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UNIVERSITY OF CINCINNATI

Date:______January 25, 2008

I, ______,Laura Terézia Vas hereby submit this work as part of the requirements for the degree of: Doctorate of Philosophy (Ph.D.) in: German Studies

It is entitled: Orbis pictus: Intermedialität zwischen Berliner Stadtmalerei und literarischer Stadterfahrung dargestellt anhand der Werke von E.T.A. Hoffmann und Wilhelm Raabe

This work and its defense approved by:

Chair: ______Dr. Katharina Gerstenberger ______Dr. Sara Friedrichsmeyer ______Dr. Richard E. Schade ______Orbis pictus: Intermedialität zwischen Berliner Stadtmalerei und literarischer Stadterfahrung dargestellt anhand der Werke von E.T.A. Hoffmann und Wilhelm Raabe

A thesis submitted to the

Division of Research and Advanced Studies of the University of Cincinnati

In partial fulfillment of the requirements for the degree of

DOCTORATE OF PHILOSOPHY (Ph.D.)

in the Department of German Studies of the College of Arts and Sciences

2008

by

Laura Terézia Vas

BA in German and History, University of Szeged, 1999 MA in German, University of Cincinnati, 2001 MS in Architecture, University of Cincinnati, 2007

Committee Chair: Dr. Katharina Gerstenberger Committee Members: Dr. Sara Friedrichsmeyer Dr. Richard E. Schade

Abstract

Orbis Pictus: Intertextuality between Visual Arts and Literature in 19th-century Berlin Texts in Works of ETA Hoffmann and Wilhelm Raabe

This dissertation explores the relationship between the visual and textual Berlin representations of E.T.A. Hoffmann and Wilhelm Raabe and architectural and city paintings among others by Karl Friedrich Schinkel, Eduard Gaertner and Adolph Menzel. Besides interart comparison the dissertation uses non-fictional aesthetic writings, socio- historical analyses and contemporary concepts of urban planning in the analyses of canonical Berlin texts. As city texts often bear an explicit or implicit affinity to the art of painting, concepts and techniques such as the elevated view, window view and the bird’s eye view in text and images are compared in Berlin texts and paintings. The dissertation argues that the innovative visual and textual representations of the civic spaces of Berlin served as frame for transforming the Berliners’ relationship to their urban environment and raised a new urban consciousness. The dissertation argues that early city texts and city paintings reflect similarly upon a new significance of seeing and a changing urban perception.

The introduction is devoted to methodological questions as it explores the necessity of an interdisciplinary approach, the terminology for the concept intermediality and the interconnectedness of the representation of the urban environment in literature and in the visual arts. The first chapter analyses eight Berlin-texts by E.T.A. Hoffmann and discusses the label “Berlinische Geschichte” in a wide cultural context with the aid of Hoffmann’s Berlin drawings and of contemporary Berlin paintings. The second chapter is devoted the Hoffmann’s Des Vetters Eckfenster (1822), which is compared to two architectural paintings of the Gendarmenmarkt from 1822 and to the curtain design of the Schauspielhaus by Karl Friedrich Schinkel. The similarity of the representations manifests itself in extraordinary perspectives and reveals how the Gendarmenmarkt contributed to the emergence of a new civic space and a new urban consciousness, whose most important feature is the democratization of previously privileged vantages on the canvas as much as in literature. The third chapter interprets Wilhelm Raabe’s Die Chronik der Sperlingsgasse in context of Eduard Gaertner’s paintings and discusses the differences and similarities in the two media in regard to the concept of the elevated view above the city. Raabe mobilizes many images from the reservoir of Biedermeier Berlin paintings, however fills them with new political contents after the failed March Revolution. The fourth chapter analyses three Berlin novels by Raabe (Ein Frühling, Die Leute aus dem Walde, Ihre Wege, Sterne und Schicksale and Die Akten des Vogelsanges) and focuses on topics such as the description of the new Berlin neighborhoods versus the Altstadt (especially the vicinity of the university) and industrialization in the novels as well as in contemporary city paintings.

Keywords: the city in art and literature, Berlin, E.T.A. Hoffmann, Wilhelm Raabe, intermediality, 19th century German city literature

iii

Kurzfassung

Diese Dissertation zeigt an Berlin-Texten von E.T.A. Hoffmann und Wilhelm Raabe, dass Grenzüberschreitungen zwischen den bildenden Künsten und der Literatur in den literarischen und malerischen Repräsentationen von Berlin im 19. Jahrhundert häufig zu finden sind. Die Berlin-Werke zweier Autoren werden in einem breiten kulturwissenschaftlichen Kontext untersucht, um zu zeigen, dass die Großstadt eine Entwicklung von neuen Repräsentationstechniken und innovative literarische Verfahren fördert. Dieses Phänomen kommt in den besprochenen Texten unter anderem durch eine erhöhte Wechselbeziehung von Literatur und Malerei zu Tage. Eine intensivierte Intermedialität zwischen Literatur und der zeitgenössischen Berlin Malerei erscheint zum Beispiel in panoramengleichen Strukturen, in der innovativen Anwendung der Vogelschau und des Fensterblickes, sowie in der literarischen Mobilisierung von Repräsentationstechniken der zeitgenössischen Veduten- und Stadtmalerei. Das Ziel ist eine materielle Ausweitung des Gegenstandsbereichs der Literaturwissenschaft, indem die Stadt- und Baugeschichte Berlins, biographische Angaben der beiden Schriftsteller, außerliterarische Stadttexte, Zeichnungen der beiden Doppelbegabungen und Berliner Stadtgemälde in die stofflich orientierte Analyse der Primärtexte einbezogen werden. Die Analyse der literarischen Texte aus dieser Perspektive enthüllt, wie Werke der Literatur mit anderen Diskursen der Zeit in dialogischer Beziehung stehen und die tradierten literarischen und malerischen Wahrnehmungsmuster sich in der Auseinandersetzung mit dem neuen Sujet -- der wachsenden Großstadt -- auflösen.

Das erste Kapitel beschäftigt sich mit Hoffmanns früheren Berliner Texten und versucht die Kategorie „Berlinische/Berliner Geschichte“ als großstadtliterarische Form zu konzeptualisieren. Das Kapitel hat das Ziel, neben der Formung und Analyse eines neuen Korpus von „Berlinischen Geschichten,“ eine thematische und strukturelle Klassifizierung dieser „Gattung“ vorzunehmen. Die Berlin-Schilderungen von acht Erzählungen Hoffmanns werden in einem breiteren Kontext untersucht und mit den Berliner Zeichnungen des Doppeltalents verglichen. Wenn diese Werke aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive untersucht werden, kommt es zu Tage, dass Hoffmanns Berlin-Beschreibungen aus einer „bildlosen“ Zeit, aus einer Übergangsphase in der Berliner Stadtmalerei stammen. Weiters wird die Analyse auch enthüllen, wie Hoffmanns frühe Berlinische Geschichten als Kritik der damaligen aufklärerischen Stadtplanung gelesen werden können. Schließlich wird gezeigt, dass die diversen malerischen und dichterischen Stadtbilder Hoffmanns mit den ästhetischen Ansichten des Künstlers korrespondieren.

Das zweite Kapitel ist den malerischen und literarischen Repräsentationen des Gendarmenmarktes, der als ein kondensiertes Modell der modernen Großstadt angesehen wird, gewidmet. Der Gendarmenmarkt übte auf die Erzähltechnik und Thematik von E.T.A. Hoffmanns letzter Erzählung, Des Vetters Eckfenster (1822) einen markanten Einfluss aus. Einerseits erzeugt der Ort intensive Bildlichkeit, andererseits sind die Verhaltensweisen der Charaktere auf dem Markt und vor dem Theater Komponenten der Großstadtmentalität, die in theoretischen Werken von Georg Simmel und anderen Soziologen und Großstadtforschern über 80 Jahre später beschrieben wurden. In der

iv

Analyse wird die Stadtwahrnehmung in Des Vetters Eckfenster in einem breiten Kontext im Vergleich mit drei malerischen Repräsentationen des Gendarmenmarktes aus dem Jahre 1822 (von Carl Georg Adolf Hasenpflug, Carl Georg Enslen und Eduard Gaertner) behandelt. Abschließend wird Karl Friedrich Schinkels Baukunstphilosophie und sein Bühnenbildentwurf aus dem Jahre1822 mit der literarischen Repräsentation dieses neuen urbanen Raumes in Hoffmanns letzter Erzählung kontextualisiert. Die Entdeckung des komplexen Stadtraums und seine Veränderungen im Moment der Entstehung von Hoffmanns letzter Erzählung zeugen davon, dass bestimmte soziale, wahrnehmungsästhetische Phänomene sowohl in der Architektur und malerischen Repräsentationen des Platzes, als auch in der literarischen Schilderung des Ortes anwesend sind.

Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit repräsentativen Werken des Berliner Architekturmalers Eduard Gaertner, die in der zweiten Hälfte des Kapitels thematisch und strukturell mit der Großstadtdarstellung Raabes verglichen werden. In der Chronik findet sich nämlich mehrmals eine Imitation bzw. eine Inszenierung der biedermeierlichen Berliner Architekturmalerei, zu der auch die Werke Eduard Gaertners zu zählen sind. Eine Intermedialität entsteht zwischen dem Maler Gaertner und dem Schriftsteller Raabe auf mehreren Ebenen, die anhand der Analyse ihrer Repräsentationstechniken und der symbolischen Anwendung der öffentlichen und verborgenen Lokalitäten von Berlin erläutert wird. Raabe mobilisiert ein den Berlinern bereits bekanntes bildliches Reservoir in seinem Roman, in dem jedoch neben den intermedialen inhaltlichen und strukturellen Parallelen nach der gescheiterten Märzrevolution eine Neupositionierung der handelnden Personen stattfindet.

In dem vierten Kapitel der Dissertation werden ausgewählte Werke aus dem Raabeschen Oeuvre mit den zeitgenössischen malerischen Repräsentationen Berlins, in erster Linie von Adolph Menzel, verglichen, um die ästhetischen und thematischen Ähnlichkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. Drei Romane mit drei verschiedenen Themenkreisen und Erzähltechniken stehen im Zentrum dieses Kapitels: Altstadtromantik und Großstadtinteresse in Ein Frühling (1857), die Darstellung der Industrialisierung und die Anwendung der Vogelperspektive in Die Leute aus dem Walde, Ihre Wege, Sterne und Schicksale (1863) und die Schilderung der Berliner Vorstädte sowie der Universität in Die Akten des Vogelsanges (1896) und in malerischen Repräsentationen. Die drei Romane sind drei verschiedene Annäherungen, an die Komplexität Berlins darzustellen und können auch dazu benutzt werden, die künstlerische Entwicklung Raabes in Bezug auf seine Berlin-Repräsentationen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu analysieren.

v vi

Widmung

Im Andenken an József Vas (1946-1993)

vii

Danksagung

Die vorliegende Arbeit ist als Dissertation am 25. Januar 2008 im Fachbereich German Studies der University of Cincinnati angenommen worden.

Ich danke besonders meiner Betreuerin Prof. Katharina Gerstenberger für ihr Interesse und die Unterstützung durch immerwährende Diskussionsbereitschaft und Anregungen. Auch Prof. Sara Friedrichsmeyer und Prof. Richard E. Schade gebührt mein Dank für das Zweitgutachten. Beide haben mir als kritische Leser einen großen Dienst erwiesen.

Außerdem gilt mein Dank der University of Cincinnati (dem Lehrstuhl für German Studies, University Research Counsel und Taft Foundation) für die Verleihung von Promotionsstipendien. Ohne die Bibliothekare in den UC Bibliotheken und besonders im Interlibrary Loan Office wäre mir das Beschaffen vieler Bücher schwerer gefallen.

Viele Seminare haben für die Dissertation eine wichtige Basis gelegt, besonders Kurse von Prof. Edward Dimendberg an der University of Michigan und Seminare von Prof. Katharina Gerstenberger an der University of Cincinnati. Ich bin auch dankbar für mehrere Textempfehlungen und Inspirationen von Professors Todd Herzog, Dörte Bischoff und Alexander Košenina. Ich habe auch an verschiedenen Konferenzen wie an der GSA 2005 Konferenz in Milwaukee, an der University of Manitoba, University of Virginia und der Péter-Pázmány-Katholischen Universität in Piliscsaba viele gute Vorschläge erhalten, für die ich sehr dankbar bin.

Julia K. Baker bin ich besonders für ihre Freundschaft, für das prompte Korrekturlesen dieser Arbeit und für ihre ausgeprägte Hilfsbereitschaft in den letzten fünf Jahren dankbar. Meine Mitstudenten, Silke Schade, Aine Zimmerman und Wolfgang Lückel haben während Doktorandenkolloquien und in Seminaren an der University of Cincinnati zum Projekt beigetragen. Hier sei jedoch allen Mitstudenten am Lehrstuhl für German Studies der University of Cincinnati, die direkt oder indirekt zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben und nicht namentlich erwähnt wurden, mein herzlicher Dank ausgesprochen.

Professors Patrick Snadon, John E. Hancock und Liz Riorden im Fachbereich Architektur an der University of Cincinnati bin ich auch sehr dankbar für ihre Hilfe während der Arbeit.

Dr. Béla Kerékgyártó an der Technischen Universität Budapest war eine besonders große und ehrbare Hilfe, dessen Bemerkungen und Vorschläge diese Dissertation mehrfach verbessert haben.

Meine Studenten im Kurs „Paris, Berlin, Wien: Die Stadt in Kunst und Literatur“ haben mit ihrem Interesse am Thema und mit ihren kritischen Fragen meine Motivation in einer besonders schweren Zeit am Leben gehalten.

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Ich möchte auch denen danken, die mir durch viele Gespräche, vielerlei Hilfe und Unterstützung geholfen haben, dieses Projekt durchzuführen. Dieser Dank gilt vor allem Debbie Page, Maria Romagnioli, Elizabeth Meyer, Marion Piening an der University of Cincinnati so wie Dr. Márta Harmat und Dr. Erzsébet Forgács in Szeged.

Meiner Familie bin ich dankbar für die Unterstützung, ihre Kraft und ihre Liebe, die mich alle die Jahre durch mein Studium begleitet haben. Insbesondere möchte ich an dieser Stelle meiner Mutter, Terézia Újvári, Dank sagen, die mir eine Universitätsausbildung trotz vieler Schwierigkeiten so selbstverständlich erscheinen lassen und mich ständig unterstützt hat. Die Arbeit widme ich meinem Vater, József Vas, der mir vor 15 Jahren vorgeschlagen hat, trotz meines Interesses an Mathematik und Chemie nach dem Abitur Geschichte und Germanistik zu studieren. Leider hat er nie erlebt, dass ich seinen Vorschlag so zu Herzen genommen habe und einige Themen, über die wir uns im kleinen Dorf Tázlár in Ungarn so viel unterhalten haben, auch ihren Weg in diese Dissertation gefunden haben.

Schließlich danke ich meinem Mann Ferenc Traser nicht nur für seine Soforthilfe bei Computerproblemen aller Art, sondern auch für seine Geduld und seinen Glauben an mein Projekt. Ohne seine Hilfe wäre es unmöglich gewesen, diese Arbeit fertig zu schreiben. Meine zweijährige Tochter, Zsófia Boróka Traser, erinnert mich jeden Tag daran, wie Lesen und Literatur unser Leben bereichern kann.

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Inhaltsverzeichnis

Abstract ...... iii Kurzfassung ...... iv Widmung ...... vii Inhaltsverzeichnis ...... x Verzeichnis der Abbildungen...... xii EINLEITUNG ...... 1 Doppelbegabungen in Berlin: E.T.A. Hoffmann und Wilhelm Raabe ...... 1 Der Topos Großstadt in der Literatur: Urbanisierung und Visualität ...... 5 Die Periodisierung von Berliner Stadttexten und Werken der Berliner Stadtmalerei im 19. Jahrhundert ...... 10 Methodologie: Kulturwissenschaftliche Ansätze und die Erforschung von Intermedialität...... 16 KAPITEL 1.: Geister und gespenstische Liebesbeziehungen: Die Berlinischen Geschichten E.T.A. Hoffmanns ...... 24 Einführung...... 24 „Das lebendige Leben der großen Stadt, der Residenz wirkt doch nun einmal wunderbar auf das Gemüth“: E.T.A. Hoffmann in Berlin ...... 26 „Vater des Berliner Romans“: Editionsgeschichte der Berlin-Texte Hoffmanns 32 Kalte Herbst- und Winternächte in der Friedrichstadt: Berlin in den Fantasiestücken in Callots Manier ...... 36 Seltsame Begegnungen: Berlin in den Nachtstücken ...... 46 Brautwerbung in Berlin: ‚Berlinische Geschichten’ in den Serapions-Brüdern ... 53 Geheimnisse und Irrungen: Berlin in den Späten Werken ...... 60 Die Klassifizierung von Hoffmanns Berlinischen Geschichten ...... 65 Intermedialität: Das gezeichnete und das erzählte Berlin bei Hoffmann ...... 69 Die bildlose Zeit Berlins: Hoffmann und die zeitgenössische Stadtmalerei ...... 75 Schlussfolgerung ...... 80 KAPITEL 2.: Rund um den Gendarmenmarkt: Eine ästhetische und sozial- politische Sehschule in E.T.A. Hoffmanns Des Vetters Eckfenster (1822)...... 82 Einführung...... 82 Des Vetters Eckfenster: Quellen, Stoffwahl und Erzählstruktur ...... 85 Eine Sonderposition im Hoffmannschen Oeuvre: Stand der Forschung ...... 88 „Prophete rechts, Prophete links / Das Weltkind in der Mitten.“: Der Gendarmenmarkt als ökonomisches, militärisches, kirchliches und kulturelles Zentrum ...... 94 „...mir entwickelt sich daraus die mannigfachste Szenerie des bürgerlichen Lebens“: Der Markt in Des Vetters Eckfenster...... 95 „Weit, hoch, herrlich der Blick / Rings ins Leben hinein!“: Der gemalte Gendarmenmarkt im Jahre 1822 und die panoramatische Erzähltechnik in Des Vetters Eckfenster ...... 103 „Eine Stadt ohne Theater ist wie ein Mensch mit zugedrückten Augen, wie ein Ort ohne Luftzug, ohne Kurs“: Die Bedeutung des Schinkelschen Theaters in Des Vetters Eckfenster ...... 119

x

Des Vetters Eckfenster im Kontext der Berlinischen Geschichten ...... 130 Schlussfolgerung ...... 133 KAPITEL 3.: Berlin in den Werken von Eduard Gaertner und Wilhelm Raabes Die Chronik der Sperlingsgasse: Ein intermedialer Vergleich ...... 136 Einführung...... 136 Berlin und Eduard Gaertner ...... 140 Malerei der Spreegassen: Die Berliner Altstadt in Gaertners Gemälden ...... 143 Berlin in sechs Stücken gerahmt: Eduard Gaertners Panoramabilder (1834/35) ...... 147 „Ohne Bekannte und Freunde in der großen Stadt“: Wilhelm Raabe in Berlin 160 Intermedialität zwischen Gaertner und Raabe: Malerei der Spreegassen und Die Chronik der Sperlingsgasse ...... 164 „Wie ein Gebäude aus den bunten Steinen eines Kinderbaukastens“: Reflexivität und intensivierte Visualität in der Erzählform ...... 170 „In hübsche Rahmen gefasst“: Der Blick aus der Höhe bei Gaertner und Raabe ...... 180 Schlussfolgerung ...... 188 KAPITEL 4.: Berlin-Topographien in ausgewählten Werken Wilhelm Raabes ... 190 Einführung...... 190 „Ich bin unendlich froh, dass ich den Berliner Schwindel los bin!“: Berlin und Raabe nach der Chronik ...... 193 Exkursus: Berliner Stadtmalerei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ... 197 Ein Frühling: Zwischen Altstadtromantik und Großstadtinteresse (1857) ...... 202 „Sieh nach den Sternen, gib acht auf die Straßen“: Die Anwendung der Vogelperspektive in Die Leute aus dem Walde, ihre Sterne, Wege und Schicksale (1863) ...... 212 Verlorene Nachbarschaft und Hommage an der Berliner Universität: Die Akten des Vogelsangs (1895) ...... 233 Schlussfolgerung ...... 241 SCHLUSSWORT ...... 244 LITERATURVERZEICHNIS ...... 249

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Verzeichnis der Abbildungen

1. Lindenrolle – Panorama der Straße Unter den Linden, um 1819/20. Verwiebe, Birgit (Hg). Unter den Linden. Berlins Boulevard in Ansichten von Schinkel, Gaertner und Menzel. Berlin: GH Verlag, [1997]. S. 80.

2. Karl Friedrich Schinkel, Schauspielhaus, Berlin, 1818-1821. Bergdoll, Barry. Karl Friedrich Schinkel. An Architecture for Prussia. New York: Rizzoli, 1994. S. 62.

3. E.T.A. Hoffmann, Die Linden, datiert 8. September 1799. Bleistiftzeichnung, nachträglich mit Tinte nachgezogen. Steinecke, Hartmut. Die Kunst der Fantasie. E.T.A. Hoffmanns Leben und Werk. Frankfurt am Main: Insel, 2004.

4. E.T.A. Hoffmann, Der Kunzische Riss Hoffmann, E.T.A. E.T.A. Hoffmanns Briefwechsel I-III. Hg. Hans von Müller und Friedrich Schnapp, Winkler Verlag 1967. II, S. 66.

5. Dismar Dägen, Vogelschaubild der Friedrichstadt (um 1735) Stadtbilder. Berlin in der Malerei vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin Museum 1987. S. 23.

6. Carl Friedrich Fechhelm, Der Platz am Operhaus und die Straße Unter den Linden, 1756 Stadtbilder. Berlin in der Malerei vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin Museum 1987. S. 27.

7. Foto vom Gendarmenmarkt (2007) Autor: Ferenc Traser

8. Jacques Callot, Der Jahrmarkt von Impruneta (1620)

9. Carl Georg Adolf Hasenpflug (1802-58), Perspektivische Ansicht des neuen Schauspielhauses und der beiden Thürme (um 1822) Stadtbilder. Berlin in der Malerei vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin Museum 1987. S. 171.

10. Carl Georg Enslen, Blick auf den Gendarmenmarkt (1822) Bartmann, Dominik und Ancke Gondula (Hg). Eduard Gaertner. 1801-1877. Nicolai 2001, S. 105.

11. Eduard Gaertner, Ansicht des Gensd’armen-Marktes hieselbst (1857) Bartmann, Dominik und Ancke Gondula (Hg). Eduard Gaertner. 1801-1877. Nicolai 2001. S. 287.

xii

12. Explanation of The Cosmorama, 29 St. James’s Bartmann, Dominik und Ancke Gondula (Hg). Eduard Gaertner. 1801-1877. Nicolai 2001, S. 105.

13. Bühne des Theaters und Dekoration des Eröffnungsprologs von Karl Friedrich Schinkel. Feder in Tusche, Sammlung Architektonischer Entwürfe, Blatt 14, 1826, bzw. 97. Reprint in Bergdoll, Barry. Karl Friedrich Schinkel. An Architecture for Prussia. New York: Rizzoli, 1994. S. 63.

14. Eduard Gaertner, Klosterstraße mit Parochialkirche (1830) Bartmann, Dominik und Ancke Gondula (Hg). Eduard Gaertner. 1801-1877. Nicolai 2001, S. 279.

15. Eduard Gaertner, Parochialstraße ehem. Reetzengasse (1831) Bartmann, Dominik und Ancke Gondula (Hg). Eduard Gaertner. 1801-1877. Nicolai 2001, S. 277.

16. Eduard Gaertner, Ein Panorama von Berlin, von der Werderschen Kirche aus aufgenommen (1834) Bartmann, Dominik und Ancke Gondula (Hg). Eduard Gaertner. 1801-1877. Nicolai 2001, S. 238-239.

17. Wilhelm Raabe, Tuschzeichnung Peter, Hans-Werner. Wilhelm Raabe. Der Dichter in seinen Federzeichnungen und Skizzen. Rosenheimer Verlagshaus Alfred Förg GmbH und Co, 1983. S. 54.

18. Wilhelm Raabes Zimmerzeichnungen aus Berlin und Peter, Hans-Werner. Wilhelm Raabe. Der Dichter in seinen Federzeichnungen und Skizzen. Rosenheimer Verlagshaus Alfred Förg GmbH und Co, 1983. S. 54, S. 105.

19. Adolph Menzel, Maurer auf dem Bau (1875) Stadtbilder. Berlin in der Malerei vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin Museum 1987. S. 205.

20. Georg Schöbel, Mühlendamm und Fischerbrücke (1890) Stadtbilder. Berlin in der Malerei vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin Museum 1987. S. 182.

21. Rudolf Dammeier, Die Spree längs der Stralauer Straße (1882) Stadtbilder. Berlin in der Malerei vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin Museum 1987. S. 208.

xiii

22. Max Klinger, Ein Mord ist geschehen (aus dem Opus „Dramen“, 1882) Stadtbilder. Berlin in der Malerei vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin Museum 1987. S. 179.

23. Johann Georg Rosenberg, Berlin von den Rollbergen zu sehen (1786) Stadtbilder. Berlin in der Malerei vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin Museum 1987. S. 88.

24. Johann Georg Rosenberg, Ansicht Berlins mit dem Halleschen Tor, aufgenommen am Tempelhofer Berg (um 1785) Stadtbilder. Berlin in der Malerei vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin Museum 1987. S. 90.

25. Adolph Menzel, Der Blick auf Hinterhäuser (1847) Stadtbilder. Berlin in der Malerei vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin Museum 1987. S. 202.

26. Eduard Gaertner, Lithographie Portal der Universität zu Berlin (1932) Bartmann, Dominik und Ancke Gondula (Hg). Eduard Gaertner. 1801-1877. Nicolai 2001, S. 301.

xiv

EINLEITUNG

Doppelbegabungen in Berlin: E.T.A. Hoffmann und Wilhelm Raabe

In jeder Epoche gibt es kulturelle Ausdrucksformen, die in ihren Stilmerkmalen

miteinander korrespondieren und einander wechselseitig fördern. Welche Form

künstlerischer Darstellung den Anstoß zur Herausbildung eines neuen, die Zeit

charakterisierenden Stils, gibt, ist verschieden: Im Barock lag der Ansatz in der bildenden

Kunst und in der Klassik und Romantik bestimmte die Dichtung die Stilentwicklung.

Dagegen ist der Stilwandel im Impressionismus und im Expressionismus am frühesten in

der Malerei zu entdecken. In jeder Epoche kann man eine enge Verbundenheit

beobachten und die verschiedenen Künste haben spannende Grenzüberschreitungen zur

Welt hervorgebracht. Diese Grenzüberschreitungen sind besonders interessant für

Literaturwissenschaftler, wenn die Analysen von literarischen Werke in diesem breiteren

Kontext verdeutlichen, dass Texte und Bilder Produkte eines gemeinsamen stofflichen

Quellenbereiches sind.

Diese Dissertation zeigt an Berlin-Texten von E.T.A. Hoffmann und Wilhelm

Raabe, dass Grenzüberschreitungen zwischen den bildenden Künsten und der Literatur in den frühesten literarischen und malerischen Repräsentationen von Berlin häufig zu finden sind. Stadtgemälde und Berlin-Texte korrespondieren und ergänzen einander nicht nur, sondern stellen auch einen festen Kanon von Repräsentationsformen über Berlin her.

Diese Formen können die gesellschaftlichen, ökonomischen und stadtgeschichtlichen

Veränderungen folgend mit neuen Inhalten erfüllt werden. Diese Dissertation untersucht

die Berlin-Werke zweier Autoren in einem breiten kulturwissenschaftlichen Kontext, um

1

zu zeigen, dass die Großstadt eine Entwicklung von neuen Repräsentationstechniken und

innovative literarische Verfahren fördert. Dieses Phänomen kommt in den besprochenen

Texten unter anderem durch eine erhöhte Wechselbeziehung von Literatur und Malerei

zu Tage. Eine intensivierte Intermedialität zwischen Literatur und der zeitgenössischen

Berlin Malerei erscheint zum Beispiel in panoramengleichen Strukturen, in der

innovativen Anwendung der Vogelschau und des Fensterblickes, sowie in der

literarischen Mobilisierung von Repräsentationstechniken der zeitgenössischen Veduten-

und Stadtmalerei.

Die Vielfalt der Texte und Medien verlangt eine kulturwissenschaftliche

Annäherung an die Stadttexte der zwei Doppelbegabungen Hoffmann und Raabe. Diese

Dissertation beleuchtet Gemeinsamkeiten geisteswissenschaftlicher Fächer, deren

Erkenntnismöglichkeiten und Verfahrensweisen viele Ähnlichkeiten aufzeigen. Das Ziel

ist eine materielle Ausweitung des Gegenstandsbereichs der Literaturwissenschaft, indem

die Stadt- und Baugeschichte Berlins, biographische Angaben der beiden Schriftsteller,

außerliterarische Stadttexte, Zeichnungen der beiden Doppelbegabungen und Berliner

Stadtgemälde in die stofflich orientierte Analyse der Primärtexte einbezogen werden. Die

Analyse der literarischen Texte aus dieser Perspektive enthüllt, wie Werke der Literatur

mit anderen Diskursen der Zeit in dialogischer Beziehung stehen und die tradierten

literarischen und malerischen Wahrnehmungsmuster sich in der Auseinandersetzung mit dem neuen Sujet -- der wachsenden Großstadt -- auflösen. Ein Resultat dieser

Veränderung ist neben der innovativen ästhetischen Präsentation des neuen Erzählstoffes

eine thematische Veränderung, da die Stadtbilder von Hoffmann und Raabe keine reinen

Phantasiestädte mehr sind, sondern auch reale Abbildungen der zeitgenössischen

2

sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnisse des im 19. Jahrhundert sich rapid

verändernden Berlins.

Als Ausgangspunkt der Stoffwahl diente die Doppelbegabung der beiden

Schriftsteller, da beide gleichzeitig mehrfach begabt und künstlerisch tätig waren.

Doppelbegabungen zeigen oft eine besondere Affinität zu den Werken von Malern und anderen Künstlern auf und dieses Phänomen tritt auch in den literarischen Werken von

E.T.A. Hoffman und Wilhelm Raabe auf.1 E.T.A. Hoffmann2 und Wilhelm Raabe3

besaßen neben ihrer dichterischen Berufung auch eine Begabung als Zeichner und

Maler.4 Intensive Visualität und Referenzen auf die bildende Kunst und auf bestimmte

Maler nehmen eine wichtige Rolle in den Werken der beiden Schriftsteller ein.5 Beide

machen Maler zu Protagonisten oder lassen ihre Erzähler als „Maler“ beim Schreiben

arbeiten.

Neben der Doppelbegabung verbinden Erzählwerke die beiden Schriftsteller,

besonders Hoffmanns letzte Erzählung Des Vetters Eckfenster (1822) und Raabes

Debütroman Die Chronik der Sperlingsgasse (1854/55), die zum festen Kanon der

Berlinliteratur gehören. Ihr Einfluss erscheint auch in den späteren Berlin-Texten aus den

1920er Jahren, in denen Franz Hessel, Walter Benjamin und während ihrer

1 Vor allem soll hier Hoffmanns Bezug auf Callots bildnerische Darstellungsweise, die auch im Titel der Sammlung der Fantasiestücke in Callots Manier erscheint. Vgl. dazu unter anderem Bomhoff und Olaf Schmidt. Ricarda Schmidt hat auch intermediale Beziehungen in mehreren von Hoffmanns Texten untersucht. 2 Die bekannte Grabinschrift Hoffmanns bezeichnet die Tätigkeiten des Verstorbenen in der folgenden Weise: „Kammergerichts-Rath / ausgezeichnet / im Amte / als Dichter / als Tonkünstler / als Maler.“ Zu Beschreibungen des Hoffmannschen zeichnerischen Oeuvres siehe: Böettcher/Mittenzwei 73-83 und Lee. 3 Vgl. dazu Arndt, Hoppe und Peter. 4 Beide Schriftsteller gehören zum festen Kanon der deutschsprachigen Doppeltalenten und ihre zeichnerische Erbe wurde auch in Anthologien und Büchern untersucht. Vgl. dazu Böettcher/Mittenzwei 73-83 und 162-65 und Günther 77-85 128-32. 5 Z.B. erwähnt der Protagonist in Des Vetters Eckfenster Callot, Hogarth und Chodowiecki , während Raabe den Erzähler in der Chronik als Maler auftreten lässt und als seinen Mitarbeiter einen Karikaturisten wählt. 3

Flanerie oft nach dem Erbe der beiden Schriftsteller suchen und ihre Namen nennen.6

Beide Doppelbegabungen kommen als Provinzler nach Berlin und haben das

Großstadtleben als mächtige Bewusstseinserweiterung erlebt. Neben dieser gemeinsamen

Perspektive in ihren literarischen Werken haben beide Berlin, bzw. den eigenen biographischen Hintergrund, in ihren berühmtesten Berlin-Texten sowohl literarisch als auch zeichnerisch verewigt: Hoffmann fertigte eine Tuschzeichnung über den

Gendarmenmarktplatz7 an und Raabe eine über seine Berliner Wohnung in der

Spreegasse.8

Für Raabe, der aus dem kleinen Wolfenbüttel nach Berlin kam, um dort zu

studieren, war Berlin „die große Stadt,“ wie er sie nennt, ein Erlebnis und auch Hoffmann

beschreibt in seinen Briefen enthusiastisch, wie sein Geist in der neuen Umgebung

neugeboren wurde. Beide haben sich für die neusten Tendenzen in der zeitgenössischen

Kunst in dem sich verändernden Berlin interessiert und diese Faszination kommt in ihren

Berlin-Texten zum Ausdruck. Im Gegensatz zu Raabe, der die Stadt bewusst verließ und

sich in zur Ruhe setzte, ist Hoffmann am Ende seines Lebens zu einem

stolzen Berliner geworden. In beiden Fällen erscheinen die biographischen Erfahrungen

der Schriftsteller in ihren Werken, in denen auch die Aktualitäten der sich verändernden preußischen Residenzstadt thematisiert werden. Beide Autoren haben aber in ihren

Werken nicht nur die subjektiven Erlebnisse von nach Berlin übersiedelten Provinzlern

6 Vgl. dazu Hessel: Die Sperlingsgasse wurde eine der wichtigsten literarischen Lokalitäten in den 1920er Jahren. Franz Hessel besucht sie auch während seines Stadtrundgangs: “Sieh, da zur Rechten zweigt so ein Gässchen ab, Spreegasse heißt es und Raabes Sperlingsgasse, und da steht auch das Haus, in dem der Dichter gewohnt hat…” („Rundfahrt“ 65). 7 Zu einer Beschreibung der Tuschzeichnung siehe Georg Wirths Aufsatz. 8 Eine Tuschzeichnung hat Raabe über seine Berlin-Wohnung in der Spreegasse gemacht, die der Schriftsteller in einem Brief an seine Mutter gesandt hat. 4

verdichtet, sondern auch als Chronisten die objektiven Wirklichkeiten Berlins in ihren

Texten aufgezeigt.

Der Topos Großstadt in der Literatur: Urbanisierung und Visualität

Es war gegen Mittag, als Franz Sternbald auf dem freien Felde unter einem Baume saß und die große Stadt Leyden betrachtete, die vor ihm lag. Er war an diesem Tage schon früh ausgewandert, um sie noch rechtzeitig zu erreichen; jetzt ruhte er aus, und es war ihm wunderbar, dass nun die Stadt, die weltberühmte, mit ihren hohen Türmen wie ein Bild vor ihm stand, die er sonst öfter im Bilde gesehn hatte. Er kam sich jetzt vor als eine von den Figuren, die immer in den Vordergrund eines solchen Prospektes gestellt werden, und er sah sich nun selber gezeichnet oder gemalt da liegen unter seinem Baume, und die Augen nach der Stadt vor ihm wenden. (Franz Sternbalds Wanderungen, 1798)

Die Stadt als Gemälde, als gemaltes Bild ist ein oft benutztes literarisches Motiv. Wie das obige Zitat zeigt, hat auch in Franz Sternbalds Wanderungen diese

Technik angewandt. Die Stadt Leyden, das spätmittelalterliche Kunstzentrum, wird hier von dem Protagonisten, der sie aus der Ferne betrachtet, noch gar nicht wirklich gesehen, sondern nur als ein stimmungsvolles Gemälde erlebt. Das Stadtbild im Roman ist ein frei erfundenes Phantasiegemälde, das später als Hintergrund der Handlung dient.

Stadtbeschreibungen, die Gemälde evozieren, erscheinen auch in Werken des 19.

Jahrhunderts, jedoch verändert sich das obige stimmungsvolle Stillleben mit dem

Aufstieg der Städte und der Verwandlung der Stadtkultur. Während sich mittelalterliche

Städte in industrialisierte Großstädte verwandelt, verändert sich die Wahrnehmung der

Stadtbewohner und diese Wandlung spiegelt sich in der Kunst und Literatur wider durch

die Anwendung von neuen malerischen Techniken und innovativen Erzählstrategien.

5

Die Großstadt ist ein Ort, der die Enttraditionalisierung des Alltagsverhaltens

beschleunigt, und diese Tendenzen haben ihre Spuren in mehreren Bereichen der

ästhetischen Gestaltung des wachsenden Berlin im 19. Jahrhundert hinterlassen.9 Der

Topos Großstadt fördert die Entwicklung von neuen Techniken und

Wahrnehmungsformen. Die Großstadt und ihre einerseits abschreckende, andererseits erstrebenswerte Erfahrungswirklichkeit haben ein bestimmtes, neues

Wahrnehmungsvermögen hervorgebracht. Die neuen objektiven Realitäten der Großstadt,

wie neue Formen von Architektur, Ökonomie und öffentlichen Verkehrsmitteln, die

aufgrund der demographischen Veränderungen in den Straßen wimmelnden Massen, der

damit verbundene Lärm, haben einen markanten Einfluss auf das literarische Narrativ

sowie auf die ästhetische Gestaltung von Stadtgemälden ausgeübt. Kunst und Literatur

reagieren auf diese Veränderungen und deuten das neue Wahrnehmungsvermögen

ästhetisch.

Die neue Wahrnehmung bedeutete neue Einsichten in die fundamentalen

Kategorien von Zeit und Raum, in die Grenzen des Individuums und die Autonomie des

Einzelwesens. Die Beziehungen und Angelegenheiten des typischen Großstädters werden

immer mannigfaltiger und komplizierter. Mit dem Erscheinen von neuen Technologien

und der neuen Nutzung von öffentlichen und privaten Räumen erfahren Stadtbewohner

Zeit und Raum anders als früher10 und urbanes Verhalten bringt eine neue Polarität

zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, Isolation und Partizipation und Alleinsein und

Dabeisein mit sich. Die Theoretisierung dieser Erfahrungen und die Beschreibung der

neuen Wahrnehmung der Großstadtbewohner fand allerdings erst um die

9 Vgl. dazu Brüggemann und Lobsien. 10 Siehe dazu unter anderem Schivelbusch. 6

Jahrhundertwende (z.B. in „Die Großstädte und das Geistesleben“ von Georg Simmel,

1903) statt. Das Bewusstsein, dass sich etwas verändert hat, erschließt sich nämlich oft

erst am Ende, wenn ein Prozess zum Abschluss gekommen ist oder, wie Hegel schreibt,

„Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“ Mit

dem Tempo und den Mannigfaltigkeiten des wirtschaftlichen, beruflichen,

gesellschaftlichen Lebens entwickelte sich eine neue Subjektivität in der modernen

Zivilisation, die mit der Urbanisierung in einer engen Beziehung steht.

Die obigen Konditionen haben zur Problematik des modernen Lebensgefühls beigetragen, nämlich zu dem Gefühl der Desorientierung, der Vereinsamung und

Isolation. Die meisten literarischen Texte aus dem 19. Jahrhundert beschreiben eine

Vereinsamung und Isolation des Protagonisten, der vom Lande in die Stadt zieht. Die

Abbildung der sozialen Mobilität und die Schwierigkeiten des Provinzlers, der in der

Stadt ankommt, wird ein wichtiger Topos der sich entfaltenden Stadtliteratur. Durch ganz

Europa konnte man im 19. Jahrhundert eine Migration vom Lande in die Großstädte

beobachten und die Einwohnerzahl der europäischen Städte nahm radikal zu (besonders

in London, Paris, St. Petersburg, Wien und Berlin). Der Umzug vom Land, so Simmel,

erfordert ein völlig unterschiedliches Bewusstsein als das Landleben, das er als langsam,

gewohnt und mit einem „gleichmäßiger fließenden Rhythmus“ charakterisiert (194).11

Die in die Großstadt ziehenden Protagonisten erleben die neue Umgebung in den literarischen Texten des 19. Jahrhunderts in einer ähnlichen Weise, die der

Literaturhistoriker Robert Alter mit den folgenden Worten beschreibt:

11 Vgl. dazu die folgende Aussage von : „Lasse sich kein Dichter in einer Hauptstadt gebären und erziehen, sondern womöglich in einem Dorfe, höchstens in einem Städtchen! Die Überfülle und die Überreize einer großen Stadt sind für die erregbare schwache Kindseele ein Essen an einem Nachtisch und Trinken gebrannter Wasser und Baden in Glühwein.“ 7

The opportunity of social and economic upward mobility might ignite the new urbanite’s imagination, but the competitive ruthlessness of the metropolis could easily daunt and defeat him, and his own daily condition was likely to be the state of deracinated isolation. (5)

Isolation, Vereinsamung jedoch auch Faszination mit der Großstadt sind die

Motivationen in beiden berühmten Texten – in Hoffmanns Des Vetters Eckfenster sowie

in Raabes Chronik – sich mit den komplexen Realitäten der Stadt auseinander zu setzten.

Es wäre jedoch voreilig, die Stadtbeschreibungen des 19. Jahrhunderts mit einem binären

Darstellungsschema – ‚Wunschbild Land und Schreckbild Stadt’ – zu charakterisieren, da die Werke beider Schriftsteller dem Leser ein viel differenzierteres Bild über die Folgen der Urbanisierung, sogar eine Faszination mit dem Stadtleben, bieten. Ihre künstlerische

Tätigkeit und Produktivität sind mit der Stadt und mit dem Großstadtleben stark verbunden und etliche Werke der beiden Schriftsteller können als Produkte einer ambivalenten Stadtsucht charakterisiert werden.

Die Repräsentation der Veränderungen in der Stadt erfolgt in der Literatur oft durch die Benutzung einer intensiven visuellen Sprache. Modernität, urbane

Wahrnehmung und die Hegemonie des Sehens sind eng miteinander verbunden. In kulturwissenschaftlichen Analysen der Visualität, des Sehens und der Sichtbarkeit der

Moderne hat sich früh eine theoretische Konstruktion herausgebildet, nach der der

Diskurs über die Sinne in der Moderne durch die visuelle Wahrnehmung bestimmt ist.12

Die Hegemonie des Sehens ist mit dem Diskurs des Urbanismus in der Moderne

verbunden, was sich zum Beispiel in dem von Georg Simmel zuerst beschriebenen

Übergewicht der Aktivität des Auges gegenüber der des Gehörs in der öffentlichen

Interaktion manifestiert. In einem Exkurs über die Soziologie der Sinne hat Simmel einen

12Vgl. dazu Simmels Aufsatz über die Sinnesorgane und Brüggemann 5-7. 8

Zusammenhang zwischen der Großstadt, dem städtischen Sozialverhalten und der

Vorherrschaft des Sehens hergestellt. Der Verkehr in der Großstadt zeigt nach Simmel

ein unermessliches Übergewicht des Sehens über das Hören vor allem aufgrund der

Entwicklung der öffentlichen Verkehrsmittel im 19. Jahrhundert, die den weit

überwiegenden Teil aller sinnlichen Beziehungen zwischen den Menschen in der

wachsenden Masse dem Sehen anheim gegeben hat.

Mit dem Auftreten einer intensivierten Visualität in Stadttexten stellt sich die

Frage, wie malerische Ansichten der sich verändernden Stadt mit den literarischen

Werken miteinander korrespondieren und ob sie einander wechselseitig fördern. Dabei

wird vorausgesetzt, dass eine solche Wechselbeziehung mit größter Wahrscheinlichkeit

in den Werken von Doppeltalenten zu finden ist. Da Hoffmann und Raabe in ihren

Berlin-Texten neben den subjektiven Erlebnissen ihrer Protagonisten auch zeitspezifische

ökonomische, ökologische, technische und städtebauliche Veränderungen im

Zusammenhang mit der Urbanisierung beschreiben, verlangt die Analyse ihrer Texte einen interdisziplinären Ansatz. Um ihre Werke in einem breiten Kontext untersuchen zu

können, folgt zunächst eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten historischen und

städtebaulichen Meilensteine Berlins im 19. Jahrhundert sowie eine kurze Beschreibung

der signifikantesten literarischen und malerischen Abbildungen der Stadt von Hoffmann

und Raabes Zeitgenossen.

9

Die Periodisierung von Berliner Stadttexten und Werken der Berliner Stadtmalerei im 19. Jahrhundert

Mit dem Ende der Freiheitskriege begann für Preußen eine der längsten Friedensperioden seiner Geschichte. Auf die Turbulenzen der Napoleonischen Kriege folgte eine Zeit, in der das Land und seine Hauptstadt keine großen Veränderungen erlebten. Nach einem

Jahrzehnt des nahezu ununterbrochenen Ausnahmezustandes kehrte die Normalität wieder zurück. Das zentrale und für die Entwicklung Berlins in diesen Jahrzehnten schlechthin entscheidende Phänomen ist das enorme Wachstum der Stadt. Das ganze städtische Leben stand im Schatten dieser Expansion. In den drei Friedensjahrzehnten vor

1848 hatte sich die Bevölkerung Berlins verdoppelt. Sie stieg, in stark gerundeten Zahlen, von knapp 200 000 auf gut 400 000 Einwohner und brachte die Stadt nach London, Paris und St. Petersburg auf den vierten Platz der europäischen Metropolen (Ribbe I, 480).

Der künstlerische Glanz der Jahre zwischen den Freiheitskriegen und der

Revolution knüpft sich vornehmlich an die großen Namen der Stadtarchitekten Berlins.

Die Gebäude, die Berlin in dieser Zeit berühmt gemacht haben waren in erster Linie die

Bauten im Stadtzentrum, mit denen Karl Friedrich Schinkel Berlin verschönerte. „Ein neues schönes Berlin ist seit 1815 entstanden, und an den Namen Schinkel knüpft sich der Ruhm dieser zweiten Gründung“ schreibt Willibald Alexis 1838 (zitiert nach Ribbe I,

499). Neben den Werken Schinkels sollen die Schöpfungen von Gottfried Schadow und seiner Schüler Christian Rauch, Friedrich Tieck und der Gebrüder Wichmann erwähnt werden. Schinkel übte auch starken Einfluss auf die Innenarchitektur und

Bühnenbildnerei aus. Nicht nur die Architektur verschönerte sich, sondern auch

10

Straßenbeleuchtung, Kanalisation, neue Verkehrsmittel erschienen auf den Berliner

Straßen und Gewässern.

Die erste Hälfte des Jahrhunderts wird durch die Wiederherstellung der

vorrevolutionären Staats- und Gesellschaftsordnung, eine strikt antiliberale und

antinationale Politik charakterisiert. Seit dem Jahre 1815 befanden sich die fortschrittlichen Kräfte, die nach der äußeren Befreiung auch die innere erhofft hatten und nationale und konstitutionelle Wünsche erfüllt sehen wollten, auf dem Rückzug. Die politischen Ereignisse führten zu einem auf das Interieur gerichteten Lebensstil, der oft mit der Doppelbezeichnung „Schinkel- und Biedermeierzeit“ beschrieben worden ist.

Dies bedeutet, dass trotz einer reaktionären Politik ein reges künstlerisches, geistiges und gesellschaftliches Leben die preußische Hauptstadt erfüllte.

Der Überblick der wichtigsten Werke der Berliner Stadtliteratur und der Berliner

Stadtmalerei im 19. Jahrhundert macht deutlich, dass Schriftsteller und Maler in den verschiedenen Epochen an der Repräsentation der preußischen Hauptstadt unterschiedlich teilgenommen haben. Die ersten Stadttexte im 19. Jahrhundert stammen von Autoren der

Romantik, die die Stadt nicht nur als literarischen Topos entdeckt haben. „Die

Romantiker der ersten Generation sind keine Provinzler, sondern bewusste Städter“ schreibt Marianne Thalmann (1963, 991).13 Von Ludwig Tieck sagt sie sogar im

Nachwort ihrer Tieck-Ausgabe, dass er „bis in die Fingerspitzen Städter ist“ und „etwas

von den Fleurs du mal ahnt, die im Nächtlichen und Künstlichen der Stadt aufschießen“

(Thalmann 1963, 1003). Diese Haltung erreicht einen Höhepunkt, so Thalmann, bei

E.T.A. Hoffmann, der seine Anregungen „im bunten Gewühl der Stadt“ gefunden hat

13 Marianne Thalmann in der Tieck Ausgabe. Ludwig Tieck Frühe Erzählungen und Romane. Hg. Marianne Thalmann, München, 1963. S. 991. 11

(Thalmann 1965, 12). Das letzte Werk Hoffmanns, Des Vetters Eckfenster, steht oft am

Anfang der Genealogie von Berlin-Texten.14 Dabei geraten jedoch Hoffmanns andere, weniger bekannte Berlin-Texte in Vergessenheit, sowie Autoren, die vor Hoffmann

Berlin literarisch behandelten. Berlin wurde nämlich schon im 18. Jahrhundert unter anderem von Karl Philipp Moritz, Friedrich Nikolai aber auch von weiblichen Autoren wie Anna Louisa Karsch literarisiert.15

Hoffmanns Des Vetters Eckfenster wurde in der Literaturgeschichte vor allem durch Walter Benjamins Analyse bekannt, der den Text im 20. Jahrhundert abschätzig als biedermeierliche Genrebilder bezeichnete. Auch Raabes Chronik wird oft in einer

ähnlichen Weise charakterisiert.16 Jedoch gibt es keine wesentlichen biedermeierlichen

Texte über die Stadt Berlin aus dem 19. Jahrhundert, wohingegen die Stadtmalerei eine

Blütezeit erlebte. Aus der Biedermeier-Epoche ist eine beachtliche Zahl von

Architekturgemälden und Vedutenansichten überliefert.17 Besonders die repräsentativen

Plätze und das neue Zentrum der Stadt sind in den Werken der Berliner

Architekturmalerei verewigt worden. Die Grundgedanken der Biedermeierzeit, die

14 Als ein Beispiel ist Anke Glebers Buch The Art of Taking a Walk zu nennen. Auf der Suche nach den ersten Großstadtliteraten geht sie bis E.T.A. Hoffmanns Des Vetters Eckfenster zurück. 15 Siehe dazu Sekundärliteratur von Erlin, Košenina und McFarland. 16Siehe dazu Klotz’ Interpretation von Raabes Debütroman. 17 Allerdings fand um die Jahrhundertwende 1900 eine Neubewertung dieser Epoche in Berlin statt und dementsprechend erschien das biedermeierliche Berlin in mehreren literarischen Texten. Georg Hermanns Jettchen Gebert und Henriette Jakoby sind Romane über eine jüdische Familie und spielen im Berliner Biedermeier in den Jahren 1839/40. Der Autor, Georg Hermann, der neben kunstkritischen Schriften bereits mehrere Novellen und Romane veröffentlicht hatte, wurde durch diesen Roman zu einem der meistgelesenen anspruchsvollen deutschen Unterhaltungsliteraten des frühen 20. Jahrhunderts. Nach einer langen Unterbrechung wurde Georg Hermann in den 1990er Jahren auch in der Literaturwissenschaft wiederentdeckt. 1999 hat Godela Weiss-Sussex in ihrer Dissertation die Darstellung Berlins in mehreren von Georg Hermanns Romanen (Spielkinder, Jettchen Geberts Geschichte, Kubinke und des Doktor Herzfeld) verfolgt und in ihrer Analyse auch die bildende Kunst, Biedermeier und impressionistische Gemälde, zur Hilfe genommen. Hermann, selbst auch Kunsthistoriker, hat nämlich vor Jettchen Gebert in einer ausgiebigen Studie unter dem Titel Das Biedermeier im Spiegel seiner Zeit seine Recherchen über die Geschichte und Kunstgeschichte des Biedermeiers veröffentlicht. Weiss-Sussex stellt plausible dar wie zum Beispiel das Fenstermotiv, ein beliebtes Symbol auch in der Biedermeier-Malerei, in Hermanns Romanen von rein dekorativen bis zu symbolischen Intentionen eingesetzt wird. 12

Abkehr von der streng klassizistischen Formenwelt und die Suche nach Schlichtheit,

spiegeln sich in den Werken der Berliner Malerei in diesen Jahrzehnten. Der Hofmaler

Franz Krüger, der die Stadt in seinen Gemälden von den einfachen Volksszenen bis hin

zu den großen Paradenbildern festgehalten hat, gilt mit den Architektenmalern Eduard

Gaertner und Erdmann Hummel als wichtiger Repräsentant der biedermeierlichen

Malerei Berlins.

Im Gegensatz zum Übergewicht von Gemälden, das im Vergleich zu den

literarischen Texten im Biedermeier herrscht, findet man kulturelle Äußerungen der

Vormärzzeit in der Literatur. Der liberale Schriftsteller Willibald Alexis verfasste

umfangreiche historische Werke über Berlin und weitete damit den Blick der Berliner

Stadtliteratur aus. , der nur drei Jahre in Berlin verbrachte, ist hier ebenso zu nennen wie , der von 1819 bis 1839 für den Botanischen

Garten in Schöneberg tätig war. Karl Gutzkow gehörte zu den entschiedenen liberalen

Kritikern der politischen Restauration und trieb als geborener Berliner von 1830 bis zur

Reichsgründung 1871 höchst engagierte Berliner „Milieustudien.“ Gutzkow stellte nach eigenen Worten die „Seelen- und Lebenszustände“ aller Gesellschaftsschichten sowie die politische und kulturelle Szene der heranwachsenden Weltstadt dar. Auch Bettina

Brentano-von Arnims Dies Buch gehört dem König soll in diesem Kontext erwähnt werden, da die Schriftstellerin in den Anhang des Königsbuches eine frühe

Sozialreportage mit dem Titel „Erfahrungen eines jungen Schweizers im Vogtland“ über die Armenkolonie in der Berliner Vorstadt aufnehmen wollte (Diers 128). Die statistischen Unterlagen, Denkschriften und Zeitungsartikel über die Situation der Armen

13

im Berliner Vogtland wurde sogar für den Druck vorbereitet, jedoch nie veröffentlicht

(Diers 128, Trautmann, 62-65).

Die soziale und kulturelle Topographie der Stadt fand einen Weg in die

realistische Erzählkunst von Fontane, Keller und Raabe. Der Handlungsort Berlin spielt

eine besonders wichtige Rolle in den Werken Fontanes, von dessen 17 Romanen elf ganz

oder teilweise in Berlin stattfinden (Friedrich 184). Fontanes Vertrautheit mit der

Topographie der Reichshauptstadt und seine Fähigkeit, diese Landschaft in ihren widersprüchlichen Beziehungen seinen Lesern nahe zu bringen, veranlasste den

Publizisten Ernst Heilborn 1909, eine Rezension von Fontanes Gesamtwerken unter dem

Titel Fontanepolis zu veröffentlichen (Friedrich 185). Die Figuren in Fontanes Werken

sind ganz bestimmten Teilen der Stadt zugeordnet und der Schriftsteller benutzt die

Berlinische Topographie, um die zeitgenössischen Gesellschaftskonflikte plausibel

darzustellen.18

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielte das Thema Stadtansicht bis in

die achtziger Jahre in der deutschen Malerei eine eher untergeordnete Rolle. Die im

Biedermeier aufblühende Berliner Malerei hatte in den Jahren nach der 1848er

Revolution zunehmend an Bedeutung verloren. Erst durch den Einfluss des französischen

Impressionismus bekam die Berliner Kunst wieder neue Anreize (Bothe 173). An einer

geringen Zahl von Gemälden aus der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zeigt der

Kunsthistoriker Rolf Bothe, dass Maler in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts neben

der Darstellung von einigen Stadtbauten, der Industrialisierung und den Folgen des

Wachstums das alte Zentrum Berlins für eine kurze Zeit wiederentdeckt hatten (Bothe

180). Die Berliner Stadtmaler, wenig bekannte Zeitgenossen und die zwei wichtigsten

18 Vgl. dazu Gutjahr, Hettche und Wruck. 14

Namen der Epoche, Adolph Menzel und Max Liebermann, wurden zu Bewahrern der

Geschichte und haben in erster Linie die städtebaulichen Veränderungen in der Altstadt in einer nüchternen Weise gemalt, ohne die Wandlungen dabei kritisch zu würdigen

(Bothe 182).

Im Gegensatz zu der Malerei wurde die wachsende Großstadt in der zweiten

Hälfte des Jahrhunderts in der Literatur öfters kritisch betrachtet. Die negativen

Auswirkungen der industriellen Massenzivilisation wurden in den achtziger Jahren zum

Fokus des literarischen Naturalismus, dessen Hauptthema die Stadt Berlin war. Auch in der Großstadtlyrik richteten Dichter ihren Blick auf die Probleme der Urbanisierung und beschrieben das Massenelend, Kriminalität und Entfremdung des Einzelnen. Eine ähnlich kritische Auseinandersetzung in der Malerei gab es nach dem Kunsthistoriker Bothe außer in den Werken von Adolph Menzel nur im Bereich der Gebrauchsgrafik (Bothe

178).

Schon eine knappe Periodisierung der Berliner Stadtliteratur und Stadtmalerei zeigt, dass Schriftsteller und Maler in Bezug auf Abbildungen von der sich verändernden preußischen und später Reichshauptstadt unterschiedlich inspiriert worden sind. Es gibt jedoch Wechselbeziehungen zwischen den zwei Bereichen und diese Dissertation setzt sich zum Ziel, die direkte aber auch indirekte Korrespondenz zwischen Texten und

Bildern herauszuarbeiten. Es soll gezeigt werden, dass die ästhetischen Gestaltungen

Berlins in den Werken von Hoffmann und Raabe im Kontext mit der zeitgenössischen

Stadtmalerei mehrfache Grenzüberschreitungen aufweisen.

Die auch oben benutzten, traditionellen Formeln in der Periodisierung von Kunst und Literatur sind jedoch, wie Jost Hermand schreibt, vereinfachend:

15

With periodization concepts that are unambiguously based on the primacy of the political and the social [e.g. Vormärz LV], art is largely degraded to a mere illustration of certain historical and social processes, while with periodization concepts based on the autonomy of art [e.g. Realism LV] which try to avoid all historical references, art is so highly formalized that only mere isms or style- schemes are left over. (29)

Diese Problematik bringt weitere Fragen in Bezug auf die Methodologie der Arbeit zu

Tage. Die Dissertation untersucht nämlich literarische Texte in einem breiten historischen

Kontext und neben den zeitgenössischen Gemälden werden auch nicht-fiktive Texte von

Adolf Glassbrenner, Julius von Rodenberg, Friedrich Saß und Ernst Dronke in Betracht

gezogen.19 Dieser Ansatz behandelt literarische Texte und die Berlin-Gemälde nicht als

Produkte einer Kunstanatomie. Weiters behandelt diese Arbeit literarische Text auch

nicht ausschließlich als Produkte bestimmten gewissen ökonomischen, politischen und

historischen Kontextes. Eine Balance dazwischen ist das Ziel, wie Hermand treffend

formuliert: „Art rises to its full potential only when it seeks to confront social

contradictions in its own way, i.e. by aesthetic means“ (29).

Methodologie: Kulturwissenschaftliche Ansätze und die Erforschung von Intermedialität

Die Theoretisierung der Wechselbeziehung von den bildenden Künsten und der Literatur

ist das Thema von zahlreichen Studien von Horaz bis heute. Die interdisziplinäre

Forschung zu diesem Verhältnis hat in den letzten Jahrzehnten einen wichtigen Platz in

der Literaturwissenschaft und in der Kunstgeschichte eingenommen. Diese Dissertation

19 Die Literaturwissenschaftler Tunnel und Kaiser schlagen zum Beispiel in ihrem Buch über Paris im 19. Jahrhundert vor, fiktionale Prosatexte wie Rilkes Malte Laurids Brigge oder Hoffmanns Fräulein von Scuderi auch „referentiell“ zu lesen, wie ebenfalls die Pariser Sachprosa der Zeit „nur ausnahmsweise fiktionalisierende Züge völlig entbehrt“ (3). 16 wird dieses Phänomen, das Zusammenspiel verschiedener Medien im Topos der

Großstadtdarstellung im 19. Jahrhundert, im besonderen am Beispiel der Literarisierung von Berlin untersuchen. Als wissenschaftlicher Ansatz wird in erster Linie das Konzept

Intermedialität angewandt, um in den Analysen von literarischen Texten eine Isolierung des Einzelmediums zu überwinden und das Beziehungsgeflecht zwischen Literatur und bildender Kunst zu rekonstruieren.

Unter Intermedialität verstehe ich die Einbeziehung mindestens zweier konventionell als getrennt angesehener Ausdrucks- und Kommunikationsmedien.20

Thomas Eicher gibt zum Beispiel die folgende Kurzdefinition: „Der Begriff

Intermedialität deutet auf mediale Brückenschläge, das Zusammenspiel verschiedener

Medien. Zu denken wäre hier vor allem an Verbindungen zwischen Musik, Tanz, bildender Kunst, Sprache“ (11). Generalisierend kann man hier über zwei

Kommunikationssysteme sprechen, die einander gegenseitig beeinflussen, berühren und nachahmen. Im Text erscheint dieses Phänomen als eine sprachliche Reaktion auf Bilder, da abgesehen von konkreter Poesie Bilder in den Texten nie richtig sichtbar werden. Wie

Thomas Eicher schreibt:

Der Text verleibt sich auf diesem Wege ein fremdes Medium ein und macht es zugleich zum comparandum der eigenen sprachlichen Bildlichkeit. Er bedient sich dieses bereits vorhandenen Reservoirs an Bedeutung, indem er zugleich als modifizierende, verfremdende oder gar konkurrierende Instanz auftritt, die bestehende Konnotationen des Bildes jedoch nie vergessen machen kann. (15)

Eine Interrelation kann zum einen zwischen Texten und Bildern innerhalb desselben Mediums entstehen, wenn zum Beispiel ein Text auf einen vorgängigen Text

Bezug nimmt. Die Benutzung des Terminus Intermedialität wird dann nötig, wenn

Beziehungen komplexe Mediengrenzen überschreiten. Erst durch Dieterle wird

20 Vgl. dazu: Eichler (1994), Luserke (1996) und Scherpe (1998). 17

Intermedialität zum Terminus technicus, nach dem erzählte Bilder Texte sind, „in denen

Bilder nicht nur als Motiv, sondern vor allem als Motivation, Anstoß, Veranlassung eine

tragende Rolle spielen“ (10). Die Möglichkeiten der Bezugnahme reichen bei Dieterle

„von der bloßen Erwähnung eines Malers oder eines Bildes über Bildbeschreibungen,

Erörterungen künstlerischer Fragen bis hin zum Künstlerroman“ (10). In seinem Buch bietet er auch eine Menge von Analysen von Primärtexten.

Seitdem kann man Studien über Intermedialität in den folgenden Gruppen einordnen: theoretische Fundierungen (Kranz), Arbeit an einzelnen Texten steht im

Mittelpunkt (Eilert, Dieterle) und richtige Typologisierung bei Ulrich Weisstein (1992) in

einem Handbuch. Weisstein bietet dem Feld eine Einführung in das Verhältnis von

bildender Kunst und Literatur mit einem universalen Geltungsanspruch, während

fünfzehn Formen intermedialer Beziehungen in seinem Buch listet. Die in der

Dissertation interpretierten Texte sehe ich als Beispiele der Intermedialität an, da sie

einerseits als Produkte von Doppeltalenten, andererseits als früheste Beispiele für über

intensive Visualität verfügenden Stadttexten einen Versuch machen, mediale Grenzen zu

überschreiten. Diese Kategorien erscheinen auch auf Weissteins Liste.

Intermedialität ist ein Ansatz der kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft.

Nach Klaus Scherpe und Hartmut Boehme ist Kulturwissenschaft ein Resultat des

„Veralten[s] der philologischen Methoden gegenüber der Entwicklung der Künste selbst“

(Brenner 12), was ein vor allem in der dialogischen Beziehung der Literatur zu anderen

Medien zu beobachtender Prozess ist. In diesem Sinne versucht die Kulturwissenschaft

durch die Entwicklung interdisziplinärer Ansätze und Konzepte wie Intermedialität und

Medienwechsel diesem Prozess entgegenzuwirken. Das Konzept Intermedialität stammt

18

aus dem 20. Jahrhundert und ist vor dem Hintergrund der mit dem Film erscheinenden

Medien zu sehen. Wie der Film im 20. Jahrhundert, funktionierten oft auch neue

malerischen Darstellungsweisen im 19. Jahrhundert, da eine bis dato unbekannte

Innovationsdynamik mit jedem neuen Medium das gesamte Gefüge der kulturellen

Produktions- und Rezeptionsbedingungen verändern kann (Metzler Lexikon, Kultur der

Gegenwart 234).

Es ist jedoch fraglich, in wie fern literarische Texte aus dem 19. Jahrhundert

durch eine im 20. Jahrhundert konzipierte Theorie analysiert werden können. Obwohl hauptsächlich erst die Medienrevolution im 20. Jahrhundert die Aufmerksamkeit auf die

Interdependenzen zwischen den Medien gelenkt hat, sollen auch ältere Konzepte erwähnt

werden. Im Roman datieren Versuche der Annäherung an die Malerei ab dem Ende des

18. Jahrhunderts, Experimente mit einer Musikalisierung ab der Romantik und Imitation

filmischer Techniken ab der Moderne. Coleridge hat bereits 1812 den Begriff

„Intermedia“ geprägt, um die poetische Verschmelzung verschiedener Künste zu

beschreiben (Metzler Lexikon, Kultur der Gegenwart 233).

G. E. Lessings Bestimmung des medialen und semiotischen Wesens von Malerei,

Plastik und Dichtkunst und die Verhältnisse zwischen ihnen wird immer wieder als

Beziehungspunkt in der Theoretisierung von Intermedialität erwähnt. Lessings Laokoon

beschreibt noch eine deutliche Trennung der Künste, indem er die Darstellungsweisen der

Literatur primär als raumbezogen charakterisiert. Diese Trennung verschwindet aber in

der Romantik, die synästhetische Kunstformen fördert. Der romantische Begriff die

Gattungsgrenzen überschreitenden „progressiven Universalpoesie“ von Friedrich

Schlegel ist bis heute ein wichtiger Ausgangspunkt in den meisten Definitionen von

19

Intermedialität. In diesem Sinne wird das anachronistische Prinzip der Intermedialität in

dieser Dissertation auf Texte des 19. Jahrhunderts angewandt.

Der Fokus ist jedoch auf Literatur, da die Interpretationen von Gemälden in der

Dissertation nicht auf originaler Forschung beruhen und die Dissertation in erster Linie

darauf abzielt, etwas Neues über den Stellenwert der literarischen Texte herauszufinden.

Dabei soll die Anklage gegen die „Literatur-Abgewandheit“ (Barner 5) der

Kulturwissenschaft überwunden werden. Die Primärtexte werden aus einer

ungewöhnlichen Perspektive betrachtet und dabei soll etwas Neuartiges gelernt werden.

Die Dissertation zeigt jedoch, dass ganz allgemeine Wahrnehmungsvorgänge und

Konzeptualisierungsleistungen kaum zu trennen sind und bildende Kunst und Literatur

im 19. Jahrhundert aufschlussreiche Beziehungen miteinander eingehen.

Das erste Kapitel beschäftigt sich mit Hoffmanns früheren Berliner Texten und

versucht die Kategorie „Berlinische/Berliner Geschichte“ als großstadtliterarische Form

zu konzeptualisieren. Das Kapitel hat das Ziel, neben der Formung und Analyse eines neuen Korpus von „Berlinischen Geschichten,“ eine thematische und strukturelle

Klassifizierung dieser „Gattung“ vorzunehmen. Die Berlin-Schilderungen von acht

Erzählungen Hoffmanns werden in einem breiteren Kontext untersucht und mit den

Berliner Zeichnungen des Doppeltalents verglichen. Wenn diese Werke aus einer

kulturwissenschaftlichen Perspektive untersucht werden, kommt es zu Tage, dass

Hoffmanns Berlin-Beschreibungen aus einer „bildlosen“ Zeit, aus einer Übergangsphase

in der Berliner Stadtmalerei stammen. Weiters wird die Analyse auch enthüllen, wie

Hoffmanns frühe Berlinische Geschichten als Kritik der damaligen aufklärerischen

20

Stadtplanung gelesen werden können. Schließlich wird gezeigt, dass die diversen malerischen und dichterischen Stadtbilder Hoffmanns mit den ästhetischen Ansichten des

Künstlers korrespondieren.

Das zweite Kapitel ist den malerischen und literarischen Repräsentationen des

Gendarmenmarktes, der als ein kondensiertes Modell der modernen Großstadt angesehen wird, gewidmet. Der Gendarmenmarkt übte auf die Erzähltechnik und Thematik von

E.T.A. Hoffmanns letzter Erzählung, Des Vetters Eckfenster (1822) einen markanten

Einfluss aus. Einerseits erzeugt der Ort intensive Bildlichkeit, andererseits sind die

Verhaltensweisen der Charaktere auf dem Markt und vor dem Theater Komponenten der

Großstadtmentalität, die in theoretischen Werken von Georg Simmel und anderen

Soziologen und Großstadtforschern über 80 Jahre später beschrieben wurden. In der

Analyse wird die Stadtwahrnehmung in Des Vetters Eckfenster in einem breiten Kontext im Vergleich mit drei malerischen Repräsentationen des Gendarmenmarktes aus dem

Jahre 1822 (von Carl Georg Adolf Hasenpflug, Carl Georg Enslen und Eduard Gaertner) behandelt. Abschließend wird Karl Friedrich Schinkels Baukunstphilosophie und sein

Bühnenbildentwurf aus dem Jahre1822 mit der literarischen Repräsentation dieses neuen urbanen Raumes in Hoffmanns letzter Erzählung kontextualisiert. Die Entdeckung des komplexen Stadtraums und seine Veränderungen im Moment der Entstehung von

Hoffmanns letzter Erzählung zeugen davon, dass bestimmte soziale, wahrnehmungsästhetische Phänomene sowohl in der Architektur und malerischen

Repräsentationen des Platzes, als auch in der literarischen Schilderung des Ortes anwesend sind.

21

Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit repräsentativen Werken des Berliner

Architekturmalers Eduard Gaertner, die in der zweiten Hälfte des Kapitels thematisch

und strukturell mit der Großstadtdarstellung Raabes verglichen werden. In der Chronik

findet sich nämlich mehrmals eine Imitation bzw. eine Inszenierung der

biedermeierlichen Berliner Architekturmalerei, zu der auch die Werke Eduard Gaertners

zu zählen sind. Eine Intermedialität entsteht zwischen dem Maler Gaertner und dem

Schriftsteller Raabe auf mehreren Ebenen, die anhand der Analyse ihrer

Repräsentationstechniken und der symbolischen Anwendung der öffentlichen und verborgenen Lokalitäten von Berlin erläutert wird. Raabe mobilisiert ein den Berlinern bereits bekanntes bildliches Reservoir in seinem Roman, in dem jedoch neben den intermedialen inhaltlichen und strukturellen Parallelen nach der gescheiterten

Märzrevolution eine Neupositionierung der handelnden Personen stattfindet.

In dem vierten Kapitel der Dissertation werden ausgewählte Werke aus dem

Raabeschen Oeuvre mit den zeitgenössischen malerischen Repräsentationen Berlins, in erster Linie von Adolph Menzel, verglichen, um die ästhetischen und thematischen

Ähnlichkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. Drei Romane mit drei verschiedenen

Themenkreisen und Erzähltechniken stehen im Zentrum dieses Kapitels:

Altstadtromantik und Großstadtinteresse in Ein Frühling (1857), die Darstellung der

Industrialisierung und die Anwendung der Vogelperspektive in Die Leute aus dem

Walde, Ihre Wege, Sterne und Schicksale (1863) und die Schilderung der Berliner

Vorstädte sowie der Universität in Die Akten des Vogelsanges (1896) und in malerischen

Repräsentationen. Die drei Romane sind drei verschiedene Annäherungen, an die

22

Komplexität Berlins darzustellen und können auch dazu benutzt werden, die künstlerische Entwicklung Raabes in Bezug auf seine Berlin-Repräsentationen in der

zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu analysieren.

23

KAPITEL 1.: Geister und gespenstische Liebesbeziehungen: Die Berlinischen Geschichten E.T.A. Hoffmanns

Einführung

„E.T.A. Hoffmann gibt [den Berliner] Straßen Namen. Er zwingt uns durch diesen scheinbaren Realismus, wie ihn die Meister des Manierismus von Rabelais zu Bruegghel,

Shakespeare, Cervantes und Callot gekannt haben, die Straßenschilder anders zu lesen“ schreibt Marianne Thalmann in Romantiker entdecken die Stadt (41). Kein anderer

Schriftsteller der Romantik hat realistischere Berliner Ortsangaben benutzt als Hoffmann.

Das Straßennetz Berlins erscheint in mehreren seiner Erzählungen und Lokalitäten funktionieren als Verknüpfungselemente und intertextuelle Beziehungen, die die verschiedenen Werken verbinden.

Dieses Kapitel beschäftigt sich mit Hoffmanns früheren Berliner Texten und versucht der Kategorie „Berlinische/Berliner Geschichte“ als großstadtliterarische Form nachzugehen. Der Begriff ‚Berliner Roman’ wurde zum erstenmal in der zeitgenössischen Berliner Rundschau von Julius von Rodenberg (1875) benutzt, aber auch Hoffmann verwendete den Untertitel „Berlinische Geschichte“ in seiner Erzählung

Die Brautwahl (1818/19). Seitdem taucht er sporadisch in der Hoffmann-

Sekundärliteratur21 sowie auf den Buchdeckeln verschiedener Textausgaben auf.22 Da

die verschiedenen Werkausgaben, die den Untertitel „Berlinische Geschichten

Hoffmanns“ tragen, den Lesern unterschiedliche Texte anbieten, blieb es fraglich, ob der

21 Siehe dazu besonders Klaus Kanzogs Aufsatz. 22 Z.B. in den folgenden Ausgaben: De Bruyn, Günter und Gerhardt Wolf (Hg). E.T.A. Hoffmann. Gespenster in der Friedrichstadt. Berlinische Geschichten. Berlin: Buchverlag Der Morgen, 1986 und Hans von Mueller (Hg). Zwölf Berlinische Geschichten aus den Jahren 1551-1816. Erzählt von E.T.A. Hoffmann. München: Georg Müller Verlag, 1921. 24

Terminus sinn- und gattungsgemäß benutzt werden kann und wenn, welche Werke damit bezeichnet werden können.

Das Kapitel hat das Ziel, neben der Formung und Analyse eines neuen Korpus von „Berlinischen Geschichten,“ eine thematische und strukturelle Klassifizierung dieser

„Gattung“ aufzustellen. Im weiteren werden die Berlin-Schilderungen von acht

Erzählungen Hoffmanns in einem breiteren kulturwissenschaftlichen Kontext untersucht und mit den Berliner Zeichnungen Hoffmanns, in denen er berühmte Berliner

Örtlichkeiten wie Unter den Linden und den Gendarmenmarkt zur Schau bringt, verglichen. Die kulturwissenschaftliche Untersuchung ergibt, dass Hoffmanns Berlin-

Beschreibungen aus einer „bildlosen“ Zeit, aus einer Übergangsphase in der Berliner

Stadtmalerei stammen. Darüber hinaus können Hoffmanns frühe Berlinische Geschichten

als Kritik der damaligen aufklärischen Stadtplanung gelesen werden. Die Friedrichstadt

mit ihrem Schachbrettraster und dem streng gewahrten Axialsystem bildet einen auffälligen Kontrast zu den Abenteuern der Protagonisten, die auf den nächtlichen

Straßen Berlins seltsamen Gestalten und Gespenstern begegnen, und unheimliche

Ereignisse erleben. Es wird auch gezeigt, dass die diversen malerischen und dichterischen

Stadtbilder Hoffmanns auch die ästhetischen Ansichten des Künstlers veranschaulichen.

Das Kapitel beschäftigt sich zuerst mit den drei Berlin-Aufenthalten Hoffmanns,

um zu zeigen, welche Stadtteile und kulturellen Veranstaltungen er besucht und miterlebt

hat, und welchen Einfluss die preußische Hauptstadt auf seine Werke ausübte. Danach

werden die verschiedenen Textausgaben diskutiert, die einen Versuch machen, das

Publikum mit Hoffmanns Berlinischen Werken bekannt zu machen. Zunächst werden die

Berlin-Bilder in acht Erzählungen Hoffmanns analysiert und typologisiert. Schließlich

25

wird die Klassifizierung der Werke mit einem Vergleich zwischen den literarischen

Werken und den Berlin-Zeichnungen Hoffmanns sowie zeitgenössischen Stadtgemälden

ergänzt.

„Das lebendige Leben der großen Stadt, der Residenz wirkt doch nun einmal wunderbar auf das Gemüth“: E.T.A. Hoffmann in Berlin

E.T.A. Hoffmann ist in Berlin dreimal ansässig gewesen und hat ein Viertel seines

Lebens in der preußischen Hauptstadt verbracht. Das erste Mal war Hoffmann in Berlin von Ende August 1798 bis zu seiner Versetzung nach Posen im Sommer 1800, einige

Jahre darauf vom 18. Juli 1807 bis zu seiner Abreise am 9. Juli 1808, um dann nach kurzen Aufenthalten in Posen die Stelle eines Musikdirektors am Bamberger Theater anzutreten und endlich, nach einem in Leipzig und Dresden, vom 26.

September 1814 bis zu seinem Tod am 25. Juli 1822 (Briefe I-III, Safranski 496-503). Im

Folgenden werden Hoffmanns Berlinaufenthalte im Kontext der damaligen Stadtplanung und wichtigsten städtebaulichen Veränderungen behandelt, um zu zeigen, an welchen

Stadtteilen und urbanen Entwicklungen Hoffmann Interesse hatte.

Als der erst 22jährige Referendar zum ersten Mal nach Berlin kam, um am

Königlichen Kammergericht tätig zu werden, stand die fast 170 000 Einwohner zählende

Haupt- und Residenzstadt Preußens noch immer hinter London und Paris zurück, war aber auf dem besten Weg, eine bedeutende europäische Metropole zu werden (Ribbe

502). Besuchern der Stadt um 1800 schien das neue Berlin, die Friedrichstadt, das Wesen der preußischen Hauptstadt besser zu repräsentieren als der historische Kern der Stadt um

26 das Schloss herum. Ein Beispiel dafür ist der Eindruck, den die Stadt auf die französische

Schriftstellerin Madame de Staël bei ihrem Aufenthalt im Jahre 1804 machte:

Berlin ist eine große Stadt mit sehr breiten, völlig geraden Straßen, das Ganze regelmäßig angelegt: doch da es erst vor nicht langer Zeit neu erbaut worden ist, findet man nichts von den Spuren der Vergangenheit [...] Berlin, eine ganz und gar moderne Stadt, hinterlässt keinen bleibenden Eindruck, so schön es auch ist; es lässt nichts von den Zeugnissen der Geschichte des Landes oder von der Art seiner Bürger erkennen, und seine prächtigen neuen Häuser scheinen nur dem bequemen Zusammenkommen bei Vergnügungen und der Arbeit zu dienen. (81)

Diese Beschreibung Berlins war weder ganz neu, noch entsprach sie völlig der

Wirklichkeit, doch setzte es sich als geläufige Formel der Berlin-Beschreibungen der folgenden Jahre durch. In den ehemaligen Zentren der Schwesterstädte Berlin und Cölln gab es aus dem Mittelalter erhaltene Bauten, doch wurden diese Teile von den Besuchern der Stadt kaum besucht. In den neunziger Jahren und um die Jahrhundertwende wurde

überall in Berlin gebaut: Stattliche Wohnhäuser, Bürgerpalais, Repräsentationsbauten in den Bezirken der Friedrichstadt und der Luisenstadt, in den Randbezirken entstanden die ersten Mietskasernen (Ribbe 526). Neben den Prachtbauten Berlins zwischen dem

Brandenburger Tor und dem Königlichen Schloss hin bis zum Gendarmenmarkt und dem

Kammergericht in der südlichen Friedrichstadt, in der direkten Umgebung von

Hoffmanns damaliger Berlin-Adresse (in der Friedrichstadt, in der Leipziger und

Kurstraße), gab es eine ganze Reihe eindrucksvoller Palais und Prachtbauten, die der junge Referendar auf seinen Wegen zweifellos gesehen hat (Wirth 37, Safranski 114-20, de Bruyn 278-79).

Hoffmann bewegte sich vorzugsweise im Umkreis jener tausend Meter der

Friedrichstadt, wo in ungeheuerer Dichte und Eile „eine Kultur hervorbracht [wurde], die sich für den Mittelpunkt des Lebens“ hielt (Safranski 117). Aus den wenigen aus dieser

27

Zeit hinterlassenen Briefen kann zwar schwer festgestellt werden, durch welche

Kulturerlebnisse Hoffmanns Fantasie bereichert worden ist, jedoch steht fest, dass er das

Theater-, Kunst- und Musikleben genoss. Schriftstellerei erwähnt Hoffmann nicht unter

den Aktivitäten, mit denen er sich in Berlin beschäftigt hat. „In Portrait mahlen allein

glaube ich starke Fortschritte gemacht zu haben“ schreibt er an Hippel 1798 (Briefe, I,

141) und davon zeugt unter anderem eine Bleistiftzeichnung mit dem Titel „Die Linden,“

die während des ersten Berliner Aufenthaltes entstand (Steinecke, Die Kunst der

Fantasie, 43).

Hoffmanns zweiter Aufenthalt in Preußens Hauptstadt stand im Schatten der

Napoleonischen Kriege und war von Not und Elend geprägt (de Bruyn 279, Wirth 38).

Am 27. Oktober 1806 waren die siegreichen Franzosen durch das Brandenburger Tor in

Berlin eingezogen und die Bevölkerung litt seitdem unter den Beschwernissen durch die

französische Besatzung. Trotz drückender finanzieller Sorgen hatte Hoffmann auch in der

kurzen Zeit dieses Aufenthaltes in Berlin mancherlei Anregung durch die Bekanntschaft

mit Schriftstellern, Künstlern und Gelehrten, jedoch verbrachte er die meiste Zeit allein in

seinem Zimmer in der Friedrichstadt (in der Charlotten- und später in der

Friedrichstraße).23 Hoffmann konnte weder im Staatsdienst wieder eingestellt werden,

noch seine Kompositionen und Zeichnungen verkaufen. Zeichnerisch fing er mit einem

Projekt unter dem Titel „Sammlung grotesker Gestalten nach Darstellungen auf dem K.

National-Theater in Berlin“ an, das erste Heft ließ sich jedoch gar nicht verkaufen, da die

Berliner Gesellschaft zu der Zeit kein Bedürfnis an fantastischen und komischen

23 Vgl. dazu seinen Brief an Hippel im Dezember 1807: „Du kannst Dir überhaupt nicht denken, mein einziger Freund, was ich hier in B[erlin] für ein stilles zurückgezogenes Künstlerleben führe. In meinem kleinen Stübchen, umgeben von alten Meistern, Feo, Durante, Händel, Gluck, vergesse ich oft alles, was mich schwer drückt, und nur, wenn ich Morgens wieder aufwache, kommen alle schweren Sorgen wieder!“ (Briefe, I, 231). 28

Darstellungen hatte (Steinecke 74). Verzweifelt schrieb er an Hippel im Herbst 1807,

dass er „kein Vermögen sondern nur Talent habe“ aber dass es unmöglich sei, „diese

Talente [...] hier in dem menschenleeren geldarmen Berlin wuchern zu lassen“ (Briefe I,

221).24 Das Nachkriegselend und die damalige Berliner Gesellschaft werden Jahre später

im Debüttext Ritter Gluck in Erinnerung gerufen.

Als Hoffmann nach sechs für seine künstlerische Entwicklung entscheidenden

Jahren und Aufenthalten in Bamberg, Dresden und Leipzig Ende September 1814 nach

Berlin zurückkehrte, war er wiederum am Kammergericht tätig. Während der früheren

Berlin-Aufenthalte war er als Schriftsteller noch wenig bekannt. Nach der

Veröffentlichung der Fantasiestücke, die gleichzeitig mit dem Berlin-Umzug stattfand,

wurde er ein bekannter Literat. Die dritte Berliner Phase Hoffmanns fand unter radikal

unterschiedlichen Bedingungen statt als die ersten Besuche. Zuerst wohnte er im Hotel

„Goldener Adler“, dann zog er in die Französische Straße, und schließlich in die

Wohnung in der Taubenstraße 31, in der er auch gestorben ist.25 Bald kam Hoffmann „in die Mode“ und wurde ein von einem breiteren Publikum gelesener Autor. In dieser

Hinsicht kann die bekannte Szene in Des Vetters Eckfenster, in der ein Blumenmädchen

24 Vgl. dazu: „Alles schlägt mir fehl, weder aus Bamberg, noch aus Zürich, noch aus Posen erhalte ich einen Pfennig; ich arbeite mich müde und matt, [...] und erwerbe Nichts! Seit fünf Tagen habe ich nichts gegessen, als Brod – so war es noch nie!“ An Hippel, Berlin den 7 Mai, 1808. (Briefe I, 242). 25 Hitzig beschreibt Hoffmanns Tagesroutine folgendermaßen: „Am Montage und Donnerstage brachte er die Vormittage in den Sitzungen des Kammergerichts, an den anderen Tagen zu Hause arbeitend, die Nachmittage in der Regel schlafend, im Sommer auch spazierengehend zu; die Abende und Nächte in dem Weinhause. War er, was häufig, in manchen Perioden täglich geschah, mittags und abends, in Gesellschaft [...] oft abends in zwei Zirkeln, von sieben bis neun und von neun bis zwölf, gewesen, so ging er, es mochte so spät sein als es wollte, wenn alle anderen sich nach Hause begaben, noch ins Weinhaus, um dort den Morgen zu erwarten. Früher in seine Wohnung zurückzukehren war ihm nicht gut möglich“ (zitiert nach de Bruyn 281). 29 auf dem Marktplatz ein von Hoffmann verfasstes Leihbibliotheksbuch liest, als eine durchaus realistische Facette der damaligen Zeit gelesen werden.26

Während Hoffmann als Komponist und Schriftsteller stadtbekannt wurde, erweiterte sich sein Freundes- und Bekanntenkreis ständig. In diesen Jahren entstanden die „nächtlichen“ Werke Die Elixiere des Teufels und Nachtstücke (1815-17). 1815 begann eine Flut von Erzählungen zu erscheinen, von denen ein Großteil in den

Serapions-Brüdern (1819-21) gesammelt wurde. Daneben prägten sich in prosaischen

Großformen satirisch, humoristische und experimentelle Schreibweisen aus – Seltsame

Leiden eines Theater-Direktors, Klein Zaches, Prinzessin Brambilla, Kater Murr und

Meister Floh. Insgesamt veröffentlichte Hoffmann in den knapp acht Jahren bis zu seinem Tod acht selbstständige Werke in 22 Bänden, über 30 Erzählungen und zahlreiche kleinere Schriften. Besonders häufig besuchte Hoffmann das Theater – schrieb in seinem

Tagebuch auch gerne darüber – und war oft anschließend mit Freunden wie dem

Schauspieler Ludwig Devrient, den Schriftstellern Chamisso und Fouqué zusammen – häufig in einer der Weinrestaurationen in der Nähe des Gendarmenmarktes wie Lutter und Wegner.27

Nicht nur Hoffmanns Leben und seine Einstellung zu Berlin veränderten sich durchgreifend während seines letzten Berlin-Aufenthaltes, sondern auch das Stadtbild

Berlins, in dem man in jenen Jahren bis zu Hoffmanns Tod schon Schinkels

Schöpferkraft erkennen konnte. Noch gehörte der Geschmack in Berlin vorwiegend dem

Architekten Langhans und den Bildhauern Schadow, Rauch und Tieck, jedoch war

Hoffmann einer der ersten Literaten, der Schinkels Bautätigkeit sorgfältig, oft am Fenster

26 Siehe mehr dazu unter „Hoffmann kommt in die Mode“ (Safranski 389-407). 27 Mehr dazu siehe Safranskis Kapitel „Berliner Tage und Nächte“ (377-389). 30

seiner Wohnung auf dem Gendarmenmarkt stehend, verfolgte und in seinen Briefen über

den Entwurf des Schauspielhauses schwärmte. Der Gendarmenmarkt, der schon seit der

Eröffnung des Langhans-Theaters im Jahre 1802 ein Platz der bürgerlichen Öffentlichkeit

wurde, erlebte eine weitere architektonische Veränderung durch den Brand des

Vorgängerbaues. Im neuen architektonischen, kulturellen und ökonomischen Mittelpunkt

Berlins wohnend, kommt Hoffmann entgültig in Berlin an und wird ein selbstbewusster

Großstadtbewohner.

Was die preußische Hauptstadt mit ihren mannigfachen künstlerischen

Anregungen für Hoffmann bedeutete, wie aufmerksam und voller Stolz er gegen Ende seines Lebens die architektonischen Veränderungen seiner direkten Umgebung verfolgte, geht aus einem Brief vom 24. Juli 1820 an seinem Freund Theodor Gottlieb von Hippel hervor:

Noch einmal, -- Du solltest hier seyn, denn Du gehörst eben so wenig als ich in die Provinz, und bist wohl auch nicht Caesars Meinung: lieber in dem kleinen beengten Kreise der erste zu seyn zu wollen, als in dem großen der zweite oder der dritte, vierte. Das lebendige Leben der großen Stadt, der Residenz wirkt doch nun einmal wunderbar auf das Gemüth, und solcher Kunstgenuss, wie er hier doch zu finden, ist das beste RestaurationsMittel für den Geist, den das Einerley erschlafft, wo nicht zuletzt tödtet. Man kann z.B. jetzt einen ganzen halben Tag und länger schwelgen, wenn man bloß in den neuen Theaterbau hineingeht, und dann bloß das Atelier der Bildhauer Tieck, Rauch und Konsorten im Lagerhause besucht. Am Theater arbeiten die ersten Künstler, und man kann ohne Übertreibung sagen, dass die kleinste Verzierung ein wahrhaftes Künstlerprodukt ist. (SW 4, 189-90)

Was Hoffmann nach seinen Briefen und nach Ansicht seiner Biografen bewegt, sind das

Theater und dessen „Kunstproduktionen,“ die Oper, die Ausstellungen, die Kaffeehäuser und Konditoreien, die Weinstube Lutter und Wegener, ebenso wie seine bescheidene

Wohnung in der Taubenstraße 31, Ecke Charlottenstraße, dem Königlichen

Schauspielhaus gegenüber. Hoffmann erfuhr in Berlin zum erstenmal Großstadtleben,

31

politisches Leben, große soziale Spannungen, neueste technische Erfindungen und ein

reges Kunstleben. Während der Berlin-Aufenthalte Hoffmanns veränderte sich nicht nur das Stadtbild wesentlich,28 sondern auch Hoffmanns Einstellung zum Großstadtleben:

Aus dem Provinzler wurde, wie sein Freund Hippel beschreibt, ein „verdorbener

Stadtbewohner.“

„Vater des Berliner Romans“: Editionsgeschichte der Berlin-Texte Hoffmanns

Schon am Ende des 19. Jahrhunderts fing man an, Hoffmanns Schilderungen wegen ihrer

Exaktheit und Einzelartigkeit als kulturhistorische Dokumente Berlins zu schätzen. 1875 begann Julius Rodenberg, der Herausgeber der Deutschen Rundschau, „den

Veränderungen nachzugehen, unter denen das alte Berlin,“ das er seit seiner

Studentenzeit gekannt hat, „in das neue sich verwandelte“ (295). In einem Feuilleton mit dem Titel „Unter den Linden“ bietet Rodenberg den Berliner Zeitungslesern nicht nur eine chronologische literarische Geschichte Berlins an, in der Goethe, Schiller, Heine,

Börne, E.T.A. Hoffmann und Keller die wichtigsten Rollen spielen, sondern lädt zu einem Strandrundgang ein, währenddessen er den Spuren berühmter Literaten in den von ihnen bewohnten Straßen, öffentlichen Plätzen und privaten Wohnungen Berlins folgt.

E.T.A. Hoffmann „trifft“ Rodenberg in einem Cafe und legt ein detailliertes Porträt des

28 Wie schon erwähnt, betonen die nicht-fiktiven Berlin Beschreibungen der Zeit die Neuartigkeit Berlins. Die folgende Charakterisierung der preußischen Residenz ist nur eine der Berlin-Beschreibungen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der Berlin als eine der sich am schnellsten entwickelnden Städte dargestellt wird: „ Man sieht es, das Ansehen, die Größe und Schönheit Berlins beruhen sich nicht auf vielen Jahrhunderten; nicht das Mittelalter hat an dieser Stadt mitgebaut; sie ist schnell, wie auf einen Zauberschlag, zu Dem erhoben, was sie jetzt ist. Es gibt keine Stadt in Europa, die so plötzlich zu Ansehen und Pracht gelangte, wie Berlin; [...] Berlin ist ein steinernes Epos der preußischen Heldenzeit, und die paar Jahrhunderte, die zur Herrlichkeit desselben mithalfen, glänzen von Ruhm, Treue und Patriotismus.“ (E. Beuermann, Vertraute Briefe über Preußens Hauptstadt, 1841. Zitiert nach Gramlich 96) 32

Schriftstellers vor. Nach der Schilderung der legendären Tagesroutine Hoffmanns und

der physiognomischen Beschreibung des bekannten Gesichtes erwähnt Rodenberg die

wichtigsten Werke des Schriftstellers, die in Berlin spielen.29

Rodenberg versucht nachzuvollziehen, warum Hoffmann so viele von seinen

Geschichten in Berlin hat spielen lassen. Dabei zitiert er einen Satz aus der Konversation, die die Serapionsbrüder nach der Erzählung Fragment aus dem Leben dreier Freunde führen:

Du hattest bestimmten Anlass, die Szene nach Berlin zu verlegen und Straßen und Plätze zu nennen. Im allgemeinen ist es aber auch meines Bedünkens gar nicht übel, den Schauplatz genau zu bezeichnen. Außer dem, dass das Ganze dadurch einen Schein von historischer Wahrheit erhält, der einer trägen Phantasie aufhilft, so gewinnt es auch, zumal für den, der mit dem Schauplatz genannten Orte bekannt ist, ungemein an Lebendigkeit und Frische. (SW 4, 176)

Deutlich wird hier festgelegt, dass die exakten Straßennamen nur einen scheinbaren

Realismus hervorbringen. Rodenberg interpretiert Hoffmanns Entscheidung, Berlin als

Schauplatz zu benutzen mit eigenen Worten des Schriftstellers, indem er feststellt, dass der spezifische, reale Ort Berlin bei Hoffmann als Katalysator funktioniert, um das verborgene und dämonische Berlin lebendig machen zu können. Nicht nur versucht

Rodenberg Hoffmanns Stil zu beschreiben, er verwendet auch dasselbe Konzept, als er unter den Linden spazierend den in Das öde Haus beschriebenen Ort besucht und ihn der damaligen Berliner Gesellschaft wieder ins Gedächtnis ruft. Für einen Moment bricht er

mit seinem eigenen Narrativ, versucht Hoffmann nachzuahmen und sich in die deutsche

literarische Tradition einzuschreiben.30

29 Rodenberg analysiert in erster Linie Des Vetters Eckfenster, aber erwähnt auch Die Brautwahl. 30 Vgl. dazu: „Das Haus in dieser Gestalt hat Hoffmann nicht mehr gekannt, denn der Durchbruch fand erst Ende der zwanziger Jahre statt; aber noch immer haftet etwas an diesem seltsamen Gebäude, was mir dasselbe vor allen Häusern Unter den Linden interessant macht. Immer noch wendet es seine ‚farblosen Mauern’ dieser elegantesten von Berlins Straßen zu, von ‚zwei schönen Gebäuden eingeklemmt’, wie zu 33

Die Schlussfolgerung des Hoffmann-Teiles in Rodenbergs Bericht ist die erste

Erwähnung des Schriftstellers als „der Vater des Berliner Romans“:

Man könnte Hoffmann den Vater des ‚Berliner Romans’ nennen, dessen Spur später, als man Berlin ‚die Hauptstadt’, den Tiergarten ‚den Park’, die Spree ‚den Fluss’ und die Regentenstraße (nach einer darin befindlichen Fontäne ‚die Springbrunnenstraße’ nannte, sich in Allgemeinheiten verlor, bis er in unseren Tagen wieder aufgelebt ist, freilich in Anlehnung eher an französische Vorbilder als an diesen echt deutschen Schriftsteller... (Rodenberg 306)

Rodenberg benutzt den Terminus „Berlinische Geschichte“ quasi als eine

Gattungsbezeichnung und weist Hoffmann in der Geschichte des Berliner Romans die

Rolle des Gründers zu. Nach Rodenberg brachte Hoffmann in seinen Werken eine

„Theorie des Romans“ zum Ausdruck, die zwei wesentliche Komponenten hat. Einerseits wird die Stadt „mit unfehlbarer Treue“ beschrieben und bestimmte Lokalitäten präzis und einzigartig dargestellt. Andererseits erscheint vor dem konkreten Hintergrund eine

Existenz, „welche der gemeinen Wirklichkeit widerspricht und doch unmittelbar mit ihr verknüpft ist“ (307). Rodenberg benutzt also den Terminus „Berlinische Geschichte“ bewusst, um Hoffmanns in Berlin spielende Werke zu charakterisieren und der Journalist der Deutschen Rundschau erwähnt fünf Erzählungen Hoffmanns, Drei Freunde,

Brautwahl, Ritter Gluck, Das öde Haus und Des Vetters Eckfenster, als Berlinische

Geschichten.

Die erste umfassende Textausgabe von Hoffmanns „Berlinischen Geschichten“ erschien im Jahre 1921 unter dem Titel Zwölf Berlinische Geschichten aus den Jahren

1551 – 1816 und wurde von dem Germanisten Hans von Müller herausgegeben und sorgfältig annotiert. Im Band gibt es zwölf Stücke, darunter zwei Briefe und weniger beiden Seiten es überragen – mit einem winzig kleinen Balkon, der in keinem rechten Verhältnis zu seiner Breite steht, mit Fenstern, die zwar nicht mehr ‚mit Papier verklebt’ sind, aber etwas Verschlafenes haben, wie von einem Traum, aus dem man schwer erwacht, und mit einem Torweg, der an der Seite angebracht, zugleich zur Haustüre dient“ (Rodenberg 309). 34

bekannte Texte mit den Titeln „Bettinas seltsame Krankheit“ und „Marie Stahlbaum und

ihr Pate.“31 Obwohl die Sammlung von Hans von Müller als ein wertvoller Beitrag zum

Korpus der Hoffmann-Testausgaben betrachtet werden muss, scheint das angewandte

redaktionelle Verfahren des Herausgebers aus heutiger Sicht mehrfach problematisch.

Textstellen, die sich nicht unmittelbar auf die preußische Hauptstadt beziehen, wurden

eliminiert und die einzelnen Erzählungen mit eigenwilligen Kapitelüberschriften ergänzt.

Wahrscheinlich ist das intendierte Publikum in diesem Fall der mit dem Hoffmanschen

Oeuvre vertraute Leser, dem durch die sorgfältig aber relativ autoritär bearbeitete

Ausgabe eine Zweitlektüre der bereits bekannten Texte angeboten wird. Im Unterschied

dazu wird der unerfahrene Leser Hoffmanns diese Texte unter der Lenkung des

Herausgebers kennen lernen.

Die neueste und editionswissenschaftlich den heutigen Normen entsprechende

Ausgabe von sechs Berlinischen Geschichten, Gespenster in der Friedrichstadt:

Berlinische Geschichten, stammt von Günter de Bruyn und Gerhard Wolf aus dem Jahre

1985, und umfasst fünf Geschichten.32 Obwohl die Sammlung detailliert annotiert und

mit einer Bibliografie ergänzt wurde, findet man keine Aussagen darüber, welche

ästhetischen, thematischen und strukturellen Komponenten einen bestimmten Text zu

einer Berlinischen Geschichte machen (de Bruyn, „Zum Text“ 296).

31 Diese Ausgabe enthält die folgenden Titel: Erstes Buch: Sechs Begebenheiten aus der Zeit vor Hoffmanns entgültiger Übersiedlung nach Berlin 1551 bis Frühjahr 1814 (Aus dem Leben eines bekannten Mannes, 1551-52; Der Baron von Bagge 1780/90; Geisterbeschwörungen Etwa. 1790-96; Ritter Gluck 1807-08; George Pepusch und Dörtje Bethmann, oder Cactus und Tulpe, 1807/08; Die drei Freunde 1814 und 1816). Zweites Buch: Sechs Begebenheiten aus der Zeit vom September 1814 bis zum September 1816. (Der Kapellmeister Johannes Kreisler an den Baron Wallborn. 27. September 1814; Die Abenteuer der Silvesternacht. Brief vom. 1. Januar 1815; Marie Stahlbaum und ihr Pate. Winter 1815/16; Bettinas seltsame Krankheit, 1816; Das öde Haus. Sommer 1816; Ein Brief an Herrn Baron de la Motte Fouqué, September 1816). 32Die in diesem Buch veröffentlichten Texte sind die folgenden: Ritter Gluck, Die Abenteuer der Silvesternacht, Ein Fragment aus dem Leben dreier Freunde, Das öde Haus, Die Brautwahl und Des Vetters Eckfenster. 35

Im Folgenden werden Hoffmanns Geschichten, in denen Berlin eine wesentliche

Rolle spielt, chronologisch besprochen und der Versuch gemacht, einen neuen Korpus von Hoffmanns Berlin-Texten herzustellen und sie zu klassifizieren. Das Ziel ist zu zeigen, durch welche Kriterien eine Hoffmannsche „Berlinische Geschichte“ thematisch und ästhetisch charakterisiert werden kann. Diese Typologisierung soll im zweiten

Kapitel hilfreich sein, um nachzuweisen, wie die Darstellung des urbanen Raumes in

Hoffmanns letzter Erzählung Des Vetters Eckfenster sowohl eine Sonderposition einnimmt, als auch als Kontinuität der Stadtbilder in Hoffmanns Berlinischer/Berliner

Geschichten angesehen werden kann.

Kalte Herbst- und Winternächte in der Friedrichstadt: Berlin in den

Fantasiestücken in Callots Manier

In den Fantasiestücken in Callots Manier gibt es mehrere Texte, die in Berlin spielen und präzise Ortsangaben enthalten. Vor allem die sogenannten „Zelte“ im Tiergarten scheint

Hoffmann geliebt zu haben, da er zwei seiner Novellen, Ritter Gluck und Fragment aus dem Leben dreier Freunde hier beginnen lässt. Die erste Berlinische Erzählung

Hoffmanns ist zugleich sein erster literarischer Erfolg, Ritter Gluck. Eine Erinnerung aus dem Jahre 1809, die seit der Wiederentdeckung Hoffmanns als ein Höhepunkt seiner

Kunst zählt.

Die Erzählung entstand etwa 1808 und erschien zuerst 1809 in der Allgemeinen

Musikalischen Zeitung (SW 2/1, 610). Ritter Gluck ist Hoffmanns literarisches Debüt

„ohne Anfängerhaftes“ wie de Bruyn das Werk treffend charakterisiert (Nachwort 279),

36

in dem vieles, das später typisch für Hoffmann wird, zu finden ist: Die Musik als erste

der Künste, die Problematik des Künstlers und Bürgers, und die Fantastik, die

organischer Teil der genau beobachteten Welt zu sein scheint. Was Hoffmanns Berlin-

Darstellung betrifft, stimmt die Sekundärliteratur mit dem Germanisten Herbert

Heckmann überein, der feststellt, dass eine Großstadtszene wie die Anfangsszene der

Erzählung vor Hoffmann „keiner in der deutschen Literatur geschildert“ hat (31).

Die im Text erscheinenden Berliner Orte und die damalige Berliner Gesellschaft

hat Hoffmann in den ersten Zeilen der Erzählung mit erstaunlicher Genauigkeit

geschildert:

Der Spätherbst in Berlin hat gewöhnlich noch einige schöne Tage. Die Sonne tritt freundlich aus dem Gewölk hervor, und schnell verdampft die Nässe in der lauen Luft, welche durch die Straßen weht. Dann sieht man eine lange Reihe, buntgemischt -- Elegants, Bürger mit der Hausfrau und den lieben Kleinen in Sonntagskleidern, Geistliche, Jüdinnen, Referendare, Freudenmädchen, Professoren, Putzmacherinnen, Tänzer, Offiziere usw. durch die Linden nach dem Tiergarten ziehen. Bald sind alle Plätze bei Klaus und Weber besetzt; der Mohrrübenkaffee dampft, die Elegants zünden ihre Zigarros an, man spricht, man streitet über Krieg und Frieden... (SW 2/1, 16)

Topographisch wie inhaltlich hat die Erzählung zwei Teile. Der erste, wie das obige Zitat zeigt, schildert die Begegnung des Ich-Erzählers mit einem Sonderling im Tiergarten, mit dem er in Richtung Brandenburger Tor spaziert. Der zweite Teil ist eine Begegnung einige Monate später, die beim Theater beginnt und in der Wohnung des Unbekannten in der Friedrichstadt endet. Aus den lebenslustigen, hellen Orten im Tiergarten ziehen sich die Protagonisten in der Folge der Erzählung in die „öden Räume“ von Berlin zurück, symbolisiert durch die Fassade eines „unansehnlichen Hauses“ in der Friedrichstadt. Bei großen Teilen der damaligen Friedrichstadt handelte es sich um Ansammlungen von

37

Neubauten in monotoner Bauweise.33 Berlin erscheint in Hoffmanns erster Erzählung als

ein realer Ort, auf dessen Straßen der Ich-Erzähler und ein Irrer in ihrem Dialog das

zeitgenössische Musikleben kritisch betrachten.34

Zwei der dargestellten Lokalitäten, „die Wohnung in der Friedrichstraße“ und das

Theater, das von Langhans entworfene und erst 1802 fertiggestellte Königliche

Nationaltheater am Gendarmenmarkt, befinden sich in der nahen Umgebung von

Hoffmanns damaliger Berlin-Adresse: Friedrichstraße 179 (de Bruyn 300). Die in Ritter

Gluck dargestellten Berliner Örtlichkeiten, die Zelten im Tiergarten, Unter den Linden

und Orte in der Friedrichstadt, gehören ausnahmslos zum „neuen Berlin.“ Die

Friedrichstadt mit ihren geraden Straßen und modernen Fassaden und die Umgebung des

Tiergartens werden die wichtigsten und meistzitierten Hintergründe auch in den späteren

Erzählungen Hoffmanns, während die Altstadt, den nicht-fiktiven Reisebeschreibugen

der Zeit ähnlich, eher unerwähnt bleibt.

Durch die realistisch wirkenden Passagen entsteht ein komplexer, urbaner Raum,

der die Fantasie des Ich-Erzählers fördert, der sich dem „leichten Spiel“ seiner

Einbildungskraft überlassend und die Kommenden und Gehenden beobachtend, auf eine

eigentümliche Person aufmerksam wird und dieser mehrmals in der Stadt begegnet. „Sie

verstehen sich ganz und gar nicht auf Berlin und die Berliner,“ erklärt der absonderliche

Unbekannte dem Erzähler, von dessen Außenseiterperspektive die preußische Hauptstadt

33 Vgl dazu: Julius von Rodenberg beschreibt in der Deutschen Rundschau das Folgende: Das normale Berliner Wohnhaus der nachfriderizianischen Ära wirkte „nüchtern, ohne Schwung, wie der Staat jener Zeit, auf das Nothdürftige beschränkt, unfreundlich, monoton, langweilig, eines wie das andere“ (I, 344). 34 Die meisten Deutungsversuche der Erzählung versuchen die Existenz und die Identität des Titelhelden zu erklären. Die meisten betrachten den Fremden als Wahnsinnigen, der sich einbildet, Gluck zu sein. Andere halten Gluck für den Geist eines Komponisten, dessen Geist weiterlebt. Eine dritte Gruppe beschreibt die Titelfigur als ein Fantasiegebilde des Ich-Erzählers, der von sich selbst schreibt, als ob er sein eigener Gesprächspartner wäre. Eine Mehrdeutigkeit kommt in dieser Weise zu Tage, vor allem was das Verhältnis von Wirklichkeit und Fantasie betrifft. 38

beschrieben wird (SW 2/1, 23). Wenn man die Berliner Orte unter die Lupe nimmt, wird

es deutlich, dass die präzis angegebenen Berliner Adressen nicht einfach auf einer

zeitgenössischen Landkarte lokalisiert werden können. Die im ersten Absatz

geschilderten geografischen Koordinaten und die zeitgeschichtlichen Details implizieren

eine realistische Erzählkunst, jedoch erweisen sie sich nach einer gründlichen Analyse als

ambivalente Realien:

Dicht an dem Geländer, welches den Weberschen Bezirk von der Heerstraße trennt, stehen mehrere kleine runde Tische und Gartenstühle; hier atmet man freie Luft, beobachtet die Kommenden und Gehenden, ist entfernt von dem kakophonischen Getöse jenes vermaledeiten Orchesters: da setze ich mich hin... (SW 2/1, 19)

Weder ein Weberscher Bezirk noch eine Heerstraße gab es im damaligen Berlin und

werden umsonst auf einer zeitgenössischen Stadtkarte gesucht.35 Beide topographischen

Angaben sind Hinweise, dass es in der ersten Berlinischen Geschichte Hoffmanns nicht

auf realistische Genauigkeit ankommt. Die Heerstraße, als eine breite Straße, auf der die

Masse zu finden ist, wird im Dialog zwischen dem Geistesgestörten und dem Ich-

Erzähler wieder erwähnt und als Gegenbild dem realistischen Berlin entgegensetzt:

Ha, wie ist es möglich, die tausenderlei Arten, wie man zum Komponieren kommt, auch nur anzudeuten! -- Es ist eine breite Heerstraße, da tummeln sich alle herum und jauchzen und schreien: ‚wir sind Geweihte! wir sind am Ziel!’ -- Durchs elfenbeinerne Tor kommt man ins Reich der Träume; wenige sehen das Tor einmal, noch wenigere gehen durch! -- Abenteuerlich sieht es hier aus. Tolle Gestalten schweben hin und her, aber sie haben Charakter -- eine mehr wie die andere. Sie lassen sich auf der Heerstraße nicht sehen, nur hinter dem elfenbeinernen Tor sind sie zu finden. (SW 2/1, 24)

Während die Heerstraße die Charlottenburger Chaussee und das elfenbeinerne Tor das in der Erzählung auch erwähnte Brandenburger Tor evoziert, lernt der Leser eine fantastische Welt kennen, in der der Künstler lebt. Diese Fantastik, die Bilder aus Homers

35 Die Stellenkommentare in den Sämtlichen Werken ist das Folgende zu der Stelle: „Heerstraße“ als eine Bezeichnung für das Gewöhnliche, Normale „es ist eine breite Heerstraße.“ (SW 2/1 617) 39

Odyssee und Vergils Aeneis evoziert (SW 1, 622), scheint dem genau beobachteten

Alltagsleben innezuwohnen und damit eng verbunden zu sein. Im Werk entsteht eine

topographische Dichotomie, in der die eine Komponente zeitgenössisches, reales, jedoch teilweise subjektivisiertes Berlin konstituiert und die andere „das Reich der Träume“ ist, in der die gleichen architektonischen Konstruktionen dargestellt werden. Die breiten

Spazierstraßen und ein Tor, die die Grenze der Stadt/des Traumreiches konnotieren, sind

auch geschilderte Teile des realen Berlins.

Neben den faktischen Straßen- und Ortsnamen (Linden, die „Zelte,“ Klaus und

Weber im Tiergarten, Friedrichstraße, Brandenburger Tor) erscheinen fiktive

(Heerstraße) oder mäßig veränderte Berliner Lokalitäten (der Webersche Bezirk) in der

Erzählung. Den Berlinern sollte die Bezeichnung „Weberscher Bezirk“ fremd klingen, da

die „Zelte“ am nördlichen Rand des Tiergartens, deren Wirte Klaus und Weber hießen,

nie nach dem Namen der Besitzer in zwei Bezirke eingeteilt waren (SW 2/1, 618). Das

„Webersche Zelt“ ist eine Erfindung Hoffmanns und die Bezeichnung evoziert den

Namen des Kapellmeisters B.A. Weber, der unter anderem die in der Erzählung

erwähnten Opern dirigierte (SW 2/1, 618). Inhaltlich und topographisch entsteht eine

Multidimensionalität im Werk, zu deren Lösung der Ich-Erzähler keinen Schlüssel

anbietet. Die Berlin-Bilder der ersten Erzählung Hoffmanns bringen eine dramatische

Spannung und eine einzigartige Hoffmannsche Berlin-Topographie zustande, die auch

auf die nachfolgenden Berlin Beschreibungen einen Einfluss ausgeübt haben.36

Eine weitere topographische Dichotomie entsteht zwischen dem ‚Alten’ und

‚Neuen,’ zum Beispiel in der Lage und Beschreibung der Wohnung von ‚Ritter Gluck.’

36 Zum Beispiel erscheint „das Webersche Zelt“ auch in den anderen Berlin-Geschichten: Fragment (SW 4, 129) und Brautwahl (SW 4, 699). 40

Die Wohnung, in der die Enthüllung des Irren erfolgt, ist in einer Querstraße der

Friedrichstadt gelegenen „unansehnlichen Haus“, in das der Ich-Erzähler an einem kalten

Abend geführt wird. Während die Figuren in der Stadt stets unterwegs sind und ihre

Gespräche teilweise auf den Straßen laufend in Bewegung stattfinden, steht die Zeit in

der Wohnung still, deren sonderbare Einrichtung, „altmodisch, rein verzierte Stühle, eine

Wanduhr mit vergoldetem Gehäuse und ein breiter, schwerfälliger Spiegel“ (SW 2/1, 29)

detailliert beschrieben wird. Dieses „verjährte“ Domizil befindet sich im neuesten Teil

der Stadt, die als ein Raster, auf dessen kalten und nassen nächtlichen Straßen die zwei

Gestalten eilig und mechanistisch verkehren, angedeutet wird. Neben den neu/alt

Oppositionen benutzt Hoffmann kalt/warm Gegenpole, um die Dichotomie zu

intensivieren. Neben der Gegenüberstellung der kalten Straßen mit dem durch eine Kerze

beleuchteten Zimmer erscheinen diese Gegenpole auch in den Worten von „Ritter

Gluck,“ als er beschreibt, wie er aus dem „Reich der Träume“ in der hiesigen Welt

ankam: „eine eiskalte Hand fasste in dies glühende Herz!“ (SW 2/1, 30).

Eine Dualität ist auch in der Publikationsgeschichte der Erzählung präsent:

Einerseits wurde das in literarische Form eingebettete Stück als musikkritische Schrift

1809 in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung veröffentlicht, andererseits erschien es

1814 als das zweite Stück in Fantasiestücke in Callot’s Manier. Dementsprechend

können die topographischen Orte des Werkes zwiefach interpretiert werden. Teils

verhüllen sie zeitgenössische Anspielungen auf Berliner Komponisten,

Opernaufführungen und Unterhaltungsmusik, die auch in den Berlin-Bildern des Textes

ihre Spuren hinterlassen haben.37 Teils entspricht die Ästhetik der topographischen

37 Oesterle interpretiert die Erzählung als eine subversive Auflösung der in der Aufklärung festgeschriebenen Zuständigkeiten von Poesie und Musik: „Durch Grenzübertritt von der rhetorischen 41

Beschreibungen dem von Hoffmann beschriebenen Prinzip in Callot’s Manier, was er in

einem seiner Briefe an seinen Freund Kunz am prägnantsten zusammengefasst hat: „die

besondere subjektive Art wie der Verfasser die Gestalten des gemein[en] Lebens

anschaut und auffasst“ (Briefwechsel I, 416).38 Berlin wird romantisiert, indem die genau

beobachteten Szenen der realen Welt mit fantastischen Schilderungen versetzt werden.

Es ist augenfällig, dass die eindrucksvollsten Berliner Orte am Anfang und am

Ende Hoffmanns literarischer Tätigkeit erscheinen. Eine fröhliche Menge Unter den

Linden, die den Erzähler zum Tiergarten und dann „Ritter Gluck“ folgend in die

Friedrichstadt zieht, ist der Anfang des Hoffmannschen Oeuvre, das mit dem elegischen

Blick des Vetters auf die Menschenfülle des Gendarmenmarktes abgeschlossen wird.

Zwischen den zwei obigen Meilensteinen gibt es aber mehrere, oft weniger bekannte

Werke, in denen Berlin als Schauplatz eine wichtige Rolle bekommt.

Die nächste Erzählung im vierten Band der Fantasiestücke, in der Berlin als

Hintergrund benutzt wird, ist Die Abenteuer der Sylvester-Nacht, die in den ersten sechs

Januartagen 1815 entstand. An die Stelle der linearen Ich-Erzählung tritt in diesem Text eine außerordentlich beziehungsreiche Verschränkung dreier Stimmen (Herausgeber, reisender Enthusiast und Spikher). Das Abenteuer ist eine Auseinandersetzung mit der zerstörenden Gewalt gesellschaftlich unterdrückter Sexualität.

Poesie zur anderen Sprache der Traumpoesie und durch das Überschreiten der Töne der Musik zu Klang und Geräusch wird das Schema der Aufklärung, hier Begriffe und Vorstellungen der Poesie, dort Seelenempfindung der Musik, untergraben“ („E.T.A. Hoffmanns Ritter Gluck“ 63). 38 Vgl. dazu auch die Einführung „Jacques Callot“ in den Fantasiestücken: „das Gemeinste aus dem Alltagsleben [...] erscheint in dem Schimmer einer gewissen romantischen Originalität, so dass dem Fantastischen hingegebene Gemüt auf eine wunderbare Weise davon abgesprochen wird“ (SW 2/1, 17). 42

Die Erzählung beginnt mit den Worten des fiktiven Herausgebers, der die

Begründung der Auswahl seiner Geschichte mit den folgenden Sätzen schließt: „Was kann ich mehr für den reisenden Enthusiasten tun, dem nun einmal überall, und so auch am Silvesterabend in Berlin, so viel Seltsames und Tolles begegnet ist?“ (SW 2/1, 325).

Bald lernt der Leser den Maler Erasmus Spikher im ersten Kapitel der Erzählung („Die

Geliebte“) kennen, der in der eiskalten Berliner Nacht der Kurtisane Giuiletta kurz in einem Zimmer wiederbegegnet, die ihn an die „engelschöne, jugendlich anmutige“ Julie erinnert, die neben ihm steht und „elektrische Feuerstrahlen“ aussendet (SW 2/1, 329).

Musik und die Konversation mit Julie verstärken Spikhers Verzückung, was dazu führt, dass er die Gesellschaft fluchtartig verlässt. Metaphorische Gegenteile des Kalt-

Winterlichen auf der einen Seite und des Glühend-Feurigen auf der anderen kommen in der Folge der Erzählung, wie in Ritter Gluck, immer wieder vor, wobei die Berliner

Straßen als ‚kalte’ Wirklichkeit dargestellt werden.39

Wie der erste Abschnitt beginnt auch das zweite Kapitel („Die Gesellschaft im

Keller“) der Erzählung mit einer Ortsangabe: „Die Promenade unter den Linden ist sonst

ganz angenehm, aber nicht in der Silvester-Nacht bei tüchtigem Frost und

Schneegestöber“ (SW 2/1, 331). Barköpfig und unbemäntelt läuft Spikher aus der

Altstadt in die Friedrichstadt über die Opernbrücke, beim Schloss vorbei, biegt ab und

geht über die Schleusenbrücke an der Münze vorüber. Die freundlichen Lichter in den

Zimmern der Jägerstraße bewundernd, wird Spikher auf einen Keller aufmerksam. Aus

39 Ricarda Schmidt interpretiert jeden Charakter im Text als ein malerisches Ikon und ordnet jeder Figur Gemälde verschiedener historischer Maler zu: Julia vergleicht sie mit den Frauendarstellungen auf Gemälden Mieris, Breughels, Callots, Rembrandts und Rubens, den schattenlosen Mann den Bildern von Rubens und den Kleinen einer Enslerschen Fantasmagorie. Schmidt zeigt überzeugend, dass die Figuren ihre Bedeutung in der Erzählung mit Hilfe von zahlreichen malerischen Referenzen strukturieren. Diese Korrespondenz erscheint jedoch nur in Bezug auf die Erzählfiguren und nicht auf Berlin. Mehr dazu siehe Schmidt 90-114. 43

dem hellen Teezimmer steigt unser Protagonist in den dunklen Bierkeller in der

Jägerstraße hinunter. Dort hat er wieder eine seltsame Begegnung, jetzt mit dem

schattenlosen Peter Schlemihl, der nach einer Konversation über Botanik und

Spiegelbilder „über den Gendarmesturm hinwegschritt und in der Nacht [verschwindet]“

(SW 2/1, 337). Der damit gemeinte Turm des Französischen Doms erscheint in mehreren

Erzählungen und hat eine „disziplinierende“ Funktion, da die aus den Kellern kommenden (Silvesternacht) oder durch ein im Fenster erscheinendes Frauenbild verwirrten Protagonisten (Fragment aus dem Leben) auf diesem Platz entweder in die

Normalität des Alltags zurückkehren (Silvesternacht) oder die Entscheidung treffen,

Berlin mindestens für eine Weile zu verlassen (Alexander in Fragment aus dem Leben).40

In sein Hotel, Goldener Adler, zurückkehrend trifft Spiker im dritten Kapitel

(„Erscheinungen“) einen seiner Gesprächspartner, den janusköpfigen Kleinen, wieder. In einem Nachttraum fließen die bisherigen Ereignisse, die Erscheinung der Geliebten, das

Gespräch im Keller und die Begegnung mit dem Kleinen, zusammen. Das vierte Kapitel

(„Geschichte vom verlornen Spiegelbilde“) erzählt in einer „Er-Form“ die vollständige

Geschichte von Erasmus Spikher und dessen verlorenem Spiegelbild. Das raffiniert strukturierte Werk schließt mit den verschiedenen Bildern und Schicksalen der

Protagonisten im Postskript des reisenden Enthusiasten, welches an E.T.A. Hoffmann adressiert ist. In den letzten Kapiteln kommt das zentrale Thema des Textes zu Tage:

Spiegelbild, Spiegelungen und Identitätsproblematik.

40 Vgl. dazu: „Als ich über den Gensd’armesplatz kam, stellte sich gerade ein Trupp Freiwilliger zum Abmarsch, da stand es klar vor meiner Seele, was ich tun müsse, mich selbst zu beschwichtigen und die ärgerliche Geschichte zu vergessen“ (Fragment aus dem Leben dreier Freunde, SW 4, 154). Alexander geht danach zur Behörde, um seine Wiedereinstellung zu bewirken, um die Stadt wieder verlassen zu können. 44

Das in den ersten drei Kapiteln der mehrteiligen Erzählung dargestellte zeitgenössische winterliche Berlin mit präzisen Adressen erscheint als ein entseelter, starrer Block, wie die Friedrichstadt auf zeitgenössischen Stadtkarten. In den Träumen und Visionen der Protagonisten und in den eingeschobenen Herausgebernotizen und

Binnengeschichten dagegen wird ein dämonisches Berlin vergegenwärtigt, das dem kalten Gegenpol des nüchtern beschriebenen urbanen Raumes entgegengesetzt wird und zugleich darauf weist. Es entsteht ein bipolares Berlin-Bild zwischen Rationalisierung und Dämonie, in dem die Lebensbereiche der alltäglichen bürgerlichen Zivilisation und die Sphäre des lebendigen Gefühls im starken Kontrast miteinander stehen. Die preußische Hauptstadt ist einerseits eine objektive Macht, eine „aufgeklärte“ Entität mit transparenten Qualitäten, andererseits ein Ort des Vergessens, oder wie Heinz

Brüggemann treffend schreibt „ein Ort der Verführung, wo sich die tief eingeprägten

Engelsbilder der ersten, der ‚himmlischen’ Liebe auflösen und verlieren in ganz anderen

Sensationen des Wunderbaren, in den Abenteuern des Blicks, den Entdeckungen des

Körpers“ (Das andere Fenster, 121).

Die Grenzlinien zwischen den zwei Bereichen überschneiden sich in dieser

Erzählung so eng, dass Hoffmanns Kritik des reisenden Enthusiasten erwähnt werden soll. Hoffmann bezweifelt nämlich die Glaubwürdigkeit dieser Erzählfigur, die zwischen

Fantastik und Wirklichkeit keinen Unterschied machen kann. Den reisenden Enthusiasten sieht er als einen „Geisterseher“, der „offenbar sein inneres Leben so wenig von äußern, dass man beider Grenzlinien kaum zu unterscheiden vermag“ (SW 2/1, 325). Einer der

Erzähler der Serapions-Brüder, Theodor, beschreibt die von Hoffmann bevorzugte

45

Poetik, in der es zwischen dem Alltäglichen und dem Fantastischen ein Gleichgewicht gibt:

Ich meine, dass die Basis der Himmelsreiter, auf der man hinaufsteigen will in höhere Regionen, befestigt sein müsse im Leben, so dass jeder nachzusteigen vermag. Befindet er sich dann höher und höher hinaufgeklettert, in einem fantastischen Zauberbereich, so wird er glauben, dies Reich gehöre auch noch in sein Leben hinein, und sei eigentlich der wunderbar herrlichste Teil desselben (SW 4, 721)

Die Metapher bestrebt eine Darstellung an, in der der Schriftsteller zwischen den verschiedenen Domänen, Innenwelt und Außenwelt, Körper und Geist eine Balance gewinnen kann. Diese Bestrebung manifestiert sich auch in der Schilderung des Berliner urbanen Raumes.

Seltsame Begegnungen: Berlin in den Nachtstücken

Ein Streben nach der oben geschilderten Balance kennzeichnet die späteren Berlin

Beschreibungen. In Hoffmanns zweitem, Ende 1816 bzw. Ende 1817 veröffentlichtem

Zyklus Nachtstücke gibt es ebenfalls Erzählungen, in denen Berlin plastisch dargestellt wird. Besonders die Berlin-Bilder der Erzählung Das öde Haus, die den zweiten Teil der

Nachtstücke eröffnet, sind berühmt geworden. Die berlinspezifischen Einzelheiten des

Textes werden vor dem Hintergrund von Hoffmanns Leben und Umgang in Berlin deutlicher. Hoffmanns Freund, Julius Eduard Hitzig schreibt, dass der Schriftsteller nach dem „Eindruck, den ein, unter den Linden gelegenes, Haus auf ihn machte, dessen

Fenster nach vorn hinaus nie geöffnet erschienen, und hinter denen seine Fantasie ihm allerlei Spukhaftes sehen ließ“ zu der Erzählung angeregt worden sei (SW 3, 164).

Gemäß einer Anmerkung von Günter de Bruyn handelte es sich bei dem Gebäude um das

46

Haus unmittelbar neben der bekannten Konditorei Fuchs, Unter den Linden No. 9 (alte

Zählung), welches 1824 abgerissen wurde (307).41

Die Geschichte verfügt über eine vielschichtige, jedoch übersichtliche Struktur, in

der das Rahmengespräch und die ausführlichen topographischen Angaben eine definitive

Grenze zwischen dem Wunderlichen und dem Wirklichen produzieren.

Die mit Gebäuden jener Art eingeschlossene Allee, welche nach dem ***er Tore führt, ist der Sammelplatz des höheren, durch Stand oder Reichtum zum üppigeren Lebensgenuss berechtigten Publikums. In dem Erdgeschoss der hohen breiten Palläste werden meistenteils Waren des Luxus feil geboten, indes in den obern Stockwerken Leute der beschriebenen Klasse hausen. [...] Schon oft war ich die Allee durchwandelt, als mir eines Tages plötzlich ein Haus ins Auge fiel, das auf ganz wunderliche seltsame Weise von allen übrigen abstach. Denkt euch ein niedriges, vier Fenster breites, von zwei hohen schönen Gebäuden eingeklemmtes Haus, dessen Stock über dem Erdgeschoss nur wenig über die Fenster im Erdgeschoss des nachbarlichen Hauses hervorragt, dessen schlecht verwahrtes Dach, dessen zum Teil mit Papier verklebte Fenster, dessen farblose Mauern von gänzlicher Verwahrlosung des Eigentümers zeugen. Denkt euch, wie solch ein Haus zwischen mit geschmackvollem Luxus ausstaffierten Prachtgebäuden sich ausnehmen muss. (SW 3, 165-66)

Das ausgewählte Haus ist das eine, das von den großen, hohen Häusern der Linden absticht und aus der Gleichzeitigkeit der modernen Fassaden herausfällt. Sowie das öde

Haus als ein bizarres Bild beschrieben wird, ist auch Theodors Benehmen, der immer

wieder am Haus vorbeizieht, merkwürdig. Die Germanisten Heinz Brüggemann und

Robert McFarland charakterisieren Theodors Verhalten als Flanerie, besonders in der

Darstellung seiner Neigung, „oft allein durch die Straßen zu wandeln,“ sich „an jedem

Kupferstich, an jedem Anschlagzettel zu ergötzen“, die ihm „begegnenden Gestalten zu

41 Mehr dazu siehe Safranski 397. 47

betrachten“ und „manchem in Gedanken das Horoskop zu stellen“ (SW 3, 165).42

Theodors Verhalten wird in neuster Forschung als das des Flaneurs beschrieben

(McFarland 108-9), jedoch wird diese mobile Haltung zu einer starren Fixierung, als der

Blick des Erzählers mit dem Fenster des öden Hauses verbunden bleibt.

Die Erzählung vom öden Haus, wie die meisten Berlinischen Geschichten,

handelt vom Liebeszauber. Der Blick Theodors, angezogen vom verschlossenen Haus

und dessen verhängten Fenstern, ist der sexualisierte Blick, um dessen „Heilung“ es in

der Geschichte geht (Brüggemann, Das andere Fenster 146).43 In der Folge der

Erzählung verliert Theodor seine Beziehung zur Außenwelt, die sich in den breiten

Schilderungen der lokalen Verhältnisse am Anfang und der detailgenauen Topographie

der Linden manifestiert, um sie dann nach und nach zurückzuerlangen. Dem Geschmack

eines breiten Publikums folgend, erzählt er eine schauderhafte Geschichte über ein

Geheimnis, das die damaligen Berliner beschäftigt hat und zeigt dabei, dass es auch in

den hellsten Orten der aufgeklärten Preußischen Hauptstadt dunkle Ecken gibt.

Eine der populärsten Darstellungen von Berlins Prachtboulevard war die

sogenannte „Lindenrolle,“ deren Ästhetik mit Hoffmanns realistischer Lindenallee-

Schilderung verglichen werden kann (Verwiebe, Unter den Linden 80). Kurz nach den

Befreiungskriegen entwickelte sich die preußische königliche Prachtstraße, die mit Zeit

auch als Wohn- und Geschäftsstraße fungierte, zur bürgerlichen Flaniermeile. Die

42 Rodenberg charakterisiert den Schriftsteller Hoffman mit ähnlichen semantischen Mitteln: „Tagelang läuft er hinter ihm unbekannten Personen her, „die irgendetwas Verwunderliches im Gang, Kleidung, Ton, Blick haben“ (257). 43 Vgl. auch dazu Lieb 58-75. 48

„Lindenrolle“ war eine frühe kleinpanoramatische Repräsentationsform, die die ganze

Länge und Breite der Straße topographische genau und detailtreu darstellte.44

Abbildung 1: Lindenrolle – Panorama der Straße Unter den Linden, um 1819/20

Hoffmann bietet seinen Berliner Lesern eine ähnlich detailtreue Darstellung der Straße

mit ihren Wohnhäusern, Geschäften und Restaurants, jedoch bleibt sein Blick auf einem

Fenster fixiert, das wie die ungewöhnliche Gestalt im Tiergarten die Fantasie des Ich-

Erzählers beflügelt und eine seltsame Geschichte in Gang setzt.

Das nächste Denkmal von Hoffmanns Berlin-Aufenthalt ist die im Herbst 1818

mit der Jahreszahl 1819 erschienene Theaterschrift Seltsame Leiden eines Theater-

Direktors, die in den Hoffmann-Editionen sowie in der Hoffmann-Forschung

vernachlässigt wird. Als Hoffmann diese Theaterschrift verfasste, lebte er schon seit

einigen Jahren wieder in Berlin. Viele Erfahrungen und Beobachtungen Hoffmanns am

Berliner Schauspielhaus sind in diese Schrift eingegangen, die Hoffmanns Ansichten

über die Entwicklungen der Berliner Bühne in den Jahren 1817/18 enthält (SW 3,

1045).45 Die Theaterschrift bespricht Mängel des zeitgenössischen Theaters und

44 Alle Gebäude und Querstraßen sind auf der Rolle am unteren Bildrand benannt und mit der jeweiligen Hausnummer versehen (Vorwiebe 80). 45 Die kritische Ausgabe des Textes skizziert kurz die Verhältnisse des zeitgenössischen Berliner Theaterlebens, was das Verständnis des Textes dem heutigen Leser wesentlich erleichtert. Als Hoffmann 1814 nach Berlin kam, waren die Königlichen Schauspiele durch die Intendanz Ifflands geprägt. Die von 49

Theaterlebens. Von Äußerlichkeiten, wie der Größe des Theatergebäudes oder Fragen der

Beleuchtung beschäftigt sich mit Problemen des Theaterdirektors und der Schauspieler bis hin zu Darstellungs- und Dramaturgiefragen. Die Schrift kritisiert und offenbar verspottet das zeitgenössische Theaterleben, enthält aber auch eine Reihe von

Verbesserungsvorschlägen. Durch die Schrift propagiert Hoffmann ein „humoristisches, phantastisches, volkstümliches, ‚romantisches’ Theater, das in der deutschen

Theaterwirklichkeit kein Vorbild hat“ (SW 3, 1051).

Der Text besteht aus einer Dialogform, die dem Gesprächsthema eine besonders angemessene Form ist, zwischen zwei Theaterdirektoren, dem Braunen und dem Grauen.

Die im Dialog teilnehmenden Partner reflektieren aber über das Theaterleben nicht nur aus einer pur didaktischen und theoretischen Perspektive, sondern erzählen auch

Anekdoten und zeigen Humor, Ironie und Sarkasmus. In dieser Weise wird der Text mehr als eine Theaterschrift und wie Des Vetters Eckfenster kann der Dialog als eine

Reflexion über Dichtung, die selbst zur Dichtung wird, beschrieben werden. Der Text ist aber nicht nur wegen der eigenartigen Struktur, der Dialogform und im Zusammenhang mit Des Vetters Eckfenster bemerkenswert. Obwohl keine spezifischen Ortsangaben in

Seltsame Leiden eines Theater-Direktors angedeutet werden, wird oft impliziert, dass der

Graue und der Braune das Berliner Theaterleben diskutieren.46 Im Gegensatz zu den

anderen Berlin-Texten enthält dieses Stück außer der impliziten Beschreibung des

ihm bevorzugte Darstellungsform des „idealisierten oder geformten Realismus“ setzte sich damals in Berlin durch. Nach Ifflands Tod beauftragte König Friedrich Wilhelm III. Graf Brühl mit der Intendanz. Brühl bevorzugte die von Goethe gelehrte Darstellungsweise aus Weimar, „die vom Geist der Stilisierung, von ‚gemessenen’ Bewegungen und ‚würdevollern’ Auftreten sowie einem stark skandierenden, ‚rhetorischen’ Sprechen geprägt war. [...] In der Auseinandersetzung zwischen beiden Darstellungsstilen nahm Hoffmanns Freund Ludwig Devrient eine Sonderstellung ein (SW 3,1047-48). Im Text verteidigt Hoffmann den genialen Verwandlungskünstler (mit dem man Devrient assoziieren kann) gegen die Vertreter des Weimar Stils. 46 Vgl. dazu: „In einer bedeutenden Residenz ist jetzt von der Errichtung eines neuen Theaters die Rede...“ (SW 3, 485). 50

Schinkelschen Schauspielhauses und dessen Größe (SW 3, 485) keine topographischen

Angaben von Berlin.

Die ortspezifischste Diskussion findet in der Besprechung eines Theatergebäudes

statt, indem die zwei Theaterdirektoren, der Braune und der Graue gleichzeitig ihre

Meinungen zu aktuellen Stadtbaudiskussionen äußern. Die Debatte wird von einer

Hoffmannschen Dualität geprägt: Einerseits besprechen die zwei Figuren, dass die Größe eines Theaters die Zuschauer nie daran hindern dürfte, „Alles was auf der Bühne gesprochen und gesungen wird,“ vollkommen zu vernehmen (SW 3, 482-83).

Andererseits drückt der Braune seine Faszination über die „geniale Wirkung“ der

Theaterdekorationen von Gropius und Schinkel aus, die im Publikum “eine höhere

Illusion” erzeugen (SW 3, 485):

In einer bedeutenden Residenz [Berlin LV] ist jetzt von der Errichtung eines neuen Theaters die Rede, und so wie man Rücksichts der Dekorationen dort schon seit einiger Zeit auf jene höhere Illusion, von der ich vorhin sprach, recht genial gewirkt hat, so scheint es auch, als wolle man jetzt, nur den wahrhaft dramatischen Effekt im Auge, nach den Grundsätzen des alten Gretry und aller wahren Dramatiker zu Werke gehen. (SW 3, 485)

Die Textstelle bezieht sich auf das Schauspielhaus, das unter Leitung von Karl Friedrich

Schinkel 1818 begonnen worden war. Die Diskussion über die Größe des Theaters und die Teilnahme des Braunen und des Grauen an städtebaulichen Debatten korreliert auch mit einer Zeichnung, die Schinkel in der Sammlung Architektonischer Entwürfe über das entworfene Schauspielhaus veröffentlicht hat.

51

Abbildung 2: Karl Friedrich Schinkel, Schauspielhaus, Berlin, 1818-1821.

In der Zeichnung der Fassade sieht man zwei kleine Figuren neben dem Schauspielhaus,

die auf das Gebäude zeigend miteinander ein Gespräch führen. In der Zeichnung erscheinen die Figuren trotz der realistischen Darstellung viel zu klein im Gegensatz zum entworfenen Theater. Obwohl das Gebäude die Zeichnung dominiert, impliziert die

Szene, dass sich die die Einwohner von Berlin mit den architektonischen Veränderungen auseinandersetzten.

Implizite Ortsangaben und die Teilnahme an den städtebaulichen Diskussionen der Zeit qualifizieren den Text zur Aufnahme in einen Berlin-Textkorpus Hoffmanns. Die ungewöhnliche Darstellungsweise des Dialogs bezeugt eine Vielfalt und

Multiperspektivität der Berlin-Texte Hoffmanns. Die merkwürdige Dialogform und die

Erwähnung des Schauspielhauses bringen den Text der letzten Erzählung Des Vetters

52

Eckfenster nah und zeigen, dass die Bausteine des letzten Textes auch schon in früheren

Berlin-Werken anwesend waren.

Brautwerbung in Berlin: ‚Berlinische Geschichten’ in den Serapions-Brüdern

Zwei in den Serapions-Brüdern gesammelte Werke spielen ebenfalls in Berlin: Ein

Fragment aus dem Leben dreier Freunde wurde 1816 geschrieben, erschien zuerst 1817, und wurde danach in den ersten Band der Serapionsbrüder aufgenommen. Schauplatz der

Handlung ist, wie schon im Ritter Gluck, der Berliner Tiergarten, das Webersche Zelt, ein

öffentliches Lokal, wo sich drei Freunde, Alexander, Severin und Marzell, nach langer

Trennung am zweiten Pfingsttag beim Kaffee treffen. Zu der Zeit, in der diese Erzählung spielt (1814 und 1816), waren längst massive Gebäude aus den Zelten geworden (de

Bruyn 304), d.h. dass Hoffmann in dieser Erzählung seiner Leserschaft ein Stück vergangenes Berlin präsentiert. In der Konversation der Freunde geht es um

Gespenstergeschichten, die alle mit dem Umzug vom Lande in die Großstadt verbunden sind. Alle drei Erzähler sind wie der Schriftsteller Hoffmann Provinzler, deren Umzug in die große Stadt mit Faszination aber auch mit Angst verbunden ist. Der erste Erzähler ist

Alexander, der eine Erbschaft, eine „abgelegene Wohnung“ in einem öden Haus seiner verstorbenen Tante, erhalten hat, das seit deren Todestage unverändert blieb (SW 4, 136).

In Alexanders Zimmer hängt ein lebensgroßes Gemälde der jugendlichen Tante im vollen

Brautschmuck und Alexander erzählt seinen Freunden von deren nächtlichem Spuk.

Die öffentliche Rede von Gespenstern interpretiert Heinz Brüggemann als „ein

Erscheinungsbild jenes vernünftigen Berlin, das Hoffmann [...] in romantischer

53

Illumination, ironisch gebrochen, vorführt“ (Das andere Fenster 105). Die objektive,

„aufgeklärte“ Großstadt entmachtet die vom Land nach Berlin umziehenden Freunde und

verändert ihre gewöhnlichen Lebensverhältnisse. Auf Alexanders Spukgeschichte von

der verstorbenen Tante folgt eine Gespenstergeschichte Marzells, der erst seit kurzem im

westlichen Teil Berlins ansässig geworden ist:

Gleich, nachdem ich angekommen [...] mietete ich in der Friedrichstraße ein nettes meubliertes Zimmer; wie Alexander warf ich mich todmüde aufs Lager; doch kaum wohl ich eine Stunde geschlafen habe, als es mir wie ein heller Schein auf die geschlossenen Augenlider brannte. Ich öffnete die Augen und – denkt euch mein Entsetzen! dicht vor meinem Bette steht eine lange hagere Figur mit todbleichen, graulich verzogenem Gesicht und starrt mich an mit hohlen gespenstischen Augen. (SW 4, 141)

Am nächsten Morgen lernen wir das Gespenst als den Flurnachbarn kennen, der über

besondere Gaben verfügt und die Fähigkeit, „unter gewissen Bedingungen in das Innerste

der Menschen zu schauen und ihre geheimsten Gedanken zu erraten“ (SW 4, 145).

Severin wohnt in dem entfernteren Teil des Tiergartens, südlich der Tiergartenstraße.

Sowohl Alexander als auch Marzell begegnen seltsamen Gestalten in ihren Wohnungen

während der Nacht. Sie erleben zum ersten Mal in ihren Leben Spukgeschichten, schon

am ersten Tag in der Residenzstadt. Kein Wunder, dass Severin auch eine

Spukgeschichte zu erzählen hat, über etwas, was ihm am ersten Tag in Berlin passierte.

Sein Narrativ wird jedoch durch ein unerwartetes Geschehen unterbrochen (SW 4, 145).47

Eine Genreszene im Tiergarten lässt ihre leidenschaftliche Konversation

verstummen und die drei Freunde versuchen, Hypothesen über den Briefboten und das nach Erhalt des Schreibens weinenden Mädchens am Nachbartisch aufzustellen. Dabei handelt es sich um ein intertextuelles Motiv, denn mehrere Berliner Erzählungen (Ritter

47 Vgl dazu: „... Gleich den ersten Tag als ich angekommen’ --- In dem Augenblick wurde Severin durch einen alten, sehr wohlgekleideten Mann unterbrochen“ (SW 4, 145). 54

Gluck, Das öde Haus, Geheimnisse) behandeln die Enthüllung der Identität beobachteter

Figuren. Die anmutige, reizende Gestalt, wie in anderen Berlin Texten (Sylvesternacht,

Geheimnisse, Das öde Haus), wird das Objekt ihres Begehrens.

Nach einer unerwarteten Zäsur treffen sich die drei Freunde nach zwei Jahren am selben Ort, um dieselbe Zeit am zweiten Pfingsttag beim Kaffee. Alle drei erzählen ihre

Geschichten, in denen die gemeinsam beobachtete Frau, Paulina Asling, die zentrale

Rolle spielt. Severins und Marzells „Romanen“ über ihre erfolgslosen Werbungen um

Paulinens Hand folgt Alexanders Geschichte über sein Liebesglück. Die drei verschiedenen Erzählungen mit ihren drei Perspektiven konstituieren eine verhältnismäßig kohärente Geschichte, wodurch die im Titel von einem „Fragment“ angekündigte Vorstellung nicht erfüllt wird.

Die drei Geschichten des zweiten Teiles der Erzählung enthalten wiederum präzise Berliner Adressen und die Routen der Erzähler, die alle in die Grünstraße führen und auf einer Stadtkarte ganz genau verfolgt werden können. Wie in Ritter Gluck bewegen sich die Protagonisten vom Westen Berlins nach Osten. Der Leser kann die

Asling Familie von den Zelten durch das Brandenburger Tor bis zum Schloss, und

Severin die Breite Straße entlang über die Leipziger Straße laufen sehen. Eine alternative

Strecke wird von Alexander erzählt, dem „eine ganz deutlich bestimmte Ahnung“ sagt, wann er „mit Anstrengung fort- und hineinlief durch das Leipziger Tor und dann nach den Linden“, die sehr langsam davonschreitende Familie am Ausgang derselben oder in der Nähe des Schlosses antreffen wird (SW 4, 157). Die Wohnung der Asling Familie befindet sich in der Neuen Grünstraße, die die Verlängerung der in Alt-Kölln gelegenen

Grünstraße ist (de Bruyn 306). Diese Straße führt aus dem alten Berlin in einen neuen

55

Stadtteil über die Friedrichsgracht in die Köllnische Vorstadt. Topographisch deckt diese

Erzählung die meisten Teile der damaligen Stadtkarte Berlins ab, jedoch wie in den anderen Texten dominieren die neuen, bürgerlichen Wohnzirkel und Schauplätze.

Unter den exakt und für den zeitgenössischen Leser unschwer lokalisierbaren

Adressen wird die Großstadt ein Ort des Zufalls und zum Schauplatz der Täuschung und

gegenseitigen Verfehlung. Der komplexe, urbane Raum wird zum Spielplatz einer

literarischen Fantastik und zerstört Gewissheiten. Wie in den anderen Berlin-Geschichten

Hoffmanns erscheint ein klares und dunkles, ein kaltes und warmes, ein reales und irreales, ein aufgeklärtes und dämonisches Berlin, das einerseits präzise dargestellt wird,

andererseits die Wahrnehmung des Selbst und des Anderen völlig verstellt.48

Diese Berlinische Geschichte enthält die ausdrücklichste Kritik der

Rationalisierung der Aufklärung. Als Alexander das Haus, in dem er mit dem Spuk der

verstorbenen Tante zusammen leben soll, verkaufen will, bekommt er von seinem

Schwiegervater den folgenden Ratschlag:

In alter Zeit hatten wir einen frommen schlichten Glauben, wir erkannten das Jenseits, aber auch die Blödigkeit unserer Sinne, dann kam die Aufklärung, die alles so klar machte, dass man vor lauter Klarheit nichts sah und sich am nächsten Baume im Walde die Nase stieß, jetzt soll das Jenseits erfasst werden mit hinübergestreckten Armen von Fleisch und Bein. (SW 4, 168)

Wie in den vorigen Geschichten ist das Gespenstische mit dem aufgeklärten, klar

lesbaren Berlin streng verbunden. Reale und irreale Bilder fließen ineinander, und es ist

kein Zufall, dass während der „letzte[n] Schlage zwölf einer aus der Ferne dumpf

48 In Heinz Brüggemanns Worten, der die Literarisierung des urbanen Raumes ähnlich interpretiert: „[d]as Ich als Schauplatz, als Raum wird durchlässig gegenüber dem urbanen Raum – darin liegt die Bedeutung der Großstadt für die literarische Romantik“ (Das andere Fenster, 118).

56

tönenden Turmuhr“ (SW 4, 122) gleichzeitig ängstliches Seufzen und Stöhnen in den

Wohnungen der Protagonisten zu hören ist.

Zweifellos sind die Berliner Schauplätze auch in dieser Erzählung die von

Hoffmann selbst bevorzugten Orte in der preußischen Hauptstadt. Die realitätsfernen

Fantasien gehen von realen Bildern aus, was in einer idiosynkratischen Mischung von

traumhaften und faktischen Elementen resultiert. Die Realien Berlins, die im Gespräch

nach der Erzählung auch von den Serapions-Brüdern diskutiert werden, haben die

Funktion, die Doppelbödigkeit der Realität zur Schau zu bringen.

Die nächste Berlinische Erzählung Hoffmanns, Die Brautwahl, entstand 1818-

1819 und erschien im dritten Band der Serapionsbrüder. Wie schon erwähnt hatte der

Erstdruck den Titel Die Brautwahl, eine berlinische Geschichte, in der mehrere ganz

unwahrscheinliche Abentheuer vorkommen (SW 4, 1466). Die Erwartungen, die durch

den Titel gesetzt werden, zielen auf eine Mischung von realen Ereignissen, in der viele der Gestalten und Orte genau lokalisiert werden können („berlinische Geschichte“), aber auch auf Fantastik, die mit dieser Wirklichkeit eng verbunden ist. Der Text hat zwei

Versionen, von denen die erste Fassung außer dem Titel mehr auf ein mit den zeitgenössischen Berliner Verhältnissen vertrautes Lesepublikum abzielt als die zweite

Fassung, in der bestimmte Berliner Realien entfernt worden sind (SW 4, 1467). Im

Folgenden wird die zweite Fassung mit der Berücksichtigung der Veränderungen untersucht.

Die Geschichte handelt von der Brautwahl dreier Personen, dem Kanzleisekretär

Tusmann, dem Maler Edmund Lehsen und dem wegen seiner Verdienste in Wien

57

baronisierten Benjamin Dümmerl, die alle um die Hand der hübschen Demoiselle

Albertine Vosswinkel werben. Den Bewerbern folgend führt Hoffmann seine Leser in die

Altstadt Berlins, zuerst die Königstraße entlang zum Berlinischen Rathaus, dann ins neue

Berlin, auf den Alexanderplatz und in den Tiergarten. Die topographische Bewegung in

dieser Erzählung verhält sich also umgekehrt zu den vorigen Texten, von der Altstadt

nach Westen. Jedoch benutzt Hoffmann den altstadtlichen Hintergrund, von dem der

Leser bald nach Osten weitergeführt wird, um zu zeigen, wie modernes Leben im alten

Berlin geführt wird.

Die Erzählung beginnt mit einer zeitgenössischen Kritik an der großen Stadt als

Ort der Einförmigkeit und Regelhaftigkeit.49 In den ersten Zeilen beschreibt Hoffmann

die Nachtroutine des weltfremden Geheimen Kanzleisekretärs Tusmann, dessen

Gebärden und Gewohnheiten nach den Schlägen der Kirchenuhren organisiert sind:

In der Nacht des Herbst-Äquinoktiums kehrte der Geheime Kanzleisekretär Tusmann aus dem Kaffeehause, wo er regelmäßig jeden Abend ein paar Stunden zuzubringen pflegte, nach seiner Wohnung zurück, die in der Spandauerstraße gelegen. In allem, was er tat, war der Geheime Kanzleisekretär pünktlich und genau. Er hatte sich daran gewöhnt, gerade während es auf den Türmen der Marien- und Nikolai-Kirchen elf Uhr schlug, mit dem Rock- und Stiefelausziehen fertig zu werden, so dass er, in die geräumigen Pantoffeln gefahren, mit dem letzten dröhnenden Glockenschlage sich die Nachtmütze über die Ohren zog. (SW 4,627)

Die komischen Effekte von Tusmanns Nachtruhe sind Folgen der Rationalisierung des

Lebens und der Zeitökonomie der Großstadt, deren Kritik auch in anderen Berlin-

Erzählungen zum Ausdruck kommt. Während der Leser mit der nächtlichen Routine des

in der Altstadt wohnenden Kanzleisekretärs bekannt gemacht wird, sehen wir unseren

49 Vgl. auch dazu das folgende Stelle in Die Brautwahl: „Eben dieser Entlegenheit ihrer Wohnungen halber hatten die Freunde einen öffentlichen Ort in der Stadt gewählt, wo sie sich an bestimmten Tagen und Stunden sehen wollten. Es geschah auch so; sie kamen aber mehr, um das sich gegebene Wort zu halten, als aus innerm Antriebe“ (SW 4, 141). 58

Protagonisten aus der Königsstraße in die Spandauerstraße hineinbiegen, plötzlich ein

„seltsames Klopfen“ hören und an dem verfallenen Fenster des Rathausturms eine weibliche Gestalt, die ihm versprochene Albertine, erblicken.

Der fixierte, erstarrte Blick auf das Liebesobjekt ist ein Leitfaden, der in mehreren

Berlinischen Geschichten auftaucht (Das öde Haus, Fragment, Geheimnisse). Der

Kanzleisekretär wird höchst erregt und wird in diesem Zustand von einem merkwürdigen

Fremden in einen Keller auf dem Alexanderplatz gebracht. Der Abstieg in den Keller ist ebenfalls ein beliebtes intertextuelles Motiv der Berlin Erzählungen (Sylvesternacht). Die nächste Szene spielt sich an einem Tisch in einem Weinstübchen auf dem Alexanderplatz ab, wo unter anderem auch über Berlin diskutiert wird.

Um die obige Kritik des getrennten modernen Lebens schärfer zu machen, wird an dieser Stelle der Erzählung das alte Berlin nostalgisch ins Gedächtnis gerufen:

[D]amals gab es gar öfters fröhliche Hochzeit auf dem Rathause, und solche Hochzeiten sahen ein wenig anders aus als die jetzigen. [...] Überhaupt muss ich bekennen, dass damals Berlin bei weitem lustiger und bunter sich ausnahm als jetzt, wo alles auf einerlei Weise ausgeprägt wird, und man in der Langweile selbst die Lust sucht und findet, sich zu langweilen. (SW 4, 649)

Dem Leser wird nahegelegt, dass Berlin am Ende des 17. und zu Beginn des 18.

Jahrhunderts bei weitem interessanter war als jetzt, wo alles von Monotonie geprägt ist.

Wie Das Fragment enthält auch Die Brautwahl eine Aufklärungskritik, und ein Bild aus der Vergangenheit Berlins wird dazu benutzt, die Monotonie und Einförmigkeit des modernen Lebens zu verdeutlichen. Tussmanns Gebärden, sein moderner Tagesablauf und seine Vision der unerreichbaren Braut am Fenster des alten Rathauses werden den bunten mittelalterlichen Festen und fröhlichen Hochzeiten einer vergangenen Zeit gleichgestellt. Der Einsatz des alten Rathauses in zwei unterschiedlichen semantischen

59

Bereichen erzeugt die gleiche Dualität, die die anderen Berlin-Geschichten Hoffmanns prägt.

Wie in Das Fragment gibt es eine Diskussion über Die Brautwahl im

Rahmengespräch der Serapions-Brüder. Lothar erläutert den Freunden seine Erzählung mit den folgenden Worten: „Übrigens gewahrt ihr, dass ich meinem Hange das

Märchenhafte in die Gegenwart, in das wirkliche Leben zu versetzen, wiederum treulich gefolgt bin“ (SW 4, 720). Nach Lothar wird hier ein in einen festgelegten Raum und

bestimmte Zeit eingebettetes Märchen erzählt. Die wichtigsten Komponenten der

Erzählung sind jedoch, wie auch in den früheren Texten, die reale Gegenwart Berlins und

die Geschichte, „in der mehrere ganz unwahrscheinliche Abentheuer vorkommen“

(originaler Untertitel).50

Geheimnisse und Irrungen: Berlin in den Späten Werken

In den Späten Werken gibt es zwei Erzählungen, Die Irrungen. Fragment aus dem Leben eines Fantasten aus 1820 und Die Geheimnisse. Fortsetzung des Fragments aus dem

Leben eines Fantasten von 1821, deren Handlungsort in zahlreichen konkreten Bezügen

Berlin ist. Die Erzählungen, von der Forschung kaum beachtet, verdienen höchstes

Interesse.51 Die Doppelerzählung wurde wegen ihrer „sprunghaften, zerrissenen

Darstellung“ abgewertet (Steinecke 131). Der Protagonist der beiden Texte wird im

50 Wegen der Märchenelemente in der Erzählung (Dreizahl der Bewerber, die Kästchenwahl) wurde die Erzählung als „Wirklichkeitsmärchen“ in der neusten kritischen Ausgabe des Textes charakterisiert (SW 4, 1474). 51 Aufsätze über die Doppelerzählung beschäftigen sich mit den kabbalistischen Mysterien und der frühromantischen Rezeption der antiken Mysterienkulte im Text (siehe Marco Lehmann), mit griechischen und hebräischen Wortspielen in den Charakternamen der Erzählung (siehe Praet und Janse 78-97) und mit der Rolle des Autors (siehe Deterding 2003, 45-69). 60

Untertitel als „Fantast“ bezeichnet, jedoch das Konzept im Vergleich mit den anderen

Fantast-Werken parodistisch angewandt.52 Unter den Berlinischen Geschichten hat dieser

Text den virtuosesten Umgang mit Autor- bzw. Herausgeberfiktionen, die von

satirischen, ironischen und selbstironischen Zügen geprägt sind. Gerhard Kaiser zählt die

zwei Erzählungen, in denen es um eine Liebesbegegnung bzw. um den griechischen

Freiheitskampf geht, zur Vorgeschichte einer „Literatur des höchst poetischen Unsinns“

(95).

Unter den eingeschalteten Blättern, mehreren Briefen, Herausgebernotizen und

Traumbeschreibungen lässt sich die folgende Handlung herauskristallisieren: Magus versucht die Eheschließung einer griechischen Aristokratin mit einem Freiheitshelden zu verhindern und bringt die Fürstin nach Berlin, um sie dort an den Baron Theodor v. S. zu verheiraten. Obwohl der Baron sich in die rätselhafte Unbekannte verliebt, scheitert der

Plan immer wieder. Die erste Geschichte wird noch relativ kontinuierlich erzählt mit der

Einschaltung von Zeitungsanzeigen und Briefen. Der zweite Teil enthält mehrere fiktive

Briefe des Autors und der Protagonisten und eine Brieftasche mit zahlreichen „Blättlein“,

die ziemlich eigenartig und fragmentarisch nebeneinandergestellt sind. Das Resultat ist

ein schwindelerregender Perspektivenwechsel und die aktive Teilnahme des Lesers, der

dazu aufgefordert wird, die Geschichte aus Mosaiken zusammenzustellen. Der „reale“

Autor Hoffmann erscheint ein immer aktiver Erzähler und Teil der von ihm erschaffenen

Berliner Welt. Er gibt dem Leser eine Reihe von Hinweisen, die es ermöglichen,

Hoffmann mit dem Fantast zu identifizieren.53

52 Wie Magdolna Orosz an zahlreichen Beispielen in ihrem Buch zeigt, werden die Erzählstrategien Selbstreferenz und Parodie auch in anderen Werken von Hoffmann mit Vorliebe benutzt. 53 Das folgende Beispiel, das die Kleidungsstücke des Doppelgängers beschreibt ist ein intertextuelles Element zwischen diesem Text und Des Vetters Eckfenster: „ein Mann im weiten Warschauer Schlafrock, 61

Die ersten Zeilen der Erzählung Die Irrungen, die den Leser mit einer Anzeige

aus der Haude- und Spenerschen Zeitung konfrontieren, beginnt mit einer genauen

Ortsangabe: Ein junger, schwarz gekleideter Mann „mit braunen Augen, braunem Haar

und etwas schief verschnittenem Backenbart“ wird gesucht, der „vor einiger Zeit im

Tiergarten auf einer Bank unfern der Statue Apollo“ eine kleine himmelblaue Brieftasche mit goldenem Schloss gefunden hat (SW 5, 461).54 Der junge Mann, der sich ein bisschen

darüber ärgert, dass sein Backenbart in der Anzeige als schief verschnitten bezeichnet

wurde, ist Baron Theodor von S., der die Anzeige als Anfang eines Abenteuers sieht und

in der Folge der Erzählung alles versucht, die geheimnisvolle Frau, die immer wieder als

„ein in lange Schleier gehülltes Frauenzimmer“ erscheint, zu finden, der die Brieftasche gehört.

Die Tasche enthält unter anderem ein Blättlein, in dem Berlin aus der

Außenseiterperspektive der verschleierten Griechin beschrieben wird. Die preußische

Residenz erscheint als eine „schön gebaute“ aber leere Stadt „mit schnurgeraden Straßen und großen Plätzen,“ mit Alleen von halbverdorrten Bäumen, mit öden Märkten und kleinen, versteckten Basaren (SW 5, 466). Geklagt wird auch über die Paläste, deren

Baumaterial aus kleinen, hässlich roten Backsteinen, die die Autorin vorher noch nie gesehen hat, besteht (SW 5, 466). Die Stadtbeschreibung der fremden Dame stimmt mit den zeitgenössischen Reiseberichten überein, wie schon am Anfang des Kapitels durch

ein rotes Käppchen auf dem Haupt, aus einer langen Pfeife Rauchwolken vor sich herblasend, von Gesicht, Stellung – nun! – sein eigenes Ebenbild trat ihm entgegen...“ (SW 5, 520). 54 Nach dem Stellenkommentar des Textes befand sich diese Apollo Statue von der Stadt aus gesehen links hinter dem Brandenburger Tor, direkt am Rande der nach Charlottenburg führenden Chausse (SW 5, 1080). Hoffmanns Versetzung der Statue in die Mitte eines runden umgegebenen Platzes bedeutet in diesem Fall die Benutzung eines teilweise fiktiven Ortes. 62

ein Zitat von Madame de Staël gezeigt wurde.55 Berlin wird, wie in vielen der früheren

Prosawerke Hoffmanns (Ritter Gluck, Sylvesternacht) als ein Ort charakterisiert, dessen

„tote kalte Steinmassen“ die „glühenden Herzen“ der Nicht-Berliner zu erdrücken

drohen. Die nüchtern beschriebene Topographie Berlins steht im starken Kontrast zu den rätselhaften Figuren und deren irrealen Vorstellungen und surrealen Abenteuern.

Der Baron Theodor von S., ganz außer sich, trifft die abenteuerliche

Entscheidung, nach Griechenland zu fahren, um seine „Musarion“ zu finden. Er lässt sich beim Theaterschneider eine neugriechische Garderobe machen und setzt seinen

Onkel von den Geheimnissen der bis jetzt verhüllten griechischen Ahnengalerie der

Familie in Kenntnis. Bei diesen Aktivitäten folgt der Leser ihm an genau angegebene

Orten von Berlin, durch die Linden, nach Zehlendorf, um die Apollo-Statue im

Tiergarten, auf den Pariser Platz und zum Brandenburger Tor.

Jedoch scheitert die Reise nach Griechenland am Tor von Berlin, und anstatt nach

Petras zu fahren, wird Freienwalde – ein Ort außerhalb der Großstadt – des Barons

Reiseziel um sich zu ‚heilen.’ Sobald es ihm dank des Mineralwassers besser geht, bekommt er eine „unüberwindliche nach der Residenz“ und kommt „glücklich

wieder in Berlin an“ (SW 5, 482). Bald findet er sich aber wieder in einem zerstörten

Zustand, als er während eines Spazierganges durch die Linden einem seltsamen,

gespensterhaften, fremdartigen Paar, einem „krummbeinichten alten Mann“ mit einer

verschleierten Dame, zu folgen beginnt und sie im Spiegelkabinett des Konditorladen bei

55 Vgl. dazu auch Nikolais Beschreibung Berlins: „Die Friedrichstadt ist jetzt der ansehnlichste Theil von Berlin. Die Straßen gehen alle gerade, und stoßen fast alle winkelrecht aufeinander [...] “. Immerhin sah sich Nikolai durch die Monotonie der endlos wiederkehrenden Fassaden zur einer kritischen Bemerkung genötigt, dass die Häuser meist nur zwei Geschosse hoch und „unter Einem Dache fortgeführet“ seien, und ihnen dies „ein etwas einförmiges Ansehen“ verleihe. (183) 63

Fuchs beobachtet.56 Theodors Wahnsinn wird weiter gesteigert als er während seines nächsten Bummelns in der Friedrichstraße in spukhafter Weise „über [der] Türe [eines] schönen Hauses“ auf die folgende Inschrift aufmerksam wird: „Hier sind meublierte

Zimmer zu vermieten“ (SW 5, 500). Im Haus begegnet der Baron jedenfalls dem seltsamen Paar und enthüllt die Identität „des Kleinen“ als die des Kanzlei-Assistenten

Schnüsspelpold aus Brandenburg und der verschleierten Frau als die seines Protegees, einer tatsächlich griechischen Fürstin. Wohnungen in der Friedrichstadt (Ritter Gluck und

Alexander in Das Fragment), in die man zufällig eingelassen wird und über eine verborgene Identität aufgeklärt wird, sind weitere Verknüpfungselemente unter den

Berlinischen Geschichten. Da diese Szenen in mehreren Erzählungen anwesend sind, verbindet dieses Motiv die zwei in Späten Werken veröffentlichten Geschichten mit den anderen ‚Berlinischen Geschichten.’

Die beiden Erzählungen enthalten abenteuerliche Erfindungen und orientalistische

Gestalten, die aber in einem höchstrealistischen Berlin verankert sind. Sogar exakte

Daten werden genannt (die Gegenwart der Entstehung 1820/21). Dieses Berlin lässt sich noch an weit mehr Details als in anderen Berlinischen Geschichten Erzählungen topographisch leicht wiedererkennen. Bekannte Straßen, Plätze und Gebäude aus dem neuen Berlin werden in großer Zahl genannt (Unter den Linden, genaue mit

Hausnummern versehene Adressen in der Friedrichstraße, Pariser Platz, Leipziger Tor,

Brandenburger Tor, Apollo-Statue im Tiergarten). Auch zahlreiche spezifische Orte

dienen als Schauplätze, die in den früheren Erzählungen benutzt wurden (Konditorei

56 Die Konditorei Fuchs erscheint in mehreren Berlin-Texten Hoffmanns aber auch in Briefe aus Berlin von Heine und im Text „Unter den Linden“ von Julius von Rodenberg. 64

Fuchs, Hotel Sonne). Diese detailreiche Verankerung der Erzählungen macht den

Übergang zum Wunderbaren um so schrofferer und absonderlicher.

Es geht auch sehr spezifisch um die Gesellschaft Berlins um 1820. Unter anderem beschreibt der Text die Graecomanie im damaligen Deutschland und die schwärmerische

Begeisterung der Deutschen für die Griechen. Der Baron, der sich eine griechische

Garderobe und Ahnengalerie besorgt, um sein neues Hobby auszuleben, schreckt aber vom ersehnten Liebesglück zurück als er erfährt, dass die griechische Fürstin mit ihm nach Griechenland will, damit er im Krieg als edler Held sterben kann.57 Die

Griechenland-Schwärmerei ist hier nicht nur ein kulturhistorisches Denkmal, um den

Philhellenismus Berlins zu verewigen, sondern auch eine ironische Darstellung der

damaligen Griechen-Mode einer blasierten Gesellschaft.

Die Klassifizierung von Hoffmanns Berlinischen Geschichten

Die obigen Texte Hoffmanns und seine Vorliebe, Berliner Alltag und Lokalkolorit in

seine Erzählungen einzubeziehen, zeugen davon, dass der aus Königsberg stammende

E.T.A. Hoffmann einer der ersten Schriftsteller war, der die Großstadt in mehreren seiner

Werke literaturfähig gemacht hat. In allen Berlinischen Geschichten werden fantastische

Ereignisse geschildert, die – im Realen verankert – auf bekannten Straßen und an genau

angegebenen Adressen spielen. Ein Inventar der Berliner Örtlichkeiten zeugt davon, dass

Hoffmanns Figuren in ganz Berlin zu Hause sind (vom Westen nach Osten: die Zelte im

57 Die Realisierung der Wirklichkeit des Krieges verändert die Gefühle des Barons zu der griechischen Fürstin. Die Veränderung wird mit den schon oft benutzten kalt/warm Gegenpolen beschrieben: „In dem Inneren des Barons ging bei diesen Reden der Griechin eine seltsame Veränderung vor. Denn auf glühende Hitze folgte eine Eiskälte und es wollte den Baron gar eine Fieber-Angst überwältigen“ (SW 5, 506). 65

Tiergarten, zahlreiche genaue Adressen Unter den Linden, verschiedene Straßen und

Plätze der Friedrichstadt, einige Orte in der Altstadt, Alexanderplatz), jedoch

konzentrieren sie sich auf einen bestimmten Hoffmannschen Katalog, nämlich die

Friedrichstadt und den Tiergarten. Alle Erzählungen sind an ein mit der Topographie

Berlins und dem Alltag der Hauptstadt vertrautes Publikum gerichtet. Die realistischen

Ortsangaben sind aber gelegentlich falsche Realien oder zumindest mit künstlerischer

Freiheit behandelt. Viele der Berliner Örtlichkeiten erscheinen in mehreren Texten und können als Verknüpfungselemente und intertextuelle Referenzen betrachtet werden (z.B. das Webersche Zelt, Keller in der Friedrichstadt, der Spiegelsaal in der Fuchsischen

Konditorei oder verborgene Wohnungen in der Friedrichstadt). In diesem Sinne ist die

Bezeichnung der obigen Texte unter dem Oberbegriff Berlinische Geschichten

zweckmäßig, da das gemeinsame Inventar und die oft übertragene Bedeutung von

Berliner Orten im Kontext eines bestimmten Textkorpus besser verstanden und

interpretiert werden können.

Die Zahl der Protagonisten, die die berühmten Plätze, Straßen, Weinhäuser und

Konditoreien bevölkern, ist in den Erzählungen auffällig reduziert, besonders im

Vergleich mit Des Vetters Eckfenster, in dem ein turbulentes großstädtisches Treiben geschildert wird. Die meisten Protagonisten sind keine Berliner, ihre Fremdheit wird

mehrmals angedeutet und sie verlassen die Stadt über kurz oder lang (Ritter Gluck,

Fragment, Geheimisse). Bestimmte Schichten der Berliner Gesellschaft, wie die

machtlos gewordene Aristokratie und das aufsteigende Bürgertum, werden immer wieder

dargestellt.

66

Thematisch steht in den meisten Texten ein Liebesbegehren oder die Enthüllung

der Identität beobachteter Figuren im Mittelpunkt aber eine Lösung wird nicht immer

angeboten. Zweifellos nimmt Hoffmann in jeder Erzählung Themen aus einem

chronologisch identifizierbaren Berliner Moment auf. Aktuelle Themen und Plaudereien

wie die Geschichte einer seltsamen Familie in Das öde Haus, stadtplanerische

Diskussionen oder Kritik der damaligen Unterhaltungsmusik, die die damaligen Berliner

beschäftigt haben, sind die erzählerischen Anlässe der Berlinischen Geschichten. In

diesem Sinne funktionieren sie als wichtige kulturhistorische Dokumente der

postnapoleonischen Periode. Die vielschichtigen und heterogenen Texte produzieren

kulturelles Wissen des damaligen Berlin.

Hinter der Vielfalt der Erzählungen verstecken sich wiederkehrende

Strukturelemente. Julius von Rodenberg beschreibt treffend die ästhetischen Mittel, die in

den meisten Berlinischen Geschichten aufzufinden sind: „Für [Hoffmann] ist immer

Geisterstunde. Mit scharfem Blick dringt er in das, was dem blöderen Auge dunkel ist,

und bemerkt an jeder Kreatur den Fleck, wo das Spiel des Dämonischen, das Unerklärte,

das Unerklärliche beginnt, auch in dem allertrivialsten Dasein“ (308). Den konkreten,

präzis angegebenen, hellen Räumen des aufgeklärten Berlins werden so dämonische,

ungreifbare, dunkle Szenen gegenüber gestellt. Der Normalzustand der bürgerlichen

Zivilisation und die Sphäre des lebendigen Gefühls stehen im starken Kontrast miteinander und werden fast mit den gleichen semantischen Mitteln beschrieben (z.B. mit hell/dunkel, kalt/warm Oppositionen).58 Der schroffe Wechsel zwischen diesen Szenen

58 Julius Rodenberg charakterisiert die Berlinische Geschichten folgendermaßen: „Die Geisterwelt quält, foltert und nackt ihn, sie macht ihn abwechselnd selig und mehr als einmal physisch krank. Sie vertritt ihm den Weg am hellen Mittag in diesem vernünftigen Hegel’schen Berlin; sie geht ihm nach durch den Lärm der Königstraße zu den wenigen noch übrigen Resten des Mittelalters in der Gegend des zerfallenen 67 zeigt, wie geheimnisvolle Gestalten aus anderen Welten mitten unter den lebenden

Berliner zu finden sind. Neben der Erzeugung eines scharfen Kontrasts zwischen dem

Wunderbaren und dem Wirklichen funktionieren die exakten Stadtbeschreibungen als eine zeitgenössische Kritik an der großen Stadt als Ort der Gleichförmigkeit und

Monotonie. In den obigen Beispielen wurde mehrmals gezeigt, dass diese

Beschreibungen mit den zeitgenössischen, nicht-fiktiven Berlin-Beschreibungen

übereinstimmen.

Obwohl die semantischen und ästhetischen Stilmittel der obigen Erzählungen und der Ausgang der Geschichten in den meisten Fällen vorhersagbar sind, die verschwimmenden Grenzen eines „Hoffmannschen Berlinische Geschichten“ Kanons und die Stabilität der literarischen Gattungsbezeichnungen machen es fraglich, in wie fern die Bezeichnung „Berlinische Geschichten“ für die Literaturwissenschaft produktiv gemacht werden kann. Aus produktionsästhetischer Sicht stehen die obigen Geschichten miteinander in enger Beziehung und zeugen davon, dass während der Analyse eines bestimmten Berlin-Textes auch andere in Betracht gezogen werden sollten.

Die Gefahr der Klassifizierung liegt aber darin, dass ein bestimmter Korpus von

Texten von anderen, die mit ihm aus thematischen und ästhetischen Gründen in ebenso wichtiger Beziehung stehen, abgesondert werden. Ein ständiger Wechsel zwischen dem

Wirklichen und Unwirklichen ist auch in anderen Werken Hoffmanns präsent, jedoch in

Bezug auf den realen Hintergrund ist Berlin den Berlinischen Geschichten gemeinsam.

Rathhauses; sie lässt ihn in der Grünstraße [...] einen geheimnisvollen Rosen- und Nelkenduft verspüren und verhext ihm den fashionablen Sammelplatz ‚des höheren Publikums’, die Linden“ (108). Der Herausgeber von Müller beschreibt die Ästhetik von Hoffmanns Berliner Stücken ähnlich: „[Hoffmann] bezeichnet nicht nur, er zeichnet und trifft mit unfehlbarer Treue. Visionär, hat er doch für die Bestimmtheit der Dinge den sichersten Griff und Ausdruck; er überzeugt durch den Gegensatz: von der sichersten Fertigkeit des Hintergrundes borgt die Magie seines ruhelosen Erfinden den Schein einer Existenz, welche der gemeinen Wirklichkeit widerspricht und doch untrennbar mit ihr verknüpft ist“ (xix). 68

Die schnellen Perspektivenwechsel in Die Irrungen und Die Geheimnisse sind aber auch

wichtige textstrukturierende Merkmale in Prinzessin Brambilla und die

Märchenhaftigkeit des Textes Die Brautwahl evoziert sowohl thematisch als auch

strukturell Hoffmanns Märchen. Die Klassifikation Berlinische Geschichte darf in diesem

Sinne keine fixierte Einzelform sein, jedoch soll die Behandlung der obigen Texte unter

einer gemeinsamen Gattungsbezeichnung indizieren, dass Berliner Realien in zahlreichen

Werke des Hoffmannschen Oeuvres vielfältig und schlüssig literarisiert worden sind. Die

Kenntnis eines breiten Korpus von Berlin-Geschichten kann die Auslegung von einzelnen

Werken verbessern, so dass interpretationsattraktive Texte aus einer ungewöhnlichen

Perspektive analysiert und weniger bekannte Texte neu gedacht werden können.

Intermedialität: Das gezeichnete und das erzählte Berlin bei Hoffmann

Um die Berlin-Wiedergaben Hoffmanns besser zu verstehen, sollen auch die Berlin-

Zeichnungen der Doppelbegabung in Betracht gezogen werden. Hoffmann war in seinen

Berliner Jahren, besonders in der dritten Phase, auch als begeisterter Zeichner tätig. Von

seinem letzten Berlin-Aufenthalt sind über 40 Arbeiten erhalten: Bilder zu den eigenen

Werken, kleine Porträts, Skizzen, Karikaturen, die er oft in seinen Briefen angefertigt hat

(Hyun-Sook 5). Es gibt zwei Zeichnungen Berlins im malerischen Nachlass des

Schriftstellers, die im folgenden Teil die Basis eines Vergleiches zwischen Text und Bild

konstituieren sollen.

Die erste Zeichnung stammt aus dem ersten Berliner Aufenthalt und ist datiert auf

Sonntag, den 8. September 1799. Das Bild zeigt die berühmteste Straße Berlins mit einer

69

Reihe von Einzelpersonen, vornehmen Bürgern, Herren im Frack, Soldaten und Frauen in eleganten Kleidern. Auffallend ist an dem auf einem kleinen Papier gezeichneten Bild, dass Hoffmann eine Menschenfülle darstellt, die alle in Bewegung ist. Dies ist zweifellos der erste Versuch Hoffmanns, das lebendige Großstadtleben in einer Zeichnung zu

verbildlichen. Der Ort, Unter den Linden, wird neben dem Titel mit den am rechten

Bildrand dargestellten Bäumen und dem oben gezeichneten Licht durch Realien

angedeutet. Neben den realistischen Figuren befinden sich zwei Außenseiter auf dem

Bild: Ein kleiner, buckliger Mann mit einem Zylinderhut und ein dicker, rundgesichtiger

Mann mit einem Spazierstock, der als eine Karikatur des Spießbürgers interpretiert

werden kann.59 In der Zeichnung kann man einen ersten Versuch Hoffmanns beobachten,

eine mit präzisen Koordinaten angegebene Großstadtszene mit grotesken und

fantastischen Figuren zu ergänzen und dadurch eine ähnliche Konstellation zu schaffen,

die das Rückgrat der Berliner Geschichten ausmacht.

Abbildung 3: E.T.A. Hoffmann, Die Linden

59 Für eine detaillierte Beschreibung der Zeichnung siehe Steinecke, Die Fantasie der Kunst 43-44. 70

Die zweite Berliner Zeichnung Hoffmanns ist eine großartige Federzeichnung,

„der Kunzische Riss,“ wie Hoffmann sie nannte, die er seinem Bamberger Verleger Kunz

im Sommer 1815 (während des zweiten Berliner Aufenthaltes) geschickt hat.60 Das Bild

zeigt den Grundriss der neuen Wohnung am Gendarmenmarkt, aus deren Fenster

Hoffmann mit seinem Freund Devrient hinausschaut. Die Basis der Zeichnung bilden die

mit den genauen Namen bezeichneten Straßen und die mit wenigen, linearen Strichen

hingeworfenen Gebäude, das Theater, die beiden Kirchen, die Restaurationen, die

Weinstuben und der Grundriss von Hoffmanns Wohnung. In dieser Struktur hat

Hoffmann zahllose Gruppen deutlich voneinander gesondert, jedoch ein einheitliches

Stadtbild ins Leben gerufen, in dem die einzelnen Szenen miteinander in Zusammenhang

stehen.

Abbildung 4: E.T.A. Hoffmann, Der Kunzische Riss

60 Für ausführliche Beschreibungen und Analysen der Tuschzeichnung siehe Georg Wirth und Klaus Deterding. Der autobiographische Aspekt der Zeichnung mit den exakten Ortsangaben dominiert in den Annäherungen. Julius von Rondenberg fängt seine Beschreibung in der folgenden Weise an: „Draußen vor dem Fenster war das Gewühl des Markts und der Straßen, des Theaters und der Weinhäuser; aus diesem fing er alles auf und zeigt es in scharfen, eckigen Linien. Ihr könnt auch nur die Wohnung and der Tauben- und Charlottenstraße-Ecke, wo jetzt unten der Konditor wohnt, ansehen – droben an dem Eckfenster hing der Spiegel“ (295)“ 71

Die Bedeutung des Kunzischen Risses kann für das Gesamtwerk kaum hoch

genug eingeschätzt werden.61 Der Kunzische Riss ist ein Zeugnis davon, dass sich

Hoffmann mit dem regen Stadtleben Berlins sowohl visuell als auch literarisch

auseinandergesetzt hat. Die Zeichnung des Gendarmenmarktes kann als eine

Visualisierung seiner poetischen Weltsicht interpretiert werden.62 Um die bemalten

Szenen herum findet man oft abgehackte Sätze oder Stichwörter, um das Gesehene genau

lokalisieren und interpretieren zu können. Die Zeichnung ist folglich eine Mischung aus

Text und Bild. Einerseits stellt sie ein sonderbares Allgemeines der erlebten Wirklichkeit

dar, also geschehene oder während des Zeichnens stattfindende Ereignisse (zum Beispiel in der Charlottenstraße „einen Hund,“ „einen Soldaten“ und „Damen“) aber auch Figuren aus der Fantasie (wie in der parallelen Markgrafenstraße „ein Strauss“ und „einen

Löwen“). Auf der Zeichnung lassen sich auch Gestalten aus Hoffmanns literarischen

Werken – auch Figuren aus den Berlinischen Geschichten -- erkennen: Anselmus,

Paulmann, Spikher, Giulietta, Dapertutto, und Kreisler.63

Neben den genauen Straßennamenangaben dient die Platzierung der

Zwillingskirchen auf dem Gendarmenmarkt zur Orientierung. Auf den französischen und

deutschen Kirchen plaziert Hoffmann Glöckner, die mit ihren Glocken einander zuläuten.

Auch bestimmte Örtlichkeiten erscheinen auf der Zeichnung: Das Restaurant Lutter &

Wagner, Moretti, Thiermann und die Weinstube an der Ecke Markgrafen und

Taubenstraße (Deterding 27). Der Grundriss der Wohnung in der Taubenstraße ist auch

61 Rodenberg beschreibt die Zeichnung mit den folgenden Worten: „Tauberstraße Nr. 31 steht am Rande des wunderlichen Blattes geschrieben, welches, wenn wir noch keinen Begriff davon hätten, wie die Wirklichkeiten des Tages sich auf dem „Zauberspiegel” dieses Kopfes malten, uns einen solchen geben würde ... So correct und richtig in seinem hat Hoffmann alles angegeben, keine topographische Aufnahme, kein Plan von Berlin hätte mehr thun können” (296). 62 Klaus Deterding interpretiert die Zeichnung in dieser Weise: „Der Kunzische Riss gibt exemplarisch die poetische Weltsicht Hoffmanns als Integration des Realen und des Irrealen“ (25). 63 Diese Identifikationen basieren auf die Analysen von aus Deterding und Georg Wirth. 72

eine architektonisch höchstrealistische Illustration der damaligen Wohnverhältnisse

Hoffmanns (Georg Wirth 39).

Im Mittelpunkt der Zeichnung – unproportioniert – dominiert das

„TheaterGebäude“ des Schauspielhauses, das für Hoffmann von erheblicher individueller

Bedeutung war. Den Blick auf den Markt und die umherliegenden Straßen ergänzt

Hoffmann durch eine Perspektive, die Volker Klotz und Heinz Brüggemann in Alain-

René Lesages Le Diable beiteux (Der hinkende Teufel) aufgezeigt haben.64 In Lesages’

Roman nimmt der Teufel die Pariser Dächer ab, um einem Studenten zu zeigen, was sich

alles im Inneren der Gebäude abspielt. Etwas Ähnliches passiert in der Zeichnung: Im

Theater findet eine Tanzprobe statt, Choristen üben, dem Grafen Brühl dienen im

Direktorzimmer Dichter, die ihre Werke aufgeführt haben möchten. Der Kapellmeister

Weber genießt im Theater gutes Essen und Trinken. Das Dach des Gebäudes ist durch

einen Affen unscharf angedeutet, da die im Theater stattfindenden Szenen die

Federzeichnung dominieren.

Auf Hoffmanns Abbildung ist der Gendarmenmarkt „in wirrem Durcheinander“

porträtiert. Mannigfachste Szenen des Alltagslebens und Hoffmanns Fantasie

entsprungene stehen oft ohne kausale Zusammenhänge nebeneinander. Die multiplen

Szenen, die die inneren und äußeren Räume des Platzes beleben, porträtieren ein

intensives städtisches Treiben. Der Kunzische Riss fungiert wie die letzte Erzählung Des

Vetters Eckfenster als eine „Sehschule“: Der erste Blick auf das mit zahlreichen Szenen

gefüllte Blatt soll durch „ein Fixieren des Blicks“ abgelöst werden, um die Zeichnung verstehen zu können.

64 Vgl. dazu Klotz (22-48) und Brüggemann (Das andere Fenster, 14-44). 73

Wie in den Berliner Erzählungen, in denen der Berliner Alltag des Hier und Heute mit den von Hoffmann erfundenen fantastischen Gestalten gemischt werden, wird der

Betrachter der Zeichnung mit dem Nebeneinander von Realität und Fantastik konfrontiert. In der Zeichnung kann man eine Opposition der linearen, geometrischen

Formen, die als ein Netz funktionieren, bemerken. Wie in den Erzählungen kann der

Beobachter sich auf der Hoffmannschen Stadtkarte ganz genau einordnen, jedoch trifft er in dem mit genauen Straßenschildern versehenen Berlin unerwartete Gestalten. Die topographischen Orte, wie oft in den Erzähltexten, zeugen von einer Subjektivität.

Bestimmte Gebäude, wie das Langhanssche Theater hier, werden unproportioniert vergrößert und andere gleichgültig an die Peripherie gedrängt (zB. „Wohnungen unbekannter Leute“). Der Kunzische Riss ist ein wichtiges Dokument in Bezug auf die

Berlin-Texte des Schriftstellers, da er exemplarisch die poetische Weltsicht Hoffmanns als Integration des Realen und Irrealen visualisiert.

Die Beziehung zwischen den realen und fantastischen Gestalten in der Zeichnung, in der Berliner Persönlichkeiten wie Tieck, Fouqué, Brentano, Kunz mit den

Erzählfiguren Erasmus Spikher, und Doktor Dapertutto aus den Abenteuern der

Sylvesternacht, Anselmus und Paulmann aus dem Goldenen Topf auf dem gleichen Blatt erscheinen, ist ausgewogenen. Der Kunzische Riss und die frühe Zeichnung Unter den

Linden bestätigen die gleiche Ästhetik, worin Wirklichkeit und Unwirklichkeit sich die

Waage halten, und die die Berlinischen Geschichten charakterisiert.

74

Die bildlose Zeit Berlins: Hoffmann und die zeitgenössische Stadtmalerei

Im letzten Teil des Kapitels sollen Hoffmanns Berlin-Erzählungen in einem breiteren kulturellen Kontext untersucht und mit den Berlin Stadtbildern von zeitgenössischen

Malern verglichen werden. Das Interesse der Berliner Malerei an der Darstellung der preußischen Hauptstadt war in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nicht stark ausgeprägt, obwohl sie im 18. Jahrhundert über eine lange Tradition verfügt hatte. Neben den königlichen Aufträgen entwickelte sich auch ein bürgerlicher Markt nach 1756 in

Berlin, der sich für Stadtansichten interessierte (Wellmann 28).

Die Fechhelms und die Rosenbergers waren die berühmtesten Malerfamilien der

Zeit, die sowohl Gesamtansichten als auch Ansichten einzelner Stadtteile malten. Berlin hatte sich um 1780 so stark vergrößert, dass die Stadtmaler in der zweiten Hälfte des 18.

Jahrhunderts im Gegensatz zu den früheren, oft fiktiven Überblickdarstellungen und

Luftschau-Perspektiven (z.B. Dismar Daegens Vogelschaubild der Friedrichstadt von

1735) zunehmend Teilansichten lieferten (z.B. Carl Friedrich Fechhelm, Der Platz am

Operhaus und die Straße Unter den Linden, 1756).

Abb. 5-6: Dismar Dägen, Vogelschaubild der Friedrichstadt (um 1735) und Carl Friedrich Fechhelm, Der Platz am Operhaus und die Straße Unter den Linden (1756)

75

In den früheren Gemälden erschien Berlin ohne Stadttreiben und die Abbildungen funktionierten als ausgesprochene Architekturbilder, während die späteren Darstellungen das alltägliche städtische Leben betonten (Wellmann 16, 28). Die Beziehung zwischen

Stadtraum und den Menschen veränderte sich und die bemalten Gestalten wurden authentischer und raumbezogener. Das heißt, dass die Berliner Stadtmalerei im 18.

Jahrhundert schon eine beachtliche Zahl von Berlin-Repräsentationen ins Leben gerufen

und verschiedene Phasen erfahren hat. Am Ende des 18. Jahrhunderts war jedoch die

malerische Stadtaufnahme Berlins zurückgegangen (Gramlich 95). Die Napoleonischen

Kriege von 1792 bis 1815 unterbrachen fast alle malerische Arbeit an Berliner

Stadtansichten.

Nach 1800, aus der Zeit als Hoffmann Berlin kennen gelernt hat, sind nur einige gedruckte Stadtansichten Berlins überliefert (Wellmann 28). Die Kunsthistorikerin und

Kuratorin des Berlin Museums, Irmgard Wirth, beschreibt die Kunstausstellungen, die

Hoffmann in Berlin wahrscheinlich gesehen hat. Nach Wirth hat Hoffmann einige frühe

Werken von Architektenmalern gesehen (z.B. 1814 von Johann Erdmann Hummel),

jedoch die berühmten Vedutenmaler, wie Eduard Gaertner und Wilhelm Brücke, ließen

noch auf sich warten (39). Bei seinem ersten Aufenthalt in Berlin hat Hoffmann eine im

Jahre 1798 von der Königlichen Akademie der bildenden Künste und mechanischen

Wissenschaften eröffnete Ausstellung besucht. Nach Wirths Meinung hat Hoffmann in

dieser Ausstellung keine bedeutenden Stadtabbildungen sehen können (35). Jedoch hat er

hier Gemälde von italienischen Landschaften von Philipp Hackert bewundert (Wirth

76

36).65 Landschaftsmalerei und eine ästhetische Diskussion über Landschaftsgemälde sind auch in eine der Berlinischen Geschichten eingebettet.

Einer der Werber in Die Brautwahl ist der junge Maler Edmund Lehsen, der

Landschaftsstudien malt.66 „An einer einsamen Stelle des Tiergartens“ entwirft Lehsen

eine ganz besondere Zeichnung als Landschaftsstudie (SW 4, 655). Er malt eine „schöne

Baumgruppe nach der Natur,“ bringt jedoch in die Blätter der Bäume „allerlei Gestalten

[...] in buntesten Wechsel“ hinein, „bald Genien, bald seltsame Tiere, bald Jungfrauen,

bald Blumen“ (SW 4, 655). Lehsen erklärt sein künstlerisches Verfahren damit, dass er

„das wahrhaft Poetische, Fantastische in die Landschaft“ tragen will. Sein

Gesprächspartner, der Goldschmidt Leonhard erscheint hier als sein Erzieher und kommentiert die Intentionen des jungen Malers in der folgenden Weise: „Sie sind eben

jetzt auf dem schönsten Wege, eine großer Narr zu werden“ (SW 4, 658).

Den Rest der Konversation hat Hoffmann aus der ersten Version des Textes

getilgt, jedoch enthält die entfernte Passage eine aufschlussreiche Diskussion über die

Aufgaben des Dichters und des Malers:

[J]eder Maler, sey er Landschafter oder Historikus, muss zugleich ein Dichter seyn, denn Gemälde sind Gedichte mit dem Pinsel ausgeführt; aber nennen Sie das Dichten, wenn Bäume mit ihrem Laube, Stamm und ihren Wurzeln zugleich aussehen sollen, wie Menschen, Thiergestalten, ja wenn selbst Figuren zusammengestellt sind, nicht nur eine bestimmte Handlung, sondern nur eine außerhalb des Bildes liegende fantastische Idee ausdrücken? Da kommen wir in die Allegorie hinein, dem ärmlichsten, unkünstlerischsten Theil der Malerey. Hüten Sie sich vor den Nebeln und Schwebeln! (SW 4, 1481-82)

65 Vgl. auch dazu den Brief Hoffmanns aus Berlin (An Hippel, 15.10. 1798): „Hackert, der jetzt in Neapel lebt, hat zu dieser Ausstellung vier ganz vortreffliche Landschaften nach der Natur in Oel geschickt“ (Briefe 1, 140). 66 Der Berliner Maler Wilhelm Hensel (1794-1861) wird als Vorbild für diese Gestalt angesehen. (SW 4, 1480) 77

Die künstlerische Auffassung, die Hoffmann in den Mund von Leonhard legt, macht

deutlich, dass die allegorische Malerei von Hoffmann nicht hochgeschätzt wird.67 Das

Ablehnen eines nicht-mimetischen Programms ist eine Komponente von Hoffmanns

ästhetischen Ansichten. Er warnt vor dem Verlust der Beziehungen zur realen Welt. Wie

in seinen Berlin-Stadtzeichnungen plädiert Leonhard, der als das Sprachrohr Hoffmanns angesehen werden kann, erneut für eine Balance zwischen den inneren und äußeren

Wirklichkeiten des Künstlers.68

Architekturmalerei erwähnt Hoffmann in seinen Berlin-Geschichten nicht, jedoch

beschäftigt er sich mit dem Genre in der Künstlergeschichte Die Jesuitenkirche in G. Die

Erzählung über das Schicksal des geheimnisvollen Malers Berthold schildert nicht nur die kreative Entwicklung eines Künstlers, sondern enthält auch mehrere

Kunstauffassungen. Berthold studiert Malerei beim berühmtesten Landschaftsmaler der

Zeit, Philipp Hackert, in Italien. Bald findet er aber Ungenügen in der naturtreuen

Darstellung seines Meisters und lernt, dass er zum „tieferen Sinn der Natur,“ zu den

Bildern in seinem „Innern“ fortschreiten muss (SW 3, 130).69 Bevor aber seine

Lebensgeschichte von dem reisenden Enthusiasten mitgeteilt wird, trifft der Leser den

Maler in einem Kloster, in dem er als Wand- und Architektenmaler tätig ist.

Während einer Nacht besucht der Ich-Erzähler Berthold, der eifrig die

Kirchenwand mit Marmorsäulen bemalt. Der Erzähler bietet seine Hand an und während

der gemeinsamen Arbeit entfaltet sich eine Konversation über die Rangordnung der

67 Mehr dazu siehe Lee 205-18. 68 Das Ablehnen einer entgegensetzten Einseitigkeit erscheint in Die Jesuitenkirche G. durch ein ähnliches Beispiel. Das mimetische Programm basiert auf einer „reinen Nachahmung der Natur“ (SW 3, 126), auf einer Wiedergabe des Gesehenen wie das in der Hackerts Landschaftsmalerei in Die Jesuitenkirche G. praktiziert wird. 69 „Berthold erlangte große Fertigkeit, die verschiedenen Baum- und Gesträucharten der Natur getreu darzustellen [...] aber auf ganz eigene Weise schien es ihm [...] ja selbst den Landschaften des Lehrers etwas fehle“ (SW 3, 127) 78

Genres in der Malerei. Die Geschicktheit Bertholds lobend stellt der Erzähler fest, dass

der Maler zu etwas besseren taugt als Architekturmalerei. Die Begründung ist das

Folgende: „Architektur-Malerei blieb immer etwas untergeordnetes; der Historien-Maler,

der Landschafter steht unbedingt höher“ (SW 3, 116). Er lehnt die engen Schranken der

geometrischen Linien ab, da Fantasie sich nur „im freien Fluge“ erheben kann (SW 3,

116).70 Mit diesen Worten tadelt der Erzähler von Bertholds Geschichte

Repräsentationen, die nach naturtreuen Abbildungen streben und mit „mathematischer

Spekulation“ eine rein mimetische Darstellung erzielen.

Der Status der zeitgenössischen Berliner Stadtmalerei, die eigenen Erlebnissen

des Schriftstellers und die obige Textanalyse zeigen, warum Hoffmann in seinen früheren

Berlin-Texten sein künstlerisches Verfahren durch Landschaftsmalerei anstatt durch

malerische Stadtansichten verbildlicht. Wegen der Napoleonischen Kriege begannen die

Maler sich erst spät wieder für Berlin zu interessieren. Da bis 1825 nur wenige Gemälde

Architektur wiedergeben und vorwiegend Zeichner und Stecher das Aussehen Berlins in

zahlreichen Serien und Einzelblättern festhielten, ist es kein Wunder, dass Hoffmann

über diese Darstellungen eine abschätzende Meinung hatte. Kunsthistoriker stimmen

überein, dass die großen Namen unter den Berliner Malern in den Jahren 1814-20 noch

nicht bekannt waren.71

Allerdings wurden die ersten Panoramen Berlins in diesen Jahren eingerichtet, für die ganz neue darstellungstechnische und wirtschaftliche Probleme zu lösen waren. Das vorrangige Anliegen der Panoramamalerei war die realitätsnahe Schilderung des

70 Mehr dazu: “Selbst das einzige Fantastischen Eurer Malerei, die sinnentäuschende Perspektive, hängt von genauer Berechnung ab, und so ist die Wirkung das Erzeugnis, nicht des genialen Gedankens, sondern nur mathematischer Spekulation” (SW 3, 116). 71 Vgl. dazu Wellmann und Gramlich. 79

bemalten Motivs. Die Familie Gropius, die mit ihren Bühnendekorationen und

illusionistischer Dekorationsmalerei bekannt geworden ist, förderte die Anfertigung von

Panoramen und hat wesentlich zur Wiederentdeckung der Stadt als Bildthema

beigetragen. Die neuen künstlerischen Techniken beeinflussten die Künstler, die nach den

Napoleonischen Kriegen in Berlin Stadtansichten malten, was in dem nächsten Kapitel in den Repräsentationen des Gendarmenmarktes – Schauplatz von Hoffmanns letzter

Berlin-Erzählung – dargestellt wird.

Schlussfolgerung

Die jüngste Hoffmann-Forschung konzentriert sich auf den letzten Berlinischen Text

Hoffmanns. Hier ist gezeigt worden, dass die bahnbrechende urbane Darstellung Berlins in Des Vetters Eckfenster schon in mehreren früheren Werken vorbereitet wurde.

Die Analyse der Berlinischen Geschichten macht deutlich, dass das Doppeltalent

Hoffmann im bunten Gewühl der Stadt Berlin sowohl literarisch als auch malerisch angeregt wurde. Er nahm am zeitgenössischen kulturellen Leben Berlins intensiv teil,

äußerte seine Meinung über aktuelle Aufführungen, städtebauliche Entwicklungen,

Kunstausstellungen und sogar alltägliche Gesprächsthemen, die die Fantasie der

damaligen Berliner bewegten.

Obwohl Hoffmanns Berlinische Geschichten ein vielschichtiges Bild der urbanen

Topographie der preußischen Hauptstadt anbieten, sind sie auf „das neue Berlin“

reduziert und können als Kritik der damaligen aufklärischen Stadtplanung gelesen

werden. Die Friedrichstadt mit ihrem Schachbrettraster und dem streng gewahrten

80

Axialsystem bildet einen auffälligen Kontrast zu den Abenteuern der Protagonisten, die auf den nächtlichen Straßen Berlins seltsamen Gestalten, Gespenstern und unheimlichen

Ereignissen begegnen. Die Analysen der heterogenen Texte zeugen auch davon, dass die exakten Straßennamen nur einen scheinbaren Realismus hervorbringen. Der spezifische, reale Ort Berlin bei Hoffmann funktioniert als Katalysator, um das verborgene und dämonische Berlin zur Schau bringen zu können. In vielen von den Erzählungen entsteht ein bipolares Berlin-Bild zwischen Rationalisierung und Dämonie, in dem die

Lebensbereiche der alltäglichen bürgerlichen Zivilisation und die Sphäre des lebendigen

Gefühls im starken Kontrast miteinander stehen. Eine Darstellung, in der der

Schriftsteller zwischen den verschiedenen Domänen, Innenwelt und Außenwelt, Körper und Geist eine Balance zu erhalten zielt.

81

KAPITEL 2.: Rund um den Gendarmenmarkt: Eine ästhetische und sozial- politische Sehschule in E.T.A. Hoffmanns Des Vetters Eckfenster (1822)

Einführung

Man denke an den Orpheus, der, als ihm ein großer wüster Bauplatz angewiesen war, sich weislich an dem schicklichsten Ort niedersetzte und durch die belebenden Töne seiner Leier den geräumigen Marktplatz um sich her bildete. Die von kräftig gebietenden, freundlich lockenden Tönen schnell ergriffenen, aus ihrer massenhaften Ganzheit gerissenen Felssteine mussten, indem sie sich enthusiastisch herbei bewegten, sich kunst- und handwerksgemäß gestalten, um sich sodann in rhythmischen Schichten und Wänden gebührend hinzuordnen. Und so mag sich Straße zu Straßen anfügen! An wohlschützenden Mauern wird’s auch nicht fehlen. Die Töne verhallen, aber die Harmonie bleibt. Die Bürger einer solchen Stadt wandeln und weben zwischen ewigen Melodien; der Geist kann nicht sinken, die Tätigkeit nicht einschlafen. Das Auge übernimmt Funktion, Gebühr und Pflicht des Ohres, und die Bürger am gemeinsten Tage fühlen sich in einem ideellen Zustand: Ohne Reflexion, ohne nach dem Ursprung zu tragen, werden sie des höchsten sittlichen und religiösen Genusses teilhaftig. [...] Der Bürger dagegen in einer schlecht gebauten Stadt, wo der Zufall mit leidigem Besen die Häuser zusammenkehrte, lebt unbewusst in der Wüste eines düstern Zustandes; dem fremden Eintretenden jedoch ist es zu Mute, als wenn er Dudelsack, Pfeifen und Schellentrommeln hörte und sich bereiten müsste, Bärentänzen und Affensprüngen beiwohnen zu müssen.

Johann Wolfgang von Goethe (Werk: Maximen und Reflexionen, Nachlaß, Über Kunst und Kunstgeschichte, Nr. 1133 von 1827)

Goethes Charakterisierung der Baukunst als „erstarrte Musik“ und „verstummte

Tonkunst“ ist einer der meistzitierten Aphorismen des Schriftstellers. Das Bild der idealen Stadt, die Goethe mit musikalischen semantischen Mitteln beschreibt, ist jedoch weniger bekannt. In diesem Text stellt Goethe dar, wie der Sänger Orpheus mit der Hilfe der Musik aus Naturelementen einen idealen urbanen Raum ins Leben ruft. Der Raum wird einerseits als Marktplatz konnotiert, andererseits als ein Ort, dessen Bewohner sich in einem geistigen und körperlichen Wohlstand befinden. Die gut gebaute Stadt nach

Goethe hat ein „kunst- und handwerksgemäß“ gestaltetes, gut durchgedachtes Zentrum,

82

das Sichtachsen schafft, in dem Straße zu Straße gereiht ist und die schließlich mit

Mauern geschützt ist. Die ewigen Melodien der stadtschaffenden Musik werden mit einer

hohen Auffassung von Architektur verbunden. Die synästhetische Beschreibung betont

den Primat des Sehens, während die restlichen Sinnesorgane sekundäre Funktionen bekommen. Der idealen Stadt wird ein Kontrast entgegengesetzt, eine ungeplante, sorglos entworfene Stadt, in der die Menschen ein unbewusstes Leben führen und zu Reflexionen unfähig sind.

Die von Goethe betonte Harmonie und die aus der griechischen Mythologie entnommene Orpheus-Gestalt evozieren die klassizistische Formensprache der

Architektur, die unter anderem zur Zeit der Verfassung der obigen Beschreibung auf dem

Gendarmenmarkt in Berlin zu sehen war. Schinkel, dessen Entwurf des Schauspielhauses dem Platz seine Würde gab, bediente sich in seiner Planung der synästhetischen

Konzeptionen der deutschen Klassik und Romantik.72 Die früheren Beschreibungen des

Gendarmenmarktes wie zum Beispiel die Charakterisierung des Ortes von Karl Philipp

Moritz aus dem Jahre 1795 in den Reisen eines Deutschen in Italien zeugen davon, dass dem architektonischen Gesamtbild des Gendarmenmarktes vor dem Fertigstellen des

Schauspielhauses in der Regel nur eine herabschätzende Schilderung zu Teil ward.

Moritz vergleicht den Gendarmenmarkt mit der Piazza del Popolo in Rom in der folgenden Weise:

Diese Zwillingskuppeln [auf dem Platze del Popolo] machen hier den schönsten Effekt, den man sich denken kann; von ihnen ist die Idee zu den beiden Türmen auf dem Gensdarmenmarkte in Berlin genommen, welche dort gar keine Wirkung tun, weil es ihnen gänzlich an einem Vereinigungspunkte fehlt, der hier durch den Obelisk, welcher gerade in der Mitte vor den beiden gleichgebauten Kirchen steht, und durch das Tor, in welches man eintritt, hervorgebracht wird. (2, 435)

72 Die Orpheussage ist mehrfach beim Bildprogramm des Schauspielhauses zu sehen (Behr/Hoffmann 80). 83

Nach Moritz fehlt am Ende des 18. Jahrhunderts noch ein Mittelpunkt auf dem

Gendarmenmarkt, der durch das spätere Theatergebäude eingenommen wird und dessen

Entwurf drei berühmte preußische Architekten, Carl Gotthard Langhans, Friedrich Gilly

und seinen Lehrling Karl Friedrich Schinkel, beschäftigte. Mit der Eröffnung des ersten

Königlichen Nationaltheaters auf dem Platz im Januar 1802 wurde der Gendarmenmarkt

zu einem Zentrum Berlins. Das neue Gebäude, wie sein Name auch zeigt, war eine

Repräsentation der königlichen Familie aber wurde auch zu einem Versammlungsort der

Einwohner Berlins. Der von Jürgen Habermas erforschte Strukturwandel von einer repräsentativen Öffentlichkeit des Hofes zu einer bürgerlichen Öffentlichkeit fand in der architektonischen Veränderung des neuen Platzes seinen Ausdruck. Auch in diesem

Sinne kann das Goethesche Bild von der idealen Stadt auf den Gendarmenmarkt und besonders seine Rolle in den 1820er Jahren übertragen werden, nachdem das

Schinkelsche Theatergebäude fertiggestellt wurde.73

Dem Architekturhistoriker Spiro Kostof zufolge sind Marktplätze, religiöse

Zentren und militärische Sammelpunkte die drei wichtigsten Komponenten, die in der

Entwicklung der Städte die initiative Rolle spielen.74 Die spektakuläre Architektur des

Gendarmenmarktes (mit den zwei Domen, dem Schauspielhaus, Markt und den in der

Nähe angelegten Zimmerreise-Ausstellungen) kann als ein kondensiertes Modell der modernen Großstadt angesehen werden. Dieser komprimierte Mikrokosmos übte auf die

Erzähltechnik und Thematik von E.T.A. Hoffmanns letzter Erzählung, Des Vetters

Eckfenster (1822), als dessen Hintergrund der Gendarmenmarkt dient, einen markanten

73 Klaus Gerlachs Studie zeigt die Vorgeschichte des Theaters und beurteilt Schinkels Entwurf als eine Reprise. 74 Andere Stadtdefinitionen, die hier noch benutzt werden können: “a relatively large, dense, permanent settlement of socially heterogeneous individuals” (L. Wirth, zitiert in Kostof 37), “a point of maximum concentration for the power and culture of a community” (L. Mumford, zitiert in Kostof 38). 84

Einfluss aus. Einerseits erzeugt der Ort intensive Bildlichkeit, andererseits sind die

Verhaltensweisen der Charaktere auf dem Markt und vor dem Theater Komponenten der

Großstadtmentalität, die in theoretischen Werken von Georg Simmel und anderen

Soziologen und Großstadtforschern über 80 Jahre später beschrieben wurden. Der stark

visuell geprägte erzählerische Gestus und die panoramengleiche Wahrnehmungsweise

erscheinen als die notwendigen Ergebnisse einer Veränderung des Verhältnisses

zwischen den Großstadtbewohnern der damaligen Zeit und ihrem sozialen Umfeld.

Dieses Kapitel ist der Analyse des Gendarmenmarktes als Katalysator einer

dynamischen und intermedialen Großstadtwahrnehmung gewidmet. Dabei wird die

Stadtwahrnehmung in Des Vetters Eckfenster in einem breiten Kontext im Vergleich mit drei malerischen Repräsentationen des Gendarmenmarktes aus dem Jahre 1822 (von Carl

Georg Adolf Hasenpflug, Carl Georg Enslen und Eduard Gaertner) behandelt.

Abschließend wird der Beitrag Karl Friedrich Schinkels Baukunstphilosophie und seinen

Bühnenbildentwurf aus 1822 mit der literarischen Repräsentation dieses neuen urbanen

Raumes in Hoffmanns letzter Erzählung kontextualisieren. Eine Sonderposition Des

Vetters Eckfenster wird in der folgenden Analyse deutlich, da Berlin als Hintergrund, die

Großstadt und die damit verbundenen neuen Wahrnehmungsformen in keinem anderen

Text Hoffmanns so plastisch beschrieben werden wie hier.

Des Vetters Eckfenster: Quellen, Stoffwahl und Erzählstruktur

In postnapoleonischen Berlin eilt ein junger Mann an einem Sonntag durch das

Getümmel des Marktes und schiebt sich durch Verkäufer und Käufer aus allen Schichten und Ständen. Plötzlich trifft sein Blick auf ein Eckfenster, in dem eine rote Mütze

85

erkennbar wird und danach auch das Gesicht des sonst sich von der Welt abriegelnden,

gelähmten Vetters im Warschauer Schlafrock, aus der türkischen Sonntagspfeife Tabak

rauchend.75 Kurz entschlossen nutzt der Erzähler die günstige Gelegenheit zu einem

Besuch. Dem am Anfang der Erzählung noch in der Menge Verlorenen, der spontan in

die Höhe steigt, wird der Anblick von oben, aus dem Eckfenster, „in der Tat seltsam und

überraschend“:

Der ganze Markt schien eine einzige, dicht zusammengedrängte Volksmasse, so dass man glauben musste, ein dazwischengeworfener Apfel könne niemals zur Erde gelangen. Die verschiedensten Farben glänzten im Sommerschein, und zwar in ganz kleinen Flecken, auf mich machte den Eindruck eines großen, vom Wind bewegten, hin- und herwogenden Tulpenbeets... (SW 6, 471)

Dem schwerkranken und an Schreibkrise leidenden Vetter gewährt der Fensterblick auf

das Markttreiben, das am Anfang der Erzählung mit Naturmetaphern beschrieben wird,

einen neuen Zugang zu der äußeren Welt. Das Gesehene fungiert als Trost und Therapie,

die der Besucher, der Ich-Erzähler als Selbstheilung pathologisch findet. Zwischen den zwei Vettern beginnt eine Konversation und der Rest der Erzählung besteht aus zwölf von dem kranken Vetter ad hoc entworfenen Geschichten, die den Rädergang der

Phantasie unaufhörlich in Bewegung halten und das Rückgrat des Textes konstituieren.

Neben der Wirklichkeit des vor ihm liegenden Platzes hat Hoffmann als Quelle eine Erzählung mit dem Titel Scarron am Fenster von Karl Friedrich Kretschmann benutzt.76 Kretschmanns Erzählung beschreibt den französischen Dichter, der, zum

Krüppel geworden, die Außenwelt aus seinem Fenster betrachtet und schildert. Beide

Schriftsteller erwähnen ihre eigene Dichtung und benutzen dabei eine Metaphorik, die

75 Die Beschreibung der Kleidung und Lebensgewohnheiten des Vetters siehe auch die Berlinische Geschichte Irrungen (SW 5, 520). 76 Vgl. dazu Dirksens, Oesterles und Stadlers Interpretationen, in denen beide Germanisten auch einen Vergleich zwischen Kretschmann und Hoffmann anbieten. 86

der Malerei entlehnt ist. Obwohl beide zwölf Personen bzw. Gruppen beschreiben, gibt es

wesentliche Unterschiede in ihrer Stoffwahl. Scarron beobachtet reiche Bürgerleute und

Adelige und schildert sie als „handele es sich bei ihnen um Figuren einer Spielzeuguhr,

die einander in wohlgeordnetem Abstand folgen“ (Stadler 503). Während Scarrons

Figuren ganz und gar der Zeit des ancien régime gehören, wählt Hoffmann größtenteils

Figuren aus den unteren gesellschaftlichen Schichten und beschreibt Marktfrauen, rabiate

Hausfrauen, bürgerliche Frauen, die mit ihren Mägden auf den Markt geschickt werden, einen Blinden und verschiedene männliche und weibliche Gestalten, die auf dem Markt

entweder als Kunden oder als Händler erscheinen. Im Vergleich zu Kretschmars

Erzählung demokratisiert Hoffmann sowohl thematisch als auch strukturell seine

Perspektive und lässt ein breiteres Segment der damaligen Berliner Gesellschaft

auftreten.

Der Erzähler, der den Marktplatz zuerst nur als ein unstrukturiertes, irritierendes

Gewimmel von Farben – wie ein impressionistisches Gemälde – sieht, beginnt, wie das

Zitat oben demonstriert, einzelne Szenen voneinander differenzieren und das Gesehene

ästhetisch organisieren zu können. Der fast Schwindel erregende Totaleindruck des

Blicks von oben wird im Laufe der gemeinsamen Beobachtung des Marktes durch ein

„Fixieren des Blicks“ abgelöst. Die überwältigende Totalität des Berliner

Gendarmenmarktes ersetzt eine Blickvervielfältigung, die ermöglicht, einzelne, sich im

Gewühl der Menge ihren Weg bahnende Figuren zu verfolgen und genauer unter die

Lupe zu nehmen. Der Gendarmenmarkt, der dem Beobachter die „mannigfachste[n]

Szenerie[n] des bürgerlichen Lebens“ (SW 6, 471) anbietet, generiert eine narrative

Sehschulung, die die Genesis einer modernen Großstadtwahrnehmung evoziert.

87

Eine Sonderposition im Hoffmannschen Oeuvre: Stand der Forschung

E.T.A. Hoffmanns Des Vetters Eckfenster ist seit der ersten ausführlichen Besprechung durch Georg Ellinger (1894) einer der interpretationsattraktivsten Texte der Hoffmann-

Forscher geworden.77 Für den einen Teil der Kritiker stellt Des Vetters Eckfenster die

letzte Vollendung der seit den Fantasiestücken in Callots Manier erprobten Schreibweise

dar – andere beziehen es vorzugsweise auf das sogenannte „serapiontische Prinzip“78 –

während der zweite Teil darin das erste Beispiel des poetischen Realismus sieht.79 Der

gemeinsame Ausgangspunkt fast aller Überlegungen der neueren Forschung zu der

Erzählung findet sich in Walter Benjamins zweitem Baudelaire-Essay, „Der Flaneur,“

der eigentlich für die Verehrung des Textes verantwortlich ist.80 Benjamin stellt darin

Hoffmann als den Anfang der literarischen Großstadtdarstellung und –erfahrung dar, die

ihren Weg über Edgar Allen Poe zu Charles Baudelaire hin nimmt und dort zum

integrativen Bestandteil der Moderne wird.

Auf der Suche nach Momenten der Moderne beschreibt Benjamin zwei

verschiedene Tendenzen. Obwohl nach Benjamin Hoffmann mit der Schreibweise Poes

und Baudelaires verwandt war und auch ihn das Schauspiel der Menge in Berlin

faszinierte, bleibt Hoffmann wegen der sozialen Rückständigkeit Deutschlands in

kleinbürgerlicher Befangenheit. Während Poes Mann der Menge in London als

namenloser Konsument magisch von der Masse angezogen wird und sich in der Menge

befindet, sitzt Hoffmanns Vetter sicher in seiner Dachstube wie in einer Rangloge.

77 Georg Ellinger. E.T.A. Hoffmann. Sein Leben und Werk. Leipzig, 1894. 78 Siehe Wolfgang Preisendanz (1963), Wulf Segebrecht (1976) und Lothar Pikulik (1979). 79 Siehe dazu Karl Riha 172-181, Lutz Hagestedt 140ff und Rolf Selbmann. 80 Walter Benjamin. Charles Baudelaire. „Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus.“ Gesammelte Werke. 1, 551ff. 88

Benjamin beurteilt diese Positionen in der folgenden Weise: „Im Unterschied der

Beobachtungsposten steckt der Unterschied zwischen Berlin und London“ (1/2, 551).

Nach Benjamin ist der Blick des Mannes in der Menge in London durchdringend, jedoch gleitet der aus dem Fenster in Berlin geruhsam über das Gewühl hin. (1/2, 548).

Benjamin endet den literarischen Vergleich mit einer bildnerischen Gegenüberstellung:

Auf der einen Seite wie ein Vielerlei kleiner Genrebilder, die insgesamt ein Album von kolorierten Stichen bilden; auf der anderen Seite ein Umriss, der einen großen Radierer zu inspirieren im Stande wäre; eine unabsehbare Menge, in welcher keiner dem andern ganz deutlich und keiner dem andern ganz durchschaubar ist. (1/2, 551)

Mit dem zitierten Vergleich kontrastiert Benjamin zwei visuelle Kulturen: Einerseits gerahmte, starre Bilder, die das Gesehene auf eine zugängliche Essenz reduziert

(Hoffmann), andererseits rasche Bilder, die keine eindeutige Interpretation erlauben und undurchschaubar bleiben (Poe). Benjamin schließt den Vergleich mit einem literatursoziologischen Urteil ab: „Dem deutschen Kleinbürger sind seine Grenzen eng gesteckt“ (1/2, 552). Diese Einschränkung and deren Kritik bilden den Ausgangspunkt von mehreren Analysen des Hoffmann-Textes in jüngster Zeit.81

Im Gegensatz zu Benjamins Verdikt der Biedermeierlichkeit Hoffmanns bzw.

seiner Erzählung wird in jüngster Zeit die Singularität in der deutschen

Literaturgeschichte hervorgehoben, die bei allem Defizit einen eleganten Platz in der

Großstadtliteratur des 19. Jahrhunderts hat.82 Für einige Interpreten markiert das Werk

„zu einem besonders frühen Zeitpunkt [...] eine der wesentlichen Positionen des deutschen Frührealismus“ (Riha 141). In der neusten Forschungsliteratur sahen zahlreiche Interpreten in der Erzählung ein Musterbeispiel eines zentralen Themas der

81 Vgl. dazu besonders Brüggemann, Darby, Stadler, Osterle, Neumann, McFarland und Steigerwald. 82 Vgl. dazu z.B. den Anfangsatz in Selbmanns Aufsatz: “Als letzte vollendete Erzählung Hoffmanns nimmt Des Vetters Eckfenster mit Recht eine Sonderstellung ein.” 89

Literatur der Aufklärung und der Romantik: Der Akt des Sehens. Günter Osterle zeigt die

historische Wichtigkeit der „Vignetten“, die Hoffmann produziert, und nennt sie einen

„kalkulierten Rückgriff auf Sehmuster der Aufklärung“ (103). Jörn Steigerwald analysiert

die Erzählung aus einem kulturell historischen Standpunkt und situiert Hoffmanns Werk

in die Mitte eines Umbruchs in der visuellen Kultur, der während der ersten zwei

Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts stattfand. Trotz der Anerkennung für

Hoffmanns Beteiligung an einer markanten visuellen Änderung schließt sich Steigerwald

Walter Benjamins Verdikt an und verbindet die Erzählung mit den Sehmustern der

Aufklärung.

Eine Auseinandersetzung mit Benjamins Thesen beginnt mit Heinz Brüggemanns

(1985), Silvio Viettas (1992), David Darbys (2003) und McFarlands (2005)

Interpretationen. Trotz Benjamins verurteilender Bewertung von Des Vetters Eckfenster wird in den letztgenannten Interpretationen der Erzählung die Modernität des urbanen

Schauens anerkannt.83 Darby vergleicht dabei Hoffmanns Erzählung mit Poes The Man of

the Crowd und Robert McFarland zeigt, dass Hoffmanns „prä-modernes“ urbanes

Schauen“ in Des Vetters Eckfenster schon in Das öde Haus existiert (McFarland 103), während Gerhard Neumann argumentiert, dass selbst der Prozess der Wahrnehmung der

Protagonist des Textes ist, die als ein Resultat der radikalen Schreibhemmung anzusehen ist. Nach Neumann nimmt Hoffmanns letzter Text eine Schlüsselstelle ein in der

Geschichte der Mimesis, indem der Schriftsteller in der Erzählung die Mimesis-Formel der Moderne anwendet und vielleicht „zum ersten Mal“ die „modernste Variante des

Repräsentationsparadoxes benutzt (242).

83 Siehe dazu Eichler (1993), Neumann (2005) und McFarland (2005). 90

Einige der Aufsätze verdienen mehr Aufmerksamkeit im Bezug auf das Vorhaben dieses Kapitels. Linde Katritzky (1987) zeigt welchen Einfluss Hogarths Stiche und deren

Kommentare von Lichtenberg aus 1794 auf Hoffmann ausgeübt haben. Die Kraft der

Erzählung ist nach Katritzky an Lichtenbergs Methoden geschult und deckt sich völlig mit Lichtenbergs Beschreibungstechnik. Sie benutzt das Gemälde von Hogarth Vier

Tageszeiten, besonders „Der Morgen“ was einen Londoner Gemüsemarkt vorstellt, um zu zeigen, wie Hogarth im Gewöhnlichen das Ungewöhnliche entdeckt. Wie der

Gendarmenmarkt in Hoffmanns Erzählung erscheinen verschiedene Prachtgebäude (z.B.

St. Pauls Kirche) im Blickfeld bei Hogarth(165). Katritzkys Schlussfolgerung ist, dass

Lichtenbergs und Hogarths Gabe, das Besondere wie das Allgemeine in den gewöhnlichsten Begebenheiten auch des beschränktesten Alltags zu entdecken, hat

Hoffmann offensichtlich „mit seiner durch Krankheit beengten Welt versöhnt und seine dichterischen Kräfte neu beflügelt“ (167).

Günter Oesterle hat der letzten Erzählung Hoffmanns drei Aufsätze gewidmet.

Der Aufsatz „’Lass Rom Rom seyn... Singe Berlin!’ Stadtpoesie in Prosa. Ludwig Tieck

– Ludwig Robert – Heinrich Heine“ beschäftigt sich nur partiell mit Hoffmanns

Erzählung. Das Jahr 1822 wird jedoch als „Höhepunkt deutscher Städteliteratur“ genannt, da neben Hoffmanns Erzählung auch Heines Briefe aus Berlin und Börnes Schilderung aus Paris aus diesem Jahr entstanden sind. Die drei Texte bewertet Oesterle als Beispiele eines Darstellungsstandards, der „westeuropäischen Können in nichts nachsteht“ (293).

Der zweite Essay (2004), eine wahrnehmungstheoretische, thematologische und narratologische Analyse, bestätigt die Sonderstellung des Textes unter den Erzählungen des 19. Jahrhunderts. Der dritte Aufsatz (1987) von Oesterle analysiert Des Vetters

91

Eckfenster als eine „formal-ästhetische und eine politisch-soziale“ Schule des Sehens

(104). Oesterle entdeckt in der Erzählung eine neuartige ästhetische Einstellung in der literarischen Mobilisierung eines modernen Bildreservoirs aus Callot, Chodowiecki und

Hogarth. In der kreativen Mobilisierung von diesen Bildern ersetzt Hoffmann nach

Oesterle die Hierarchie des Sichtweisen durch eine Pluralisierung und Relativierung,

indem Hoffmann Techniken von Callots, Hogarth’ und Chodowieckis mischt. Die

vielschichtigen Bezugnahmen auf die obigen Künstler machen eine narratologisch

integrierte Intermedialität im Text offenbar. Oesterles Schlussfolgerung ist, dass die

subjektive, monologische Imagination des einsamen Romantikers zurückgedrängt wird

„gegenüber der geselligen Kommunikation [und] dem kombinatorischen Spiel“ (110).

Ulrich Stadler (1986) und Thomas Eicher (1994) beschäftigen sich mit der

strukturbildenden Qualität des panoramatischen Sehens in der Erzählung. Stadler

verbindet mit dem Begriff des Panoramas eine undemokratische Perspektive des

herrschenden Überblicks (503). Eicher zeigt in seiner Analyse, dass es zwischen dem

Darstellungsmodus des Panoramas und der Erzählung „einen ganzen Korpus von

Berührungspunkten“ gibt (361). Die Schwerpunkte der Parallelisierung liegen bei Eicher

in der Realisierung eines künstlerischen Verhaltens und im Bereich der Rezeption.

Eicher benutzt in seiner Interpretation großflächige Panoramagemälde, jedoch keine

spezifischen Repräsentationen des Berliner Gendarmenmarktes.

Gerhard Vowe (2005) widmet seine Interpretation der Rolle des Marktes in der

Erzählung. Als Ausgangspunkt beschreibt er den Marktplatz als „ein Modell des

öffentlichen Raumes“ (87). Der Gendarmenmarkt als öffentlicher Raum ist nicht nur ein

Marktplatz, sondern ein komplexer Raum. Der Markt wird in der Erzählung als eine

92

gesellschaftlich wie kulturell wichtige Instanz konnotiert, der drei Funktionen

(Koordination, Regulation und Integration) Platz gibt. Hermann Korte analysiert die

Marktmechanismen in der Erzählung und beschreibt dabei die Gründe für die Krise des

Schriftstellers in der sich entfaltender Marktwirtschaft. Im Gegensatz zu Vowe erscheint

der Markt in Kortes Interpretation als eine fremde Macht, der „den einzelnen auf seine

funktionale Größe in einer zirkulierenden Welt des Tausches und der Waren reduziert“

(133).

Jürgen Gunia und Detlef Kremer (2001) besprechen die Erzählung durch das

Mittel der Mauerschau (Teichoskopie) und untersuchen die aus einer „Bühne“ und

„Zuschauerraum“ bestehende theatrale Topographie im Werk. Nach ihrer Analyse verbindet Hoffmann die aufklärerische Rahmenschau mit einer dynamischen

Mauerschau, „die dem beschleunigten Objekt mit einer Elastizität der Optik begegnet“

(77). Im Weiteren führen die Autoren Hoffmanns Blickexperiment in der Erzählung auf

ältere Modelle zurück und nennen dabei neben den Kupferstichen von Hogarth und

Chodowiecki, die Orbis pictus Tradition (78).

Die obigen Beispiele zeigen, dass der Text in der jüngsten Forschung immer

wieder neuinterpretiert wurde. Die folgende Analyse hat das Ziel, die Erzählung in einem

breiten Kontext zu untersuchen. Dabei ist der Fokus auf dem dargestellten Ort, dem

Gendarmenmarkt sowie auf seinen zeitgenössischen malerischen Repräsentationen aus

dem Entstehungsjahr des Primärtextes. Die Analyse bestätigt die Sonderposition der

Erzählung im Vergleich zu den anderen Berlin-Texten Hoffmanns mit der Hilfe von

zeitgenössischen malerischen Werken von Vedutenmalern und dem Architekten

Schinkel.

93

„Prophete rechts, Prophete links / Das Weltkind in der Mitten.“:84 Der Gendarmenmarkt als ökonomisches, militärisches, kirchliches und kulturelles Zentrum

Wenn man nach den Gründen forscht, die zum Ruf des Gendarmenplatzes führten, findet

man sie alle in den frühen Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, insbesondere zwischen

1815 und 1830, konzentriert. Bis Ende des 17. Jahrhunderts gehörte der

Gendarmenmarktplatz im Herzen Berlins zum Vorgelände des berlinerischen

Festungswerkes. 1705 wurde der Französische Dom, 1708 der deutsche Dom gebaut. Um die zwei Kirchen errichtete der königliche Exerziermeister im Viereck Stallungen und

Wachgebäude für sein Eliteregiment. Ende des 18. Jahrhunderts wurden die Pferdeställe abgerissen und die beiden Kirchen erhielten zwei mächtige Kuppeln (Demps 15-42;

Mühr 58-60).

Abbildung 7: Foto vom Gendarmenmarkt (2007)

Für den vor allem nach 1815 gewonnenen Ruf des Platzes sorgten neben dem

Schauspielhaus die zahlreichen Gaststätten und Lokale und die dort lebenden Menschen.

Die Häuser um den Platz herum beherbergten Berliner, die nicht zur städtischen

Unterschicht zählten, aber ebenso wenig reich waren: Handwerkmeister, Staatsbeamte bis

zum mittleren Dienst, Angehörige der Universität und der Akademie, und Schauspieler

(Demps 45). E.T.A. Hoffmann richtete sein Leben während seines letzten Berlin-

Aufenthaltes an diesem Platz ein. Dutzende von Geschichten und Anekdoten berichten

84 Goethe, Eröffnungsprolog zu Iphigenie auf Tauris (die erste Aufführung im Schinkelschen Schauspielhaus) 94

von seinen tatsächlichen oder angeblichen Eskapaden bei Lutter & Wagner und in

anderen Lokalen am Ort (Safranski 496-503). Seit Sommer 1815 wohnte der

Schriftsteller in einer Wohnung in der Taubenstraße 31, Ecke Charlottenstraße,

gegenüber dem Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, deren Grundriss er realitätstreu

auch im Kunzischen Riss verewigt hat. Für die Wohnverhältnisse in Berlin zu Hoffmanns

Zeiten war die Wohnung in der Taubenstraße ein großzügiges und stattliches Heim.85 Die

Lage der Wohnung des Vetters in seiner letzten Erzählung verweist eindeutig auf den

Gendarmenmarkt:

Dabei liegt aber meines Vetters Logis in dem schönsten Teile der Hauptstadt, nämlich auf dem große Markte, der von Prachtgebäuden umschlossen ist und in dessen Mitte das kolossal und genial gedachte Theatergebäude prangt. Es ist ein Eckhaus, was mein Vetter bewohnt, und aus dem Fenster eines kleinen Kabinetts übersieht er mit einem Blick das ganze Panorama des grandiosen Platzes. (SW 6, 469)

In den folgenden Segmenten wird der in der Erzählung benutzte Ort, der

Gendarmenmarkt aus mehreren Perspektiven untersucht. Zuerst wird seine Funktion als

Marktplatz analysiert, dann die Ästhetik seine malerische Repräsentationen aus dem

Jahre 1822 mit der Erzähltechnik Hoffmanns verglichen. Abschließend widmet sich dieses Kapitel der Wichtigkeit des Schauspielhauses und Schinkels Baukunstphilosophie in Bezug auf Hoffmanns letzter Erzählung.

„...mir entwickelt sich daraus die mannigfachste Szenerie des bürgerlichen Lebens“: Der Markt in Des Vetters Eckfenster

Der am Sonntag stattfindende Wochenmarkt und besonders Gemüseweiber, die auch in

Des Vetters Eckfenster erwähnt werden, stellen auf dem Kunzischen Riss ein signifikantes

85 Vgl. dazu die Beschreibung des Grundrisses der Wohnung in Georg Wirths Aufsatz. 95

Stück der Zeichnung dar. In diesem Sinne sind die Gemüseweiber im Entstehungsjahr der

Zeichnung (1815) realistische Figuren, erscheinen jedoch retrospektiv gesehen auch als poetisierte Figuren, wenn man an ihre Charakterisierung in Hoffmanns letzter Erzählung denkt (1822). Der Markt, von dem sich der Name des späteren Gendarmenmarktes ableitet, findet seine erste Erwähnung unter dem Namen „Friedrichstädtischer Markt.“86

Eine offizielle Benennung hat nie stattgefunden, schreibt der Stadthistoriker Laurenz

Demps, aus der Entwicklung des Platzgedankens ergibt sich die Schlussfolgerung, dass eine Namensgebung nicht nötig war (7). Der Platz war immer ein wichtiger Knotenpunkt, da alle Häuserfronten auf die Straßen zeigten, die sich über den Platz hinweg fortsetzten.

„Friedrichstädtischer Markt“ war eine Ortsbezeichnung in dem Sinne, dass es sich um den Markt in der Friedrichstadt handelte.87

Der Platz wurde unmittelbar westlich der alten Stadtbefestigung als Markt durch die Aussparung von drei Baublöcken aus dem schachbrettartigen Gesamtplan ins Leben gerufen. Nicht nur wegen seiner markanten Rechteckform, sondern auch wegen seiner

Ausmaße unterscheidet er sich wesentlich von mittelalterlichen Marktplätzen

(Behr/Hoffmann 15). Der auf dem mittleren Geviert des überdimensionalen Marktes unter freiem Himmel stattfindende Wochenmarkt ließ mit seinem Markttreiben den Raum zu einem lebendigen Organismus werden. Wie gezeigt, wurde der Platz mehrmals umgebaut bis er sein geschlossenes Bild bekam, jedoch blieb der Markt auch während der größten Bauarbeiten erhalten (z.B. während der Langhans-Theaterbauarbeiten). Der große Marktplatz diente der Versorgung der anwohnenden Berliner, die ihn durch Handel

86 Der Gendarmenmarkt war auch als Mittelmarkt, Großer Markt und Neuer Markt bekannt (Demps 16).

96

und Wandel täglich mit pulsierendem Leben voller Erwerb- und Bürgersinn erfüllten

(Demps 25-32).

Mit den ausführlichen Beschreibungen der verschiedenen Kunden und Waren verewigt Hoffmann die Realien des damaligen Berlins. Im Volksmund hieß der

Gendarmenmarkt auch „Gänsemarkt“, weil auf ihm jeden Mittwoch und Sonnabend in der Stadt der größte Handel mit Gänsen stattfand (Demps 25). Die Gänse als Ware erscheinen auch in Hoffmanns Geschichte. Die Vielfältigkeit der Waren und ihrer

Verkäufer und Käufer macht es eindeutig, dass so eine Literarisierung des

Gendarmenmarktes nur durch die scharfen Beobachtungen des hier wohnenden

Schriftstellers möglich ist, der die Marktereignisse und deren Akteuren genau kennt und sorgfältig befolgt. Die literarische Darstellung des Gendarmenmarktes als Marktplatz ist aber mehr als eine realistische Beschreibung der Berliner Alltage, da der Markt als einen

wichtigen öffentlichen Ort der Stadt angesehen werden kann, der eine neue

Wahrnehmungsform fördert und der von Soziologen und Stadtforscher mehrfach

beschreiben und interpretiert worden ist.

Der mittelalterliche Marktplatz wurde oft als Geburtsort der Stadt beschrieben

und das Marktverhalten im 20. Jahrhundert mit der Großstadtmentalität verglichen. Nach dem Soziologen Hans Paul Bahrdts lässt sich Urbanisierung nach dem Modell des

Marktes beschreiben. Im engen Wechselverhältnis einer öffentlichen und privaten Sphäre

bei ihrer gleichzeitigen Polarität bildet sich ein Sozialverhalten aus, für das das Verhalten

auf dem Markt das Modell darstellt (Bahrdt 63-68). Der Markt bei Bahrdt bedeutet eine

„unvollständige Integration,“ Offenheit der sozialen Intentionalität der einzelnen und

Beliebigkeit der Kontaktaufnahme (64). Das Modell des Marktes als Beschreibung des

97

Großstadtlebens bedeutet auch eine Flüchtigkeit und Unvermitteltheit der Begegnungen

und eine nicht weichende Distanz. Diese Konstellation benötigt neue

Kommunikationsformen. Diesen Verhaltensweisen schreibt der Soziologe eine doppelte

Aufgabe und ein „darstellendes Verhalten“ zu: Einerseits zu verhüllen, was der nur beschränkt kalkulierbaren sozialen Umwelt entzogen werden soll, andererseits ihr all das, was für sie bestimmt ist, deutlich genug zeigen (Bahrdt 66-67).

Der Marktplatz und Warenaustausch sind auch wichtige Ausgangspunkte in

Georg Simmels bekannter Analyse über Großstadtmentalität. „Die Großstädte sind von jeher die Sitze der Geldwirtschaft gewesen, weil die Mannigfaltigkeit und

Zusammendrängung des wirtschaftlichen Austausches dem Tauschmittel eine

Wichtigkeit verschafft“ schreibt Simmel in Die Großstädte und das Geistesleben (191).

Komplexität, Zirkulation, Warenaustausch und Geldwirtschaft sind mit dem Markt verbunden und diese Gedanken, wie Korte in seinem Aufsatz zeigt, erscheinen auch in

Hoffmanns Des Vetters Eckfenster. Der Markt wird bei Hoffmann kein Raum für

Dauerhaftes, sondern ein Ort für das Komplexe. Daneben erscheint der Markt als ein erotischer Ort, in dem die zwei männlichen Erzähler eine Menge von Frauen aus der

Distanz beobachten können. Wir Oesterle beschreibt, wird der Markt bei Hoffmann zu einem Ort „für das Erotische, Wandelbare und Flüchtige“ (Oesterle 2004, 260). Der

Markt mit seinen Vernehmungsnormen und bunten Menschenfülle ist also ein Raum, der als einer der wichtigsten Schauplätze der Geburt der modernen urbanen Wahrnehmung angesehen werden kann.

Der Markt ist auch bei Hoffmann ein komplexer Ort, der mannigfaltig konnotiert wird. Diese Sektion der Dissertation beschäftigt sich mit der Art und Weise, wie

98

Hoffmann durch die Poetisierung des Marktes eine neue Wahrnehmung verbildlicht und

seine Sehschule einführt. Der Marktplatz dient nämlich als Anregung zum Dialog über

eine Sehschulung. Die Erzählung fängt mit dem Beginn des Marktes an und endet mit der

Verminderung der Menge und dem Bild des leeren Marktplatzes. Zur Schulung des

Besuchers gehört auch die Aufklärung über das wahre Wesen des Marktes. Vom Markt

hochkommend charakterisiert der Besucher die untere Welt mit den folgenden Worten:

„Jener Markt bietet dir nichts dar als den Anblick eines schrecklichen, sinnverwirrenden

Gewühls des in bedeutungsloser Tätigkeit bewegten Volks“ (SW 6, 471) Die Reaktion

des Vetters widerspricht der Klage seines Verwandten: „Hoho, mein Freund, mir

entwickelt sich daraus die mannigfachste Szenerie des bürgerlichen Lebens, und mein

Geist, ein wackerer Callot oder moderner Chodowiecki, entwirft eine Skizze nach der

andern, deren Umrisse oft keck genug sind“ (SW 6, 471)

Die Aufnahme der Bilder des Marktes erinnert den Vetter an die Arbeitsweise von

typischen Großstadtmalern aus drei verschiedenen Kulturen, wie der französische

Jacques Callot, der deutsch-polnische Daniel Chodowiecki und der englische William

Hogarth.88 Das Gemälde Der Jahrmarkt von Impruneta von Callot hat Hoffmann

besonders fasziniert.89 Der Kunsthistoriker Sadoul schreibt, „vor Impruneta hat noch kein

Künstler eine ähnliche Menschenmenge dargestellt“ (zitiert nach Oesterle, 1989 108)90

88Oesterle analyiert den Einfluss dieser drei Maler auf Hoffmanns Figurendarstellung und argumentiert, dass die Vielfalt der Figuren durch eine Mischung der Manieren Callots, Hogarths und Chodowieckis ermöglicht wird. So wird eine Figur in Callotscher Manier beschrieben und dann alternativ in Hogartscher satirisch hässlicher Manier oder in humorvoller Chodowieckischer Manier gedeutet (Vgl. dazu Oesterle 1989, 105-110). 89Die Radierung gilt zurecht als Hauptwerk Callots, da es ihm hier in überzeugender Weise gelang, die unzähligen präzise beobachteten Einzelfiguren zu einer großen Menge zu vereinigen, welche sich harmonisch in die lichtdurchflutete italienische Landschaft einfügt. Zusammengehalten durch die rahmenden Bildmotive von Turm und Baum an den Blatträndern, führen die ausgefeilte Perspektive, äußerst differenzierte Hell-Dunkel-Abstufungen sowie die virtuose Lichtführung zu einem Werk von 99

Abbildung 8: Jacques Callot: Der Jahrmarkt von Impruneta, nach 1622

Die Darstellung einer Menge in einem kleinen Raum hat auch Hoffmann beschäftigt. In der Einleitung der Fantasiestücke Callots Manier schreibt Hoffmann in dieser Hinsicht zu Jacques Callot das Folgende:

Warum kann ich mich an deinen sonderbaren fantastischen Blättern nicht satt sehen, du kecker Meister! [...] Schaue ich deine überreichen aus den heterogensten Elementen geschaffenen Kompositionen lange an, so beleben sich tausend und tausend Figuren, und jede schreitet, oft aus dem tiefsten Hintergrunde, wo es erst schwer hielt sie nur zu entdecken, kräftig und in den natürlichsten Farben glänzend hervor. – Kein Meister hat so wie Callot gewusst, in einem kleinen Raum eine Fülle von Gegenständen zusammenzudrängen, die ohne den Blick zu verwirren, nebeneinander, ja ineinander heraustreten, so dass das Einzelne als Einzelnes für sich bestehend, doch dem Ganzen sich anreiht. (SW 2/1, 17)

beispielloser Intensität, das vorbildhaft wurde für die Veduten- und Volksdarstellung späterer Generationen. 90 Laut Katalog der Alten Pinakothek in München sind insgesamt 1138 Männer und Frauen, 45 Pferde, 67 Esel und 137 Hunde auf dem Gemälde abgebildet. 100

Die gleichen Prinzipien erscheinen auch in den einzelnen Bildern, die die Vetter aus dem

Fenster den Gendarmenmarkt anschauend beschreiben. Nicht nur die zahlreichen

Gruppierungen von Menschen und einzelne Gestalten, sondern auch Objekte werden in dieser Weise dargestellt. Die Waren einer Verkäuferin werden zum Beispiel in der folgenden Weise geschildert:

lass uns noch einen Blick auf die dicke gemütliche Frau mit vor Gesundheit strotzenden Wangen werfen, die in stoischer Ruhe und Gelassenheit, die Hände unter die weiße Schürze gesteckt, auf einem Rohrstuhle sitzt und vor sich einen reichen Kram von hellpolierten Löffeln, Messern und Gabeln, Fayence, porzellanenen Tellern und Terrinen von verjährter Form, Teetassen, Kaffeekannen, Strumpfware, und was weiß ich sonst, auf weißen Tüchern ausgebreitet hat, so dass ihr Vorrat, wahrscheinlich aus kleinen Auktionen zusammengestümpert, einen wahren Orbis pictus bildet. (SW 6, 475)

Der Katalog der verschiedenen Handelsgegenstände der erfolgreichen Frau konstituiert ein buntes Bild, das mit Johann Amos Comenius’ Orbis sensualium pictus (Die sichtbare

Welt) verglichen wird. Comenius’ populäres Lehrbuch enthielt doppelseitige Artikel – links mit je einer mit Nummern versehenen Abbildung, rechts mit zweispaltigen

Erläuterungen in lateinischer und deutscher Sprache – über Gott, die Welt, die Elemente,

Pflanzen und Tiere. Comenius zielte mit seinem Buch nicht nur durch Worte, sondern durch Bilder über die Welt zu unterrichten. Das berühmte Werk kann zugleich als die

Erfindung des Schulbuchs und als erstes tatsächlich „multimediales“ Unterrichtsmaterial angesehen werden, das in Hoffmanns Erzählung explizit auch auf die Sehschulung des

Besuchers hinweist.

Die stark visuelle Beschreibung bestätigt, dass der Markt die Hegemonie des

Sehens fördert und eine neue Wahrnehmung verlangt, die erst gelernt werden muss.

Derjenige, der diese Sehschule mit dem Autor unternimmt, kann über den Markt viel lernen. Der Wochenmarkt am Gendarmenmarkt enthüllt eine neue Heterogenität der

101

Einwohner des postnapoleonischen Berlins und zeigt schon Keime der kommenden

kapitalistischen Marktmechanismen. In einer Szene erscheint das vom Vetter selbst

verfasste Buch in der Zirkulation des Marktes. Der Blumenverkäuferin, die an ihrem

Stand sein Werk liest, ist der Beruf des Dichters so völlig fremd, dass sie glauben könnte,

„der liebe Gott ließe die Bücher wachsen wie die Pilze“ (SW 6, 481) Das aus der

Vergangenheit ins Gedächtnis gerufene Gespräch zwischen dem Vetter und der

Blumenverkäufern reduziert sich danach auf das Geschäftliche. Kleinlaut fragt der Vetter

nach dem Preis des Nelkenstocks und zählt das Geld auf. Transaktionen, Verkauf und

Streite „über das leidige Meum und Tuum“ (SW 6, 493) sind wiederkehrende Motive in

der Erzählung. Die von Simmel und Barhdt ausführlich beschriebenen

Marktmechanismen und Verhaltensmuster kann man schon auf dem von Hoffmann

beschriebenen Wochenmarkt der 1820er Jahre in Berlin entdecken.

Anschließend wird der Markt zum Gleichnis des Lebens im allgemeinen. Die rege

Tätigkeit und das Bedürfnis des Augenblicks hat die Menschen nur für ein paar Stunden zusammengetrieben. In den letzten Szenen wird alles verödet, die Stimmen verklingen und die Menschen verlassen den Marktplatz. Der Vetter bleibt alleine und gelähmt ausgeliefert in seinem Zimmer. Die scharfen Beobachtungen werden von dem schriftstellerisch nicht begabten Besucher aufs Papier gebracht und der zum Schreiben unfähige Autor als Opfer der entwickelnden Marktmechanismen und Kapitalismus dargestellt.

Der Wochenmarkt auf dem Berliner Gendarmenmarktplatz und dessen

Teilnehmer dienen als Katalysator für eine Sehschule in Hoffmanns Erzählung. Der Ort

Markt und die von Hoffmann beschriebenen Marktmechanismen und Marktereignissen

102

liefern dabei Beispiele zu den von den Großstadtforschern im 20. Jahrhundert

theoretisierten urbanen Wahrnehmungsformen.

„Weit, hoch, herrlich der Blick / Rings ins Leben hinein!“91: Der gemalte Gendarmenmarkt im Jahre 1822 und die panoramatische Erzähltechnik in Des Vetters Eckfenster

Neben der Vielfältigkeit der dargestellten Transaktionen und Figuren des Sonntagmarktes

trägt die Erzähltechnik Hoffmanns in Des Vetters Eckfenster, als eine stark visuelle

Narrative mit zahlreichen Anspielungen auf verschiedene Maler und malerische

Arbeitstechniken, zur Charakterisierung des Textes als eine der ersten literarischen

Repräsentationen der modernen Großstadtwahrnehmung bei. Im Folgenden werden die malerischen Ansichten des Gendarmenmarktplatzes zur Zeit der Abfassung der

Erzählung untersucht. Der größte Marktplatz der Friedrichstadt wurde in den ersten

Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts außer auf graphischen Blättern und kleinformatigen

Aquarellen auf den Stadtansichten des biedermeierlichen Berlins nicht festgehalten

(Gramlich 171). Jedoch gibt es mindestens zwei Beispiele um und aus dem Jahre 1822,

dem Entstehungsjahr Des Vetters Eckfenster, die bestätigen, dass die Visualisierung des

Gendarmenmarktes mehrere Maler und Architekten beschäftigte. In dieser Sektion der

Dissertation werden Gemälde und Repräsentationstechniken von Carl Georg Adolf

Hasenpflug und Carl Georg Eslen, die im Entstehungsjahr von Des Vetters Eckfenster den Gendarmenmarkt ins Bild gesetzt haben, mit der Erzähltechnik Hoffmanns verglichen.

Carl Georg Adolf Hasenpflug, der zu dieser Zeit im Atelier des

Theaterdekorationsmalers Gropius arbeitete, hat 1822 eine Ansicht des

91 Goethe, An Schwager Kronos (1774) 103

Gendarmenmarktes mit dem Titel Perspektivische Ansicht des neuen Schauspielhauses

und der beiden Thürme auf der Kunstausstellung in Berlin gezeigt (Gramlich 170).

Abbildung 9: Carl Georg Adolf Hasenpflug (1802-58), Perspektivische Ansicht des neuen Schauspielhauses und der beiden Thürme (um 1822)

Im Gemälde bemühte er sich um eine möglichst umfassende Wiedergabe der großen

Platzanlage und ihrer Bauten. Hasenpflug hat in seiner Ansicht eine städtebauliche

Planung Schinkels verbildlicht, die nie realisiert wurde. Das Gemälde ist also trotz der

präzisen und realistisch scheinenden Darstellung keine exakte Wiedergabe des

bestehenden Zustandes, sondern die bildliche Veranschaulichung der Wirkung eines

vorbedachten Umbaus.92

Die Kunsthistorikerin Sybille Gramlich charakterisiert das Bild als die

Repräsentation einer Übergangphase, die die Berliner Malerei zwischen 1822 und 1825

92 Wie Gramlich zeigt, zeugt das Gemälde einerseits von einer direkten Beziehung zwischen dem Maler und dem Architekten Schinkel, andererseits darüber, dass die ideale bauliche Situation des Platzes die Fantasie der damaligen Maler beschäftigt hat (172). 104

erfuhr. Die Farbigkeit des Ölgemäldes, der lang auseinandergezogene Aufbau des Bildes,

der hochgelegene Standort und die Vereinzelung der Staffagefiguren, deren Aktivitäten

jedoch schwer identifizierbar dargestellt sind, bringen das Werk mit den Berliner und

Potsdamer Ansichten des 18. Jahrhunderts in Beziehung (Gramlich 171). Wie die

Gruppen der Figuren wirkt auch die Architektur isoliert im Bild. Die realitätsnahe

Darstellung des Platzes, die zahlreichen Gruppierungen von Menschen und die Absicht

des Malers, ein größtmögliches Segment des Platzes auf die Leinwand zu bringen, was

sich in der Verzerrung der traditionellen Perspektive manifestiert, erzeugen

Repräsentationstechniken, die die späteren Panoramagemälde charakterisieren.

Die zweite Ansicht stammt von Carl Georg Enslen um 1822. Carl Georg Enslen gehörte zu den berühmtesten Kleinpanoramisten in Berlin. Das von Enslen gemalte Bild vom Gendarmenmarktplatz aus 1822 ist jedoch ein großflächiges Ölgemälde.

Abbildung 10: Carl Georg Enslen, Blick auf den Gendarmenmarkt (1822) Auf dem Gemälde zeigt sich das 1821 eröffnete Schauspielhaus in strahlendem Glanz.

Das Schinkelsche Theater ist betont der Mittelpunkt der symmetrischen Platzanlage. Den

städtebaulichen Raum und den öffentlichen vom Theater dominierten Platz begrenzen

105

zum Teil repräsentative Wohnbauten. Die Umgebung und die nebenliegenden Straßen

sind wegen der realistischen Abbildung einfach zu identifizieren.93 Die Westseite des

Platzes bildet eine Häuserzeile an der Charlottenstraße (Behr/Hoffmann 58). Hinter dem

Schauspielhaus kann man auch das Eckfenster von Hoffmanns Berliner Wohnung in der

Taubenstraße entdecken.

Ähnlich dem Gemälde von Hasenflug hat der Maler versucht, eine möglicht breite

Ansicht des Platzes zu veranschaulichen. Diese Darstellungsweise und die zahlreichen

und genau dargestellten Marktszenen mit Verkäufern, Kunden und Waren vor dem

Deutschen Dom evozieren die Detailliertheit der damaligen Panoramen. Die Ästhetik des

Bildes ist dem ersten Beispiel mehrfach ähnlich. Realistische Figuren aus verschiedenen

gesellschaftlichen Schichten, die den Platz erfüllen, der erhobene Stadtpunkt und der lang ausgezogene Aufbau des Bildes charakterisieren beide Ansichten. Das majestätische

Theater befindet sich in beiden Fällen in der Mitte der Komposition zwischen den zwei

Domen. Beide Ansichten zeugen vom Einfluss, den die zeitgenössische Panoramamalerei auf die Vedutenansichten ausgeübt (erhöhte und verzerrte Perspektive, Überblick über die Stadt oder einen Ort, möglichst realitätsnahe Darstellung) hat.

Alle genannten Merkmale sind auch Kennzeichnen der gleichzeitigen Panorama-

Malerei, deren vorrangiges Anliegen in der möglichst realitätsnahen Schilderung des

Motivs bestand. Panorama bezieht sich auf ein Genre, das seit dem Beginn des 19.

Jahrhunderts überall in Mode war. Ihre Erfindung reicht ins Jahr 1787 zurück und hat ihre Wurzeln in der Illusionskunst der barocken Theatermalerei. Der Grundgedanke des

Panoramas ist es, ein so kunstvoll-künstliches Bild zu liefern, dass der Betrachter in ihm

93 Südlich vom Schauspielhaus verläuft die Taubenstraße zur Mauerstraße, and der Nordseite des Theaters befindet sich die Jägerstraße, dann gleitet der Blick über die Marktgrafenstraße zur Behrenstraße. 106

„nicht die gemalte, sondern die reale Natur zu sehen, zu haben“ glaubt (Oettermann 41).94

Der Erfinder der Panoramen war Robert Barker aus Edinburgh, der 1792 in London sein erstes Rundgemälde mit einer Darstellung der englischen Flotte gezeigt hatte. Um die

Jahrhundertwende war es auch in Paris und in Berlin soweit. Neben den beliebten

Panoramen mit Darstellungen großer Städte waren nunmehr auch Landschaften, später besonders Schlachtdarstellungen gefragt. Das beliebteste Sujet von Panoramen war jedoch die Großstadt: Der Erfinder Barker hatte für seine ersten Rundbilder die Ansichten von London und Edinburgh gewählt; in Paris folgte man diesem Beispiel mit einer

Darstellung der französischen Hauptstadt und das erste Berliner Panorama bot die

Ansicht Roms von den Ruinen der Kaiservilla aus (Buddemeier 22).95 Nach Oettermann

was das Panorama die erste Kunstform, die auf die optischen Bedürfnisse einer

anonymen Großstadtmesse reagierte. Es war die rapide wachsende städtische

Bevölkerung, die mit ihren Eintrittskarten die Herstellung und Ausführung des

Massenmediums Panorama ermöglichte (45). Das gemalte Panorama ist das Resultat

einer Entwicklung zu einer möglichst detailgetreuen Wirklichkeitsabbildung.

Um die Eigenartigkeit dieser Repräsentationen zu einem bestimmten Zeitpunkt in

einem breiteren Kontext zu akzentuieren, soll eine dritte Ansicht des Gendarmenmarktes,

94 Vgl. dazu: „Der Zweck dieser neuen Art von Mahlerey soll seyn, zu zeigen, wie weit die Kunst die Blendwerke der Täuschung treiben kann“ (Johann August Eberhard, Handbuch der Ästhetik, Halle, 1807; zitiert nach Buddemeier 173). 95 Dabei wählten die Maler in allen drei Fällen ihren Standort so, dass hinter der Stadt die umliegende Landschaft sichtbar wurde und der Zuschauer den Eindruck gewann, die vor ihm liegende Stadt sei in die Natur eingebettet. Bei der Wahl dieses Sichtpunktes ist zu bedenken, dass im 19. Jahrhundert die Hauptstädte sprunghaft anwuchsen und Dimensionen annahmen, durch die den Bewohnern der Stadt der Zugang zur Natur beinahe abhanden kam. Es ist höchst bezeichnend, dass bei dem Versuch, einen verlorenen Zustand vorzutäuschen, Mittel verwendet wurden, die jener technischen Revolution entstammten, die für die Veränderung der Städte verantwortlich waren.

107

Der Gendarmenmarkt im Winter von Eduard Gaertner aus dem Jahre 1857, untersucht

werden. Die wesentliche zeitliche Differenz zwischen den obigen zwei Ansichten und

Gaertners Gemälde soll zeigen, wie sich die malerische Darstellung des Platzes während

des 19. Jahrhunderts verändert hat.

Abbildung 11: Eduard Gaertner, Ansicht des Gensd’armen-Marktes hieselbst (1857)

In diesem Gemälde benutzt der Maler keinen erhöhten Standpunkt, so dass der Blick der

Zuschauer auf den Platz begrenzt ist. Die Betonung der linearen Bildelemente, die

Architektur des Platzes und der niedrige Standort des Malers sind entscheidende

Merkmale der späteren Berlin Stadtansichten. Die Lichtführung mit deutlicher

Unterscheidung in Licht- und Schattenzonen setzen jedoch den Akzent auf das

Schauspielhaus: Die zwei Kirchen liegen teilweise im Schatten und das Theater wird dagegen von der Sonne beschienen. Der deutsche Dom und der um die Kirche stattfindende Wochenmarkt dominieren das Bildfeld und die Staffagefiguren sind

108

voneinander weniger abgesondert als in den früheren Darstellungen. Sie beleben das

Gemälde bis zum Vordergrund und werden in ihren vielfältigen Beschäftigungen

detailgenau erfasst und ebenso sorgfältig wie die Architektur behandelt und damit zum

gleichberechtigten Teil des künstlerischen Gesamteindrucks.

Der Vergleich soll demonstrieren, dass die ersten zwei Bilder keinen

vollständigen Rundblick, sondern eine optisch-perspektivistisch täuschende breitmöglichste Schau des Platzes darbieten und in dieser Weise mit den

Repräsentationstechniken der damaligen Panoramen in Verbindung gesetzt werden können. Neben diesen Gemälden zeigen Schinkels frühe optisch-illusorische

Bühnendekorationen, die Hoffmann in dem gegenüberliegenden Theater gesehen hatte dass sich die Wahrnehmungswelt der damaligen Berliner wegen der verändernden

Sinneseindrücke in der wachsenden preußischen Hauptstadt wesentlich verwandelt hat.96

Wenn man die Umgebung des Gendarmenmarkte ebenfalls in Betracht zieht, soll

auch die Ausstellung der sog. Enslersche Zimmerreise in diesem Kontext erwähnt

werden. Der Panoramaforscher Stephan Oettermann stellt fest, dass Deutschland in der

Herstellung von Kleinpanoramen, sowohl was die Menge als auch was ihre technische

Perfektion und Qualität angeht, eine führende Rolle spielte. Die bekanntesten

Kleinpanoramisten waren alle aus Berlin wie zum Beispiel Wilhelm Ernst Gropius

(1765-1852), Vater von Carl Wilhelm Gropius, der von 1827 bis 1850 in Berlin mehrere

Dioramen zeigte. Zwischen 1816 und 1865 war die ‚malerische Zimmerreise’ von Enslen mit Ausnahme von Finnland, den Balkanstaaten und Spanien in jedem Land Europas

96 Karl Friedrich Schinkel malte seit 1806 regelmäßig Panoramen für Gropius, bevor er sich als Architekt einen Namen machen konnte. Er schuf mehrere Zyklen „perspektivisch-optischer Gemälde,“ die mit wechselnder Beleuchtung und mit Musik- und Gesanguntermalung mit Landschaften, Stadtansichten und Architekturphantasien ein begeistertes Publikum fanden. 109

ausgestellt, durchweg mit besten Kritiken (Oettermann 182). Die große Sammlung von

Landschafts- und Stadtansichten muss sehr interessant für das Publikum gewesen sein.

Die sog. Enslenschen Phantasmagorien, wie man diese Zimmerausstellungen nannte,

erscheinen auch in mehreren Berlinischen Geschichten (Sylvesternacht, Fragment aus

dem Leben dreier Freunde).97 Oettermann sagt sogar, dass Des Vetters Eckfenster ihre

literarische Form „ganz von der Präsentation des Enslenschen ‚Zimmerreise’“ geborgt hat

(182).

Abbildung 12: Explanation of The Cosmorama, 29 St. James’s

Oettermanns Forschung zeigt auch, dass die berühmte Zimmerreise zur Zeit der

Abfassung des Textes ganz in der Nähe der Wohnung des Autors am Gendarmenmarkt in

Berlin ausgestellt wurde (182).

Die Doppelbegabung Hoffmann hat frühzeitig erkannt, welches Potential in der

Panoramakunst, besonders in Schinkels Theaterdekorationen steckt, die er selbst als

Bühnenmaler betrieb. Im Theatergebäude auf dem Gendarmenmarkt wurden zur Zeit von

Hoffmanns letztem Berlin-Aufenthalt oft innovative Gemälde zu Theaterdekorationen

97 Vgl. dazu auch Ricarda Schmidt 95. 110

benutzt. Am 16. 8. 1815 denkt Hoffmann in einem Brief an Fouqué sogar über ein

Engagement Schinkels „wegen der UndineDekoration“ nach (Briefe 70). Schinkel hatte jedoch bis dahin keine Bühnenbilder gemalt (Oettermann 160). Nur durch die Panoramen bei Gropius konnte Hoffmann von seinen Fähigkeiten wissen, die er zugleich für das

Theater benutzen wollte. Am 3. August 1816 fand letztendlich die Uraufführung der Oper mit Schinkels Dekorationen statt, am 29. Juli 1817 brannte das Schauspielhaus ab.

Hoffmann hat von seiner Wohnung aus mit grimmigem Humor und selbst nicht ungefährdet dem Brand zugesehen, bei dem auch alle Dekorationen zur Undine vernichtet wurden.98 Diese Erfahrungen setzen nicht nur eine Bekanntschaft mit den

Panoramagemälden voraus, sondern auch eine Beschäftigung mit der Technik ihrer

Entstehung.

Die Gemälde, die Bühnenbilder, die Panoramaausstellungen und nicht zuletzt der im ersten Kapitel diskutierte Kunzische Riss demonstrieren, dass die Umgebung des

Gendarmenmarktes zu Beginn des 19. Jahrhundert in Berlin nicht nur ein höchst komplexer Stadtraum geworden ist, sondern auch ein Platz, auf dem und in dessen

Umgebung nach einer bildlosen Zeit die Einwohner und Besucher Berlins mit Bildern und neuen visuellen Reizen bombardiert wurden. Eine zentrale Frage in der Analyse von

Hoffmanns Text ist, wie sich der äußerst komplexe und vielfältige urbane Raum so erfassen und beschreiben lässt, dass er dem Leser und dem Geschichte abschreibenden

Vetter zugänglich wird. Der Vetter will seinem Besucher etwas Neues beweisen: „Auf

98 Vgl. dazu: „Ich könnte Ihnen erzählen, dass ich bei dem Brande des Theaters von dem ich nur 15 bis 20 Schritt entfernt wohne, in die augenscheinlichste Gefahr geriet da das Dach meiner Wohnung bereits brannte, noch mehr! – dass der Credit des Staats wankte, da, als die Perückenkammer in Flammen stand und fünftausend Perücken aufflogen, Unzelmanns Perücke aus dem Dorfbarbier mit einem langen Zopf, wie ein bedrohliches feuriges Meteor über dem Bankgebäude schwebte – doch Ihnen alles der Zauberer mündlich erzählen und hinzufügen, dass beide gerettet sind, ich und der Staat” (25. November 1817 an Adolph Wagner). 111

Vetter! ich will sehen, ob ich dir nicht wenigstens die Primizien der Kunst zu schauen beibringen kann.“ (SW 6, 472) Das Ziel der Übung ist die Erfahrbarkeit des

Marktgeschehens, die Überwindung des Schwindels und ein deutliches Schauen. Auch die Berichte, dass „zartnervige Damen“ und „junge Stutzer“ in den ersten Panoramen seekrank wurden und Schwindel erlebten, sind nach Oettermann zahlreich (13).

Wenn Hoffmann in Des Vetters Eckfenster den besuchenden und den Dialog abschreibenden Vetter bemerken lässt, dass der gelähmte Schriftsteller von seinem

Fenster aus „mit einem Blick das ganze Panorama des grandiosen Platzes“ übersieht (SW

6, 472), impliziert diese Aussage ein umfassendes Wissen über das neuartige künstlerische Verfahren. Der Vetter erteilt seinem Besucher eine Lektion in der panoramengleichen Erfassung der Welt. Die Position des Vetters und seines Besuchers an einem erhöhten Eckfenster macht die spezifische Struktur und die Thematik der

Erzählung aus. Die Vetter können den ganzen Marktplatz überblicken. Gleichzeitig verlieren sie mit dem Gewinn an Blickfreiheit die Wahrnehmbarkeit des Geschehens durch ihre anderen Sinne. In dieser Weise hat das Auge den Primat in der Wahrnehmung, genau wie im Fall der Panoramenbesucher. In diesem Sinne hat das Auge den Primat in der Wahrnehmung, die fast ausschließlich auf visuelle Details reduziert ist. Wie aus der

Erzählung zu Tage kommt, ist diese neue Technik kein künstlerischer Selbstzweck, sondern eine bittere Notwendigkeit. Dieses neue, panoramengleiche Verfahren versetzt den Vetter in die Lage, eine Krise zu überwinden, die nicht nur persönlicher, sondern allgemeiner, gesellschaftlicher Natur ist. Schon der Titel der Erzählung zeigt, dass es in

112

der Geschichte weniger um bestimmte Handlungen geht als vielmehr um eine bestimmte

Art der Wahrnehmung.99

Der Vetter leitet seine Belehrung über die „Primizien der Kunst zu schauen“ mit

folgenden Worten ein: „Gut Vetter, das Fixieren des Blicks erzeugt das deutliche

Schauen“ (SW 6, 475). Wie während des gesamten Gesprächs immer wieder deutlich

wird, ist mit dem „Fixieren des Blicks“ das Fixieren von Details gemeint. Das begründet

auch den Gebrauch des Fernglases, das die oben beschriebene Fixierung ermöglicht. Das

Fernglas ermöglicht dem Vetter, die zahlreichen Waren einer Händlerin beschreiben zu

können.100 So enthüllt eine „blutrote, noch dazu ziemlich mannhaft gebaute Faust“ eine

rätselhafte Person (SW 6, 474). Die detaillierte Beschreibung der physischen Details

kommt auch in der zeitgenössischen Popularität von Physiognomielehren zu Tage und

dem Vetter sind diese Theorien bekannt.

Wie die Panoramenmaler lässt der Vetter nicht das kleinste Detail versteckt, damit

seine Hypothesen überzeugend klingen. Wie in der Leinwand der Panoramen gibt es

keine offenkundige hierarchische Ordnung unter den betrachteten Figuren in den

Beschreibungen der Einzelgestalten bzw. Gruppierungen, jeder Figur kommt das gleiche

Interesse zu. Keine Figur dominiert in der Erzählung und es gibt auch keine

wiederkehrenden Gestalten, nur ein scheinbar beliebiges Hin- und Herspringen zwischen

den Menschen. Das mit dieser Technik skizzierte Gesamtbild ist in diesem Sinne eher

polyperspektivisch als zentralperspektivisch organisiert. Wie der Blick des

99 Die Erzählung wurde für die Zeitschrift Der Zuschauer geschrieben. Zur Relevanz dieser Zeitschrift siehe Schirmer 66. 100 Mehr dazu siehe Stadlers Aufsatz über „Brillen, Lorgnetten, Fernrohren und Kuffischen Sonnenmikroskopen“ in Hoffmanns Erzählungen. 113

Panoramenbesuchers über die Leinwand springt, so fordert Hoffmann seine Leser zum beständigen, oft abrupten Wechsel der Perspektive.101

Der Einsatz des Fernglases modifiziert jedoch den ständigen Wechsel der

Perspektive mit der Fixierung einer Szene. Der Blick durch das Fernglas nimmt eine einzige, gut beobachtbare Szene aus dem Gesamtbild aus und trägt zum detailgenauen

Schauen bei. Die vom Vetter erwähnte „Fixierung des Blickes“ auf ein Detail bedeutet die Reduktion des komplexen Geschehens auf kleine Ausschnitte. Diese Reduktion des

Geschehens auf ein Detail wirkt aber lähmend für nach einer Übersicht strebenden

Vetter.102 Die durch das Fernrohr beobachteten Details haben eine wichtige Funktion:

Sie setzen die Phantasie in Gang.103 Wie in den früheren Berlinischen Geschichten dienen die konkreten Beschreibungen als Katalysator zum Erzählen, aber die Geschichten sind in

Des Vetters Eckfenster eher plausibel als fantastisch. Als Beispiel kann die Beschreibung des Besuchers über zwei alte Marktweiber angegeben werden: „in der Tat ein paar auffallende Physiognomien! welches dämonische Lächeln - welche Gestikulation mit den dürren Knochenarmen!“ (SW 6, 474). Diese Abfassungen beschreiben die beiden Figuren als zwei außerordentliche Charaktere. Der Vetter relativiert jedoch die Beobachtungen des Besuchers durch realistische Schilderungen: „Die Weiber sitzen beständig beisammen [...] haben sie sich doch bis heute stets mit feindseligen Blicken angeschielt“

(SW 6, 475). Der erfahrene Vetter wird mit seinen Ergänzungen zum Komponist des

101 Eine ausgezeichnete Analyse dieser Bewegung (sog. „punctum saliens“) in der Erzählung liefert Gerhard Neumann (233-35). 102 Ulrich Stadler schreibt in diesem Zusammenhang das Folgende: „Der Blick durchs Fernglas lässt das Ferne nah, das Kleine groß erscheinen; er verzerrt die Proportionen und isoliert vor allem das Wahrgenommene von seinem Umfeld. Die Zerstörung des gewohnten Zusammenhangs fordert in hohem Maße die Phantasie des Betrachters heraus, neue Zusammenhänge ins wahrgenommene Bild hineinzusehen. Die Imagination wird entzündet - gerade durch die „Fixierung des Blicks“ auf ein Detail, das immer als ein Detail von etwas erkannt sein möchte.“ (507) 103 Oesterle schreibt darüber, dass die „beschreibende Oberflächenwahrnehmung des Besuchers im Rollenspiel der Gesprächspartner immer wieder ans Phantastische grenzt“ (1987, 14). 114

Blicks seines Besuchers, da er den Marktplatz und seine Teilnehmer schon gut kennt. Der

Zeitausdruck „beständig“ zeigt auch, dass er die Frauen schon auch in der Vergangenheit beobachtet hat.

Seine Augen kennen auch die Stützpunkte des Marktes:

Indem ich den ganzen Markt überschaue, bemerke ich, daß die Mehlwagen dort, über die Tücher wie Zelte aufgespannt sind, deshalb einen malerischen Anblick gewähren, weil sie dem Auge ein Stützpunkt sind, um den sich die bunte Masse zu deutlichen Gruppen bildet. (SW 6, 490-91)

Diese Funktion entspricht genau der, die bei der Panoramenmalerei der auf der Plattform sich befindliche Inspekteur zur Aufgabe hat.104 Wie der Vetter hat er durch seine distanzierte Beobachtungsposition eher das Gesamtbild im Blick. Das erlaubt es ihm, die

Ausführungen der einzelnen Maler (hier die des schreibenden Vetters) zu lenken. Dies tut auch der Vetter, wenn der Besuchende zu lange Zeit mit der Beschreibung einer Figur verbringt und er seinen Blick auf eine neue Gestalt lenkt.105 Sowohl bei der Produktion eines Panoramas als auch beim dichterischen Verfahren des Vetters lässt sich eine

ähnliche Arbeitsteilung erkennen. Jedes Einzelstück muss stimmen, aber es darf niemals den Rahmen überschreiten.

Auf der Leinwand des vollendeten Panoramas und der Vedutenansicht muss jedes

Detail möglichst realitätstreu abgebildet sein. Die fertige Leinwand soll ein geschlossenes, den Betrachter komplett umgebendes Ganzes bilden, damit sein Blick nie auf eine Lücke trifft, die die Illusion zerstören kann. Wenn man diese Regel auf die

Erzählung anwendet, kommt der Unterschied zwischen den zwei Medien zu Tage.

104 Siehe dazu auch Eicher, der in seinem Aufsatz einen ausgezeichneten produktionsästhetischen Vergleich zwischen der Panoramamalerei und Hoffmanns Primärtextes liefert (367-70). 105 Vgl. dazu: Vetter: „Ehe wir uns von der Theaterwand abwenden, lass uns noch ein Blick auf die dicke gemütliche Frau mit vor Gesundheit strotzenden Wangen werfen...“ (SW 6, 475) oder Vetter: „Still, still, Vetter, genug von der Rosenroten! – Betrachte aufmerksam jenen Blinden, dem das leichtsinnige Kind der Verderbnis Almosen spendete“ (SW 6, 487). 115

Einerseits handelt es sich bei dem Marktplatz um ein Durcheinander, das niemals

stillzustehen scheint. Figuren kommen und gehen und oft verlassen sie den Marktplatz.

Andererseits beschreiben der Vetter und sein Besucher gerade nicht alle Figuren, die sich

auf dem Marktplatz darbieten, so dass es weiße Flecken im Gesamtbild gibt.

Auch wenn der Vetter kein fertiges, allumfassendes Panorama erstellt, so zeigen

doch viele seiner Bemerkungen, dass er ein ähnliches Vorhaben zum Ziel hat. An vielen

Stellen der Erzählung wird deutlich, dass der Vetter bestimmte Figuren und

Gruppierungen schon lange und sorgfältig beobachtet hat.106 Er sieht die eigentlich unsichtbaren Details, weil er sie schon lange und sorgfältig betrachtet hat. Nur weil er ein

detailliertes Panorama im Kopf hat, kann er die Handelsgegenstände der von der

Theaterwand sitzenden „dicken, gemütlichen Frau“ (SW 6, 475) beschreiben oder die

Gesichtsausdrücke des lesenden Blumenmädchens schildern.107

Ein paar Bemerkungen, die als Rahmen der Erzählung funktionieren, machen

sogar explizit, dass das Ziel des Vetters auch um die Beschreibung eines Gesamtbildes

geht. In den ersten Seiten der Erzählung stellt der Vetter fest, dass sich ihm aus dem

Anblick des Marktplatzes die „mannigfachste Szenerie des bürgerlichen Lebens“

entwickelt (SW 6, 471). Am Ende der Erzählung wird dieses Bestreben noch deutlicher,

besonders im folgenden Satz: „Dieser Markt [...] ist auch jetzt ein treues Abbild des ewig wechselnden Lebens“ (SW 6, 497) Die Rahmen der Erzählung streben nach einem

allumfassenden Bild, in dem alle Details und alle Figuren des Marktes ihren Platz finden

106 Vgl. dazu: Vetter: „Genug habe ich mir schon über diese exotische Figur den Kopf zerbrochen“ (SW 6, 484). 107 Vgl. dazu: „Sie saß wie in einer dichten Laube von blühenden Geranien und hatte das Buch aufgeschlagen auf dem Schoße, den Kopf in die Hand gestützt. Der Held mußte gerade in augenscheinlicher Gefahr oder sonst ein wichtiger Moment der Handlung eingetreten sein; denn höher glühten des Mädchens Wangen, ihre Lippen bebten, sie schien ihrer Umgebung ganz entrückt“ (SW 6, 480). 116 sollen. Das Gesamtbild, das der Vetter aus dem Gesehenen in einen Text überträgt wird als eine Darstellung des „ewig wechselnden Lebens“ charakterisiert (SW 6, 497). Mit diesem Wechsel wird jedoch am Ende der Erzählung einen Stillstand ins Leben gerufen.

Wenn alles beweglich und wandelbar ist, dann passiert eigentlich nichts wirklich, ähnlich wie auf der starren Panoramenleinwand.

Im Vergleich mit den Stadtgemälden aus dem Jahre 1822 ist es auch augenfällig, dass Hoffmann den unteren Teil des Gendarmenmarktplatzes, architektonisch die Treppe und die unteren Türöffnungen des Schauspielhauses, im Fokus hält. Obwohl in beiden malerischen Repräsentation, sowie in der Erzählung, den Platz aus einer erhöhten

Perspektive angenähert wird, werden die Leute und die Marktereignisse in Hoffmanns

Fall viel detaillierter geschildert -- ähnlich wie man im visuellen Bereich in der späteren

Darstellung des Marktes von Eduard Gaertner aus 1857 beobachten kann. Hoffmann charakterisiert die Architektur des Platzes als „kolossal“ und „genial gedacht“, jedoch erwähnt er explizit davon nur ein paar Details, zu deren Schilderung die erhöhte Position unnötig ist. In den Vedutengemälden spielen im weiteren auch die das Schauspielhaus umrahmenden Dome eine wichtige Rolle, so dass eklesiastische Architektur mit den profanen verbunden wird, während sie bei Hoffman gar nicht erwähnt werden.

Die Maltechnik der obigen Repräsentationen des Gendarmenmarktes und

Schinkels und Gropius’ illusionistischer Bühnenbilder und das poetische Verfahren des

Vetters stimmen daher keinesfalls exakt überein. Das ist schon deshalb unmöglich, weil die Maler und der Vetter sich unterschiedlicher Medien bedienen, die ihren Gegenstand letztlich immer unterschiedlich abbilden. Der Vetter ist kein Panoramenmaler, und es ging Hoffmann mit Sicherheit nicht darum, die Anwendbarkeit eines Verfahrens der

117 bildenden Kunst für die Literatur zu prüfen. Die Verknüpfungen sitzen tiefer, sie wurzeln in dem historischen Moment, in dem sowohl das Panorama, Gropius und Schinkels

Bühnendekorationen als auch die Erzählung entstanden sind. Fasst man es sehr allgemein, so zeichnet sich die Zeit um die Jahrhundertwende durch eine Flut neuartiger

Signale, Reize und Erfahrungen aus, die von den damaligen Subjekten nicht sofort verarbeitet werden konnten. Zu diesen sinnverwirrenden neuen Erfahrungen gehören die

Eroberung neuer Sehräume durch die Entdeckung des Horizontes,108 die Veränderungen, die die Napoleonischen Kriege mit sich brachten und die Herausbildung der modernen

Großstadt.

Diese Veränderungen schufen einen Bedarf nach neuen Wahrnehmungsformen, nach einer neuen Positionierung des Subjektes zu seiner Umwelt, mit denen es diese wieder verarbeiten konnte. Die panoramengleiche Wahrnehmungsform, wie sie sich an der Malerei und in Des Vetters Eckfenster in ihren Grundzügen ablesen lässt, sind

Denkmäler von dieser nicht nur räumlichen, sondern auch psychischen und ästhetischen

Neupositionierung. Ebenso wie das Panorama stellt die Erzählung eine Lektion in dieser neuen Form der Wahrnehmung dar. Oettermann fasst mit den folgenden Worten treffend zusammen, wie Rundgemälde und seine Vorläufer (Theaterdekorationen, Stadtbilder mit verzerrten Perspektiven, Zimmerpanoramen und Dioramen) zur Schule des Blicks geworden sind:

108 Vgl dazu die folgende Beschreibung: „Horizont, Hoffnung, Kerker, Montgolfiere, Seh-Sucht und Seh- Krankheit. – In keiner anderen Zeit als dieser konnte das Panorama erfunden werden. [...] Die Entdeckung des Horizonts, die Befreiung des Blicks und zugleich das diffuse Kerkergefühl der Zeit materialisiert sich im Panorama vollkommen: scheinbar den freiesten Blick auf die unverstellte Landschaft bietend, umstellt es den Betrachter vollkommen und viel enger als alle anderen Versuche bildlicher Wiedergabe von Landschaft vorher. Das Panorama, ein Gemälde ‚sans bornes’, in dem der ‚Augenaufschlag des Bürgertums’ sich selbst feiert, ist zugleich ein vollkommener Kerker des Blicks“ (Oettermann 18).

118

Im Rundgemälde etabliert sich das Erlebnis des Horizonts als Kunstform; indem es so an Dauer gewann, wurde das Panorama zur Schule des Blicks, zum optischen Simulator, in der der extreme Sinneseindruck, das sensationelle, weil ungewohnte Erlebnis immer wieder und wieder geübt werden konnte, bis es zur Selbstverständlichkeit und zum alltäglichen Bestandteil menschlichen Sehens wurde. (19)

Hoffmanns Erzählung leistet so eine ästhetische Sehschule im Medium der Literatur

sowie die zeitgenössischen Gemälde über den Gendarmenmarkt aus dem Entstehungsjahr

Des Vetters Eckfenster.

„Eine Stadt ohne Theater ist wie ein Mensch mit zugedrückten Augen, wie ein Ort ohne Luftzug, ohne Kurs“: Die Bedeutung des Schinkelschen Theaters in Des Vetters Eckfenster

Im letzten Segment des Kapitels soll das von Schinkel entworfene Schauspielhaus und seine Bilder auf Hoffmanns Text übertragen werden. In der Mitte des Kunzischen Risses dominiert das Langhanssche Theatergebäude, das die Anwesenheit des Spielhauses auf dem Platz als die wichtigste Attraktion des Gendarmenmarktes konnotiert. Auch die

Bauarbeiten an dem Schinkelschen Theater in den ersten Jahren der 1820er faszinierten

Hoffmann, der in seinem Tagebuch and Briefen immer wieder die neuesten

Sehenswürdigkeiten der Baustelle beschreibt: „Man kann einen ganzen halben Tag und länger schwelgen, wenn man bloß in den neuen Theaterbau hineingeht ... am Theater arbeiten die ersten Künstler, und man kann ohne Übertreibung sagen, dass die kleinste

Verzierung ein wahrhaftes Kunstprodukt ist“ schreibt er unter anderem Hippel am 30.

August 1816 an seinen Freund (II, 98).109 Hoffmann hatte eine vielfältige Beziehung zu

beiden Gebäuden (sowohl zu dem Langhansschen, als auch dem Schinkelschen Theater):

109 Vgl. auch dazu: “… die Dekorationen, die aber auch das genialste der Art sind, die ich jemals gesehen” (II, 98). 119

Seine einzige Oper wurde dort aufgeführt, er sah dem Feuer und der Vernichtung des

ursprünglichen Theaters aus seinem Fenster zu und war am Eröffnungsabend des neuen

Theaters anwesend.

Um 1800 bekommt das Theater eine führende Rolle in der preußischen

Architektur. Obwohl der Entwurf des Nationaltheaters keine öffentliche Aufgabe war und der König autoritär über die Ausführung des Baues entschied, gab es mehrere miteinander konkurrierende architektonische Pläne (Gerlach 216, Bergdoll 15). Gillys

Nationaltheaterprojekt von 1800 war einer der ersten modernen Bauentwürfe, der jedoch nicht verwirklicht wurde. Nach der Vernichtung des Langhansschen Baus war Schinkels

Schauspielhaus in Berlin ein ebenso wichtiges Projekt, das, wie Marianne Thalmann es beschreibt „auf das kühle Blau und Silber einer Novaliswelt gestimmt“ (21) war. Obwohl der Theaterplan von Langhans statt Gillys Entwurf in den Jahren 1801-1802 von dem

König realisiert wurde, arbeitete Gilly an seinem Projekt in den nächsten Jahren weiter.

Der Kunsthistoriker Berry Bergdoll charakterisiert Gillys Projekt mit den folgenden

Worten:

His [Gilly’s] studies for the stagehouse and auditorium include numerous views that transform the perspectival frames of the Frederick the Great monument into stage sets, creating an architectural experience in the illusory space of the theater, where a heroic public realm could be projected, anticipating the changes on the real urban stage where new social and political realities were beginning to emerge. (Bergdoll 15)

Die Zeichnung des nie gebauten Theaters erbte sein begabtester Student, Karl Friedrich

Schinkel.110 Auf den Spuren von Gilly hatte Schinkel vor, mit dem neuen Theater einen

dramatischen Hintergrund zu den Ritualen und täglichen Aktivitäten des Berliner

bürgerlichen Lebens zu schaffen. Sein Ziel war die traditionelle Rolle des Theaters zu

110 Vgl. dazu Bergdoll 60. 120

verändern und das Gebäude mit den benachbarten Domen in Dialog zu setzen. Nach

Schinkels Auffassung sollte das Theater ein allen Menschen zugänglicher Raum sein,

„wo sich Vergnügen mit Unterricht, Ruhe mit Anstrengung, Kurzweil mit Bildung gattet,

wo keine Kraft der Seele zum Nachteil der andern gespannt, kein Vergnügen auf

Unkosten des Ganzen genossen wird“ (zitiert nach Bergdoll 61). Schinkel wollte mit

seiner Architektur die menschlichen Beziehungen und Charaktere veredeln im

Schillerschen Sinne der „ästhetischen Erziehung des Menschen“ und die

Demokratisierung der Berliner Gesellschaft fördern.

Die Bereitstellung des neugestalteten Platzes für eine öffentliche Nutzung und die

Anziehung großer Menschenmengen wirkten beschleunigend auf die städtebauliche

Entwicklung Berlins. Schon mit dem Erbauen des Langhansschen Theaters entstand auf

dem Gendarmenmarkt vor dem Theater ein öffentlicher Platz und öffentlicher Raum.111

Mit Schinkels Projekt wurde jedoch diese Idee weiterentwickelt, was sich unter anderem im Inneren des Theaters manifestierte. Der Zuschauerraum war eine Kombination aus

Rang- und Logentheater, bei dem Schinkel ausdrücklich an gutes Hören und Sehen gedacht hatte und weniger an das übliche Sich-selbst-zur-Schaustellen des Publikums.

Dies wurde auch in den Seltsamen Leiden eines Theaterdirektors von Hoffmann diskutiert. Die drei Ränge mit großen gemauerten Säulen sollten im Inneren des Theaters eine bessere Sicht ergeben. Die Logen waren nicht mehr wie in feudalen Zeiten als ganze von adeligen Familien gemietet, sondern die Plätze darin wurden einzeln vergeben. Karl

Gutzkows Beschreibung des Schauspielhauses reflektiert, wie Schinkels Vorstellungen in die Praxis realisiert wurden:

111 Vgl. dazu auch Gerlach 211-15. 121

Das Innere dieses Theaters, wiederum nicht ausgehend von der speziellen Ansicht Schinkels, hat ganz jenen gedruckten Miniatur- und Privatcharakter, den ein Haus, das früher Nationaltheater hieß, nicht haben sollte. [...] Ein Rang ist dem andern unsichtbar. Das Parterre und Parkettelogen sehen nichts von den Rängen. Man weiß an einer Stelle des Hauses nicht, ob es an der andern besetzt ist. Eine Übersicht des Ganzen ist nur auf dem Proszenium und Podium möglich, so dass man, um zu wissen ob das Haus besetzt war, die Schauspieler fragen muss („Dom, Schauspielhaus“ 14-15).

Die ganze Dekoration stammte bis in die Einzelheiten von Schinkel selbst. Dazu gehörte auch eine Ansicht des ganzen Platzes, die im Kontrast zu den malerischen

Darstellungen des Gendarmenmarktes von Hasenpflug und Enslen, deren Werke wahrscheinlich nur wenige zu Sehen bekamen, von einem breiten Berliner Publikum gesehen wurde. Zu den Zuschauern gehört auch Hoffmann, der am Eröffnungsabend des

Schauspielhauses anwesend war.112 Schinkel hatte den Vorhang zu dem von Goethe verfassten Eröffnungsprolog selbst entworfen und von Gropius ausführen lassen. Eine

detaillierte Baubeschreibung vom Schauspielhaus und eine Charakterisierung seiner

Architektur veröffentlichte Schinkel im 2. Heft seiner Sammlung Architektonischer

Entwürfe (1821) und im 2. Heft der zweiten Folge (1826). Den Vorhangentwurf

beschreibt der Architekt mit den folgenden Worten:

Der Vorhang bildet einen grünen, mit stark erhabener goldener Stickerei verzierter Teppich. Die [...] dargestellte Scenen-Verzierung hatte ich für den schönen Einweihungs-Prolog von Göthe angegeben; sie stellte einen, an zwei Seiten von Säulenhallen eingeschlossenen hochliegenden Platz dar, dessen Frontseite über eine Brustwehr fort eine freie Aussicht über Berlin gestattete, aus dessen Mitte sich das neue Schauspielhaus zwischen den beiden, von Friedrich dem Grossen gebauten, Kirchthürmen in seiner ganzen Hauptform hervorhob, und dem Zuschauer auch die äußere Form des eben eingeweihten Gebäudes vergegenwärtigte. (zitiert nach Behr/Hoffmann 105)

112 Vgl. dazu: Am Sonnabend, dem 26. Mai 1821 fand die Eröffnung des Theaters statt. Eine Berliner Zeitung berichtete: „Am Tage der Aufführung belagerte schon vier Studenten vor Beginn eine große Menschenmenge die Eingänge des Schauspielhauses, und als die Pforten endlich sich öffneten, entstand ein gefährliches Gedränge. Das Parterre füllten, Kopf an Kopf, die patriotische Jugend, vor allem die Studenten, junge Gelehrte und Künstler, u.a. Heinrich Heine, E.T.A. Hoffmann, der junge Mendelssohn und das ganze geistige Berlin. Uniformen waren fast gar nicht zu sehen, und auch der Hof, der tags zuvor eine Olympiaaufführung befohlen, blieb unvertreten“ (zitier nach Behr/Hoffmann, 93-93). 122

Abbildung 13: Bühne des Theaters und Dekoration des Eröffnungsprologs von Karl Friedrich Schinkel.

Als sich bei der Eröffnung des Schauspielhauses der Vorhang hob, erblickte das

Publikum den neuen bürgerlichen Musentempel zwischen den beiden Domen. Schinkel wollte mit dem Vorhang eine Anleitung zum Genuss der Architektur als schöner Kunst geben. Wie in einem Spiegel erblickte das Publikum im Bühnenhintergrund noch einmal den Gendarmenmarkt. Die Zuschauer wurden während des von Goethe für den

Eröffnungsabend geschriebenen Prologs („Verwandte Kunst, sie hat mich übertroffen“) mit dem neusten öffentlichen Gebäude Berlins, in dem sie gleichzeitig gesessen haben, und mit ihrer verändernden Beziehung zu der eigenen Heimatstadt konfrontiert.

Der amerikanische Kunsthistoriker Barry Bergdoll analysiert die im Vorhang benutzte Perspektive in der folgenden Weise: „It could be no coincidence that the viewpoint was an idealized version of that available from the royal apartments in the 123

upper floor of the Royal Palace. Here in the newly configured theater the perspective

would be enjoyed equally by all, and not simply by the king“ (60). Nach Bergdoll war der

detaillierte und realistische Anblick auf Berlin eine zweifellos bürgerliche

Veranschaulichung der preußischen Hauptstadt, der einen vormals ausschließlich dem

König zugänglichen Standpunkt dem breiten Publikum des Schauspielhauses zur

Verfügung stellte. Wie in den panoramatischen Repräsentationstechniken kann diese

Darstellung des Gendarmenmarktes als eine Demokratisierung des Blickes angesehen

werden, was besonders im Vergleich zur Struktur des barocken Theaters zu Tage kommt:

Das barocke Theater war Hoftheater; es zeichnet sich vor allem durch seine Fluchten tief in die Bühne gestaffelter Kulissenflügel aus, die auf einen einzigen Fluchtpunkt hin orientiert waren. Im Augenpunkt dieser strengen zentralperspektivischen Konstruktion, der auch die ganze Architektur der Theaterhäuser unterworfen war, befand sich die Fürstenloge; d.h. nur der dort sitzende Souverän sah das Bühnenbild perspektivisch richtig, für alle andere Zuschauer verzerrte es sich mehr oder weniger. [...] Alle Augen waren weniger auf das Bühnengeschehen als auf den Souverän gerichtet; er war der einzige, der sah. (Oettermann 20)

Wenn es demgemäss in den Studien von Schinkel oder in den städtebaulichen

Diskussionen der Zeit über Hörbarkeit und Sichtbarkeit die Rede ist, geht es in

übertragenem Sinne um eine neue bürgerliche Öffentlichkeit und gesellschaftliche

Veränderungen so wie um ästhetische Fragen.

In wie fern Schinkels Ideale in die Wirklichkeit übergingen oder auch den am

Gendarmenmarkt lebenden Schriftsteller okkupierten, sollen zwei Szenen in Des Vetters

Eckfenster demonstrieren. Die letzten Facetten, die das bunte Bild der verschiedenen

Marktgestalten ergänzen sind Beschreibungen des ganzen Marktes. Die folgende

Schilderung des Marktes ist ein Blick in die politisch-gesellschaftliche Situation der

Berliner Bevölkerung in den Jahren nach 1815:

124

Sonst war der Markt der Tummelplatz des Zanks, der Prügeleien, des Betrugs, des Diebstahls, und keine honette Frau durfte es wagen, ihren Einkauf selbst besorgen zu wollen, ohne sich der größten Unbill auszusetzen. Denn nicht allein daß das Hökervolk gegen sich selbst und alle Welt zu Felde zog, so gingen noch Menschen ausdrücklich darauf aus, Unruhe zu erregen, um dabei im trüben zu fischen, wie z. B. das aus allen Ecken und Enden der Welt zusammengeworbene Gesindel, welches damals in den Regimentern steckte. Sieh, lieber Vetter, wie jetzt dagegen der Markt das anmutige Bild der Wohlbehaglichkeit und des sittlichen Friedens darbietet. (SW 6, 495)113

Es ist ein unerwartetes Element im Laufe des Textes, dass die Menge des Platzes, dessen

Architektur mit den Attributen „kolossal“ und „genial gedacht“ kennzeichnet werden, am

Ende der Erzählung wegen seiner neu erworbenen Sittlichkeit und Anständigkeit gelobt wird. Die Aussage im Preußen der Restauration nach den Karlsbader Beschlüssen ist durchaus politisch. Hoffmanns Protagonist macht den neuen Ort der bürgerlichen

Öffentlichkeit anschauend einerseits deutlich, dass die Marktbesucher sozial gesehen heterogener als je geworden sind, andererseits verdeutlicht er durch ein Beispiel, dass das

Volk Konflikte und Streite ohne Polizei lösen kann.114 Hoffmann argumentiert gegen die polizeistaatlichen Maßnahmen der Restauration und setzt sich für eine Demokratisierung in der Berliner Gesellschaft ein. In diesem Sinne wird die Sehschulung in Des Vetters

Eckfenster nicht nur eine ästhetische, wie der obige Teil des Kapitels demonstriert hat, sondern auch eine politisch-soziale Bildung des Lesers in einer ähnlichen Weise, wie das

113 Vgl. auch dazu: „das Volk hat an äußerer Sittlichkeit gewonnen; und wenn du dich einmal an einem schönen Sommertage gleich nachmittags nach den Zelten bemühst und die Gesellschaften beobachtest, welche sich nach Moabit einschiffen lassen, so wirst du selbst unter gemeinen Mägden und Tagelöhnern ein Streben nach einer gewissen Courtoisie bemerken, das ganz ergötzlich ist. Es ist der Masse so gegangen, wie dem einzelnen, der viel Neues gesehn, viel Ungewöhnliches erfahren, und der mit dem Nil admirari die Geschmeidigkeit der äußern Sitte gewonnen. Sonst war das Berliner Volk roh und brutal; man durfte z. B. als Fremder kaum nach einer Straße oder nach einem Hause oder sonst nach etwas fragen, ohne eine grobe oder verhöhnende Antwort zu erhalten oder durch falschen Bescheid gefoppt zu werden. Der Berliner Straßenjunge, der den kleinsten Anlaß, einen etwas auffallenden Anzug, einen lächerlichen Unfall, der jemanden geschah, zu dem abscheulichsten Frevel benutzte, existiert nicht mehr“ (SW 6, 495). 114 Vgl auch dazu: „Also herrscht in der Tat im Volk ein Sinn für die zu erhaltende Ordnung, der nicht anders als für Alle sehr ersprießlich wirken kann“ (SW 6, 494). 125

Schauspielhaus und seine Dekorationen für eine Demokratisierung des Blickes

plädierten.

Das Theater spielt auch in der ästhetischen Wahrnehmung der Großstadt eine

wichtige Rolle, die Hoffmann in seinen letzten Berlinischen Text mehrfach einbezogen

hat. Marianne Thalmann schreibt in ihrem Buch Die Romantiker entdecken die Stadt,

dass die Romantiker „theaternärrische Epiker“ waren. Der Gedanke, dass der Mensch

„ein Gaukler, ein Spieler, ein Komödiant“ ist, erscheint in mehreren Werken der

Romantiker, in deren Texten auch die Bühnenmetapher oft benutzt wird (Thalmann 19).

Dieselbe Idee, dass die Erscheinung des Menschen selbst problematisch geworden ist und

dass er eine Person ist, die wir sehen und eine dahinter, mit vielen Gesichtern, also ein

Schauspieler, erscheint auch in den theoretischen Schriften der Großstadtsoziologen.115

Unter anderem beschreibt Simmel, dass die äußerlich erkennbare Erscheinungsform des

Verhaltens in der Großstadt weniger ein natürlich hervorwachsender Ausdruck eines

Innern ist, als vielmehr ein „Sich-Geben“, ein „Auftreten, ein Sich-Darstellen“ (vlg. dazu auch Bahrdt 66-70). Urbanes Sozialverhalten nach Simmel ist kein natürlicher Ausdruck eines Innern, sondern ein Sich-Darstellen, ein Auftreten wegen der Flüchtigkeit der

Begegnungen:

Wo die quantitative Steigerung von Bedeutung und Energie an ihre Grenze kommen, greift man zu qualitativer Besonderung, um so, durch Erregung der

115 Wenn man die architektonischen Entwürfe des Schinkelschen Theaters aus dieser Perspektive untersucht, sieht man, dass Schinkel und sein Bauentwurf mit den Gedanken über „Sich-Darstellen“ und „Sich-Geben“ ein Spiel treibt. In seinen Notizen über das Projekt schreibt Schinkel das Folgende: „[das neue Theater soll] zu einem überall vollendeten, außen und innen vollkommen zusammenstimmenden Kunstwerk [...] erheben“ und das neue Gebäude müsse „ein regelmäßiges ästhetisch geordnetes Ganzes sein; unerlässlich ist es aber auch, dass der Charakter des Gebäudes sich von außen vollkommen ausspreche und das Theater durchaus nur für ein Theater gehalten werden kann“ (zitiert nach Forsmann 102). 115 Diese Forderung deckt in dem „Ideal der Zweckmäßigkeit“ in der Baukunst, das Schönheit und Zweckmäßigkeit miteinander verbindet. 126

Unterschiedsempfindlichkeit, das Bewusstsein des sozialen Kreises irgendwie für sich zu gewinnen: was dann schließlich zu den tendenziösesten Wunderlichkeiten verführt, zu den spezifisch großstädtischen Extravaganzen des Apartseins, der Kaprice, des Pretiösentums, deren Sinn gar nicht mehr in den Inhalten solchen Benehmens, sondern nur in seiner Form des Andersseins, des Sich-Heraushebens und dadurch Bemerklichwerdens liegt - für viele Naturen schließlich noch das einzige Mittel, auf dem Umweg über das Bewusstsein der anderen irgend eine Selbstschätzung und das Bewusstsein einen Platz auszufüllen, für sich zu retten. (Simmel 190)

„Die Bewohner der Großstadt sind Schauspieler, die einander gegenseitig betrügen“

schreibt Kleist in einem Brief aus Paris. Die Theatermetapher über die Großstadt erschien

in mehreren Briefen deutscher Schriftsteller im 19. Jahrhundert.116 In Hoffmanns Des

Vetters Eckfenster wird „das kolossal und genial gedachte Theatergebäude“ mit Bedacht

zum Bestandteil der Kulisse gemacht. Vor der Theaterwand werden die Menschen auf

dem Marktplatz zu Akteuren eines unvollkommenen Illusionstheaters. Eine Begrenzung

wird jedoch durch die Bühnenmetapher anschaulich. Einerseits gewährt die Bühne dem

Blick eine relative Freiheit, gaukelt ihm die Varietät der Erscheinungen vor, während sie

ihn gleichzeitig gefangen hält, weil sie den Horizont versperrt. In dieser Weise entsteht

eine mangelhafte Wahrnehmung der Totalität. In drei Textpassagen werde ich die

theatralischen Qualitäten in Hoffmanns Erzählung nach diesem Modell untersuchen.

Erstens, in der Darstellung der drei in der dritten Türöffnung des Theaters stehenden

Frauen, zweitens in den zwei Hypothesen zur über den Markt eilenden „exotische Figur“

und drittens in der Beschreibung des mit seinem Rücken an der Mauer des Theaters lehnenden blinden Mannes.

116 Vgl. damit auch Hebbels Beschreibung von Paris: „Diesmal war ich nicht produktiv, ich legte mich vielmehr auf der Terrasse vor der Betkapelle ins Grüne, sah auf Paris mit seinen Kuppeln, Turmspitzen und Millionen Schornsteinen wie auf ein großes Theater hinab und dachte: Dort fällt vielleicht in jedem Augenblick jede Szene, die überhaupt im Menschenleben vorkommt, vor, es werden Menschen geboren und es sterben welche, man küsst sich zum erstenmal, man stößt sich vielleicht den Dolch ins Herz!” (Hebbel an Elise Lensing, Briefe III. 194). 127

Genau vor der Theaterwand bildet sich eine Gruppe, die nach dem Vetter würdig wäre „von dem Crayon eines Hogarth’s verewigt zu werden“ (SW 6, 473). Ein paar alte

Frauen sitzen hier auf niedrigen Stühlen und verkaufen bunte Tücher, die „auf den Effekt für blöde Augen berechnet“ sind (SW 6, 473). Hier wird zum ersten Mal zu dem

Gesehenen eine ganze Geschichte erzählt. Die erzählte Geschichte über einen Streit und die darauf folgende Versöhnung unter den Weibern klingt sehr plausibel für den

Besucher, der feststellt: „Von allem, was du da herauskombinierst, lieber Vetter, mag kein Wörtchen wahr sein, aber indem ich die Weiber anschaue, ist mir, Dank sei es deiner lebendigen Darstellung, alles so plausibel, daß ich daran glauben muß, ich mag wollen oder nicht“ (SW 6, 475) Vor der Kulisse spielt sich also eine kurze Szene ab. Das mit visuellen Bezügen beschriebene – die Gruppenkonstellation á la Hogarth – Bild ist jedoch kein Einfrieren eines temporären Ereignisses sondern eine narrative Struktur des Bildes.

Das Hogarthsche Bild wird zum bewegten Leben, zu einem Akt auf einer Bühne, die die

Vetter sich aus dem als Loge dienenden Fenster anschauen.

Um über den Platz ein Gesamtbild anzubieten, verknüpft der Vetter die einzelnen

Figuren mit verschiedenen Hypothesen oder Rollen. Am offensichtlichsten wird dies im

Fall der „exotischen Figur,“ zu der der Vetter zwei vollständig unterschiedliche

Hypothesen aufstellt, denn, wie er erklärt „die Varietät kann nie bunt genug sein“ (SW 6,

485)117 Die Darstellung von zwei Hypothesen, also die Anwendung einer

„pluralisierenden Perspektive“ wie Gerhard Neumann schreibt (2005, 237), scheint

gänzlich den Regeln der Panoramamalerei zu widersprechen, wo Eindeutigkeit das Ziel

ist. Doch zum einen stimmen beide Hypothesen mit den visuellen Details überein, zum

117 „So habe ich den widrigen zynischen deutschen Zeichenmeister augenblicklich zum gemütlichen französischen Pastetenbäcker umgeschaffen, und ich glaube, daß sein Äußeres, sein ganzes Wesen recht gut dazu paßt“ (SW 6, 486). 128

anderen werden sie beide entworfen im Hinblick auf des Vetters Gesamtbild. Das die

Figur zuerst als ein deutscher Zeichenmeister, dann als ein französischer Pastetenbäcker

gedeutet wird, veranschaulicht den historischen Hintergrund der Erzählung, insbesondere

die Napoleonischen Kriege und die mit ihnen einhergehenden Völkervermischungen. In

dieser Weise wird diese Szene eine wichtige Repräsentation von Berlin der 1820er

Jahren, in dessen Straßen man nicht mehr genau wissen kann, wem man vorbeigeht.

Eine ähnliche Rolle wird auch von dem Blinden gespielt, der als Nichtsehender an

die Mauer des Theaters gelehnt „mit emporgerichtetem Haupt in die weite Ferne zu

schauen scheint“ (SW 6, 488) Die Vetter beobachten einen Blinden, der nicht sieht, aber

sein Schauen zeigt. Der Vetter beschreibt das Aussehen des Bettlers seinem Besucher in

der folgenden Weise:

[es] ist doch merkwürdig, daß man die Blindheit, sollten auch die Augen nicht verschlossen sein, oder sollte auch kein anderer sichtbarer Fehler den Mangel des Gesichts verraten, dennoch an der emporgerichteten Stellung des Hauptes, die den Erblindeten eigentümlich, sogleich erkennt; es scheint darin ein fortwährendes Streben zu liegen, etwas in der Nacht, die den Blinden umschließt, zu erschauen (SW 6, 488)

Die Thematisierung des Sehens zeigt, wie schon frühere Studien argumentieren, dass die

Protagonisten Hoffmanns letzter Erzählung nicht die Vetter sind, sondern eine sich

verändernde Wahrnehmung. In der Figur des Blinden wird der Akt des Sehens

gleichzeitig anerkannt und betont, aber auch verleugnet. In dem Spiel mit dem Sehen- bzw. Nicht-Sehen-Können und die Darstellung des Blinden als Seher und Nicht-Seher eröffnet sich ein pluraler Raum, dessen Figuren mit den Augen der am Eckfenster stehenden Vetter nicht mehr eindeutig wahrgenommen werden können.

Die ästhetische und sozial-politische Sehschulung in Des Vetters Eckfenster kann mit der Entwicklung des Architekturensembles auf dem Gendarmenmarkt in Beziehung

129

gesetzt werden. Die Entdeckung des komplexen Stadtraums und seine Veränderungen im

Moment der Verfassung von Hoffmanns letzter Erzählung zeugen davon, dass bestimmte

soziale, wahrnehmungsästhetischen Phänomenen sowohl in der Architektur und

malerischen Repräsentationen des Platzes, als auch in der literarischen Schilderung des

Ortes anwesend sind.

Des Vetters Eckfenster im Kontext der Berlinischen Geschichten

In welcher Beziehung steht Hoffmanns letzte Berlin-Erzählung mit den im ersten Kapitel behandelten Texten? Kann die Sonderposition Des Vetters Eckfenster im Kontext mit den anderen Berlin-Geschichten erneut bestätigt werden? Im Gegensatz zu Des Vetters

Eckfenster, in dem die Realitäten des Gendarmenmarktplatzes dominieren, erscheinen

Berliner Orte in den anderen Erzählungen nur an der Peripherie und sporadisch erwähnt.

Nach Karl Riha, der in seiner Eckfenster-Analyse auch die anderen Berlin-Geschichten kurz erwähnt, erscheint „die große Stadt“ in den anderen Berlin-Texten nur peripher und dient nur zur Exposition des Phantastischen. In dieser Weise findet keine richtige

Integration des Großstadtstoffes in die Poetische statt und die geheimnissoll-skurrilen

Elemente dominieren in den Erzählungen:

In ihrem innerem Gewicht und dem Stellenwert nach sind daher die aufgeführten Berlin-Schilderungen Hoffmanns [Das öde Haus, [Sylvesternacht Gesellschaft im Keller] und Die drei Freunde LV] den vergleichbaren, ‚Großstadt’-Passagen bei Nicolai oder Tieck kaum an die Seite zu stellen; sie führen nicht ins Zentrum der jeweiligen Texte, repräsentieren nicht die zentrale poetische Absicht. Sie bleiben außerhalb der eigentlichen Erzählung (Riha 135)

Günther Oesterle adressiert kurz diese Frage in seinem ersten Aufsatz über Des

Vetters Eckfenster. Nach seiner Meinung machen genau diese Unterschiede, die nach

130

Riha ihre Aufnahme in die Großstadtliteratur disqualifiziert, die früheren Berlin-Texte besonders wertvoll: „Denn gerade dadurch, dass dort die äußere Topographie und

Lokalität der Städte nur das empirische Substrat für das Phantastische bilden, wird in diesen Erzählungen die innere Physiognomie der Großstadt möglich: ihre Anonymität, ihr Flüchtiges, ihr Unheimliches (also genau das, was Benjamin am ‚Eckfenster’ vermisst)“ (1987, 95). In diesem Zusammenhang positioniert er die Stellung des letzten

Textes in der folgenden Weise: „Wenn Hoffmann vor der Abfassung des ‚Eckfensters’ die moderne Großstadterfahrung darzustellen wusste, kann die spätere Erzählung schwerlich pauschal, ‚als ein Zeugnis deutscher Verspätung und kleinbürgerliche

Begrenztheit,’ wie Benjamin vermutet hat, gelten“ (Oesterle 1987, 95). Beide

Interpretationen, obwohl mit unterschiedlichen Ergebnissen, argumentieren, dass Des

Vetters Eckfenster im Vergleich mit den anderen Berlin-Texten als ein Sonderstück erscheint.

Die Analyse der früheren Texte in dieser Dissertation zeigt, dass die einzigartige

Darstellung des urbanen Raumes in Des Vetters Eckfenster sowohl eine Sonderposition einnimmt, als auch als Kontinuität der Stadtbilder in Hoffmanns Berlinischer/Berliner

Geschichten angesehen werden kann. Konkrete örtliche und zeitliche Beziehungen zu

Berlin, die die erzählte Geschichte im Realen verankern, verbinden die Texte miteinander. Der Gendarmenmarkt als konkret-realer Ort, auch wenn peripher, erscheint schon auch in anderen Erzählungen. Wie viele von den anderen Berliner Orte (die Zelte im Tiergarten und verschiedene Wohnungen in der Friedrichstadt), ist er ein wichtiger autobiographischer Winkel Berlins.

131

Es gibt auch viele Beispiele für thematische und strukturelle Intertextualität mit den anderen Erzählungen, auf die zum Beispiel in den Analysen der Texte Die Irrungen.

Fragment aus dem Leben eines Fantasten und Die Geheimnisse. Fortsetzung des

Fragments aus dem Leben eines Fantasten thematisch und in Seltsame Leiden eines

Theaterdirektors strukturell hingewiesen wurde. Eine Intermedialität mit dem Kunzischen

Riss kommt besonders in der panoramengleichen Struktur der Skizze zu Tage aber auch in der Anwesenheit von konkreten Figuren, wie die Gemüseweiber, die Hoffmann aus seinem Fenster wahrscheinlich schon lange beobachtet hatte. Es gibt jedoch keine

Referenzen auf frühere Hoffmannsche Gestalten oder fantastische Figuren in der

Erzählung, die im Kunzischen Riss erscheinen. Eher strukturell als poetologisch kann man den Kunzischen Riss der Erzählung nebeneinander stellen, was auch für die

Beziehung zwischen Fantastik und Wirklichkeit gilt. Wie auf dem Kunzischen Riss ist sie ausgeglichener, besser balanciert und es gibt keinen schroffen Wechsel zwischen

Wirklichkeit und Fantastik.

Wie die anderen Berlin-Texten kann Des Vetters Eckfenster als poetische

Auseinandersetzung mit der preußischen Hauptstadt und ein literarisches Dokument angeschaut werden. Die Konzentration der Erzählung auf einen konkreten Ort, der am

Anfang der 1820er Jahren zu einem der wichtigsten Berliner Knotenpunkte und durch seine verändernde Architektur zu einem wichtigen ökonomischen und politischen

öffentlichen Raum geworden ist, sichert unter anderem der Erzählung eine

Sonderposition im Oeuvre der Berlinischen Geschichten. Die ästhetische und politische

Sehschule, die mit den zeitgenössischen visuellen Repräsentationen des

Gendarmenmarktes korrespondiert, der Markt und das Theater und die damit

132

verbundenen neuen Wahrnehmungsformen unterscheiden die letzte Erzählung von den

früheren Berlin-Texten.

Schlussfolgerung

Vier Jahre nach Hoffmanns Tod schrieb Heinrich Heine: „Jedes Zeitalter, wenn es neue

Ideen bekommt, bekommt auch neue Augen“ (3, 149). Der Vetter, der seinem Besucher

und dem Lesen eine ästhetische, soziale und politische Sehschulung anbietet ist ganz und

gar Städter. Für ihn gibt es keine Landschaft außerhalb der Stadt. Er ist ausschließlich im

Straßengefüge zu Hause. Sein kleines Zimmer, dessen Inneres unbeschrieben bleibt, wird

mit von außen stammenden rasch ablaufenden Bildern erfüllt. Hoffmanns Erzählung

beschreibt ein bestimmtes historisches Moment zu Anfang der zwanziger Jahre des 19.

Jahrhundert in Berlin.

Die stark visuelle Narrative und die panoramatische Wahrnehmungsweise erscheinen als notwendige Ergebnisse einer Veränderung des Verhältnisses zwischen dem Großstadtbewohner der damaligen Zeit und seiner sozialen Umwelt. Die Art und

Weise, wie die Ereignisse eines Marktes vor der Kulisse eines Theaters auf einem Ort von neuer bürgerlichen Öffentlichkeit beschrieben werden, erzeugt eine höchstkomplexe

Erzähltechnik, die die Grundkonstellationen einer entwickelnden urbanen

Wahrnehmungsform darstellen. An dieser neuen Wahrnehmungsform lässt sich sowohl ein Gewinn als auch ein Verlust an Wirklichkeitserfahrung erkennen. Distanzierung und der Primat des Sehens erlauben es, ein Geschehen in seiner visuellen Gesamtheit abzubilden, das aus der Nähe mit seinen vielfältigen Sinnreizen das Subjekt überfordern

133

würde. Zum anderen lässt die Reduktion des Geschehens auf visuelle Eindrücke keine

sicheren und in die Tiefe gehenden Erkenntnisse mehr zu sondern nur noch Hypothesen.

Die distanzierte Beobachterposition, die Aufmerksamkeit auf das äußerliche

Detail, die Unterteilung des Sichtfeldes und der Verzicht auf tiefgreifende Erkenntnis

zugunsten eines harmonischen Gesamtbildes sind die Merkmale einer

Wahrnehmungsform, die in ihrer Betonung des Optischen schon auf die späteren Medien

der Fotografie und des Films vorausweist. An dieser neuen Wahrnehmungsform lässt sich sowohl ein Gewinn als auch ein Verlust an Wirklichkeitserfahrung ablesen. Die erhöhte

Perspektive erlaubt einen Kontrollgewinn, indem sich ein Geschehen in seiner visuellen

Gesamtheit abzubilden lässt, während das Subjekt unten durch die vielfältigen Sinnreize

überfordert wäre. Gleichzeitig resultiert die Reduktion des Geschehens auf visuelle

Eindrücke in keinen sicheren Erkenntnissen mehr und nur Hypothesen bleiben übrig. Der

Vetter wird nie herausbekommen, ob die merkwürdige Figur ein deutscher

Zeichenmeister oder ein französischer Bäcker ist. Eine klare Identifikation der Gestalt ist auch nicht sein Ziel.

Zu Beginn der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts geht Hoffmann auf eigene und originelle Weise vor und bietet dem deutschen Leser eine innovative Art von atmosphärisch und perspektivisch ausgerichteter Repräsentation an, dessen Komponente mehrfach mit den Bausteinen des Gendarmenmarktes, der als ein komplexer urbaner

Raum fungiert, verknüpft sind. Die Entdeckung des komplexen Stadtraums und seine

Veränderungen im Moment der Verfassung von Hoffmanns letzter Erzählung zeugen davon, dass bestimmte soziale, wahrnehmungsästhetische Phänomene sowohl in der

134

Architektur und malerischen Repräsentationen des Platzes als auch in der literarischen

Schilderung des Ortes anwesend waren.

135

KAPITEL 3.: Berlin in den Werken von Eduard Gaertner und Wilhelm Raabes Die Chronik der Sperlingsgasse: Ein intermedialer Vergleich

Einführung

Eine von den berühmtesten literarischen Straßen in Berlin ist die Sperlingsgasse, die eine von den ältesten Berliner Gassen ist. Die Gasse war ursprünglich mit dem Namen „Neue

Gasse zur Spree“ als Gang zur Spree angelegt worden, damit die Einwohner Cöllns bei

Feuergefahr schnell zum Wasser gelangen konnten. Der Historiker Herbert Mayer schreibt das Folgende über die Namensgebung des Ortes: „Im September 1931 vermeldeten die Amtsblätter, dass die Spreestraße am 29. August den heutigen Namen

Sperlingsgasse erhalten hatte. Dies war die vorläufig letzte Umbenennung einer der

ältesten Berliner Straßen, deren Spuren sich bis in das 16. Jahrhundert zurückverfolgen lassen“ (14). Der neue Name der nicht einmal 100 Meter langen Straße mit ihren 18

Häusern zwischen der Friedrichsgracht und der Brüderstraße war eine Hommage an den

Schriftsteller Wilhelm Raabe, dessen Geburtstag sich 1931 zum hundersten Male jährte.

Dass die Identität dieses Ortes in Alt-Berlin auf ein literarisches Werk zurückgeführt werden kann, zeigt die Namensgebung eindeutig. Wie der

Gendarmenmarktplatz mit dem Schriftsteller E.T.A. Hoffmann und der Alexanderplatz mit den Namen von Alfred Döblin verbunden ist, verweist die Taufe der Gasse auf eine

Wechselbeziehung zwischen konkreten Orten und literarisch konstruierten Räumen, die einen gegenseitigen Einfluss aufeinander ausüben. Das von Raabe verdichtete Stück

Berlin wird in diesem Kapitel mit den Gemälden des biedermeierlichen Malers Eduard

Gaertner (1801-1877) verglichen, dessen Werke wie Raabes Chronik zum gemalten

136

Kanon der Berlin-Repräsentationen des 19. Jahrhunderts gehören. Gaertners Spektrum

reicht von der Prachtstraße Unter den Linden bis zu den von kleinen Leuten bevölkerten

Spreegassen, von den prächtigen Domen auf dem Gendarmenmarkt bis zu verfallenen

gotischen Kirchen. Gaertners Gemälde von Schinkels Neubauten in den öffentlichen

Plätzen und über den Alltag der Berliner in den versteckten Stadtteilen bestimmen

eindrücklich unser Bild von der biedermeierlichen preußischen Hauptstadt.

Anhand repräsentativer Gemälde von Eduard Gaertner und am Beispiel des

Romans Die Chronik der Sperlingsgasse werde ich in diesem Kapitel zeigen, dass die urbane Wahrnehmungsästhetik, die wir als modern bezeichnen, wie das Verhältnis wechselseitiger Aneignung zwischen dem wahrnehmenden Subjekt (Autor) und dem wahrgenommenen Objekt (Stadt), der Bruch mit der herkömmlichen Erzählweise und die

Anwendung innovativer Raumkonstellationen Stadtansichten in der Malerei sowie die

Großstadttexte des 19. Jahrhunderts prägt.118 Da Raabes Erzähler Johannes Wachholder

diese Techniken aus dem Bereich der bildenden Künste ausleiht, gilt es, die intensive

Wechselbeziehung von Literatur und Malerei und die Visualität in Raabes Romanen in

Bezug auf die Großstadtbeschreibung zu untersuchen und mit den Werken des

zeitgenössischen Architekturmalers Eduard Gaertner zu vergleichen. Ein Leitfaden in der

Analyse ist die Polarität zwischen öffentlichen und privaten Räumen in der wachsenden

Großstadt, die im malerischen Oeuvre Gaertners so wie in den Berlin-Bildern von Raabe

zu Tage kommt. Die Gegenüberstellung von Text und Bild soll zeigen, dass die

malerischen und literarischen Repräsentationen von Berlin in der Mitte des 19.

118 Es kann kein allgemeingültiges ästhetisches Inventar aufgestellt werden, da auch moderne Großstadtdarstellung durch mehrere Phasen ging. Klaus Scherpe beschreibt den transitorischen Charakter der modernen Großstadtdarstellung und ihre drei wichtigsten Phasen in seinem Artikel “Ausdruck, Medium, Funktionen.” 137

Jahrhunderts über ein vergleichbares ästhetisches Inventar verfügen. Beide Künstler verwenden innovative Repräsentationstechniken, um ihre Umgebung darzustellen und in beiden Fällen besteht ihre Motivation für diese Neuigkeiten an ihrer Absicht, die sich verändernde Beziehung der Bewohner mit ihrem Lebensort zu definieren und im

Stadtbild auch aktuelle politische Ereignisse und Machtverhältnisse zu verdeutlichen.

Neben den ästhetischen Innovationen in beiden Bereichen machen sowohl Maler als auch

Schriftsteller einen Versuch, die von Georg Simmel beschriebene „subjektive Kultur“ der

Berliner Stadtbewohner in der wachsenden preußischen Residenzstadt zu lokalisieren.119

Obwohl die Gemälde des Architektenmalers Gaertner auf die Romane von Raabe wohl weder direkten noch indirekten Einfluss geübt haben, kann die

Nebeneinanderstellung ihrer Werke mehrfach begründet werden. Beide bieten einen

Blick auf Berlin in der Mitte des 19. Jahrhunderts, und die Werke beider Künstler können sowohl inhaltlich als auch strukturell interpretiert als künstlerische Reflexionen urbaner

Wahrnehmung betrachtet werden. Beide benutzen ähnliche Perspektiven und Orte, um die Stadt darzustellen. Gaertner hat nicht nur einige von den Spreegassen gemalt, die

Raabe in seinem Roman als Titel- und Hauptort wählt, sondern er stellt auch in berühmten mehrteiligen Gemälden (einer Sonderform der Panoramamalerei) die preußische Hauptstadt vom Dach der neuerrichteten Friedrichwerderschen Kirche dar, während Raabes Protagonisten sich mit dem wachsenden Berlin aus einem Fenster oder aus einer Distanz von den nahen Hügeln blickend auseinandersetzen.

119 Vgl. dazu: „Die tiefsten Probleme des modernen Lebens quellen aus dem Anspruch des Individuums, die Selbständigkeit und Eigenart seines Daseins gegen die Übermächte der Gesellschaft, des geschichtlich Ererbten, der äußerlichen Kultur und Technik des Lebens zu bewahren...“ (Hervorhebungen von mir, Simmel Die Grosstädte und das Geistesleben, 187). 138

Das Kapitel beschäftigt sich mit repräsentativen Werken Gaertners, die in der zweiten Hälfte des Beitrages thematisch und strukturell mit der Großstadtdarstellung

Raabes verglichen werden. Zuerst werden die von Gaertner bevorzugten Orte Berlins untersucht und analysiert, damit die Interpretation der Chronik von Raabe in einem breiten historischen, ästhetischen und kulturellen Kontext ausgeführt werden kann. Eine

Intermedialität entsteht zwischen dem Maler Gaertner und dem Schriftsteller Raabe auf mehreren Ebenen, die anhand der Analyse ihrer Repräsentationstechniken und der symbolischen Anwendung der öffentlichen und verborgenen Lokalitäten von Berlin erläutert wird. Raabe mobilisiert ein schon den Berlinern bekanntes und früher existierendes bildliches Reservoir in seinem Roman, in dem jedoch neben den intermedialen inhaltlichen und strukturellen Parallelen nach der gescheiterten

Märzrevolution eine Neupositionierung der handelnden Personen stattfindet.

In der Chronik findet sich mehrmals eine Imitation bzw. eine Inszenierung der biedermeierlichen Berliner Architekturmalerei, zu der auch die Werke Eduard Gaertner zu zählen sind. Neben den parallelen Erscheinungen gibt es jedoch wesentliche

Unterschiede, die in erster Linie aus der zeitlichen Differenz zwischen den zwei Künstler stammen: Gaertner stellt die Stadt nach den Befreiungskriegen als Produkt ihrer

Einwohner dar, während Raabe nach der gescheiterten Märzrevolution die bekannten biedermeierlichen Berlin-Bilder in seinen Momentaufnahmen aus dem sozialen Leben einer einzigen Gasse mit einer scharfen Zeitkritik der Restauration ausfüllt. Das von

Raabe mobilisierte biedermeierliche Bildreservoir wird um eine scharfe Zeitkritik der politischen Anpassung im Nachmärz ergänzt.

139

Berlin und Eduard Gaertner

Mit der nach 1830 einsetzenden politischen und wirtschaftlichen Konsolidierung begann

der schnelle Ausbau Berlins. Kein Zufall, dass die Berliner Architekturmalerei aus dieser

Zeit eine große Zahl guter, auf Stadtmotive spezialisierte Maler hervorbrachte, zu denen

auch Eduard Gaertner zählte.120 Die malerische Tätigkeit Gaertners ist mit der deutschen

Hauptstadt, die in den 1830er und 40er Jahren für bildende Künstler einen

Anziehungspunkt bildete, eng verbunden.121 Günstig war diese Zeit für die Berliner

Architekturmaler auch wegen des ausgeprägten Interesses von Friedrich Wilhelm III. an der bildlichen Wiedergabe der königlichen Schlösser und der regen Bautätigkeit Berlins.

In dieser Blütezeit von Vedutenmalerei gilt Eduard Gaertner als primus inter pares, als

der begabteste und vielseitigste unter den Architektenmalern der Zeit. Die

Kunsthistorikerin Irmgard Wirth schreibt das Folgende über das Gaertnersche Oeuvre:

„Es ist eine Symbiose von realistisch-dokumentarischer Wiedergabe des Gesehenen und

meist hoher künstlerischer Qualität, die in dem Architekturmaler Gaertner auch den

erstrangigen Vedutenmaler erkennen lässt“ (69).

Eduard Gaertner wurde in Berlin geboren, musste aber als fünfjähriges Kind mit

seiner Mutter die Stadt verlassen. In Kassel erhielt der begabte Junge seinen ersten

Unterricht im Zeichnen beim Hofmeister Franz Hubert Müller (Trost 6). 1813 kehrte

Gaertner nach Berlin zurück und begann eine sechsjährige Ausbildung als Porzellanmaler

bei der Königlichen Porzellanmanufaktur. Hier erhielt er nach eigenem Dafürhalten „eine

120 Andere Namen zu nennen sind Johann Heinrich Hintze, Friedrich Wilhelm Klose und Franz Krüeger. 121 In Gaertners rund 50 Schaffensjahren entstanden 131 und heute bekannte Gemälde; etwa die Hälfte davon – 65 – sind Berliner Stadtansichten; ungefähr im gleichen Verhältnis bewegt sich der Berlin-Anteil bei den mehr als 160 Aquarellen (Cosmann 81). 140

oberflächliche Lehre der Perspektive“ und die Fähigkeit „Ringe, Bänder und Käntchens“

zu malen.122 Mit dem Eintritt in das Atelier des Berliner Theaterinspektors und

Dekorationsmalers Carl Wilhelm Gropius bewegte sich Gaertners Laufbahn in die

gewünschte Richtung: Bei der Mitarbeit an großen Bühnenprospekten erwarb er

Kenntnisse in der Handhabung großer Formate und in der Architekturdarstellung.

Gaertner begann seine Laufbahn demnach nicht als Schüler der Akademie, sondern wie

Karl Friedrich Schinkel als Dekorationsmaler im Gropiusschen Atelier reichte er seine

Arbeiten zu Akademieausstellungen ein. Zu der Ausstellung 1827 schickte er mehrere

Arbeiten ein, nachdem er eine Reise nach Paris unternommen und zahlreiche

Stadtansichten in Öl und Aquarell von der französischen Hauptstadt gemalt hatte.123

Seine Pariser Gemälde, die über die nüchterne Architektur hinausweisend die dargestellten Gegenstände zu einer künstlerischen Einheit zusammenschließen, wurden von der Akademie mit Erstaunen wahrgenommen.124 Nach mehreren Reisen ließ sich

Gaertner als freischaffender Maler 1830 in Berlin nieder und begann sowohl die engen

Straßen der Innenstadt, als auch – vornehmlich in königlichen Aufträgen – die

repräsentativen Gebäude der Stadt wie Schinkels Neue Wache und das Schloss zu

malen.125 Gaertner schuf in unablässiger Tätigkeit eine große Anzahl von Ansichten von

Berliner Straßen, Plätzen und Gebäuden, deren Genauigkeit das Auge noch heute

besticht. Seine Berlin Gemälde sind nicht nur bemerkenswert präzise und realistisch,

sondern sie erfassen auch den unverwechselbaren Charakter Berlins in der Zeit des

Biedermeier und des Vormärz. Gaertner malte eine Reihe von Berliner Stadtbildern,

122 Zitiert nach Franke 412. 123 Anhand der Gaertner Biographien von Edit Trost und Irmgard Wirth. 124Die Skizzen und Gemälde aus der Pariser Zeit machen deutlich, dass die Abbildung der französischen Hauptstadt in Gaertners künstlerischer Ausbildung ein wichtiger Meilenstein war (vgl. dazu Bartmann) 125 Vgl. dazu Gaertner Biografien von Trost (12-20) und Wirth (25-30). 141

deren Motive er zu verschiedenen Zeiten wiederholte, wobei er die baulichen

Veränderungen genau beachtete und hinzufügte. Heute ist Gaertners Nachlass mit der

gängigen Wahrnehmung des Berliner Biedermeier streng verbunden und seine Gemälde

erscheinen oft auf Buchdeckeln von literarischen Werken, in denen die biedermeierliche

preußische Hauptstadt eine wesentliche Rolle spielt.126

Zwischen 1830 und 1840 erreichte Gaertner den Zenit seines Schaffens. Gegen

Ende der Regierungszeit Friedrich Wilhelm des III. hatte die Stadt an Pracht und

Schönheit gewonnen. Neben den Monumentalgebäuden aus den friderizianischen Zeiten

waren Schinkels Bauten errichtet worden.127 Das Industriezeitalter hatte begonnen und

der Bau der ersten Eisenbahnlinie zwischen Berlin und Potsdam war in Vorbereitung

(Bauer 262). Verglichen mit Paris oder London war Berlin mit seinen knapp 300.000

Einwohnern ein eher beschaulicher Ort, bot jedoch das ideale Architekturmotiv für

Gaertner. Die Stadt war in ständiger Veränderung, aber immer noch überschaubar. Erst

ab den sechziger Jahren verloren Architekturstücke an Popularität und Gaertner widmete

sich der Landschaftsmalerei. Der Grund für Gaertners Abwendung von der

Architekturmalerei war die Tatsache, dass Berlin mit den technischen Fortschritten,

Industrialisierung und ausgedehnten Wohnvierteln unübersichtlicher geworden war, so

dass die Architekturmalerei, die stets eine Konzentration aufs Einzelne und Zuständige

erfordert, einer neuen Sicht weichen musste. Statt Stadtbilder wurden derzeit

Genredarstellungen und Historienbilder vom Berliner Publikum bevorzugt.128

126 Zum Beispiel: in Klotz’ Buch: Raabe und Gaertner und im 20. Jahrhunderts auf den Buchdeckeln von Georg Hermanns Romanen (Jettchen Gebert, Henriette Jakoby), aber auch auf dem Buchdeckel von deBruyns Als Poesie gut (2006). 127 Für eine ausführliche Beschreibung der Bautätigkeit der Zeit siehe Ernst Heinrich „Die städtebauliche Entwicklung Berlins seit dem Ende des 18. Jahrhunderts“ in Dietrich 201-237. 128 Ein Grund dafür war auch der unterschiedliche Geschmack des neuen Königs Friedrich Wilhelm den IV. 142

Es gibt einen wichtigen zeitlichen Abstand zwischen Gaertner und Raabe. Der

Text fängt an, wo die Bilder aufhören und schildert eine biedermeierliche Stadt, jedoch

auch die Folgen der Industrialisierung. Sogar ein genauer Zeitpunkt für die Trennung

kann aufgestellt werden: die Märzrevolution im Jahre 1848. Eines von den letzten Berlin

Gemälden Gaertners zeigt Barrikaden in der Breiten Straße (Barrikade in der Breiten

Straße, 1848), ganz in der Nähe der Spreegasse, die Märzereignisse spielen auch in

Raabes Roman eine wichtige Rolle und das Datum funktioniert ebenso wie bei Gaertner

als eine Zäsur.

Malerei der Spreegassen: Die Berliner Altstadt in Gaertners Gemälden

Eines von den Pionierwerken über Großstadtwahrnehmung in Literatur ist Volker Klotz’

Buch Die erzählte Stadt (1969), in dem Klotz in seiner Raabe-Analyse „Stadtflucht nach

innen“ ein Gemälde von Gaertner benutzt, um den Hauptort von Raabes Roman zu

veranschaulichen. Das Gemälde heißt Parochialstraße, ehem. Reetzengasse in Berlin und

stammt aus dem Jahre 1831. Keine der von Gaertner gemalten Gassen ist die von Raabe

beschriebene Sperlingsgasse, für die die folgenden Koordinaten vom Erzähler angegeben

werden: „Der Sperlingsgasse ist ein kurzer, enger Durchgang, welcher die Kronenstraße

mit einem Ufer des Flusses verknüpft, der in vielen Armen und Kanälen die große Stadt durchwindet“ (BA I, 19) Während sich Raabes Sperlingsgasse in Alt-Kölln befindet, konzentriert sich Gaertner auf die Gassen in Alt-Berlin. In diesem Sinne sind die gemalten Gassen in Gaertners Gemälden ebenfalls enge Spreegassen, deren Funktion und

Geschichte mit der der Sperlingsgasse übereinstimmen und die zu den bevorzugten

143

Motiven Gaertners am Ende der zwanziger Jahre gehörten. In den folgenden Abschnitten

werden zwei Ansichten von diesen Gassengemälden untersucht, damit diese

Repräsentationen mit der literarischen Darstellung der Sperlingsgasse in der zweiten

Hälfte des Kapitels verglichen werden können.

Gaertners Interesse galt den Straßen in dem heutigen Nikolaiviertel, besonders der

Klosterstraße und der Parochialstraße. Die Architektur in diesem Bereich war

weitgehend von ehrwürdigen barocken Gebäuden aber auch von Neubauten geprägt.

Zwei thematisch ähnliche, jedoch in mehreren Hinsichten unterschiedliche Gemälde von

Gaertner stellen dieses Stadtviertel dar.

Abb. 14-15: Eduard Gaertner, Parochialstraße ehem. Reetzengasse (1831) und Klosterstraße mit Parochialkirche (1830)

Das erste Bild heißt Klosterstraße mit Parochialkirche (1830) und das zweite ist das

Gemälde Parochialstraße ehem. Reetzengasse (1831), das auch Volker Klotz als

Illustration verwand.129 In beiden Gemälden werden bogenförmige Straßenverläufe mit

129 Volker Klotz nennt Raabes Debütroman „Stadtflucht nach innen,“ da der Ich-Erzähler sich bewusst ins Bekannte zurückzieht und die Stadt in seiner Dachwohnung sitzend mit einer kontemplativen Haltung schildert. In seiner textnahen Analyse weigert sich Klotz sogar, Raabes Roman als „Stadtroman“ zu bezeichnen (192), da der Erzähler nicht die ganze Stadt, sondern nur einen kleinen Teil davon beschreibt 144 vorspringenden Simsen und vertikalen Gliederungselementen dargestellt und als

Hauptmotiv der Bildkomposition benutzt Gaertner einen Kirchenturm. In beiden Fällen gibt es detailgetreu dargestellte Figuren auf dem Bürgersteig und auf der Fahrbahn.

Zwischen den zwei Ansichten gibt es aber wesentliche Unterschiede. Auf dem ersten Gemälde dominiert ein Schinkelscher Neubau auf der rechten Seite und erzeugt damit eine spannende Beziehung zwischen Alt- und Neubauten. Auf der linken Seite malte Gaertner eine alte Häuserreihe, jedoch wird die Einheitlichkeit dieser Seite mit

Gerüstbalken abgebrochen, die das baldige Ende der Arbeiten an dem Observatorium der unten liegenden Schule signalisieren (Gaertner 1801-1877, 276). Die Staffage ist auch bemerkenswert, da Kunsthistoriker unter den dargestellten Figuren mehrere zeitgenössische Künstler und Maler identifizieren konnten: Rechts vor dem

Erweiterungsbau steht Schinkel zusammen mit dem Begründer des Gewerbeinstituts

Peter Christian Wilhelm Beuth (Gaertner 1801-1877, 276). Links vor seiner Werkstatt erblickt man den Bildhauer Rauch, dessen Atelier sich in der Nähe befand (ebenda). In der Mitte des Bildes kann man den Maler Gaertner sehen und hoch auf dem Pferd der bekannte preußische Hofmaler Franz Krüger. Diese Motivwahl erzeugt eine

Repräsentation der Stadt, in der der Status des Bürgertums akzentuiert wird und die enge

Spreegasse als „ein bürgerlicher öffentlicher Raum“ funktioniert. Eine Szene erscheint hier auf dem Bild, dessen Staffage zur Veränderung der feudalen Stadt in ein bürgerliches

Zentrum mit ihren architektonischen Entwürfen und Kunstwerken bewusst beitragen kann. Die berühmten zeitgenössischen Künstler führen hier Gespräche miteinander und

und er die Stadt persönlich nicht aufsucht und entdeckt, sondern sich innerhalb der Stadt in eine Gasse und innerhalb der Gasse in eine Dachwohnung zurückzieht. 145

dadurch entstehen ein öffentlicher Raum und eine bürgerliche Öffentlichkeit in der engen

Gasse der Berliner Altstadt.

Im Gegensatz zu dem ersten Gemälde stellt die zweite Abbildung einen

pittoresken Altstadtwinkel Berlins dar, in dem die Zeit stillzustehen scheint. Mit dem

Turmhelm von St. Nikolai erinnert die Ansicht der Kronengasse an die ein Jahr zuvor gemalte Perspektive der Klosterstraße. Aber im Kontrast zu dem dort dargestellten

großzügig dimensionierten Straßenraum scheinen sich die schmalen mehrstöckigen

Häuser zu beiden Seiten der Gasse fast zu berühren. Die Intensität des Raumes, der sich

wieder aus zwei ungleich verkürzten Häuserfluchten entwickelt, hat gegenüber der

Klosterstraße noch zugenommen. Die Staffage ist Biedermeier par excellence und zeigt

die Gemütlichkeit der anonymen, kleinen Leute. Pfeifeschmauchend lehnt ein

Kupferschmied im Türrahmen seines Ladens, „um ihn herum die Erzeugnisse seiner

Kunstfertigkeit“ (278). Auf dem Fahrdamm vor dem Nachbarhaus sägt, hackt und transportiert man Brennholz. Auf der anderen Straßenseite stillen zwei Männer ihren

Durst. Im Kontrast zu den stadtschaffenden und berühmten Namen des damaligen

Kunstlebens in Berlin erscheinen anonyme Figuren auf diesem Bild und ein Stück Alt-

Berlin. Ähnliche Kulissen werden auch in Raabes Chronik inszeniert, wenn der Erzähler

Johannes Wachholder über „Salatwaschen, Schuhflicken, Strümpfestopfen, Hämmern,

Sägen, Federkritzeln“ aus den Alltagen der engen Gasse benachrichtigt.

Bedeutend sind diese zwei Ansichten von Gaertner für unseren Kontext, da

Raabes Sperlingsgasse auch eine ähnliche Gasse ist, die von Leuten aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten und Ursprüngen bewohnt wird.130 Während die Figuren in

130 „Jedes Alter, jeder Stand war vertreten, ja sogar die vornehmste Welt überschritt einmal ihre närrischen Grenzen“ (BA I, 108). 146

den monumentalen Berlinansichten neben der großzügig bemalten Architektur marginal

und Klein erscheinen, werden in den zwei Gassengemälden von Gaertner bekannte und

unbekannte Bewohner Berlins als signifikante, funktionierende und agierende Glieder des

urbanen Organismus geschildert. Gaertner bildete mit diesen Ansichten Bilder eines

bürgerlichen Selbstbewusstseins ab, das auch in Raabes Debütroman thematisiert wird.

Berlin in sechs Stücken gerahmt: Eduard Gaertners Panoramabilder (1834/35)

Neben den engen Gassen malte Gaertner die neuen architektonischen Anlagen des

biedermeierlichen Spree-Athens, das er in seiner Gesamtheit auf einem

Panoramagemälde verewigt hat. Die Kunsthistoriker sind sich einig, dass der Höhepunkt

von Eduard Gaertners Gesamtwerk sein sechsteiliges Berlinpanorama ist.131 1834 begann

Gaertner sein berühmtes Gemälde, das Berlin vom Dach der von Schinkel soeben

errichteten Friedrichswerderschen Kirche darstellt. Die Friedrichswerdersche Kirche war

der erste neogotische Kirchenbau in Berlin, mit dessen Entwurf Schinkel nach einer

Verschmelzung des Mittelalters und der Antiken strebte. Das als Aussichtsplattform genutzte Dach der Kirche war damals ein beliebtes Ausflugsziel der Berliner. Die

Friedrichswerdersche Kirche war der erste Kirchenentwurf von Schinkel und wurde gleichzeitig mit dem Bau des Alten Museums realisiert. Der Kunsthistoriker Berry

Bergdoll macht auf die Beziehung zwischen den zwei Projekten aufmerksam, da auch das

Dach des Alten Museums als ein öffentlicher Raum angelegt worden war:

It [die Friedrichswerdersche Kirche] is the most dramatic example of the reciprocal relationship with which he [Schinkel] sought to foster a new connection between Berlin’s citizens and their daily environment. Just as the staircase and roof terrace of the Altes Museum framed views of the larger urban

131 Vgl. Wirth (33), Verwiebe (103), Oettermann (171). 147

order, so Schinkel insisted that the church towers be open to the public. From here the view was returned to the transfigured Lustgarten. (87)

Wichtig ist es zu erwähnen, dass Gaertner für diesen Blick nicht das Alte Museum,

sondern eine Kirche gewählt hat. In dieser Weise entsteht eine allumfassende Perspektive

aus einem sakralen Standpunkt. Der transformierte Blick auf die Stadt ist jedoch in einem

eigenwilligen Panorama verewigt, da Gaertner kein Rotundengemälde, kein begehbares

öffentliches Bild malte, sondern sich für sechs einzelne Tafeln, also eine zum in

Wohnräumen Aufhängen gedachte Dimension, entschied. Das von Gaertner gemalte

Berlin-Panorama besteht aus zwei Reihen von jeweils drei im Winkel zueinander

angeordneten Bildern, die einen Rundblick über die Dächer Berlins vermitteln. Die

Arbeit wurde zwar vom Hof in Auftrag gegeben, die ungewöhnliche Idee aber soll vom

Künstler selbst stammen (Trost 15). Nach dem Panoramaforscher Stephan Ottomann war

Gaertners Erfindung eine Sonderform innerhalb der Panoramamalerei des 19.

Jahrhunderts (171). Die eigenartige Gestaltung des Gemäldes erzeugt eine Spannung

zwischen öffentlichen und privaten Räumen. Öffentliche Räume der Stadt werden als ein

Innenraum dargestellt und in eine private Stube hineingebracht. Die separaten Teile des

Panoramas funktionieren als gerahmte Einzelbilder, die die Totalität der Repräsentation in Frage stellen.

Gaertner bediente sich für seine große Aufgabe einer Camera obscura, einer

Zeichenmaschine, die benutzt wurde, wenn größte Genauigkeit in der Perspektive und in den Proportionen erforderlich war.132 In seinem Nachlass finden sich etliche

132 Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften beschreibt anschaulich den Gebrauch der Camera obscura: „In dieser Zeit kam Charlotten der Besuch einer Engländers sehr gelegen ... Er beschäftigte sich die größte Zeit des Tags, die malerischen Aussichten des Parks in einer tragbaren dunklen Kammer aufzufangen und zu zeichnen, um dadurch sich und anderen von seinen Reisen eine schöne Frucht zu gewinnen. Er hatte 148

Federzeichnungen auf Transparentpapier, die wohl in Zusammenhang mit der Benutzung einer Camera obscura stehen und nun mit den ausgeführten Bildern verglichen werden können. Eine aufsehenerregende Sammlung früher Fotografien aus seinem Besitz beweist zudem das bislang nur vermutete Faktum, dass sich der Maler bei seiner Arbeit mit diesem zu seiner Zeit neuen Medium durchaus auseinander setzte.133 Da der Zeitgeist die

Anwendung der Camera obscura – als einen die künstlerische Qualität schmälernden

Vorgang – ablehnte,134 vermied Gaertner ihre Erwähnung in seinen Tagebüchern.135 Die

Anwendung der Camera obscura fördert die Entwicklung moderner urbaner

Wahrnehmung, die man auch in Gaertners Berlinpanorama beobachten kann.136 Das

dieses schon seit mehreren Jahren in allen bedeutenden Gegenden getan und sich dadurch die angenehmste und interessanteste Sammlung verschafft. Ein größeres Portefeuille, das er mit sich führte, zeigte er den Damen vor und unterhielt sie, teils durch das Bild, teils durch die Auslegung. Sie freuten sich, hier in ihrer Einsamkeit die Welt so bequem zu durchreisen, Ufer und Häfen, Berge, Seen und Flüsse, Städte und Kastelle und manches andre Lokal, das in der Geschichte einen Namen hat, vor sich vorbeiziehen zu sehen“ (430). 133 Ursula Cosmann hat die Fotografiesammlung des Künstlers (ausschließlich Stadtansichten von Berlin) untersucht und einige der Fotos mit seinen Bildern verglichen. Cosmann zeigt, dass die Fotografie von Vertretern einer realistischen Kunstanschauung, so auch von Gaertner, hochgeschätzt wurde. Sie stellt aber auch anhand mehrerer Vergleiche zwischen Gaertners Gemälden und seiner Fotosammlung eindeutig fest, dass Gaertners Gemälde der Fotografie überlegen ist (87). Für die Gaertner nachfolgende Generation haben aber Architekturfotografen das Themenfeld der detailgetreuen Wirklichkeitswiedergaben übernommen und die Malerei hat neue Themen gefunden (95). 134 Vor allem Kunstphilosophen im 19. Jahrhundert wie z.B. August Wilhelm Schlegel fanden die Verwendung der Camera obscura problematisch: „Das bloße perpectivische Aufnehmen von Gegenden, aufs Gerathewohl, oder um einen deutlichen Begriff von ihrer Lage zu geben, ist freylich Copisten-Arbeit, weil nicht in das Gebiet der schönen Kunst gehört. Dabey mag auch der Gebrauch eines mechanischen Hilfsmittels, der camera obscura, welche Algarotti so empfiehlt, sehr zu Statten kommen; dabey eigentlich pittoresken Zwecken möchte er bedenklich sein und zu einer kleinlichen Manier hinlenken. Dieß optische Kunststück unterjocht gleichsam dem Künstler die Landschaft und macht sie zahm, statt daß, wenn sein Auge unmittelbar mit dem kühnen Wildheit der Natur ringt, er auch die Großheit des Anblicks in sein verkleinertes Bild übertragen wird...“ (205). 135 Kolta beschreibt in ihrem Buch, dass es üblich war, die Verwendung der Camera obscura zu verschweigen. Verwiede demonstriert das gleiche Verhalten in den Tagebuchnotizen Gaertners, der immer wieder einen Euphemismus (z.B. den Ausdruck Bude) statt des Wortes ‚Zeichenmaschine’ oder ‚Camera obscura’ benutzt (Verwiede 107-8). 136 In seinem Buch Aber schickt keinen Poeten nach London! analysiert Heinz Brüggemann die Beschreibung der Camera obscura in den Journalartikeln von London und Paris und stellt fest, dass die Wahrnehmungsästhetik, die durch die Camera obscura ins Leben gerufen wurde, auch als Modell der Großstadtwahrnehmung verstanden werden kann. Im Kapitel „Zauberlaterne und Schmelztiegel“ beschreibt er eine Krise der ästhetischen Erfahrung, die die Stellung des Autors insofern betrifft, als an die Stelle seiner individuellen sprachlichen und stilistischen Kompetenz zunehmend die Dingwelt des Alltagslebens 149 durch eine Camera obscura produzierte Bild kann das Allernächste und Bedrängende in einem verkleinerten Maßstab bewusst machen. Die Konzentration auf einen Teil der

Großstadt entlastet den Künstler von der Überbeanspruchung seiner Sinne und von den

überwältigenden Aspekten der Stadt. Das Resultat ist ein überschaubares Bild, das eine

Distanz ermöglicht und dem Betrachter des Bildes die Illusion von Kontrolle und

Selbstverfügung vermittelt.

Panoramagemälde zeugen in dieser Weise von einem subtilen Eindringen der technischen und industriellen Revolution in die Bereiche der Kunst. Der

Panoramaforscher Stephan Oettermann schreibt sogar, dass das Panorama nur mit dem

Beginn der Industriellen Revolution und deshalb nur in England erfunden werden konnte, wo die Industrialisierung am weitesten fortgeschritten war (38). Zur Erreichung vollkommener Illusion mussten neue Techniken der Malerei, vor allem aber neue

Techniken der Präsentation des Bildes entwickelt werden. Um die Illusion zu steigern, musste das Bild den Betrachter vollständig umgeben, um ihm den Vergleich mit realer

Natur unmöglich zu machen. Die Mechanisierung der Abbildung mit der Hilfe einer

Camera obscura, die Lösung schwieriger perspektivischer Probleme und der Bau einer

Rotunde, um die größtmögliche Täuschung zu garantieren, deuten auf eine neue

Verbindung zwischen Kunst und Technik hin. Technik erscheint bei Gaertner nicht in dem Sinne, dass eine industrialisierte Stadt dargestellt wird, sondern durch die

Repräsentationstechnik, die mit der Hilfe der Camera obscura ermöglicht wird.

Das Panorama war aus mehreren Gründen ein Massenmedium. Einerseits ist die

Betrachtung von Panoramen mit kollektiver Wahrnehmung und der Erscheinung von

als organisierende Instanz tritt (21). Eine ähnliche Erfahrung also, die die Maler bei der Verwendung einer Camera obscura erlebt haben könnten. 150

Massen in den Städten verbunden. Panoramen waren mehrere Tafelbilder, die in den kreisförmigen Rundgemälden aneinandergereiht waren. Ein solches Bild, das z.B. acht

Einzelperspektiven aneinander reiht kann nicht nur von einer, sondern gleichzeitig von acht Personen betrachtet werden. Bei einem vollendeten Kreisbogen ist aber die Anzahl der Augenpunkte unendlich. Diese „Demokratisierung“ der Perspektive ermöglicht, dass

Panoramabilder von bis zu 150 Personen gleichzeitig angesehen werden können

(Oettermann 26). Dieses Phänomen veränderte auch die Ausstellungspraxis. Im

Gegensatz zu in privaten Räumlichkeiten aufbewahrten Bildern waren Panoramen der zahlenden Öffentlichkeit zugänglich. Dementsprechend kann man eine Veränderung in den Bildinhalten beobachten: Anstatt von mythologischen und allegorischen

Darstellungen, die nur von einem begrenzten Publikum interpretiert werden konnten, wurden realistische Stadt- und Landschaftsdarstellungen und real-politische Ereignisse populär. Die Sonderform von Gaertners Panorama zeigt jedoch, dass seine Absicht kein richtiges Panorama war, das für ein breites Publikum gemalt worden wäre.

Warum ging aber das Publikum, das seine Hauptstadt kennen lernen wollte, lieber in die Panoramaausstellungen als auf die Türme von Kirchen? Die Panoramen hatten den Vorteil, dem Besucher einen privilegierten Standort anzubieten, von dem die

Wirklichkeit völlig ausgeklammert wurde. Im Panorama ist das Gesehene dem Betrachter ausgeliefert, und er kann es ungestört analysieren. Wenn er von der erhöhten Plattform herabblickte, konnte der Besucher des Panoramas sich dem Eindruck hingeben, die dargestellte Wirklichkeit zu kontrollieren. In seinem Buch Framing Attention schreibt

Lutz Koepnick diesen Mechanismus auch Gaertners Berlin-Panorama zu:

Artists and scientists here joined their efforts in order to present the city as a meaningful unity, a coherent cosmos to be discerned in its spectacular totality by

151

a distant and detached observer. Through it effectively mobilized the viewer and this participated in the modernization of sight in the early nineteenth century, Gaertner’s spectacular panorama fortified long familiar viewing habits that Mary Pratt calls the ‚monarch-of-all-I-survey’ position. […] the ‚monarch-of-all-I- survey’ gaze fuses the aesthetic experience of panoramic landscapes, as seen from an elevated point of view, with the act of imperial appropriation. […]Rather than displace this familiar rhetorical fusion, Gaertner’s panorama reinvented it for the sake of entertaining his viewers with at once realistic and scientific observations of contemporary Berlin. (55).

Obwohl Gaertner die Mehrheit von seinen Gemälden im Auftrag „Seiner Majestät“

Friedrich Wilhelm III. anfertigte, wird hier die königliche Residenzstadt eher als eine

„bürgerliche Bildungslandschaft“ statt einer illusionären Schaustellung dargestellt, in der

ästhetischer Genuss, räumliche Ordnung und die Ausübung von Macht die wichtigsten

Komponenten wären. Der Künstler befindet sich auf der gemeinsamen Ebene mit dem

Bildbetrachter und bietet ihm eine an der Wirklichkeit orientierte Darstellungsweise an.

Die „monarch-of-all-I-survey“ Position erscheint in diesem Sinne problematisch, da der

Betrachter des Panoramas nicht mehr sieht als die Berliner, die sich vom Dach der neuerrichteten Kirche die preußische Hauptstadt angesehen haben. Gaertner verwendet einen realen den damaligen Einwohnern zugänglichen Standort und eine reale

Perspektive, die jeder Berliner erfahren konnte. Dieses Konzept erscheint nicht nur bei

Gaertner, sondern auch in den Gemälden von anderen zeitgenössischen Vedutenmaler.

Die Kunsthistorikerin Renate Franke charakterisiert die Berlin-Ansichten von Eduard

Gaertner und Franz Krüger in der folgenden Weise: „ihre Bildkonzepte sind nicht auf

Belehrung ‚von oben herab’, sondern auf den Dialog von gleich zu gleich ausgerichtet“

(155). Während der Betrachter des Bildes sich mit dem Maler identifizieren kann, erhält er auch eine aktive Rolle. Von einem öffentlichen Standpunkt im Zentrum Berlins wird eine Vista auf die Schauplätze der bürgerlichen Öffentlichkeit dargestellt. In diesem

152

Kontext wird die traditionelle „monarch-of-all-I-survey“ Position mit neuen bürgerlichen

Elementen ergänzt.

Um Gaertners Position in der Entwicklung der Architekturmalerei besser zu

verstehen, sollen die Details des Panoramas untersucht werden. Das Panorama präsentiert

den Rundblick auf die preußische Residenz mit ihren bedeutenden Gebäuden und

Plätzen. Warme, reich nuancierte Farbigkeit entfaltet sich im sommerlichen

Nachmittagslicht, das bereits lange Schatten wirft und die Plastizität der Architektur zur

Geltung bringt.

Abbildung 16: Eduard Gaertner, Ein Panorama von Berlin, von der Werderschen Kirche aus aufgenommen (1834)

Nach Norden gerichtet, geht der Blick von der Hedwigskirche, Oper und Universität zum

Zeughaus, Museum, Dom und Schloss. Richtung Süden wandert das Auge von der nahezu vollendeten Bauakademie über Wohngegenden, den Kreuzberg in Hintergrund,

bis hin zum Gendarmenmarkt.137 Die öffentlichen Gebäude und bürgerlichen

Versammlungsorte wie Universität, Oper und das von Schinkel errichtete Alte Museum,

das Schauspielhaus sowie die Bauakademie sind würdig präsentiert, jedoch wird das

137 Da ich nicht zu allen Details der Gemälde Zugang hatte, stammt diese Identifizierung der öffentlichen Gebäude größtenteils von der Bildbeschreibung der Kunsthistorikerin Birgit Verwiebe. 153

königliche Schloss an den Rand gedrängt. Wie in der Repräsentationstechnik erscheint

ein Bestreben auch in der Thematik des Bildes, Berlin als bürgerliche Stadt darzustellen,

der nach den Befreiungskriegen eine gewisse Demokratisierung stattgefunden hat.

Den größtmöglichen Blickwinkel benutzte Gaertner nicht nur, um das Profil der

Stadt festzuhalten, sondern auch um sie als Lebensort zu zeigen und vom Alltag ihrer

Bewohner zu erzählen. Der detaillierten Beschreibung des Panoramas durch die

Kunsthistorikerin Birgit Verwiebe zufolge schenkt Gaertner seine Aufmerksamkeit auch den Berliner Einwohnern. Voyeuristisch lässt Gaertner seinen Blick sogar in mehrere

Fenster der naheliegenden Wohnungen fallen. Im Gemälde können unter anderem

Wäsche waschende Frauen, Männer mit Karren, Fässer transportierende Kahnfahrer, ein

Pfeiferaucher am Fenster, eine Bettenklopferin und ein Schornsteinfeger beobachtet

werden (Verwiebe 106). Über Straßen und Plätze bewegen sich Spaziergänger, Reiter,

Kutschen, Lustgarten- und Museumsbesucher. Nicht zuletzt beleben Kinder aber auch

Tiere wie Hunde, Tauben, Schwäne und Pferde das Geschehen. Geschichten werden

erzählt und transitorische Ereignisse als prägnante Momente dargestellt, die die Fantasie

des Betrachters mobilisiert. Gaertners Figurenstaffage erzählt mehrere Geschichten aus

dem Alltag der preußischen Hauptstadt und ihrer Bewohner, die bewusst mehrere

gesellschaftliche Stände repräsentieren. Die anonymen Leute werden jedoch nie kleiner

als diejenige, die bekannte Namen tragen, dargestellt.

Kunsthistoriker haben mehrere der Figuren im Panorama als Gaertners

Zeitgenossen identifiziert. An der Balustrade steht zum Beispiel Karl Friedrich

Schinkel138 und ihm gegenüber Alexander von Humboldt,139 der, an einem Fernrohr

138 Berry Bergdoll schreibt sogar, dass Schinkel Gaertner gebeten hat, einige Teile der Gemälde nach seinem Geschmack anzufertigen: „Schinkel even asked Gaertner, whose preparatory drawings he reviewed, 154

stehend, in Richtung Friedrichsforum weist (Verwiebe 107). Sein Fernrohr bietet den

Schlüssel zum Verständnis von Gaertners Bildwelt: Das Einzelne kann optisch durchaus

nah herangeholt und für sich betrachtet werden, es bleibt aber immer Teil des urbanen

und sozialen Organismus. In jedem Detail des Gemäldes erschließt sich eine eigene

Bildwelt. Die Alltagsszenen und die repräsentativen öffentlichen Gebäude schließen sich

jedoch im Panorama zu einer künstlerischen Einheit zusammen, die über ein nüchternes

Inventar von Berlin und seinen Bauten und Bewohnern hinausweist und ein

harmonisches, einheitliches Stadtbild entstehen lässt. Ein künstlich erschaffenes Berlin,

das Produkt seiner Bewohner ist, erscheint hier, in dessen Stadtbild die letzten

Bauarbeiten ausgeführt werden.

Gaertner hat die Architekturmalerei zu einer Aussageform gesteigert, die neben der Topographie auch das Wesen der Stadt sichtbar macht.140 Um eine bildliche Einheit

zu erzielen, hat Gaertner die in Panoramagemälden übliche Technik benutzt und das

Kirchendach und die darauf befindlichen Zuschauer in den Vordergrund des Bildes

gebracht. Obwohl Gaertners Bilder von einer größtmöglichen Exaktheit zeugen und die

Einbeziehung des Vordergrunds ins Gemälde den täuschenden Charakter der

Panoramabilder evozieren, sind sie weder biedermeierliche Stadtveduten, noch

illusionäre Panoramabilder, sondern „urbane Bildungslandschaften,“ in denen die zivilen

to depict a workman still completing one of the church’s brick finials which otherwise would have obstructed the view of the side elevation of the Altes Museum“ (65). 139 Renzo Dubbine begründet Humboldts Anwesenheit im Gemälde folgendermaßen: „The scientific descriptions of Humboldt, the great naturalist, had been an inspiration for artists. Putting these two men [Schinkel und Humboldt] in the panorama was a dual homage to the architect and constructor of a new artificial landscape and to the scientist and investigator of the physical world. This panorama’s vast but detailed view was analogous to the total, multilevel vision of von Humboldt’s Kosmos (1845-62), a complex work on changes in the observation of natural phenomena that documents ways in which humankind has changed its landscape“ (81). 140 Vgl. dazu Bartmans Analyse, der Gaertners Werk als eine Verbindung aus Elementen der klassizistischen und der romantischen Schule in ihrer Betonung der Komposition einerseits und des Kolorits andererseits versteht (Bartmann 65). 155

Umgangsformen einer bürgerlichen Gesellschaft gezeigt und auch praktiziert werden.

Gaertners Werk ist eine Synthese von den zwei Genres, ein Umstand, der Gaertner eine

Sonderposition in der Geschichte der Panoramamalerei sichert.

Die auffälligste Komponente des Panoramabildes ist Gaertners Absicht, neben dem Interesse der damaligen Berliner sein eigenes Interesse an ihrer Stadt sichtbar zu machen. Alexander von Humboldt mit seinem Fernrohr und weitere Einzelheiten im Bild

– kleine Szenen, in denen in und aus Fenstern hinein- und hinausgeblickt wird – offenbaren eine generelle Neugier und visuelle Eroberungslust der Stadtbewohner.141 Als

einen der Besucher des Aussichtdaches hat Gaertner sich selbst dargestellt. Sein eigenes

Sehen reflektierend, weist er sich selbst als Urheber und Gestalter seines Blicks aus, d.h. er präsentiert sich selbst mit dem deutlichen Selbstbewusstsein des modernen Künstlers.

Hinter ihm lehnt eine Zeichenmappe mit der Aufschrift: „Panorama von Berlin aufgenommen im Jahre 1834 von E. Gaertner“ (Vorwiebe 106). Das wahrnehmende

Subjekt Gaertner versteht sich selbst als Teil der wahrgenommenen urbanen Landschaft und findet es wichtig, die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf die Figur des schaffenden

Künstlers zu lenken.

Obwohl die Stadt noch als eine übersehbare und einheitliche urbane Landschaft erscheint und Gaertner Berlin als eine progressive politische Landschaft malt, manifestiert im Gemälde eine kaum merkbare Spannung zwischen der Autonomie-

Ästhetik der bürgerlichen Epoche und dem möglichen Verlust der individuellen

Souveränität in der wachsenden Großstadt. Diese Kontrolle über den urbanen Raum zeigt sich einerseits in Gaertners Liebe zum Detail, so dass sich Lage und Aussehen der

141 Beispiele dafür: aus einem Wohnhausfenster in Höhe des Schauspielhauses schaut ein Kind einer Frau zu, aus einem Fenster eines Wohnhauses beobachtet eine Familie mit einem Kleinkind Tauben etc. (Verwiebe 106-7). 156

einzelnen Straßen noch heute genau nachprüfen lassen. Andere Zeugnisse für diese

Kontrolle sind die zur Orientierung des Betrachters benutzten Titel, die Gaertner unter

das Bild gemalt hat. Alle Bezeichnungen beziehen sich auf Gebäude von Berlin außer der

einer, die mit „Selbstbildnis“ überschrieben ist.

Die Kontrolle erscheint am markantsten in der eigensinnigen Form des

Panoramas, das aus sechs separaten, gerahmten Bildern besteht.142 Die sechs separaten

Bilder können im Vergleich zu den echten Rundgemälden als eine einfacher

„konsumierbare Menge“ verstanden werden. Die Umrahmung gestattet dem Betrachter

eine Sichtweise, sich auf in der Großstadt Vertrautes zu konzentrieren und die Stadt zu

überblicken. Wie die Anwendung der Camera obscura, so ermöglicht die Umrahmung

der einzelnen Bestandteile eine kontemplative Distanz, die die Zuschauer benutzen

können, um sich selbst in das Stadtbild einzuordnen. Die Verwendung des mechanischen

Apparates, die Anwesenheit der Rahmen und die Anwendung der erhöhten Perspektive erlauben dem Maler, die wachsende Stadt aus der Höhe im Blick – und gleichzeitig unter

Kontrolle – zu halten, um davon soviel wie möglich im Bild festhalten zu können. Die harmonische Einheit des Bildes vermittelt den Eindruck, dass die Stadt interpretierbar und überschaubar ist. Gaertner kreiert eine Fiktion des Wissens über den urbanen Raum und transformiert das Durcheinander der Stadt in ein klar lesbares Bild. Henri Lefevbre schreibt in dem Essay “Seen from the Window” das Folgende: „the one walking on the street is immersed into the multiplicity of noises, rumours, rhythms [...] but from the window noises are distinguishable, fluxes separate themselves, rhythms answer each

142 Nach den meisten Gaertner-Forscher kann die merkwürdige Form dadurch erklärt werden, dass Gaertners Gemälde nicht für ein massenhaftes, zahlendes Publikum bestimmt wurde, sondern für einen einzelnen Privatmann berechnet war. Oettermann spekuliert jedoch, dass Gaertner das Panorama anfangs als richtiges Rundbild geplant hat, dann aber sein ursprüngliches Vorhaben aufgab, weil er für das Projekt keinen Mäzen gefunden hat (171). 157 other. […] So there is a relative silence in the crowd. […] It’s incredible what one sees and hears (from the window). Strict harmony“ (220). Die erhöhte Position am Fenster erzeugt eine paradoxe Situation, wie der Literaturkritiker Heinz Brüggemann beschreibt.

Laut Brüggemann ist der Fensterblick eine Wahrnehmungsform des vereinzelten

Subjekts der großen Städte, „ein Abbruch mit aller lebendigen, aktiven Kommunikation mit der Außenwelt“ (Das andere Fenster, 13). Durch das Fenster, und auch durch den

Rahmen in Gaertners Gemälde, entsteht eine Distanz, die es ermöglicht, das

Mannigfaltige in einem Bild fixieren zu können.

Es gibt jedoch Zeichen für eine Spannung zwischen Allwissenheit und

Fragmentierung in Gaertners Darstellung. Die separaten Teile brechen mit der illusorischen absoluten Repräsentation Berlins und implizieren eine Diskontinuität und

Fragmentierung in der Darstellung des urbanen Raumes. Gaertners Bild, obwohl bewusst

Panorama genannt, verzichtet auf die dem Panorama eigene Form und stellt den

Rundblick auf einzelnen Flachbilder dar, was eine ganz andere Art von Rezeption verlangt. Anstatt dem Zuschauer einen allwissenden Anblick zu versprechen, gewöhnt

Gaertner ihn absichtsvoll oder unabsichtlich daran, dass die Darstellung der Großstadt als eine zusammenhängende, harmonische Ganzheit nicht mehr möglich ist. Die Hegemonie des Blicks des Betrachters der Stadt ist, allerdings noch fast unmerklich, schon in Frage gestellt. Im Gegensatz zu den illusionären Rundgemälden wird man in Gaertners Werk mit einer Fragmentierung des urbanen Raumes konfrontiert, die auch in der

Repräsentation der Großstadt in den Romanen von Wilhelm Raabe entdeckt werden kann.

158

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Gaertners Oeuvre aus dem Berliner

Biedermeier eine Varietät von urbanen Szenen darstellt, in denen unterschiedliche

Lokalitäten des sich verändernden sowie des alten Berlins aus verschiedenen

Perspektiven geschildert werden. In allen Fällen entfaltet sich ein harmonisches Bild der

Großstadt, in der die Bewohner eine aktive Rolle spielen und das Stadtbild selbst verändern und bewirken können. Gaertners Gemälde stellen eine Totalität des biedermeierlichen Berlins dar und zeugen, wie die Repräsentationen des

Schauspielhauses von einer Demokratisierung der Perspektive aus einer Zeit, in der die preußische Grosstadt noch über übersichtliche Proportionen verfügte. Mit dem Ausklang der Berliner Vedutenmalerei fällt die Geburt von Raabes Chronik überein, die bekannte

Berlin-Bilder mit neuen Themen ausfüllt und die von Gaertner und seinen Zeitgenossen produzierten Wahrnehmungen Berlins in dem ersten Berlin-Roman einerseits übernimmt und in seinem Text ins Szene setzt, andererseits auch wegen des zeitlichen Abstandes verwandelt.

159

„Ohne Bekannte und Freunde in der großen Stadt“: Wilhelm Raabe in Berlin

Abbildung 17: Wilhelm Raabe, Tuschzeichnung

Die Tuschzeichnung, vermutlich für die Mutter des Künstlers als Beilage eines nicht

abgeschickten Briefes angefertigt, stellt Raabes Berliner Zimmer im ersten Stock des

Hauses in der Spreegasse Nr. 11 dar.143 Im Zentrum des Bildes sitzt, zwischen zwei majestätischen Fenstern, der 24jährige Schriftsteller, dessen Erstlingswerk ihm schnell einen literarischen Ruf eingebracht hat. Wie die Tuschzeichnung zeigt, zählt Wilhelm

Raabe zu den Künstlern, denen nicht nur die Sprache, sondern auch die bildnerische

143 Vgl. dazu die Beschreibungen dieser Zeichnung in Hoppe 21 und Fuld 94. 160

Ausdruckskunst zu Verfügung stand. In der Zeichnung des Zimmers des angehenden

Schriftstellers liegen auf dem schmalen Schreibtisch Manuskriptblätter, auf der

Kommode rechts steht eine kleine Lampe, die Raabe von Umzug zu Umzug immerfort

begleitet hat.144 Hier begann Raabe am 15. November 1854 mit der Abfassung der

Chronik der Sperlingsgasse, nach der die Spreegasse später in Sperlingsgasse umgetauft

wurde.145 Die Zeichnung, eine Art Selbststilisierung als Schriftsteller präsentierend, zeugt

davon, dass das Doppeltalent Raabe sich während seines Berliner Aufenthaltes für die

schriftstellerische Laufbahn entschieden hat. Der Spiegel an der Wand reflektiert auch, dass Raabes erster Berlin-Aufenthalt eine Selbsterfindung and Selbstkenntnis erzeugt hat.

Wie E.T.A. Hoffmanns Schlafzimmer in seinen Details mit der Beschreibung des

Raumes in der letzten Erzählung Des Vetters Eckfenster übereinstimmt, ist auch Raabes

Erstlingsroman stark autobiographisch geprägt.146 Berlin war offenbar in Raabes Leben ein wichtiger Meilenstein; die preußische Großstadt diente nicht nur als Hintergrund, sondern auch als Subjekt für sein literarisches Debüt.

Berlin war damals zwar eine Großstadt, aber mit seinen rund 400 000 Einwohnern im Jahre 1854 noch vergleichsweise überschaubar und architektonisch vom Klassizismus geprägt. In rascher Folge erstanden jedoch die ersten großen Eisenbahnlinien, die eine

Grundvoraussetzung für den gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung bildeten. Berlin war auf dem Weg, sich von der Provinzstadt zur Industrie- und Kulturmetropole zu verwandeln. Als Raabe 1854 in Berlin eintraf, versuchte er, das Berliner Großstadtleben

144 Vgl. dazu Hoppe 35, Fuld 94-5. 145 Die berühmte Datumsangabe vom 15. November oder wie in der Raabe-Forschung bekannt „Federansetzungstag“ stimmt nach Fuld nicht. In einer sorgfältigen und einleuchtenden Analyse von Raabes Berliner Leseerlebnisse bestätigt Fuld, dass das obige Datum nach Ticks Novelle Der fünfzehnte November konzipiert worden ist. Vgl. dazu Fuld 88-9. 146 Siehe zum Beispiel das folgende Beschreibung Wachholders: „ein Student der Philosophie in der großen Haupt- und Universitätsstadt“ (44) 161

kennen zu lernen. Er studierte in Berlin das Schöne sowie das Hässliche des

Großstadtlebens. Der junge Raabe ging in öffentliche Bibliotheken, in private

Leihbüchereien, ins Theater, in die Oper und betrachtete die verschiedenen Baustile der

Berliner Häuser, um sich ein Bild von der gesamten Architektur zu machen.147 Er

wanderte stundenlang durch die Straßen Berlins, beobachtete aber nicht nur die

prachtvollen Teile der Stadt, sondern auch die Arbeitersiedlungen in den alten

Vorstadtgemeinden. Hier wurde er zum ersten Mal in seinem Leben mit der Armut des

Volkes konfrontiert, die nicht in seine bürgerliche Vorstellung von der geordneten Welt

passte. In der Stadt der „zusammengedrängten Hunderttausenden“ (BA 2, 477) begegnete

Raabe neben dem prachtvollen bürgerlichen Leben auch Pauperismus in den

Elendsvierteln und den bereits grauenvollen sozialen Zuständen in den dunklen Gassen

der Arbeitervierteln.148

Raabe kam nach Berlin, um sein Universitätsstudium zu absolvieren. Er hörte

Vorlesungen über Geschichte, Literatur und Kunstgeschichte. In Berlin wurde Raabe

auch leidenschaftlicher Buchkonsument: er liest angefangen von Hölderlin zu Balzac,

Longfellow und Edgar Allan Poe, Dickens und Hegel – alles was ihm angeboten wird

(von Studnitz 103-4). Später – eindeutig autobiografisch – beschreibt er sein

Berlinstudium in Theklas Erbschaft in der folgenden Weise:

Ich war ein Student und ich studierte in Berlin die schönen Wissenschaften und die hässlichen, für das Vergnügen und ums liebe Brot. Ich studierte aber auch das

147 Nach den Briefen und Tagebuchnotizen konnten die Biographen Cecilia von Studnitz und Werner Fuld die Details von Raabes Berliner Aufenthalt recht genau rekonstruieren. Vgl. dazu Fehse 125-149, Fuld 67- 99 und Studnitz (97-119). 148 Vgl. dazu Raabes Beschreibung der Armenviertel Berlins: „Eng, steil und dunkel sind in der Dunkelgasse die Treppen der Häuser, die Wände salpeterglänzend, der Boden feucht und moderig. Feucht und moderig ist alles hier, und das Geschlecht, welches auf solchem Boden vegetiert, steht meistens in demselben Verhältnis zu den begünstigteren Schichten der menschlichen Gesellschaft, wir die wunderbare Pilzwelt, die im Schatten, in der Feuchte unendlich aufschießt und verwest, zu den gepflegteren Gewächsen in den Gärten“ (GW I, 190). 162

Leben, und in ihm das Schöne und das Hässliche von demselben Blatt; -- o großer Gott, was studierte ich alles! Es ist mir heute noch ein Mirakel, dass ich nicht mit einem Riss, einem Sprung im Hirnkasten oder einem darum gelegten eisernen Bande herumlaufe; die Gehirnerweiterung war zu mächtig. (BA 2, 376)

Vor allem war aber Raabe in der Großstadt mit sich selbst und mit seiner Einsamkeit konfrontiert. Er mied Bekanntschaften und zog sich in seine Wohnung zurück, wie er in seinem Tagebuch notiert: „Ohne Bekannte und Freunde in der großen Stadt war ich vollständig auf mich selbst beschränkt und bildete mir in dem Getümmel eine eigene

Welt“ (BA 2, 66). Nach einem halbjährigen Berliner Aufenthalt entdeckt Raabe, was genau seine eigene Welt werden wird.

Menschen mit ausgesprochener Doppelbegabung haben es oft nicht leicht, ihre wahre Berufung zu definieren. Raabe war von frühester Jugend zum Zeichnen und Malen hingezogen und spielte auch mit dem Gedanken, sich zum Maler ausbilden zu lassen

(Hoppe 18). Seine Mutter ließ ihm zu diesem Zweck bei einem Braunschweiger Grafiker und Maler Privatunterricht geben. Raabe, der bestrebt war, die Techniken des Zeichnens und Malens zu erlernen, benutzte seine Schreibfeder sein ganzes Leben hindurch auch zum Zeichnen. Bleistift, Kohle und Aquarellfarben vervollständigten das Werkzeug, mit dem Raabe auf Schreibpapier, Notizbuchblättern, Rückseiten von Einladungskarten,

Briefumschlägen, erledigten Rechnungen, Manuskripträndern – auf jedem geeigneten

Stück Papier - zeichnete (Peter 14). In der Berliner Zeit hat sich Raabe nach der

Abfassung der Chronik für das Dichtertum entschieden, obwohl die Zeichenfeder sein dichterisches Schaffen zeitlebens begleitete. 149

149 Die Raabe-Forscher Hans-Werner Peter und Karl Hoppe beschäftigten sich mit dem zeichnerischen und malerischen Nachlass Raabes. Beide argumentieren, dass Raabes nahezu unbekanntes zeichnerisches und malerisches Werk ergänzend und oftmals gleichwertig neben das dichterische Werk gestellt werden kann. 163

In der textnahen Analyse von Raabes Briefen aus der Berliner Zeit bestätigt der

Biografieforscher Werner Fuld, dass Raabe im Schreiben der Chronik seine Identität und sein Berufsziel gefunden hat (97). Die Niederschrift der Chronik war nach mehreren

Raabe-Forschern eine Flucht in die Kreativität und eine Art Selbsttherapie.150 In Berlin, frei von familiärem Druck und beruflichen Verpflichtungen, konnte Raabe eine

Selbstdefinition formulieren und, wie die obige Zeichnung darstellt, sich als Schriftsteller definieren. Obwohl die im Oktober 1856 erschienene Chronik kein finanzieller Erfolg wurde, wurde sie ein Leseerfolg in Berlin und begründete Raabes schriftstellerischen

Ruf.

Intermedialität zwischen Gaertner und Raabe: Malerei der Spreegassen und Die Chronik der Sperlingsgasse

Im Gegensatz zu Gaertner vermeidet Raabe die öffentlichen Räume der preußischen

Großstadt und zieht sich in eine enge, versteckte Spreegasse in der Altstadt Berlins zurück. Sein Protagonist, der alte Chronikschreiber Johannes Wachholder, bevorzugt die verborgenen Straßen der Großstadt, wie er dem Leser schon am Anfang seiner Chronik bekannt gibt: Die „krumme[n], dunkle[n] Gassen [sind] Mittelpunkte einer vergangenen

Zeit“ (10). Die Bewohner der alten Stadtteile benehmen sich anders; diese Plätze verfügen noch über eine benjaminische ‚Aura,’ über eine gegebene räumliche, zeitliche und sensuellen Eigenartigkeit.151 Im Kontrast zu der vornehmeren, aber auch öderen

150 Vgl. dazu Fuld 81-2, Studnitz 118. 151 Siehe Walter Benjamins Aurabegriff in „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“; vgl. auch dazu das folgende Zitat aus der Chronik: „Selbst die Bewohner des älteren Stadtteiles scheinen noch ein originelles, sonderbareres Völkchen zu sein als die Leute in den modernen Viertel“ (Chronik 10). Fast alle Sinneseindrücke werden hier benutzt und erwähnt: „Die Dämmerung, die Nacht produzieren hier wundersamere Beleuchtungen durch Lampenlicht und Mondschein, seltsamere Töne als anderswo. Das Klirren und Ächzen der verrosteten Wetterfahnen, das Klappen des Windes mit 164

Neustadt, auf deren „liniengerade[n], parademäßig[en] aufmarschierte[n] Straßen und

Plätze[n]“ sich ein neues Leben entfaltet, enthält die kleine Straße „die wahre

Geschichte“ (BA I, 15).

Expliziter als E.T.A. Hoffmann kritisiert auch Raabe das aufklärerische

Stadtmodell und die bewusste Stadtplanung, als sein Protagonist sich über die Monotonie der Friedrichstadt beklagt und eine deutliche Präferenz für die Lokalitäten der Altstadt

ausdrückt:

Ich liebe in großen Städten diese alte Stadtteile [...] ich liebe sie mit ihren Giebelhäusern und wundersamen Dachtraufen, mit ihren alten Kartaunen und Feldschlangen, welche man als Prellsteine an die Ecken gesetzt hat. Ich liebe diesen Mittelpunkt einer vergangenen Zeit, um welchen sich ein neues Leben in liniengeraden, parademäßig aufmarschierten Straßen und Plätzen angesetzt hat, und nie kann ich um die Ecke meiner Sperlingsgasse biegen, ohne den alten Geschützlauf mit der Jahreszahl 1589, der dort lehnt, liebkosend mit der Hand zu berühren. (BA I, 22)

Die Beschreibung der kleinen Gasse zeugt von einer Intermedialität mit den

Gassengemälden von Gaertner, in denen die Gemütlichkeit eines pittoresken Winkels der

Berliner Altstadt aber auch das Eindringen der Veränderungen nachhaltig sind. Wie in

Gaertners Gassengemälden wird eine Kirche, bei Raabe die in der Nähe stehende

Sophienkirche in Alt-Kölln, als ein wichtiger Beziehungspunkt konnotiert.152 Die

den Dachziegeln, das Weinen der Kinder, das Miauen der Katzen, das Gekeife der Weiber, wo klingt es passender – man möchte sagen dem angemessener, als hier in diesen engen Gassen, zwischen den hohen Häusern, wo jeder Winkel, jede Ecke, jeder Vorsprung den Ton auffängt, bricht und verändert zurückwirft!“ (34); „Hier gibt es noch die alten Patrizierhäuser, -- die Geschlechter selbst sind freilich meistens lange dahin – welche nach einer Eigentümlichkeit ihrer Bauart oder sonst einem Wahrzeichen unter irgendwelcher naiven merkwürdigen Benennung im Munde des Volks fortleben.“ (36) 152 Alt-Berlin: „In der alten [Sophienkirche] war’s, wo eine Tafel an der Wand hing, wo die Namen aller der darauf standen, welche in dem Franzosenkriege aus unserem Viertel gefallen waren, und worunter auch meine Jungen waren: Ludwig Friedrich Karl Karsten und Wilhelm Johannes Albert Karsten. Die Tafel hatten wir unserm Kirchenstuhl gerade gegenüber, und des Sonntags schauten wir immer darauf und dachten an unseren braven Jungen, und mein Alter war stolz auf die Tafel und ich auch, wenn ich auch genug darüber geweint hatte und noch weinte.“ (BA I, 122) Die Geschichte der Sophienkirche beschreibt auch impliziter Weise die Ereignisse im Jahre 1848 als eine Zäsur in der deutschen Geschichte. Beschreibt wie die Kirche abbrennt und die Tafeln vernichtet werden. „Mutter Gottlob, die Tafel ist verbrannt“ (BA I, 123). 165

Glocken der Kirche mit einer direkten Anspielung auf Schillers berühmtes Gedicht

funktionieren als ein textverknüpfendes Motiv, das das Rückgrat des Romans

konstituiert. Der Turmhelm der Kirche wird mehrmals erwähnt ebenso wie ihre

Geschichte von den napoleonischen Kriegen bis zur Erzählgegenwart.

Nicht nur die bei Raabe wiederkehrende in den Hintergrund gedrückte Ansicht

der Sophienkirche erinnert Raabes Stadtdarstellung an Gaertners Gemälde, sondern auch die Architektur der Gasse. Wie in dem Gemälde von Gaertner Parochialstraße, ehem.

Reetzengasse (1831) wird auch Raabes Spreegasse mit alten Patrizierhäusern und mit einem „wahre[n] Reich der Keller- und Dachwohnungen“ eingerichtet. In dieser Weise entsteht ein intimer Ort, der mit den gegenüber liegenden Wohnungen zusammen einen vielfältigen, komplexen Erzählraum erzeugt. Die äußere Gasse wird oft als Innenraum verdichtet und Szenen in den privaten Zimmern von der Gasse beobachtet und beschrieben. Wie bei Gaertner entsteht im Roman von Raabe ein intensiver Raum, der mit ähnlichen Figuren, fiktiven jedoch repräsentativen Intellektuellen der Großstadt und anonymen Leuten bevölkert wird.

Wie die Lage und Architektur der engen Gasse in der Altstadt werden auch die

Bewohner der Gasse im Roman mit ähnlichen semantischen Mitteln geschildert und zwischen ihnen und den Bevölkerungen der neuen Stadtteile eine analoge Polarität aufgestellt:

Selbst die Bewohner des älteren Stadtteils scheinen noch ein originelleres, sonderbares Völkchen zu sein als die Leute der modernen Viertel. Hier neben der Arbeit und des Ernsts, und der zusammengedrängtere Verkehr reibt die Menschen in tolleren, ergötzlicheren Szenen aneinander als in den vornehmeren, aber auch öderen Straßen. (BA I, 25)

166

Raabes Protagonist verdeutlicht durch diese Stelle, dass die soziale Umgebung und die

Bewohner der Altstadt spannendere Konstellationen ins Leben rufen und dem

Schriftsteller einen eindringlicheren Stoff liefern als die modernen Stadteile Berlins.

Diese Intensität erzeugt einen paradigmatischen Sozial- und Geschichtsraum, der im

Kontrast zu den neuen Stadtteilen Berlins „Spiegel und Gegenwelt der Geschichte in einem“ ist (Göttsche 28). Einerseits ist die Gasse eine Oase und ein vormodernes

Zentrum in der Stadt, andererseits wird sie „eine unschätzbare Bühne des Weltlebens [...] wo Krieg und Friede, Elend und Glück, Hunger und Überfluss, alle Antinomien des

Daseins sich widerspiegeln“ (BA I, 17). Die Gasse spiegelt pars pro toto die politische und soziale Realität Berlins in den privaten Geschichten der Gassenbewohner wider.

Die unauffällige Sperlingsgasse, Subjekt und Objekt des Romans, entbehrt jedoch nicht des Tempos und der Nervosität der neuen Stadtteile. Wachholder wählt sie als

Mittelpunkt seiner Chronik, weil sie „lebendig genug [ist], einen mit nervösem Kopfweh

Behafteten wahnsinnig zu machen und ihn im Irrenhause enden zu lassen“ (BA I, 12).

Diese Beschreibung evoziert Georg Simmels Charakterisierung der Nervosität der

Großstadt, die die psychologische Grundlage der Großstadtmentalität ins Leben ruft.

Diese Schilderungen der Sperlingsgasse erzeugen eine Spannung: Einerseits ist die kleine

Gasse mit der Vergangenheit eng verbunden und funktioniert als eine untergehende ländliche Idylle im Herzen der wachsenden preußischen Hauptstadt (wie die Stadt in dem zweiten Gassengemälde von Gaertner), andererseits ist sie eine Abbildung der großen

Stadt (wie Berlin im ersten Gassengemälde von Gaertner), ein Mikrokosmos im

Makrokosmos.

167

In der Chronik der Sperlingsgasse werden die Ereignisse auf zwei Zeitebenen erzählt. Dirk Göttsche beschreibt die komplexe Zeitstruktur des Romans in der folgenden

Weise:

An die Stelle der pragmatischen Handlungsstruktur eines konventionellen ‚Romans’ (BA I, 75) oder einer streng autobiographischen Erzählfiktion tritt eine genau komponierte Sequenz von Aufzeichnungen, die sich über die chronologische ‚Folge’ der erzählten ‚Begebenheiten’ (BA I, 15) hinweg zu einem ästhetischen Reflexionsraum des Zeitbewusstseins und der Geschichtserfahrung zusammenschließen. (19)

Die erste Zeitebene ist die Gegenwart, die Reaktionszeit der 50er Jahre in Berlin

und als Erzähler dient der gealterte Gelehrte Johannes Wachholder, der schon dreißig

Jahre in der Sperlingsgasse lebt und seine Beobachtungen und Erinnerungen vom Winter

1854 aufzeichnet. Eine Chronik nennt er sein Werk, in der gegenwartsbezogene

Tagebucheintragungen, traumselige Erinnerungen, ältere Niederschriften, Briefe und

Erzählungen Dritter miteinander verknüpft werden. Zu den charakteristischen Gestalten gehören intellektuelle Gassenbewohner wie der Karikaturist Strobel und der Journalist

Wimmer, der wegen eines „fatalen politischen Hustens“ aus Berlin ausgewiesen worden ist (BA I, 119). Weitere Bewohner der Sperlingsgasse sind ein liberaler Lehrer, Roder, der nach dem Scheitern der Märzrevolution nach Amerika flieht, kleine Handwerker, die nicht mehr konkurrenzfähig sind und die hübsche Balletttänzerin, deren Kind zu Hause im Sterben liegt, während sie im Theater auftreten soll. Die Bewohner der Gasse stammen aus verschiedenen sozialen Schichten und ihre Herkunft und Rolle im Roman sind auch durch die oben oder unten liegenden Wohnungen beschrieben. Mit dieser

Topographie entsteht die Gasse wie in Gaertners Gemälden als ein bedacht konstituierter

Sozialraum. Das von Wachholder mehrmals erwähnte ständige „Kommen und Gehen“

168

bezieht sich auch auf die gesellschaftliche Mobilität der Gassenbewohner, die durchweg

Beispiele sozialer Verdrängung sind.

Die zweite Zeitebene ist die Vergangenheit, die gemeinsame Kindheit des

Erzählers und seiner Nachbarn im provinziellen Ulfelden und die Vergegenwärtigung der

Liebe zu Marie, die den gemeinsamen Freund, den Maler Ralff geheiratet hat. Ihre

Tochter Elise ist jedoch bei Wachholder aufgewachsen, der nach dem Tod der Eltern die

Pflegschaft übernommen und in ihre Wohnung umgezogen ist. Elise heiratet Gustav

Berg, der auch in der Sperlingsgasse großgeworden ist und am Ende des Romans als

Maler mit Elise in Italien sesshaft wird. Die einander zugewandten Fenster und

Blickaustausche symbolisieren eine Kultur des Miteinanders und der Solidarität. In der

geschlossenen Welt der Sperlingsgasse beschreibt Wachholder das enge Zusammenleben

einer bunten Bevölkerung, die durch die Großstadt miteinander in Kontakt gebracht

worden ist, deren Leben jedoch in den meisten Fällen durch die Großstadt auch zerstört

wird.153

Großstadtfeindlich ist Raabes Roman in dem Sinne, dass der Autor die Großstadt

mit moralischem Verfall, sozialen Problemen und mit einer Zerstörung von idyllischen

Lebensformen und der Zivilisation assoziiert und statt ihrer Gegenwart ihre nicht mehr

existierende Vergangenheit akzentuiert. Im Roman wechseln Jetzt und Einst, und die

Beschreibung der Kindheitsjahre in der Kleinstadt Ulfelden fällt besonders nostalgisch

aus. Raabes Gassengemeinschaft schafft in der Altstadt Berlins eine Oase, in der eine

vergessene Innerlichkeit und Idylle bewahrt werden können, die aber auch als ein Ort

bewusster bürgerlicher Zeitkritik funktioniert. Viele von den Geschichten der Bewohner

153 Für eine Analyse über die soziale Empfindlichkeit Raabes in der Chronik siehe das Raabe Kapitel von Alfred Whites Buch. 169

enthüllen die Enttäuschung der liberalen Erwartungen durch die Restauration und

reflektieren die Folgen der gescheiterten Revolution von 1848. Dabei kommt in den

Geschichten der Vergangenheit eine Adelskritik zu Tage ebenso wie die Darstellung der

existenziellen Abhängigkeit der Schriftsteller und Lehrer von den politischen

Veränderungen in der Restaurationszeit. Im Gegensatz zu Gaertners Gemälden, in denen die Stadt als Produkt ihrer Einwohner dargestellt wird und in denen agile und

selbstbewusste Stadtbewohner gezeigt werden, skizziert Raabe seine Intellektuellen in der Sperlingsgasse als Individuen, deren Freiheitsansprüche nicht erfüllt wurden, die sich in einer ökonomischen Abhängigkeit befinden und die Opfer der Zensur und der

Ausweisung werden. In diesem Sinne schafft sowie Raabe als auch Gaertner, eine selbstbewusste, bürgerliche „urbane Bildungslandschaft“, in der auch aktuelle Ereignisse und Machtverhältnisse der 1850er Jahre thematisiert werden.

„Wie ein Gebäude aus den bunten Steinen eines Kinderbaukastens“: Reflexivität und intensivierte Visualität in der Erzählform

Die literarische Historiografie über Raabes Chronik hat die großstadtfeindliche

Stadtdarstellung des Romans betont und gezeigt, dass Raabes Berlinroman Baudelaires modernen Parisschilderungen aus der gleichen Zeit nicht das Wasser reichen kann.154

Obwohl die Erzählform des Romans zur Entwicklung der modernen urbanen

Wahrnehmungsästhetik erheblich beigetragen hat, wird in der Forschung die ‚Modernität’ von Raabes Roman nur selten erwähnt.155 Im folgenden argumentiere ich, dass Raabes

154 Die großstadtfeindlichen Elemente Raabes Erzählung dominieren in den folgenden Analysen: Fairley (1961), Fries (1980), Klotz (1969), Maatje (1964), Meyer (1953), Scherpe (1989) und Richter (1968). 155 Heinrich Spiero charakterisiert Raabes Roman in der folgenden Weise: „Ein episches Verfahren [das] in vollem Umfang [...] erst im 20. Jahrhundert Schule gemacht hat“ (29) und Anke Glebert zählt Raabes 170

Roman im Ansatz bereits Elemente der modernen Großstadtprosa enthält, die sich in der montageartigen Erzählform des Romans, die einen Ort -- die Sperlingsgasse -- zum

Erzähler avancieren lässt, in der Darstellung der Nervosität des Großstadtlebens, in der

Schilderung der Abhängigkeit des kreativen Künstlers von der Stadt zeigt und in einer erhöhten Visualität manifestiert.

Die Erzählstruktur muss auf den zeitgenössischen Leser wohl fremd gewirkt haben, wie Wachholders bester Freund, der Chronik-Mitschreiber und

Karikaturenzeichner Strobel es auch bemerkt: „Wie Sie in diesen Blättern Vergangenheit und Gegenwart, Wahrheit und Dichtung durcheinanderwerfen, das ist denn doch des

Guten zuviel (143).“ Die Erzählform der Chronik erinnere ihn, sagt Strobel, an Albrecht

Dürer, der sich bei einer gewissen Gelegenheit zwar lobend über das Bild eines Malers aussprach – es stellte eine Jagdszene dar –, aber gestehen musste, dass er nicht wisse, welches die Hasen und welches die Hunde seien: „Wer darüber nicht konfus wird, der ist es schon!“ (143).

Für die Erzählform wird von Wachholder immer wieder das titelgebende Genre

Chronik benutzt und in der folgenden Weise definiert:

Eine Chronik aber nenne ich diese Bogen, weil ihr Inhalt, was den Zusammenhang betrifft, gar sehr jenen alten naiven Aufzeichnungen gleichen wird, die in bunter Folge die Begebenheiten aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erzählen; die jetzt eine Schlacht mitliefern, jetzt das Erscheinen eines wundersamen Himmelzeichens beobachten; die bald über den nahen Weltuntergang predigen, bald wieder sich über ein Stachelschwein, welches die deutsche Kaiserin im Klostergarten vorführen lässt, wundern und freuen. Und wie die alten Molche hier und da zwischen den Pergamentblätter ihrer Historien und Messbücher hübsche, farbige, zierlich ausgeschnittene Heiligenbilder legten, so will ich ähnliche Blätter einflechten und durch die eintönigen, farblosen Aufzeichnungen meiner alten Tage frischere, blütenvollere Ranken schlingen. (BA I, 15)

Chronik in ihrem Buch The Art of Taking a Walk zu den frühesten Beispiele einer „sesshaften Flanerie“ zusammen mit ETA Hoffmanns Des Vetters Eckfenster (18). 171

Diese personalisierte Genrebeschreibung widerspricht jedoch der offiziellen Definition

der Chronik, die die Ereignisse in zeitlich genauer Reihenfolge darstellen sollte. Ziel der

Chronik ist daneben die Geschehnisse in größeren Zeiträumen überschauend darzustellen,

miteinander zu verknüpfen und eine Epochengliederung zu entwickeln. Chroniken

verfolgen die Absicht zu belehren und versuchen, einen Zusammenhang zwischen

christlicher Heilsgeschichte und profaner Weltgeschichte herzustellen.156 Wachholder alteriert diese Form zu seinen Zwecken und benutzt die Chronik als Medium bürgerlichen

Selbstbewusstseins, als Autobiographie und als eine individualisierte Chronik gasamtdeutscher Geschichte.

Durch mehrere Erzählungen reicht der berichtete Zeitraum bis zu den

Napoleonischen Kriegen zurück, und in dieser Weise entsteht eine Chronik der deutschen

Geschichte aus der Perspektive der Bewohner in der Sperlingsgasse. In der Beschreibung der Geschichte der Gasse und der Erinnerungen ihrer Bewohner fragmentiert der Erzähler

Wachholder seine einsame, homogene Welt in ein Kaleidoskop von singulären

Ereignissen. Die herkömmliche Erzählweise löst sich in der Auseinandersetzung mit dem

Sujet Großstadt und der Mannigfaltigkeit ihrer Bewohner auf und kommt eine Narration zustande, die den extrem fragmentierten Großstadtromanen wie Rilkes Parisroman Die

Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge und Döblins Berlin, Alexanderplatz den Weg bereitet.

Da die umgebende Stadt im Roman kein festes Raumgefüge anbietet, bekommt der einzige feste Raum, die Sperlingsgasse, markante Konturen. Diese Konstellation charakterisiert Hermann Meyer prägnant: „Der eigentliche Zement indessen, der die aus

156 Chronik. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 2. 1955–2026. 172

den Fugen gegangenen und auseinanderstrebenden Zeitteile zusammenhält, ist der mit

sich selbst identisch bleibende Raum, der enge Bezirk der Sperlingsgasse“ (105).

Besonders in diesem Detail lässt sich die Modernität von Raabes Roman erkennen. Der

rein räumlich inspirierte Text weist nämlich auf die berühmten Flaneurfiguren der 1920er

Jahre voraus; Franz Hessels, Walter Benjamins und Siegfried Kracauers Berlin-Texte

sind ebenfalls von Berliner Lokalitäten angeregt worden. Ihre Feuilletons und Berliner

Kurzprosa sind fast ausnahmslos mit Berliner topografischen Namen – Pariser Straße,

Kurfürstendamm, Tiergarten, Tempelhof etc. – überschrieben. Alle drei Autoren betonen eine Passivität des Erzählers, der der Stadt ohne etwas „Bestimmtes vorzuhaben“ zuhören und zuschauen, und als Empfänger seine Wahrnehmungen in einen Text umwandeln soll.157

Diese Umsetzung der traditionellen Subjekt-Objekt-Beziehung, in der die Straße

aktiv erzählt und der Chronikschreiber die dort stattfindenden Ereignisse passiv

aufschreibt, ist schon im 19. Jahrhundert vorhanden. Ludwig Börnes Zitat über die Stadt

Paris, „Ein aufgeschlagenes Buch ist Paris zu nennen, durch seine Straßen wandern, heißt

lesen,“ ist besonders in jüngster Zeit in den Interpretationen von Berliner Flaneurtexten

aus den 1920er Jahren immer wieder zitiert worden.158 1929 beschrieb Franz Hessel

Flanieren in einer ähnlichen Weise als „eine Art Lektüre der Straße, wobei

Menschengesichter, Auslagen, Schaufenster, Cafeterrassen, Bahnen, Autos, Bäume zu

lauter gleichberechtigten Buchstaben werden, die zusammen Worte, Sätze und Seiten

157 Vgl. dazu: „Um richtig zu flanieren, darf man nichts Bestimmtes vorhaben“ (Hessel) oder „Sich in einer Stadt nicht zurechtfinden heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht man Schulung. Da müssen Straßennamen zu dem Irrenden so sprechen wie das Knacken trockener Reiser und kleine Straßen um Stadtinnern ihm die Tageszeiten so deutlich wir eine Bergmulde widerspiegeln“ („Tiergarten,“ 9). 158 Vgl. dazu Gleber 8-11. 173 eines immer neuen Buches ergeben” („Berlins Boulevard“ 145). Diese Kontinuität entsteht auch dadurch, dass der Paradeflaneur Franz Hessel in seinen Feuilletons auch

Raabe und die Sperlingsgasse mehrmals erwähnt.159

Das oben dargestellte Verhältnis zwischen dem wahrnehmenden Autor und der wahrgenommenen Stadt findet man auch in Raabes Chronik. Immer wieder unterstreicht

Wachholder die eigene Passivität bei der Verfassung der Chronik und weist dadurch auf die Aktivität der Straße hin: „Ich schreibe keinen Roman und kann mich wenig um den schriftstellerischen Kontrapunkt bekümmern; was mir die Vergangenheit gebracht hat, was mir die Gegenwart gibt, will ich hier, in hübsche Rahmen gefasst, zusammenheften“

(9-10).160 Die Gasse ist bei Raabe zugleich Veranstalter und Gegenstand der Erzählung.

Obwohl Raabes Erzähler sich ausschließlich von einer einzigen Lokalität anregen lässt, die er sesshaft aus seinem Zimmer entdeckt, trägt diese neue Raumkonstellation zu einem

Bruch mit der tradierten, herkömmlichen Erzählform bei. 161

Neben der Infragestellung der Autonomie des Erzählers erscheint die Modernität des Textes in der Akzentuierung der Nervosität der Großstadt und –wenn auch nur implizit – ihr produktiver Einfluss auf die künstlerische Tätigkeit Wachholders. Wie

159 Die Sperlingsgasse wurde eine der wichtigsten literarischen Lokalitäten in der 1920er Jahren. Franz Hessel besucht sie auch während seines Stadtrundgangs: “Sieh, da zur Rechten zweigt so ein Gässchen ab, Spreegasse heißt es und Raabes Sperlingsgasse, und da steht auch das Haus, in dem der Dichter gewohnt hat…” („Rundfahrt“ 65). 160 Vgl. auch dazu: „Einem Wässerchen will ich diese Chronik vergleichen, einem Wässerchen, welches sich aus dem Schoss der Erde mühevoll losringt und, anfangs trübe, noch die Spuren seiner dunkler schmerzvollen Geburtsstätte an sich trägt. Bald aber wird es in das helle Sonnenlicht sprudeln, Blumen werden sich in ihm spiegeln, Vögelchen werden ihre Schnäbel in ihm netzen. An dieser Stelle werdet ihr es fast zu verlieren glauben, an jener wird es fröhlich wieder hervorhüpfen. Es wird seine eigene Sprache reden in wagehalsigen Sprüngen über Felsen, im listigen Suchen und Finden der Auswege, -- Gott bewahre es nur vor dem Verlaufen im Sande!“ (BA I, 25). 161Eine radikale Verwechslung von wahrnehmendem Subjekt und wahrgenommenem Objekt beschreibt Rilke in dem Pariser Tagebuch von Malte Laurids Brigge: „Noch eine Weile kann ich das alles aufschreiben und sagen. Aber es wird ein Tag kommen, da meine Hand weit von mir sein wird, und wenn ich schreiben heißen werde, wird sie Worte schreiben, die ich nicht meine. [...] [d]iesmal werde ich geschrieben werden. Ich bin der Eindruck, der sich verwandeln wird“ (Rilke, Malte 47). 174

schon in der Einführung dieser Analyse erwähnt, beschreibt Wachholder die

Sperlingsgasse, den Mikrokosmos des Makrokosmos, als einen Ort, der „lebendig genug

[ist], einen mit nervösem Kopfweh Behafteten wahnsinnig zu machen und ihn im

Irrenhause enden zu lassen“ (BA 2, 17). Diese Beschreibung der kleinen Gasse entspricht der psychologischen Grundlage großstädtischer Individualitäten, die der Soziologe Georg

Simmel um die Jahrhundertwende prägnant aufgezeichnet hat. Nach Simmel erlebt man

in der Großstadt eine „Steigerung des Nervenlebens,“ die aus dem raschen und

ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht. Trotz

Wachholders selbstgewählter Isolation und des Mangels einer direkten Stadterfahrung ist

hinter den Zeilen der Chronik ein Überfluss von Reizen erkennbar. Die Sperlingsgasse,

ein Ort von „ununterbrochene[m] Strom des Gehens und Kommens“ (BA I, 25), fördert

eine Multiplizität von rapiden, mannigfaltigen Reizen, die die tradierte Erzählweise

umformen und Wachholder anregen, beim Verfertigen seiner Chronik neue

Erzähltechniken anzuwenden.

Die Großstadt begünstigt Wachholders Kreativität, dessen Chronik unter anderem

von einem befreienden Gefühl, das man in der Stadt als Künstler erleben kann, zeugt.

Wachholders kreative Tätigkeit ist abhängig von der Stadt, die ihm die Erzählmotivation

und den Erzählstoff liefert. Jedoch hat diese Stadtsucht und die in der Großstadtluft

erlebbare „Freiheit“ auch eine von Simmel am prägnantesten beschriebene Kehrseite, die

in Raabes Chronik ebenso anwesend ist:

Denn die gegenseitige Reserve und Indifferenz, die geistigen Lebensbedingungen großer Kreise, werden in ihrem Erfolg für die Unabhängigkeit des Individuums nie stärker gefühlt, als in dem dichtesten Gewühl der Großstadt, weil die körperliche Nähe und Enge die geistige Distanz erst recht anschaulich macht; es ist offenbar nur der Revers dieser Freiheit, wenn man sich unter Umständen nirgends so einsam und verlassen fühlt, als eben in dem großstädtischen Gewühl;

175

denn hier wie sonst ist es keineswegs notwendig, dass die Freiheit des Menschen sich in seinem Gefühlsleben als Wohlbefinden spiegele. (Hervorhebungen von mir, Simmel 199)

Simmels Argument zeigt sachlich und gnadenlos, dass einem die Großstadt gewisse

Unabhängigkeit sichert und künstlerischen Innovationen Raum gibt, jedoch bringt dieser

Zustand nicht unbedingt ein emotionelles Wohlbefinden mit sich. Wilhelm Raabe, dessen

Braunschweiger Skizze Einer aus der Menge (1858) als Antwort auf Edgar Allan Poes

Man of the Crowd keineswegs die rauschhafte und verführerische Masse literarisch

beschreibt, sondern in der verfallenen Großstadt nach Perlen und Kostbarkeiten sucht,

macht auch in seiner Chronik einen resignierten Versuch, die bedrohte Einzigartigkeit

und die emotionelle Stabilität des Individuums zu retten.162 Die Anwendung von

modernen Erzähltechniken ist bei Raabe, wie in diesem Beispiel, oft mit traditionellen

Inhalten ausgefüllt.

Die Spannung zwischen tradierter Erzählung und moderner

Großstadtwahrnehmung in Raabes Erstlingswerk erzeugt eine erhöhte Visualität und eine

intensivierte Wechselbeziehung zwischen Literatur und bildender Kunst. Visualität und

Modernität stehen in einem engen Zusammenhang miteinander.163 Die Hegemonie des

Sehens wurde mit dem Diskurs des Urbanismus in der Moderne zum einen durch die von

Georg Simmel analysierte Dominanz der Aktivität des Auges über die des Gehörs in die

öffentliche Interaktion aufgenommen. Die Überlegenheit des Sehens erscheint auch bei

Raabe, der seine Arbeitsweise in der folgenden Weise beschrieben hat: „Der Begriff war

162 In der Chronik schreit Wachholder: „Ich bin allein! – Allein.“ (BA I, 28) 163 Heinz Brüggemann analysiert die Diskussionen und kulturwissenschaftlichen Analysen in der Einführung seines Buches, Architekturen des Augenblicks, und stellt fest, dass das Modell, in dem der Sinnesdiskurs in der Moderne durch eine Hegemonie des Sehens bestimmt ist, gestützt vor allem auf Heideggers Deutung des cartesianischen Perspektivismus als dem herrschenden visuellen Konzept neuzeitlicher Subjektivität (Die Zeit des Weltbildes, 1938), sich seitdem immer mehr zu einer Konvention verfestigt hat (12-3). 176 mir gar nichts, ich nahm alles aus der Anschauung“ (Zitiert nach Peter, 10).164 In der

Chronik hat Raabe die Eigenart des zeichnerischen Gestaltungswillens von sich selbst auf den Erzähler übertragen. Wachholders Ziel ist es, die eintönigen, farblosen

Aufzeichnungen der Chronik durch bunte Bilder aufzulockern und das in der

Sperlingsgasse Geschehene bildhaft-anschaulich zu Papier zu bringen. Um dieses Ziel zu erreichen, soll der Erzähler nach Raabe nicht mehr als Schriftsteller, sondern als Maler tätig sein. Wachholder, der mehrfach über seine kreative Tätigkeit reflektiert, sagt explizite, dass er keinen traditionellen Roman schreibt: „ Ich male Bilder und bringe keine Handlung“ (BA I, 73). Im Folgenden analysiere ich die Spannung zwischen tradierter und moderner Stadtwahrnehmung in der Visualität des Romans, während die

Arbeitstechniken des Schriftstellers mit denen des Malers verglichen und im oben erwähnten Kontext auch die Anwendung der erhöhten Perspektive – der Fensterblick und die Vogelschau – untersucht werden.

Im „Traum- und Bilderbuch der Sperlingsgasse“ (BA I, 13) gibt es mehrere

Referenzen auf die Arbeitstechnik des Malers und Schriftstellers. Raabe, der selbst gerne

Skizzen anfertigte, völkerte die Sperlingsgasse mit mehreren Künstlern: Die wichtigsten

Bekanntschaften Wachholders sind seine Künstlernachbarn, der Maler Ralff und der

Karikaturist Strobel. Die Arbeitsweise des Malers, der einen flüchtigen, aber prägnanten

Moment auf seinem Papier festhält, erweist sich als besonders hilfreich, wenn

164 Raabe, der Vorlesungen über Kunsttheorie in Berlin belegte, war wohl auch mit den Gedanken von vertraut, der in seinem berühmten Buch Welt als Wille und Vorstellung die Anschauung als die wichtigsten Quelle aller produktiven Tätigkeit bezeichnete: „Die Anschauung ist es, welcher zunächst das eigentliche und wahre Wesen der Dinge, wenn auch noch bedingterweise, sich aufschließt und offenbart. Alle Begriffe, alles Gedachte, sind ja nur Abstraktionen... eine anschauliche Auffassung ist allemal der Zeugungsprozess gewesen, in welchem jedes echte Kunstwerk, jeder unsterbliche Gedanke den Lebensfunken erhielt. Alles Urdenken geschieht in Bildern“ (II. Teil, 3 Buch, 31 Kapitel). Der Protagonist des Romans Die Leute aus dem Walde liest auch Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung während seiner Ausbildung in der Stadt (BA 5, 162). 177

Wachholder die Vollständigkeit eines Ereignisses oder die Menge in der kleinen Gasse

aufs Papier zu bringen versucht.165 Wachholder arbeitet mit dem Karikaturenzeichner

Strobel zusammen, Strobel verfasst mehrere Seiten der Chronik und beide suchen nach

Bildern, die sie im Text bzw. im Bild bannen möchten. Eine Verbindung ihres

Arbeitsverfahrens tritt mehrmals im Roman auf. Strobel beobachtet zum Beispiel eine

attraktive, mit ihrem Kind spielende Frau von seinem Fenster aus und bemerkt dabei:

„Das Bild da drüben gehört hinein [in die Chronik], wie es in meine Skizzenmappe

gehört“ (BA I, 36).166 Dieses Wechselspiel zwischen den beiden Gattungen trägt

zweifellos zur innovativen Struktur des Romans bei. Anstatt einer linearen Erzählung,

mit Lessings Terminus „Nacheinander von Handlungen,“ entsteht ein „Nebeneinander“

von Bildern in Raabes Chronik (Lessing 114). Nach Lessings Theorie kann Dichtung

zeitliche Abfolgen darstellen und die bildende Kunst nur einen einzelnen Augenblick,

„einen prägnanten Moment,“ wie zum Beispiel das obige Bild von der hinter dem

Fensterrahmen mit ihrem Kind spielenden Frau.167

Raabes Erzähltechnik unterstützt eine gewisse Grenzüberschreitung zwischen

Malerei und Dichtung, während er ‚Bilder’ aus der Sperlingsgasse nebeneinander reiht

und über seine Schreibtechnik in der folgenden Weise reflektiert:

165 Dieses Phänomen erscheint auch in Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in dem besonders die Beschreibungen von öffentlichen Plätzen, die wegen ihrer Vollzähligkeit schwer zu beschreiben sind, höchstvisuell sind und von Cézannes Einfluss auf Rilkes zeugen (Tráser-Vas, 105). 166 Vgl. dazu auch die folgende Beschreibung Strobels über seine eigene Arbeitstechnik: „Und die seitwärts abführenden Holzwege? [...] Laufen alle der großen Straße wieder zu, nachdem sie an irgendeiner schönen, merkwürdigen, lehrreichen Stelle vorübergeführt haben. Ich, der Fußwanderer, habe nie so viel Erfahrungen für den Geist, so viel Skizzen für meine Mappe hineingebracht, als wenn ich mich verirrt hatte.“ (BA I, 76) 167 Karl Gutzkow ist der Erfinder des Romans des Nebeneinander (eine Theorie, die er in seinem monumentalen Roman Die Ritter vom Geiste in die Praxis übertragen hat), dessen Komposition Lessings Beschreibung der bildenden Künste evoziert. Gutzkow beschreibt die Aufgabe des modernen Schriftstellers in Ritter vom Geiste mit den folgenden Worten: „er [der Schriftsteller] sieht aus der Perspektive des in Lüften schwebenden Adlers herab. Da ist ein endloser Teppich ausgebreitet, eine Weltanschauung, neu, eigentümlich, leider polemisch. Thron und Hütte, Markt und Wald sind zusammengedrückt.“

178

Ein Bild nach dem andern zieht wie in einer Laterna magica an mir vorbei, verschwindend, wenn ich mich bestrebe, es fest zu halten. O, es ist wahrlich nicht das, was mich am meisten fesselt und hinreißt, was ich auf das Papier festbannen kann; ein ganz anderer Maler müsste ich sein, um das zu vermögen. (BA I, 19)

In dieser Charakterisierung der eigenen Narration wird die Anwendung einer

Bilderkette beschrieben, die schon auf eine Form energetischer Stadtwahrnehmung weist.

Die Metapher der Laterna Magica evoziert die Mechanisierung des Blickes und ein

Streben nach realistischen Beschreibungen von genau beobachteten Szenen. Die Laterna

Magica, auch Zauberlaterne genannt, ist eine Projektionsvorrichtung, die nach dem

umgekehrten optischen Prinzip der Camera obscura funktioniert: Es handelt sich um

einen Kasten mit einer Öffnung, in dem sich eine Lichtquelle befindet. Wachholders

Blick aus seinem Fenster ist in einer ähnlichen Weise eine Öffnung auf die äußere Welt

und in einem ästhetischen Sinn eine Bereitschaft für die Anwendung neuer

Repräsentationstechniken.

Der Erzähler gibt zu, dass er sich anstrengen muss, die schnell vorüberziehenden

Bilder in seiner Chronik festhalten zu können. Wachholders Erklärung ist ein Ausdruck

einer Krise in der ästhetischen Erfahrung der Großstadt, und sein Zweifel an der

poetischen Souveränität in der Organisation des Materials. Jedoch sind die hier erwähnten Bilder Facetten aus der Vergangenheit und nicht Szenen aus dem

zeitgenössischen Alltag der Großstadt. Wachholder muss also nicht mit einem sensuellen

Überfluss zurecht kommen, sondern mit seiner eigenen Geschichte und Vergangenheit.

Der Ich-Erzähler fügt aber hinzu, dass er sich nicht für diese Bilder interessiert und, dass

er „ein ganz anderer Maler“ sein sollte, diese vorbeifliehenden Facetten der

Vergangenheit in seiner Chronik festhalten zu können. In der schriftstellerischen

179

Selbstreflexion entsteht eine Definition der eigenen Schreib- bzw. Maltechnik. Der

Erzähler Wachholder hat vor, Bilder der Vergangenheit und der Gegenwart „in hübschen

Rahmen“ in einer neuen Art und Weise festzuhalten. In einer Oase in der Mitte des wachsenden Berlins formuliert Raabes Erzähler eine neue künstlerische Technik von in

Rahmen gezwungenen Momentaufnahmen, die aus einem Dachstubenfenster skizziert werden.

„In hübsche Rahmen gefasst“: Der Blick aus der Höhe bei Gaertner und Raabe

Wachholders Position im obersten Stock der Gasse wird mehrmals, wie die

Dachwohnung des Vetters bei E.T.A. Hoffmann, als der idealste Platz charakterisiert, um die Ereignisse der Stadt zu beobachten. Der Alte behauptet, dass „ein angehender Dichter oder Maler [...]nirgends anders wohnen dürfte als hier“ (11). Der greise Chronist betreibt ein „Fensterstudium“ und das Fenster wird die wichtigste Verbindung zur Welt draußen.

Der Blick aus dem Fenster, wie in der Malerei der Spätromantik und des Biedermeier, verkleinert die äußere Welt und zähmt die unüberschaubar gewordene Umgebung.

Wachholder erlebt die Stadt gerahmt, durch das Fenster, das als Filter – mit Simmels

Terminologie als Stimulusschild – dient, um die äußere Welt zu bändigen. Dem Leser eröffnet sich also kein Panorama der Stadt, sondern nur ein verkleinertes und gleichzeitig idealisiertes Stück davon. Mit dem Fensterblick verwendet Raabe ein weiteres bekanntes

180 und beliebtes Motiv der zeitgenossischen Malerei und bietet dadurch seinen Lesern eine familiäre Perspektive an.168

Raabes Anwendung des Fensterblicks enthält aber eine Spannung zwischen tradierter Erzählform und moderner urbaner Stadtwahrnehmung insofern, als sie einerseits als eine moderne, fragmentierte Wahrnehmungsform des vereinzelten Subjekts der Großstadt angesehen werden kann und andererseits als eine melancholische

Erfahrung und ein Rückzug auf das Selbst interpretiert werden kann. Das Fenster erscheint als ein paradoxes Medium, durch das die Mannigfaltigkeit der Sperlingsgasse beschreibbar und erfassbar wird. Zum einen fungiert es als eine Laterna Magica, vor deren Öffnung die äußere Welt verschiedene Bilder einschiebt und vorüberziehen lässt, zum anderen etabliert es feste Rahmen und eine kontemplative Distanz, durch die das

Mannigfaltige fixiert werden kann. Das bedeutet, dass der Fensterblick eine dynamische

Wahrnehmung der Großstadt fördert, während er gleichzeitig die unberechenbaren Reize der Außenwelt entschärft. Das Fenster mit seinen Rahmen bedeutet dem Erzähler zweierlei: es lässt ihn teilhaben während es ihn zur gleichen Zeit auch isoliert.

Wachholder schildert von seinem durchaus privaten Standpunkt aus den privaten

Alltag und die ihm vertraute Vergangenheit seiner Nachbarn. In der ihm gegenüber liegenden Wohnung Nr. 11 hat er sogar selbst gewohnt, bevor er hinüber ins Haus Nr. 7 umgesiedelt ist. Der Chronik-Mitschreiber Strobel zieht in Wohnung Nr. 11 wodurch

Wachholder seine Verbindung zum alten Wohnort bewahrt. Während er die Chronik verfasst, pflegt Wachholder einen lebhaften Blickkontakt mit seiner alten Wohnung. Von

Wohnung zu Wohnung spazierend gewinnt er nicht nur Einblick in die intimen

168 Deutsche Maler, die unter anderem bekannte Fensterblicke bemalt haben: CD Friedrich: „Das Fenster“, „Im Atelierfenster“; Louise Henry: „Mädchen am Fenster“; Moritz von Schwind: „Morgensonne“; Otto Scholderer: „Geiger“; Karl Spitzweg: „Der abgefangene Liebesbrief“, „Blumenfenster.“ 181

Alltagsszenen der Gassenbewohner, sondern auch in sein eigenes Leben. Wie Gaertner sich selbst in seine Gemälde einmalt, erscheint auch der Ich-Erzähler als wichtiger

Protagonist im Roman. Wachholder wird jedoch nicht als selbstbewusster, freier

Schriftsteller dargestellt, sonder als ein Intellektueller auf der Straße, deren künstlerische

Tätigkeiten von den politischen Entscheidungen beschränkt werden. Die einzelnen

Genreszenen, die er aus seinem Fenster beobachtet, werden benutzt, Wachholders

Meinung über aktuelle politische Entscheidungen in einer verborgenen Weise an die

Öffentlichkeit zu bringen.

In diesem Sinne öffnet Raabes Protagonist das Fenster und wendet sich nicht nur

der Gasse, sondern auch den aktuellen Ereignissen der Nachmärzzeit zu. Seine

Entscheidung für die Limitation des Stoffes begründet er mit den folgenden Worten:

Was kann ein Chronikerschreiber bei so bewandten Umständen Besseres tun, als sein Haus einzig und allein zum Gegenstand seiner Aufzeichnungen zu machen und die große Welt draußen, die allgemeine Gassengeschichte, gehen zu lassen, wie sie will? [...] Die Geschichte eines Hauses ist die Geschichte seiner Bewohner, die Geschichte seiner Bewohner ist die Geschichte der Zeit, in welcher sie lebten und leben... (Hervorhebung von mir, 92)

Die so „bewandte[n] Umstände“ beziehen sich auf die Zensur und die fatalen Folgen des

„politischen Hustens“, das der Gassenbewohner und liberale Journalist Wimmer begeht,

und weswegen er aus der Stadt ausgewiesen wird. Die Beschränkung des Erzählstoffes

und Erzählraumes sowie die Fensterrahmen selbst können also als geschickt gewählte

Öffnungen verstanden werden, die resignierend die politische Entmündigung des

Bürgertums thematisieren. Im Folgenden sollen drei Textstellen diese Technik

demonstrieren, in denen die Beschreibung bestimmter Stadtteile eine wichtige Rolle

spielt.

182

Eine städtische Ansicht eröffnet sich für Wachholder, als er sich die Ereignisse

eines Sonntagausfluges in einem Wald am Stadtrand in Erinnerung ruft. Ein

allumfassender, wenn auch unscharfer, nebliger Überblick über die große Stadt wird nur

vom Wald aus gewährt. Beim Ausflug erscheint die Stadt in der Ferne:

Wenn wir zurückblicken, liegt die große Stadt noch verhüllt in dem silbergrauen Duftschleier, den sie selbst sich webt und den sie, wie Penelope den ihrigen, nur zertrennt, um ihn von neuem zu knüpfen. Wie eingewebte Goldsterne blitzen die Kreuze der Türme – die Zeichen des Leids – darauf. (BA I, 79)

Berlin ist in Nebel verhüllt und verfügt über keine festen Konturen. Wachholder sucht nach einer erhöhten Perspektive und identifiziert sich mit den Türmen der Stadt und deren symbolischer Bedeutung, jedoch kann er den stadtumgebenden Schleier nicht durchbrechen. Die Aussparung der Namen von spezifischen Lokalitäten impliziert eine

Unvertrautheit mit der Großstadt. Wachholder, der dreißig Jahre seines Lebens in Berlin verbracht hat, scheut sich, seine Kenntnis der preußischen Hauptstadt preiszugeben und

die soziale Realität der Großstadt außerhalb der Sperlingsgasse auszusprechen.

Jedoch gibt es Anspielungen an bekannte öffentliche Plätze in Berlin, die

andeuten, dass sich Wachholder in Berlin sehr wohl auskennt. Das Sprachrohr dafür ist

aber der aus Berlin ausgewiesene Journalist Wimmer, der das gleiche Stadtbild in der

folgenden Weise schildert:

Ha, da liegt sie – die Undankbare, in welcher ich meine Nächte durchwachte und meine Tage verschlief – Sänger und Sängerinnen, Schauspieler und Schauspielerinnen, Ballettänzer und Ballettänzerinnen lobte oder herunterriss – in welcher ich so manchen Leitartikel schrieb“ [...] „Nest! – Brüste Dich mit Deinen Gardeleutnants, Deiner famosen Musenbude, die ich dort über die Dächer zwischen dem Pfeffer und Salzfasse regen sehe; ich verachte Dich, ein deutscher Zeichnungsschreiber!“ [...] Kehren wir dem Nest den Rücken zu! (BA I, 79)

183

Das sich zwischen dem „Pfeffer und Salzfasse“ befindende, als „Musenbude“ bezeichnete Gebäude ist Schinkels Schauspielhaus auf dem Gendarmenmarkt, das in den früheren Abbildungen als wichtiger Ort der bürgerlichen Öffentlichkeit dargestellt wurde.

Die Erwartungen auf eine Demokratisierung wurden aber nicht erfüllt, was in der obigen

Aussage Wimmers zu Tage kommt, der resigniert und enttäuscht über seine journalistische Tätigkeit berichtet.169 Berlin wird als „Nest“ bezeichnet, was mit den ironischen Stadtbeschreibungen von Heine überein klingt, der die preußische

Residenzstadt in seinen Briefen aus Berlin einen „Krähwinkel“ genannt hat.170

Außer dem Sonntagausflug in den Wald übernimmt Wachholder mehrere

Spaziergänge in der Stadt und beschreibt dabei Marktplätze, den Prachtboulevard Unter den Linden und auch einen Ausflug im Lustgarten.171 Der kürzeste Ausflug findet während der Nacht mit einer Nachbarin Helene Berg statt. Sie ist die Tochter des Grafen

Seeburg, der Vater des Freundes Franz Ralff, der Wachholders Nachbarn war. Mit der

Figur des Grafen erscheint im Roman eine Adelskritik, die durch paradigmatische Motive der adeligen Verführung aus dem 18. Jahrhundert in den Text eingebaut wird.172 Helene

169Vgl. dazu besonders die Beschreibungen des Theaters als „Schreiers Hunde- und Affenkomödie,“ „eine buntgeschmückte Bude.“ Das Theater hat dabei das Ziel, „die ästhetische Ausbildung des Hundes zu erfrischen. [...] „Affen und Äffinnen, Hunde und Hündinnen machten ihre Kunststücke, und die Bretter bedeuteten hier eine Welt, und Affe und Äffin, Hund und Hündin betrugen sich wie Menschen“ (BA I, 128). 170 Heine schreibt folgendermaßen über Berlin: „Ich habe es längst gewusst, dass eine Stadt wie ein junges Mädchen ist, und ihr holdes Angesicht gern wiedersieht im Spiegel fremder Korrespondenz. Aber nie hätte ich gedacht, dass Berlin bei einem solchen Bespiegeln sich wie ein altes Weib, wie eine ächte Klatschlise , gebehrden würde. Ich machte bei dieser Gelegenheit die Bemerkung: Berlin ist ein großes Krähwinkel.“ (124) 171 Wachholder verlässt seine Wohnung acht mal während der Verfassung der Chronik. Die Exkursionen führen entweder in den Friedhof, zu Maries Grab oder in den Wald außer der Stadt. Innerhalb von Berlin besucht er einen Weihnachtsmarkt und kurz Wimmers Redaktion. Wachholders Spaziergänge finden in der Nacht statt, wenn er sich mit der gewöhnlichen Menge der Stadt nicht auseinandersetzen soll. 172 Franz’ Mutter Louise wird von dem Grafen verführt und der aus der Beziehung stammende Sohn, Franz Ralff, Wachholders Kindheitsfreund, von dem Onkel Burchhard in einem Wald erzogen. In der Geschichte erscheint das schon aus dem 18. Jahrhundert bekannte Schema über die unstandesgemäße Liebe und Verfehlung der Adeligen gegen die bürgerliche Moral. Mehr dazu siehe Göttsche 33. 184

Berg zieht in die Sperlingsgasse und Wachholder wird bei einem Besuch auf einen Ring

mit dem Wappen der Grafen Seeburg, das eine Schlange (Zeichen der Verführung) darstellt, aufmerksam. Nachdem Helene Berg über das Umherirren des Grafen und sein

unglückliches Leben erzählt, machen sich die Frau und Wachholder in der Nacht auf dem

Weg:

Noch an demselben Abend trug ich [den Ring] auf die Königsbrücke, und warf ihn weithin in den Storm, nachdem ich ihn in zwei Stücke zerbrochen hatte. Helene lehnte neben mir am Geländer, und schweigend gingen wir zurück in die Sperlingsgasse zu unsern Kindern. (BA I, 105)

Durch die glückliche Liebe der Kinder, Elise Ralff, die nach dem Tod der Eltern von

Wachholder erzogen wird und Gustav, Helene Bergs Sohn, werden die Konflikte der

früheren Generationen versöhnt. Symbolisch wird der Familienring von der

Königsbrücke in die Spree geworfen und durch den ausgewählten Ort und die komplexe

Geschichte der Grafenfamilie eine durchdachte Zeitkritik über die Enttäuschungen der

bürgerlichen Hoffnungen auf ein konstitutionelles Deutschland verdeutlicht.

Die königliche Familie und die Adligen erscheinen in einer weiteren Geschichte,

in der über den Tod des Sohnes der Balletttänzerin erzählt wird. Obwohl sich

Wachholder während des tragischen Ereignisses die ganze Zeit in der engen Dachstube der kleinen Familie befindet, unternimmt er eine fiktive Reise durch die Stadt. In einer

Vision beschreibt er die parallelen Begebenheiten in dem Unter den Linden liegenden

Operhaus:

Der König, die Königin und das Publikum haben sich erhoben; -- der schwere goldbesternte Vorhang rollt langsam nieder. [...] die arme Choristin ist halb bewusstlos an einer Kulisse zu Boden gesunken [...] mit dem herzerreißenden Schrei: ‚mein Kind! mein Kind! [...] Wir in dem kleinen Dachstübchen haben das nicht gesehen, nicht gehört, aber jeder kürzer werdende Atemzug des sterbenden

185

Kindes sagte uns, was dort in dem lichterglänzenden, musikerfüllten Gebäude am andern Ende der großen Stadt geschehe. (BA I, 125)

So wie Elises Medizin „wie die oktroyierte Verfassung“ schmeckt, stellt die obige Szene eine Zeitkritik dar, an der Aussichtslosigkeit der unteren gesellschaftlichen Schichten und der mitleidlosen Großstadt. Im Gegensatz zu Gaertners Panoramagemälde, in denen die

öffentlichen Plätze Berlins gefeiert werden, benutzt Raabe die gleichen Orte, um ein

Urteil über die Verhältnisse der Nachmärzzeit zu äußern. Der Schriftsteller artikuliert eine Skepsis gegenüber den in Berlin stattfindenden Ereignissen und zeigt, dass der Preis des Fortschritts nicht die Zerstörung individueller Leben sein darf.

Ein allumfassender Blick wird in Bezug auf Berlin nie benutzt. Eine richtige

Vogelperspektive wird in der Chronik für einen ganz bestimmten Zweck reserviert, nämlich um - statt Berlin - den bekannten Herkunftsort, das provinzielle Ulfelden zu beschreiben:

Was ist das für eine kleine Stadt zwischen den grünen buchenbewachsenen Bergen? Die roten Dächer schimmern in der Abendsonne; da und dort laufen die Kornfelder an den Berghalden hinauf; aus einem Tal kommt rauschend und plätschernd ein klarer Bach, der mitten durch die Stadt hüpft, einen kleinen Teich bildet, bedeckt am Rande mit Binsen und gelben Wasserlilien, und in einem anderen Tal verschwindet. Ich kenne das alles, ich kann die Bewohner der meisten Häuser mit Namen nennen; ich weiß, wie es klingen wird, wenn man in dem spitzen, schiefergedeckten Turm jener hübschen alten Kirche anfangen wird zu läuten. ... Und das ist Ulfelden, die Stadt meiner Kindheit, -- das ist meine Vaterstadt! (BA I, 19-20)

Die Erhaltung der Vogelperspektive für die Beschreibung der naturverbundenen, organischen Kleinstadt zeigt deutlich, dass Wachholder nur über diesen provinziellen Ort volle Kontrolle hat. Die Großstadt dagegen erscheint als eine unlenkbare Macht, der man sich nur durch den verhübschten Fensterblick annähern kann. Jedoch bedeutet die obige

Beschreibung nicht, dass Raabes Roman mit einem binären Darstellungsschema –

186

‚Wunschbild Land und Schreckbild Stadt’ – charakterisiert werden kann. Durch die harsche Adelskritik wird auch die ländliche Idylle der Provinz in Frage gestellt.

Ein letzter umfassender Blick aus der Höhe wird von der von Wachholder erzogenen Tochter Elise Berg beschrieben. Während eines Ausfluges durch Unter den

Linden in die Richtung Lustgarten erzählt Elise „an dem Becken des lustig im

Mondschein sprudelnden Springbrunnens“ über einen seltsamen Traum und ein wunderbares Märchen.173 Im Traum wird sie am Fenster sitzend auf kleine „zauberische

Wesen“ aufmerksam und ihnen folgend schwebt sie langsam zum Fenster:

Ich hatte durchaus keine Frucht, trotzdem dass es da draußen wie eine verzauberte Welt war. – Die ganze Gasse war ein Gewirr von Tönen und Licht [...] Dabei hatte ich nicht die Fähigkeit verloren, die gröbere, gewöhnliche Welt zu schauen und zu vernehmen; ich kannte und belauschte die Leute in den Haustüren, die Kinderköpfe in den Fenstern, die schlafenden Sperlinge und Schwalben in ihren Nestern; es war wunderhübsch! (BA I, 156)

Während ihres Gassenfluges beschreibt Elise in die Fenster einblickend verschiedene

Szenen: Das kranke Kind der armen Frau Nudhart, den alten Marquart im Keller und

„das Strickzeug in den Händen“ haltend die Frau Hofrätin Zehrbein. Elise schildert eine

Kette von biedermeierlichen gemütlichen Genrebildern aus der Sperlingsgasse in der

Mitte Berlins sitzend. Im Kontrast zu Wachholder ist ihre spielerische Schilderung einer

Idylle im Herzen der Stadt.

173 Vgl. dazu Elises„Mondscheinfahrt“: „Die scharfen Schatten auf dem Pflaster und an den Häuserwänden, das Glitzern der Fensterscheiben, die ziehenden, beleuchteten Wolken am dunkeln Nachthimmel, die flüsternden Gruppen in den Haustüren und an den Straßenecken, alles wird nun zu einem Bild für Gustav, zu einem Märchen für Elise. Da beleben sich die Straßen, Gassen und Plätze mit den wundersamen Gestalten; auf den Ecksteinen lauern, zusammengekauert, grimmbärtige Kobolde; aus den dunkeln Torwegen der alten Patrizierhäuser treten seltsame Gesellen mit nickenden Federn und weiten Mänteln und schöne Damen besteigen weiße Zelter, in die Nacht davon reitend; Söldner im Harnisch, die Partisanen auf den Schultern, ziehen über den Markt; Prozessionen vermummter Mönche winden sich langsam aus dem Domportal aus alles liegt morgen, in den hübschesten Skizzen festgebannt, auf Elisens Nähtischchen, oder treibt sich auf dem Fußboden umher“ (BA I, 157). 187

Die verschiedenen auf Berlin angewandten Perspektiven bieten in Raabes Roman

eine Vielfalt von Lebenserfahrungen dar. Die aus dem Reservoir der biedermeierlichen

Stadtgemälde mobilisierten Szenen erfüllt Raabe mit genau komponierten Einbindungen und subtiler Zeitkritik. Statt der selbstbewussten Bürger der postnapoleonischen Zeit, die in den Gemälden von Gaertner erscheinen, schildert Raabe Berlin als einen Ort der verfehlten Erwartungen und gescheiterter Hoffnung nationaler Erneuerung.

Schlussfolgerung

Eine wachsende Großstadt umgibt die Sperlingsgasse, jedoch erfährt der Leser nur zwischen den Zeilen, dass diese Stadt Berlin ist. Im Verlauf der Erzählung werden

Berlins Lokalitäten nur hier und da erwähnt, aber nie im Detail beschrieben.174 Die

„große Stadt“ bleibt im Roman, dessen Titel paradoxerweise den Namen eines sehr

spezifischen Ortes der Berliner Altstadt trägt, namenlos.175 Im starken Kontrast zu den

unscharfen Silhouetten der Großstadt treten die Räumlichkeiten der Sperlingsgasse,

Wohnungen, Zimmer und Fenster in den Vordergrund und werden in genausten Details

beschrieben. Diese räumliche Organisierung und die anscheinend formlose, mosaikartige

Erzählung ist jedoch ein streng durchkomponiertes Werk.176 In der Komposition werden

174 Raabe erwähnt in seinem Roman Berlin fast nie explizit: „Ein Student in der Philosophie in der großen Haupt- und Universitätsstadt“ (BA I, 15); „wenn die Fensterscheiben nicht so gefroren wären, könntet ihr den Turm der neuen Sophienkirche sehen, die gebaut wurde, nachdem die alte abgebrannt ist“ (102). Sporadisch werden einige Berliner Lokalitäten genannt, aber nie richtig beschrieben: Johanniskirchhof, Sophienkirche, Butter und Wagener am Gänsemarkt, Wassertor, Grüner Tor (216), Fontainenplatz, Goldfische füttern (248), Gustav: Schnollys Konditorei, Gemüsemarkt, bal champêtre in Wasserhof („Der Weg dahin ist gar nicht schön“ Faust über den Wasserhof). 175 Die Bezeichnung “die große Stadt” bezieht sich bei Raabe konsequent, auch in seinen späteren Romanen, auf die Stadt Berlin. Vgl. dazu Fuld 67, Klotz 168. 176 Vgl. dazu die Werke von Brand, Maatje und Göttsche, die Raabes Chronik als eine Sammlung von Widerspieglungen und als rigide durchstrukturierte Doppelform lesen. 188

bekannte Bilder der Berliner Vedutenmalerei benutzt und mit tagespolitischen Inhalten

ergänzt und neu geschrieben.

Raabe beschreibt keineswegs die verführerische Masse in der Großstadt, sondern

sucht nach einer verlorenen Welt und kritisiert die bestehenden Verhältnisse durch die

Lebensgeschichten der Bewohner der verborgenen Straßen. Wachholder, wie viele andere Raabe Protagonisten, schützt sein eigenes Territorium. Diese scheinbar ländliche

Idylle funktioniert jedoch als eine harsche, umfassende Zeitkritik, in der auch die

öffentlichen Plätze der Stadt eine wichtige, oft symbolische Rolle spielen. Berlin

funktioniert als ein ständig präsenter Reiz des Fremden, dem Wachholder nicht

widerstehen kann. Seine kreative Tätigkeit ist völlig abhängig vom urbanen Raum, was

eine Spannung ins Leben ruft: Einerseits ist die Stadt eine drohende, fremde, mitleidslose

Macht, anderseits erlebt Wachholder sie als einen befreienden Raum, in dem er

künstlerisch und literarisch kreativ inspiriert wird und schriftstellerisch experimentieren

kann.177 Zu diesem Experimentieren gehört zweifellos sein Versuch, im Roman eine

erhöhte Beziehung zwischen Malerei und Literatur ins Leben zu rufen und so einen Text

zu produzieren, dessen Visualität und frühe Montagetechnik zur radikalen Umwandlung

der herkömmlichen Erzählweise in den kanonisierten Großstadttexten des 20.

Jahrhunderts erheblich beigetragen hat. Das Erbe des Biedermeier weiterführend verwendet Raabe ein komplexes, selbstreflexives Darstellungsverfahren in den Blättern seiner Chronik, die eine würdige Position im Kanon der Berlin-Texte des 19.

Jahrhunderts verdient.

177 Die Chronik ist unter anderem ein literarisches Experiment, in dessen Verfassung der Leser, der regelmäßig angeredet wird, mehrmals einbezogen wird. 189

KAPITEL 4.: Berlin-Topographien in ausgewählten Werken Wilhelm Raabes

Einführung

„Die Geschichten, die ich selber erlebe, sind mir ein sehr schätzbares Material zur Weiterbildung und Vervollkommnung meiner Individualität [...] Ich lernte von den Pflastersteinen in der Gasse und den Wänden meines Zimmers, und von den letzteren, sowie von der Decke und dem Fußboden fast noch mehr als von den ersteren, denn sie waren sehr dünn und pflanzten die Schallwellen eher fort, als dass sie dieselben aufhielten.“ (Theklas Erbschaft)

Autobiographische Geschichten in Berlin sind in dem Raabeschen Oeuvre von besonderer Bedeutung. Die obigen räumlichen Beschreibungen, die Pflastersteine der

Gassen und die Zimmerwände, können mit Raabes erstem und bedeutendestem Berlin

Aufenthalt sowie mit seinem Debütroman verbunden werden. Im Gegensatz zur

Fensterblick und zu Wachholders erhöhter Perspektive in der Chronik bekommen die untere Welt der Stadt, „der Fußboden“ und der in der Großstadt Geschichten sammelnde

Erzähler eine wichtige Rolle in mehreren nachkommenden Romanen von Raabe. In einem späten Text, der unter dem an Edgar Allan Poes The Man of the Crowd anspielenden Titel „Einer aus der Menge“ veröffentlicht wurde, charakterisiert Raabe die in der Stadt Geschichten sammelnden Erzähler als „Lumpensammler“ und

„Kehrichtdurchschauer“ (BA II, 45). Der Protagonist erscheint auf den Pflastersteinen von Berliner Gassen sowie in intimen inneren Räumen und sucht nach einer

Geborgenheit im Treiben der Welt und nach Schätzen und Perlen der Vergangenheit. Die

Suche nach Sicherheit und die Wichtigkeit der intimen inneren Räume erscheinen auch in

Raabes Zeichnungen. In jeder Stadt, in der Raabe eine längere Zeit verbracht hat, Berlin,

190

Braunschweig und Stuttgart, verewigte das Doppeltalent sein Arbeitszimmer in einer

Zeichnung.

Abbildung 18: Wilhelm Raabes Zimmerzeichnungen aus Berlin und Stuttgart

In den Federzeichnungen erscheinen jedoch nur Interieurs und nie die äußere

Wirklichkeit der entsprechenden Städte.

In dem vierten Kapitel der Dissertation werden ausgewählte Werke vom

Raabeschen Oeuvre mit den zeitgenössischen malerischen Repräsentationen Berlins

verglichen, um die ästhetischen und thematischen Ähnlichkeiten und Unterschiede

herauszuarbeiten. Drei Romane mit drei verschiedenen Themenkreisen und

Erzähltechniken stehen im Zentrum des Kapitels: Altstadtromantik und

Großstadtinteresse in Ein Frühling (1857), die Darstellung der Industrialisierung und die

Anwendung der Vogelperspektive in Die Leute aus dem Walde, Ihre Wege, Sterne und

Schicksale (1863) und die Schilderung der Berliner Vorstädte sowie der Universität in

Die Akten des Vogelsanges (1895) und in malerischen Repräsentationen. Die drei

Romane sind drei verschiedene Annäherungen, um die Komplexität Berlins darzustellen und können auch dazu benutzt werden, die künstlerische Entwicklung Raabes in Bezug

191

auf seine Berlin-Repräsentationen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu

analysieren.

In dem ersten Roman, Ein Frühling, werde ich Raabes Vorliebe für die Vorstädte, den Übergang von der Altstadt zu dem Stadtrand diskutieren und sein Text mit der

biedermeierlichen Vedutenmalerei und mit Werken der zeitgenössischen Berlinischen

Malerei vergleichen. Ein Frühling hat noch mehrere Elemente aus der Chronik, jedoch

weist der Text schon auf Raabes Spätinteresse in Bezug auf Berlin voraus. Den zweiten

Text, Die Leute aus dem Walde, benutze ich, um Raabes Anwendung der erhöhten

Perspektive (Turmblick und Vogelschau) im Kontext der zeitgenössischen Literatur, und

Malerei zu analysieren. Dabei werden Werke aus dem ganzen 19. Jahrhundert benutzt

und Raabes Einzigartigkeit in dieser Repräsentationsform erklärt. Das letzte Segment

dieses Kapitels widmet sich einem Universitätsroman und vergleicht dabei Raabes

Thematisierung der Berliner Nachbarschaften mit einem Gemälde von Adolph Menzel

und die Darstellung der Berliner Universität mit Eduard Gaertners berühmten

Universitätslithographie. Die drei Romane wurden mit dem Ziel ausgewählt, um die

Vielfältigkeit von Raabes Berlin-Darstellungen zur Schau zu bringen und chronologisch

drei verschiedene Repräsentationsphasen zu analysieren. Trotz der verschiedenen

Themen und Topographien wird Berlin jedoch in allen drei Texten oft mit den gleichen

semantischen und erzähltechnischen Mitteln charakterisiert, was ermöglicht, die

wichtigsten Komponenten von Raabes „Berlinischen Geschichten“ zu definieren.

In den Analysen werden einerseits Gemälde von Adolph Menzel aber auch von

der Biedermeierzeit in Betracht gezogen. Es werden auch nicht-fiktive Berlin Texte von

Julius von Rodenberg und Friedrich Sass benutzt, die als Berliner Chronisten über die

192

Folgen der Industrialisierung, Gasbeleuchtung, Wasserversorgung, Linienverkehr aber

auch von den Entwicklungen wie Verarmung, Verelendung, Verwahrlosung und

Prostitution berichtet haben. Ziel ist in den kulturwissenschaftlichen Interpretationen von

literarischen Texten einen breiten Kontext in Betracht zu ziehen und die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den gemalten und verdichteten Stadtrepräsentationen herauszuarbeiten und eine partielle Typologisierung von den Berlin-Bildern Raabes aufzustellen. Raabes Berlin-Bilder sind mehr als Repräsentationen einer unbekannten

Stadt aus der Ferne, die im Nebel verhüllt und durch einen Schleier angeschaut wird, sondern es sind komplexe Darstellungen von zahlreichen zeitgenössischen Problemen

über Großstadtentwicklung und Modernisierung sowie bewusste Einschreibungsversuche in den schon existierenden literarischen und malerischen Kanon von Berlin-

Repräsentationen des 19. Jahrhunderts.

„Ich bin unendlich froh, dass ich den Berliner Schwindel los bin!“: Berlin und Raabe nach der Chronik

Obwohl Raabe nach dem Erfolg der Chronik nie wieder eine längere Zeit in Berlin

verbracht hat, hat die Stadt auch auf seine späteren Werke einen prägnanten Einfluss ausgeübt. Berlin erscheint in zahlreichen Texten; der Germanist Albert Lorenz zählt „fast

zwanzig Werke,“ in denen die Hauptstadt ganz oder teilweise thematisiert wird (40). In

diesen Texten kommt es zu Tage, dass Raabe die Realitäten der Hauptstadt in den

späteren Jahren seines Lebens nur indirekt kannte, da in den späteren Texten seine

Jugenderinnerungen dominieren. Raabes Berlin-Erfahrung ist stark ambivalent geblieben:

Trotz aller haftenden Eindrücke und nachhaltenden Erinnerungen, die Raabe mit seinen

193

Studienjahren in Berlin verband und die auch in seine Romane einen Weg gefunden haben, hat Raabe die Stadt nach dem Universitätsstudium vermieden. In der jüngsten Zeit haben mehrere Raabe Biographen nach den Gründen dieser Vermeidung gefragt und spekuliert, warum Raabe nie wieder in Berlin sesshaft werden wollte.

„In Berlin nicht zu ermitteln“ ist der Titel von Horst Denklers Beschreibung von

Raabes Beziehung zu Berlin nach dem Erfolg der Chronik. Diese Analyse beginnt mit einer Geschichte, die die Ambivalenz in Raabes Beziehung zu Berlin klar macht. Berliner

Postbeamte haben nämlich einen falsch adressierten Brief an den Schriftsteller nach

Braunschweig weitergesandt, was zeigt, dass Raabes Wohnsitz zu seiner Zeit auch in

Berlin vermutet werden konnte. Die Geschichte macht aber auch klar, dass die Berliner

Postbeamten besser gewusst haben als ihre Kollegen in der Provinz, die den Brief nicht zustellen konnten, wo der berühmte Schriftsteller lebt. Nach Horst Denkler hatte Raabe mehrere Gründe, Berlin nicht sehen und besuchen zu wollen: Er wollte Vieles verdrängen und er nahm an viele Sachen (Literaturbetrieb, Erfahrungsbereiche des Intimlebens)

Anstoß.

Raabe erlebte in Berlin eine Auflösung der alten Sittlichkeitsbegriffe, wobei, wie

Friedrich Sass es beschrieb „parisische Lebenselemente sich geltend machen“ (Sass

27).178 Nach seinen Biographen soll der junge Schriftsteller in der Leipziger Straße

Tanzunterricht genommen und dafür seine Schiller-Ausgabe versetzt haben.179 Raabe besuchte auch gern das Theater und die Figuren des Theaterlebens, besonders

Balletttänzerinnen, erscheinen in mehreren Berlin-Texten. Faszination wie Anstoß sind mit diesen Figuren und Erlebnissen verbunden, was eine Komponente der oben

178 Vgl. auch dazu Glassbrenners Beschreibung Berlins als „modernes Babylon“ (Glassbrenner I, 46). 179 Vgl. dazu Fritz Hartmann 27. 194 erwähnten Ambivalenz konstituiert.180 Als Beispiele sind die arme Balletttänzerin in der

Chronik und die Sängerin Alida in Ein Frühling zu nennen, die beide liebenswürdige, jedoch mit Distanz beschriebene Figuren sind.

Zweitens hatte der Schriftsteller Probleme an der Universität und auch zu dem

‚gelehrten Berlin’ eine zwiespältige Beziehung aufgebaut. Strenge Hochschulordnung und repressive Innenpolitik waren nämlich mit der Berliner Universität in der Schul- und

Bildungspolitik der Restauration verbunden. Horst Denkler zeigt in seinem Artikel

Spuren der Selbstbefreiung Raabes von den Uniprofessoren, indem der Student Wörter wie „Autodidactik“, „Kunstfleiß“ und „selbstschöpferische Freiheit“ notiert.181 Einerseits war die Berliner Universität dem wissensdurstigen Studenten Orientierungshilfe, jedoch distanzierte sich Raabe selbst bald vor der „Kunst und Litteratur-Stadt“ Berlin.182 Durch seine Universitätsstudien in Berlin wurde für Raabe die preußische Hauptstadt vor allem zum Bildungserlebnis und erscheint auch in seinen Romanen immer wieder als

Universitätsstadt. Das Thema zeigt sich am markantsten im Roman Die Akten des

Vogelsangs und wird auch in diesem Kapitel untersucht.

Wichtig ist zu erwähnen, dass Raabe Berlin nach 1857 nie wieder besucht hat. Es sei ihm nicht möglich, wie er schreibt, „einen Platz wieder zu betreten,“ von dem er 1857

„mit der festen Überzeugung weggegangen“ sei, „dort nie in weiten Kreisen wieder einen

Widerhall zu finden“ (zitiert nach Goldammer 58). Raabe wollte sich jedoch mit Berlin aus der Distanz, als Schriftsteller der Provinz literarisch auseinandersetzen und seine

180 Sängerinnen und Balletttänzerinnen erscheinen in den ersten zwei Berlin-Romanen (Die Chronik, Ein Frühling). 181 Raabe „begann er sich bereits aus der politisch geknebelten und wissenschaftlich verknöcherten Universität herauszutasten“ (Goldhammer 50) 182 Horst Denkler zeigt auch, was Raabe in sein Tagebuch während eines Berlin-Aufenthaltes eingetragen hat: „Imaginationen. Ich imaginiere. Ich imaginiere mich in mich hinein.“ (Tagebucheintrag Oktober/November 1857). 195

Stadtfantasien enthüllen Angst und Faszination gleichzeitig. Nach Volker Klotz und

Charlotte Jolles bleibt Berlin - wie in der Chronik - auch in den späten Berlin-Romanen anonym (Jolles 55, Klotz 76).183 Das kommt einerseits in einer Namenlosigkeit (Berlin wird „die Millionenstadt“, „die Allerweltstadt“ etc.), anderseits in der Anwendung von fiktiven Straßen zu Tage.

Die im ersten Berlin-Roman erfolgreich angewandte Topographie, die eine enge

Straße als den Hauptort wählt, erscheint auch in den späteren Berlin-Romanen. Es gibt eine gute Zahl von Berliner Straßen in den späteren Berlin-Romanen: die Dunkelgasse in

Ein Frühling, die Musikantengasse in Die Leute aus dem Walde, die Grinsegasse in Der

Hungerpastor, die Schulzenstraße Im alten Eisen. Im Gegensatz zu der Spreegasse befinden sich jedoch diese Gassen nicht mehr im Zentrum der Stadt, sondern in

ärmlichen Viertel der wachsenden Stadt. In diesem Sinne gibt es eine Verschiebung in der Anwendung des Gassentopos in den der Chronik nachfolgenden Werken. Berlin aus der Ferne betrachtend literarisiert Raabe nicht nur viele zeitgenössische Probleme, wie die sozialen und ökonomischen Folgen der Industrialisierung, sondern er webt in den

Texten auch seine Jugenderinnerungen ein mit reichen Referenzen auf die biedermeierliche Vedutenmalerei sowie auf die zeitgenössischen Tendenzen in den malerischen Repräsentationen Berlins. Viele von den Stadtbeschreibungen findet man auch in den zeitgenössischen Stadtgemälden Berlins, die nach der Revolution sowohl thematisch, als auch ästhetisch veränderten.

183 Eine oft zitierte Technik Raabes, die Stadt anonym darzustellen, sind Beschreibungen in denen Berlin im Nebel oder hinter einem Schleier dargestellt wird. Ein solches Bild wurde im dritten Kapitel behandelt, jedoch erscheint auch im zweiten Berlin-Roman (Ein Frühling) von Raabe. Dieses Mal erscheint die Mitte der Stadt im Nebel verhüllt: „Der Graf Richard Hagenheim stand am Fenster des Vaterhauses, die Arme über der Brust gekreuzt, hinausschauend in das weiße Meer des Morgennebels, der den weiten Opernplatz fast ganz verhüllte. Die gegenüberliegende Häuserreihe war dem Auge vollständig entzogen, gespensterhaft schaute das Operhaus selbst durch den Schleier, welcher es verdeckte, und nur der eherne Apollo, der auf der Giebelspitze sein Viergespann lenkt, trat klarer in der reinern, höhern Luft hervor“ (BA I, 406). 196

Exkursus: Berliner Stadtmalerei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Um die Gemäldewahl in den nächsten Textanalysen zu begründen, soll zuerst ein kurzer

Exkursus in die Geschichte der Berliner Stadtmalerei in der zweiten Hälfte des 19.

Jahrhunderts gemacht werden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielte das

Thema Stadtansichten bis in die achtziger Jahre in der deutschen Malerei eher eine untergeordnete Rolle. Die Berliner Malerei, wie das dritte Kapitel in Bezug auf Gaertner und seine Zeitgenossen zeigt, hatte in der Biedermeierzeit auf dem Gebiet der

Stadtdarstellung wichtige Leistungen erbracht, jedoch verlor sie in den Jahren nach der

1948er Revolution zunehmend an Bedeutung. Das heißt, dass es in Raabes Schaffenszeit eine geringere Zahl von bedeutenden Stadtgemälden gab als in der vorrevolutionären

Zeit. Nach 1871 vermochte die Hauptstadtfunktion keinerlei Impulse für eine

Weiterentwicklung der Malerei zu geben. Erst durch den Einfluss der französischen

Malerei, besonders des Impressionismus, erhielt die Berliner Kunst, die zu diesem

Zeitpunkt weit hinter München stand, entscheidende Anregungen (Bothe 173). Erst um

1900 war Berlin wieder zur führenden deutschen Kulturmetropole aufgestiegen.

Eine Ausnahme innerhalb des Niedergangs der Berliner Kunst bildete Adolph

Menzel (1815-1905), der bereits in den vierziger Jahren die Stadt als Bildthema entdeckte

und stilistisch einen völlig neuen Weg einschlug. Sein Bruch mit der Tradition erscheint

in ästhetischen und thematischen Bereichen, wie in der Anwendung einer vor- impressionistischen Malweise und in der Entdeckung des unmittelbaren Lebensbereiches

und in der Darstellung von Elend und Armut.

197

Die Entdeckung der Berliner

Gegenwart manifestiert sich in

einer Vielfalt von Themen und in

Bezug auf Raabes Berlin-Texten

sind Menzels Repräsentationen der

ausdehnenden Stadt und die Folgen

der regen Bautätigkeit von

besonderer Bedeutung. Wichtig ist

hier zu erwähnen, dass, nach dem

Kunsthistoriker Karl Arndt, kein

anderer als Adolph Menzel den

größten künstlerischen Einfluss auf

den zeichnenden Raabe geübt hat

(133), besonders mit seinen Abbildung 19: Adolph Menzel, Maurer auf dem Bau (1875) Buchillustrationen.

Arndt vergleicht mehrere Skizzen Raabes mit Menzels Buchillustrationen und kommt zur

Schlussfolgerung, dass Menzel in Raabes Formensprache sowie im thematischen Bereich

eines der wichtigsten Vorbilder war (135). Diese Beziehung wird in der Analyse der

malerischen Darstellung der berlinischen Vorstädte bei Menzel und Raabe in dem letzten

Teil dieses Kapitels demonstriert. Beide, Maler wie Schriftsteller, zeigen besonderes

Interesse für die Thematisierung des Stadtrandes während der zunehmenden

Urbanisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

198

Neben der Darstellung von Stadtbauten, Industrialisierung und den Folgen des

Wachstums, was besonders bei Menzel eine wichtige Rolle bekommt, haben Maler in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das alte Zentrum Berlins für eine kurze Zeit wiederentdeckt (Bothe 180). Nach den Befreiungskriegen war die Darstellung mittelalterlicher Bauten zum bestimmenden Thema der Architekturmalerei geworden, wie Werke der Vedutenmalerei aus dieser Zeit demonstrieren. Die Gemälde in der

zweiten Hälfte des Jahrhunderts konzentrierten sich nicht mehr auf die neuen Stadtteile und funktionierten als eine Kritik der biedermeierlichen Veduten- und

Architekturmalerei. Die Kritik an der Architekturmalerei verschärfte sich nach 1860, als sich die stimmungsvolle und auf oberflächliche Beleuchtungseffekte zielende Darstellung von Bauten immer stärker auf die Wiederholung konzentrierte. Die nüchterne

Wiedergabe von Straßen und Plätzen einer regelmäßig gebauten Stadt wurde zum Opfer der Kunstkritik und war nicht mehr der Gegenstand malerischen Interesses. Gleichzeitig wurde das Aufkommen der Fotographie als Konkurrenz angesehen und hat auch den

Geschmack der Kunstkunden verändert.

Im Gegensatz zu den Vedutenmalern, deren Gemälde die neusten Einrichtungen

Berlins thematisierten, haben Maler in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die Altstadt entdeckt. Ihr Interesse galt aber nicht nur den mittelalterlichen Kirchen (wie in den

Zeichnungen von Friedrich Gilly und Karl Friedrich Schinkel), sondern der historischen

Stadtgestalt als Gesamtorganismus vom Mittelalter bis weit ins 19. Jahrhundert, sofern er als gebauter Lebensraum gefährdet war. Viele Gebäude wurden kurz von ihren

Abbrüchen (z.B. Berliner Rathaus) gemalt. Der Kunsthistoriker Rolf Bothe charakterisiert diese Tendenz mit den folgenden Worten: „Die Maler wurden zu

199

Bewahrern der Geschichte und nur bedingt zu Chronisten ihrer Zeit“ (182). Dabei gab es aber keine kritische oder anklagende Darstellungen über die Zerstörung der alten

Stadtteile, sondern eine objektive Schilderung der aktuellen Bauverhältnisse und

Veränderungen. In diesem Sinne arbeiteten die Maler als Chronisten, die die zeitgenössischen Umgestaltungen in ihren Darstellungen nüchtern zur Kenntnis genommen haben. Die folgenden Bilder sind Beispiele für diese Annäherungen:

Abbildung 20: Georg Schöbel, Mühlendamm und Fischerbrücke (1890)

200

Abbildung 21: Rudolf Dammeier, Die Spree längs der Stralauer Straße (1882)

In der bildenden Kunst blieb die kritische Auseinandersetzung mit der Stadt vorrangig

auf die Gebrauchsgraphik beschränkt. Aus den 80er Jahren gibt es einige Graphiken von

Max Klinger, die sich mit den sozialen Problemen und dem Pauperismus in den

Vorstädten und Berliner Hinterhäusern auseinandersetzen.

Mordszenen, Familiengewalt, Armut und

Kriminalität sind die wichtigsten Themen in

diesen graphischen Darstellungen. Außer diesen

graphischen Repräsentationen gab es im neuen

Deutschen Reich vorrangig Gemälde, die, wie

schon oben gezeigt, im Gegensatz zu den

technischen und industriellen Entwicklungen

eine städtische Vergangenheit betonten.

Abbildung 22: Max Klinger, Ein Mord ist geschehen (aus dem Opus „Dramen“, 1882)

201

Der Exkursus in die Geschichte der Berliner Stadtmalerei in der zweiten Hälfte

des 19. Jahrhunderts weist wesentlich zwei Richtungen auf. Einerseits gibt es ein

allgemeines Interesse für die alte, vergangene Zeit, die man in Gemälden, die die Altstadt

darstellen, entdecken kann. Andererseits gibt es auch Beispiele, die die aktuellen

architektonischen, ökonomischen und sozialen Veränderungen repräsentieren. Dass die

Doppelbegabung Raabe in seinen späteren Berlin-Werken oft besonders diese zwei

Strategien anwendet, rechtfertigt die Nebeneinanderstellung von Gemälden mit den literarischen Texten. Neben den zeitgenössischen malerischen Tendenzen mobilisiert

Raabe auch Abbildungen Berlins, die aus der Biedermeierzeit stammen. Die bekannten

Bilder werden jedoch mit neuen Inhalten aktualisiert, wie es schon im Fall der Chronik analysiert wurde.

Ein Frühling: Zwischen Altstadtromantik und Großstadtinteresse (1857)

Den zweiten Roman Raabes, den er nach der Fertigstellung der Chronik 1857 verfasst hat, nennt der Erzähler – den Chronisten Johannes Wachholder evozierend – ein buntes

„Frühlings-Bilderbuch“ (BA I, 285). Der Text war von Ende Juni bis Anfang August in der Deutschen Reichszeitung abgedruckt worden, die in dem Braunschweiger Verlag

Friedrich Vieweg & Sohn erschien. Der Schauplatz ist immer noch Berlin, jedoch verändert sich die urbane Topographie der preußischen Hauptstadt und während einige

ästhetische Merkmale mit der Chronik verbunden werden können, weisen andere schon auf die Rolle, die Berlin in den Spätwerken prägt, hin. Die Gestalten in diesem Roman leben wie diejenigen in der Chronik in kleinen Berliner Gassen.

202

Die Enge der zentralen Gasse, wie in der Chronik, treibt ganz verschiedene Leute zusammen und funktioniert als ein zusammengedrängter Raum und eine schroffe

Abbildung der sozialen Diversität der Großstadt:

Eng, steil und dunkel sind in der Dunkelgasse die Treppen der Häuser, die Wände salpeterglänzend, der Boden feucht und moderig [...]. Bleich und abgemagert sind die Gesichter der meisten Bewohner in der Dunkelgasse; Haufen schmutziger, zerlumpter Kinder – Pilzgeschlecht! – kauern auf den Treppenstufen der Häuser... Eine Runzel auf dem Gesichte der großen Stadt ist die Dunkelgasse. (BA I, 190)

Wie aber schon das obige Zitat und die Namen der Gassen, die in diesem Text bewohnt werden, die Dunkelgasse und die Blutgasse, implizieren, bekommen die Realitäten der

Großstadt in diesem Roman viel dunklere Farben als in der Chronik. Die zitierte

Beschreibung der Dunkelgasse steht mit der Sperlingsgasse in einem starken Kontrast, da sie nicht mehr als Oase funktioniert, sondern als eine komplexe Abbildung der sozialen und ökonomischen Realitäten der modernisierenden preußischen Hauptstadt.184

Diese ästhetische Wendung in der Darstellung Berlins ist auch das Resultat von

Raabes poetischer Entwicklung, der nach dem Erscheinen der Chronik in ein Heft die folgende ästhetische Reflexion eingetragen hat: „Niemals eine bloß ins Kleine malende

Schilderung, sondern stets durchwoben mit lebenden Bildern. – Leben! Leben! Leben! –

Plastik!“ (BA I, 475). Im Gegensatz zu der Chronik, deren Beschreibung in der

Sekundärliteratur als eine Kette von „genrehaften Szenen“ immer wieder betont wurde, wollte sich Raabe nach seiner Aussage in den nächsten Werken von dieser Bezeichnung befreien und statt biedermeierlichen Genreszenen plastische und lebendige Bilder verdichten.185 Diese poetische Verwandlung wird in diesem Segment des Kapitels in der

184 Pauperismus und Elend erscheint auch in der Sperlingsgasse, jedoch dominieren diese Bilder mehr in dem zweiten Roman. 185 Einige Figuren aus der Chronik erscheinen in diesem Werk. Die arme Tänzerin lebt in der Gestalt Angela weiter und der Karikaturenzeichner Strobel, sein Grabdenkmal, wird auch besucht: „Ulrich Georg 203

topographischen Darstellung (und Neuschreibung) Berlins durch eine räumliche und

intermediale Analyse herausgearbeitet. Wie viele der zeitgenössischen Berlin-Gemälde

aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kann der zweite Berlin-Roman Raabes als

eine Mischung von Altstadtromantik und Großstadtrealitäten charakterisiert werden, in

dem auch bekannte Bilder der biedermeierlichen Malerei mit neuen Inhalten ausgefüllt werden.

Diese Mischung erscheint auch in der Suche nach dem titelgebenden Frühling in der Großstadt: „Wo ist der Frühling? [...] in der großen Stadt, wo Fesseln und

Gefängnisse, Krankenbetten und Särge, alles Böse und Traurige, welches der Menschheit

anklebt, am meisten zu finden ist, müssen wir ihn suchen!“ (BA I, 370). Die Stadt wird

schon in den ersten Seiten des Romans mit Tod, Elend und Armut in Verbindung

gebracht, jedoch hofft der Erzähler, dass er, wie andere „Suchende“ in Raabes Berlin-

Texten, in der Mitte des Elends Schönheit und Idylle schaffen kann. Diese Ideale werden

durch die Protagonistin Klärchen Aldeck zum Ausdruck gebracht. Klärchen wird auf dem Lande, in einem Kloster groß und träumt sich „unter Vögelzwitscher, Orgel- und

Glockenton und dem Gesang der Domgemeinde [...] ins Selbstbewusstsein hinein“ (BA I,

182). Nach der kurzen Beschreibung der ländlichen Kindheit erscheint die

großgewordene Klärchen jedoch selbstbewusst und wie eine eingeborene Berlinerin im

Herzen der preußischen Hauptstadt und ihre Anpassungsfähigkeit und selbstsichere

Bewegung in der Stadt findet der Erzähler faszinierend.186 Der Erzähler folgt Klärchen in

Strobel! [...] Ein Maler Tochter! Einer von jenen Einsamen, die von denen welche den Namen Gottes stets im Munde führen und denen doch die Welt leer ist von Gott, nie begriffen werden! In Neapel lernte ich ihn kennen, ehe ich nach Rom kam [...] Ruhe sanft, Ulrich Strobel!“ (400). Obermeier: „Soll ein vertaufter Gesell gewesen sein, dieser Strobel!“ (BA I, 401) 186 Vgl. auch dazu: „Was suchst du hier in der hässlichen, schmutzigen Stadt?“ (BA I, 179) 204

der Stadt und bezeichnet sie als „ein Kind der Gassen“ und ihre Geschichte als „ein

Gassenmärchen“ (BA I, 185).

Der anonyme Biograph Klärchens reflektiert oftmals über seine Erzählstrategie

und enthüllt dabei seine fehlenden Kenntnisse über die Topographie Berlins: „Jetzt aber

müssen wir unserm Klärchen folgen. Drei Stufen für eine nehmend, springt sie die

Treppe hinab und ohne Furcht hinein in den Regennebel der Straße“ (BA I, 189) [...] „Ich

bin vollständig zu Ende mit meiner Ortskenntnis. Willst du deinen Biographen Hals und

Beine brechen lassen?“ (BA I, 201). Es gibt jedoch auch Stellen, die von der

Allwissenheit des Erzählers zeugen, der sich in der Mitte der Stadt sowie am Stadtrand

gut auskennt.187 Klärchen, auch „Caritas der Gasse“ genannt, verkehrt ohne

Schwierigkeiten zwischen den alten und neuen Stadtteilen, zwischen armen und reichen

Haushalten und erscheint „in dumpfen Kellerhöhlen“ sowie „in windigen Dachstuben“

(BA I, 190). Mit dieser Strategie schafft der Erzähler einen vielfältigen urbanen Raum, in

dem die bei Raabe schon in der Chronik angewandten engen Gassen nur eine partielle

Rolle bekommen.

Neben fiktiven Gassennamen, den „dunklen Gangen, welchen nur der hier genau

Bekannte ohne Gefahr für Hals und Beine beschreiten [können]“ (BA I, 187), wie die

Dunkelgasse und die Blutgasse, erscheinen auch viele reale Orte in Berlin. Einige

Adressen von diesen öffentlichen Berliner Orten werden präzis angegeben: Hörsäle der

Universität, das renommierte Putzgeschäft der Madam Mecker in der Königsstraße, die

Firma Hack und Kompanie: Mineral- und Drogeriehandlung in der Innenstadt,

Rauchzimmer von einer Konditorei und die Geschäftsgewölbe des alten Kleiderhändlers

187 Vgl. dazu zum Beispiel die folgende Aussage des Erzählers: „Schon einmal haben wir in einer Nacht – der Walpurgisnacht – die große Stadt durchwandert, die Gestalten unseres Frühlingsbilderbuchs aufzusuchen. Dasselbe müssen wir jetzt tun“ (BA I, 302). 205

Jakob Rosenstein (BA I, 357), um nur einige zu nennen. Die Mischung von realen und fiktiven Ortsangaben und Berliner Adressen hat eine doppelte Wirkung. Einerseits spricht der Text Leser an, denen die Topographie Berlins bekannt ist, andererseits wird die Stadt im Roman poetisiert und Orte als Metapher benutzt. Dem letzteren Ziel dient auch die

Strategie, Gestalten durch ihre Berliner Adressen zu charakterisieren: z.B. Alida, die weltberühmte Sängerin wohnt in der Mitte der Stadt in der Ritterstraße Nr. 16. und das vielgeprüfte und verarmte Geschwisterpaar Georg und Eugenie am Stadtrand in der

Blutstraße Nr. 6., in einem Haus, das auch als „Zur scharfen Ecke“ bekannt ist und durch eine blutige Geschichte belastet ist.

In der Darstellung von öffentlichen Plätzen der Hauptstadt, wie die Umgebung des Opernplatzes und Orte Unter den Linden, benutzt Raabe oft aus der biedermeierlichen Vedutenmalerei bekannte Bilder. Das folgende Zitat schildert die

Umgebung der Oper, die aus dem Fenster eines Unter den Linden liegenden Hauses beschrieben wird: „Der Alte stand auf und schlug den Fenstervorhang etwas zurück; noch glühte die Quadriga auf der Giebelspitze des Opernhauses im letzten, roten Stahl der

Abendsonne“ (BA I, 330). Ein aus den Gemälden der biedermeierlichen Architekturmaler bekannter Ort, das Opernhaus, wird durch die von den Vedutenmalern bevorzugten

Lichteffekte, wie der abendlichen Wärme, charakterisiert. Raabe mobilisiert jedoch auch die zeitgenössischen Techniken in der Charakterisierung der wachsenden Hauptstadt, wenn er neben der Evozierung der Vedutenmalerei das Großstadtinteresse sowie die

Altstadtromantik der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schaffenden Berliner

Maler teilt.

206

In Ein Frühling stellt Raabe durch die urbane Topographie sowie durch die

Figurenkonstellation ein Panorama aller Schichten der hauptstädtischen Gesellschaft dar

und bezieht auch die Welt außerhalb der Stadt in den Roman ein.

Neben der Hauptdarstellerin, dem Waisenkind Klärchen Aldeck, lernt der Leser

Intellektuelle (der Naturforscher Privatdozent Dr. Justus Obermeier, Doktor Hagen,

Antiquar Seibold und der Student Georg Leiding), Künstler (Sängerin Alida aka Lida

Mayer) und kleinbürgerliche Geschäftsführer und Mädchen des damaligen Berlins (z.B.

Louis Schollenberger und Ruth Rosenstein) kennen. Durch die reichen und armen, auf

verschiedenen Stufen der sozialen Leiter stehenden Figuren ergibt sich ein komplexes

Stadtbild, in dem enge Dachstuben der Armut ebenso viel Raum bekommen wie die reichen, geräumigen Häuser in der Prachtstraße Unter den Linden.188

Die Dichotomie zwischen Armut und Reichtum charakterisiert die Dunkelgasse

besonders, wie das folgende Zitat zeigt: „Eine Runzel auf dem Gesichte der großen Stadt

ist die Dunkelgasse! [in der] die Gegensätze pikant sind, weil Lumpen malerisch sein

können“ (BA I, 190). Die Ungleichheiten existieren jedoch noch ziemlich harmonisch

nebeneinander und dabei funktioniert Klärchen,189 die „Caritas der Gassen“, als eine

Verknüpfungsfigur, die mit allen gesellschaftlichen Schichten in Verbindung steht und

deren Charakter eine einzelartige Hilfsbereitschaft in der großen Stadt verkörpert.190

188 Vgl. dazu: „Die Fenster der Dachstube, zu welcher Klärchen hinaufsteigt, sind mit armseligen, zerrissenen Vorhängen verhüllt.“ (BA I, 191) und „In der glänzenden, meistenteils von der vornehmen Welt bewohnten Königsstraße befindet sich das elegante Magazin der großen Modistin Madam Adelaide Mecker, née Bollenberg“ (BA I, 346). 189 Soziale Status von Klärchen: „Als eine zu Hause Arbeitende steht Klärchen gewissermaßen zwei und einen halben Zoll höher in der menschlichen Gesellschaft als diese eingesperrten Vögelchen der Madam Mecker“ (BA I, 253). 190 Im Gegensatz zu Mitleid und Hilfsbereitschaft in den Nachbarschaften vgl. das folgende Zitat im Spätwerk, Im alten Eisen: „In der ganzen, großen Stadt Berlin hatte niemand von denen, die helfen konnten, -- auch keine Frau – eine Ahnung davon, was sich nebenan ereignen sollte, der Zeit nach gerechnet von diesem Sonntagmorgen bis zum Morgen des nächsten Mittwochs. Nebenan, das ist wohl ein 207

Eine weitere Dichotomie in der urbanen Topographie erscheint in der Darstellung

von Kultur und Natur. Je mehr Schornsteine und Fabriknamen erscheinen in den der

Chronik folgenden Berlin-Texten, desto schwerer wird es den Großstadtbewohnern, die

Natur zu finden. In den späteren Texten besteigen die Protagonisten hohe Türme, um

grüne Flecken in der Stadt lokalisieren zu können. Diese Technik, um die Folgen der

Urbanisierung darzustellen, erscheint schon im zweiten Roman Raabes, dessen Erzähler

in der Mitte der Stadt immer wieder nach dem Frühling sucht:

Wir sind in einem kleinen Stübchen, ziemlich nahe dem Dache, in einem der hohen, finsterblickenden Häuser der Dunkelgasse [...] Ein einziges, aber ziemlich breites, tief in die Wand eingelassenes Fenster erhellt den Raum, zeigt über den gegenüberliegenden Dächern und Schornsteinen ein lustiges Stück blauen Himmels zwischen den ziehenden Wolken des letzten Aprils und erlaubt einen mutwilligen Sonnenschein“ (BA I, 177)

Nicht nur Bäume und Natur, sondern auch Sonnenschein und Licht sind im Raabeschen

Berlin schwer zu finden. Viele von den Ereignissen finden in der Nacht statt und auch der

Name der Dunkelgasse enthüllt Raabes Vorliebe für Schatten, Konturen und Düsterkeit.

Die obigen Dichotomien werden durch Hoffmannschen Erzählstrategien verstärkt

und dadurch entsteht ein Berlin-Text, der mehrere Referenzen auf Hoffmanns bekannte

„Berlinische Geschichten“ enthält.191 Wie Julius Rodenberg benutzt auch Raabe ein von

Hoffmann erfundenes Inventar, um die Komplexität Berlins zu veranschaulichen, eine

ästhetische Tradition weiterzuführen und sich in den Berlin-Kanon einzuschreiben.

Bestimmte Gebäude, wie ein seltsames Haus am Opernplatz Unter den Linden, „das öde

Haus“ genannt oder der Rote Turm, sowie Geister und Gespenster in Berlin sorgen für

etwas enges Begriff für eine so weitläufige Stadt wie die Stadt Berlin; aber alle diejenigen, die nachher zuerst in den Zeitungen [...] von dem Vorgefallenen zu lesen bekamen, hatten doch sämtlich das Gefühl, dass die Geschichte dicht neben ihnen selbst an passiert sein.“ (BA XVI, 341) Charlotte Jolles schreibt über die „Verlorenheit der Toten“ (64), Anonymität, Verlassenheit und Tod in der Stadt in Raabes Werken. 191 Für eine Analyse über den Einfluss, Hoffmann auf Raabe in anderen Werken ausgeübt hat, siehe Schultz’ Aufsatz. 208

die Hoffmannsche Atmosphäre. Wenn Georg Leiding zum Beispiel in der Nacht zum

Operplatz eilt, wird die Stadt in der folgenden Weise geschildert:

Was er [Georg] in dieser Nacht denken konnte, hatte sich plötzlich in Wesen und Fleisch und Blut verwandelt, in heimtückische Kobolde, böse Quälgeister, die ihn grinsend umtanzten und die zu fangen er im wilden Lauf durch die Straße eilte. [...] Die Quälgeister, die bösen Gedanken, kletterten an den Mauern herauf, sie klammerten sich an die Karyatiden. (BA I, 343)

Karyatiden, Mauern und die realen Bausteine der Stadt werden mit Kobolden und

Geistern belebt, wodurch es klar wird, dass Raabe in der literarischen Repräsentation der

Stadt neben seinen persönlichen Beobachtungen und Kenntnissen über die aktuellen

Entwicklungen Berlins, schon früher existierende literarische Traditionen aufnimmt. In

dieser Weise entsteht eine Wechselbeziehung zwischen der physischen Umgebung

Berlins und der literarischen Repräsentationen der preußischen Hauptstadt: nicht nur die

Stadt fördert die literarische Fantasie, sondern literarisierte Stadtbilder schaffen

Erwartungen für die Leser von Berlin-Texten und bauen eine fiktive Stadt auf.

Die Beschreibung des Palais des einstigen Ministers von Hagenheim am

Opernplatz im 15. Kapitel, mit dem Titel „Das öde Haus“ überschrieben, greift am

anschaulichsten auf Hoffmann zurück:

Weil mir das Haus öfters aufgefallen ist; bei Tage durch seine wunderbare, fast lächerliche Rokokobauart und des Abends oder bei Nacht durch jenen Schatten dort an den Fenstern. [...] Am Tage mag das Palais des alten Ministers wohl auffallen durch die potenzierteste Ausbildung des Rokokostils, aber jetzt, im Dunkel der Nacht, wo der Schein der Laternen nur hier und da die hervorragendsten Schnörkel der Säulen und Karyatiden trifft, hat es bei seiner imposanten Front etwas unheimlich Finsteres. (BA I, 226-27)192

192 Vgl. dazu das folgende Zitat: „Das Zimmer war öde und unbehaglich, die wenigen Gerätschaften verschwanden fast ganz darin; einige Stühle, ein Tisch bedeckt mit Buchern, chirurgischen und physikalischen Instrumenten, bildeten die ganze Ausstattung“ (BA I, 353).

209

Der Erzähler, der wie schon früher gezeigt, über seine Erzähltechnik oft laut Gedanken

ausspricht, reflektiert über diese Beschreibung mit den folgenden Worten: „der Dämon,

den wir heraufbeschworen haben, damit er die bunten Bilder in die Zauberlaterne dieses

Kapitels schiebe“ (BA I, 227). Die Intertextualität mit Hoffmann, die Anspielungen auf

den „Vater des Berlinischen Romans“ und die Anwendung der in der deutschen Literatur

schon existierenden Topographie machen den Roman einen Berliner Großstadttext.

Außer den Hoffmann-Anspielungen erscheinen auch viele neue Elemente in der

Darstellung Berlins, besondern in der Schilderung der alten Stadtteile. Wie viele der zeitgenössischen Maler widmet sich auch Raabe der Altstadt und versucht Bilder der

Vergangenheit wieder ins Leben zu rufen und die Aufmerksamkeit seiner Leser auf das

Wachstum der Stadt und die Veränderungen im Stadtbild zu lenken. In dem folgenden

Absatz versucht der Erzähler, das Aussehen der nicht mehr existierenden Stadtmauer zu

rekonstruieren:

Auf dem Plane der Stadt könnt ihr noch an den zickzacklaufenden letzten Häuserreihen der Altstadt die einstige Grenze des Weichbildes und den Zug ihrer jetzt verschwundenen Mauern und Bollwerke deutlich erkennen. Jenes alte Gemäuer, der Rote Turm, ist noch eins der vielen niedergerissenen Stadttore. ’s ist ein prächtiges Stück Mittelalter, dieser alte Torturm, und eben seiner seltsamen Bauart verdankt er seine Erhaltung, während alle seine früheren Genossen nur noch in den rohen Holzschnitten einiger Stadtchroniken fortleben. Am Ende der Blutgasse bildet er einen finstern Torweg, und von ihm aus lief sonst nach beiden Seiten hin die Stadtmauer weiter fort. (BA I, 201)

Neben der akkuraten Beschreibung der heutigen und einstigen Bauverhältnisse bemerkt

der Erzähler, dass die alte Stadt nur in Holzschnitten in alten Stadtchroniken aufbewahrt

worden ist. Diese Strategie sowie die Suche nach der Geschichte von einzelnen

210

Gebäuden193 ergänzt die verdichtete Stadt mit dokumentarischen Quellen und arbeitet

bewusst, wie die zeitgenössischen Maler, als Chronist. Gleichzeitig verweist die

spezifische, private Geschichte der Blutgasse pars pro toto auf die öffentliche Geschichte

Deutschlands. Diese Strategie erscheint auch in der Chronik, wenn Johannes Wachholder

durch das Abschreiben der Geschichte der Sophienkirche oder durch das „Märchen“

einer alten Frau eine knappe Chronik der napoleonischen Kriege und der nachfolgenden

Jahre verewigt. Das Ineinanderweben von Fiktion und Dokumentation charakterisiert

auch die Berlin-Topographie der nachkommenden Romane.

Die Analyse der urbanen Topographie von Raabes zweitem Berlin-Roman in

einem breiten Kontext zeigt, dass sich der Schriftsteller in den früheren und zeitgenössischen malerischen und literarischen Repräsentationen der preußischen

Hauptstadt gut auskennt und sie in seinem Berlin Text erfolgreich und vielfältig

mobilisiert. Raabes Berlin evoziert das Erbe des Biedermeiers sowie das von Hoffmanns

dämonischem Berlin, jedoch setzt es sich auch mit den derzeitigen Entwicklungen der

Stadt auseinander. Durch die literarische Anwendung und Komplizierung der

literarischen und malerischen Repräsentationen von dem zeitgenössischen und dem

vergangenen Berlin wird Raabes Ein Frühling ein wahrhaft intermediales Produkt des 19.

Jahrhunderts.

193 Zur scharfen Ecke: „Renovatum anno Domini MDIX. ist auf einem in die Mauer eingelassenen Stein des Hauses Numero sechs zu lesen. In jener wilden Nacht, nach welcher man die Gasse umtaufte und ihr den Namen gab, den sie heute noch führt, hatte sich ein verzweifelnder Haufen der Angreifer in dieses Gebäude geworfen. Es entstand ein schrecklicher Kampf“ (BA I, 272). 211

„Sieh nach den Sternen, gib acht auf die Straßen“: Die Anwendung der Vogelperspektive in Die Leute aus dem Walde, ihre Sterne, Wege und Schicksale (1863)

Die Darstellung von Städten aus einer Vogelperspektive war immer ein mit Vorliebe

benutztes Motiv der Stadtmalerei. Die Vogelperspektive oder Luftschau bedeutet eine

kartenverwandte Darstellung, die dem Blick auf eine Landschaft aus einer größeren Höhe

entspricht und als eine schräge Geländedarstellung charakterisiert werden kann. Die

hohen Standpunkte, von denen Städte in Holzschnitten und Gemälden verewigt wurden, waren aber oft fiktiv, da dem Maler kein entsprechender Stadtpunkt zur Verfügung stand.

Die Darstellungen aus fiktiven Standpunkten sind wichtige Leistungen und zeigen

einerseits frühe städtebauliche Zusammenhänge (Wellmann 19), andererseits sind sie

Zeichen des Strebens danach, den eigenen Wohnort übersehen zu können. Die in erster

Linie aus der Malerei bekannte Vogelperspektive aus fiktiven und realen Stadtpunkten

wurde auch in der Stadtliteratur im 19. Jahrhundert mit Vorliebe benutzt. Dieses Segment

des Kapitels untersucht zunächst ihre Anwendung in einer Zahl von literarischen

Primärtexten und theoretischen Ansätzen, um ihre Komplexität zu verstehen und die

Analyse dieser Perspektive in Raabes Berlin-Roman Die Leute aus dem Walde, Ihre

Wege, Sterne und Schicksale vorzubereiten.

Als Ausgangspunkt sollen die frühesten gemalten Gesamtansichten Berlins aus

dieser Perspektive erwähnt werden. Die ersten Vogelperspektive anwendenden

Stadtansichten stammen aus dem 17. und 18. Jahrhundert und die meisten Luftschau-

Ansichten Berlins aus dieser Zeit zeigen Bauvorhaben und hängen mit der

kartographischen Landaufnahme zusammen (Wellmann 19). Die Beispiele von Johann

212

Friedrich Fechhelm (Der Tempelhofer Berg mit Blick auf Berlin, 1781) und von Johann

Georg Rosenberg (Berlin von den Rollbergen zu sehen, 1786) sind zwei repräsentative

Gemälden aus dieser Epoche. Beide stellen eine geordnete Landschaft dar und schildern weniger die Stadt. Die Wegesysteme in die Stadt werden detailliert gemalt und in der

Stadt nur die Türme von bestimmten Kirchen (z.B. der deutsche und französische Dom bei Rosenberg) und das Schloss (bei Fechhelm) machen Berlin identifizierbar. Beide

Gemälde zeigen Berlin als die preußische Metropole zur Zeit ihrer Blüte und sind

Produkte von der Landschaftsmalerei sowie der sich etablierenden Stadtmalerei.

Abbildung 23: Johann Georg Rosenberg, Berlin von den Rollbergen zu sehen (1786)

213

Abbildung 24: Johann Georg Rosenberg, Ansicht Berlins mit dem Halleschen Tor, aufgenommen am Tempelhofer Berg (um 1785)

Eine sehr ähnliche Stadtansicht benutzt Raabe in dem Roman Der Hungerpastor

(1864).194 Das 15. Kapitel des Romans beschreibt eine Szene über das Ankommen von

Hans Unwirrsch in der Stadt. Während der Einfahrt in die Stadt wird Berlin vom

Kreuzberg gesehen, wie wir es nur noch von den obigen Gemälden kennen, auf denen die

Stadt einen fast gemütlichen Eindruck macht. Dem Erzähler kommt aber die Stadt gar

nicht als eine harmonische Einheit vor und Hans beschreibt sie in der folgenden Weise:

Mit Stauen und Schrecken starrte Hans auf den feurigen Schein vor ihm und horchte auf das dumpfe Rollen und Summen, welches aus einer unendlichen Tiefe dicht zu seinen Füssen zu kommen schien. „Das ist die Stadt“ sagte der Leutnant Goetz. „In einer halben Stunde sind wir an den Barrieren und in einer Stunde im Grünen Baum bei den Neuntötern. (BA VI, 201)

Das Grüne als Schutz und Natur (auch durch den Namen der Unterkunft „Der Grüne

Baum“) wird mit der fremden Stadtlandschaft, mit „ungemütlichen“ neuen Häusern, die

194 Diese Sicht auf Berlin war in der Malerei sowie in der Literatur ziemlich beliebt. In einem Kurzessay vergleicht Alexander Koŝenina zum Beispiel Fechhelms Ölgemälde mit einem Gedicht von Moritz, da beide das „aufgeklärte“ Berlin vom Tempelhofer Berg beschreiben. 214

„zwischen Pfahlgerüsten und unvollendeten Mauern oder auf kahlen Flecken“ stehen

(BA VI, 203), kontrastiert. Natur und Kultur, Landschaft und die Stadt stehen in einem starken Kontrast miteinander. Der Spaziergang in der Stadt und die in den Straßen gesehenen Masse evozieren Hans Unwirrsch’ Schulzeitlektüre über die blutigen Kämpfe in römischen Arenen. Es wird ihm schwindlig und er bedarf der Hilfe seines Führers:

Das ist, wie das Meer sein muss [...] und ich stehe am Rande wie ein Knabe, der das Schwimmen lernen soll. Es treibt mich mit unwiderstehlicher Gewalt hinab, und doch fürchte ich mich. (BA VI, 202)

Hans Unwirrsch und Leutnant Goetz gehen in die Stadt durch die Randbebauung, schreiten durch das militärisch bewachte nachts geschlossene Südtor (vermutlich das

Hallesche), und Hans „gafft“ auf den Platz – den Belle-Alliance-Platz – und „starrt“ auf die lichterfüllten Straßen, die von dem Platz ausstrahlen. Der Ausgangspunkt korrespondiert mit den frühesten malerischen Darstellungen Berlins, jedoch der

Spaziergang in der Stadt enthüllt die Komplexität der wachsenden Stadt. Die Anwendung des erhöhten Standpunkts erlaubt die detaillierte Beschreibung der Begegnung mit der

Stadt aus der Perspektive des Landbewohners und zeigt, wie sich die

Wahrnehmungsformen in der Stadt verändert haben und welchen elementaren Einfluss sie auf den aus der Provinz Ankommenden ausüben können.

Raabe schickt seine Protagonisten auch in früheren Texten gerne auf hohe Türme und lässt die die Stadt durch die hier erlangte Vogelperspektive beobachten. Die erhöhte

Perspektive in den frühen Berlin-Texten bedeutet die Auseinandersetzung mit der Stadt durch Fensterrahmen und aus Dachstuben während der Turmblick später erscheint. In Ein

Frühling wird zum Beispiel der Turmblick nur kurz am Anfang kurz als eine

215

katastrophale Erfahrung dargestellt, wenn der Leser mit Klärchen auf einen Turm

hochgeführt wird:

Bis auf die erste Galerie des Turmes gelangte sie ebenfalls und schaute von da zitternd und staunend über das Häusermeer der Stadt und die Ameisenmenschen hinweg in die blaue Ferne. Wovon hängt doch oft die Bildung unseres ganzen Charakters ab! Von dem Augenblicke an liebte Klärchen Aldeck nichts so sehr als enge Winkel, niedrige Zimmer, Zusammenhuschen – kurz die Welt der Nähe, des Kleinen.[...] nichts konnte sie in ihrem ferneren Leben dazu bringen, jemals wieder einen Turm zu besteigen. (BA I, 182-83)

Die Anwendung der Turmperspektive in Ein Frühling hat zweierlei Funktion: Einerseits ist sie mit Angst verbunden, andererseits hilft sie Klärchen einen Überblick zu bekommen und Regeln zu gestalten, die in ihrem restlichen Leben von großer

Wichtigkeit werden. Diese Angst vor der Höhe verschwindet in den späteren Texten und wird im Roman Die Leute aus dem Walde mit der größten Vorliebe benutzt.195 Um die

Anwendung des Turmblickes und der Vogelperspektive in der nachfolgenden

Textanalyse des Roman Die Leute aus dem Walde in einem breiten Kontext erfassen zu

können, werden zuerst einige Primärtexte und theoretische Modelle der erhöhten

Perspektive in literarischen Werken des 19. Jahrhunderts (von , Heinrich

von Kleist und Victor Hugo) und in theoretischen Texten des 20. Jahrhunderts (von Henri

Lefevbre und Michel de Certeau) untersucht.

Adalbert Stifters Vorrede unter dem Titel „Aussicht und Betrachtungen von der

Spitze des St. Stephanthurmes“ zu seiner 1844 erschienenen Essaysammlung Wien und

die Wiener in Bildern aus dem Leben ist eine der berühmtesten deutschsprachigen

literarischen Anwendungen der Vogelperspektive im 19. Jahrhunderts. Von oben

195 „Halt, da malt sich ein hohes, turmartiges Gebäude schwärzer gegen den dunkeln Nachthimmel ab – gottlob, jetzt weiß ich wenigstens wieder, wo wir sind. Das ist der Rote Turm. Wir befinden uns in der Blutgasse.“ (BA I, 201) 216 organisiert Stifter -- Ameisenmenschen, Käferpferde und Nussschalenkutschen beobachtend --, das Panorama der Stadt und sucht den breitesten Winkel, um möglichst viele Phänomene des wachsenden Wiens - Wetter, Verkehrswege, öffentliche Räume und private Interieurs - gleichzeitig beschreiben zu können. Von der Spitze des Turmes schildert der für seine Landschaftsbeschreibungen bekannte Stifter Wien in einer distanzierten, mitleidlosen Weise in raschem Wechsel von Bildern aus verschiedenen

Bereichen. Stifter benutzt eine höchst visuelle Sprache, wenn er über seine Motivation für die Essaysammlung schreibt:

In ernsten und heiteren Bildern [solle er] wie ein Kaleidoskop Szenen der Hauptstadt vorbeiführen, so dass sich dem Leser nach und nach ein Bild des Lebens und Treibens dieser Residenz zusammenmale, welches dem, der es nie gesehen, eine Vorstellung gibt, dem aber der hier gewesen oder noch ist, eine ergötzliche Erinnerung ist. (zitiert nach Lieselotte Hoffmann 163)

Das Zitat zeigt, dass die rein visuelle Wahrnehmung eine größere Rolle in den literarischen Auseinandersetzungen mit der Stadt bekommt. Stifters Ziel ist es, seinen

Lesern eine Sammlung von Bildern zu vermitteln, die eine konzentrierte, stilisierte

Überschau des komplex gewordenen urbanen Milieus ermöglicht. Stifters Position über der Stadt lässt eine kontemplative Distanz zu, mit deren Hilfe er das Bewegende und von unten Unüberschaubare in der Stadt als bedeutende Einzelheiten in Bildern fixieren kann.196

Stifter reflektiert über den Wahrnehmungsakt auf der Spitze des Turmes in der folgenden Weise: „In der That, von dieser Höhe der Vogelperspective angesehen, hat selbst für den Eingeborenen seine Stadt etwas Fremdes und Abentheuerliches, sodass er

196 Das Nebeneinanderreihen von verschiedenen Bildern weist schon auf eine Form energetischer Stadtwahrnehmung voraus, die man in erster Linie mit den Schriftstellern Zola, Döblin oder Dickens assoziiert. 217

sich für den Augenblick nicht zu finden weiß“ (211). Der Standort bietet einen Reichtum

von Perspektiven an: der fremde Blick auf die vertraute Stadt wird durch einen

Fernrohrblick, durch Fern- und Näherrücken gesteigert. Besonders der Mangel an

akustischen Wahrnehmungen ermöglicht ihm eine eigene Imaginationssphäre, in der sich die vertraute Stadt in unvertrauten Bildern präsentiert.197 Gleichzeitig hat er auf der

Spitze seiner ‚Pappel,’ wie er den berühmten Turm nennt, eine größere visuelle Kontrolle

über die Stadt als unten in den Straßen, wo „der Wanderer ganz und gar in die Irre [geht]“

(Stifter 212).

Ein anderes früheres Beispiel für die Anwendung der Vogelperspektive über den

urbanen Raum stammt von Kleist, der die Übersicht über die Stadt Dresden in der

folgenden Weise beschreibt: „Ich blicke von dem hohen Ufer herab über das herrliche

Elbtal, es lag da wie ein Gemälde von Claude Lorrain unter meinen Füssen – es schien mir wie eine Landschaft auf einen Teppich gestickt, grüne Fluren, Dörfer, ein breiter

Storm, der sich schnell wendet, Dresden zu küssen.“198 Das Zitat von Kleist weist auf

eine erhöhte Intensität zwischen bildender Kunst und Literatur in Stadtbeschreibungen

hin. Am Elbeufer stehend verwendet Kleist eine Perspektive, die die ästhetische

Aneignung der Stadt ermöglicht. In einem statischen Bild, das sogar implizit über einen

Rahmen verfügt, fixiert Kleist das von oben gesehene Dresden. Die noch naturverbundene und organische Stadt erscheint als Abbild, das handhabbar und verfügbar dargestellt wird. Kleists Beschreibung von Dresden vermittelt jedoch eine frühe und problemlose Beziehung des Autors mit dem wahrgenommenen Objekt.

197 Interessant ist hier Simmels Essay über die „Sociology of the Senses“, in dem er die Beziehung des Sehens und des Hörens in der folgenden Weise charakterisiert: „the person who sees without hearing is generally much more confused, helpless and disturbed than one who hears without being able to see“ (114). 198 An Wilhelmine v. Zenge, den 4. Mai 1801. 218

Stifters Text und Kleists Brief sind nur zwei Beispiele für zahlreiche Versuche, sich an die verwirrende, unüberschaubar gewordene Stadt im 19. Jahrhundert aus der

erhöhten Perspektive anzunähern.199 Auch die Großstadtromane von Victor Hugo und

Honoré de Balzac zeugen davon, dass die Wiedergabe der zunehmenden Vielfalt und

Widersprüche der wachsenden Städte von den Schriftstellern eine neue optische

Einstellung und ein Streben nach modifizierten Mitteln der Darstellung verlangt. Die

bekannteste französische Vogelperspektive stammt von Victor Hugo, der Paris aus dem

Turm von Notre-Dames in seinem berühmten Roman Der Glöckner von Notre-Dame

beschreibt.

The spectator, on arriving breathless at that peak, was dazzled by the chaos of roofs, chimneys, streets, bridges, belfries, towers, and steeples. All burst at once upon eye […] The eye was long bewildered by this labyrinth of heights and depths where everything originated from art, from the humblest dwelling, with its painted and carved wooden surface, low doorway, and overwhelming stories, to the royal Louvre, which then had a colonnade of towers. But when the eye began to reduce this tumult of edifices to some kind of order…“ (Hervorhebungen von mir, Hugo 109)

Obwohl der Erzähler verwirrt zu sein scheint als er zum ersten Mal das wachsende Paris

aus der Höhe anblickt, gibt er danach eine organisierte, detaillierte

Panoramabeschreibung der Stadt und ihrer Baugeschichte. Wenngleich Paris keine

homogene Stadt mehr ist, wie sie es im Mittelalter war, ist sie aus dieser Höhe immer

noch überschaubar. Hugo beschreibt die Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Pariser

Bau- und Stadtentwicklung und preist die Totalität der urbanen Wahrnehmung, wenn das

visuelle Erlebnis mit den lauten Glocken von Paris ergänzt wird. Die stark organisierte

199 Christopher Prendergast analysiert mehrere die Vogelschau anwendende Paris-Romane aus dem 19. Jahrhundert, im Kapitel „The High View: Three Cityscapes“ seines Buches Paris in the Nineteenth Century. 219

Stadtbeschreibung und die berühmte Hugo’schen Historiographie von Paris sind nur von

oben, vom damaligen höchsten Standpunkt, vom Kirchturm von Notre-Dame, möglich.

Obwohl die literarische Anwendung der Vogelperspektive in Texten des 19.

Jahrhunderts schon mehrmals erscheint, stammen die bekanntesten theoretischen Ansätze

in Bezug auf diese Repräsentation aus dem 20. Jahrhundert. Eine scheinbar absolute

Kontrolle der hohen Perspektive beschreibt der Kulturtheoretiker Michel de Certeau in den späten 70er Jahren in seinem Essay Walking in the City. Wie er feststellt, kann der

Betrachter nur von oben, in seinem Beispiel aus dem 107. Stock des World Trade Centers hinaus, die Stadt als lesbares Textgewebe beobachten: „His altitude transforms him into a voyeur. It places him at a distance. It changes an enchanting world into a text“ (102). Von diesem Aussichtspunkt zeigt sich die Metropolis als ein im Ganzen fassbares Bild, im

Gegensatz zu dem Chaos und Durcheinander der unteren Stadt, durch die man sich auf der Straße bewegt. De Certeau preist die Höhe, da sie die Entstehung eines lesbaren

Textes fördert, aber er kritisiert diese Perspektive auch, weil sich die Überschaubarkeit der Stadt aus einer Vogelschau oft als täuschend erweist und die Realität der unteren

Welt der Straßen ausklammert.200

Ein weiteres Beispiel für die Theoretisierung der erhöhten Perspektive, jedoch in

diesem Fall das Fenster als Beispiel benutzt, ist der Essay “Seen from the Window” von

Henri Lefevbre, in dem er schreibt:

The one walking on the street is immersed into the multiplicity of noises, rumours, rhythms [...] but from the window noises are distinguishable, fluxes separate themselves, rhythms answer each other. […] So there is a relative silence

200 Auf dieses Problem weist zum Beispiel der Germanist Lutz Koepnick in seinem Artikel über die Kritik von Sir Norman Fosters Reichstagkuppel hin: „today’s visitor’s experience [while walking in the cupola of the German parliament] is not an ocular destabilization anymore but the commanding standpoint of the pre- modern traveler resting on a mountain top and beholding urban topographies“ (314). 220

in the crowd. […] It’s incredible what one sees and hears (from the window). Strict harmony. (220)

Die erhöhte Position am Fenster erzeugt eine paradoxe Situation, wie der Literaturkritiker

Heinz Brüggemann in den 1980er Jahren in mehreren Büchern beschreibt. Laut

Brüggemann ist der Fensterblick eine Wahrnehmungsform des vereinzelten Subjekts der

großen Städte, „ein Abbruch mit aller lebendigen, aktiven Kommunikation mit der

Außenwelt“ (Das andere Fenster, 13). Durch das Fenster entsteht eine Distanz, die es ermöglicht, das Mannigfaltige in einem Bild fixieren zu können. Im Gegensatz zum

Fensterblick, steigert der Turmblick dieses Paradox weiter.

Den zeitlichen und kulturgeschichtlichen Abstand zwischen den obigen

Beispielen außer Acht lassend, kann festgestellt werden, dass das urbane Milieu ein

spezifisches Wahrnehmungsvermögen produziert und dabei die erhöhte Perspektive sich als ein ambivalentes Phänomen erweist. Einerseits manifestiert sich in diesem

Schauwinkel ein Wunsch nach Kontrolle über einen unübersichtlich gewordenen Raum, andererseits impliziert der gleiche Wunsch einen Verlust an der Erfahrbarkeit der direktern Umgebung. Die Anwendung der erhöhten Perspektive erhellt auch die

Instabilität und die Grenzen der literarischen und malerischen Repräsentatierbarkeit der

Großstadt. Da Raabe den in seinen früheren Berlin-Werken benutzten Fensterblick im

Roman Die Leute aus dem Walde vermehrend mit dem Turmblick ersetzt, soll die

Analyse der Anwendung der Turmperspektive dabei helfen, den Wunsch des Subjekts nach Kontrolle seiner komplexer gewordenen Umgebung sowie die ästhetischen

Aneignungen des wachsenden Berlins zu untersuchen.

221

Die Leute aus dem Walde ist ein Produkt aus Raabes Wolfenbütteler Zeit und

wurde zwischen Oktober 1861 und November 1862 geschaffen und im Jahre 1864

veröffentlicht. Wie in der Chonik, stehen die breiten Straßen zu den verborgenen Gassen

in der Altstadt auch in diesem Text in einem scharfen Kontrast, und auch den Hauptort, die Musikantengasse haben wir in der Nähe der Spreegasse zu suchen. Die

Musikantengasse hat alte Gebäude, deren Schönheit nur dem aufmerksamen und sensiblen Beobachter auffallen, wie es in der folgenden Beschreibung eines dort zu findenden Hauses zu Tage kommt:

Es war eigentlich ein altes Gebäude voll wunderlicher Baumeisterlaunen längst verlorengegangener Architekturwissenschaft. Aber über seine Vorderseite hatte die Zeit, die ebenso eine Zunge hat, wie sie Zähne besitzt, weggeleckt und alles schön modern gestrichen, bis an das Dach hinan. Ähnlich war es allen andern Gebäuden der Musikantengasse ergangen; aber darum blieb die Gasse nichtsdestoweniger alt, und die Häuser blieben auch alt, und aus den Fenstern der Hinterseiten sah man in die tollste Welt von schwarzen Höfen, Giebeln, Brandmauern und Schornsteinen... (BA V, 50)

Raabes Vorliebe für die Altstadt ist also auch in diesem Roman präsent, in dem die enge

Musikantengasse ähnlich wie in der Sperlingsgasse von einer bunten Bevölkerung bewohnt wird. Berliner Lokalitäten, die in diesem Roman spezifisch erwähnt werden:

Ulex’ Giebel im Nikolaikloster, die Musikantengasse und die Schulstraße in der Altstadt.

Die Kronenstraße, in der die Familie Wienand wohnt befindet sich südlich von der

Altstadt. Alle Szenen im Roman, genau wie in der Chronik, spielen sich in Berlins

Altstadt ab. Öffentliche Räume erscheinen im Roman kaum, nur die Polizeistation und der Hamburger Bahnhof werden erwähnt.

222

Im Gegensatz zu den alten Stadtteilen werden die modernen Viertel Berlins nur

karg beschrieben und mit negativen Attributen charakterisiert, wie zum Beispiel das Haus

des Bankiers Wienand, dessen Beschreibung der Erzähler sogar explizit verweigert:

In einer ruhigen, breiten Straße [...] ein ganz modernes Hause, welches sich durch nichts von seinen Nachbarn, welche ebenfalls groß, stattlich und modern waren, auszeichnete. Je weniger charakteristisch ein Gegenstand ist, desto schwerer ist er zu beschreiben; wir beschreiben deshalb das Haus des Bankiers nicht. (BA V, 62-3)201

Das im Gegensatz zu der mehrseitigen, detaillierten Beschreibung der Musikantengasse

lakonische Zitat zeigt, dass Raabe auch in diesem Roman die „wahre Stadt“ in den

kleinen Gassen von Berlin findet. Jedoch ist der Erfahrungshorizont des jungen

Protagonisten Robert Wolf viel breiter als der des alten Johannes Wachholders and der

von Klärchen Aldeck.

Der Roman ist eine Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Problematik des

Lebens überhaupt und eine dichterische Beantwortung der Frage über das Verhältnis des

Menschen zur Welt seines Zeitalters dargestellt an der Entwicklung eines Knaben zum

Mann. Der ursprüngliche Titel des Bildungsromans war Der Sternseher und der Roman war nach Meinung der Kritiker viel zu sehr an Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre angelehnt.202 Im Mittelpunkt steht der junge Robert Wolf, der wie Parzival oder

Grimmelshausens Simplicissimus sein Leben weit von der Zivilisation in einem Wald

beginnt und durch eine Reise, in diesem Fall in die Großstadt und nach Amerika erzogen

wird. Eine Gruppe von Menschen führen ihn in Berlin sowie in Amerika herum, von

201 Raabe beschreibt Häuser in genausten Details mit dem Zweck ihre Bewohner zu charakterisieren. Solche Beispiele im Roman sind die Schilderung des Hauses von der Baronin von Poppen und seines Sohnes Leon von Poppen (178) und die Beschreibung des Eckhauses von Juliane Poppen (258). 202 Pongs stellt in Der Leute aus dem Walde eine Reihe von Parallelen zu Goethes Wilhelm Meister. Mehr dazu siehe auch im Anhang der Kritischen Ausgabe des Textes, BA V, 435-6. 223

denen viele wie Robert aus dem Winzelwald stammen.203 Die alte Generation wird durch

den Polizeischreiber Fritz Fiebiger, den Astronom Heinrich Ulex und das Freifräulein

Juliane von Poppen repräsentiert, während die junge Generation in den Gestalten von

Friedrich Wolf, Roberts Bruder, und Eva Dornblut, Friedrichs Geliebter, auftritt. Der

Autor hat diesen in der Raabe-Forschung eher vernachlässigten Roman später mit den folgenden Worten charakterisiert:

Das Buch ist noch ein recht jugendliches Produkt nach der alten Aquarellmanier, welche die Figuren erst mit schwarzer Tusche umriss und sie dann mit bunten Farben ausmalte. So scharf grenzen sich die Charaktere im Leben nicht ab und sollen es also auch in der Kunst nicht. (zitiert nach Oppermann 55)

Eine von diesen nach Raabe unscharf dargestellten Figuren ist der achtzehnjährige

Robert, der „durch die Liebe“ nach Berlin kommt, um seine Geliebte Eva Dornblut zu finden.204 Wie Döblins Franz Biberkopf lernt der Leser Robert Wolf in den ersten Seiten des 400seitigen Romans in einem Berliner Gefängnis kennen, da er gleich nach seiner

Ankunft in der großen Stadt wegen Hausfriedensbruchs eingesperrt wird, nachdem er versucht hatte, das geliebte Mädchen aufzusuchen. Der Protokollführer Fiebiger, der familienlose Landsmann von Robert Wolf entscheidet sich nach dem Verhör des Jungen, ihn in seiner Wohnung aufzunehmen und zu einem anständigen Mann zu erziehen.

Roberts tragische Kindheitsgeschichte berührt ihn während der Aufnahme des Protokolls tief und er möchte „die Seele des Knaben retten“ (BA V, 35).

Auf dem Weg zu Fiebigers Wohnung in der Musikantengasse begegnet Robert

Wolf auf einmal, genau wie Wilhelm Meister seiner Natalie, während eines Unfalles, in

203 Im Anhang der KA des Textes wird der Winzelwald mit seinen Dörfern als eine Landschaft in der Nähe des Harzes zu erkennen (437). Raabe hat solche Dörfer auch malerisch aufs Papier gebracht (siehe dazu Beispiele bei Arndt). 204 Ein Reiz, der die Stadt auf das Leben der Leute aus dem Winzelwald ausübt, erscheint mehrfach im Roman. Robert Wolf verlässt den Wald wegen seiner Liebe zu Eva; Ulex und Fiebiger beschreiben eine Anziehungskraft der Großstadt: “ein dunkler Trieb zog sie der Hauptstadt zu” (BA V, 81). 224

dem er sein Bewusstsein verliert, der richtigen Frau, der jungen, eleganten Dame, Helene

Wienand. Die ältere Generation aus dem Wald, der Astronom Heinrich Ulex im

Observatorium, Fritz Fiebiger in der Musikantengasse und „die närrische Jungfer“

Juliane von Poppen, Helenas Erzieherin, kümmern sich alle um Roberts Ausbildung, der

wie Wilhelm Meister, den ärztlichen Beruf wählt.205 Die wichtigste Lehre aber, die die

drei Alten Robert Wolf beibringen, ist eine Synthese ihrer drei verschiedenen

Lebensphilosophien. Fiebiger, der Gassenphilosoph, ergänzt nämlich das von Ulex

formulierte Axiom „Sieh nach den Sternen,“ mit seiner Lebensregel „gib acht auf die

Gassen“ (BA V, 155).206 Diese Lehre wird durch die urbane Metapher sowie durch die

Anwendung der Luftschauperspektive anschaulich gemacht.

Bevor der Protagonist die Stadt aus der Höhe eines Turmes betrachtet, wird

Berlin, wie in den vorigen Berlin-Werken, auch in Die Leute aus dem Walde durch das

Fenster geschildert. Während der ersten Nacht in der Musikantengasse träumt Robert

Wachholder vom Heimatdorf und der Natur im Winzelwald. Im Dämmerlicht setzt er

sich danach am Fenster mit der großen Stadt auseinander:

Robert Wolf rieb die Augen und warf einen Blick auf die grauen Brandmauern vor seinem Fenster, auf die schmutzigen, regennassen oder beschneiten Dächer, die qualmenden Schornsteine und Kaminröhren, welche den Dunst vermehrten und sich in ihm, in der Ferne, schattenhaft verloren. Der Qualm der Steinkohlen, der verschiedenartigen Gase füllte die Brust des Knaben, wenn er das verquollene Fenster mit Mühe geöffnet hatte. Und unter dem grauen Schleier rauschte und knarrte, pochte und kreischte und rollte das große Leben der Stadt, so fremd, so

205 Die drei Alten halten auch in der Stadt zusammen. Ihr Leben in der Stadt scheint von ihrem früheren Leben im Wald nicht viel unterschiedlicher zu sein: “In der großen Stadt kann man sich verstecken wie in dem Winzelwalde; jede hat ihren Schatten, ihre geheimnisvolle Lust und Schauer wie dieser. Wie in dem Winzelwalde fanden sich die drei frühern Genossen zusammen” (BA V, 86). 206 Vgl. dazu: “In den Gassen wusste der Sternseher nicht so gut Bescheid, wie der Polizeischreiber; er führte andere Register als dieser” (BA V, 158); „Wie in dem Winzelwalde fanden sich die frei frühern Genossen zusammen. Sie waren im Leben arg hin und her geworfen worden; sie suchten nunmehr die Einsamkeit und die Stille. Sie hatten alle viel gelernt; aber jeder sah die Welt auf seine Weise an; am kindlichsten war der Idealist Heinrich Ulex geblieben, am nüchternsten war Juliane von Poppen geworden; der Humorist Fritz Fiebiger bildete das verbindliche Mittelglied“ (BA V, 86). 225

beängstigend, so erdrückend, dass Robert unwillkürlich nach der Kehle griff, gleich einem Erstickenden. Nur richtete sich aber sein Blick auf einen von den vielen Giebeln, und von dorther kam ihm der Trost, der erste Anhalt in dieser schwindelregenden, fremden Welt. In jenem Giebel schlief Ulex, der Sternseher, seinen langen Morgenschlaf nach ernst durchgewanderter Nacht. (BA V, 153)

Durch die Fensterrahmen empfindet Robert die optischen und akustischen Qualitäten der

Großstadt, die ihn völlig überwältigen. Die Multipliziät von Reizen der Stadt manifestiert sich in einem unkontrollierbaren Gewirr von Sinneseindrücken. Roberts Blick entdeckt die grauen Brandmauern, die fensterlosen, abweisenden Rückseiten der Häuser, die keinerlei menschliche Spuren von ihren Bewohner aufweisen. Sein Blick trifft auf Dächer und ein Durcheinander von Schornsteinen, deren Silhouetten sich in der Ferne verlieren.

Vorher nie gehörte Geräusche echoen in seinen Ohren, deren Quellen sich nicht lokalisieren lassen. Im Gegensatz zu Johannes Wachholder in der Chronik, den sein

Zimmer und Fenster vor dem Chaos der Stadt schützt, fühlt sich der Junge von der Stadt bedroht, die ihn durch ihre Sinnesreize fast erstickt. Die Fensterrahmen eröffnen Robert ein abstoßendes Bild von Berlin, dessen Eindrücke beängstigend sind.207 Berlin wird zur

Vision einer Großstadt, die es, als Raabe dort weilte, noch gar nicht war, und als Vision war sie schreckensregend für denjenigen, der die Stadt zum ersten Male betrat.

207 Ähnliche semantische Mittel benutzt Kleist in einem am 18. Juli 1801 an Caroline von Schlieben verfassten Brief, in dem er Paris aus seinem Fenster beschreibt: “Wenn ich das Fenster öffne, so sehe ich nichts, als die blasse, matte, fade Stadt, mit ihren hohen, grauen Schieferdächern und ihren ungestalteten Schornsteinen, ein wenig von den Thuillerieen, und lauter Menschen, die man vergisst, wenn sie um die Ecke sind. Noch kenne ich wenige von ihnen, ich liebe noch keinen, und weiß nicht, ob ich einen lieben werde. Denn in den Hauptstädten sind die Menschen zu gewitzigt, um offen, zu zierlich, um wahr zu sein. Schauspieler sind sie, die einander wechselseitig betrügen und dabei thun, als ob sie es nicht merkten. Man geht kalt an einander vorüber; man windet sich in den Straßen durch einen Haufen von Menschen, denen nichts gleichgültiger ist, als ihres Gleichen; ehe man eine Erscheinung erfasst hat, ist sie schon von zehn anderen verdrängt; dabei knüpft man sich an keinen, keiner knüpft sich an uns; man grüßt einander höflich, aber das Herz ist hier so unbrauchbar, wir eine Lunge unter der luftleeren Campane, und wenn ihm einmal ein Gefühl entschlüpft, so verhallt es, wie ein Flötenton im Orkan” (69). 226

Robert macht keinen Versuch, mit dem überwältigenden Bild zurechtzukommen

und sich vor dem Gesamtbild durch eine Fokussierung auf seine Einzelheiten zu retten.

Die Stadt erscheint als ein unerklärliches Phänomen, das nur Unheil verbreiten kann.

Robert ist nicht im Geringsten von ihr fasziniert und sein Blick sucht nur nach ‚Rettung.’

Diese kommt in einem freundlichen, unerklärbar vertrauten Element des Bildes: Den

Giebeln in der Ferne. Nicht mehr das Fenster dient zum Schutz des Protagonisten,

sondern eine höhere Perspektive. Der Blickwechsel von den erschreckenden Teilen der

Stadt auf die Giebel in der Ferne steht auch für eine Loslösung von einem kollektiven

Dasein zum Individuellen. Die Türme symbolisieren eine Miniaturwelt und entziehen

sich dem dumpfen Treiben unten – ganz genau wie Certeau dieses Phänomen beschreibt

– und bieten den Blick von oben hinab. Der Junge sucht letztendlich einen einzigen Turm

aus, in dem der Astronom und Landsmann Ulex wohnt. Ulex lebt in diesem Turm, den er

nur abends oder morgens verlässt, um sich der bedrohlichen Stadtebene zu entziehen.208

Seine Tätigkeit als Astronom fordert ein waches Leben, so arbeitet er, wenn das Leben in der Stadt ruht.

Roberts Fensterblick, obwohl der Junge im Gegensatz zu Wachholder die

überwältigende Realität aus der Stadt in sein Zimmer hereinkommen lässt, kann mit

Wachholders Technik verglichen werden. Der Junge sucht nach einem stabilen

Standpunkt, den er nicht in einer kleinen Straße, sondern in der Ferne in einem Turm findet. Den Kontrollverlust erlebt Robert Wolf nicht als ein kreatives Ereignis, sondern als eine lähmende Überwältigung durch die Großstadt, mit der er sich nicht

208 Oben in seinem Turm beobachtet Ulex die Stadt unten. Am glücklichsten ist er, wenn die Stadt unerkennbar wird und er seine Phantasie einen freien Lauf lassen kann: „Den wallenden Nebel schätzte er auch mehr als andere weniger phantasiebegabten Menschen. Er konnte Bilder darin aufbauen, Gestalten darin hervorzaubern, er konnte ihn formen wie der Bildhauer den Ton, er konnte darauf zeichnen wir der Maler auf der grauen Leinwand“ (BA V, 243). 227 auseinandersetzen kann. Ulex’ Lehre verspricht ihm die Lösung und eine völlige

Kontrolle: „Sieh nach den Sternen [...] Da droben ist alles Harmonie und Ordnung; nach ewigen Gesetzen wandelt jedes Glied der großen, glänzenden Gemeinschaft; selbst die regellosesten unten ihnen, die Kometen ziehen ihren vorgeschriebenen Weg. Welch ein

Kontrast gegen das Getümmel hier unten!“ (V, 159).209 Dass das Fenster nicht mehr das entsprechende Medium ist, den Jungen vor dem Gewirr der Stadt zu schützen, zeigt, wie schnell Berlin sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt hat.

Die Stadt erscheint als eine große Maschine und ein zerstörerisches Labyrinth; der Beobachter erlebt das Gesehene als eine geistige Überforderung, die einem den

Orientierungssinn nimmt. Robert Wolf sucht in einem fernliegenden Turm nach einer optischen und seelischen Rettung, um die Überwältigung durch die Großstadt zu verdrängen. Robert Wolf findet die anorganischen Einzelheiten der Stadt210 beängstigend und sucht nach organischen Flecken in der Stadt, die ihm mit seinem

Heimatort, mit dem ländlichen Poppenhagen und Winzelwald verbinden und eine emotionale Stabilität und sowie ein Gefühl der Kontrolle vermitteln können.

209 Um Raabes Die Leute aus dem Walde in der literarischen Stadtwahrnehmungsgeschichte präziser positionieren zu können, konnte der Fensterblick des in der Stadt ankommenden Jungen im folgenden mit Siegfried Kracauers Kurzprosa „Der Blick aus dem Fenster“ verglichen werden. In der Form des Stadtfeuilletons beschreibt Kracauer das von seinem Fenster Gesehene in der folgenden Weise: Von meinem Fenster verdichtet sich die Stadt zu einem Bild, das herrlich wie ein Naturspiel ist. Doch ehe ich mich ihm zuwende, muss ich des Standortes gedenken, von dem aus es sich erschließt. Es befindet sich hoch über einer unregelmäßigen Platzanlage, der eine wunderbare Fähigkeit eignet. Sie kann sich unsichtbar machen, sie hat eine Tarnkappe auf. Mitten in einem großstädtischen Wohnviertel gelegen und Treffpunkt mehrerer breiten Straßen entzieht sich der kleine Platz so sehr der öffentlichen Aufmerksamkeit, dass kaum jemand auch nur seinen Namen kennt. [...] Ein Schwarm von glänzenden Parallelen, der tief genug unter dem Fenster liegt, um seiner ganzen Ausdehnung nach übersehen werden zu können. Mit ihren vielen Signalmasten und Schuppen macht die Fläche beinahe den Eindruck eines mechanischen Modells, das ein Knabe, der irgendwo unsichtbar kniet, zum Experimentieren benutzt. (50-51). 210 Klaus Scherpe beschreibt diese Ästhetik als ein „anorganisches Muster der Stadtbeschreibung“ und als „Fiktion der Bedingtheit und Vermitteltheit“(Ausdruck, 150). Kracauers Text zeugt nämlich von einer Aufmerksamkeit für das räumliche Arrangement von Linien und Flächen und von einem Reiz für die ‚kalten’ Strukturen der Stadt. Der reale Stadtplan und die technische Stadt verwandeln sich in Kracauers Texten in einen imaginären Raum, der den Überlastungsdruck der Großstadt als ein kindliches Spiel und Experiment mit geometrischen Formen beschreibt 228

Wenige Seiten später erlebt Robert die Stadt noch einmal durch das Fenster, dieses Mal aus Ulex’ Wohnung im Nikolaiklostergiebel:

Der Jüngling am Fenster des Klostergiebels sah es stehen, achtete jedoch anfangs weniger auf das niedliche Kind als auf das grüne Gebüsch und die Baumwipfel, an welchen die Blüten sich öffneten. Jeden Fortschritt der Vegetation auf diesem winzigen Punkt inmitten der grauen Einöde beobachtete er, sozusagen gierigen Auges. Es lag ein Trost darin, eine Art Bürgschaft dafür, dass die Welt doch noch nicht ganz zu Mauerwerk, Schornsteinen und Feuermessenqualm geworden sei. (Hervorhebung von mir, V, 163)211

Das Zitat bestätigt Roberts Flucht vor den realen Verhältnissen der Großstadt und seine

Sehnsucht nach idyllischen Orten in der Mitte der Stadt. Er sucht in der urbanen

Topografie Orte, in denen sich Grün gegen das vorherrschende Grau, Natur gegen

Zivilisation und das Einzelne gegen das Kollektiv der Großstadt und ihrer Bewohner durchsetzt. An der Spitze von Ulex’ Giebel bietet sich ihm wieder ein Überblick über die

Stadt, in dem er verlässliche und übersichtliche Punkte finden kann. Hier kann Robert als ein autonomes, menschliches Individuum funktionieren, im Gegensatz zum Treiben unten, zu den Regungen der Großstadt, deren Gesetze ihm verborgen bleiben. 212 Im

Kontrast zu dem Certeausches Modell sucht Robert Wolf nicht nach einem im Ganzen fassbaren Bild der Stadt, sondern nach Winkeln Berlins, die seinen Augen einen festen

Standpunkt anbieten und seine Identität, die in erster Linie durch den Herkunftsort konstituiert ist, bestätigen.

211 Vgl. dazu auch “Wie schon gesagt, der Jüngling [Robert Wolf] hatte ein gutes Auge aus dem Walde in die Stadt gebracht, und es entging ihm keine Einzelheit des grünen von der Sonne beschienenen Fleckchens” (BA V, 162). 212 Robert Wolf fühlt sich in Berlin in den ersten Tagen seines Aufenthaltes fast ohnmächtig: “Anfangs hatte Robert sich vor den Gassen, vor dem Gewimmel der großen Stadt sehr gescheut, fast gefürchtet, und der einzige Weg, welchen er allein ging, war der zum Giebel des Nikolaiklosters gewesen. In das Gewühl der Stadt hatte er sich nur an der Seite des Polizeischreibers gewagt, und stets war er bedrückt und verwirrt daraus heimgekehrt. Er schien auf keine Weise sich darin zurechtfinden zu können; die Häuser und Mauern wollten ihm auf den Kopf fallen, die Tausende aber Tausende von Gesichtern waren ihm unheimlich; überall vermutete er lauernde Feinde, Spott und höhnisches Lachen” (BA V, 166). 229

Die Suche nach Orientierungspunkten erscheint auch in nicht-fiktiven Berlin

Beschreibungen der Zeit. Julius von Rodenberg hat einen Text mit dem Titel „Die letzte

Pappel“ in Bilder aus dem Berliner Leben im Jahre 1875 veröffentlicht. Wie der

Protagonist Raabes sucht er nach grünen Flecken der sich verändernden Stadt, nach

Pappeln, die zur Zeit Friedrichs des Grossen gepflanzt waren:

Als ich zuerst in diese Gegend der Stadt kam, vor vierzehn oder fünfzehn Jahren, da waren mehr Pappeln hier; in der Tat mehr Pappeln als Häuser. Das Haus in dem ich jetzt wohne, war noch nicht, und alle anderen Straßen und sie her waren noch nicht. Gärten waren da, mit kleinen, niedrigen, einstöckigen Häuschen und gemütlichen Leuten darin... (Rodenberg 6)213

Die Pappeln wurden aber gefällt und die letzte wird mit diesem Text betrauert. Das

Verschwinden der Natur geht mit der Erweiterung der Stadt zusammen, wie Rodenberg

schreibt, „der Zusammenhang stellte sich bald heraus: es war auf ein neues Stadtviertel

und eine vollkommene Vernichtung der ländlichen Allee abgesehen“ (14). Riesengrosse

Gebäude und neue Straßen mit bisher noch nicht gesehenen Namen erscheinen in der

Nachbarschaft, deren letzte Pappel „aus dem steinernen Umfange von Berlin“ mit kleinen

Gärten und alten Restaurationen hinausgetrieben wird (16). Auch Raabes Robert Wolf

setzt sich mit den ökologischen Folgen der Urbanisierung aus der Höhe auseinander.

Die Vollendung von Roberts Erziehung bedeutet eine Versöhnung der zwei schon erwähnten Perspektiven, „Sieh nach den Sternen, gib acht auf die Gassen,“ die ihm seine

Landsmänner beibringen. Nach der Vollendung seiner Ausbildung hat der Junge aus dem

Walde keine Angst vor der Großstadt mehr: „Robert Wolf wagte es, auf eigene Faust die

Gassen zu durchstreifen; die Scheu, die Angst vor den Menschen verlor sich“ (BA V,

166). Jedoch findet der Leser Robert Wolf nur selten auf den Straßen Berlins und die

213 In dem schon erwähnten Wien Beschreibung Stifters nennt der Autor den Stephansdom mehrmals als „seine Pappel.“ 230

Anwesenheit Berlins ist in diesem Roman noch begrenzter als in der Chronik. Die Stadt

hat eine wichtige Rolle, insofern sie mit ihrer Komplexität zur Ausbildung Roberts etwas

beitragen kann. Sobald Robert lernt, in seinem Leben zwischen dem Materialismus der

Gassen und dem Idealismus der Sterne eine aurea mediocritas zu finden, ist er auch dazu

bereit, ganz genau wie der Verfasser des Romans, die Stadt hinter sich zu lassen. Mit

seiner Gattin Helena Wienand zieht er nach Poppenhagen zurück, um ein neues Leben zu

beginnen. Roberts Geschichte endet topographisch, wo sie angefangen hat.

Obwohl Raabes Bildungsroman die Großstadt zum Hauptschauplatz der

Handlung wählt, erfüllt er seinen Roman – wie Wachholder seine Chronik -- mit einem

tradierten Erzählstoff, der sich auch in der Anwendung von verschiedenen Perspektiven,

wie dem Fensterblick und der Vogelschau, offenbart. Berlin fungiert als eine Metapher;

das Wort „Wald“ im Titel bezieht sich auf die Stadt wie auf das Land.214 Die Großstadt

mit ihren Massen und der Multiplizität von Reizen zwingt den Protagonisten, seine

eigene Position zu definieren. Anstatt Robert zu einem Stadtbewohner avancieren zu

lassen, entscheidet der Erzähler, das Leben des Jungen für ein und allemal mit dem

provinziellen Deutschland zu verbinden. Dieser Akt ist die wahre ‚Rettung der Seele’ von

Robert, die der Polizeischreiber Fritz Fiebiger am Anfang des Romans antizipiert hat, und die Raabe mit den folgenden Worten begründet:

In unserer Zeit, wo die bewegende Kraft in die Massen zurückfällt, wo selbst die Größten nur das wollen dürfen, was die Allgemeinheit will, in dieser Zeit steht der einzelne, der stets mit aller Kraft das Edle und Gute gewollt hat, freier Verantwortlichkeit für andere da als in irgendeiner Epoche. Geschlechter, Stände mögen im Lachen der Menge zugrunde gehen; der tadellose, fleckenreine Schild des einzelnen wird um so heller glänzen. (BA V, 410)

214 Fries beschreibt diese Äquivalenz treffend: „The forest which surrounded these characters in Poppenhagen has changed its material structure and has become a forest of buildings. The title applies to Poppenhagen and to Berlin“ (36). 231

Die Anwendung der Vogelperspektive erfüllt mehrere Funktionen in diesem

Roman: Die erhöhte Perspektive wird als Erziehungsmittel benutzt und sie bezieht sich auf die Wichtigkeit des Individuums und der Stabilität der einzelnen Grenzen. Die

Mobilisierung eines tradierten Motivs in der Malerei in der Beschreibung der sich ausdehnenden Stadt betont auch die Veränderungen im Stadtbild. Berlin bekommt im

Vergleich zu der Chronik eine enorme Größe und Komplexität, mit der man sich aus dem

Fenster nicht mehr auseinandersetzen kann. Berlin wird drohend fremd, beängstigend und erdrückend in den Erfahrungen von Robert Wolf, der nach der Versöhnung mit den

Realitäten der Großstadt den Heimatort als zu Hause wählt (wie Raabe es auch getan hat!). Die Anwendung der Turmperspektive als einziges Mittel, die Stadt aus einem geschützten Punkt kennen zu lernen, impliziert die Sehnsucht nach Kontrolle über die unüberschaubar gewordene Stadt, die man unten in den Straßen nicht mehr verstehen kann. Der distanzierte, erhöhte Blick ermöglicht dabei aber auch eine nüchterne

Beschreibung der ökologischen Folgen der Industrialisierung, die die grünen Flecken in der Stadt nach und nach abschafft.

232

Verlorene Nachbarschaft und Hommage an der Berliner Universität: Die Akten des Vogelsangs (1895)

Die Berlinische Topographie in Raabes Die Akten des Vogelsangs führt den Leser wieder nach Berlin, jedoch konzentriert sich der Roman auf zwei verschiedene Stadtteile: Auf die Transformation der alten am Stadtrand liegenden, von Hecken umgebenen

Nachbarschaften und auf die Umgebung der Berliner Universität.215 In der folgenden

Analyse werden diese zwei Orte mit Gemälden der Berliner Stadtmalerei verglichen. Es

gibt spannende Überlappungen zwischen dem Text und den Gemälden von Berlin, was

zeigt, dass diese Orte immer wieder mit symbolischen Inhalten aufgeladen werden und

im 19. Jahrhundert sowohl in der Malerei als auch in der Literatur eine wichtige Rolle

spielen.

Umweltveränderung und Industrialisierung beschäftigten Raabe in mehreren

Romanen aber in Bezug auf Berlin erscheint dieses Interesse in der Darstellung von

Ortschaften, deren Gesicht und Struktur sich durch Bauten der Gründerjahre wesentlich

verändern. In dem Roman Die Akten des Vogelsangs erscheint so eine Ortschaft in dem

Titel. Der Chronist Karl Krumhardt erzählt von der alten Nachbarschaft, die Vorstadt

genannt Vogelsang, in der er großgeworden ist, bevor diese mit der grünen Hecke, dem

Symbol der Nachbarschaft, verloren ging. Wie in der Chronik, Ein Frühling und Die

Leute aus dem Walde wird auch in diesem Roman eine geteilte Kindheitsgeschichte

erzählt. Der Erzähler ist Karl Krumhardt, der seinen Kindern in ein Tagebuch über seine

215 Auch Adam Asche und Eberhard Pfister in Pfisters Mühle studieren in Berlin. In Villa Schönow ist die Figur des Universitätsprofessors Kiebitz von der Friedrich-Wilhelm-Universität zu erwähnen, der in seiner Wohnung in der Mittelstraße in unmittelbarer Nähe der Universität eine große Bibliothek besitzt. Die Ansiedlung von gelehrten Figuren in der Umgebung der Universität mit genauer Straßenbezeichnung zeugt vom Eindruck, den Berlin auf den Studenten Raabe gemacht hat. 233

Kindheitsfreunde, Velten Andres und Helen Trotzendorff, aber auch über die ganze

Nachbarschaft, in der sie zusammen aufwuchsen, seine Erinnerungen einträgt.

Die Nachbarkinder im Vogelsang, Karl Krumhardt und Velten Andres werden im

Roman als Gegenpole benutzt. Als Sprachrohr wird Karl Krumhardt gewählt, der „als ein wohlgeratener Sohn, als ein älterer, verständiger Mann, als wohlgestellter Familienvater, als ‚angesehener,’ höher Staatsbeamter“ (BA XIX, 244) die Kindheitserinnerungen ins

Gedächtnis ruft. Im Gegensatz zu Krumhardt stirbt Andres alleine ohne Familie,

„eigentumlos, besitzesmüde“ (BA XIX, 286) und „ist in seinem kurzen Leben alles gewesen: Gelehrter, Kaufmann, Luftschiffer, Soldat, Schiffsmann, Zeitungsschreiber – aber gebracht hat er es nach bürgerlichen Begriffen zu nichts“ (BA XIX, 318).

Die ersten Seiten über die Vergangenheit beschreiben ein „Zauber der

Nachbarschaft,“ eine Idylle, die nicht mehr existiert (BA XIX, 327). In diesem Roman wird die Vernichtung der alten Vorstädte am explizitesten geschildert: „Aus Büschen werden Bäume, aus Bäumen Hausmauern, aus Grün Grau. Aus obststehlenden (freilich meistens dazu verführten) Schuljungen werden die besten Verwaltungsbeamten und

Regierungsräte, sowie die schärfsten Staatsanwälte“ (BA XIX, 328). Das Zitat beschreibt die Veränderungen in kargen Worten, jedoch ist die Schilderung der Veränderungen nicht immer ohne Nostalgie:

Die Nachbarschaft! Ein Wort, das leider Gott immer wieder mehr Menschen zu einem Begriff wird, in den sie sich nur mühsam und mit Aufbietung von Nachdenken und Überdenken von allerlei behaglicher Lektüre hineinzufinden wissen. Unsereinem, der noch eine Nachbarschaft hatte, geht immer ein Schauder über, wenn er hört oder liest, dass wieder eine Stadt im deutschen Volk das erste Hunderttausend ihrer Einwohnerzahl überschritten habe, somit eine Großstadt und aller Ehren und Vorzüge einer solcher teilhaftig geworden sei, um das Nachbarschaftsgefühl dafür hinzugeben (BA XIX, 218)216

216 „Mit den Gärten sind heutzutage zwar auch die Vögel im Vogelsang ausgerottet; aber in den Wäldern jenseits des Osterberges singen auch heute noch, aus Überlieferung“ (BA XIX, 222). 234

Der Nachbarschaft wird die wachsende Metropole, Industrialisierung, Stadterweiterung,

„Fabriken, Mietshäuser, Tanzlokale“ gegenübergestellt. Aus dem Roman erfährt der

Leser, dass an der Stelle der im Rückblick idyllischen Gartenvorstadt in der

Erzählgegenwart ein Naherholungsgebiet und ein Kurpark „Asyl für Nervenkranke“

liegen. Der Roman wird nach der etwas pessimistischen Darstellung der Zerstörung zur

unsentimentalen Chronik eines Unterganges der Idylle und zur Schilderung der Ende

einer sozialen Kultur „nachbarschaftlichen Zusammenwohnens und Anteilnahmens“ (BA

XIX, 218).217

Vororte und alte Nachbarschaften, die wegen der regen Urbanisierung aus der

Landkarte verschwinden, sind auch Gegenstände von Adolph Menzels Werken. Den

Wandel Berlins von der gemütlichen Provinz zur Großstadt hat Menzel in zahlreichen

Gemälden und Zeichnungen festgehalten. Das Gemälde Der Blick auf Hinterhäuser

(1847) zeigt einen Blick aus dem Fenster des Malers (Achenbach 101). Der Blick richtet

sich über eine Gartenlandschaft in die Richtung der Innenstadt. Am Horizont kann man

die Kuppel des Berliner Schlosses und die Turmspitzen von der Marien-, Nikolai- und

Luisenstädtischer Kirchen „als Garanten der Beständigkeit“ entdecken (Achenbach 101).

Die von dem Maler verewigte Mischung von alten und neuen, hohen and kleinen Häusern

bildet einen starken Kontrast und zeigt, wie Raabe in seinen Romanen, wie sich die die

Stadt umgebende Landschaft in der Folge der Industrialisierung und Stadterweiterung

verändert.

217 „Bauschutt, Fabrikaschenwege, Kanalisationsarbeiten und dergleichen gab es auch noch nicht zu unserer Zeit in der Vogelstadt, genannt „Zum Vogelsang. Die Vögel hatten dort wirklich noch nicht ihre Baupläne dem Stadtbauamt zur Begutachtung vorzulegen.“ (BA XIX, 219). 235

Abbildung 25: Adolph Menzel, Der Blick auf Hinterhäuser (1847)

In der Thematisierung dieses Motivs gibt es wichtige intermediale Wirkungen zwischen Literatur und Malerei. Raabe als Schriftsteller reflektiert detailliert über die

Motivationen, Möglichkeiten und Hindernisse der Nachbarschaftsbewohner, die ihre

Wohnorte verlassen. Die drei Charaktere des Romans symbolisieren die Veränderung des

Sozialraums und zeigen drei verschiedene Reaktionen auf die Veränderungen. Als Grund zum Untergang bezeichnet Raabe nicht eine gnadenlose Urbanisierung, sondern zeigt, dass die Voraussetzungen dafür schon im Inneren der idyllischen und als eine zusammengehörende Familie funktionierenden Nachbarschaft existierten. Wie Dirk

Göttsche es treffend formuliert, kommt die Aufstiegsmentalität „früher als die

Konservenfabrik“ (91). Die Entwurzelung der Einwohner und der Zusammenbruch der

alten Lebensformen sind nicht nur als Folgen der äußeren Veränderungen außerhalb der

Nachbarschaft, sondern auch Fortsetzungen der Veränderung der bürgerlichen Mentalität

236

innerhalb der Gemeinschaft, wie der Erzähler es dem Leser nüchtern zur Kenntnis bringt,

während seine Eltern über den Verkauf ihres Hauses entscheiden:

Wahrhaftig, ich bin es nicht gewesen, der die zwei treuen, wacheren Seelen [die Eltern] mit ihren Wurzeln aus dem Boden hob und sie so in ihren greisen Tagen in ein fremdes Erdreich versetzte! Ihre liebe menschliche Torheit war’s, die da Pflicht, Pflichten, Vorzug, Gewinn, Ehre, Lob, Ruhm und Glück sah, wo die übrigen Millionen unserer Brüder und Schwestern im Erdenleben – ebendasselbe sahen. (Hervorhebungen von mir, BA XIX, 322)

Wie die Eltern ziehen sich auch die Vertreter der zweiten Generation aus der

Nachbarschaft aus: Helene kehrt in die Vereinigten Staaten zurück, Velten Andres studiert in Berlin und Karl Krumhardt, der Familientradition folgend, in Göttingen.

Raabes Erzähler, Karl Krumhardt, wird in der Schilderung dieser bedeutungsvollen

Entscheidung nicht sentimental und geht als ein Chronist um, der die Veränderungen, wie die zeitgenössischen Maler die sich verändernde Berliner Altstadt, nüchtern registriert.

Raabe zeigt durch die städtebaulichen Veränderungen gnadenlos, welchen Preis man für den bürgerlichen Aufstieg und für die soziale Mobilität bezahlen muss.

Neben den verschwindenden Vorstädten bekommen bestimmte zentrale Orte, die mit der Berliner Universität verbunden sind, eine wichtige Rolle in der zweiten Hälfte des

Romans. Einerseits werden die Unterschiede zwischen dem Universitätsstudium in

Göttingen und Berlin thematisiert.218 Die Entscheidung war auch eine persönliche

Entscheidung von Raabe: Die Wahl zwischen der preußischen Hauptstadt mit ihrer nationalpatriotischen und revolutionären Tradition als Studienort und Göttingen, wo sich

Raabes Vater und Bruder für die juristische Beamtenlaufbahn im Herzogtum

218 Berlin ist in den späteren Raabe Texten eine Stadt der Gelehrten. Das Gelehrtendasein bietet Zuflucht und Befriedigung in der Anonymität Berlins. Gelehrten, die in Berlin studierten erscheinen in mehreren Romanen Raabes. Die haben auch die Funktion, in der sich wachsenden Stadt ein ruhiges Einzelleben zu führen. „Doktor in Berlin“, „Berliner Doktor“ gibt es in vielen Texten: Ein Frühling zB. Der Naturwissenschaftler in Pfisters Mühle: „meine vier Wände in Berlin, die Bücher an den Wänden und der Blick durchs Fenster in die bunte lärmende Gasse“ (BA XIV, 263). 237

Braunschweig ausbilden ließen. Dementsprechend wird Karl Krumhardt zum Studiosus juris in Göttingen und Andres Velten zum Studiosus Philosophiae an der Berliner

Friedrich-Wilhelms-Universität. Krumhardt besucht seinen Kindheitsfreund während des

Studiums in der mit Bedacht konstruierten Studentenstube Veltens in der Dorothenstraße,

die als eine Nachbarschaft von Zugezogenen und Außenseiter in der Mitte der

„Millionenstadt“ (BA XIX, 280) fungiert.

Die beiden Jugendfreunde besuchen die alte aus Jena stammende Frau

Fechtmeister Feucht, bei der Velten Andres untergebracht ist und deren

Hinterhofwohnung mit ihren Erinnerungstücken die emanzipatorische Studentenschaft ins Leben ruft:

In ganz Deutschland gab es kein Witwenstübchen, das diesem glich. Mitten in diesem Berlin diese ganze deutsche Jugend, soweit sie sich in Jena und auf ihren Verbindungsbildern zusammengefunden hatte! Alle Wände damit bedeckt; -- dazwischen, wo nur ein Räumchen, alles voll von Schattenrissen mit allen Couleuren an Mütze und Band. Waffentrophäen statt des Spiegels, Schläger und Stulpen und was sonst noch dazu gehört, wo nur noch was Äugzuhängen war. Keine Ritterdame des romantischen Mittelalters hatte je zu der Ausstattung ihres Ahnensaales und ihrer Kemenate so gepasst wie die Frau Fechtmeisterin Feucht zu dem Schmuck und der Zierde ihres Altweiberstübchens, wie gesagt: mitten in diesem Berlin! (BA XIX, 281)

Nicht die Aktualitäten der Berliner Universität werden in Raabes Roman dargestellt,

sondern ein Stück von deren Vergangenheit betont. Das gelehrte Berlin wird nie als ein

öffentlicher Ort geschildert, sondern kommt in privaten Zimmern und seltsamen

Interieurs zu Tage. Die kleine Stube der Frau Fechtmeister Feucht funktioniert, wie in

anderen Romanen einzelne Häuser (das seltsame Haus in der Blutgasse in Ein Frühling) oder bestimmte Kirchen (die Sophienkirche in der Chronik) als eine Metapher der

gesamtdeutschen Geschichte aber auch als eine Kritik der Berliner Universität und

238

Gelehrten. Die Kritik der Berliner Universität, die die ursprünglichen Ziele der emanzipatorischen Studentenschaft nach Raabe nicht in Erfüllung gebracht hat, wird im

Folgenden Eduard Gaertners Lithographie Portal der Universität zu Berlin (1932) gegenüber gestellt.

Abbildung 26: Eduard Gaertner, Lithographie Portal der Universität zu Berlin (1832)

Die im Königlichen Lithographischen Institut gedruckte Lithographie Gaertners offenbart einen ungewöhnlichen Blick auf die Hauptfront des Opernhauses zwischen zwei massiven Schilderhäusern hindurch. Die beiden denkmalartigen, die Oper optisch

239

rahmenden Bauten sind Bestandteile eines Zauns, der den Ehrenhof des ehemaligen

Prinz-Heinrich-Palais abschließt (Bartmann, 301). Die Darstellungsweise ist ganz

eigenartig, da Gaertner sich dem Thema auf unabhängige und originelle Weise nähert.

Zwei Gruppen diskutierender Studenten hat der Maler zwischen die beiden

portalbildenden Schilderhäusern gestellt. Ihre Kleidung, wie z.B. Schirmmützen und

hohe Stiefel, macht sie als Burschenschaftler kenntlich. Zwischen beiden Gruppen besteht eine Distanz, die durch das halbseitig geschlossene Torgitter noch betont wird.

Ein in der Türöffnung stehender Student tritt als Vermittler auf. Er trägt unter seinen

verschränkten Armen zwei Schläger, degenartige studentische Waffen. Die Szene

erschließt sich somit als eine Vorbereitung für ein Duell.219 In diesem Sinne entsteht vor

dem Berliner Publikum eine weitverbreitete Vorstellung des studentischen

Lebenswandels.

Die von den Burschenschaftlern ausgefochtenen Duelle und ihr Auftreten in den

nächtlichen Straßen mögen in der biedermeierlichen Geordnetheit in der noch jungen

Universitätsstadt Berlin befremdlich gewirkt haben, boten aber genug Anlass für

genrehaften Darstellungen (Bartmann, 302). So ist Gaertners Darstellung weniger ein

Sinnbild auf sich im Schutze der Nacht treffende, von Reaktion und

Demagogenverfolgung bedrohte, politisch engagierte Studenten, sondern eher ein

illustratives und genrehaftes Motiv. Bartmann schreibt auch, dass es wegen des

Druckortes auch schwer vorstellbar ist, dass das Bild antihöfische oder revolutionäre

Gesinnung propagieren sollte, jedoch macht die nächtliche Atmosphäre die Abbildung in

diesem Sinne schon ambivalent (303).

219 Die Beschreibung der „Handlung“ des Bildes habe ich von dem Kunsthistoriker Bartmann übernommen. 240

Wilhelm Raabe benutzt ein ähnliches Topos in Die Akten des Vogelsangs, in dem die als Museum fungierende Stube das Scheitern der Studentenbewegungen enthüllt. Im

Gegensatz zu Gaertner stellt Raabe die Berliner Universität nicht als einen öffentlichen

Ort dar, sondern präsentiert ihr wahres Wesen durch ein vorsätzlich dekoriertes Interieur.

Die Ereignisse in Gaertners Lithographie finden jedoch, wie die Begegnung der Frau

Fechtmeister Feucht bei Raabe, während der Nacht statt. Raabe greift auf das malerische

Erbe des Biedermeiers zurück und formuliert seine Kritik über die Bildungspolitik durch ein Interieur, ein Stillbild, das den Leser auf die revolutionären Studentenbewegungen der jüngsten Vergangenheit erinnert.

Der Spätroman Die Akten des Vogelsangs behandelt zwei völlig unterschiedliche

Berlin-Topographien in einem Text. Verknüpfungsfiguren sind die Repräsentanten der zweiten Generation, deren Eltern als erste in die Stadt umziehen. In beiden Fällen äußert der Erzähler eine nüchterne, distanzierte Kritik über die gesellschaftlichen, ökologischen und bildungspolitischen Veränderungen, die im derzeitigen Berlin stattfinden. In der dargestellten urbanen Topographie findet man mehrfache thematischen und ästhetische

Entsprechungen mit der zeitgenössischen aber auch mit der biedermeierlichen

Stadtmalerei.

Schlussfolgerung

Drei ausgewählte Romane standen im Fokus des vierten Kapitels, die alle in Berlin stattfinden und als repräsentative Werke von Raabes Berlin-Texten aus drei verschiedenen Zeitpunkten angesehen werden können. Ein traditioneller Topos der

241

literarischen Stadtbeschreibung erscheint in den ersten zwei Romanen, der Besuch des

Provinzlers in der Stadt, der auf all die Reize, die ihn in der Stadt erwarten, nicht

vorbereitet ist. In dem dritten Roman sind die Protagonisten geborene Berliner, jedoch

gibt es eine topographische Spaltung im Roman zwischen den verschwindenden alten

Nachbarschaften und der modernisierenden Großstadt. Einige von den Gestalten kommen

in Berlin entgültig zu Hause an (Klärchen Aldeck oder Karl Krumhardt),220 andere (wie

Robert Wolf) treffen die Entscheidung, auf das Land zu ziehen und die Stadt zu

verlassen. Berlin wird in allen drei Romanen ohne Namen dargestellt, jedoch wird es in

allen drei Fällen klar, dass das Geschehene in der deutschen Hauptstadt spielt.

Obwohl die drei Romane drei verschiedene Themen behandeln, gibt es viele

Ähnlichkeiten, die die Charakteristik der Raabeschen Berlin Romane ausmachen. In allen drei Texten geht es um eine geschlossene Gruppe von Figuren, die zusammen, in der

Provinz oder in einer ländlichen Vorstadt, großgeworden sind. Durch diese

Lebensgeschichten entsteht eine Polarität zwischen der Kleinstadt und der Grosstadt sowie zwischen der verschwindenden Altstadt, den ländlichen Vorstädten und modernen

Stadtteilen innerhalb von Berlin. Die Suche nach Sicherheit und die Wichtigkeit der intimen inneren Räume erscheinen in allen drei Texten und Raabe bietet seinen

Protagonisten eine Zahl von Möglichkeiten an (z.B. auf dem Lande sesshaft zu werden oder in der Mitte der Stadt eine Oase finden zu können).

220 Eberhard Pfister und seine Ehefrau Emmy in Pfisters Mühle ziehen sich nach Berlin um. Die junge Frau bringt den heimatlichen „wundervollen Efeu“ auf ihren Berliner Balkon mit, ein Motiv, das auch in der Chronik erscheint. Sie fühlen sich wohl in der Großstadt, in der sie in einer modernen Mietswohnung sesshaft werden: „Wir waren auch in Berlin viel eher, als wir es dachten. Und obgleich es heute nicht mehr die Kirchtürme der Städte sind, sondern die Fabrikschornsteine, die zuerst am Horizont auftauchen, so hindert das einen auch heute noch nicht, gesund, gesegnet und – soviel es dem Menschen auf dieser Erde möglich ist, zufrieden mit seinem Schicksale, ergeben in den Willen der Götter, nach Hause zu kommen. Dichter drängte sich mein junges Weib an mich heran und flüsterte: ‚Ich freue mich so sehr auf unsere eigenen vier Wände, und ich will es dir auch so behaglich machen, dass du denken sollst, das Beste habest du doch mitgebracht nach Berlin von Pfisters Mühle.“ 242

Obwohl Raabe nach der Niederschreibung und dem Erfolg der Chronik nie wieder in Berlin sesshaft geworden ist und auch in seinen Spätwerken seine

Jugenderlebnisse dominieren, beschäftigt er sich mit einer beachtlichen Zahl von zeitgenössischen Problemen, die als Folge der raschen Urbanisation und

Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Berlin auftraten. Wie die zeitgenössischen malerischen Repräsentationen Berlins setzt sich auch Raabe mit den städtebaulichen Veränderungen auseinander und sucht nach den Motiven und Folgen der rapiden Transformation. Seine Werke lehnen den Fortschritt und die Modernisierung nie ab, jedoch zeigen sie den Lesern sachlich und distanziert, was für eine Wirkung der

Wandel der traditionellen Lebensverhältnisse auf das Leben des Einzelnen ausüben kann und welche Entscheidungen zu bestimmten Veränderungen führen können.

Trotz der verschiedenen Themen und Topographien wird Berlin in den drei

Texten oft mit den gleichen semantischen und erzähltechnischen Mitteln charakterisiert.

Die Doppelbegabung Raabe korrespondiert dabei mit Themen der zeitgenössischen

Malerei aber mobilisiert auch Abbildungen aus der Biedermeierzeit. In dieser Weise entstehen komplexe Darstellungen von zahlreichen Problemen und Paradoxien über

Großstadtentwicklung und Modernisierung. Mit der Anwendung von schon existierenden literarischen und malerischen Vorbildern macht Raabe bewusste und erfolgreiche

Einschreibungsversuche in den schon existierenden literarischen und malerischen Kanon von Berlin-Repräsentationen des 19. Jahrhunderts.

243

SCHLUSSWORT

Zwei in dieser Dissertation behandelte Texte sind heute die bekanntesten Darstellungen

der Berlin-Literatur des 19. Jahrhunderts: E.T.A. Hoffmanns letzte Erzählung Des Vetters

Eckfenster und Wilhelm Raabes Debütroman Die Chronik der Sperlingsgasse. Seit der

Entstehung dieser Werke suchen Spaziergänger in Berlin immer wieder nach den Spuren

der beiden Schriftsteller, wenn sie die Spreegasse oder die Umgebung des

Gendarmenmarktes besuchen. Beide Werke haben im Kanon der Berlin-Texte einen

festen Platz, da beide Autoren Beobachtungsprozesse und Modelle zur Stadtbeschreibung

ins Leben riefen, die nicht nur Schriftsteller der nachfolgenden Berlin-Texte, sondern

auch Kritiker und Journalisten der späteren Jahrzehnte mit Vorliebe benutzten.

Des Vetters Eckfenster und Die Chronik der Sperlingsgasse verfügen über mehrere Berührungspunkte, die in den früheren Texten von Hoffmann bzw. in den späteren Texten von Raabe nicht mehr vorkommen. In beiden Prosatexten dienen konkrete Berliner Orte und autobiographische Erlebnisse zur Förderung der Fantasie, und beide Texte bieten präzise Einsichten in die soziale Welt des Berlins der 1820er und

1850er Jahre. In beiden Fällen spielen das Bestreben nach einem Verständnis der

Veränderungen in der Stadt, die Einbildungskraft des schöpferischen Beobachters und die

Entzifferung der beobachteten Figuren eine wichtige Rolle in der Konstruktion der literarischen Texte.

Beide Autoren beschreiben eine Masse, aber diese Beschreibungen weisen auch wesentliche Unterschiede auf. Obwohl die Masse in beiden Texten aus einer Distanz

244

beobachtet und beschrieben wird, sind die Schilderungen der beobachteten Szenen bei

Hoffmann mit Humor und Fantasie gefärbt, werden sie bei Raabe mit einer wissenschaftlichen und nüchternen Stimme charakterisiert. Raabe greift jedoch auf das literarische Erbe von Hoffmann mehrmals zurück und schreibt sich in eine Tradition ein, wie im dritten und vierten Kapitel an mehreren Beispielen demonstriert wurde.

Den auffälligsten Berührungspunkt zwischen den zwei Texten bilden die vom

Leben abgewandten Erzähler, die in der Abschreibung ihrer Beobachtungen das Fenster als Hilfe benutzen. Diese Position konnotiert in beiden Fällen eine ambivalente Haltung.

Einerseits enthüllt sie die Vereinsamung und die Isolation des Erzählers in der Stadt, anderseits zeugt sie von einer Faszination, da das vom Fenster aus erlebte und beobachtete Stadtleben zum Anlass des literarischen Schaffens wird. Die

Auseinandersetzung mit der Stadt wird dementsprechend auch ambivalent: die Stadt als

Darstellungsobjekt fördert die literarische Tätigkeit, gleichzeitig stellt sie die Autorität des Erzählers über den Erzählstoff in Frage. In beiden Werken gibt es nämlich mehrere

Erzähler. In Des Vetters Eckfenster schreibt der Besucher den Text auf und bleibt der als

Schriftsteller dargestellte Vetter ausgeliefert und gelähmt im Hintergrund. In der Chronik ist der Nachbar-Karikaturist Strobel der Verfasser einiger Seiten und der Erzähler

Wachholder thematisiert mehrmals die sich verändernde Rolle des Schriftstellers im zeitgenössischen Berlin. Diese innovativen Erzähltechniken bilden einen Bruch in der herkömmlichen Erzählweise. Beide Texte können als Experimente mit der Wahrnehmung in der Großstadt charakterisiert werden, indem Themen wie Sichtbares und Unsichtbares,

Natur und Kultur, Privates und Öffentliches mehrmals thematisiert werden.

245

In der Entwicklung von neuen Techniken, um die veränderten Realitäten der

Großstadt effektiv beschreiben zu können, kann man in beiden Fällen über ‚eine

Kreativität wider Willen’ sprechen. Beide Schriftsteller entwickeln etwas Neues, aber

beide Erzählerfiguren erscheinen auch als resignierte Gestalten inmitten der wachsenden

Stadt. In dieser Weise wird die Großstadt gleichzeitig zum Objekt von Sehnsucht und

Furcht. Beide Texte literarisieren eine neue Wahrnehmung aus der Perspektive eines

Außenseiters, der als Provinzler nach Berlin kommt und sich mit den Realitäten einer neuen Umgebung auseinandersetzen soll. Diese Auseinandersetzung findet auf mehreren

Ebenen statt: Hinweise auf die aktuelle politische Geschichte und auf die Stadtgeschichte

Berlins sowie Anspielungen auf die gesamtdeutsche Geschichte erscheinen in beiden

Werken.

Die neuen objektiven Realitäten der Großstadt üben einen markanten Einfluss auf

die ästhetische Gestaltung der Texte aus, die neben der innovativen Erzähltechnik in

beiden Texten in einer erhöhten Visualität zu Tage kommt. Beide Prosatexte sind

intermediale Produkte des 19. Jahrhunderts, indem man mehrfache Experimente mit der

Wahrnehmung der Welt mittels der konkurrierenden Kunst der Malerei entdecken kann.

Beide Autoren bezeichnen sich als Maler und beschreiben kurze Szenen und Bilder, in

ihren Texten. Die intensivierte Visualität zeigt, dass wie sich die Wahrnehmung der

Stadtbewohner im rasch verändernden und zur Großstadt wachsenden Berlin des 19.

Jahrhunderts veränderte.

Diese Texte sind jedoch nicht die einzigen literarischen Auseinandersetzungen mit der preußischen Hauptstadt, da beide Autoren eine Menge andere Berlin-Texte

verfassten. Die früheren Berlin-Texte Hoffmanns zeigen, dass die rational erfassbare

246

Welt zugleich eine Kehrseite besitzt, die in der Literatur einfacher darzustellen ist als in anderen Bereichen. Im Gegensatz dazu bieten Raabes Texte dem Leser distanzierte, nüchterne Beschreibungen des wachsenden Berlins und seiner ökologischen, gesellschaftlichen und städtebaulichen Probleme. Die zwei bekanntesten Texte haben jedoch diese früheren bzw. späteren Werke in den Hintergrund gedrängt und dominieren,

wenn man Hoffmanns bzw. Raabes literarisches Berlin charakterisiert. Die

Beschreibungen des Gendarmenmarktes und die Bilder der Sperlingsgasse werden in

beiden Fällen als die bestgelungensten Repräsentationsformen angesehen.

Die weniger bekannten Berlin-Texte der beiden Autoren zeigen jedoch, dass

Berlin im ganzen Oeuvre eine wichtige Rolle spielt und die bekanntesten Beispiele

mehrere Vorgänger bzw. Kontinuitäten haben. Wenn man diese Korpora von Texten statt

der einzelnen Werke in Betracht zieht, werden die Berlin-Bilder von Hoffmann und

Raabe viel differenzierter. Während Hoffmanns Protagonisten in den früheren Berlin-

Texten als Außenseiter beschrieben werden, kommt der letzte Erzähler in Berlin an. Statt

der früheren mobilen Gestalten benutzt Hoffmann eine sesshafte Figur, welche die Stadt

von seinem Fenster aus sehr gut kennt. Im Gegensatz zu Hoffmann beginnt Raabe mit

einer ähnlichen Position, jedoch entfernt sich sein Blick von der Stadt und bevorzugt in

den späteren Texten eine viel distanziertere Position, die unter anderen durch die

Anwendung des Turmblickes sichtbar wird. Raabe beobachtet Berlin aus einer Distanz

und er beschreibt in einem nüchternen Ton, was die Vor- und Nachteile der

Urbanisierung sind. Hoffmann beendet seine Berlin-Texte im damaligen Zentrum, so

dass er selbst zum Teil der Stadt wird, zu einer der Legenden Berlins.

247

Bekannte und weniger bekannte Stadttexte von Hoffmann und Raabe zeigen, dass die Wahrnehmungsveränderung und die Veränderungen im Zivilisationsprozess im sozialen Raum der Stadt eng ineinander greifen. Diese Dissertation zeigt, dass die poetischen Auseinandersetzungen von Hoffmann und Raabe in Form von Prosa mit anderen wissenschaftlichen, politischen und ökonomischen Texten der Kultur, in der sie entstehen, in enger Beziehung stehen. Die kulturwissenschaftliche Analyse der literarischen Primärtexte in einem breiteren Kontext, mit der Hilfe von nicht-fiktiven, außerliterarischen Texten, Berlin-Ansichten und architektonische Konzepten, hat die

Kapazität, die Komplexität der Primärtexte tiefer darzustellen.

Die Berlin-Texte der beiden Autoren sind nicht nur poetische Abbildungen der

Veränderungen, die das mittelalterliche Cölln/Berlin in eine moderne und signifikante europäische Stadt verwandelten, sondern auch aktive Agenzien der von der Stadt geformten Bilder. Die Prosatexte, Gemälde, Fotografien, und später der Film, schaffen nämlich solche Repräsentationsformen, die neben den nicht-fiktiven Quellen als wichtige

Referenzen fungieren können. Die objektive Wahrnehmung wird oft zu einer Illusion und in diesem Fall kann die künstlerische Darstellung der Stadt das von der Stadtgeschichte bekannte Berlin modifizieren und einige von Historikern und Stadtforschern bislang nicht gefüllte Lücken ergänzen. Die Stadtbilder Hoffmanns und Raabes sind deshalb nicht nur poetische Abbilder von bestimmten Orten des damaligen Berlins, sondern wie

Architekten formen sie ein Berlin, das eigentlich nur eine unsichtbare, imaginäre Stadt ist.

248

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