Nr. 8 | 31. August 2008

Max Frisch Zwei Reden in New York | Ingeborg Bachmann – Paul Celan Herzzeit: der Briefwechsel | Robert Kagan Die Demokratie und ihre Feinde Franz Hohler über Peter von Matts Abschiedsvorlesung | Ruth Klüger Unterwegs verloren | Rezensionen zu Kurt Marti, Jacques Chessex, Nelly Mann, Paul Collier und anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese Zuhause einkaufen und Vorteile geniessen. buch.ch – meine Buchhandlung!

UBS Keyclub Partner Mit UBS Keyclubpunkten bezahlen. Miles & More Partner Prämienmeilen beim Einkauf sammeln oder einlösen. Kostenloser Geschenkservice Grusskarte und Geschenkpapier auswählen, Wunschadresse angeben und fertig! Inhalt (1911–1991) war einer der Grossen der Schweizer und der Vorlesungen deutschsprachigen Literatur des letzten Jahrhunderts. Nun, 17 Jahre in New York nach seinem Tod, werden erstmals zwei Vorlesungen veröffentlicht, die er 1981 an der New York City University gehalten hat. «Ich bin nicht und Zürich Schriftsteller geworden aus Verantwortung gegenüber der Gesellschaft», sagt er dort und grenzt sich schroff ab vom politisch engagierten Literaten. Mit Witz und Koketterie «vergnügt und belehrt», ja erheitert er das amerikanische Publikum. Den schwierigen Frisch, den sperrigen, jenen, der sich entzieht – den kennen wir. Weniger jedoch den unterhaltsamen und amüsanten Autor, als den ihn unser Rezensent in der Besprechung von «Schwarzes Quadrat» vorstellt (Seiten 4/5). Ebenfalls um eine kurzweilige Vorlesung, allerdings in Zürich, geht es

Nr. 8 | 31. August 2008

 !  Zwei Reden in New York |   $    Herzzeit: der Briefwechsel |   Die Demokratie und ihre Feinde #  über Peter von Matts Abschiedsvorlesung |   % Unterwegs verloren | Rezensionen zu     ! im neuen Buch von Franz Hohler, «Das Ende eines ganz normalen "     und anderen |   " Zitatenlese Tages», das nächste Woche herauskommt. Wir drucken daraus das Kapitel, in dem der Solothurner Kabarettist die Abschiedsvorstellung des Germanisten Peter von Matt beschreibt (Seiten 14/15). Mit diesem Appetizer und dreissig weiteren Rezensionen über neue

Max Frisch Werke dieses Sommers – solche aus der schönen Literatur wie auch aus (Seiten 4/5). der Welt des Sachbuchs – wünschen wir Ihnen viele anregende und Illustration von André Carrilho interessante Stunden. Urs Rauber

Belletristik Kurzkritiken Sachbuch 18 Rochus Misch: Der letzte Zeuge. «Ich war Hitlers Telefonist, Kurier und Leibwächter» 4 Max Frisch: Schwarzes Quadrat. 13 Michael Schroeder: Sappho von Lesbos Von Urs Rauber Zwei Poetikvorlesungen Von Geneviève Lüscher 19 Kurt Marti: Ein Topf voll Zeit Von Adolf Muschg Christiane Hoffmann: Hinter den Schleiern Von Klara Obermüller 6 Jewgenij Grischkowez: Das Hemd Irans Thomas Goetz: Poetik des Nachrufs Von Paul Jandl Von Geneviève Lüscher Von Stefan Hauser Richard Stark: Fragen Sie den Papagei Christoph Dejung: Widerspruch 20 Kirsten Jüngling: «Ich bin doch nicht nur Von Bruno Steiger Von Urs Rauber schlecht». Nelly Mann 7 Ruth Klüger: unterwegs verloren Dietmar Grieser: Die guten Geister Von Catherine Newmark Von Angelika Overath Von Urs Rauber Lamya Kaddor, Rabeya Müller: Der Koran 8 Ingeborg Bachmann − Paul Celan: Herzzeit. Von Monika Jung-Mounib Der Briefwechsel Essay 21 Dieter Thomä: Väter. Von Michael Braun Von Mathias Ninck 9 Jacques Chessex: Der Vampir von Ropraz 14 Spracherheller und Wortprophet 22 Arnold Hottinger: Die Länder des Islam Jacques Chessex: Pardon mère Von Franz Hohler Von Jürg Bischoff Von Stefan Zweifel 23 Gernot Böhme: Ethik leiblicher Existenz Lillian Birnbaum: Transition Sachbuch Von Manfred Koch Von Gerhard Mack Heinz Horat: Seelust 10 Susan Choi: Reue 16 Robert Kagan: Die Demokratie und ihre Von Jost Auf der Maur Von Nina Toepfer Feinde 24 Paul Collier: Die unterste Milliarde. Martha Grimes: Inspektor Jury lässt die Von Dieter Ruloff Warum die ärmsten Länder scheitern Puppen tanzen Von Peter Durtschi Von Pia Horlacher Ulrich Fellmeth: Pecunia non olet 11 Ursula Krechel: Shanghai fern von wo Von Geneviève Lüscher Von Stefana Sabin 25 Hans Sahl: Memoiren eines Moralisten. Das Exil im Exil Kurzkritiken Belletristik Von Urs Bitterli 26 Michel Cullin, Primavera Driessen Gruber: 12 Gerhard Polt: Drecksbagage. Bühnen- Douce France? monologe Von Fritz Trümpi Von Manfred Papst Das amerikanische Buch: Meredith Heinz Janisch: Der König und das Meer M. Brown über den «Frontiersman» Von Regula Freuler Daniel Boone Heidi. Nach Johanna Spyri, erzählt von Von Andreas Mink Von Regula Freuler Agenda Federico Garcia Lorca: Die Gedichte Von Manfred Papst 27 China. Vergangenheit − Gegenwart − Zukunft Von Manfred Papst Kolumne Bestseller August 2008

MEDIACOLORS Belletristik und Sachbuch 13 Charles Lewinsky Die USA und der Westen sind herausgefordert durch die Agenda September 2008 Das Zitat von Ernst Rowohlt aufstrebenden Mächte Russland und China. Veranstaltungshinweise

Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Judith Kuckart, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Klara Obermüller, Angelika Overath, Stefan Zweifel Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art-Director), Patrizia Trebbi (Bildredaktion), Joëlle Prochazka (Layout), Ingrid Essig, Rita Pescatore, Benno Ziegler (Korrektorat) Adresse NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 0442581111, Fax 0442617070, E-Mail: [email protected]

31. August 2008 XNZZ am Sonntag X3 Belletristik für Sie» anstrengend «Es wird Stimme FrischslebendigwiezumerstenMalhört Ein dialektischesKammerspiel,indemmandie New Yorkgehaltenhat,erscheinenerstmalsinBuch form. Poetik 4 immer besseren Fragen bei? sie ihrem Stoff, demMenschen, nurmit Sache, Antworten zugeben, oderkommt im Fall derKunst? Istes überhaupt ihre heit», ineinemKriminalfall, aberauch verhör einesAutors: Was heisst «Wahr- Dann erschien «Blaubart», dasSelbst- Buch, Leser»,hatte erMontaigne zitiert. te» geworden. «Diesisteinwahrhaftiges wollte; daraus war doch«eineGeschich- man Lynn aus«Montauk» erkennen Manhattan miteinerPartnerin, inder Adresse verlassen undlebte inLower ner zweiten EheauchdieWestberliner Bist dusicher? 1981hatte Frisch mitsei- keine Frau ihrem Partner stellen darf: eines Unglücks». EsgibteineFrage, die Frisch-Leser wissen esausder«Skizze Von Adolf Muschg Frankfurt a. M. 2008.80Seiten, Fr. 25.90. Zwei Poetikvorlesungen. Suhrkamp, Max Frisch: Schwarzes Quadrat. Max Frisch zeitig eine Selbstbefragung. eine Reise durch seinWerk undgleich- ten Vorlesungen aus demJahr1981sind Die Frisch dringend alspolitischeStimme. renen verstorbenen und1991 dort Max aber vermissen den1911 inZürichgebo- poden Dürrenmatt zu hören. Andere vielleicht von denAnhängern desAnti- Unterrichtsplan führen. Sehrfern, ist jene Lehrer, dieihnnurknurrend im Wie tot istMaxFrisch? Sehrtot, sagen X NZZ amSonntag beiden nunerstmalsveröffentlich- ZweiVorlesungen,dieMaxFrisch1981in X 31.August 2008 leuchtet ersieschärfer undgewinnt das nichts zurSache, inWirklichkeit be seine Hörer. SeinAkzent tut scheinbar wird anstrengend fürSie», warnte er die ermitdemAmerikanischen hat.«Es lässt. Das beginnt beiderSchwierigkeit, behauptung alsKomödie inszenieren Bühne, aufdersichseineInkompetenz- schafft –undRaumgeschaffen füreine sagen: Ich habekeine Theorie.» reiche Herstellung. «Um essofort zu die Erwartung von Tipps fürihre erfolg- die Suche nachihrem Positiven odergar Seminarkonstruktionen von Literatur, tet, haternochweniger übrig,etwa für greens, die er beiAmerikanern vermu- zubauen. Dennfürandere welke Ever- rikade mithistorischem Respekt nach- darum isteressichschuldig,dieseBar- offenepäischen Publikum Türen ein, Damit rennt erbeieinemnichteuro- antwortung gegenüber der Gesellschaft.» nicht Schriftsteller geworden ausVer- «Engagement» ausgesprochen: «Ich bin Frisch nirgends gegen das sogenannte Kontext zerrisse. ihre Verbindung miteinemliterarischen ratur verbindlicher würden, wenn man glauben jenerJahre, dass Sätze derLite- banalisieren; aberesgehörte zumAber- nicht fürsichselbst.Explizieren heisst Arbeit auszubreiten, als sprächesie ture inSociety» diePrämissenseiner ration» oder«The Function ofLitera- Writers Journey from Impulseto Inspi- mehr angetan, unter Titeln wie«The Europa hätte ersichdieswohl nicht University. Sie sindeinGastgeschenk; in zwei Vorlesungen ander New York City vember 1981Rechenschaft zugeben, in Damit hatersicherst malLuft ver- Darüber versuchte sichFrisch imNo Schroffer als inNew York hatsich - -

MAX FRISCH-ARCHIV ZÜRICH Perfektion. erfüllt esnuralsDemonstrant gegen jede sich auchnoch,einGesetzzu geben, er len. Nur: Frisch, derMeister, weigert sie geben, gleichschonimGebenerfül- Hebbel überSchiller) dasGesetz, das den seltenen Kunstrichtern, die(so Redner gleichzeitig –undgehört auchzu denn je.So«vergnügt undbelehrt»der lassen underscheinen darinlebendiger sich dasLichtspäter Einsichtgefallen gelungen genug sind.Jetzt müssen sie arbeitet eran Passagen weiter, dielängst Werkstatt desAutors. Quasimühsam mehr stimmen.Jetzt blicktmanindie herkommt, kann schondarumnicht Didaktik desWitzes. Was da sogeläufig Vorträge fürihren tieferen Sinn die wieder erholen können»,verwenden die liefert werden, «damitwiruns hinund Spea denen eroperiert,von einem Native sprache. Dadieälteren Frisch-Zitate, mit derRede:Punkt Literatur istFremd- erheiterte fürdenwichtigsten Publikum ker «inperfekter Aussprache» ge - - rin, «aber es würde sehen, dass es noch etwas anderes gibt als die Gesellschaft und den Staat.» Es ist dieses Andere, für das sich Frisch am Ende «engagiert», mit der humoristisch klingenden Begrün- dung: «Wenn man nicht gleichgültig ist, aber wirr, so hat man das natürliche Bedürfnis, ein Manifest zu liefern.» In diesem erst deutsch, dann englisch gele- senen Manifest stehen Sätze wie: «Die Poesie ist zweckfrei (schon das macht sie zur Irritation)» und «Die Poesie ist da oder manchmal auch nicht». Es sind kunstgerechte Sätze, allen übrigen Vorstellungen von Gerechtig- keit können sie nicht dienen; nur inso- fern sind sie wahr. Und doch ist Frischs «Schwarzes Quadrat» kein Schwarzes Loch, in dem jede weltbürgerliche Hoff- nung spurlos verschwindet. Sein Schwarz ist vielmehr die Summe aller Farben, in denen die Widersprüche des Menschen spielen; und die Kunst ist eine Black Box, die sie aufhebt, umfassend, aber unbe- schriftet. Alles ist an Bilder gebunden Am dritten Tag seines Auftritts stösst Frisch beim Aufräumen seiner literari- schen Person an eine kritische Grenze. Seit «Stiller» für sein Bildnisverbot no - to risch, hat er in New York gerade vor- geführt, dass alles, was er mit heiligem Respekt «Erfahrung» nennt, an Bilder gebunden bleibt. Und nun entschlüpft ihm in der Kollegendiskussion der Satz: «Es ist nicht ganz weit weg von einem religiösen Glauben.» Ein Wort zu viel; in einem geschriebenen Text hätte er es nicht stehen lassen. Aber nun bleibt es hängen und stimmt nicht nur zu Frischs fast letzten Satz: «Kunst als solche ist transzendent.» Es stimmt auch zu der Abdankung, die sich Frisch zehn Jahre später in der Zürcher Peterskirche ver- schrieben hat, zwar ohne Pfarrer, aber in jeder Hinsicht «so und nicht ungefähr». Dass es von Max Frisch kein Grab gibt, stimmt auch dazu. Dafür hört man seine Stimme in der Erstausgabe dieser «Poetikvorlesungen» lebendig wie zum ersten Mal – und spürt Und so erst, in der Überzeugungs- like very much», «ein anderes Buch, Max Frisch (1911– zugleich, wie sehr man sie vermisst. kraft des Offenlassens, im Vorstellungs- that I love» (es ist «Alice in Wonder- 1991) während seines bringt im Nachwort eines Aufenthalts in New vermögen für das Offenbleibende, kom- land»). Natürlich: Frisch «at his best» York, 1981. Freundes diesen leer gewordenen Raum muniziert Frisch auch mit den klas- ist immer auch Frisch «at his most intensiv zum Schwingen. An die Umstän- sischen Objekten des Engagements: desperate». «Meine Literatur, ich gebe de von Frischs Gastspiel am City College dem sozialen Elend, der politischen es zu, ist meistens traurig.» Hinter dem erinnert sich einer der Veranstalter, Hoffnung. Aber die Kunst dient kei- unterhaltsamen, doch radikalen Pro- Mark Jay Mirsky; Herausgeber sind Wal- nem von beiden als Werkzeug; nur wer zess so kratischer Ent-Täuschung, wel- ter Obschlager, der langjährige Leiter ihre Autonomie recht begriffen hat, che die Kunst jeder Erwartung bereiten des Frisch-Archivs an der ETH, und begegnet in ihr auch jenem Bild des muss, steht die Erfahrung, dass einem Daniel de Vin von der Freien Universität Menschen, nach dem er niemals nur als Ge schöpf, das so viel Kunst brauchen Brüssel. Unermüdlich begleitet er seit Mittel für andere und anderes, immer muss, eigentlich nicht zu helfen ist. Ist vielen Jahren akademisch die neuere zuerst und zuletzt als Zweck seiner es ein Trost, dass die Kunst mit aller Schweizer Literatur; dafür sei ihm nach- selbst begriffen wird. Eigentlichkeit nichts zu schaffen hat und gesehen, dass sein Vorwort für die Wie- dass sie nicht trotzdem gelingen kann, dergabe des Spektrums Max Frisch Frisch «at his best» sondern darum? reichlich Regenbogenfarbe verwendet. Frisch inszeniert sein dialektisches Das «Schwarze Quadrat», Flucht- Er bemüht sich um einen Frisch zum Kammerspiel in der Tonart: «Sie wollen punkt der zwei Reden, ist ein Bild des Anfassen. Der Text selbst zeigt einen wissen, wie ich heute dazu denke? Das russischen Abstrakten Malewitsch und Frisch, der sich entzieht. Dieser wird möchte ich auch wissen.» Was ebenso war 1981 noch im Keller der Leningrader bleiben. L redlich wie kokett klingt, ist zugleich Ermitage versteckt. Denn würde es ge- Adolf Muschg lebt als Schriftsteller amüsant und glaubwürdig, Frisch «at his zeigt, zeigte sich zugleich seine Explo- und Literaturwissenschafter in Männe- best». Auch er selbst streut, an affektiv sivkraft. «Das Volk könnte nicht verste- dorf und Berlin. Am 15. 9. erscheint hoch besetzter Stelle seiner Rede, eng- hen, wozu dieses schwarze Quadrat», sein neuer Roman «Kinderhochzeit» lische Brocken ein: «ein Buch, that I zitiert Frisch eine sowjetische Kurato- (Suhrkamp). 31. August 2008 XNZZ am Sonntag X5 Belletristik Début Ein Liebesroman wie ein Road-Movie, das einen ganzen Planeten der Melancholie durchmisst und dennoch nicht vom Fleck kommt Durch die Bars von Moskau

die Heimkehr des Helden, und während Spiel wie dessen Helden: unnahbar, sou- Jewgenij Grischkowez: Das Hemd. seine Penelope, die überdies Angestellte verän. Zwei einsam schwadronierende Aus dem Russischen von Beate Rausch. eines Tourismusbüros ist, nur telefo- Herren mittleren Alters trennen sich Ammann, Zürich 2008. 267 S., Fr. 35.90. nisch im Roman auftritt, wird die und finden wieder zusammen, sie kla- Freundschaft mit Max vertieft. gen einander ihr Leid und trinken auf Von Paul Jandl Grischkowez’ «Hemd» ist «Ulysses» die Liebe. Da ist dann noch die Sache auf Russisch, ein Road-Movie, das auf mit der roten Aktentasche, die Max, Wenn Jewgenij Walerjewitsch Grisch- den Strassen der grossen Stadt kaum wenn er sie nicht gerade wieder verlo- kowez auf den Bühnen des Theaters mit vom Fleck kommt. Mit seinem Freund ren hat, bei sich trägt, und der dunkle verknautschter Miene seine Geschichten Max diskutiert Sascha über die ernsten Mercedes, der den Erzähler verfolgt. Ist zum Besten gibt, dann will man ihm alle Dinge der Welt. Ein geniesserisches es ein Detektiv, der ihn im Namen der Qualen glauben, von denen die Rede ist, Gespräch über Zigarren, das der Roman geliebten Frau beschattet, oder ein Eifer- und jede Freude. Eine Autobiografie der im O-Ton wiedergibt, kann sich hinzie- süchtiger? Weil der Realismus eines vielen Leben hat sich der im sibirischen hen, während man bei Frauen, für dies- Grischkowez eher das Unglaubliche für Kemerewo geborene Künstler erfunden. mal, zurückhaltend bleiben will. wahrscheinlich hält als das Wahrschein- Dass nach seinen berühmten Perfor- Den «Ernest», mit dem die beiden liche für glaubwürdig, können diese mances auch sein jetzt ins Deutsche schon beachtliche Erfolge gefeiert haben, Dinge alles bedeuten oder nichts. Nicht so glamourös übertragenes Roman-Début «Das Hemd» werden sie diesmal nicht machen. Zu wie in New York oder Es ist ein subtiler Roman über die Ver- dazugehört, steht ausser Zweifel. Ehren des grossen Hemingway geben sie Paris: Einkehren in geblichkeit. Wie der Held sich treiben «Das Hemd» ist ein vertrackter, in sich bei diesem von ihnen ersonnenen Moskauer Nachtclubs. lässt, hoffend und wartend, die Geliebte Moskau spielender Liebesroman. Es ist wenigstens am Telefon zu hören, um das Buch einer Stadt, deren Lichter nicht dann selbst das Hoffen und Warten wie- so glamourös blinken wie die in New der zu vergessen, das hat etwas Schwer- York oder Paris. Staubig ist der Schnee, mütiges. Die Schwermut aber durch Witz durch den die Taxifahrer ihre fragwür- zu erleichtern, gelingt Grischkowez, weil digen Karossen lenken – manchmal mit- er vom Pathos nichts wissen will. Am ten ins Unglück hinein. Der Roman, der Ende einer langen Nacht, nach all den mit einer nächtlichen Massenkarambo- Gesprächen in den Bars und am Telefon, lage endet, hat wie im Schlaf begonnen. nach den Sorgen um Max, der sich sinn- Seinen Freund Max, der aus der gleichen los besäuft, und nach einem glücklich russischen Provinzstadt stammt wie er, überlebten Unfall ist der Erzähler im holt der Erzähler, ein nur mässig erfolg- Morgengrauen dort angekommen, wo reicher Architekt namens Sascha, früh- seine Fahrt be gann: zu Hause. Sein weis- morgens vom Flughafen ab. Schon auf ses Hemd zieht er aus und hängt es über dem Weg dorthin kann er an nichts die Stuhllehne. Dass es ihm für diesen anderes denken als an jene Frau, in die einen Tag eine zweite Haut war, erfüllt er sich vor kurzem verliebt hat. Ein Tag ihn mit zärtlicher Trauer. Grischkowez’ hebt an, der lange dauern soll, ein Tag, Roman ist das vorerst letzte Bekenntnis an dem ein Mann durch Moskau irrt wie zu träumerischen Gewissheiten der rus- Odysseus übers Meer. Schwankend sind sischen Literatur: «‹Und welcher Teil die Planken der zahllosen Bars, in die von dir ist müde?› fragte ich mich. ‹Die dieser Held einkehrt, ein schwacher Seele, Euer Wohlgeboren! Die Seele!›

Trost die starken Getränke. Unsicher ist PETER/REUTERS THOMAS liess sich die Antwort vernehmen.» L

Kriminalroman Ohne Vornamen, Biografie und Moral: der Berufsverbrecher Parker in Aktion Eine Menschenjagd läuft aus dem Ruder

andere tretende Vogel «alles im Griff, Titel der neuen Folge und soll ge mäss Richard Stark: Fragen Sie den Papagei. was er im Griff haben musste». Dass die Verlagsankündigung den Anfang einer Aus dem Englischen von Dirk van Menschenjagd unter der Regie des umfassenden Parker-Edition bilden. Gunsteren. Zsolnay, Wien 2008. Gejagten aus dem Ruder läuft, hat auch Parker, ohne Vorname, ohne Biogra- 336 Seiten, Fr. 30.90. für ihn denkbar missliche Folgen. fie, ohne Gefühle und ausserhalb aller Eine von intelligentem Witz und ab - Moral, zählt zu den eindrücklichsten Von Bruno Steiger surder Logik auf die Spitze getriebene Gestalten der Kriminalliteratur. Als Erfindungslust kennzeichnet alle Roma- einen «Mann, der seinen Job macht», Smith nennt sich der wortkarge Fremde, ne um den Berufsverbrecher Parker. Ihr charakterisiert ihn sein Erfinder. Sich der sich irgendwo in Massachusetts dem Autor ist der heute 75-jährige Amerika- dem Geschnapptwerden zu entziehen, Suchtrupp anschliesst. Dieser macht auf ner Donald E. Westlake. Unter dem ist seine Aufgabe im vorliegenden der Jagd nach einem Bankräuber die Pseu donym Richard Stark lancierte er Roman. Ein Nebenjob besteht darin, Gegend unsicher. Smiths richtiger Name Parker 1962 im Roman «The Hunter». einem alten Mann beim Überfall auf das ist Parker, und dass die Suche ihm selbst Das Buch wurde fünf Jahre darauf unter Wettbüro einer Pferderennbahn mit Rat gilt, weiss ausser ihm nur der Besitzer dem Titel «Point Blank» von John Boor- und Tat zur Seite zu stehen. Die Cool- jenes Papageis, der die leere Mitte von man verfilmt. Bis 1974 erschienen rund 20 ness, mit der Parker die Sache erledigt, Richard Starks exzellentem Krimi bil- Parker-Titel; nach einer längeren Pause ist gnadenlos zielgerichtet und von der- det. Eher Inkarnation eines blinden nahm Westlake/Stark gegen Ende der selben grandiosen Sinnlosigkeit geprägt, Flecks denn Dreh- und Angelpunkt, hat neunziger Jahre die Serie wieder auf. «Fra- die all seinen Unternehmungen zugrun- der in seinem Käfig von einem Bein aufs gen Sie den Papagei» ist der bisher letzte de liegt. L 6X NZZ am Sonntag X 31. August 2008 Erinnerungen Mit der Fortsetzung ihrer Autobiografie ist Ruth Klüger ein mutiges Buch gelungen Kurze Ärmel in der Sonne

Ruth Klüger, 76, Ruth Klüger: unterwegs verloren. kann Privates und Zsolnay, Wien 2008. 238 Seiten, Fr. 38.90. Öffentliches in ihrem Leben nicht trennen. Von Angelika Overath

Martin Walser lobte: «Sobald etwas genau genug ist, hört der Streit auf. Man nickt dann. Schweren Herzens.» Das Buch «weiter leben. Eine Jugend» (1992) der renommierten Literaturwissenschaf- terin über ihre jüdische Kindheit in Wien bis zur Ausreise in die USA wurde zu einem Welterfolg. Ruth Klüger konnte ihre Alltagserfahrungen aus dem Unvor- stellbaren anschaulich, «genau genug», vermitteln, weil es ihr gelang, eine ganz eigene Sprache, besser: eine Vielschich- tigkeit der Stimmen, zu entwickeln. In wienerischem Duktus plaudert sie, oft stellvertretend für das «Mäderl», das sie war, staunend, auch trotzig lakonisch vom Nicht-Sagbaren, und dann kom- mentiert sie als erfahrene Essayistin das Erzählte. Schliesslich tritt sie als Person zurück und setzt als Lyrikerin ein Gedicht, das da zu sprechen beginnt, wo das Argumentieren aufhören muss. Auschwitz-Tätowierung Diese Literatur erfindet keinen Plot, aber sie ist hochkomplexe erfundene Form. Sie erreicht eine Spannung, ja einen Sog, der den Leser mitnimmt in ein Erleben und Nachdenken. Nun ist, immerhin sechzehn Jahre später, die Fortsetzung erschienen: «unterwegs verloren». Während Ruth Klüger «wei- ter leben» als Sechzigjährige schrieb, die, zwischen Göttingen und Kalifornien pendelnd, noch mitten in den universi- tären Verpflichtungen stand, verfasste sie den zweiten Teil der Memoiren als ISOLDE OHLBAUM emeritierte Professorin, vierfache Gross- dann doch noch, in sehr kleinen Schrit- sich Privates und Öffentliches in ihrem mutter und berühmte Autorin. ten, als alleinerziehende Mutter und Leben nicht trennen liessen. Ihre Nun geht es auch um eine Lebensbi- gegen immensen machistischen, auch Schwierigkeiten in Princeton, wo sie lanz. Über ihre Auschwitz-Tätowierung, judenfeindlichen Widerstand eine Uni- sechs Jahre als Professorin unterrichte- die man der 12-Jährigen in die Haut versitätskarriere machte, die sich selbst te, waren getränkt von Ressentiments stach, stellt sie zu Beginn quälend subtil aber immer wieder in einem unver- gegen Juden, gegen Frauen, gegen die Frage nach der schuldlosen Schuld dienten Spagat zwischen Provokation geschiedene Mütter. Und noch wenn sie der überlebenden Opfer. Sie habe die und Entblössung erleben musste. in bewundernswerter Ehrlichkeit über Nummer als ein Totengedenken getra- ihre Kinder und die nachgetragene Liebe gen, nun im Alter aber beschlossen, das Harte und heitere Momente zu ihnen schreibt, schliesst sie mit der blaue Mal in einer kalifornischen Laser- Denn für die, die hätten sterben sollen, offenen Frage, ob nicht ihre Prägung klinik entfernen zu lassen: «Doch als aber nicht gestorben sind, war die «Stun- durch den Nationalsozialismus selbst Provokation hatte ich die Nummer auf de null» ein Mythos. Das Morden ging dieses Verhältnis belastet hat. meinem Arm nie verstanden, auch nicht weiter, weil die Toten fehlten. Das Erin- Nach Auschwitz war nichts mehr, wie als Entblössung. Erst als ich sie nicht nern hielt sie wach wie Wunden. Die es hätte werden können. Das Buch ist ein mehr hatte, fiel mir auf, wie sehr sie Tätowierung, als Totengedenken ins unverzichtbares Dokument zur Zeit- und beides gewesen war. Eine Selbstver- Intime überhöht, blieb äusserlich zu- Wissenschaftsgeschichte. Und es enthält ständlichkeit, wie alles am eigenen Kör- gleich Markierung, «herdenmässige wunderbare glasklare, harte und heitere per, auch die Narben oder etwas Missge- Herabsetzung», ein fortgesetztes Ste- Momente von scharf beobachteter staltetes. Doch für andere ein Anstoss, chen. «Das reichte mir. Nicht länger Mensch lichkeit. Dass ihr Kritiker wegen etwas Anstössiges, das man dem, der’s wollte ich wie die Opfer in Kafkas ‹Straf- mancher Passagen Überempfindlichkeit, hat, übelnimmt. Und die Kehrseite ist kolonie› das ungerechte, das absolute, ja Ressentiments vorwerfen wer den, Entblössung. Eigentlich sollte es nur die das unverständliche und der Vernunft nimmt sie selbstironisch in Kauf: Zwei Entblössung der Naziverbrechen sein. nicht zugängliche Gesetz eingeritzt im Kapitel heissen «Göttinger Neurosen» Aber es funktioniert eben anders. Weil Körper haben. Die Nummer hat immer und «Wiener Neurosen». Und doch be- es am Körper ist.» nur mit mir und den Ermordeten zu tun müht sie sich schmerzhaft um Fairness. Die gelöschte Nummer wird zum Pars gehabt, und ich wünschte mir ein paar Ihre Memoiren sind mit diesem Buch ab- pro Toto für die alte jüdische Frau, die Jahre mit kurzen Ärmeln in der Sonne.» geschlossen. Jetzt sollte sich die Lyrikerin den Holocaust überlebte, heiratete, Kin- Ruth Klüger hat ein sehr mutiges Ruth Klüger endlich selber das Wort der bekam, eine Scheidung durchlitt und Buch geschrieben, in dem sie zeigt, wie geben. L 31. August 2008 XNZZ am Sonntag X7 Belletristik ständiges FlehenumAufmerksamkeit ihrer Mehrzahl verzweifelte Briefe, ein losigkeit sopreisgegeben. Essindin emotionalen Zerrissenheit undSchutz- haben sichdiebeidenAutoren inihrer gegenüber keinem anderen Briefpartner nen Leserunberührtlassen wird. Wohl erschütterndes Lebenszeugnis, daskei- delt sichumeindramatisches undtief Briefe vorgebracht werden mag:Eshan- lichung undKommentierung sointimer frau) geschrieben haben. Gisèle Celan-Lestrange (Celans Ehe- Rivalinnen Ingeborg Bachmannund und umdieBriefe, diesichLiebes- Korrespondenz Celans mitMaxFrisch mentierten Ausgabe vor, ergänzt umdie den Autoren ineinermustergültig kom- komplette Briefwechsel zwischenbei- Ingeborg Bachmannaufnimmt,liegtder Wort aus einemWidmungsgedicht an dem Titel «Herzzeit», derdaserste zeit vollständig freigelegt worden. Unter die Literaturgeschichte derNachkriegs- Nun isteinelementares Kernstück für Heillos verstrickt Herzzeit. DerBriefwechsel. Ingeborg Bachmann–Paul Celan: Autoren ermöglicht. die Hinterlassenschaften derbeiden abge und Celans abervon ihrer strikten Linie Rechte den vergangenen Jahren waren die frist bisinsJahr 2025belegt. Bereits in des Dichterpaars war mit einerSperr- Spekulationen. DennderBriefwechsel nenden Orakeln derPhilologieStoff für schah, lieferte vieleJahre langdenrau- ersten Zusammentreffen inWien ge Wien gekommen war. Was nachihrem aus Bukarest imDezember 1947 nach lernt, dernacheinerstrapaziösen Flucht tenlosen Juden Paul Celan kennenge borg BachmanndenDichter undstaa- studentin undaufstrebende Poetin Inge- hatte dieösterreichische Philosophie- Literaturgeschichte. Am16. Mai 1948 gehütete Briefgeheimnis derjüngeren der verband, verbarg bisherdasbest- denzen innerhalb ihres Werks miteinan- der subtilenpoetischenKorrespon- borg BachmannundPaul Celan jenseits schlimmsten Feinde waren. Was Inge- sucht zerbrachen undsichdabeioftdie Liebender, dieanihrer unerfüllten Sehn- 20. Jahrhunderts; dieGeschichte zweier in derdeutschsprachigen Literatur des Es istdieunheilvollste Liebesgeschichte Von MichaelBraun Frankfurt a. M. 2008.400 S.,Fr. 44.90. Barbara Wiede Badiou, HansHöller, Andrea Stoll u. Hrsg. u.kommentiert v. Bertrand Bachmann undGisèleCelan-Lestrange. Max Frisch sowie zwischenIngeborg Briefwechseln zwischenPaul Celan und Geschichte einerLiebesvergiftung Briefwechsel 8 das bestgehüteteBriefgeheimnisderjüngerenLiteraturgeschichte X NZZ amSonntag Was auchimmergegen dieVeröffent- rückt undhatten erste Einblicke in inhaber derWerke Bachmanns mann. Suhrkamp, X 31. August DieintimeKorrespondenzzwischenIngeborgBachmannundPaulCelanwarbis her 2008 Mitden - -

PRIVATNACHLASS INGEBORG BACHMANN Niendorf. der Gruppe47 in 1952 aneinerTagung und Paul Celan(r.), Ingeborg Bachmann der existenziellen Verbundenheit. Liebe undhoffen dochaufeinZeichen löste wissen umdieHeillosigkeit ihrer mässigkeit enttäuscht wird. Zwei Uner- und Zuwendung, dasinfataler Regel- den beiden schon längst den beidenschonlängst punkt istdieLiebesbeziehungzwischen cken öffentlich zurück.Zu diesemZeit- ter zurSeite undweist dieinfamen Atta- zusetzen, springtBachmann demDich- tene Pressekampagne Celan immermehr Claire Gollsunddiedadurch losgetre- 1959 diehaltlosenPlagiatsvorwürfe caust nichtmehrmöglichist.Alsnach auf dieVernichtungsgeschichte desHolo- Dichtung ohnediepoetischeReferenz glieds, dieÜberzeugung, dass moderne Tochter einesehemaligen NSDAP-Mit- worden waren, teilte Bachmann,die trationslagern inderUkraine ermordet dessen Eltern von denNazis inKonzen- Literaturbetrieb bewusst. MitCelan, Randposition imgeschichtsvergessenen Wahlheimat Paris reist, war sichseiner als Celan imJuli 1948 in seineneue gen Wochen desGlückstrennen muss, Du, umeineEnttäuschung zuverwinden, nicht aufzuhalten: «Ich bedaure dich,weil Exerzitium gegenseitiger Zermürbungist der grossen –aberdasgrausame Krise schreibt sieanCelan indiesenMonaten bin verloren, verzweifelt und verbittert», zur Selbstdemütigung steigern kann. «Ich über demschweigenden Geliebten bis und Leidensbereitschaft, diesichgegen- spricht einenahezuunfassbare Geduld brochen. Inihren Briefen ausdieserZeit nach einemNervenkollaps zusammenge- lichen Liaisonindienächste stolperte, mann, diedamalsvon einerunglück- Bereits imSeptember 1950 war Bach- Gegenseitige Zermürbung Das Liebespaar, dassichnachweni- zerbrochen. sam mitsich zog indenUntergang». «weil ersie, erst nachseinem Tod, lang- Geliebte «ineineExilierte» verwandelt, «Exilierter undVerlorener» auchseine Der Geliebte, heisst esda,habealsein hier aufunheimlicheWeise antizipiert. Brandunfall imSeptember 1973wird weiterer Lebensweg biszumtödlichen ihrer «grossen Liebe»fest verschlüsselter Form dasAusweglose See» (1972)hatBachmannspäter in In ihrer Erzählung«Drei Wege zum hat –Wunden, dieniemehr verheilten. Verletzungen, dieihrCelan zugefügt miert Ingeborg Bachmanndietiefen einem nichtabgeschickten Briefresü- tigen Vergiftung allenVertrauens. In verliebt, istdasderAuftakt zurendgül- mann imSommer1958inMaxFrisch des unglücklichenPaars. AlssichBach- kelt dieGoll- meines Sprechens bistundbleibst.» auch deshalb, weil dudieRechtfertigung kenntnissen: «DubistderLebensgrund, Liebes nen weniger Wochen mitanrühren Liebe erklärt hat,überschüttet ernunbin- Härte das«unrettbar Verlorene» ihrer borg», dererfünfJahre zuvor inaller im Oktober 1957. Seine«Liebste Inge Wie aufbringen, indenMonaten nachder dung wird erspäter nurnocheinmal sel eröffnet. SolcheInnigkeit derZuwen- gelt, hatte erimJuni 1948 denBriefwech- xion aufdenTod jüdischerFrauen spie- das denneuenLiebesbundineinerRefle- trauen. MitdemGedicht «InÄgypten», Liebesbekundungen undtiefem Miss- seits schwankt zwischeneuphorischen anderen zerstören musst.» Celan seiner- gebracht hat,sosehrvor Dirundden den anderen, derDirdiese Enttäuschung Aber bereits imFebruar 1958verdun- der gedichten undpathetischen Be aufnahme derLiebesbeziehung Affäre dieneue«Herz gehalten. Ihr zeit» L den - - Roman Jacques Chessex, 1973 Gewinner des «Prix Goncourt», kehrt zurück Die Sprache knirscht so schön wie das Gebälk der Angst

inzestuösen Roman «Ma Mère», jetzt noch der blanke Knochen ausgekocht Jacques Chessex: Der Vampir von Ropraz. antwortet Chessex darauf mit seinen vor uns liegt. Gelustmordete Sprache. Aus dem Französischen von Elisabeth Erinnerungen an seine Mutter, «Pardon Dabei inszeniert sich Chessex selbst Edl. Nagel & Kimche, Zürich 2008. mère». Ein zaghaft zarter, herzspaltender als Opfer: Der Vampir und Mädchenmör- 96 Seiten, Fr. 23.90. Text, denn Chessex braucht nun ein gan- der ist sein «Double», sein «Bruder». Er Jacques Chessex: Pardon mère. Editions zes Buch, um jenen einzigen einsamen flieht mit ihm in den Wahn der damaligen Grasset, Paris 2008. 218 Seiten, Fr. 36.10. Satz wettzumachen, den er nie über die Irrenanstalt, er flieht hinaus in den Ersten Lippen brachte: «Ich liebe dich, Mutter.» Weltkrieg, wo der vampirische Mädchen- Von Stefan Zweifel Mit diesen beiden Büchern hat sich mörder an der Seite von Blaise Cendrars Jacques Chessex zurückgeschrieben in kämpfte und die Figur abgab für Cendrars’ Natürlich kann man das Bücherregal die Aktualität. Hat auch seine Bilder Moravagine, jenen global agierenden nach Farben ordnen, und doch halten ausgestellt, die den Minotaurus zeigen, Lustmörder. Doch Chessex’ Held aus der sich die meisten Leute brav ans Auto- die mythische Stiergestalt, umtanzt und dörflichen Enge wütet im Verborgenen ren-Abc. Dabei gibt es Übersetzer, die so umsphinxt von nackten Frauen. Mino- weiter, er fiel auf dem Schlachtfeld für bedeutsam sind, dass man sie zwischen taurus, Vampir – den Totentanz des sexu- Frankreich und liegt heute – so die Schluss- die Schriftstellernamen stellen müsste. ellen Exzesses inszeniert Chessex beste- wendung – als «soldat inconnu» unter So gesehen sollten unter «E» Stendhal, chend, doch nie wirklich rauschhaft, dem Arc de Triomphe in Paris. Eine ewige Julien Green und auch Jacques Chessex immer etwas verstockt und verhockt, Flamme leuchtet als blasphemische Kerze stehen. Denn Elisabeth Edl hat all diese wie es sich für die Schweiz gehört. Es ist für seine Seele. Und Edls Sprache leuchtet Autoren übersetzt. Sie befreite die ver- eine verdrängte Lust, die aus dem Vam- als vokaler Widerschein und vampirischer schmockte Version von Stendhals «Rot pir herausbricht, das Dorf ansteckt, die Wiedergänger. L und Schwarz» mit handkantenhartem Phantasie der Bewohner entflammt, Stefan Zweifel lebt als Publizist, Über- Deutsch, raschen Brüchen und Wech- ihren Rachedurst. Und dank Edl auch setzer und Journalist in Zürich. Er ist seln, kurz: Edl hat Stendhal einge- dem Deutsch das Blut aussaugt, bis nur Mitglied des «Literaturclubs» von SF. deutscht. Oder besser: das Deutsche stendhalisiert. Und jetzt also ein kleiner Roman von Jacques Chessex. Weshalb, fragt man sich zunächst, Frühlingserwachen Zwischen Kindheit und Jugend diese simple Geschichte rund um einen Vampir, der 1903 in einem Dorf im Jura sein Unwesen trieb? Wie unzeitgemäss diese wahre Geschichte von Charles- Augustin Favez, dem «Vampir von Ropraz». Weshalb wählte Edl dieses Buch? Sicher nicht, weil es ein überra- schender Erfolg in Frankreich war, mit 80 000 verkauften Exemplaren, sondern weil die Sprache so schön knirscht wie das Gebälk der Angst, wie das Ächzen der Vorurteile in einem kleinen Dorf, wie die unter dem weissen Kreuz ver- borgene Gewalt in der Schweiz, die aus- bricht gegen Aussenseiter und Rand- ständige, wobei sich in einer seltsamen Dialektik die Gefühle von Hass und Liebe, Gemeinschaft und Ausschluss, Normalität und Isolation entladen. Der Vampir streift und schweift durch die Wälder des Juras. Il «rôde» – ein Lieblingswort von Chessex. Dieses Schweifen der Lust schlägt jäh um in ein Jagen der Angst, die auch die blanken Knochen der Legenden «abnagt». So spielt der Autor mit Worten und Klän- gen, ja wenn man den Text selbst laut liest, beginnt die Sprache zu dröhnen, der Kiefer mahlt und hackt der jungfräu- lichen Sprache die Konsonanten hart in den vokalischen Leib, wie die spitzen Zähne eines Vampirs eben, der Blut saugt Es ist heiss, Adah und ihre Freundinnen treffen sich Bewusstsein der Sexualität fasziniert, das in den und der Grammatik das Rückgrat bricht, in ihrer Freizeit am See. Ein wunderbares Vergnügen, Mädchen erwacht, als vielmehr von den Nuancen, in genau zwischen Busen und Kopf. im Wasser Schwere und Leichtigkeit zu erleben. Die denen sie den Übergang von der Kindheit zum Erwach- Chessex selbst hat einen solchen Kie- Mädchen sind ganz bei sich, und doch ist da mehr, senwerden ausdrücken. Zwischen dem Selbstbewusst- ferknochen-Kopf, wie er ihn einmal im wenn Adah sich am Steg aufrichtet und den Blick zur sein der 8-Jährigen und der Fragilität der 13-Jährigen Buch «Les têtes» beim Entrecôte fres- Fotografin hebt. Lillian Birnbaum hat die Mädchen liegen fragende Blicke in den Spiegel, ersäufte senden Fletschen von Georges Bataille über mehrere Jahre begleitet. Die 1959 geborene Puppen im Plastikbeutel und Umarmungen der Freun- beschrieb. Jacques Chessex ist von Batail- Mode- und Porträtfotografin kennt die Wirkung von dinnen. «Transition» ist eine behutsame Annäherung le fasziniert, der das Sexuelle und Töd- Gesten und Blicken. Klischees sind schnell parat. an Augenblicke vor dem Erwachen. Gerhard Mack liche, Eros und Thanatos zusammen- Wie sie im Gespräch mit Doris von Drahten erzählt, Lillian Birnbaum: Transition. Hatje Cantz, Ostfildern brachte: Bataille erschreckte mit dem war sie bei diesen Bildern aber nicht so sehr vom 2008. 128 Seiten, 76 Abb., Fr. 52.–. 31. August 2008 XNZZ am Sonntag X9 Belletristik Roman Susan Choi lässt in ihrem dritten Buch eine Paketbombe an einer Universität detonieren. Spannung gewinnt das Werk dank psychologischen Einsichten Inszenierungen eines Professors

genen, aber fliessenden Sätzen um die Susan Choi: Reue. Aus dem Amerika ni- Details, während sie die Geschichte wei- schen von Annette Hahn. Aufbau, tertreibt. So rückt sie ihrem Professor so Berlin 2008. 480 Seiten, Fr. 35.90. nahe wie möglich und benennt mit beein- druckender Sicherheit die Schattierungen Von Nina Toepfer seiner Widersprüche und die Variationen der Angst. Dabei zielt sie sowohl ins Der Anschlag passiert gleich im ersten Innerste der Hauptfigur wie auch auf wei- Satz und setzt in Susan Chois neuem teres Personal (schnell und lebhaft ge- Roman eine einzigartige erzählerische zeich net: FBI-Agent Jim Morrison) oder Spannung frei. Die Bombe, per Post ge - auf Lees materielle Selbstinszenierungen liefert, tötet den Informatiker und aka- und präzise arrangierte Beiläufigkeiten, demischen Shootingstar Rick Hendley. etwa wie genau Lee den Türspalt zu sei- Die Wucht der Explosion erfasst auch nem Büro bemisst, der zu Sprechstunden dessen Büronachbarn Lee und wirft ihn einladen soll, ohne seine Studenten allzu – zwar un verletzt – zu Boden. Mehr aber aufdringlich um Gesellschaft zu bitten. er schüttert Lee ein Gedanke, der ihn In Rückblenden blitzt auch Lees Ver- durch zuckt, noch während die Wände gangenheit auf. Da ist Lee, der Immi- des Instituts wackeln: «Ah, wie gut.» grant aus Asien, der sich unter verschärf- Die 1969 geborene amerikanische ter Beobachtung fühlt; da sieht man den Schriftstellerin wurde mit ihrem vorhe- Studenten, dessen Clique sich für genial rigen Roman, «American Woman», 2004 oder sonstwie aristokratisch hält; da ver- für den Pulitzerpreis nominiert. Dieser folgt man den zweifach gescheiterten spielte vor dem Hintergrund der Saga von OUTLINE SIGRID ESTRADA/CORBIS Ehe mann, der mit der ersten Mrs. Lee Patty Hearst, der entführten Enkelin des Susan Choi, geboren ell teilzunehmen, gerät er auf dem Cam- nach Jahren noch immer imaginäre Ge- Medientycoons William Randolph Hearst. 1969, für den Pulitzer- pus, in der Nachbarschaft und in den spräche führt. In «Reue» ist nun ein Täter un terwegs, preis 2004 nominiert. nationalen Medien fast automatisch – Es ist so unterhaltsam wie aufwüh- der es auf kluge Köpfe abgesehen hat. aber zu Unrecht – unter Verdacht. lend, der Lösung des Falls zuzusehen Choi löst den Fall gekonnt, aber das Auf- Das allein böte hinreichend Stoff, Lee und gleichzeitig Chois Sätzen in die ver- regende an diesem Roman sind ihre psy- aus der Fassung zu bringen. Nur sind die steckten Winkel von Lees Selbsteinschät- chologischen Ermittlungen im Fall ihres schlimmsten Probleme, in die sich Lee zung und -täuschung zu folgen. Zum Protagonisten, des Mathematikers Lee. verstrickt, die inneren. Wie sehr trifft Schluss kommt Action auf, ein spektaku- Dabei sieht zunächst alles unspekta- ihn eine andere Schuld? Als unerwartete läres Aufgebot von Sonderkommandos kulär aus. Professor Lee, Mitte sechzig, Post von einem ehemaligen Freund ein- geht zur Überführung des Täters in Stel- schroff gegenüber sich selbst wie gegen- trifft, beginnt Lees Fassade zu bröckeln. lung. Es scheint, als befreie sich Lee sogar über seinen vielen möglichen Konkur- Die Vermutung, er selber stehe im von den Untoten seiner Vergangenheit. renten, ist auf Lebzeiten an einer Uni- Fadenkreuz des Attentäters, verdichtet Aber Choi lässt einen höchstens mit dem versität im amerikanischen Mittelwes- sich in seinen Gedanken zur Gewissheit: Gedanken spielen. Hingegen hat sie mit ten angestellt. Nun bringt ihm der In einem ausgeklügelten Racheakt soll der Figur des Professor Lee konkret und Anschlag zweifelhafte Berühmtheit. Als sein Leben zerstört werden. packend den Versuch geschildert, wie wichtiger Zeuge des FBI und weil er sich Choi entwirft in wenigen Sätzen ganze ein Mensch eine Sicht über sich selbst weigert, am offiziellen Trauerzeremoni- Welten. Sie kümmert sich in oft verschlun- gewinnt, die Bestand hat. L

Kriminalroman Martha Grimes spielt mit skurrilen Figuren und einem tierischen Inventar Mord in der Londoner High Society

existierenden Pubs und leben ebenso land-Yard-Chef regelmässig in den Sen- Martha Grimes: Inspektor Jury lässt die von gesellschaftskritischer Zeitgenos- kel stellt, zum tierischen Inventar. Puppen tanzen. Aus dem Amerikanischen senschaft wie von typisch britischem, In Grimes’ vorletztem Krimi, eben von Cornelia C. Walter. Goldmann, schwarzem Humor. Der melancholische jenem, wo Jury auf den Hund kommt, München 2008. 420 Seiten, Fr. 34.90. Protagonist Richard Jury wird unter- gesellte sich der hinreissende Hund stützt – in durchaus realistischen, manch- Mungo dazu, der neben Schrödingers Von Pia Horlacher mal geradezu brutalen Verbrechens- Katze und andern Theorien der Quanten- fällen – von einem exzentrischen Freun- physik eine Hauptrolle in einem mys- Falls Sie Martha Grimes noch nicht ken- deskreis, der Long Piddleton Clique, die teriösen Vermisstenfall spielt. Im letzten nen, lassen Sie sich auf keinen Fall von mit skurrilen Figuren und höchster und wieder etwas weniger verspielten den deutschen Titeln abhalten! Denn Komik glänzt. Jury-Roman lässt Grimes weder die seit über zwanzig Jahren garantiert die Und niemand kann Tiere besser inte- Stringtheorien des Wissenschaftlers Amerikanerin mit ihrer Inspektor-Jury- grieren beziehungsweise britische Tier- Niels Bohr noch irgendwelche «Puppen Reihe kluge und witzige Krimiunterhal- liebe ironisieren als Grimes, die den tanzen», dafür wird der Inspektor von tung. Wie ihre Landsfrau Elizabeth Tierschutz sowohl finanziell wie auch einem Blitzschlag getroffen – in der Per- George, mit der sie den Olymp der eng- mit einer soeben begonnenen neuen US- son seiner neuen Kollegin Lu Aguilar. lischen Grand Old Ladies of Crime um Krimiserie unterstützt. So gehören etwa Die leidenschaftliche Begegnung hält Barbara Vine und P. D. James teilt, lässt eine Ziege namens Aghast (deutsch: ent- das heimliche Liebespaar allerdings sie ihre Romane in England spielen. Sie geistert), ein Pferd namens Aggrieved nicht davon ab, einen Mordfall zu klären, erscheinen in jährlichem Rhythmus, (gekränkt) und natürlich der aggressive dessen Hintergründe bis in die Zeit des sind alle betitelt nach Namen von real Kater Cyril, der Jurys eingebildeten Scot- Zweiten Weltkrieges zurückreichen. L 10X NZZ am Sonntag X 31. August 2008 Tatsachenroman Ursula Krechel erzählt von jüdischen Emigranten aus Nazi-Deutschland in Shanghai – ernst, empathisch und humorvoll Die ferne Stadt, in der sich Schicksale kreuzten

Ursula Krechel: Shanghai fern von wo. Jung und Jung, Salzburg 2008. 500 Seiten, Fr. 50.90.

Von Stefana Sabin

In den zehn Monaten zwischen der Po- gromnacht vom 9. November 1938, als in Deutschland Synagogen und jüdische Geschäfte angezündet und Juden auf offener Strasse verprügelt wurden, und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 gab es für die ver- folgten Juden kaum noch ein Land, in dem sie Zuflucht fanden. In Europa war der politische Druck des Deutschen Reiches zu gegenwärtig, als dass sie auf- genommen worden wären; England und die USA behielten auch angesichts der Verfolgung ihre restriktive Einwande- rungspolitik bei. Ein Ort, wohin die Juden fliehen konnten, war Shanghai, die chinesische Hafenmetropole, die unter internationa- ler Verwaltung stand und kein Visum verlangte. Die Juden, die sich die Reichs- fluchtsteuer, die Judenabgabe und dann auch noch die Eisenbahnfahrkarte und die Schiffspassage leisten konnten, EUGENE HOSHIKO/AP nutzten diese eine Chance und flohen Juden feiern in der zurückgeht. Es ist ein Tatsachenroman, den «Shanghailänder». «Es hatten sich nach Shanghai. Etwa 19 000 Juden aus Ohel Rachel Synagoge der also auf tatsächlichen Ereignissen wohl nur Grossstädter getraut, nach in Shanghai die erste Deutschland und den angeschlossenen jüdische Hochzeit beruht. Dokumentarisches Material, das Shanghai zu reisen, um der provinzi- Gebieten kamen bis 1941 dort an. In nach 60 Jahren, März sie in jahrelangen beharrlichen Recher- ellen Erschütterung und Erbitterung der grösster Armut, unter ungewohnten kli- 2008. chen in deutschen und israelischen Nazis zu entgehen, das war (...) eine nie- matischen Bedingungen und trotz Archiven gesammelt hat, gestaltet Kre- derschmetternde Erfahrung.» zunehmenden Schikanen seitens der chel zu einem grossen Panorama der nazideutschen Konsularbehörden, die Emigrantenwelt von Shanghai. Sie Überlebensgeschichten über ihre japanischen Verbündeten beschreibt, wie die unheimliche Fremde Mit psychologischer Sorgfalt, doch ohne Zugriff auf die geflohenen Juden zu zur Notheimat aufgerüstet wurde; wie Psychologismus zeigt Krechel das Emi- bekommen versuchten, blieben diese eine Hausfrau aus Wien in einem chine- grantendasein in seinem ständigen schliesslich von der systematischen Ver- sischen Restaurant Apfelstrudel backt, Ge fühl der Vorläufigkeit und der Gefähr- folgung und Ermordung verschont. wie ein Buchhändler aus Berlin europä- dung und macht existenzielle Hoffnungs- Shanghai steht für ein Kapitel jüdi- ische Zeitungen vertreibt; wie ein Hand- losigkeit begreifbar. «Die schlechten scher Leidensgeschichte, das auch in schuhmacher aus Nürnberg einen klei- Nachrichten waren in der guten Nach- der überbordenden Holocaust-Literatur nen Lederwarenladen betreibt; wie ein richt verborgen, kleine Minen, die spä- nur selten zur Sprache kommt und dem- Kunsthistoriker aus Berlin mit chine- ter explodierten. Jede Nachricht war entsprechend wenig bekannt ist. Der sischen Aquarellen handelt. zunächst vornehmlich eine gute; gut neue Roman von Ursula Krechel schliesst «Ein Klein-Deutschland war entstan- war, dass sie kam, und weil sie kam, war also eine Lücke – und erschliesst in den mit Werkstätten, Lebensmittelläden sie willkommen. Liess man sie lange einem kunstvollen dokumentarisch- und Cafés», heisst es in dem Buch, in genug auf sich wirken, verwandelte sich dramatischen Gewebe eine Welt, die welchem sich Bericht, Kommentar und jede Nachricht in eine schlechte, bis die fern und vertraut zugleich ist. Erzählung souverän abwechseln. Dabei nächste gut erscheinende Nachricht bleibt der Ton immer angemessen: ernst, kam, die sich bei genauerem Hinsehen Die Shanghailänder aber nie belehrend, emphatisch, aber nie vielleicht wieder in eine schlechte Nach- «Nach Shanghai.» «Was? So weit?» bemitleidend, humorvoll, aber nie iro- richt verwandelte.» «Weit von wo?» – Diesem Dialog zwi- nisch. Historische Reflexionen und nar- Krechel erzählt Lebensgeschichten schen zwei Juden beim Aufbruch in die rative Episoden ergänzen sich gegensei- als Überlebensgeschichten, und es ist Emigration, den Salcia Landmann als tig, und allgemeine Weltgeschichte wird die kontrollierte Einfachheit ihrer Erzäh- beispielhaft für den melancholischen als singuläre Lebensgeschichte nach- lung, die den Schrecken des Berichteten jüdischen Humor zitiert und damit vollziehbar. Vor dem Hintergrund eines erträglich macht. Ihr Tatsachenroman berühmt, ja sprichwörtlich gemacht hat, grossangelegten Sozialgemäldes nimmt ist von einem Ernst durchdrungen, dem hat Krechel den Titel ihres Romans ent- Krechel einzelne Lebensfäden auf und die Geduld der Sache gegenüber ebenso nommen: «Shanghai fern von wo». Der verfolgt und verknotet sie, so dass anzumerken ist wie der Wille zur Form. Roman fusst auf einem gleichnamigen Shanghai eine Stadt wird, in der sich Krechel zeigt, wie historisches Einfüh- Hörspiel von 1998, das seinerseits auf Schicksale kreuzen: aus Berlinern, lungsvermögen und dichterische Kraft die Hörfolge «Fluchtpunkte» von 1996 Frankfurtern, Breslauern, Wienern wer- sich gegenseitig steigern können. L 31. August 2008 XNZZ am Sonntag X11 Belletristik Kurzkritiken Belletristik Das Buchereignis Gerhard Polt: Drecksbagage. Bühnen- Heinz Janisch: Der König und das Meer. Monologe. Illustrationen von Reiner Zimnik. 21 Kürzestgeschichten. Illustrationen v. Wolf des Jahres Kein & Aber, Zürich 2008. 119 Seiten, Fr. 23.90. Erlbruch. Sanssouci, 2008. Unpag., Fr. 19.50.

Vom Autor des Bestsellers »Der Medicus«

Eigentlich muss man den bayrischen Eher für das höhere Alter ist dieses Kabarettisten Gerhard Polt sehen und bezaubernde Buch des österreichischen hören. Seine «Anwürfe, Unterstellun- Kinderbuch-Autors Heinz Janisch und gen, aber auch Ehrabschneidungen» – des vielfach preisgekrönten Illustrators so der Untertitel seiner neuesten Samm- Wolf Erlbruch. 21 Mal trifft der kleine lung von Bühnen-Monologen – sind König auf Naturkräfte, Tiere und Dinge, indes selbst in gedruckter Form ein hel- die sich von seinen menschlichen Macht- les Vergnügen. Einmal mehr schlüpft ansprüchen nicht beeindrucken lassen, Polt in verschiedene Rollen und entlarvt weder das Meer noch der Hund noch die Überzeugungen seiner Figuren, in- die Vögel in der Baumkrone noch die dem er sie mit Nachdruck vertritt. So Trompete noch das Fischernetz. Ohne beschaut er bei einem Obatztn, einer fri- den moralischen Zeigefinger zu heben, schen Brezn und einem Weissbier die sind diese kleinen Sinn- (und vielleicht schneebedeckten Berge und grünen auch Unsinn-)Dialoge unaufdringliche Matten seiner Heimat, hört die Kuh- und Denkanregungen. «Wie geht es dir?», Kirchenglocken, betrachtet den weiss- fragt der König zum Beispiel einmal das blauen Himmel und kommt zum Schluss: Buch. «Das frage ich dich schon die «Ein Neger passt da einfach nicht hin- ganze Zeit», kommt es prompt zurück. ein! Dass wir uns nicht missverstehen! Erlbruchs reduzierte Illustrationen sind Ich mein’s, wie ich’s gesagt hab. Rein dabei kleine Bildphilosophien für sich, farblich. Von der Farbkomposition her. die im Gleichtakt mit dem zurückhal- Wir Bayern, wir sind ein äusserst kunst- tenden Ton der Sprache schwingen. Was sinniger Menschenschlag.» für ein beglückendes Büchlein. Manfred Papst Regula Freuler

Heidi. Nach Johanna Spyri. Erzählt von Federico Garcia Lorca: Die Gedichte. Peter Stamm. Mit Bildern von Hannes Binder. Span./Deutsch, ausgewählt von Enrique Beck. Nagel & Kimche, Zürich 2008. 48 S., Fr. 29.90. Wallstein, 2008. 2 Bände. 748 Seiten, Fr. 82.90.

Deutsch von Klaus Berr «Ein grosses, kräftig aussehendes Mäd- Die Garcia-Lorca-Übersetzungen des 496 Seiten | sFr 34,90 chen» sei diese 5-Jährige, die, in mehrere Hannoveraner Werbefachmanns Hein- Auch als Hörbuch bei Random House Audio. Kleiderschichten eingehüllt, an der Hand rich (Enrique) Beck (1904–1974), der Gelesen von Christian Brückner. ihrer Tante den Berg hinaufstapft. Auf 1934 als Jude vor den Nationalsozialisten seiner «sonnverbrannten, völlig brau - nach Spanien floh und später in Basel nen Haut» glühen rote Wangen. Kaum lebte, waren lange Zeit ohne Alternative, mehr verrät Johanna Spyri über das Äus- da Beck sich die Übersetzungsrechte Eine mitreißende Mischung sere der kleinen Heldin, dieses Wunders von den Erben des Dichters hatte absi- aus Spannungsroman, an Naturverbundenheit und Reinseelig- chern lassen. Seine Übertragungen sind Familiengeschichte, keit. Stilbildend für Film- und andere zwar skrupulös und genau, aber auch auf Adaptionen waren bis heute meistens einen hohen, romantisch-pathetischen Liebesdrama die frühen Illustrationen, die einen dunk- Ton gestimmt. Über ihren Rang lässt und Historienepos. len Lockenkopf zeigen. So auch für den sich deshalb trefflich streiten. Eine soli- Zürcher Illustrator Hannes Binder, der de Basis dazu liefert der Wallstein-Ver- zur Nacherzählung des Schriftstellers lag mit der vorliegenden Edition. Sie Peter Stamm keine wirklich neuen Bil- präsentiert Becks Übersetzungen erst- der, vielmehr eine neue optische Atmo- mals in einer zweisprachigen Ausgabe. sphäre hinzufügt. Die dunkel stimmende Wo der Übersetzer sich vom Original- Schabkartontechnik wird mit dezent text entfernt, wird dies in Fussnoten ver- gehaltenen Farben ergänzt. Stamm ver- merkt. Nachwort, Anmerkungen, Glos- knappt stark, leider ohne Gewinn, für sar und Register sind enorme Lesehilfen. «Heidi»-Frischlinge, wohl aber ohne Ein Rätsel bleibt indes, weshalb die Edi- Verlust. Alle anderen halten sich länger tion «Die Gedichte» heisst, obwohl es und lieber bei den Bildern auf. sich um eine Auswahl handelt. Regula Freuler Manfred Papst 12X NZZ am Sonntag X 31. August 2008 Kolumne Charles Lewinskys Zitatenlese Kurzkritiken Sachbuch

Wundere dich nicht, Michael Schroeder: Sappho von Lesbos. Christiane Hoffmann: Hinter den wenn sich dein Autor in Biografie. Artemis & Winkler, Düsseldorf Schleiern Irans. Dumont, Köln 2008. den Tagen des Erschei- 2008. 200 Seiten, Fr. 34.90. 320 Seiten, Fr. 35.90. nens seines Buches wie eine schwangere Frau benimmt und der Meinung ist, dass mit dem Stichtag des Erscheinens seines Buches eine neue Zeitrechnung beginnt. Ernst Rowohlt GAËTAN BALLY / KEYSTONE / KEYSTONE BALLY GAËTAN Charles Lewinsky, 62, ist Schriftsteller, Können Sie mir helfen, Herr Doktor? Radio- und TV-Autor Ich dachte, ich sei geheilt, und über- und lebt in Frankreich. haupt, das letzte war ein so dickes Buch, «Ist es nicht vermessen, rekonstruieren Christiane Hoffmann lebte von 1999 bis Sein neues Buch «Zehnundeine Nacht» und da ist es doch begreiflich, dass man zu wollen, was ein anderer Mensch in 2004 als Journalistin und Frau des ist gerade bei Nagel & einige leichtere Symptome ... Okay, einer anderen Zeit (...) erlebt, getan und schweizerischen Botschafters in Tehe- Kimche erschienen. schwere Symptome. Wenn das in gedacht hat?» Nein, vermessen wäre es ran. Sie lernte in dieser Zeit Persisch, meiner Krankenakte so steht, wird es nicht, würde man dem Produkt die kor- gebar zwei Töchter und besiegte eine wohl stimmen. rekte Bezeichnung verpassen: vielleicht heim tückische Krankheit. In ihrem Buch Aber ich dachte wirklich, es sei vor- Roman biografie. Michael Schroeder schildert sie die zunehmende Verunsi- bei. Nach einem so schweren Anfall aller dings bezeichnet sein Buch kurz als cherung einer westlichen Frau in einem wie beim letzten Mal müsste man doch Biografie und weckt damit falsche muslimischen Land, ihre Versuche, sich eigentlich immun werden, habe ich Erwartungen. Eine Biografie der Sappho anzupassen und gleichzeitig die herr- gemeint. Aber jetzt hat es wieder ange- von Lesbos kann es kaum geben, weil schenden Zwänge, zum Beispiel in der fangen. Genau so heftig wie damals. von Leben und Werk dieser Dichterin Kleider frage, zu unterwandern. Sie be- Oder sogar noch schlimmer. fast nichts bekannt ist. Schroeder muss schreibt, wie sich beispielsweise ihr Die Symptome? Dieses Kribbeln und also die mageren Fakten mit viel Erfun- Schamgefühl verändert und sie die euro- natürlich der unwiderstehliche Zwang, denem garnieren. Dass er keine Zeitrei- päische «Nackt heit» zunehmend als durch wildfremde Buchhandlungen zu se antreten konnte, um seiner Dichterin Provokation empfindet. Letztlich geht streifen und ganz unauffällig nachzu- näherzukommen, sei ihm verziehen. es ihr immer um die Frage, «wie man sehen, ob das Buch schon ausliegt. Dass er es aber nicht für nötig hielt, zugleich die Universalität bestimmter Kann man da wirklich nichts dagegen wenigstens den Schauplatz ihres Lebens, Prinzipien aufrechterhalten und die machen, Herr Doktor? die Insel Lesbos, zu bereisen, um den unterschied lichen Welt- und Menschen- Eine Erkältung habe ich mir auch «genius loci» zu erspüren, um zu erfah- bilder der Kulturen respektieren kann». geholt. Doch, Herr Doktor, das hat ren, was Sappho sehen und wahrnehmen Ein sehr einfühlsames und eindrück- schon etwas damit zu tun. Weil es doch konnte, bleibt unverständlich. liches Buch. so kalt war und geregnet hat, als ich Geneviève Lüscher Geneviève Lüscher morgens um vier im Pyjama vor dem Briefkasten stand und auf den Zei- Christoph Dejung: Widerspruch. Dietmar Grieser: Die guten Geister. tungsausträger wartete. Er kam aber Auch eine Schweizer Geschichte seit 1945. Sie dienten den Grossen: Köchin, Butler, Se- erst um halb sechs. Und eine Bespre- Huber, Frauenfeld 2008. 272 Seiten, Fr. 39.80. kretär. Amalthea, Wien 2008. 272 S., Fr. 36.–. chung war dann auch nicht im Blatt. Was soll das heissen: «zu früh»? Man kann doch wohl erwarten, dass die Zeitung schon um vier Uhr ... Ah, Sie meinen: «zu früh für eine Kritik»? Weil mein neues Buch doch noch gar nicht richtig erschienen ist? Also, das finde ich überhaupt nicht. Wenn der Verlag die Leseexemplare per Express verschickt hat, und wenn der Kritiker das Buch sofort aus dem Umschlag genommen und noch am selben Tag Ein pensionierter Zürcher Gymnasial- Es ist ein Buch in der Art von «100 gelesen und dann auch gleich seine lehrer, der sich mit Ketzerei und Provo- Schauplätze der Weltliteratur»: das Ma- Kritik geschrieben hat ... Wieso unrea- kationen befasst, schriftstellerisch ambi- terial aus Biografien zusammen getra- listisch? So lang kann es doch nicht tioniert ist und 1400 Diensttage auf dem gen, mit Anekdoten angereichert und dauern, ein paar Adjektive wie «wun- Buckel hat – das ist Christoph Dejung leichthändig verfasst. Der österrei chi- derbar», «einmalig» oder «meister- (65), vom Verlag als «unbequemer His- sche Spurensucher Dietmar Grieser, haft» in den Computer zu tippen. Man toriker aus den Bündner Bergen» prä- Autor mehrerer solcher Werke, stellt kann doch wohl erwarten, dass ... sentiert. Sein Versuch, die Schweizer hier 30 vorwiegend weibliche «Perlen» Ach so, Herr Doktor, Sie meinen, Geschichte seit 1945 umzudeuten, wirkt im Dienst von Prominenten vor: das sei schon wieder so ein Symptom. über weite Strecken originell und eröff- Köchinnen, Butler, Zofen und Faktoten, Wie der Zwang, alle Viertelstunden net durch kühne Gedankensprünge neue die den Berühmtheiten das Leben er- beim Verlag anzurufen und darum zu Einsichten und Zusammenhänge. Immer leichterten. Nicht alle waren froh darü- bitten, dass man die ganze erste Auf- wieder aber versteigt sich der Polemiker ber: Beethoven schimpfte sein Hausper- lage einstampft und neu druckt, weil zu zynischen Auslassungen über ver- sonal «Bestien», und Goethe behandelte mir gerade für Seite 112 eine viel bes- meintliche Hinterwäldler und politische sein Dienstmädchen schäbig. Wo hin- sere Formulierung eingefallen ist. Oder Gegner, schnitzert auch mal bei den Fak- gegen Dostojewski und Alfred Polgar die Manie, alle zehn Minuten den eige- ten (wenn er die Ermordung des «sow- von ihren Sekretärinnen schwärmten. nen Namen zu googeln. jetrussischen Ministers Morowski» statt Und amüsiert liest man, dass die Haus- Ja, mit Baldrian habe ich es probiert. des Diplomaten Worowsky erwähnt), hälterin von Papst Pius XII., «La Tedes- Ohne Erfolg. Ich habe sogar versucht, und sein Urteil trieft oft von Kulturpessi- ca», derart herrschsüchtig war, dass es meine Nerven mit gros- mismus. Als Einstiegslektüre in die Nach- selbst dem Heiligen Vater manchmal zu sen Mengen Schoko- kriegsgeschichte ist das Buch kaum bunt wurde. Die hübschen Miniaturen lade zu beruhigen. geeignet, als Ergänzung zu einer konven- bilden eine kleine Soziologie des Dienst- Jetzt habe ich auch tionellen Darstellung jedoch anregend. personals der Grossen der Welt. noch Verstopfung. Urs Rauber Urs Rauber 31. August 2008 XNZZ am Sonntag X13 Essay Die Vorlesungen von Peter von Matt waren Ereignisse. Jung und Alt strömte in die Hörsäle der Uni Zürich, um den Schlüsselherrn der Bücherschatzkammer zu hören, erinnert sich Franz Hohler Spracherheller und Wortprophet

Als sich die Türen der Aula öffnen und die ers- Zusammenhangsmagier, den nun die Pensio- ten Studenten der Vorlesung über das Völker- nierung eingeholt hat und der heute zum letz- recht herauskommen, sind sie in keiner Weise ten Mal vor seiner Anhängerschaft in der Aula auf den Auflauf im Gang vorbereitet. Zu den der Universität auftritt. Türen herein flutet nämlich, ohne jeden Respekt Die grosse Leinwand ist heruntergelassen, vor denen, die noch hinaus möchten, ein Volk über den Prokischreiber wird darauf die Nach- von Ergrauten, Anständigen, Gepflegten, Map- richt projiziert, dass die Vorlesung auch in den pen- und Handtäschchentragenden, welches Hörsaal 108 übertragen wird, sogar mit Video, nun die Stühle des Saales besetzt, bevor sie und abwechselnd ermahnen Assistentinnen die noch ganz geräumt sind. Menschen, die bereits keinen Platz mehr haben Gilt dieser Auflauf tatsächlich E.T.A.Hoff- und die Fluchtwege zu überschwemmen begin- mann, dem Vater der phantastischen Literatur? nen, doch bitte ins andere Auditorium zu gehen, Nein, er gilt dem Professor der Germanistik, und nach einer Weile trifft die Botschaft ein, dem Wortmächtigen, dem Spracherheller, dem auch das andere Auditorium sei nun voll und es sei zusätzlich eine Übertragungsmöglichkeit in den Hörsaal 121 geschaffen worden. Franz Hohler Trotzdem ziehen es viele vor, dem Meister stehend zu lauschen, an eine Wand gelehnt oder auf einem Sims sitzend oder, wie vor allem die jungen Leute, die noch wirklich studieren, Der Literaturwissenschafter und Germanist Peter von auf dem Boden hockend. Käme jetzt jemand Matt hält am 1. Juli 2002 seine letzte Vorlesung in der Aula der Universität Zürich. von der Feuerpolizei, die Veranstaltung fände nicht statt. mutet, was das mit E.T.A.Hoffmann zu tun Aber stattdessen betritt von Matt den Saal, in habe. Danach springt er das Thema seiner Vor- blauem Jackett und weissem Hemd, aber ohne lesung regelrecht an, indem er darauf hinweist, Krawatte, und wird mit Applaus empfangen, dass die Protagonisten Hoffmanns nie gehen, und als er leichten Schrittes die marmorne sondern immer rennen, hüpfen, Haken schla- Pultkanzel ersteigt, seinen Lehrstuhl sozusagen, gen, stolpern, herumhühnern. Während er das wird hinter ihm die Leinwand hochgezogen, sagt, fallen mir über den Türen die beiden ren- und es erscheint ein riesiges Fresko, das junge nenden grünen Männlein auf dem Notaus- KEYSTONE Frauen in togaähnlichen Gewändern zeigt, die gangssignet auf. Der in Olten aufgewachsene Franz Hohler, geb. sich zusammen mit halbnackten Burschen in Und nun lädt uns von Matt zu einem Rund- 1943, tritt seit den sechziger Jahren als Musik- einer Waldlichtung versammeln, als hätten gang durch die Schatzkammer ein, und wenn er Kabarettist im In- und Ausland auf. Für seine auch sie keinen Sitzplatz in der Vorlesung ge- die Vorräte darin schildert, ist eine unglaubli- Gedichte, Theaterstücke und belletristischen funden. che Verheissung in seiner Stimme; Freunde, Bücher erhielt er zahlreiche Preise, zuletzt den Und wenn nun von Matt zu sprechen anhebt scheint er uns zuzurufen, da drin gibt’s etwas Salzburger Stier für sein Lebenswerk. Sein und leicht vorgebeugt ins Mikrofon spricht, zu holen, wer Augen hat zu sehen, dem werden Roman «Es klopft» stand monatelang auf der wirkt er fast gnomenhaft vor den überlebens- sie übergehen von all dem Schimmern und Glit- Bestsellerliste. Franz Hohler lebt als Schrift- grossen allegorischen Figuren in seinem zern des menschlichen Geistes, und er erzählt steller, Kabarettist und Liedermacher in Zürich Rücken, aber er verfügt über eine Schatzkam- uns, was Herder über den Unterschied des Oerlikon. – Sein neues Buch, «Das Ende eines mer, über die Schatzkammer der Literatur, und Menschen zum Affen geschrieben hat, wie er ganz normalen Tages» (Luchterhand, 140 Seiten, er klimpert zunächst mit den Schlüsseln, spricht den Menschen als den ersten Freigelassenen Fr. 31.90), enthält amüsante und nachdenkliche über das Gehen und dass es in der Literatur der Schöpfung bezeichnete und was Newtons Geschichten, u. a. den Essay über Peter von Matt, immer etwas bedeutet, wie jemand geht, sei es physikalische Erkenntnisse für das menschliche den wir hier als Vorabdruck publizieren. Das ein Stifterscher Wanderer oder ein Walserscher Denken wirklich bedeuteten und wie auf dem Buch ist ab 4. September im Buchhandel. Spaziergänger oder seien es Gerhard Meiers Höhepunkt der endlich gewonnenen Klarheit Baur und Bindschädler, und fragt dann unver- über das Planetensystem und das Wirken der 14X NZZ am Sonntag X 31. August 2008 WALTER BIERI/KEYSTONE WALTER physikalischen Kräfte, der Entzauberung der Daumen und einem Zeigefinger, wir halten Oken die Augenbrauen angehoben, als von Natur somit, auf einmal der phantastische einen Ellbogen mit einem Arm, wir richten Newton die Rede war, und hat nicht Karl Moser Roman auftaucht, als Gegengewicht, als Nach- unsere Ohrmuscheln mit der Hand nach vorn, genickt, als von Matt die Metropolen erwähnte ruf auf das eben Begrabene, als plötzliche damit uns kein Wort entgeht, und wir schreiben und ihre grosse Bedeutung in der französischen Sekunde des Zweifels, und wie in Newtons aus- Sätze mit, Zitate, Formulierungen, die wir fest- und englischen und ihre geringe Bedeutung in geleuchtetes Weltbild schwarze Sonnen hinein- halten möchten, auf Papier, das bereits gelocht der deutschen Literatur? zuscheinen beginnen, aus dem, was Jean Paul ist, damit es sofort einem Ordner anvertraut Die vordersten beiden Konsolen sind noch das innere Afrika des Menschen nannte, und werden kann, auf linierte und unlinierte A4- leer, eine davon sollten wir für ihn reservieren, in wir sitzen, stehen oder kauern und schicken Blätter, auf kleine, gehäuselte Notizblöcke, auf der Hoffnung, sie werde noch lange leer bleiben, unsere Gedanken ihm nach, wir stützen die die Rückseite von ausgedruckten Zugsverbin- denn er hat uns alle verzaubert, der Schatzmeis- dungen, denn wir möchten ja etwas mit nach ter aus der Innerschweiz, der Wortprophet vom Hause nehmen von der Schatzkammer des Stanserhorn mit seinen literarischen Lockrufen. «Auch die in Bronze menschlichen Geistes, dessen Kustos uns durch Und irgendeinmal, als er von den unwahr- seine Brillengläser immer wieder so anschaut, scheinlichen Begebenheiten spricht, schaue ich gegossenen Köpfe auf den als seien wir persönlich gemeint, denn er meint zur Decke und sehe hoch über ihm den dicken, Marmorkonsolen an den es gut mit uns, er öffnet uns die Türen, er heisst schweren Lautsprecher hängen, und ich bin uns eintreten in das funkelnde Geisteshaus, und froh, dass die Newtonschen Gesetze so lange in Wänden hören zu, hat nicht wir neigen die Köpfe, noch etwas unentschlos- Kraft bleiben, bis er am Schluss mit den Worten sen, in unsern Anzügen, in unsern Deux-Pièces «Das wär’s de gsi» sein Manuskript in die sogar Otto Nägeli den Kopf und in unsern T-Shirts, auf denen «Festival» Mappe packt, sich verbeugt, die Hände für den etwas gedreht?» steht oder «Sex Pistols», und wenn wir nicht entgegenbrandenden Applaus ausbreitet wie alle gleichzeitig eintreten können, dann hören ein Schauspieler und dann federnd die Kan- wir doch zu, auch die in Bronze gegossenen zeltreppen hinabsteigt und den grossen Blu- Köpfe in die Hände, wir halten den Zeigefinger Köpfe auf den Marmorkonsolen an den Wän- menstrauss mitzunehmen vergisst, der die an die Nasenwurzel, wir drücken die Finger vor den hören zu, hat nicht sogar Otto Nägeli den ganze Zeit für ihn auf dem Pult lag und ihn halb die Stirn oder pressen die ganze Stirn in die fla- Kopf etwas gedreht, als von Matt vom Kapell- verdeckte und den er, ergriffen und gepackt von che Hand, dass es uns die Frisuren nach hinten meister Hoffmann und seiner Zeichnung des der Schilderung seiner Schätze, gar nicht gese- sträubt, wir umrahmen die Lippen mit einem Geigers Kreisler sprach, und hat nicht Lorenz hen hat. L 31. August 2008 XNZZ am Sonntag X15 Sachbuch

Neue Weltordnung Der amerikanische Politologe Robert Kagan sieht in den aufstrebenden Staaten Russland und China die gefährlichsten Herausforderungen für den Westen. Hunger und Klimawandel sind dagegen kein Thema im Buch des Neokonservativen Weltpolitik als grosses Spiel

Der Weltfrieden schien in greifbarer Die USA setzen auf Robert Kagan: Die Demokratie und ihre Nähe, so wie ihn sich Kant im «Traktat den Triumph von Feinde. Wer gestaltet die neue über den ewigen Frieden» vorstellte: Markt und Demo kra- tie: Kinder im Weltordnung? Siedler, München 2008. «Denn es ist der Handelsgeist, der mit 127 Seiten, Fr. 30.90. «American Dream dem Kriege nicht zusammen bestehen Park» in Schanghai. kann.» Von Dieter Ruloff Alles blauäugige Illusion der Euro- päer, so Kagan. Aber diese stammen Robert Kagan gilt als einer der einfluss- nach einem oft zitierten Ausspruch des reichsten strategischen Denker der USA. Autors ja ohnehin von der «Venus», wäh- Zusammen mit William Kristol gründete rend die USA als Macht vom «Mars» mit Kagan 1997 das Project for the New den notwendigen militärischen Mitteln American Century (PNAC), ein Netz- Sicher heit auch für die Europäer schaf- werk von Neokonservativen, die nach fen. Wie sagte damals Georgi Arbatow, der Wahl George W. Bushs zum US-Prä- der Berater Gorbatschews in den Zeiten sidenten grossen Einfluss auf dessen des Umbruchs: «Wir werden euch, dem Aussenpolitik gewannen, namentlich Westen, das Schlimmste antun, das man über Mitstreiter Kagans wie den vorma- einem Gegner antun kann: Wir werden ligen US-Verteidigungsminister Donald euch euren Feind nehmen.» Rumsfeld. Diese Zeiten sind vorüber, wir haben Das neueste Werk Kagans liegt nun wieder Feinde, so Kagan, und was für auch in deutscher Sprache vor, wobei welche! Es sind im Wesentlichen die der Verlag den Originaltitel «Return of «Autokratien» in Russland und China, History and the End of Dreams» in «Die mit denen sich die Demokratien in Demokratie und ihre Feinde» geändert einem Wettbewerb be finden, darüber hat. Die Übersetzung hat ihre Logik, hinaus natürlich Iran, Nordkorea und denn die Adressaten der Analyse sind der radikale Islam. Letzterem gibt Kagan Europäer nichtenglischer Sprache. Kagan aber keine Chance auf Erfolg. Ein Iran will sie von einer politischen Illusion mit Nuklearwaffen hingegen würde die heilen und gleichzeitig für eine grosse Machtgleichung im Nahen Osten kom- Idee begeistern – das Ganze etwas à plett verändern. contrecœur, weil Kagan den Europäern üblicherweise selbstverschuldete Irrele- Konventionelle Analyse vanz attestiert. Nun brauchen die USA Das eigentliche Problem für Kagan sind aber Europa – eine neuere Einsicht der aber nicht Nordkorea, der Iran und die Neokonservativen, nachdem deren The- Weiterverbreitung von Nuklearwaffen, sen vom unipolaren, quasi amerikani- sondern die vermeintliche Herausforde- schen Zeitalter und von den grossen, rung des Westens durch Russland und unilateralen Handlungsspielräumen der China. Einstweilen vermag die amerika- USA mit dem Irak-Debakel an Plausibi- nische Hegemonie dem Machtstreben lität verloren haben. dieser «Autokratien» noch Paroli zu Kagan beginnt mit einem Rückblick bieten; auf längere Sicht jedoch brauche auf die 1990er Jahre und dem, was zu es mehr, und zwar eine Liga der Demo- deren Beginn als bevorstehendes «Ende kratien, um der wachsenden Macht der der Geschichte» (Francis Fukuyama) Feinde von Freiheit und Demokratie Ein- propagiert wurde: Schluss mit den gros- halt zu gebieten – eine Idee, die Kagan sen ideologischen Konfrontationen, zu- als Berater dem republikanischen Präsi- letzt jener zwischen Ost und West; dentschaftskandidaten McCain bereits Triumph von Markt und Demokratie; schmackhaft hat machen können. wirtschaftlicher Wettbewerb auf globa- Insgesamt bietet Kagan eine sehr lisierten Märkten, dank «unsichtbarer konventionelle, klassisch-realistische Hand» zum Wohle aller; wachsender Analyse der aktuellen Lage, ganz im Wohlstand statt militärischer Rivalität. Stile des grossen realistischen Denkers 16X NZZ am Sonntag X 31. August 2008 Hans Morgenthau, für den «internatio- nale Politik… wie alle Politik ein Kampf um die Macht» bleibt. Vorwärts in die Vergangenheit heisst Kagans Devise, wobei das 20.Jahrhundert schlicht über- sprungen wird und der Leser sich ana- lytisch im 19.Jahrhundert wiederfindet. Diesen Eindruck bestätigt Kagan dann auch explizit, wenn er in der aktuellen Mächtekonstellation «eine Wiederbe- lebung des neunzehnten Jahrhunderts» sieht. Geschichte ist hier Staatsaktion, Erklärungen verlaufen nach dem «alten Modell nationaler Ambitionen». Vis- count Palmerstone, britischer Premier aus der Mitte des 19.Jahrhunderts, wird mit seinem Ausspruch zitiert, Staaten hätten keine Freunde, sondern bloss Interessen, und diese seien unbeirrbar zu verfolgen. Die Mächte dieser Welt sind gemäss Kagan wieder mit dem beschäftigt, was die Briten im 19.Jahrhundert als great game, Grosses Spiel, bezeichneten, dem Anhäufen militärischer Macht, dem Schachern um Ländereien, Rohstoffe, Einfluss, Kontrolle von Meerengen und Verbündeten: Der Feind meines Feindes ist mein Freund! Weltpolitik ist ökonomisiert Funktioniert die Welt des beginnenden 21.Jahrhunderts wirklich in dieser Weise? Haben wir es mit einem neuen Grossen Spiel zu tun, einer Rückkehr des 19.Jahr- hunderts? Wohl kaum. Weltpolitik hat auch heute ihre grossen Risiken, aber sie funktioniert über weite Strecken doch anders. Russland und China sind keine Demokratien, und selbstverständ- lich betreiben sie Interessenpolitik, wie gegenwärtig im Kaukasus zu sehen. Aber die Regierenden dieser Länder können auch nicht tun und lassen, was sie wollen. Wie Louis-Philippe I. einst die Bürger Frankreichs mit dem «Enrichez- vous» bei Laune hielt und damit fern von der Politik, so stehen und fallen die Regimes in Russland und China mit dem wirtschaftlichen Erfolg ihrer Politik. Weltpolitik ist heute ökonomisiert, die Globalisierung hat hier ganze Arbeit geleistet. Und so weiss man auch in Russ- land und China, dass wir alle im selben Boot sitzen. Staaten wie Nordkorea und der Iran sind sicherlich in der Lage, dieses zum Schaukeln zu bringen. Am Ende überwiegt aber wohl das Interesse der Staatengemeinschaft insgesamt, das Boot nicht kippen zu lassen. Russland und China sind ebenso wenig an einem nuklearen Iran interessiert wie die übri- gen Staaten der Region, die Europäer und die USA. Darüber hinaus sind es globale Probleme ganz anderer Art und Dimen- sion, die heute Sorgen bereiten: Energie- versorgung, Hunger, Klimawandel und Weltkonjunktur – alles Fragen, die man in Kagans Buch vergeblich sucht. Mehr Zusammenarbeit der Demokratien in diesen Fragen wäre sinnvoll. Aber hier müssten zunächst einmal die USA mit gutem Beispiel vorangehen. L Dieter Ruloff ist Professor für internationale Beziehungen und Leiter des Instituts für Politikwissenschaft der

MARTIN PARR/MAGNUM PHOTOS PARR/MAGNUM MARTIN Universität Zürich. 31. August 2008 XNZZ am Sonntag X17 Sachbuch Dokument vonNäheundSchrecken tete HitlerbeimSpaziergang, besorgte den ichkannte». Rochus Mischbeglei- rer», sondern «dereinfachste Mensch, schnittlicher Mensch war, kein «Füh- teur, derimAlltageinhöchstdurch- Nähe zueinemweltgeschichtlichen Ak nichts mitbekommen zuhaben. gen) behaupteten, von denGreueln Ausnahme von Wehrmachtsangehöri stehen, warum sovieleDeutsche (mit seltsamen Ferne ab. Manbeginntzuver- dieses Buchklar–spielten sichineiner Grausamkeit derLager –dasmacht Krieges, das Sterben anderFront, die sprechungen. DochderSchrecken des fonaten, Kurierberichten und Lagebe- Führerhauptquartier inForm von Tele- landflug –fanden ihren Niederschlag im derlage inStalingrad, Rudolf Hess’ Eng- nisse –dieWannsee-Konferenz, dieNie- erlebt», sagt er. All die grossen Ereig- tender Mann,aberhabe Bedeutendes kellosen Sätzen. «Ich bineinunbedeu- teten –ineinfachen, direkten, schnör- jahre ausderPerspektive einesBediens- die Geschichte derletzten fünfKriegs- Der 1917 geborene Rochus Mischerzählt Hitler ganznah die Handgeben». sollte erihmbegegnen, «ohneZögern seinem Vorwort, würde erdiesemMann, bunker. Trotzdem, schreibt Giordano in Hitler. BiszumUntergang imFührer- Leibwächter undTelefonist von Adolf Mann abMai1940 DienstalsKurier, rers. Dortleistete der1,85Meter grosse Macht kam, zurLeibstandarte desFüh- einer Kriegsverletzung insZentrumder nie Mitglied derNSDAP war undnach tischen Wehr lebender, dieAufrichtigkeit desunpoli- Ralph Giordano, einHolocaust-Über- noch anerkennt derdeutsche Publizist die Nachkommen derOpfer. Und den- tig war.» Chef unddemmeinWohlergehen wich- kenne HitlernuralsMensch, dermein dennoch wahren Satz schreibt: «Ich haben will? Und derdenunglaublichen, KZ undderJudenvernichtung erfahren nichts von seinenVerbrechen, von den bedient undumsorgt hatunddennoch Seite Hitlers gelebt, diesenbeschützt, nik einerPerson, diefünfJahre ander Ratlosigkeit aus.Wie liestmandieChro- Lektüre löstFaszination, aberauch Was füreinirritierendes Buch.Seine Von Urs Rauber 335 Seiten, Fr. 35.90. Giordano. Pendo, Zürich2008. gall. MiteinemVorwort von Ralph Sandra Zarrinbal undBurkhard Nachti Leibwächter». Unter Mitarbeitvon «Ich war Hitlers Telefonist, Kurier und Rochus Misch:Derletzte Zeuge. Greuel inseltsamerFerne Zweiter Weltkrieg 18 X NZZ amSonntag Faszination erzeugt dieräumliche Solche Sätze schmerzen. Vor allem machtsoldaten Misch,der X 31. August 2008 DieGeschichtevonHitlersLeibwächterRochusMischisteinfaszinierendes - - - Mann», deraberBe «Ein unbedeutender auf demBerghof. Rochus Misch,1941 Hitlers Leib deutendes erlebthat: wächter - letzten 13 Tage desReiches vom 20. April innerungsvermögen schildert erdie zählt derTelefonist. MitstupendemEr von derOstfront waren grandios», er und spielte Tarock. «DieMeldungen nach demAngriff aufdieSowjetunion – lers Begleittross imSommer1941 –kurz schanze inOstpreussen faulenzte Hit- Urlaub». ImFührerhauptquartier Wolfs- von Salzburg, fühlte sichMisch«wieim denem RückzugsquartierinderNähe machtskommando imSeptember 1942. einem heftigen Streit mitdemWehr- samsten MannderWelt –etwa nach erlebte erHitleralstraurigen oderein- der kalte Füsse bekam. Zwischendurch dem ChefnachtseineBettflasche, wenn machte mirSpass». Und erbesorgte fonierte fürihninderWelt herum–«das der Führer Gesellschaftbegehrte, tele- «Auffüll»-Gäste zumEssen auf, wenn für ihnBlumenundGeschenke, bot Auf demBerghof, Hitlers abgeschie- - - PRIVATARCHIV ersten Plätzen rangiert. liste schaffte unddortseitheraufden den Sprungindie«Spiegel»-Bestseller- nach seinemErscheinen imJuni sogleich Doku-Thriller. Eserstaunt nicht, dass es gendokument darundliestsichwieein register stellt eineinzigartiges Zeitzeu- selbst geknipst, undeinemNamens- len unbekannten Fotos, teils von Misch geschriebenenik. Dasgut Buchmitvie- behutsamen Aufzeichnen dieserChro- machers Burkhard Nachtigall, beim Juristin Sandra Zarrinbal unddesFilme- rungsängste derbeidenBiografen, der ständlich war». ManspürtdieBerüh- denklich, «dass mirdassoselbstver- nicht, dochesstimmtihnheute nach- sich seinerdamaligen Pflichterfüllung konnten. Hitlers Leibwächter schämt gehütetesein sogut Geheimnisbleiben im Gulagverbrachte, warum dieUntaten Gefangenschaft geriet undneunJahre rige, inrussische dernachKriegsende tung indenKZverborgen blieb. gleichzeitig dieplanmässige Vernich- Übel inKaufnahmen,während ihnen te alsnotwendiges undsiedenKrieg soziale Versorgungsleistungen bescher- erhielt, weil erihnenökonomische und Zustimmung von MillionenMenschen haben: dass Hitlers Volksstaat die hagen, GötzAly undandere festgestellt verdeutlicht, was schonDanielGold- auch waren). DerZeitzeugenbericht lager gewesen seien(was siezuBeginn habe mannurgewusst, dass esArbeits- überhaupt niegegeben. Von Letzteren – soRochus Misch–habe esimGespräch würdig wahr. DasThema Juden undKZ alsunverfälschtBericht undglaub- dungen wiedergibt, nimmtmanseinen damaligen, nichtdieheutigen Empfin- Ge Leser inganzer Wucht erschliesst. Zusammenhang sicherst demheutigen weltpolitischen Grossereignissen, deren lakonischer Alltagsbeobachtung und Es sinddieseschieren Gegensätze von Wie einDoku-Thriller Goebbels-Kinder durch der miterlebte, war dieTötungdersechs jedoch, was erindieserZeithautnah vom Führer selbst.«DasFurchtbarste» Angst –eherausHitlers Umgebung als zweiflung, Orientierungslosigkeit und Verfall. Diedepressive Stimmung, Ver- «Turnhallenmief». Hitlers körperlichen («Es stankziemlichdaunten»). Den nochnichtausgetrocknetBezug war ker unter derReichskanzlei, derbeim bis zum2. Mai 1945: dasLebenimBun- alle Stecker heraus. zog, bevor erdenBunker verliess, noch Soldat von Goebbelsentlassen. Und er 2. Mai wurde Rochus Mischalsletzter ler undEva Braun amTag zuvor. Am erschüttert alsderSelbstmord von Hit- hat deneinfachen Wachmann mehr Magda am1. Mai. DieseEntsetzlichkeit Dennoch fragt sichderheute 91-Jäh- rade weil derAugenzeuge seine L en M utter lichkeit richten. Eszeigt sich, dass die falls einerrealen Person aneineÖffent- die sichausAnlass einesaktuellen Todes- kommen zunächstNachrufe zurSprache, ne geredet undgeschrieben wird. Da abendländischen Kultur überVerstorbe Goetz geht derFrage nach,wieinder Kurt MartibeschreibtseinenWegzumErwachsenen er dieNachlebenden zumReden. die Sprache zurauben, dafürveranlasst Der Tod vermag zwar denSterbenden Von Stefan Hauser Böhlau, Köln2008.281Seiten, Fr. 65.90. Nachrufszene aufdemTheater. Zur Kultur derNekrologie undzur Thomas Goetz: Poetik desNachrufs. Der NekrologalsSchlüsselszene Nachrufe eines Pfarrers Werdegang Erinnerungen Juristen einlässt. nach einemkurzen Gastspiel beiden Studium derTheologie, aufdasersich bei derFliegerabwehr. Und esistdas zermürbenden Wochen imAktivdienst lichen Kontroversen. Essinddielangen, seinen ideologischenundweltanschau- derZwischenkriegszeitKlima mitall Es istdaspolitischundsozial turbulente wachsenden prägte, istklar zuerkennen: sprechen. Was denAutor alsHeran- tigen Stationen seinerEntwicklung zu um nocheinmalübersichunddiewich- denten undvergrössert sodieDistanz, Buben, bald vom JünglingoderStu- Person Einzahl. Ersprichtbald vom Autor diesmalseinIch hinter derdritten ruhe undOrdnung» (1984)versteckt der sich selbstpreisgeben möchte. len unddabeidochnichtallzuvielvon Scheu dessen zuspüren, dersichmittei- demie namens«Memoiritis» istdie rinnen undRentnern grassierende Epi- ter demSpott überdieunter Rentne- kaum geschrieben werden können.Hin- hätte diesesErinnerungsbuchwohl nische Distanzoffensichtlich. Anders Die Skepsis istunverkennbar, dieiro- Von Klara Obermüller 240 Seiten, Fr. 38.90. Nagel &Kimche, Zürich2008. Kurt EinTopf Marti: voll Zeit. die Verführungen seinerZeitweitgehend lei undfalschen Gefühlen,dasihngegen Misstrauen gegenüber Pathos, Frömme- Der Literaturwissenschafter Thomas Im Unterschied zumTagebuch «Un Auffallend isteinschonfrühes,tiefes SeitderAntikebisheutegeltenfürTotenredenrhetorischeTraditionen DerBernerSchriftstellerundTheologe 1928–1948. bei - - Ursprung undVoraussetzung», war es menschlichen Denkens, nämlichdessen «unendlich mehristalseinObjekt zur EinsichtdesStudenten, dass Gott «dass dieWelt einGeheimnisbirgt», bis Antworten abspeisten. er Lehrer, dieihnnicht mit vorschnellen Albert SchädelinundWalter Lüthifand Geistern verlassenen Welt. InKarl Barth, Wirken Gottes indieservon allenguten gen nachdemSinn desLeidensunddem greifen liess. Was ihnantrieb, waren Fra- Gesellschaft dasTheologiestudium er der Suche nachseinemPlatzinder Erweckung, diedenjungen Mannauf begier, nichtirgendeine Form religiöser nischer Distanzplausibel.Eswar Wiss- erscheint ausdemBlickwinkel iro- der Werdegang desangehenden Pfarrers einen Anflugvon Schwüle daher. Auch Erinnerungen kommen leichtundohne wohltuend Nüchternes. Dieerotischen seiner militärischenEinsätze etwas Dialektausdruck. merkung odereinem gezielt eingesetzten bricht erdiesemiteinertrockenen Be in seinerErzählungaufzukommen droht, auch nureineSpurvon Sentimentalität Wann immerKurt Martimerkt, dass tuelle Immunsystem» bisheute intakt. Und, wie’s aussieht, istdieses«intellek- gewisser modischerDichter undDenker. gegen die«symbolische Tiefgründelei» ten Ernsthöherer Offiziere ebensowie drescherei. Eswirkte gegen denge zu durchschauen wiereligiöse Phrasen- half ihm,ideologischeIrrtümerebenso immun gemacht zuhabenscheint.Es die zwar andieRe eine faszinierende literarische Tradition, schiedlichen Epochenhervorgeht, gibtes aus denvielfältigen Belegen ausunter- gleich grösseren Formenreichtum. Wie das Reden überVerstorbene ineinemun lässlich desTodes von Lady Diana. auf Yitzhak RabinoderanNachrufen an Grab Beethovens, anClintons Totenrede spielen, etwa anGrillparzers Rede am Illustriert wird diesanzahlrei derte hinweg nurwenig verändert hat. Auffallend ist,dass sichüberJahrhun- storbenen, Trost derHinterbliebenen). lung undWürdigung desLebens desVer- nachweisbar sind(Verlustklage, Darstel- stimmte Strukturen festlegt, diebisheute rhetorische Tradition seitderAntike be Von derersten AhnungdesBuben, Dadurch erhalten dieSchilderungen In derLiteratur hingegen äussert sich geln undVerfahren des chenBei- stelz ------unsentimental. sich: nüchtern und Kurt erinnert Marti in diesemBandnochnichtdieRede. Ausdruck zuverleihen. Dochdavon ist den, umder«Passion desWortes Gott» Dichter Kurt MartieineSprache gefun- mitzuteilen wusste.» Später hatder leuchtete fortan inihm,was ernicht klare Gedanken zufassen. «Dennoch alles gewesen, schreibt er, undnichtin beginnt. Unausgegoren, unreif seidas amouröser Aktivitäten zubeschäftigen Weiblichkeit Gottes, dieihnimStrudel schon. Zum solche überdie Beispiel Ahnungen undSpekulationenindes Welt desjungen Kurt Martikeine, spektive derOpfer zubeurteilen». hen undalleGeschichte ausderPer- lich dasstete «jedesGesche- Bemühen, tes zuerkennen vermeint, undschliess- dasWirkenauch inLeidundKrieg Got- trauen gegenüber einerTheologie, die der keinen Zweifel zulässt, seinMiss- gegenüberAbneigung einemGlauben, tis späteres Denken erkennen: seine Grundzügen lässt sichschonKurt Mar- in Frageform formuliert. Dochinden er folgerichtig. Noch isthierdasmeiste ein langer Weg. ImRückblickerscheint Darstellung anschaulich hervor. verweist, geht ausdieserkenntnisreichen sche undgesellschaftliche Begebenhei ist, sonderngleichzeitig auchaufhistori Schlüssel zurBedeutung eines Stückes nenten Ort.Dass dieseabernichtnurein Rede aufdentoten Helden ei Nebst der T nen dramaturgisch effektvoll darstellt. tet, die denAbschiedderHinterbliebe- oder weniger ausgebaute Szene verzich- eines Protagonisten endet,aufeinemehr dass kaum einDrama, dasmitdemTod Helden inSzene setzen. Dabeizeigt sich, dramatischen Genres, diedenTod des In stellungszwecke umformt. Dasbesondere hinterfragt, umdeutet undfüreigene Dar- Totendiskur Endgültige Antworten gibtesinder teresse desVerfassers giltdabeiden 31. August 2008 sesanknüpft,dieseaberauch odessz ene erhält auchdie X NZZ amSonntag nenpromi- L L X 19 ten ten

- ALESSANDRO DELLA VALLE/KEYSTONE Sachbuch heilige BuchderMuslime entgegenwir- der verbreiteten Unkenntnis überdas wissenschafterin Rabeya Müller, wollen pädagogik Lamya KaddorunddieIslam- Professorin fürislamischeReligions- gut lesbar. DiebeidenAutorinnen, die Ausgaben: Eristklar, verständlich und ren Übersetzungen undkommentierten voneinem grundlegenden Punkt ande- Koran «fürKinderundErwachsene» in Tatsächlich unterscheidet sichdieser Das Buchhält,was derTitel verspricht. Von Monika Jung-Mounib mit Abbildungen, Fr. 34.90. C. München2008.234SeitenH. Beck, Für KinderundErwachsene. Lamya Kaddor, Rabeya Müller:DerKoran. Kunstvolles GewebevonGeschichten Koran auf Nelly Mannlagern, freizumachen, von Tadel,Unverständnis undSpott, die abwertenden Urteilen, denSchichten dernswerter Weise, sichvon denvielen ewigt. nem späten Meisterwerk «Henri IV» ver- der FigurGabrielled’Estréesinsei- Liebe, dieblonde, hellhäutige, von ihmin Heinrich Manns,seineletzte grosse doch, immerhin, dieSchicksalsgefährtin Versuchen endgültigSuizid beging.Aber trollverlust, diezuletztnachzahlreichen Alkoholikerin unter zunehmen ihres LebenszuDepressionen neigend, eine unglückliche Frau,warSie auchzeit fand.Mann, dersieunerträglichvulgär fürHeinrichsBelastung BruderThomas schen Emigration verspottet, war sieeine keln derfranzösischen undamerikani- zweite Frau. Von denintellektuellen Zir- Manns Lebensgefährtin, seit1939seine 1928/29 biszuihrem Tod 1944Heinrich nur wenig übersie:Nelly Kröger, von erfährt manoft rich-Mann-Biografien undselbstinspezialisierten Hein- figur; tragische oderauchnurpeinlicheWitz- Familie tauchtsienuramRandeauf, als den grossen Darstellungen derMann- lich –undnichtganz «comme ilfaut». In nannte: eineüppige Blonde, grobsinn- der Familie Manneine«Heinrichbraut» Sie war derInbegriff dessen, was manin Von Catherine Newmark Propyläen, Berlin 2008.238S.,Fr.41.50. Literatengattin Bardame wird Biografie 20 schlecht». NellyMann. Kirsten Jüngling:«Ichbindochnichtnur X Kirsten Jünglingge NZZ amSonntag DasheiligeBuchderMuslimeineinergutlesbarenAusgabefürKinderundErwachsene NellyKröger-Mann–neugewürdigt X 31. August 2008 Die Biografie. DieBiografie. lingt es in bewun- lingtes dem Kon- Als Schriftsteller verfiel Heinrich Mann keiner von ihnenmehrrichtig heimisch. Pyrenäen inAmerika landen. Dortwird einer abenteuerlichen Fluchtüberdie Frankreich einmarschieren undsienach Bürgerkrieg –,bisdieDeutschen 1940 in schon bald weiter indenSpanischen hat. HierbleibtdasPaar –Carius zieht legenheiten undWohnung abgewickelt nachdem sienochdessen Berliner Ange- lich nachSüdfrankreich zuHeinrich, über dieOstseeundDänemark schliess- er Kommunist. MitihmfliehtNelly 1933 Liebhaber, Rudi Carius mitNamen, auch nend zurallseitigen Zufriedenheit, einen den gemeinsamen Haushaltführt. Erotiker Heinrich Mann,demsiebald daselbst Treffen mitdemalternden fröhlichen Berlin derzwanziger Jahre, Arbeit alsBar-undAnimierdame im vielleicht einKind,bald dieScheidung. Ehe miteinemBerliner namensSchmidt, eine Schneiderlehre. Danneineerste liche KindheitundJugend aufdemLand, Lübeck; einebescheidene, nichtunglück- uneheliches KindinderNähevon Mann wenig bekannt ist.Geboren als Leben vor derVerbindung mitHeinrich vor allemdieTatsache, dass überihr AnnäherunganNellyfischen Kröger auch angenehm offen. Sympathie fürihren Gegenstand doch aber lässt dieInterpretation beialler und aneineVermutung indenRaum, und ofteinbisschen ironisch, stellt ab vielmehr elegant, knappundsachlich fühlsamkeit zuzerfallen. Sie schreibt ohne darob inpsychologisierende Ein- Daneben gibteslängere Zeit,anschei- Schwierigkeiten bereitet derbiogra- fen: denPropheten Musa (Moses) etwa einige ihnenvertraute Gestalten betref- allem jeneGeschichten interessant, die die nichtchronologisch erzähltwerden. mit vielenGeschichten undLehren ist, da derKoran ein kunstvolles Gewebe Erläuterungen. Einsinnvolles Vorgehen, endet miteinemKurzkommentar und med, Mose undAbraham. Jedes Kapitel Bedeutung von Propheten wieMoham- der Welt, der Rolle derFrauen undder zentralen Themen wieGott, Erschaffung ordnet dieSuren inzwölfKapitel nach auch inarabischer Sprache wiedergibt, Weg zumOriginalebnen. sen statt wortgetreuen Übersetzung den sierten mitdieserzumTeil sinngemäs- ken. Gleichzeitig möchten sieInteres- Für Nicht-Muslime sindwohl vor Das Buch,dasdenText desKorans

THOMAS MANN-ARCHIV/KEYSTONE Heinrich Mann,1938. späterer Gatte Nelly Kröger undihr stecken. dahinter aberdiegleichenBedürfnisse und Juden zwar andere Werte haben, beim Lesenklar, dass Muslime, Christen berührende Erfahrung sein.Zudem wird oft verschrienen Werkes deshalbeine sen kann dieLektüre dieses ansonsten Für Menschen mitspirituellenInteres- Koran immer alsEinheitbeschrieben. ihr indieserschweren Lage zuHilfe. auf sichalleingestellt, nurGott kommt gen bleibtMaryam beiderGeburt ganz schaft von derSchwangerschaft. Hinge- Engel GabrielseinerM Sicht einWunder. Auch hierbringtder seine Geburtistauchausmuslimischer als SohnGottes, aberalsPropheten, und (Maria). DerKoran siehtihnzwar nicht oder Isa (Jesus), denSohnMaryams war sieaufjedenFall nicht. rung dervielenFacetten derNelly Mann, das zeigt Jünglingsgekonnte Auffäche- Bildung. Abereinfach nurschlecht, an dazu fehlte esihranallem,nichtzuletzt Literatengattineffiziente wurde sienie, nöten lebendePaar mitverdiente. Eine perlicher Arbeitfürdasewig unter Geld- Haushalt führte oderauch mitharter kör- nungen besorgte und einrichtete, den den verschiedenen Exilstationen Woh- ren desPaaralltags bei.Seies,dass siein Jahre durchaus dasIhre zumFunktionie- darstellten, sondernsietrugüberdie es ihrungewogene Zeitgenossen gerne undBürdeBelastung für ihren Mann,wie ihrer Alkoholsucht. zunehmend demVergessen, seineFrau Wissen und Weisheit werden im Aber Nelly Mannwar nichtnureine L utter dieBot- L Von Mathias Ninck 2008. 320Seiten, Fr. 48.−. Heldengeschichte. Hanser, München oftmals verkörpert ineinundderselben anstössigen Abwesenheit derVäter fest, der aufdringlichen Anwesenheit undder ein unproduktives Schwanken zwischen henden 19. Jahrhundert stellt derAutor losigkeit gefangen sind.Seitdemausge- die inihrer Sprach- undBeziehungs- lich verkümmert sind,verlegene Väter, Distanz. Dagibtesauchviele, dieziem- Bedürfnis nachNäheunddemDogmader hin undhergerissen sindzwischendem Sentimentalität schwanken, solche, die die zwischenbarscher Autorität und Revolution sindesdannvor allem Väter, der herrschen; nachderFranzösischen lich undtyrannisch überFrau undKin- archen des18. Jahrhunderts, diegottähn- lung undprivatem Leben. zwischen gesellschaftlicher Entwick- analysiert dabeidieWechselwirkung malbürger, Romanfiguren, erkundet und heiten ausPolitik undWirtschaft, Nor- letzten dreihundert Jahre, Berühmt- Gelassenheit besichtigt er dieVäter der Umstände derVaterschaft. Mitgrosser Er beleuchtet vielmehr die historischen hysterischen Debatten indenMedien. schlägt abereinenweiten Bogen umdie Familie und Vater zugründen zuwerden, viele Männerdankend ablehnen,eine geht von derFrage aus,warum esheute es zuwissen –gewartet haben.Thomä len, legteinBuchvor, aufdaswir–ohne erwachsener Kinder, Professor inSt. Gal- sche Philosoph,49-jährig, Vater Es istZeitfürDieter Thomä. Derdeut- Väter imBerufsexil Braucht eswiederstärkere Väter? Männer nochfamilienwillig? Odernicht? chats» aufunsnieder. Was nun,sinddie vom «Wiederfinden desguten Patriar- von «mehrErziehung», «Disziplin», Platzregen dieneokonservative Rede ander abstimmt,geht jetztwieeinkalter Familien- undBerufsleben besser aufein- als Folge feministischer Anstrengung hungsdebatte! Während diePolitik tation aufArte). Und erst inderErzie- Patriarchen zumPapa» (eine Dokumen- beschreiben eineEntwicklung «vom bewährtem» fest («Beobachter») oder derum stellen eine«SehnsuchtnachAlt- «Männer inderSackgasse». auch gemäss «reproduktionsfaulen Gesellschaft»,und der Familie; dieNZZ schreibt von der «Zeit» undprophezeit dieAuflösung trends: «Schluss mitderBrut», titelt die ausgerufenen undwiderrufenen Mega- Thema publiziertwerden, oballden Zeitungsartikeln, dieandauerndzum irr geworden oballdenBüchernund in dieVaterschaft. Manistja schonganz Endlich! Endlichkommt einwenig Licht Dieter Thomä: Väter. Väterbeschwörung Familie So begegnet erzunächstdenPatri- DerdeutschePhilosophDieterThomäsiehtmoderneVäteralsLebenshelferundVorbild «Magazin» stecken die Einemoderne Andere wie- zweier

PLAINPICTURE standhaft sein. hingerissen und Tanz»: zwischen «Vaterschaft istein aus kinderfreundlich sind.Aus demhis- Zeit Charakterzüge aufweist, diedurch- Vater, derwieeinVorbote einer fernen in derSackgasse enden,auchmanchem Thomä nämlichnebst alldenFiguren, die Streifzug durch dieGeschichte begegnet Vater sind odereseinmalwerden. Beim schwörung, eine Ermutigungfüralle, die Dieter Thomä keinen Zweifel. wen erinnerlich anfeuert –daran lässt ist offen, beiwem seineSympathien sind, schiedenen Lebensformen. Wer gewinnt, mentiert freudig denWettstreit derver- ein Reporter aufderTribüne undkom- bleibt immerhoffnungsfroh: Ersitztwie recht traurige Geschichte, derAutor aber istzwargung überweite Strecken eine glänzend geschriebene Väterbesichti- an Verunsicherung –Thomä zeichnet sie das Resultat einer jahrhundertealten derfrage insSchwanken geraten, istalso Dass vieleMännerheute beiderKin- Wohltuender Kontrapunkt tag vermisst haben. wütend, nachdenVätern, diesieimAll- gur. DieSöhnesuchendann, traurig und geistert ernurherum,wird zurRandfi- in dieBeru Familien, indenenderVater dasExil Gegenwart istdieVaterlosigkeit jener Lot zubringen. Weit verbreitet bisindie die Neuordnung desprivaten Lebensins archen gelingt esoffensichtlich nicht, Person. Nach derEntmachtung derPatri- schaulichundleichtfüssig nach.Diese Sein BuchistimGrundeeineVäterbe- fswelt antritt; inderFamilie len, weil manetwas verpassen könnte. ausbreitet, einSich-nicht-festlegen-Wol- Zeit, wo sicheine«Kultur desZögerns» tuender Kontrapunkt inderheutigen schwang bezüglichFamilie sindeinwohl- in derPolitik, seinunverfrorener Über- sichts derideologischenMinenfelder standhaft ziehtereszusichhin.» gerissen geht derVater aufdasKindzu, ander abgestimmt werden müssen: Hin- Tanz, beidemzwei Bewegungen aufein- hen. EinVorbild sein.«Vaterschaft istein mit anderen Worten zumWollen erzie- sind, ihrWünschengelinge. Ersollsie Hemmnissen undVerlockungen umringt Kindern, dievon inneren undäusseren Vater solldavon träumen, dass seinen seiner KinderausderNähekennt». Ein Leben» nurgelingt, wenn «erdasLeben wobei diesemVater «die Anleitungzum Vater inerster LiniealsLebenshelfer, sein könnte. Sosiehter denmodernen Haltung, diefürmoderneVäter adäquat baren heraus undmontiertsiezueiner Thomä schliesslich diebrauch-sei, fischt torischen Ozean derIdeen, wiezuleben Dieter Thomäs Gelassenheit ange- 31. August 2008 X NZZ amSonntag X L 21 Sachbuch Naher Osten Arnold Hottinger liefert einen profunden Überblick über die islamischen Staaten Der Islam ist kein monolithischer Block

Arnold Hottinger: Die Länder des Islam. Geschichte, Traditionen und der Einbruch der Moderne. NZZ Libro, Zürich 2008. 379 Seiten, Fr. 48.–.

Von Jürg Bischoff

Als Korrespondent der «Neuen Zürcher Zeitung» hat sich Arnold Hottinger in 30 Jahren den Ruf als kompetenter Beobachter und verständlicher Erklärer orientalischer Verhältnisse erworben. Diesem Ruf ist er auch treu geblieben, seit er in den Ruhestand getreten ist und sich nicht mehr mit der täglichen Be richterstattung abmühen muss. Denn Hottinger hat das Beobachten, das Nach- denken und das Erklären nicht auf- gegeben. Auf geführten Reisen, in Vor- trägen, Interviews und Büchern kommt er damit dem stetig wachsenden Bedürf- nis der Öffentlichkeit entgegen, Gesell- schaft, Kultur und Politik der Araber und der Muslime zu verstehen. Hottingers aktuelles Buch «Die Län- der des Islam» bietet erneut einen guten Überblick über die politischen und ge- sellschaftlichen Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten bis in die unmittel- bare Gegenwart. Die Darstellung folgt dabei einer räumlichen und einer zeit- EICHHOEFER/OSTKREUZ ESPEN lichen Dimension. Den geographischen Der Islam bleibt wie sie versucht haben, das Wissen und nommen wurde, schreibt er dem Um - Raum teilt der Verfasser einerseits in die nach der Dominanz die Techniken der Europäer zu erwer- stand zu, dass der Islam das einzig «Kernländer des Islam» (vom Niltal durch westliche Tech- ben und sich gleichzeitig gegen deren «Eigene» ist, das den Muslimen nach über Syrien und Mesopotamien zum ira- nologien und Werte politische Herrschaft zu wehren. der Eroberung ihrer Welt durch die das einzig «Eigene» nischen Plateau) und deren «Umfeld» in den Län dern des Im abschliessenden Teil des Buches westlichen Armeen, Technologien und (Zentralasien und Pakistan, Jemen, Nord- Nahen und Mittleren analysiert Hottinger diese Auseinander- Werte geblieben ist. afrika, Kleinasien), andererseits in die Ostens. setzung mit der Moderne im Militär, in Der Grundwiderspruch scheint für drei Landschaftsformen Flusstal, Wüste der Erziehung, in der Wirtschaft und in Hottinger weder politisch noch gesell- und trockene, dank Be wässerung jedoch der Religion. Er vermittelt dabei wert- schaftlich, sondern kulturell zu sein, fruchtbare «Übergangsländer». volle Einsichten, zum Beispiel bei seiner nämlich der zwischen überlieferter Welt- Darstellung der Klientelsysteme, die in anschauung und aufgezwungenen Wer- Dominanz des Westens zahlreichen Ländern das politische Le- ten, eigener Tradition und fremden Hottingers erste Botschaft ist, dass es ben prägen. Auch die Entwicklungen im Techniken, deren Kenntnis und Anwen- «den Islam» schlechthin gar nicht gibt. religiösen Denken sind, wie Hottinger dung für eine erfolgreiche Entwicklung In den Muslimen, die ihre Religion zeigt, nur als Frucht der Auseinanderset- aber unabdingbar sind. Ein Ende des leben, und in den Ländern, in denen zung mit dem aus Europa einströmenden Konflikts könne nicht mit Gewalt er- diese sich festgesetzt hat, hat der Islam Gedankengut zu erklären. Die Überle gen- reicht werden, sagt Hottinger, sondern unterschiedliche und sich dauernd wan- heit rationalen Denkens, das sich in der nur, indem die «Moderne» nicht mehr delnde Formen angenommen. technischen und politischen Überlegen- als etwas Fremdes, sondern als etwas Die Korrektur des im Westen Angst heit des Westens manifestiert, hat Re- Eigenes empfunden werden kann. einflössenden Bildes vom Islam als form bewegungen ausgelöst, die den So bietet das Buch, trotz Hottingers einem monolithischen Block, der auf Islam von Mystik, Heiligenverehrung und didaktischer, etwas hölzerner Sprache, die äusseren Herausforderungen mit anderen «abergläubischen» Ele menten eine wertvolle Quelle für Informationen blin der Gewalt antwortet, enthebt den reinigen wollten, damit aber auch Intole- und Interpretationen zu den musli mi - Autor freilich nicht der Aufgabe, die ranz, Dogmatismus und Funda men ta- schen Ländern. Ärgerlich ist die Unter- extremistischen politisch-religiösen lismus förderten. teilung in kleine Kapitel, die oft kaum Strömungen zu erklären, die den zeit- eine halbe Seite lang sind, den Text zer- genössischen Islam durchziehen. Er er- Wertvolle Interpretationen stückeln, den Lesefluss stören und oft klärt diese im Wesentlichen als Produkt Den Aufstieg des Islamismus zur vor- willkürlich zusammengesetzt erschei- der Ausei nandersetzung mit der seit herrschenden politischen Ideologie er - nen. An einer Stelle sind sogar zwei Ab - zwei Jahrhunderten wachsenden poli- klärt Hottinger, im Einklang mit der schnit te irrtümlich vertauscht worden. tischen, kulturellen und technologischen Meinung der meisten Experten, mit dem Offensichtlich hat der Verlag seine Auf- Dominanz des Westens. Der zentrale Scheitern des Nationalismus und ande- gabe vernachlässigt, den Text einem Teil des Buches zeichnet nach, wie die rer aus dem Westen importierten Welt- sorgfältigen Lektorat zu unterziehen. muslimischen Länder mit diesem Ein- anschauungen. Dass gerade die Religion Hottinger und seine Leser hätten es ver- bruch des Fremden umgegangen sind, als Basis der politischen Aktion über- dient. L 22X NZZ am Sonntag X 31. August 2008 Biotechnologie Der Philosoph Gernot Böhme plädiert für eine Heimkehr in den Körper – der so zu akzeptieren sei, wie er ist Vom Menschen zum Artefakt

herrschung, Erziehung, Bildung abset- für den Willen, den eigenen Leib zu Gernot Böhme: Ethik leiblicher Existenz. zen sollte. Kant hat immerhin von instrumentalisieren, ihn zum blossen Über unseren moralischen Umgang mit «Pflichten des Menschen gegen sich Mittel der Selbstinszenierung (Schön- der eigenen Natur. Suhrkamp, selbst» gesprochen und darunter auch heitschirurgie, Fitnessindustrie) oder Frankfurt a. M. 2008. 253 Seiten, Fr. 18.90. die Sorge für den eigenen Körper gezählt. entfremdeter Leistungsdarbietungen Bezeichnend ist jedoch seine Begrün- (Do ping, Viagra) zu machen. Von Manfred Koch dung: Ohne leibliches Wohlergehen Heerscharen von Ernährungsbera- kann sich die vernünftige Persönlichkeit tern, Ärzten, Physiotherapeuten und Der Mensch ist dasjenige Naturwesen, nicht ausreichend entfalten. Wird das Konditionstrainern geben Anleitungen, das sich so lange neu erfindet, bis Ross nicht gepflegt, kommt auch der wie wir mit unseren Körpern zu verfah- es sich eines Tages abgeschafft haben Reiter nicht weit. Bis heute, so Böhme, ren haben. Offenbar spüren wir sie nicht wird. Der Darmstädter Philosoph Ger- wird unter Achtung der Menschenwür- mehr genug, um selber zu wissen, was not Böhme zeigt in seinem jüngsten de vor allem die Respektierung der nottut. Wir müssen, schliesst Böhme, Buch, wie das «Projekt der mensch- selbstbewussten, sprach fähigen Person wieder lernen, in unserem Leib, der lichen Selbstgestaltung» durch die verstanden. Die grundlegende Anerken- ja unser Leben ist, zu wohnen, durch- moderne Biotechnologie in absehbarer nung jener Natur, die wir alle als leibli- aus mit Hilfe von regelrechten Leibes- Zukunft dazu führen könnte, dass es che Wesen sind, die einfach nur atmen, übungen (wie Yoga oder Feldenkrais), so etwas wie eine «Gattung Mensch» schlafen, essen, trinken und lieben wol- vor allem aber durch die Entwicklung nicht mehr gibt. Dank In-vitro-Fertilisa- len, stehe in der Menschenrechtsdiskus- einer Daseinshaltung, die souverän tion und Pränataldiagnostik hat die sion noch aus. auch die negativen Erfahrungen – Reproduktionsmedizin den Weg zum Böhme befasst sich erfreulicherwei- Schmerz, Krankheit, Schwäche – hinzu- hergestellten Kind eingeschlagen; sollte se auch ausführlich mit der «Leibverges- nehmen erlaubt. Die medizinisch gewar- es zum Klonen und zur extrauterinen senheit» im Alltag. Gerade die aktuelle tete, störungsfreie Körpermaschine ist Aufzucht von Föten kommen, werden Körperkultur ist ja ein drastischer Beleg ein widersinniges Lebensideal. L die Geschlechter Mann und Frau über- flüssig. Wenn die Transplantationsmedizin irgendwann nicht mehr lebende Organe Seelust Am Gestade zum Bade einsetzt, sondern Herzmaschinen und Neurochips, könnten realiter «alte Damen» wie Dürrenmatts Claire Zacha- nassian die Szene betreten, die durch permanenten Austausch von Ersatztei- len tendenziell unsterblich sind (sprich: unvorstellbare Laufzeiten erhalten). Die Gentechnik schliesslich würde durch Konstruktion des Erbmaterials die Züchtung beliebiger Menschen-Exem- plare ermöglichen: «Da kein Mensch- heitskonsens über wünschenswerte Ent wicklungsrich tungen und auszubil- dende Funktionen des Menschen zu erwarten ist, kann es langfristig zur A uflösung der einen Gattung Mensch kommen.» Ethik hat unter diesen Vorzeichen Konjunktur, allerorten werden Kom- missionen gebildet, die klären sollen, ob die sich abzeichnende Ver wand- lung des Men schen in ein Artefakt mit dem herkömmlichen Verständnis von Menschenwürde vereinbar ist. Hier sind es meist die Philosophen, die gegen die «harten» Naturwissenschaf- ter dafür plädieren, die entfesselte Bio- technik moralisch zu bändigen, am alten Typus des durch zufällige Zeu- gung entstandenen, fehlbaren, hinfälli- gen – eben natürlichen – Menschen festzuhalten. Aber die philosophische Das gesellschaftliche Leben in der Schweiz kommt einem Schamtuche». Aber 1919 kommt es zur im Ethik hat, wie Böhme in seinem gut ver- die meiste Zeit ohne institutionelles öffentliches ganzen Land eifrig kommentierten Revolution: In ständlichen Buch zeigt, selbst beträcht- Baden aus. Und falls es einigen unbotmässigen Weggis wird das erste offene Strandbad der Schweiz lichen An teil an der westlichen Tradi- Knaben einfällt, sich zu mehreren nackt und «gut eröffnet, Männer und Frauen dürfen gemeinsam tion der Natur verachtung, auch und sichtbar!» in den Vierwaldstättersee zu stürzen, baden! Der Kulturgeschichte des Seebadens und der gerade an der Verachtung unserer eige- werden sie vom Luzerner Stadtpfarrer Thaddäus Badeanstalten gewidmet ist das Buch «Seelust». nen Leib-Natur. Müller verpetzt. Da dem Drang zum Bade aber gegen Ein heiteres Werk, appetitlich geschrieben und illus- Der Mensch wurde als «animal ratio- Ende des vorletzten Jahrhunderts kein Einhalt triert, eine gediegene Sehlust. Die grosse Freude an nal» definiert, als Mischwesen aus mehr geboten werden kann, muss die Badeanstalt der neu eroberten Freiheit im öffentlichen Raum ist Tier und Geist, der «ani malische» erfunden werden. Mit Holzwänden, Kabinen und überall spürbar. Jost Auf der Maur Anteil war dabei aber fast immer der- strikter Trennung der Geschlechter. Der Dresscode: Heinz Horat: Seelust. Badefreuden in Luzern. jenige, wovon er sich durch Selbstbe- «angethan mit sogenannten Schwimmhosen oder Verlag hier + jetzt, Baden 2008. 162 Seiten, Fr. 38.–. 31. August 2008 XNZZ am Sonntag X23 Sachbuch Globalisierung Nur gezielte Unterstützung durch die Industrienationen hilft den Ärmsten der Welt aus der Entwicklungsfalle Aktionen für die Zurückgebliebenen

China und Indien haben Schlüsselposi- Paul Collier: Die unterste Milliarde. tionen besetzt. Schlimmer noch: Die un - Warum die ärmsten Länder scheitern terste Milliarde und die übrigen fünf und was man dagegen tun kann. Sechstel der Weltbevölkerung driften C. H. Beck, München 2008. 256 Seiten, immer weiter auseinander. Fr. 34.90. Nun diagnostiziert Collier nicht nur die Probleme. Er schlägt eine breite Von Peter Durtschi Palette von Massnahmen zur Abhilfe vor. Zuerst einmal gelte es, die Entwicklungs- Wir leben in einer Welt, in der eine Milli- hilfe noch stärker als bisher auf die Län- PHOTOTHEK arde Menschen relativen Wohlstand ge- der der untersten Milliarde zu konzent- Ausbildung fördert Postkonfliktsituationen ge ben Regimes niesst. Vier Milliarden halten sich in Län- rieren. Dort hat die Hilfe in den letzten den Wachstumspro- viele Mittel für die Armee aus. Die rei- dern auf, die wirtschaftlich mit grosser 30 Jahren etwa ein Prozent zum jähr- zess in den ärmsten chen Staaten müssten dauerhaftere Ländern der Welt. Geschwindigkeit aufholen. Eine weitere lichen Wachstum beigetragen; eindrück- Sicherheitsgarantien abgeben, verlangt Milliarde lebt in rund fünfzig wirtschaft- lich wird diese Zahl erst angesichts der Collier. Er gibt gleichzeitig zu, dass die lich stagnierenden Staaten. Dieser Tatsache, dass das Wachstum in diesen längere Präsenz ausländischer Armeen «untersten Milliarde» widmet der bri- Staaten nahe bei null lag und somit den nach dem Irakkrieg zu einer noch hei - tische Ökonom Paul Collier sein Buch. Unterschied zwischen Stagnation und kleren Angelegenheit geworden ist als Laut Collier, der an der Oxford Universi- schwerer kumulativer Re zession aus- früher. Zur Überwindung der Ressour- ty lehrt, stecken diese Staaten in einer machte. «Die Entwicklungshilfe war ein cenfalle schlägt er unter anderem Trans- oder mehreren von vier Entwicklungsfal- Rückzugsgefecht, das verhinderte, dass parenzinitiativen für Einnahmen aus len fest: Sie werden erstens von be - alles zusammenbrach», folgert Collier. natürlichen Ressourcen vor; was der waffneten Konflikten heimgesucht, oder Er fordert Aktionen, die bisher nicht Kimberley-Prozess für die Regulierung – zweitens – ihr Ressourcenreichtum er - zum Arsenal der klassischen Entwick- des Diamantenhandels be wirkt, könnten weist sich als Fluch, weil Rohstoffaus- lungshilfe gehört haben: Durch einen internationale Chartas beispielsweise fuhren die Wettbewerbsfähigkeit der Abbau der Handelsschranken seitens für die Ölförderung leisten. anderen Exportgüter dieses Landes der reichen und der ärmsten Länder Gefordert sind somit die Regierungen; beeinträchtigen. Sie haben drittens kei- sowie durch einen zeitlich befristeten insbesondere die wichtigsten Industrie- nen direkten Zugang zum Meer, weshalb Schutz vor asiatischen Staaten soll die nationen, die in der G-8 zusammenge- sie von ihren Nachbarn an der Küste unterste Milliarde in die Weltwirtschaft fasst sind, müssten besser aufeinander abhängig sind. Und viertens leiden etli- eingebunden werden. «Wachstum ist abgestimmte Instrumente anbieten. Und che unter ihnen an einer schlechten kein Allheilmittel, aber fehlendes Wachs- vor allem ernsthaft helfen, folgert Regierungsführung. tum zerstört alles. Dieses Scheitern des Collier. Letztlich ist er Moralist: Es sei Der Globalisierungszug sei für diese Wachstumsprozesses ist das gewaltige untragbar, dass eine Milliarde Menschen Staaten abgefahren, schreibt Paul Col- Problem, das wir lösen müssen», schreibt abgenabelt werde; nicht zuletzt wäre lier, der in Oxford auch das Centre for Collier. Daneben gelte es, auch in Sicher- eine solche Welt auch eine unsichere the Study of African Economies leitet. heitsfragen aktiver zu werden – gerade in Welt, mahnt Paul Collier. L

Wirtschaft im Altertum Neue Perspektiven auf das ökonomische Denken der Antike Anfänge wirtschaftlicher Verhaltensweisen

ein sich selbst regulierendes System mit der antiken Wirtschaft einen aktu- Ulrich Fellmeth: Pecunia non olet. war, sondern von den Menschen ratio- ellen Nutzen haben könnte. Er glaubt, Die Wirtschaft der antiken Welt. WBG, nal geplant und gesteuert worden sei. dass «am einfach strukturierten Modell Darmstadt 2008. 192 Seiten, Fr. 67.90. Allerdings, räumt der Verfasser ein, gab die Grundkonstanten wirtschaftlicher es keine Wirtschaftstheorie, welche das Entwicklungen und die elementaren Von Geneviève Lüscher Denken und Handeln regelte und gezielt wirtschaftlichen Verhaltensweisen stu- beeinflusste, wohl aber eine «eigene und diert werden können». So hätten wir Bis anhin begann – gemäss Ulrich Fell- tradierte Erfahrung,» die zu planvollem uns angewöhnt, das Primat der Ökono- meth – jede wirtschaftshistorische Dar- wirtschaftlichem Handeln verhalf. mie und wirtschaftlicher Interessen in stellung mit dem Verdikt, Wirtschaft sei Anhand von Fallbeispielen führt der fast allen Bereichen des menschlichen in der Antike kein eigenständiger Be - Autor – leider in einem etwas trockenen Daseins zu akzeptieren. Das sei in der reich menschlichen Denkens und Ver- Stil und wenig gegliederten Text – die Antike nicht so gewesen. Sie biete «Bei- haltens gewesen. Dieser offenbar weit Leserschaft durch die antike Welt vom spiele für Gesellschaften, in denen Men- verbreiteten Ansicht tritt der Autor, 8. vorchristlichen bis ins 4. nachchristli- schen (...) einen breiteren Horizont hat- Dozent an der Universität Stuttgart, ve - che Jahrhundert. Er kann zeigen, dass die ten als die vom ökonomischen Denken hement entgegen. Auch wenn es damals Wirtschaft einen nicht unbedeuten den überwucherten heutigen Industriege- weder Grossindustrie noch Wertpapiere Bereich der alltäglichen Lebenspraxis sellschaften». Die Beschäftigung mit der oder Aktien, ja nicht einmal Papiergeld darstellte und sich im Verlaufe der Jahr- Antike liefert Denkanstösse zum Thema, gab, so existierte gemäss Fellmeth hunderte auch strukturell entwickelte. ob das menschliche Dasein mehr sein durchaus ein «funktionierender Wirt- Im Schlusskapitel stellt Fellmeth dann könne als die blosse Funktion von öko- schaftsprozess», der nicht einfach nur die Frage, inwieweit die Beschäftigung nomischen Mechanismen. L 24X NZZ am Sonntag X 31. August 2008 Zwischenkriegsliteratur Der Schriftsteller Hans Sahl liefert einen reichen Einblick in die Berliner Kultur der Weimarer Republik Pointierte Porträts, hübsche Anekdoten

takt mit den Emigranten am Schauspiel- Hans Sahl: Memoiren eines Moralisten. haus, mit Kurt Hirschfeld, Ernst Gins- Das Exil im Exil. Luchterhand Literatur- berg, Teo Otto, Leonard Steckel und verlag, München 2008. 511 Seiten, anderen, die, wie er schreibt, «sich Fr. 38.90. anzupassen suchten an eine Idylle, die ihnen nicht recht zu Gesicht stand, die Von Urs Bitterli doch probiert, auswendig gelernt und zu Ende gespielt werden musste». Unter den deutschen Schriftstellern, die In der Schweiz durfte Sahl nicht blei- Hitler in die Emigration trieb, ist Hans ben: «Man verfuhr», urteilt er mit jener Sahl einer der weniger bekannten. Erst Altersmilde, die seinen Bericht kenn- in hohem Alter fand er den Weg zurück zeichnet, «ein wenig unsanft mit Flücht- nach Deutschland, und sein episches lingen, die keine Aufenthaltserlaubnis und lyrisches Werk wirkt seltsam fremd hatten.» Und doch wurde Zürich zum innerhalb der deutschen Nachkriegs- Schauplatz von Sahls grösstem literari- literatur. Sahl wurde 1902 in Dresden schem Erfolg. Hier wurde sein gesell- geboren, verbrachte einen grossen Teil schaftskritisches Chorwerk «Jemand», seines Lebens als Journalist und Über- mit der Musik von Tibor Kasics, Hein- setzer in New York und starb 1993 in rich Gretler als Sprecher und einigen Tübingen. Seine Memoiren, die nun im hundert Sängern, uraufgeführt – ein Luchterhand Literaturverlag neu aufge- Höhepunkt in der Geschichte des legt worden sind, verfasste er im letzten Schweizer Arbeitertheaters. Lebensjahrzehnt. Die Emigration in die USA gelang mit Die schwindende Sehkraft zwang ihn, Hilfe des amerikanischen Fluchthelfers aufs Tonband zu sprechen, und wenn er Varian Fry, dessen Komitee in Marseille auch in flüssigem Parlando formuliert, tätig war und auch andern Schriftstel- ist sein Bericht doch zuweilen sprung- lern wie Franz Werfel, Lion Feuchtwan- haft und nicht frei von Wiederholungen. ger und Heinrich Mann die Ausreise aus So besitzen diese Erinnerungen nicht Frankreich ermöglichte. Der Titel des den Rang der klassischen Werke dieses zweiten Teiles von Sahls Memoiren Genres, wie wir sie Stefan Zweig, Elias spielt auf die doppelte Isolation an, wel- Canetti, Manès Sperber oder Carl Zuck- cher der Autor in den USA ausgesetzt mayer verdanken. Dennoch möchte man war: Er verlor nicht nur seine Heimat, das Zeugnis Hans Sahls nicht missen. Es sondern auch, da er sich vom Kommu- vermittelt Einblick in die verwirrend nismus losgesagt hatte, den Kontakt zu reiche Berliner Kultur der Weimarer TAPPE/ULLSTEIN HORST den emigrierten Genossen. Hinzu kam Republik, und die verhaltene Trauer des Hans Sahl (1902– seiner Memoiren; er wolle, bemerkt er die materielle Not; Übersetzungsar- Chronisten, der seine Heimat verlor und 1993), Autor des einleitend, die Toten aus «ihrer Vergan- beiten sicherten ein prekäres Überleben. sozialkritischen Chor- nie wirklich wieder fand, klingt lange im werks «Jemand», genheit befreien» und ihnen «ihre Iden- Später arbeitete er als Kulturkorrespon- Leser nach. kehrte 1989 aus der tität zurückgeben». Dem Leser werden dent für deutschsprachige Zeitungen in USA-Emigration nach zahlreiche Persönlichkeiten der damali- Europa, darunter auch für die «Neue Berlin der zwanziger Jahre Deutschland zurück. gen Berliner Kulturszene vorgeführt, Zürcher Zeitung», und übersetzte Wer- Die Erinnerungen von Hans Sahl sind in längst vergessene und solche, die es ke der amerikanischen Schrift steller zwei Teilen erschienen. Der erste Teil geschafft haben, ins Inventar der ge- Tennessee Williams, Arthur Miller und trägt den Titel «Memoiren eines Mo - schichtlichen Erinnerung aufgenommen Thornton Wilder, dem er persönlich ralisten» und erfasst die Zeit vor der zu werden. Wir begegnen politischen besonders nahe stand. Flucht aus Deutschland. Sahl entstamm- Publizisten wie Ossietzky, Tucholsky Auch in den USA pflegte Sahl die Ver- te dem wohlhabenden, assimilierten jü- und Schwarzschild; Regisseuren und bindung mit zahlreichen Intellektuellen, dischen Bürgertum und verlebte seine Schauspielern wie Leopold Jessner, Max und die Seiten, die er Erich von Kahler Kindheit in Dresden und Berlin. Er stu- Reinhardt und Erwin Piscator; Schrift- und Paul Tillich, Hermann Broch und dierte in München, Leipzig und Breslau stellern wie Brecht, Döblin und Glaeser; Erich Maria Remarque, Thornton Wil- Literatur, Kunstgeschichte und Philo- Leuten vom Film wie Fritz Lang, Sergei der und Edmund Wilson widmet, sind sophie und arbeitete nach der Pro - Eisenstein, Peter Lorre und Asta Niel- aufschlussreich und zuweilen amüsant. motion als Film- und Theaterkritiker sen. Sahl gelingen pointierte Porträts Im Jahre 1989, mit 87 Jahren, kehrte Sahl für den «Montag-Morgen», das «Tage- und hübsche Anekdoten, welche unser endgültig nach Deutschland zurück. Buch» und den «Berliner Börsen-Cou- Bild vom geistigen Berlin der zwanziger Dem nun vorliegenden Band von rier». Politisch stand er, wie viele Intel- Jahre um eine eigene Nuance berei- Sahls Erinnerungen will der Luchter- lektuelle seines Herkommens, auf der chern. hand Literaturverlag weitere Werke des Seite der marxistischen Linken: «Wir Schriftstellers, insbesondere den 1959 glaubten nicht an Demokratie», schreibt Uraufführung in Zürich erschienenen Emigrantenroman «Die er, «wir wussten nicht, was das war. Nie- Der zweite Teil von Sahls Memoiren Wenigen und die Vielen» folgen lassen. mand hatte es uns erklärt.» trägt den Titel «Das Exil im Exil». Nach Im Nachkriegsdeutschland mochte man Für Sahls Erinnerungen ist charak- der Übertragung der Macht an Hitler solche Bücher nicht lesen. Vielleicht teristisch, dass der Autor sich selbst floh Hans Sahl über Prag nach Zürich findet Sahls Werk heute die Leser, die es bescheiden zurücknimmt und vor allem und von hier nach Paris. In Zürich verdient. L von andern berichtet. Darin sieht er stieg er in der Pension Bickel an der Urs Bitterli war bis 2001 Professor für auch das Hauptmotiv zur Niederschrift Plattenstrasse ab und hatte engen Kon- neuere Geschichte an der Uni Zürich. 31. August 2008 XNZZ am Sonntag X25 Sachbuch Exil Für viele Musiker war Frankreich ein Transitland – zur Freiheit oder in die Deportation Flucht aus dem Vorhof der Hölle

Staaten» oftmals in Internierungslager ge- tor Samuel Taube nach Frankreich Michel Cullin, Primavera Driessen Gruber steckt, kaum hatten sie die Landes grenze emigrierte, von wo er 1943 nach Ausch- (Hrsg.): Douce France? Musik-Exil in überschritten: Zwischen 1939 und 1946 witz deportiert wurde. Taube überlebte, Frankreich 1933–1945. Böhlau, Wien dürften sich rund 600 000 Internierte auf weil er einem SS-Offizier mit dem Sin- 2008. 544 Seiten, Fr. 82.90. etwa 200 französische Lager verteilt gen von «Dein ist mein ganzes Herz» haben. Angesichts der NS-Todesfabriken imponierte. Wahnwitzige Ge schichten, Von Fritz Trümpi beschrieben Überlebende diese Lager die jedoch exemplarisch sind, auch für zwar gerne als «5-Sterne-Lager», aber das französische Exil. Auch Frankreich war kein sicherer Hafen: wer aus ihnen nicht entweichen konnte, Der französische Schriftsteller André Wer vor den Nazis fliehen musste, fand lief Gefahr, früher oder später nach Osten Gide, der die neu angekommenen dort zunächst zwar oft Aufnahme, war deportiert zu werden, so die Historikerin Künstler 1933 noch damit begrüsste, für dadurch aber weder vor einer sich fort- Dominique Lassaigne. Begabung gebe es keinen Einfuhrzoll, setzenden Flucht noch vor der Deporta- Auch die Herausgeberin des doppel- stand wenige Jahre später auf verlo- tion ins Konzentrationslager ge feit. Der sprachig erschienenen Buches stellt den renem Posten, als die ersten «Lager für vorliegende Band über exilierte Musiker Transitcharakter Frankreichs ins Zen- unerwünschte Ausländer» eingerichtet und Musikerinnen aus Deutschland und trum und zeigt dies in zwei biografischen wurden. Einmal mehr erwies sich aber Österreich zeichnet in seinen zahlreichen Studien mit unterschiedlichen, aber ty- die transatlantische Differenz als wirk- Darstellungen persönlicher Lebenswege pischen Ausgängen. Dem Wiener Mu - sam: US-amerikanische Initiativen Betroffener ein drastisches Bild. siker Erwin Weiss gelang von Frankreich machten sich daran, möglichst vielen Aus ihrem Heimatland vertrieben, wur- aus die Flucht nach Grossbritannien, Personen mit Erfolg die Flucht aus dem den sie als «Staatsangehörige feindlicher während der aus Lodz stammende Kan- Vorhof der Hölle zu ermöglichen. L

Das amerikanische Buch Daniel Boone – Pionier und Mythos der USA

Mit 13 Jahren war er schon ein aus- Er prägt das Bild der gezeichneter Schütze und ging in Penn- Frühgeschichte der sylvania lieber auf die Hirschjagd, USA: Daniel Boone (1734–1820), hier in als die Schulbank zu drücken. Aber als Kentucky (Zweiter Daniel Boone 1767 über das Appala- von links). chen- Gebirge in «die dunklen und blu- Autor Meredith M. tigen Gründe» von Kentucky vorstiess, Brown (unten). las er seinen Gefährten aus «Gullivers Reisen» vor. Das erzählt Meredith M. Brown in Frontiersman. Daniel Boone and the Making of America (Louisiana State University Press, 416 Seiten), einer höchst aufschlussreichen, ebenso sorgfältig recherchierten wie unterhalt- samen Biografie des Pioniers. Brown hat an der Harvard University amerika- nische Geschichte studiert und danach in New York als Anwalt gearbeitet.

Es erstaunt, dass bislang keine deutsch- sprachige Lebensgeschichte des Gren- zers Daniel Boone existiert, obwohl dieser als Vorbild für James Fenimore RESEARCHERS/KEYSTONE PHOTO Coopers «Lederstrumpf» unsere Vor- arbeitet heraus, wie die Indianer in die- reiche, mit enormer Ausdauer und stellung über die Frühgeschichte der ser Grenzzone operierten und sich als körperlicher Kraft gesegnete Wald- USA prägt. «Frontiersman» leistet Pio- Mitspieler im Pelzhandel den Europä- läufer war kein romantischer Aben- nierarbeit, indem Brown das Leben ern annäherten, während gerade Boone teurer, sondern Zulieferer eines seines Protagonisten in die politische, ihre Wesenszüge annahm. lukrativen transatlantischen Handels. kulturelle und nicht zuletzt rechtliche Dabei erkannte Boone, dass seine Landschaft seiner Zeit einordnet. Da- Gleichzeitig wurde Boone schon um rücksichtslosen Jagdzüge die Grund- bei dient der Titel als Leitfaden. Brown 1780 eine mythische Figur. Er taucht in lage seiner Existenz zerstörten. Er zufolge lebte Boone nicht nur in einer populären Romanen und den Reden tröstete sich stets mit den unberührten dynamischen, geografischen Grenz- amerikanischer Politiker auf. Diese miss- Wildbeständen weiter im Westen. zone, die sich von seiner Geburt 1734 brauchten ihn als Symbol der «schick - bis zu seinem Tod 1820 von der Atlan- salhaften Bestimmung» der USA, den Nach der Ausrottung der Pelztiere und tikküste bis tief hinein nach Missouri Kontinent bis zum Pazifik zu unter- der Austreibung der Indianer wurde bewegt hat. Als Führer einer Pionier- werfen. Die Indianer wurden dabei als das Land selbst zum Gegenstand unge- sippe und Adoptiv-Indianer «Grosse blutrünstige Wilde gezeichnet, für zügelter Gier. Als Vater von zehn Schildkröte», als Bodenspekulant, Brown eine Mischung aus «schlechtem Kindern stets auf der Suche nach Ein- Politiker und Soldat unter britischer, Gewissen und Rechtfertigung für deren nahmequellen, hat sich Boone in Ken- spanischer und amerikanischer Flagge Vertreibung und Vernichtung». «Fron - tucky als Landvermesser betätigt. hat der Sohn einer Quäkerfamilie auch tiers man» hebt dagegen auf den «homo Aber er war zu ungeschliffen, um seine einen sozio-kulturellen Grenzraum oeconomicus» Boone ab und erklärt, Ansprüche gegen Politiker und Juristen mitgestaltet, in dem die politischen dass dieser sich zwar exzellent auf die durchzusetzen. So war er bis zu seinem Rahmenbedingungen und Loyalitäten Jagd verstanden hat und Zeit seines Lebensende in Prozesse verwickelt, ebenso fliessend waren wie die Identi- Lebens kein Interesse an Ackerbau und die ihn finanziell ruiniert haben. L täten der handelnden Figuren. Brown Viehzucht empfand. Aber der listen- Von Andreas Mink

26X NZZ am Sonntag X 31. August 2008 Agenda China Milliardenvolk zwischen Tradition und Moderne Agenda September 08

Basel Dienstag, 9. September, 19 Uhr Lotta Suter: Kein Frieden mehr. Lesung und Gespräch, Fr. 15.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3, Tel. 061 261 29 50.

Donnerstag, 11. September, 19 Uhr Hansjörg Schertenleib: Das Regen- orchester. Buchpremiere und Lesung, Fr. 15.–. Literaturhaus (s. oben).

Donnerstag, 18. September, AP 19 Uhr Gilles Leroy: Alabama Song. Lesung, Fr. 15.–. Literaturhaus (s. oben).

Dienstag, 23. September, 19 Uhr Adolf Muschg: Kinderhochzeit. Lesung und Gespräch, Fr. 15.–. Literaturhaus (s. oben). Montag, 8. September, 20 Uhr Franz Hohler: Das Ende eines ganz normalen Tages. Lesung, Fr. 12.–. Thalia Bücher, im Loeb, Tel. 031 320 20 20.

Kasachische Hirten sehen einer Tänzerin zu, die jekte und eine hedonistische Jugend. Klassische Mittwoch, 10. September, 20 Uhr an lässlich einer Beschneidungszeremonie im Altai- Aufnahmen von Henri Cartier-Bresson und Marc Guido & Ueli Schmezer: Ein Berner Gebirge auftritt. Dieses Bild des Fotografen Reza ist Riboud werden kontrastiert mit Meistern der Gegen- namens ... Vernissage mit Lesung, Ge- 1996 in Xinjiang Uigur entstanden. Es gehört zu einem wart wie Michael Wolf und Tony Law. Kluge Texte spräch, Musik, Fr. 12.–. Thalia (s. oben). reichhaltigen Bild- und Textband, der ein China der von sechs China-Experten ergänzen den sorgsam ge- extremen Gegensätze zeigt: Ethnische Minderheiten stalteten Band. Manfred Papst Freitag, 12. September, 20 Uhr mit ihren archaischen Gebräuchen gehören ebenso China. Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft. Terra Ma - Gunhild Kübler: Noch Wünsche? zu ihm wie boomende Städte, gewaltige Industriepro- gica/F. A. Herbig, München 2008. 272 Seiten, Fr. 70.–. Lesung, Fr. 15.–. RAUM, Militärstrasse 60. Anmeldung: Tel. 031 332 13 46. Bestseller August 2008 Zürich Mittwoch, 10. September, 20 Uhr Franz Hohler und Charles Lewinsky: Gegenseitige Präsentierung der neuen Belletristik Sachbuch Bücher. Fr. 15.– inkl. Apéro. Zunfthaus zur Schmiden, Marktgasse 20. Cecelia Ahern: Ich hab dich im Gefühl. Rhonda Byrne: The Secret. Das Geheimnis. Literaturhaus, Tel. 044 254 50 00. 1 Krüger. 416 Seiten, Fr. 29.90. 1 Goldmann. 237 Seiten, Fr. 30.90. Samstag, 13. September, 14–19 Uhr Henning Mankell: Der Chinese. Der Duden: Die deutsche Rechtschreibung. MehrDeutschSprachig – Literaturfest 2 Zsolnay. 608 Seiten, Fr. 48.–. 2 Brockhaus. 1216 Seiten, Fr. 38.80. Nagel & Kimche. Lesungen und Ge- spräche, Fr. 20.–. Kaufleuten, Klubsaal, Charlotte Roche: Feuchtgebiete. Hape Kerkeling: Ich bin dann mal weg. Tel. 044 225 33 77. 3 Dumont. 219 Seiten, Fr. 27.50. 3 Malik. 346 Seiten, Fr. 35.40. Dienstag, 16. September, John Grisham: Berufung. Richard David Precht: Wer bin ich – und wenn 20 Uhr 4 Heyne. 464 Seiten, Fr. 34.90. 4 ja, wie viele? Goldmann. 398 Seiten, Fr. 27.50. Adalet Agaoglu: Sich hinlegen und sterben. Donna Leon: Lasset die Kinder zu mir Rüdiger Schache: Das Geheimnis der Herz- Lesung, Fr. 15.– inkl. 5 kommen. Diogenes. 384 Seiten, Fr. 38.90. 5 magneten. Nymphenburger. 200 S., Fr. 32.–. Apéro. Zunfthaus zur

Schmiden (s. oben). SAGNAK Ingrid Noll: Das Kuckuckskind. Bernhard Moestl: Shaolin. 6 Diogenes. 352 Seiten, Fr. 38.90. 6 Droemer/Knaur. 239 Seiten, Fr. 27.50. Dienstag, 16. September, 20 Uhr Alice Schwarzer: Romy Schneider – Martin Suter: Der letzte Weynfeldt. Michael Winterhoff: Warum Kinder Tyrannen Mythos und Leben. Lesung, Fr. 35.–. 7 Diogenes. 272 Seiten, Fr. 35.90. 7 werden. Gütersloher Verlag. 191 S., Fr. 32.90. Kaufleuten, Klubsaal (s. oben).

Nicholas Sparks: Bis zum letzten Tag. Ernst J. Schneiter: Zivilgesetzbuch. 8 Heyne. 384 Seiten, Fr. 34.90. 8 Orell Füssli. 848 Seiten, Fr. 39.–. Bücher am Sonntag 9/08 Siegfried Lenz: Schweigeminute. Bärbel Mohr: Bestellungen beim Universum. 9 Hoffmann und Campe. 120 Seiten, Fr. 28.50. 9 Omega. 136 Seiten, Fr. 19.50. erscheint am 28. 9. 2008

Khaled Hosseini: Tausend strahlende Ulrich Strunz: Die neue Diät. Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am 10 Sonnen. Bloomsbury. 381 Seiten, Fr. 39.90. 10 Heyne. 207 Seiten, Fr. 34.90. Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 20. 8. 2008. Preise laut Angaben von www.buch.ch. 8001 Zürich, erhältlich.

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