Gustav Von Schmollers Erinnerungen an Seine Jugendzeit in Heilbronn
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Heinz Rieter Gustav von Schmollers Erinnerungen an seine Jugendzeit in Heilbronn Sonderdruck aus: Christhard Schrenk · Peter Wanner (Hg.) heilbronnica 4 Beiträge zur Stadt- und Regionalgeschichte Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Heilbronn 19 Jahrbuch für schwäbisch-fränkische Geschichte 36 2008 Stadtarchiv Heilbronn Gustav von Schmollers Erinnerungen an seine Jugendzeit HEINZ RIETER Der gebürtige Heilbronner Gustav Friedrich Schmoller (1838 – 1917) war im letz- ten Drittel des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts einer der führenden – wenn nicht sogar der führende – Volkswirt in Deutschland.1 Er hatte in Tübingen Staatswissenschaften, Philosophie und Geschichte studiert und über ein national- ökonomisches Thema promoviert. Er wurde 1864 Professor in Halle, ging 1872 an die Universität Straßburg und nahm 1882 den Ruf auf einen Lehrstuhl der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität an, als deren Rektor er 1897/98 amtierte und der er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1913 angehörte. Er vertrat die Uni- versität viele Jahre im Preußischen Herrenhaus, saß im Preußischen Staatsrat und war ein hoch angesehenes Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaf- ten. Und nicht zuletzt auf seine Initiative hin versammelten sich 1872 in Eisenach sozialpolitisch engagierte Gelehrte und Praktiker und gründeten den Reform- Verein für Socialpolitik, der besonders unter Schmollers Ägide wissenschaftlich wie politisch einflussreich war. Wegen seiner Verdienste wurde Schmoller 1908 geadelt. Er war ohne Frage ein bedeutender akademischer Lehrer und überaus produktiver Forscher, der in Wort und Schrift ein wissenschaftliches Programm entwickelte und vertrat, das schulenbildend wirkte. Es wurde zur Charta der soge- nannten jüngeren Historischen oder – treffender – Historisch-ethischen Schule, die die deutsche Nationalökonomie zumindest bis zu Schmollers Tod dominierte und ihr darüber hinaus zu jener Zeit im Ausland Ansehen verschaffte. Für Schmoller gehörte die Nationalökonomie zu jenen Wissenschaften, die sich von den Bedingungen des Raumes, der Zeit und der Nationalität nicht tren- nen lassen. Deshalb sei sie (zunächst) auf historische und statistische Methoden festgelegt; nur mit deren Hilfe erlange man umfassendes Wissen über das wirt- schaftliche Geschehen bei den verschiedenen Völkern in Vergangenheit und Gegenwart. Aber die Volkswirtschaftslehre dürfe sich nicht mit der Sammlung und Aufbereitung der gewonnenen Fakten begnügen, sie müsse vielmehr in einem nächsten Schritt daraus Schlüsse im Hinblick auf die praktisch zu lösen- den, namentlich die sozialen Probleme ziehen. Das wissenschaftliche Augenmerk 1 Siehe zur ersten Orientierung BORCHARDT, Schmoller (2007); RIETER, Schulen (2002); und SCHEFOLD, Schmoller (1998). Ausführlich über Schmoller aus unterschiedlichen Perspektiven u.a. BRINKMANN, Schmoller (1937); KAUFHOLD, Schmoller (1988); RECKTENWALD, Vademe- cum (1989); WINKEL, Schmoller (1989); SCHMIDT, Schmoller (1997); GRIMMER-SOLEM, hi- storical economics (2003). 323 HEINZ RIETER Gustav von Schmoller. habe sich auf die Volkswirtschaft zu richten, verstanden als ein zweckgerichtet zu- sammenwirkendes Gebilde, verwoben mit Natur, Technik, Gesellschaft, Kultur, Sitte und Recht – alles Erscheinungen, die in Institutionen ihre jeweils typische Gestalt annehmen. Für Schmoller war die wichtigste dieser Institutionen der Staat, genauer seine Verwaltung bzw. Bürokratie, weil sie direkt in die sozialen und ökonomischen Prozesse eingreifen. Er glaubte daran, dass Gesellschaft und Wirtschaft vor allem dank „sittlicher Kräfte“ – allerdings in einem unsteten Pro- zess – zu höheren, sprich: humaneren Stufen voranschreiten werden. Kriterium dafür sei die Gerechtigkeit der Einkommens- und Vermögensverteilung, die der Staat gegebenenfalls korrigieren müsse, um soziale Missstände zu beseitigen und Klassenunterschiede einzuebnen. In den Dienst solcher vom „Vater Staat“ betrie- 324 Gustav von Schmollers Jugenderinnerungen benen Sozialreform habe sich auch der Wissenschaftler zu stellen, was in der Gründung des Vereins für Socialpolitik seinen sichtbaren Ausdruck fand und von liberaler Seite als „Kathedersozialismus“ verspottet wurde. Schmoller hat viel, ja sehr viel geschrieben – aber ganz wenig über sich selbst.2 Das überrascht insoweit nicht, als er Berufliches und Privates strikt trennte, zu seinen Kollegen Abstand wahrte und sich zeitlebens fast nur zu wissenschaft- lichen und politischen Themen äußerte. So kann man mit Schmollers Schaffen vertraut sein, ohne seine innere Biografie zu kennen. Erst ganz am Ende seines Lebens hat er davon etwas preisgegeben. Der Verleger Eugen Salzer, der in Schmollers Geburtsstadt Heilbronn einen Kalender für Schwäbische Literatur und Kunst unter dem Titel Von schwäbischer Scholle herausgab,3 hatte den Landsmann gebeten, über seine Jugendjahre zu berichten. Schmoller ging darauf ein, gewiss nicht ahnend, dass er mit diesem Aufsatz4 zugleich den Schlusspunkt unter sein monumentales Œuvre setzen würde. Denn Eugen Salzer musste im Oktober 1917 im Vorwort des Kalenders für das Jahr 1918 seinen Lesern mitteilen: „Ge- heimrat Professor Dr. Gustav von Schmoller ist hochbetagt am 26. Juli in Harz- burg unerwartet verschieden. Voll Freude schrieb er mir noch am 23. Juli, daß er mit den Aufzeichnungen seiner Jugenderinnerungen fertig sei und sie nur noch einmal in Berlin einer Durchsicht unterziehen wolle. Es war ihm nicht vergönnt. Die letzte Arbeit des greisen Gelehrten galt seiner Vaterstadt Heilbronn, die seine ‚eigentliche Heimat‘ geblieben ist.“ Diese „letzte Arbeit“ Schmollers ist schnell vergessen worden. Sie wird ganz selten in den deutschsprachigen Schriften zur Geschichte des ökonomischen Denkens und in einschlägigen Nachschlagewerken erwähnt, in denen sich Bio- grafisches über Schmoller findet.5 Im englischsprachigen Schrifttum ist sie mei- nes Wissens bislang nur von Nicholas W. Balabkins6 eingehender und von Erik Grimmer-Solem7 beiläufig berücksichtigt worden. Ihre Wiederentdeckung lohnt sich jedoch allemal. Nicht nur weil sich der Schwabe Schmoller am Ende eines langen Gelehrtenlebens, dessen Höhenflug – wie es Günter Schmölders8 treffend formuliert hat – „parallel mit dem Aufstieg der preußischen Macht“ verlaufen 2 Auf der Feier seines 70. Geburtstages am 24. Juni 1908 in seinem Haus in Berlin hat Schmoller zwar mehrmals auf Ansprachen seiner Gäste geantwortet, doch auch hier nur mehr am Rande etwas über sich selbst verraten. Siehe SCHMOLLER, Reden (1908), S. 11 f. und 47 – 54. 3 Eugen Salzer (1866 – 1938) gründete 1891 in Heilbronn den Salzer-Verlag, in dem u.a. für die Jahre 1913 – 1920, 1922 und 1938 der Literatur- und Kunstkalender „Von schwäbischer Schol- le“ erschien. 4 SCHMOLLER, Jugendjahre (1918), S. 53 – 61 5 Ausnahmen sind: BRINKMANN, Schmoller (1937), S. 12 – 16; MÜSSIGGANG, soziale Frage (1968), S. 135, Anm. 44; WINKEL, Schmoller (1989), Kap. I und S. 333. 6 BALABKINS, Theory (1988), Kap. I und II 7 GRIMMER-SOLEM, historical economics (2003), S. 32, Anm. 68 8 SCHMÖLDERS, Staatswirtschaftslehre (1993), S. 99 325 HEINZ RIETER war, darin zu seiner „eigentlichen Heimat“ bekannte. Und die Lektüre ist auch nicht nur deshalb interessant, weil man Genaueres über sein Elternhaus, seine Schulzeit und sein Studium in Tübingen erfährt, sondern weil der Text die le- benslange Zielstrebigkeit und Kontinuität Schmollerschen Denkens bestätigt und dessen frühe Wurzeln freilegt. Das „geistige Erbe“, das man von seinen „Vorfahren durch die Geburt mit empfängt“, sei „ebenso wichtig [...] für das Leben als die äußeren Einflüsse der Umgebung und Erziehung, die man erhält“, schreibt Schmoller.9 So sieht er sich in die lange protestantische Tradition seiner Familie gestellt, die sich „sofort“ der Reformation „angeschlossen habe“.10 Des Weiteren vermittelten ihm der Vater und andere Verwandte, alle in Diensten des Staates, von klein auf das Bild einer unantastbaren Obrigkeit, die sich aber auch ihrer Pflichten gegenüber den Bür- gern bewusst zu sein hat. Mit einer „stillen Bewunderung“ erfüllte ihn zugleich die „selbstlose Gelehrtenarbeit“ seines Großvaters Carl Friedrich Gärtner in Calw, eines Botanikers, „die keine Stellung, kein Amt, kein Verdienst begehr- te“.11 Es war das „Selbstgesehene und -erlebte“, das auf ihn „gewirkt habe“.12 Dazu gehörte namentlich die zu jener Zeit einsetzende Industrialisierung: „[...] ich erlebte heranwachsend 1848 – 64 ein großes wirtschaftliches Aufblühen der Stadt [Heilbronn], das meinen beginnenden nationalökonomischen Studien zur lebendigen Illustration gereichte. Aehnliches erlebte ich in Calw. [...] Ueber volkswirtschaftlichen Aufschwung und seine Ursachen hatte ich so eine große Summe von praktischen Anschauungen erhalten, ehe ich 1856 – 64 theoretisch über ihn nachzudenken lernte. Und das war für meine geistige Entwicklung sehr wichtig.“13 Dies alles unterstreicht auf höchst anschauliche Weise Peter R. Senns14 Vermutung, Schmoller müsse sich „stets von den Problemen seiner Um- gebung und seiner Zeit angesprochen gefühlt haben“. Auch Schmollers sozialreformerische Ideen sind gleichsam auf „schwäbischer Scholle“ gekeimt: Als er im Sommer 1864 „zum letzten Mal länger in Heilbronn“ war,15 arbeitete der damals Sechsundzwanzigjährige auch „den Artikel für die preußischen Jahrbücher ‚Die soziale Frage‘ aus,16 der als das Programm gelten konnte für die Nationalökonomen und Sozialpolitiker, die sich später im Verein für Sozialpolitik sammelten“, wie Schmoller wohl mit Befriedigung feststellte.17 9 SCHMOLLER, Jugendjahre (1918), S. 54 10 Ebd. 11 SCHMOLLER, Jugendjahre