina gerufen. Seinen Sohn, Carl Friedrich Gärtner,42 ließ er in Holland und Paris wäh- rend der ersten Revolutionsjahre studieren, sowie Reisen durch ganz Deutschland ma- chen. Er war auch einige Zeit in Weimar und hat da Goethe kennen lernen [sic!]. Große Naturaliensammlungen und allerlei Oelbilderschätze hat er von seinen Reisen nach Hause gebracht. Sein Haus auf dem Markt in Calw mit seinem großen Gewächshaus und seinem Garten war das Ziel aller unserer Ferienreisen; die Sammlungen und Bilder brach- ten uns mit einer bisher unbekannten Welt in Berührung. C. F. Gärtner hat dann sein ganzes Leben dem Studium der Veränderlichkeit der Pflanzenarten und der Bastardpflan- zen gewidmet, ist durch diese Studien vielfach in brieflichen Verkehr mit Darwin gekom- men. Das Wichtigste seiner Sammlungen und hinterlassenen Manuskripte ist heute im botanischen Institut von Tübingen vereinigt. – Uns Kindern schienen diese stille Gelehr- tentätigkeit und ihre Stätten fast als etwas Geheimnisvolles; wir wagten nur scheu verein- zelte Male in die Studien- und Sammlungsräume einen Blick zu werfen. Aber mit einer gewissen, stillen Bewunderung erfüllte mich doch diese selbstlose Gelehrtenarbeit, die keine Stellung, kein Amt, kein Verdienst begehrte. Ich erinnere mich, daß später mal mein Vater erzählte, daß, als in den Zwanziger Jahren vor dem Zollverein43 die Calwer Industrie schwer litt, und die Großeltern einen Teil ihres Vermögens verloren, die reine Gelehrtentätigkeit ohne Verdienst bedroht schien, dies dem Großvater den Gedanken na- helegte, ob er nicht alles, was er besaß, zu Geld machen und in Nordamerika eine neue Existenz suchen solle; aber an eine medizinische Praxis, an die Erstrebung einer Professur habe er nie gedacht. Doch kam es auch nicht zur Auswanderung, der [S. 56, Sp. 1] sich dann sicher auch meine Eltern angeschlossen hätten. An Anerkennung von großen Ge- lehrten, Akademien und Fürsten hat es meinem Großvater übrigens zu Ende seines Le- bens nicht gefehlt. – Das, was ich von der Welt gesehen, was ich beobachtet hatte, war, ehe ich 1863 auf ein halbes Jahr nach Genf ging, und abgesehen von dem, was ich später auf Reisen, in mei- nen ersten akademischen Jahren und dann mit meiner Frau sah, kein großer Ausschnitt. Auch von Württemberg hatte ich wohl nur Stuttgart und dann Tübingen näher kennen lernen [sic!]. Meine volkswirtschaftlichen und historischen Studien hatten 1857 – 64 mei- nen Horizont erweitert, und im Frühjahr 1864 machte ich eine Art Rundreise auf den

41 Joseph Gärtner (1732 – 1791), 1761 Professor für Anatomie in Tübingen, 1768 Professor für Botanik und Naturgeschichte in Sankt Petersburg; siehe ASCHERSON, Gärtner, Joseph (1878) sowie REINÖHL, Joseph Gärtner (1942). 42 Karl Friedrich von Gärtner (1772 – 1850, württembergischer Personaladel seit 1846); siehe ASCHERSON, Gärtner, Karl (1878); JAHN, Gärtner (1964); REINÖHL, Karl Friedrich Gärtner (1942). 43 Schmoller spielte hier auf den Deutschen Zollverein an, zu dessen Gründungsmitgliedern Württemberg zählte; sie hatten ein gemeinschaftliches Zollsystem vereinbart, das am 1. Januar 1834 in Kraft trat; siehe im Einzelnen u.a. HAHN, Zollverein (1984). 337 EDITION wichtigeren deutschen Universitäten, die in Berlin endete. Im ganzen aber blieben Heil- bronn und Calw die Mittelpunkte des Selbstgesehenen und -erlebten. Ich frage, wie das dort Gesehene und Erlebte auf mich gewirkt haben. Die Calwer Bevölkerung war eine spezifisch schwäbische, die durch ihre Industrie aber weit über den Horizont der anderen württembergischen Landstädte hinausgewachsen war. Die Heilbronner Bevölkerung war eine Mischung schwäbischen und fränkischen Stammes. Ihre reichsstädtische Unabhängigkeit hatte ihr den Stempel aufgedrückt; ein nicht ganz unbedeutender Handel existierte seit Alters. Die wichtige Handelsstraße von Nürnberg nach Straßburg führte über Heilbronn. Straßburger Familien, die ihre Heimat nach der französischen Einverleibung verließen, hatten sich in Heilbronn niedergelassen. Im Uebrigen war Heilbronn eine wesentliche Weinbergstadt geworden. Möglichst such- te, neben den kleinen Weingärtnern, jede wohlhabende Familie eigene Weinberge zu er- werben. Lebendige fränkische Tatkraft und Heiterkeit paarte sich in der Bevölkerung mit schwäbischer Tüchtigkeit. Heilbronn und Calw waren zwei Städte, die von 1780 – 1864 große eigene Wandlungen erlebt hatten: neben den tiefen Eindrücken der Revolutions- und Kriegszeit 1789 – 1815 und dann der Friedens-[S. 56, Sp. 2]jahre 1815 – 1848 kamen die politischen Bewegun- gen von 1840 – 50 und der beginnende neue volkswirtschaftliche Aufschwung in den Fünfziger Jahren.44 Beide Orte hatten an Zahl der Bevölkerung ziemlich bedeutend zu- genommen. Die Verwandlung der Reichsstadt Heilbronn in eine württembergische Oberamtsstadt war die größte Veränderung der Verfassung seit ihrem Bestehen.45 Nach 1840 – 60 war die Idee der alten reichsstädtischen Selbständigkeit nicht ganz verschwun- den. Die neuen Verkehrsmittel hatten zwar noch keine zu großen Aenderungen bis 1840 herbeiführen können. Die Eisenbahn erreichte Heilbronn erst in den Vierziger Jahren. Mein Vater hatte die hiefür nötigen Grundstücksankäufe von Heilbronn bis Besigheim 1846 – 47 ausgeführt. Aber die Pflege der Neckarschiffahrt war schon länger eine ganz an- dere geworden als früher. Dampfschiffe gingen jetzt täglich von Heilbronn nach Mann- heim. Der neue Neckarzollhafen46 wurde bald fast zu enge. Hauptsächlich aber hatten die Anfänge einer ganz neuen Art der Industrie begonnen. Ich bewunderte schon als Junge die Maschinen für Herstellung des endlosen Papiers, die die Gebrüder Rauch aus

44 Auf der Feier anlässlich seines 70. Geburtstages 1908 hat sich Schmoller darüber folgenderma- ßen geäußert: „[...] ganz wesentlich haben auf alle, die 1850 – 70 groß wurden, die geschicht- lichen Ereignisse einer großen Zeit gewirkt. Es war eine große Epoche der Neugestaltung des politischen, volkswirtschaftlichen und sozialen Lebens, die uns damals Lebenden die Kräfte verdoppelte, und uns Schwingfedern ansetzte“; SCHMOLLER, Reden (1908), S. 10. Siehe im Einzelnen SCHMID, Entwicklung (1993). 45 Württemberg war aufgeteilt in Oberämter, die jeweils von einem Oberamtmann geleitet wur- den. Durch königliche Edikte aus den Jahren 1818 bis 1822 wurden die Kompetenzen der Oberamtmänner insoweit beschnitten, als die Rechtspflege von den Verwaltungsaufgaben abge- trennt und in jedem Oberamtsbezirk ein Oberamtsgericht geschaffen wurde. Siehe dazu im Einzelnen DEHLINGER, Staatswesen (1951), § 120. 46 Nach Auskunft des StadtA Heilbronn meinte Schmoller hier offenbar jenen Neckarhafen, der zwischen 1828 und 1830 in Heilbronn am 1821 eröffneten Wilhelmskanal gebaut worden war. Er wurde 1837 Freihafen, 1845 vergrößert und diente zugleich als Zollstation. Siehe ZIMMER- MANN, Neckar (1985), S. 75 und 161 f., sowie SCHMID, Entwicklung (1993), S. 167 – 171. 338 Gustav Schmoller: Meine Heilbronner Jugendjahre

England geholt hatten,47 wie die mechanischen Spinnstühle für Baumwollgarn, die mein Onkel Stälin in Calw aufgestellt hatte.48 Ich selbst habe noch viele der Männer persönlich gekannt, die Heilbronns neuen Auf- schwung damals begründeten: so die Gebrüder Moritz [sic!] und Adolf von Rauch, die mit dem Rest ihres kleinen Vermögens aus England die Maschinen geholt hatten, um aus Heilbronn nun die erste Papierfabrikstadt zu machen. Die Gestalt von Goppelt, der als erste kaufmännische Kapazität 1848 württembergischer Finanzminister geworden war,49 ragte über alle anderen empor; aber viele ähnlich hervorragende Persönlichkeiten standen ihm fast gleich. In den Jahren 1855 – 60 gründeten die Gebrüder Rümelin, die Brüder meines Schwagers, mit Hilfe der Darmstädter Bank das erste große Heilbronner Bankin- stitut.50 Kurz, ich erlebte heranwachsend 1848 – 64 [S. 57, Sp. 1] ein großes wirtschaftli- ches Aufblühen der Stadt, das meinen beginnenden nationalökonomischen Studien zur lebendigen Illustration gereichte. Aehnliches erlebte ich in Calw. In dem kleinen Orte war [sic!] Werkstatt- und Fabrikein- richtungen für mich als Angehörigen der kaufmännischen Aristokratie noch leichter zu- gänglich als in Heilbronn. Da kannte sich Alles persönlich; da galt das Haus meines Großvaters Gaertner als der Mittelpunkt des geistigen Lebens der Stadt. Die Tätigkeit meines Vaters hatte mich mit der Geschäftswelt vielfach in Berührung ge- bracht: wie ich ihn zu Domänenvisitationen auf dem Lande begleitet hatte, so lernte ich auf dem Kameralamt allerlei Bauherren und Handwerker, Steuerzahler aus allen Kreisen kennen, mit denen man abzurechnen, denen Zahlungen zu leisten, oder deren Steuerein-

47 Moriz von Rauch (1794 – 1849) und Adolf von Rauch (1798 – 1882) waren die ersten in Süd- deutschland, die Papier maschinell herstellten und damit der Industrialisierung in Heilbronn einen kräftigen Impuls gaben. Siehe zur Familie Rauch (württembergischer Personaladel seit 1808) SCHMIDT, Rauch (2003) und die dort angegebene Literatur. 48 Die Stälins (Stählins) waren eine der bedeutendsten Unternehmerfamilien in Calw. Siehe GEORGII-GEORGENAU, Dienerbuch (1877), S. 944 – 952. Schmollers Onkel Wilhelm Adolf Stälin (1807 – 1860) hatte die hier angesprochene Baumwollspinnerei zusammen mit seinem Vater Jacob Friedrich Stälin (1768 – 1835) gegründet, der zudem bereits seit 1809 in Calw einen großen Holzhandel betrieb. „Zwei Baumwollspinnereien von J. F. Stälin und Söhne in Calw arbeiten mit 8000 Spindeln und beschäftigen gegen 300 Personen“, heißt es in der Be- schreibung des Oberamts Calw (1860), S. 97. 49 Adolf Goppelt (1800 – 1875), ein Heilbronner Geschäftsmann, vertrat seit 1839 Heilbronn in der Zweiten Württembergischen Kammer und wurde 1848 Württembergischer Finanzminister; siehe DEHLINGER, Goppelt (1950) und RABERG, Handbuch (2001), S. 279 f. 50 Die Rümelins waren ursprünglich Händler und Spediteure. Da es mit dem Aufkommen der Eisenbahn immer weniger lukrativ war, bestimmte Güter auf die bisher übliche Weise zu trans- portieren, sahen sich die Brüder Maximilian und Richard Rümelin nach besseren Verdienst- möglichkeiten um. Sie wechselten schließlich 1865 ins Bankgeschäft und gründeten in Heil- bronn das Bankhaus Rümelin & Co. Siehe BERGNER, Bankwesen (1993), S. 23 f. Die überre- gionale, 1853 in Darmstadt gegründete Bank für Handel und Industrie, aus der später die Darmstädter Bank hervorging, beteiligte sich an der Rümelin-Bank, denn sie „schätzte offen- bar“ deren „Potential in der aufstrebenden Industriestadt am Neckar sehr hoch ein und nannte dabei Heilbronn in einem Atemzug zusammen mit Berlin, Wien und Petersburg. Das Bank- haus Rümelin & Co. sah eine wesentliche Aufgabe in Gründung und Entwicklung der einhei- mischen Industrie [sowie von] Handel und Gewerbe“; SCHRENK, Bankenplatz (1997), S. 3. 339 EDITION zahlungen man zu buchen hatte. Ueber volkswirtschaftlichen Aufschwung und seine Ur- sachen hatte ich so eine große Summe von praktischen Anschauungen erhalten, ehe ich 1856 – 64 theoretisch über ihn nachzudenken lernte. Und das war für meine geistige Ent- wicklung sehr wichtig. Es war eine analoge Tatsache, daß ich, 1864 als Professor nach Halle gekommen, gleich im ersten Jahre da Stadtverordneter wurde und so praktisch das städtische Verfassungsleben im Einzelnen kennen lernte, ehe ich von 1869 – 80 mich der deutschen städtischen Verfassungs- und Wirtschaftsgeschichte wissenschaftlich und archi- valisch zuwandte. Mein Denken und Urteilen wurde so ein wesentlich auf lebendigen Anschauungen, nicht bloß auf abstrakten, logischen Begriffen beruhendes. Aus den politischen Kämpfen der Vierziger und Fünfziger Jahre heraus traten mir in Heilbronn und teilweise in der eigenen Familie hauptsächlich die deutschen Verfassungs- fragen und der Gegensatz der revolutionären Bewegung zu den erhaltenden Elementen der Gesellschaft entgegen. Auch in Heilbronn fehlte es an aufregenden Momenten nicht. Das dort garnisonierende Regiment meuterte einmal (1848); der Oberst hielt es für bes- ser, es an einem [S. 57, Sp. 2] gefährlichen Abend aus der Stadt zu führen, um es ge- schlossen in der Nacht biwakieren zu lassen. Es sollte den anderen Morgen wieder einzie- hen; in der Nacht fürchtete man Barrikadenbau in der Stadt. Die ersten Beamten, hieß es, sollten auf die Barrikaden gebunden werden. Mein ruhiger Vater erklärte, es sei sicher nichts derart zu fürchten; aber wir Kinder waren in großer Angst. Dann drohte die badi- sche Revolution herüberzugreifen, als die aufständischen Truppen bei Heidelberg gegen den Prinzen von Preußen kämpften.51 Badische revolutionäre Bauernscharen näherten sich Heilbronn. Der Oberamtmann ließ meinem Vater sagen, er solle die Amtskasse und das fiskalische Getreide in Sicherheit bringen. Der Sieg der Preußen beseitigte diese Ge- fahren rasch. Im Allgemeinen war man in Heilbronn 1848 – 50 für die Frankfurter Nationalversamm- lung, die großdeutsche Reichsverfassung, gegen die preußische Spitze. Mein Vater hatte aus den Kriegsjahren 1813 bis 1815, wo er zusammen mit österreichischen Truppen ge- kämpft und sein Regiment einmal vor dem damals jugendlichen österreichischen General Radetzky52 in Parade gestanden hatte, eher österreichische als preußische Sympathien. Ich hingegen hatte mich ganz den politischen Ueberzeugungen meines Schwagers Rüme- lin angeschlossen, der in Frankfurt für die preußische Spitze energisch eingetreten war und seine Ueberzeugungen stets im Schwäbischen Merkur in seinen berühmt geworde- nen Dreiecksartikeln verteidigte.53 Er hatte in Berlin als Mitglied der Kaiserdeputation

51 Wilhelm von Preußen (1797 – 1888), der als präsumtiver Thronfolger seines kinderlos geblie- benen älteren Bruders König Friedrich Wilhelm IV. den Titel „Prinz von Preußen“ trug, wurde im Volksmund „Kartätschenprinz“ genannt, weil er sich im März 1848 dafür eingesetzt hatte, die Aufständischen in Berlin mit Kanonen zu beschießen. Er beendete im Sommer 1849 mit Waffengewalt den Aufstand in Baden. Als Wilhelm I. wurde er 1861 König von Preußen und 1871 Deutscher Kaiser. 52 Joseph Wenzel Graf Radetzky von Radetz (1766 – 1858), österreichischer General und seit 1836 Feldmarschall, der wesentlichen Anteil am Sieg über Napoleon I. in der Völkerschlacht bei Leipzig im Jahr 1813 hatte. 53 Siehe SCHMOLLER, Rümelin (1907), S. 604 f. Der Ausdruck „Dreiecksartikel“ rührt daher, dass die Herausgeber des Schwäbischen Merkur die anonym erscheinenden Artikel Rümelins mit einem kleinen Dreieck markierten. 340 Gustav Schmoller: Meine Heilbronner Jugendjahre unter Simson54 Friedrich Wilhelm IV. die deutsche Kaiserkrone angeboten. So war er in Heilbronn bei Besuchen in unserem Hause stets sehr angefeindet. Seine Gegner benutz- ten einmal seine Anwesenheit zu einem nächtlichen Sturm auf unser Haus. Mit großen Leiterwagen suchte man unsere Torfahrt einzurammen; glücklicherweise vergeblich. Es waren angstvolle Stunden, die von 10 bis 2 Uhr nachts dauerten. Aber es ging ohne ei- gentliche Gefahr vorüber, da die starken Bohlen der Hoftür standhielten. Da es zwischen Oesterreich und Preußen [S. 58, Sp. 1] 1849 – 52 nicht zum Kampfe kam, da durch Preußens geschickte Politik gegenüber Hannover der Zollverein erhalten, ja vergrößert wurde, so traten bald die wirtschaftlichen gegenüber den politischen Fragen auch in Heilbronn wieder in den Vordergrund. Ich verlebte meine späteren Gymnasial- jahre 1850 – 56 wieder in ruhigerer Zeit. Der Wassersport, Kämpfe verschiedener Schü- lerboote auf dem Neckar untereinander, füllten meine freie Zeit aus; ich wundere mich heute noch darüber, daß meiner Erinnerungen nach fast nie einer von uns dabei ins Was- ser fiel. Im Uebrigen verliefen mir die damaligen Jahre in Ruhe und Behagen. Es bildete sich in diesen die innige Geistesgemeinschaft mit meinem wenig jüngeren, reich begabten Bruder Georg,55 der sich dem Bankfach widmete, eine Anzahl Jahre in Havre das franzö- sische Geschäftsleben kennen lernte, dann in ein Frankfurter Bankhaus und 1864 als Di- rektor an die Darmstädter Bank nach Darmstadt berufen wurde. – Es sei noch ein Wort gestattet über die geselligen Beziehungen meines Heilbronner Elternhauses. Wir lebten in schlichten, einfachen Verhältnissen; aber es fehlte nicht an Freunden des Hauses und ge- selligem Zusammensein. Nach meiner Erinnerung standen uns die Familien des Dekans Denzel,56 des Professor Märklin57 und Kauffmann58 vom Gymnasium und die Familien von Rauch am nächsten; der Reichtum der letzteren veranlaßte diese, auf ganz anderem Fuße zu leben; sie hatten eine große Geselligkeit. Aber mein Vater war den beiden Fami-

54 Eduard Martin von Simson (1810 – 1899, preußischer Adel seit 1888), Jurist und Politiker, 1836 bis 1860 Professor der Jurisprudenz in Königsberg, Mitglied und seit Dezember 1848 Präsident der Deutschen Nationalversammlung in Frankfurt am Main, 1871 bis 1874 Präsi- dent des Deutschen Reichstags, 1879 bis 1891 Präsident des Reichsgerichts in Leipzig; siehe u.a. BEST / WEEGE, Handbuch (1998), S. 321 f. 55 Georg Friedrich Schmoller (1842 – 1875). Er heiratete 1870 Maria Luise Werner, die Tochter eines Mainzer Geschäftsmannes. Ihr Sohn, Carl Ludwig Friedrich (Fritz) Schmoller, geboren 1871, war später als Bankkaufmann und Holzgroßhändler in Saarbrücken tätig (Mitteilung des StadtA Heilbronn). 56 Christoph Samuel Denzel (1774 – 1846) war – nach Auskunft des StadtA Heilbronn – „seit 1831 als Dekan und Stadtpfarrer in Heilbronn; das Dekanatshaus lag in der Klostergasse, un- weit des Kameralamtes, in dem die Schmollers lebten“; siehe auch STEINHILBER, Geistlichkeit (1966), S. 63. 57 Christian Märklin (1807 – 1849), Theologe und Pädagoge, beeinflusst von Hegel und befreun- det mit David Friedrich Strauß; seit 1840 Gymnasialprofessor in Heilbronn. Siehe WINTTER- LIN, Märklin (1884). Annette Geisler, StadtA Heilbronn, teilte mir mit, dass Märklin „während seiner Zeit als Diakon in Calw enge Freundschaft mit [Schmollers Großvater] Karl Friedrich von Gärtner und dessen Familie schloss“; siehe STRAU, Märklin (1851), S. 98. 58 Ernst Friedrich Kauffmann (1803 – 1856), Komponist und Gymnasialprofessor für Mathema- tik in Heilbronn und Stuttgart, seit seiner Jugendzeit mit Eduard Mörike und David Friedrich Strauß befreundet; siehe KAUFFMANN, Kauffmann (1957). 341 EDITION

Blick in den Garten des Kameralamts, um 1820.

342 Gustav Schmoller: Meine Heilbronner Jugendjahre lien sehr nahe getreten, und gleiches Alter der Kinder hatte viele Berührungspunkte ge- schaffen. Ein großer Teil der Männergeselligkeit vollzog sich abends im Wirtshaus; man trank zwischen 6 ½ und 8 Uhr gemeinsam ein Glas Bier oder nach dem Abendbrot von 9 – 10 Uhr ein Gläschen Wein. Daneben existierten Tischgesellschaften, wie die Gräßles- Gesellschaft; Gräßle59 war ein beliebter Bäcker direkt neben unserem Hause. Die geisti- gen Spitzen Heilbronns trafen sich da einmal in der Woche. Größere Gesellschaften im Hause hatten wir nur sehr selten; doch veranlaßten die musikalischen Freundschaf-[S. 58, Sp. 2]ten meiner Schwestern immer ab und zu Feste; Teile von Opern, oft sogar im Kos- tüm, wurden aufgeführt; zwei sehr musikalische Fräulein Laiblin60 und die Denzelschen Töchter61 waren dabei die Hauptpersonen. Einmal erinnere ich mich, daß die Gattin von David Strauß,62 die früher berühmte Sängerin Schebeß,63 bei uns sang, und daß dann mein Vater sein Jugendinstrument, die Flöte, hervorholte und einiges zum Besten gab. In dem Zusammenhang dieser musikalischen Unterhaltungen geschah es, daß Pro- fessor Kauffmann den Musiker Otto Scherzer64 bei uns einführte, der 1851 meine Schwester Luise heiratete. Er war Professor am Konservatorium in München, später Mu- sikdirektor in Tübingen.

59 Christoph David Gräßle (1801 – 1858) betrieb neben seiner Bäckerei eine Weinwirtschaft, in der sich regelmäßig ein Honoratiorenstammtisch traf. Daraus entwickelte sich eine geschlosse- ne Gesellschaft, die sich im März 1845 konstituierte. Friedrich von Schmoller gehörte zu den Gründungsmitgliedern der heute noch bestehenden „Gräßle-Gesellschaft“; siehe SCHRENK, Gräßle (1995). 60 Möglicherweise zwei Töchter des früh verstorbenen Kaufmanns Wilhelm Friedrich Laiblin, die zusammen mit ihrer Mutter Marie Auguste ein Haus in der Klostergasse besaßen; in Frage kommen Pauline Friederike (geb. 1818) und Caroline Friederike (geb. 1823, 1858 nach Reut- lingen verheiratet); siehe Evang. Familienregister Heilbronn, Bd. L – M, S. 3. 61 Siehe zunächst Fußnote 56. Christoph Samuel und Auguste Wilhelmine Denzel hatten acht Kinder, drei von ihnen wurden jeweils nur wenige Wochen alt. Die älteste Tochter Julie Caroli- ne (geb. 1811) heiratete 1837 und verließ Heilbronn. Zur zweitältesten Tochter Ottilie siehe Fußnote 66. Wilhelmine Natalie, gen. Mimi (geb. 1820) heiratete 1860 den Pädagogen und Rektor des Nürtinger Lehrerseminars Theodor Eisenlohr; siehe auch REHM, Eisenlohr (1977). Die jüngste Tochter Maria Paulowna (geb. 1823) verheiratete sich im Jahr 1853 nach Frank- reich; siehe Evang. Familienregister Heilbronn, Bd. D – F, S. 97. 62 David Friedrich Strauß (1808 – 1874), protestantischer Theologe, Repetent für Philosophie am Tübinger Stift, 1835 wegen seiner Schrift Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet entlassen, womit auch seine akademische Laufbahn beendet war, bevor sie richtig begonnen hatte; siehe u.a. RAPP, Strauß (1957), KIENZLER, Strauß (1996), HARRIS, Strauss (1973). 63 Es handelt sich um die böhmische Mezzosopranistin Agnese Schebest (1813 – 1869). Sie war zwischen 1836 und 1841, dem Jahr, in dem sie David Friedrich Strauß heiratete, eine gefeierte Opernsängerin. Unter dem Titel Aus dem Leben einer Künstlerin veröffentlichte sie ihre Memoi- ren (Stuttgart 1857); siehe KUTSCH / RIEMENS, Sängerlexikon (2003), S. 4181 f. 64 Otto Scherzer (1821 – 1886), 1838 bis 1854 Geiger im Stuttgarter Hoforchester, danach Pro- fessor für Orgel am Münchner Konservatorium, 1860 bis 1877 als Nachfolger des Komponi- sten Friedrich Silcher Musikdirektor der Universität Tübingen, u.a. befreundet mit dem Maler Moritz von Schwind und dem Dichter Eduard Mörike; siehe SLONIMSKY, Musicians (1984), S. 2015. Siehe auch SCHERZER, Künstlerleben (1897). 343 EDITION

Die Professoren Märklin und Kauffmann waren wohl die gebildetsten und geistig am höchsten stehenden Elemente in diesem Kreise unserer Bekannten. Der eine Sohn Kauff- manns, der spätere Musikdirektor in Tübingen, war jahrelang mein innigster Freund.65 Die Familie Denzel stand uns durch die Nachbarschaft sehr nahe; ihre Kinder benutzten unseren Garten fast wie einen eigenen. Die Tochter der ältesten Denzelschen Töchter, die an Professor Siemens in Hohenheim66 verheiratet war, ist die spätere zweite Frau von Wer- ner Siemens67 geworden. Als wir uns nach einem Menschenalter in Berlin wieder sahen, erinnerten wir uns gern der Tage, da wir als Kinder im Heilbronner Kameralamtsgarten miteinander gespielt hatten. Durch meinen Schwager Scherzer, der aus Ansbach stammte, lernte ich fränkische Men- schenart und das Kunstleben näher kennen. Ich war 1855 wochenlang bei ihm in Mün- chen auf Besuch. Der Eindruck dieser Kunststadt auf mich war groß; es war eine neue Welt, die sich mir da auftat.68 Eine ähnliche Wirkung nach anderer Seite hatten zwei Ba- dereisen, die ich wegen der Gefahr eines Brustleidens 1854 und 1855 nach Bad Ems ma- chen mußte. Ich mußte – der Kosten halber – die Reisen allein machen; ich stand dabei zum ersten Mal selbständig in der Welt, lernte eine Menge Menschen und [S. 59, Sp. 1] den herrlichen Rhein kennen. Einzelne der dort angeknüpften Verbindungen haben sich jahrelang erhalten, z.B. ein Briefwechsel mit einem deutschen Kaufmann, der Frankreich und England genau kannte. Eine Freundschaft mit Dr. med. Weltner aus Lübeck hat sich später in Halle erneuert, da Weltner eine Gattin aus Halle hatte, die Schwester des Rechtsanwalts und Stadtverordnetenvorstehers Fritzsch. – Von Oktober 1857 bis Ende des Jahres 1861 habe ich in Tübingen studiert. Ich war also diese 4 Jahre lang je 8 – 9 Monate in Tübingen, 3 – 4 in Heilbronn. Die Frage, auswärtige Universitäten zu besuchen, wurde nie ernstlich erwogen; ich wollte jedenfalls die höheren Examina im Departement der Finanzen in Württemberg machen; das erste Examen legte man vor den Tübinger Professoren ab; die mußte man kennen, bei ihnen Vorlesungen ge- hört haben. Auch die Kosten bildeten ein Hindernis; in Tübingen hatte ich den Genuß von mancherlei Familienstipendien zu erwarten. Meine im ganzen noch zarte Gesundheit konnte in Tübingen am leichtesten unter die Aufsicht eines bewährten Tübinger Arztes gestellt werden.

65 Emil Kauffmann (1836 – 1909), 1877 bis 1907 Musikdirektor der Universität Tübingen; siehe FRANK / ALTMANN, Tonkünstler-Lexikon (1936), S. 290, bzw. ausführlicher SCHMID, Kauff- mann (1942). 66 Carl Siemens (1809 – 1885) war der erste Professor für Landwirtschaftliche Technologie an der Hochschule (Stuttgart-)Hohenheim; siehe FRANZ, Hohenheim (1968), S. 51 f. Ausweislich des im StadtA Heilbronn vorhandenen Evang. Familienregisters war es nicht die älteste Denzel- Tochter, sondern die zweitälteste, Ottilie Wilhelmine, geboren 1812, die 1829 Carl Siemens heiratete. Deren Tochter Antonie heiratete dann Werner von Siemens (s. Fußnote 67). 67 Werner von Siemens (1816 – 1892, geadelt 1888), Ingenieur und Unternehmer, Entdecker des dynamoelektrischen Prinzips, Konstrukteur der Dynamomaschine, 1847 Mitgründer der Firma Siemens & Halske. Er war ein Cousin von Carl Siemens und wurde nach seiner zweiten Ehe- schließung zugleich dessen Schwiegersohn (s. Fußnote 66). 68 In einer seiner Tischreden, die Schmoller auf der Feier seines 70. Geburtstages hielt, sprach er von „den Tagen, die ich in [Franz] Lenbachs Atelier seinerzeit erleben durfte; und diese gehören zu meinen schönsten Erinnerungen“; SCHMOLLER, Reden (1908), S. 47. 344 Gustav Schmoller: Meine Heilbronner Jugendjahre

Dem gewöhnlichen studentischen Treiben des Biertrinkens, Paukens, Korpslebens fern zu bleiben, bedurfte keiner besonderen Ermahnung bei mir. Ich neigte nicht zu derartigem, wenn ich dann auch eine zeitlang mit einer wesentlich theologischen Verbindung, den Staufern,69 kneipte, die eigentlich nur auf der Kneipe Farben trug. Mit ganz besonderer Freude gedenke ich heute noch der Zeiten voller Anregung, in denen meine Schwestern Luise und Emma in aller Morgenfrühe mit mir hinauszogen, zeichnend, malend. Von un- serm Fleiße und auch Talent sprechen heute noch eine Reihe Bilder in meinem Hause wie bei den verschiedensten Verwandten.70 Mein Klavierspielen hingegen wurde mir, als zu aussichtslos, durch Schwager Scherzer bald gelegt. Mein körperliches und geistiges Leben war auf Studium, geistigen Fortschritt eingestellt. Von Kollegien habe ich nur solche und dann gründlich geschwänzt, von [S. 59, Sp. 2] denen ich annahm, daß sie mir nichts nützten, daß ich in der Hauptsache schon wisse, was in ihnen vorkomme, wie z.B. das Finanzrecht von Hoffmann.71 Als meine Haupt- aufgabe erschien mir neben der Fach- eine möglichst weite, allgemeine wissenschaftliche Bildung zu erhalten, wie sie ev. für eine Gelehrtenlaufbahn nötig sei. Philosophie und Geschichte zogen mich am meisten an; aber auch Naturwissenschaften. Ich habe in Chemie, Physik, Maschinenlehre und Technologie keine Stunde versäumt; auch in den Pandekten nicht, wohl aber in Staats- und Verwaltungsrecht, das ich schon beherrschte. Geschichte der Philosophie bei Reiff 72 und Pandekten bei Römer 73 waren unglaublich langweilige Vorlesungen, reine Diktate, aber inhaltlich sehr gut. Ich habe das Studium dieser Hefte durch Lesen der wichtigeren Philosophen in ihren Hauptwerken und durch Aufschlagen und Uebersetzen aller wichtigen Pandektenstellen entsprechend ergänzt. Geschichte hörte ich mehrfach bei Max Duncker74 und dann bei seinem Nachfolger

69 Wahrscheinlich handelt es sich um die evangelische Studentenverbindung Staufia, die 1852 in Tübingen gegründet worden war, sich 1868 „vertagte“ und deren Altherrenverband 1927 mit Hercynia Heidelberg fusionierte. Siehe JESS, Verbindungen (2000), S. 34 und 505. Ich bin Dr. Eckart Krause, Leiter der Hamburger Bibliothek für Universitätsgeschichte, für diese Quellen- angabe dankbar. 70 Neun der Aquarelle Gustav Schmollers sind abgebildet in: SCHMOLZ, Unterland (1989). 71 Karl Heinrich Ludwig Hoffmann (1807 – 1881), ein Schüler des bedeutenden Staatswissen- schaftlers und Politikers Robert von Mohl (1799 – 1875). Hoffmann war von 1838 bis 1872 Professor für Finanz- und Polizeirecht in Tübingen. Siehe zu beiden MARCON / STRECKER, 200 Jahre (2004), S. 173 – 187 bzw. 197 – 200. 72 Jakob Friedrich von Reiff (1810 – 1879, württembergischer Personaladel seit 1874), 1844 bis 1877 Professor für Philosophie in Tübingen, zu dessen Hörern auch die späteren Philosophen Christoph Sigwart (s. Fußnote 77) und Hans Vaihinger gehörten. Zu Reiff siehe JAHN, Philoso- phen (2001), S. 338, und PRANTL, Reiff (1888). 73 Robert R. Römer (1823 – 1879), Professor der Rechte in Tübingen, war neben seiner Lehrtätig- keit von 1864 bis 1871 württembergischer Landtagsabgeordneter und gehörte 1866 zu den Gründern der bis 1918 bestehenden nationalliberalen Deutschen Partei in Württemberg, die sich für den Anschluss Württembergs an den Norddeutschen Bund einsetzte; siehe HARTMANN, Römer (1889). 74 Maximilian (Max) Wolfgang Duncker (1811 – 1886), Sohn des Verlegers Carl Friedrich Dunk- ker (Duncker & Humblot, Berlin), 1848/49 Mitglied der Deutschen Nationalversammlung, 1857 bis 1859 Professor für Politische Geschichte, Statistik und Völkerrecht in Tübingen, da- nach im preußischen Staatsdienst. Siehe MARCON / STRECKER, 200 Jahre (2004), S. 229 – 238, und BEST / WEEGE, Handbuch (1998), S. 129 f. Siehe auch Fußnote 85. 345 EDITION

Pauli.75 M. Duncker war Herbst 1857 nach Tübingen gekommen und wirkte als bedeu- tende politische Persönlichkeit sehr. Da er mit meinem Schwager Rümelin befreundet war, verkehrte ich sehr viel dort; seine geistvolle Frau versammelte gern an ihrem abend- lichen Teetisch einen Kreis gebildeter Männer; ich war besonders viel mit dem späteren Historiker Waizsäcker [sic!]76 und dem späteren Philosophen Sigwart77 dort zusammen. Es waren Stunden großer Anregung und Belehrung für mich. Auch sonst hatte ich man- cherlei Familienverkehr; bei dem Juristen G. Bruns,78 beim Dekan Georgii,79 bei der Frau Amermüller,80 die mit einer geistvollen, älteren Tochter81 und einem alten halb- kränklichen Sohn am Oberneckarstieg ein eigenes Haus hatte, in dem ich im letzten Se- mester 2 Zimmer bewohnte. Eine Freundschaft für’s Leben ist daraus entstanden, sie hat sich später auch auf ihre älteste verheiratete Tochter, Frau Froriep82 in Weimar, erstreckt. Die Hoffnung auf eine spätere akademische Karriere verführte mich zu dem Versuch, eine Preisaufgabe zu lösen: über die [S. 60, Sp. 1] Nationalökonomie der Reformations- zeit.83 Ich brachte dazu keine methodologisch-historische Fachbildung mit, aber soviel historisches Wissen, daß bei umfangreichem Lesen über die Zeit, hauptsächlich auch der Reformatorenschriften von Zwingli und Melanchthon, ein leidliches Ergebnis heraus- kam. Ich wurde so halb Historiker. Die goldene Medaille, die sie mir eintrug, benutzte ich zu Bücheranschaffungen und Erwerb von Photographien aus den großen europäi- schen Galerien; ebenso das buchhändlerische Honorar, das mir die Laupp’sche Buch- handlung für den Abdruck der Abhandlung in der Tübinger Staatswissenschaftlichen Zeitschrift84 zahlte.

75 Reinhold Georg Pauli (1823 – 1882), 1859 bis 1866 Professor für Geschichte, Statistik und Völkerrecht an der Universität Tübingen. Siehe MARCON / STRECKER, 200 Jahre (2004), S. 238 – 245. 76 Julius Weizsäcker (1828 – 1889), studierte u.a. in Tübingen Evangelische Theologie, Philologie und Geschichte, war nach seiner Habilitation 1859 bei Max Duncker seit 1863 Professor für Geschichte an verschiedenen deutschen Universitäten, so in Tübingen von 1867 bis 1872 und seit 1881 in Berlin. Siehe WEBER, Biographisches Lexikon (1984), S. 649 f. 77 Christoph Sigwart (1830 – 1904), 1863 bis 1903 Professor für Philosophie, insbesondere Ethik und Logik in Tübingen. Siehe JAHN, Philosophen (2001), S. 389 f. 78 Karl Eduard Georg Bruns (1816 – 1880), Professor für Rechtswissenschaften von 1859 bis 1861 in Tübingen, danach in Berlin. Siehe KILLY, Enzyklopädie (1995), S. 173. 79 Johann Christian Ludwig (von) Georgii (1810 – 1896), seit 1853 Dekan und seit 1869 Prälat und Generalsuperintendent in Tübingen. Siehe Magisterbuch 20 (1872), S. 85 f., und Biblio- graphie der Württembergischen Geschichte 4 (1915), S. 307. 80 Sophie Wilhelmine Margarethe Ammermüller, geb. Hölder (1779 – 1869). Siehe http//www.reeg.info/agfroriep.htm rev. 2008-06-06 81 Wohl Franziska Ammermüller (1816 – 1903), Vorsitzende des Schwäbischen Frauenvereins. Siehe RANDECKER, Ammermüller (2004). 82 Wilhelmine Ammermüller (1808 – 1878) war seit 1830 mit dem Mediziner Robert Froriep (1804 – 1861) verheiratet. Siehe http://www.erfurt-web.de/FroriepRobert rev. 2008-06-06 83 SCHMOLLER, Reformations-Periode (1860). Zum Inhalt siehe BRINKMANN, Schmoller (1937), S. 17 – 27. 84 SCHMOLLER, Reformations-Periode (1860)

346 Gustav Schmoller: Meine Heilbronner Jugendjahre

Die damaligen Tübinger Nationalökonomen haben keinen nachhaltigen Eindruck auf mich geübt;85 Schütz [sic!]86 war ein älterer, liebenswürdiger Herr, aber er wirkte nicht auf seine Zuhörer. Helferich,87 damals in seinen besten Jahren, war ein sehr anregender Dozent: er diktierte die ausgezeichneten Diktate des Professor Hermann in München,88 die er einst bei ihm erhalten hatte, und knüpfte daran allerlei volkswirtschaftliche Cause- rien an; auch in seinem Hause war es anregend, vor allem durch seine edle, vornehme Frau, eine geb. Ranke. Aber einen großen Einfluß hat Helferich weder damals in Tübin- gen, noch später in Göttingen und München erreicht. Er ging auf in der hergebrachten Bahn der älteren Nationalökonomen. Und damals war ein großer Umschwung in unserer Wissenschaft Bedürfnis, den er nicht so fühlte, wie Roscher, Hildebrand und Knies es taten,89 bei denen ich nie Vorlesungen hörte, die ich aber von 1864 an oft und viel per- sönlich sah. Im Sommer 1861 machte ich mein erstes Staatsexamen in Tübingen mit der Nummer I b; und bald darauf meinen Doktor mit der erwähnten Preisarbeit. Ich hatte nun meine Referendarszeit bei einem Kameralamt und bei einem Landeskollegium90 abzumachen, um zum zweiten höheren Staatsexamen zugelassen zu werden. Das erstere geschah in Heilbronn; da ich die Geschäfte des Kameralamts längst genau kannte, hatte mein Vater [S. 60, Sp. 2] nichts dagegen, daß ich fast ausschließlich weiteren wissenschaftlichen Stu- dien lebte. Ich widmete die Zeit wesentlich dem Studium der großen deutschen Philoso- phen, da ich von dem Gedanken erfüllt war, ein grundlegendes Buch über das Heraus- wachsen der Volkswirtschaftslehre aus den philosophischen Systemen von 1750 – 1850

85 Bereits auf der Feier zu seinem 70. Geburtstag hatte Schmoller bekannt: „Meine staatswissen- schaftlichen Lehrer in Tübingen hatten [...] keinen wesentlichen Einfluß auf mich, wohl aber mein Schwager Gustav Rümelin und die Tatsache, daß ich vom ersten Semester an der Schüler Max Dunckers war [...]“; SCHMOLLER, Reden (1908), S. 10. Und: An Max Duncker „hing ich zeitlebens mit großer Verehrung“; SCHMOLLER, Reden (1908), S. 49. 86 Schmoller bezog sich hier auf Karl Wolfgang Christoph von Schüz (1811 – 1875, württember- gischer Personaladel seit 1865), 1837 bis 1875 Professor für Staatswissenschaften in Tübingen. Er und Robert von Mohl gründeten 1844 die Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft, die seit 1986 unter dem Obertitel Journal of Institutional and Theoretical Economics erscheint. Schüz hatte die Preisaufgabe gestellt, die Schmoller so erfolgreich löste (siehe oben). Zu Schüz siehe MARCON / STRECKER, 200 Jahre (2004), S. 187 – 191. 87 Johann Alphons Renatus Helferich (1817 – 1892), 1849 bis 1860 Professor für Polizeiwissen- schaft, Politik und Enzyklopädie der Staatswissenschaften in Tübingen, danach Professor in Göttingen und München. Siehe MARCON / STRECKER, 200 Jahre (2004), S. 221 – 225. 88 Friedrich Benedikt Wilhelm von Hermann (1795 – 1868, bayerischer Personaladel seit 1843), 1827 bis 1868 Professor für Technologie und Staatswirtschaft an der Universität München, 1848 Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung; siehe dazu BEST / WEEGE, Handbuch (1998), S. 177 f. Über den von Schmoller hier angedeuteten großen Einfluss Hermanns auf die Entwicklung der deutschen Volkswirtschaftslehre im 19. Jahrhundert informieren ausgiebig STREISSLER, Hermann (1999) und KURZ, Hermann (1999). 89 Die drei führenden Vertreter der sogenannten älteren Historischen Schule; siehe dazu in aller Kürze RIETER, Schulen (2002), S. 142 – 144. 90 Einem Ministerium (hier dem Departement der Finanzen) untergeordnete Landesbehörde (hier das Statistisch-topographische Bureau). Siehe Königlich Württembergische Hof- und Staatshandbücher, z.B. für 1862. 347 EDITION schreiben zu wollen. Meine Beschäftigung am Landeskollegium geschah in der Weise, daß ich den Finanzminister bat, mich dem württembergischen statistischen Amte zuzu- weisen, dessen Leitung eben mein Schwager Rümelin nach seinem Rücktritt vom Kultus- ministerium übernommen hatte. Er hatte mich zur akademischen Laufbahn ermuntert, er hatte mich auf umfassende philosophische Lektüre hingewiesen, blieb bis zu seinem Tode 1889 mein väterlicher Freund und Mentor; ohne seinen Einfluß wäre ich wohl nicht geworden, was ich bin. Damals nun übertrug er mir die Ausarbeitung der eben auf- genommenen württembergischen Gewerbezählung von 1861.91 Diese Arbeit beschäftigte mich den ganzen Sommer 1862 in Stuttgart. Ihr Resultat liegt gedruckt in den Württem- bergischen Jahrbüchern, Jahrgang 1862, Heft 2, vor.92 Diese Arbeit wurde für mich des- halb von besonderer Bedeutung, weil sie wesentlich dazu beitrug, mir im Frühjahr 1864 einen Ruf als außerordentlichen Professor in Halle einzutragen. Das Aufblühen des dorti- gen landwirtschaftlichen Studiums durch Professor Julius Kühn93 ließ neben den etwas alt gewordenen Fachvertretern eine junge Kraft als nötig erscheinen. Der Kurator der Universität, Oberpräsident von Beurmann,94 las die Gewerbestatistik und freute sich, in ihr [mir?] einen Vertreter praktischer Wirtschaftspolitik zu finden. Ein anderer Umstand hatte in Berlin auf mich hingewiesen. Im Frühjahr 1862 tobte im ganzen Zollverein der Kampf um den preußisch-französischen Handelsvertrag. Die süddeutschen Staaten waren aus Rücksicht für Oesterreich und übertriebenen Schutzzollwünschen gegen ihn. Ich schrieb im Winter eine anonyme Broschüre „Für den französischen Handelsvertrag“,95 weil nach meiner innersten Ueberzeugung die süddeutsche [S. 61, Sp. 1] Opposition falsch war. Die Anonymität wurde aus mir unbekannten Gründen nicht gewahrt. Ich sehe noch meinen Vater leichenblaß zu mir ins Zimmer treten mit den Worten: Da hast du’s, in der Zeitung steht, daß du der Verfasser seiest; jetzt ist dir jede württembergische Kar- riere versperrt. Ich sagte ruhig: Das ist kein so großes Unglück. Ich werde irgendwo sonst in Deutschland schon einen Platz finden. In Berlin fand meine Broschüre bei Rudolph

91 In den Jahren 1846 und 1861 wurden im Anschluss an Volkszählungen in den zum Deutschen Zollverein gehörenden Staaten, also auch in Württemberg, gewerbestatistische Daten erhoben. Einbezogen wurden Industrie- und Handwerksbetriebe, Verlage sowie die Handels-, Transport-, Hotel- und Gaststättengewerbe. Siehe KOLLMANN, Gewerbestatistik (1892), S. 1042; KOLL- MANN, Gewerbestatistik (1900), S. 513; KOLLMANN, Gewerbestatistik (1909), S. 1008. Ergeb- nisse der Gewerbezählung von 1861 hat Schmoller später in seiner bekannten Monographie SCHMOLLER, Kleingewerbe (1870) verarbeitet; siehe dazu auch BRINKMANN, Schmoller (1937), S. 76 – 82. 92 Als „Systematische Darstellung des Ergebnisses dieser Gewerbeaufnahme“ in Ergebnisse (1862). 93 Julius Kühn (1825 – 1910), Sohn eines Gutsbesitzers, studierte Landwirtschaft in Poppelsdorf bei Bonn, seit 1862 Professor für Landwirtschaft an der Universität Halle. 1863 gründete er dort ein Landwirtschaftliches Institut und führte erstmals an einer deutschen Universität einen Studiengang für Landwirtschaft ein; KILLY, Enzyklopädie (1997), S. 144. 94 Carl Moritz von Beurmann (1802 – 1870). Siehe http://www.verwaltungsgeschichte.de/vipbe.html rev. 2008-06-06 95 SCHMOLLER, Handelsvertrag (1862). Siehe zum Inhalt des Beitrages BRINKMANN, Schmoller (1937), S. 44 – 51.

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Delbrück,96 der damals noch im Handelsministerium war, und anderwärts ebenso viel Beifall, wie in Stuttgart Mißfallen. Delbrück blieb von da an mein besonderer Gönner. Ich will auf meinen Aufenthalt in Genf im Sommer 1863 nicht mehr näher eingehen. Ich wollte französisch sprechen und die freien Institutionen der Schweiz kennen lernen. Bei- des habe ich erreicht. In einer Reihe der besten Genfer, hauptsächlich Gelehrtenfamilien, hatte ich Zutritt; hauptsächlich mit dem jüngeren Cherbuliez befreundete ich mich, der später jahrelang die Revue des deux mondes in Paris redigierte.97 Ich lernte den Maler Ca- lame näher kennen,98 die Familie De Candolle99 und andere. Als ich im Herbst 1863 nach Heilbronn zurückkehrte, hatte ich französisch so gelernt, daß ich in meinen Träu- men französisch sprach, was ja als Zeichen der erlangten Fertigkeit gilt. Im Frühjahr 1864 trat ich eine Reise über Heidelberg, Frankfurt, Würzburg, Leipzig, Marburg, Göttingen, Hamburg nach Berlin an. Dort erreichte mich der Ruf, als außeror- dentlicher Professor nach Halle zu kommen. Obwohl mir nur 500 Reichstaler Gehalt ge- boten wurden, nahm ich an. Ich vertraute meinem Stern. Schon im folgenden Jahr brach- te mir ein Ruf nach Zürich das Ordinariat und 1200 [S. 61, Sp. 2] Reichstaler Gehalt. Als Zuhörer hatte ich schon im ersten Semester 70 – 80 gehabt, und sie stiegen schnell weiter, sodaß ich bald auf eine amtliche Einnahme von 4 – 5000 Talern rechnen konnte, und mir das Reichskanzleramt bei meiner Berufung nach Straßburg 1872 4000 Reichstaler Gehalt anbot. Im Sommer 1864 war ich zum letzten Male länger in Heilbronn, arbeitete da meine ers- ten Kolleghefte für Halle und den Artikel für die preußischen Jahrbücher „Die soziale Frage“ aus, der als das Programm gelten konnte für die Nationalökonomen und Sozialpo- litiker, die sich später im Verein für Sozialpolitik sammelten.100 Als ich im Oktober 1864 Heilbronn verließ und von meinem Vater Abschied nahm, tat ich es in dem Gefühle und in der Hoffnung, auch in den folgenden Jahren regelmäßig in den Ferien dorthin kommen zu können. Es sollte nicht sein. Mein Vater starb im Februar 1865; mein Elternhaus war damit aufgelöst. Wenn ich von da an noch mannigfach nach

96 Rudolf oder Rudolph von Delbrück (1817 – 1903, preußischer Personaladel seit 1896), Politi- ker, 1867 Präsident des Bundeskanzleramts des Norddeutschen Bundes, 1871 bis 1876 des Reichskanzleramtes; 1878 bis 1881 Mitglied des Reichstages; siehe KILLY, Enzyklopädie (1995) und HEFFTER, Delbrück (1957). 97 Wahrscheinlich Victor Cherbuliez (1829 – 1899), Schriftsteller und Publizist, der 1875 nach Paris ging, aber die von Schmoller genannte Zeitschrift wohl nicht herausgab, sondern ano - nym für sie schrieb. So jedenfalls die Darstellung im Schweizer Lexikon 91, Band 2 (1992), S. 19. 98 Alexandre Calame (1810 – 1864), ein zu seiner Zeit sehr bekannter Schweizer Landschaftsma- ler. Siehe zu ihm die Einträge (mit bibliografischen Hinweisen) in TURNER, Dictionary of Art (1996), S. 412, und THIEME, Lexikon (1911), S. 368 – 370. 99 Bekannt wurde die Familie u.a. durch Augustin Pyrame de Candolle (1778 – 1841), Schweizer Botaniker, Professor in Montpellier und Genf. Er entwarf eine Pflanzensystematik, die sich von der Linnés unterschied. Sein Sohn Alphonse Pyrame de Candolle (1806 – 1893) folgte ihm 1842 auf dem Lehrstuhl für Botanik in Genf. Siehe zu beiden z.B. The New Encyclopae- dia Britannica, Band 2 (2003), S. 799. 100 Siehe oben, S. 326 Fußnote 16

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Heilbronn kam, wohnte ich 1 – 2 Tage im Gasthofe. So treue Freunde mir lange da blie- ben, ich wurde doch ein Fremder, der jetzt seinen Schwerpunkt in Halle, Straßburg, Ber- lin hatte. – Halle wurde mir insofern ein besonders geliebter Aufenthaltsort, als ich hier die großen Ziele meines Lebens erreichte, eine schöne Berufstätigkeit, zahlreiche Schüler und ein herrliches Weib, eine Niebuhrenkelin, die Mutter meiner Kinder.101 Aber Heil- bronn blieb mir die eigentliche Heimat. Und so oft ich dorthin wiederkehrte, tat ich es mit dem Gedanken an den Horaz’schen Vers: „Ille terrarum mihi praeter omnes angulus ridet.“102

101 Lucia (genannt Lucie) Schmoller (1850 – 1928) aus Pinneberg, seit 1869 mit Schmoller ver- heiratet, war die Tochter von Bernhard Rathgen (1802 – 1880), der in der Mitte des 19. Jahr- hunderts als Leiter des Justizdepartements der Herzogtümer Schleswig und Holstein und spä- ter als Präsident der großherzoglichen Generalkommission in Sachsen-Weimar wirkte, und seiner Ehefrau Cornelia Niebuhr (1822 – 1878), einer Tochter des bekannten Historikers und Staatsmannes Barthold Georg Niebuhr (1776 – 1831). Auf der Feier aus Anlass seines 70. Ge- burtstages schwärmte Schmoller: „Aber über alle [...] Frauen, die ich verehrte, möchte ich doch meine Schwiegermutter stellen, die jüngste romgeborene Tochter Niebuhrs, die in ihrer Jugend der dritte Band der römischen Geschichte hieß, weil dies der beste Band und sie die dritte, schönste und reichbegabteste Tochter war. Meine Frau war als siebzehnjähriges Mäd- chen, als ich sie kennen lernte, entzückend; aber der Geist, die moralische Größe, die Ge- mütstiefe, die geistige Energie, wie sie mir in meiner Schwiegermutter entgegentrat –, die ent- schied neben dem Liebreiz der Tochter meine Wahl; da sagte ich mir – damals schon auf dem Vererbungsstandpunkt stehend –, das sind Eigenschaften, die man heiraten muß, die wird meine Frau auch mal haben und unseren Kindern geben. Und sie hat Wort gehalten –, sie hat mir unsagbares Glück bereitet; ihr danke ich das Beste; aber darüber darf ich hier nichts Wei- teres erzählen und verraten.“ SCHMOLLER, Reden (1908), S. 53. 102 „Dieser Winkel der Erde lacht mich mehr als jeder andere an.“

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