Untervazer Burgenverein Untervaz

Texte zur Dorfgeschichte

von Untervaz

1880

Das alte Rätien und Rom

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1880 Das alte Rätien und Rom Johann Heinrich Hotz Hotz Johann Heinrich: Das alte Rätien und Rom. In Sonntagblatt des Bund 1880 Nr. 17-20.

Das alte Rätien und Rom Von Dr. J. H. Hotz-Osterwald in

Die Geschichte von "alt fry Raetia" hat von je besondere Aufmerksamkeit erweckt und verdient sie auch. So ist es für die Ethnologie der Schweiz von Interesse, dass nicht wenige rätische Namen mit helvetischen übereinstimmen, wie Stans in Unterwalden und Stanz im Tyrol, Flüelen in Schwyz und der Flüela-Pass, Sins im Aargau und drei Sins in Bündten, der Fluss Sarine in Fryburg etc. (nebst diversen Saar, Suhr, Surb) und die Saar in Sargans, Brienz in Bern und Brienz-Albula, Lenz, Lenzerheide und Lenzburg, alt "Lencis" usw. Auch die beiderseitigen Volkssprachen zeigen manche Identität. Der bekannte deutschschweizerische Ausdruck "rübis und stübis", d.i. alles samt und sonders, entspricht dem rätoromanischen "rüblas und stüblas" und hat hier einen Sinn, da "rüblas" den noch intakten Hanf, "stüblas den Abgang davon, die "Ageln" bezeichnet. Das deutschschweizerische "pfletschnass", tropfnass findet seine Erklärung im rätoromanischen "pletsch", nass. Die Bildung pfletsch aus pletsch ist regelrecht und gleiche tautologische Uebersetzungen sind in solchen Fällen gewöhnlich. Churwälsch "stüva" ist identisch mit dem grundlos für ursprünglich deutsch geltenden "Stube", eigentlich: Dampfbad Schwitzlokal. Straglia, streglia (Kamm), das im deutschschweizerischen Sträl, Kamm wiederkehrt, ist im bündnerischen "Strela-Pass" figürlich angewendet auf die den "Zähnen" eines Kammes (vergleiche die häufigen "dents" der Westschweiz) vergleichbaren Bergspitzen. Aehnlich begegnen deutsch- schweizerische Lokalnamen, wie "Strälgasse" und dergleichen, wo die Verhältnisse jeden Gedanken an Kamm-Macher ausschliessen, dagegen auf "Hohlweg, Pass" hinweisen. Dass das bekannte Bueb, Sohn im churwälschen ursprünglich heimatberechtigt ist, beweist die Existenz des sonst nirgends mehr vorkommenden Femininums, il buob ist der Knabe, la buoba das Mädchen. - 3 -

Uebrigens hat sich das interessante Wort, welches Wackernagel und Weigand mit Recht für nichtdeutsch erklären, aber mit Unrecht vom lateinischen pubes oder pupus ableiten wollen und das nächstverwandt ist mit "babe" (Kindchen), Puppe (vergleiche englisch beabe, baby, Säugling oder Puppe), 1 selbst in dem Patois mehrerer Departements von Frankreich durch die konkurrierenden romanischen "filius" und "infans" nicht verdrängen lassen. 2

I.

Was die Beziehungen des alten Rätiens zu dem nachmals weltherrschenden Rom betrifft, so ist ein uralter und vorhistorischer, aber enger Zusammenhang beider dannzumal vorhanden, falls sich die bestimmte antike Ueberlieferung bestätigt, wonach die Etrusker oder Tusci - welche bekanntlich in vielen und wichtigen Dingen, wie in Religion und Divination, Musik, Architektur, Metallurgie, Keramik, der Kunst der Agrimensoren usw. dem römischen Wesen ihr Gepräge bleibend aufdrückten - und die Raeti eines Stammes sind. Unleugbar sprechen frappante Uebereinstimmungen, sowie Funde etruskischer Inschriften und Geräte auf rätischem Boden für die alte Tradition. Genaueres über das wirkliche gegenseitige Verhältnis kann aber unsere Erachtens nicht gesagt werden, so lange von dem uns erhaltenen Etruskischen trotz Corssen's ebenso wertlosem als kostspieligem Werk nicht ein einziges Wort mit festem Grund heimgewiesen wird und in England und Deutschland die seltsame Meinung obherrscht, die nächsten Verwandten des überaus hochstehenden Kulturvolkes, welches unter Anderem den Gewölbebau erfand und dessen Grösse bereits zur Zeit der Gründung Roms in voller Dekadenz begriffen erscheint, seien unter den heutigen Lappländern zu suchen. Für die Schweiz würde daraus das pikante, offenbar absurde Ergebnis folgen, dass der ehemals rätische Teil derselben die Lappländer als einstige Stammrasse zu betrachten hätte! Einstweilen bleiben demnach Nationalität und älteste Geschichte der Etrusker, sowie das etrusko-rätische Rätsel schwierige und ungelöste Fragen, deren Besprechung uns jetzt fern liegt.

1 "Bueb" ist auch in militärischer Beziehung bemerkenswert. Im Mittelalter, hiess während langer Zeit das Fussvolk technisch "bubi". Vergleiche Ducange. Auf der Uebersetzung desselben beruht die noch heute gangbare "Infanterie". Anderseits empfing "bubii" durch die stetigen Exzesse dieses inferioren Bestandteils der mittelalterlichen Heere schon früh einen äusserst üblen Nebenbegriff. Daher stammt die einzig schriftdeutsche Bedeutung von "Bube": niederträchtiger Mensch, Schuft. 2 "Bueb" ist auch in militärischer Beziehung bemerkenswert. Im Mittelalter, hiess während langer Zeit das Fussvolk technisch "bubi". Vergleiche Ducange. Auf der Uebersetzung desselben beruht die noch heute gangbare "Infanterie". Anderseits empfing "bubii" durch die ständigen Exzesse dieses inferioren Bestandteils der mittelalterlichen Heere schon früh einen äusserst üblen Nebenbegriff. Daher stammt die einzig schriftdeutsche Bedeutung von "Bube": niederträchtiger Mensch, Schuft. - 4 -

Gegenwärtig handelt es sich nur darum, im Interesse besonnener Forschung einige im Lauf der Zeit eingebürgerte, zum Teil selbst bei den heutigen Gelehrten in voller Geltung stehende, in der Tat aber fiktive Identitätsbeweise ihres angeblichen Wertes zu entkleiden.

Dass Realta, Rhäzüns, Reams, "Raetia alta", "ima" und "ampla" seien, sind Legenden, die keiner Widerlegung wert sind. Nur wenig besser steht es bezüglich der Vergleichungen von "Nüziders" mit dem unteritalisch-griechischen Nikotera, von "Zizers" mit einer angeblichen Göttin Cisa und von "Zuz" mit Tutium, das hispanisch wäre, ungerechnet, dass es eigentlich ein Flussname und zum Ueberfluss lediglich eine falsche Lesart anstatt "Turia" ist, wie der Fluss Guadalaviar in seinem obern Laufe heute noch heisst.

Auch zwischen Raeti und "Rasennae", dem esoterischen Namen der Tusci vermögen wir anstatt angeblicher Gleichheit, die noch heute eine Rolle spielt, mit dem besten Willen nicht mehr als eine oberflächliche und bloss scheinbare Aehnlichkeit zu entdecken und nicht einmal dies zwischen "Dardin" und Tarquinii.

Bei "Thusis", durch welches noch P.C. Planta, Das alte Raetien (1872) "lebhaft an Tusci erinnert wird" und das allenfalls mit dem doch wirklich existierenden Tuscia d.i. Etruria verglichen werden könnte, scheint das Richtige unschwer erkennbar. Die echte rätoromanische Form ist Tosana und dies wird auf dem nämlichen gallischen Stamm beruhen, wie der Fluss Tosa, Toisa, Töss etc. und demnach dem Lokal ganz entsprechend "Wildlauf" (wirklicher Name der Stromschnelle bei Laufenburg) oder "Laufen" bedeuten.

Auf besserem Fundament scheint es zu stehen, wenn Röder und Tscharner, Canton Graubünden (1838) S. 14. die "merkwürdige Uebereinstimmung" von nicht weniger als sechs Orten auf einmal, nämlich Fettan, Zernez, Lavin, Nauders, Sins und Schuls konstatieren "durch die bekannte Stelle des Plinius III. 6", deren ausgeschriebener Text ihnen zufolge "Vettones, Cernetani, Lavinii, Oenotrii, Sentinates, Suillates" als umbrische, von den Etruskern überwundene Völkerschaften nennt. Indessen müssen die fabelhaften Oenotrii, die schülerhafte Form Lavinii, statt der (lateinischen) Lavinienses etc. bei Sachkundigen sofort Verdacht wecken. In der Tat ist das Ganze eine arge Mystifikation, deren Urheber in richtiger Würdigung des fortwährend herrschenden Autoritätsglaubens und der Macht des gedruckten Buchstabens berechnete, das Exzerpt werde tale quale als richtig hingenommen werden. - 5 -

Der Erfolg hat ihm Recht gegeben, trotzdem bei Plinius an andern Orten etwas derartiges gar nicht steht und ausser den zwei letzten, an einer andern Stelle des dritten Buches vorkommenden Namen alle übrigen erfunden oder grob entstellt, u. A. die "Cernetani" - wegen Zernez - aus den iberischen Cerretani fälschlich gemacht sind. Ludwig Steub, der bekannte Forscher auf diesem Gebiet, hat selbst schon im Jahr 1854 und seither die Täuschung aufgedeckt. Dessen ungeachtet wird der angebliche Beweis fort und fort verwendet. Vergleiche z.B. Verhandlungen der schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft 1863 S. 7. Bei solchen populären Besprechungen ist das am Ende begreiflich. Bedenklich wird aber die Sache, wenn die Mystifikation auch in quellenmässig sein sollenden Schriften immer noch weiter verbreitet wird. Im Jahre 1869 erschien zu Bern das "Quellenbuch" zur Schweizergeschichte von W. Gisi, welches beansprucht, "Grundlage jeder neuen Bearbeitung zu sein", überaus grossen Wert auf Quellenmässigkeit und originalste Texte legt und sich in erster Linie zum Unterricht der Studierenden bestimmt. Neben dem schon an sich monströsen und unmöglichen, auf Korruption von beruhenden "Noidenolex", dessen gänzliche, durch die Fälschungen Montmolins im 17. Jahrhundert berüchtigt gewordene Fiktivität zu den ersten Elementen helvetischer Altertumsforschung gehört - Vergl. Mommsen helvetische Inschriften S. 113 -, das aber S. 43 positiv als ehemaliger helvetischer Ort, identisch mit Neuchatel aufgeführt wird und anderen erstaunlichen Dingen mehr, findet der Quellenforscher dort S. 29 - anstatt einer zu erwartenden Warnung vor diesem Humbug - auch die obige bekannte Stelle als bare Münze wörtlich wieder abgedruckt und muss um so sicherer darauf bauen, da gerade die ungemeine Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit der Sammlung - man sieht mit welch gutem Grunde - zum Gegenstand öffentlicher rühmender Empfehlung gemacht worden ist. Es ist also Aussicht vorhanden, dass das Falsifikat noch geraume Zeit weiter spucke.

II.

Hinsichtlich der Beziehungen Roms zu Rätien in historischer Zeit waltet die viel besprochene Frage, in welcher Weise seiner Zeit die Römer die westliche Grenze dieser ihrer neuen Provinz gegen das anstossende, zu sogeheissenen "Gallia belgica" eingeteilte Helvetien gezogen haben. Die Kontroverse ist nicht bloss historisch wichtig, sondern auch deswegen interessant, weil sie ein neues treffliches Beleg liefert für die erstaunliche Macht eingelebter gelehrter Vorurteile, welche seit Generationen eine Autorität der andern nachschreibt, - 6 -

ohne dass es in Folge eines stillen, aber sehr kräftigen Bannes, wissenschaftlich erlaubt wäre, dieselben auf ihrer Richtigkeit zu prüfen und die entgegenstehende, wenn auch noch so klare Wahrheit überhaupt zu sehen.

Wie in der Richtung von Chur nach Nordwest Rätien und Helvetien sich begrenzten, wird im Einzelnen fast von jedem Opinanten ganz verschieden bestimmt. Dagegen herrscht eine seltene, absolut ausnahmslose Einstimmigkeit darüber, dass die Lokalität Adfines = , weil nach finis Grenze benannt, unbedingt Pivot der Linie sei und sein müsse.

Das Wort "Adfines" hat es dem geltenden System ein für allemal angetan. Der Satz behauptet faktisch den Rang eine historisch-topographischen Dogmas und ein Widerspruch gegen denselben begründet das Verbrechen der Ketzerei. So zieht z.B. auch P.C. Planta's Karte zum alten Rätien die Grenze vom Speer über Fischental, Sternenberg nach dem unvermeidlichen Pfyn und schliesslich über den untern Teil des Bodensees.

In Wirklichkeit liegt indessen die Sache so, dass sobald Jemand den Mut hat, sich von dem Banne zu emanzipieren und die Tatsachen ins Auge zu fassen, wie sie sind, das Dogma sich als durchaus bodenlos und unmöglich, dagegen kurz gesagt folgender Sachverhalt als richtig und unschwer nachweisbar herausstellt.

Schon vor der Unterwerfung Rätiens besassen die Römer als Eroberer des bisher helvetischen Gebietes einen Streifen Land, der sich östlich von dem Rhein entlang bis etwa in die Mitte des diesseitigen Bodenseeufers hinzog. Zum Schutz dieser Strecke, beziehungsweise ihrer Militärstrasse Vindonissa-Vituduro-Bodensee wesentlich gegen die feindseligen Raeti legten sie unverzüglich die Station oder Mansion Adfines an. Es lohnt nicht der Mühe zu untersuchen, ob der Name sich auf die immerhin erheblich südlicher anzusetzende - Grenze gegen Rätien bezog, oder ob derselbe - wie weit wahrscheinlicher - übereinstimmend mit sehr zahlreichen andern "Adfines", von einer dortigen ganz unbedeutenden Distriktsgrenze herrührt. Die Hauptsache liegt darin, dass die Römer sodann nach Einnahme und endlicher, erst um Christ Geburt fallender definitiver Organisation Rätiens jenen Streifen bis zum Rhein (wie sie als verständige Administratoren gar nicht anders tun konnten) zu dieser ihrer neuen Provinz Raetia prima zogen, wobei Adfines natürlich seinen Namen behielt, aber jede Bedeutung selbst für die Nordgrenze auf immer verlor. - 7 -

Was die Westgrenze anbetrifft, so kumuliert sich die Absurdität des herrschenden Lehrsatzes namentlich darin, dass er, geradezu verblendet durch die Buchstaben "Adfines", diese überhaupt mit der Abgrenzung nach Westen hin in Beziehung gesetzt hat, während die Natur der Sache und sämtliche vorhandene Daten ohne Ausnahme mit dieser kuriosen Schlussfolge in unversöhnlichem Widerspruch stehen.

Zu römischer Zeit ist die wirkliche räto-helvetische Grenze nie eine andere gewesen, als die natürliche, militärisch und fiskalisch einzig mögliche des durch Seez, Walensee, Zürichsee, Limmig und Aare gebildeten Wasserlaufes, beziehungsweise die Linie Magia-Maienfeld, , Vindonissa, bis Confluentia-Coblenz. Eine auf den ersten Blick frappierende, indessen durchaus nicht unmögliche, auch schlagender Analogie nicht ermangelnde Konsequenz hievon ist, dass die jetzt so geheissene grosse Stadt Zürich - gesetzt, dass damals dieselbe bewohnt war - rätischer, dagegen dies sogen. kleine Stadt, wo auf dem jetzigen Lindenhofhügel eine Hauptstation zum Bezug des gallischen Eingangszolles von 1/40 des Wertes errichtet war, gallischer Grenzort gewesen ist. Es fehlt nicht an Momenten, welche darauf hinweisen, dass der letztere zu helvetischer Zeit den Kern der Niederlassung "Turicum" bildete.

Die detaillierte Darlegung der zahlreichen, dem vorstehenden Ergebnis zu Grunde liegenden Beweise, welche die Sache erfordert und verdient, kann an dieser Stelle nicht gegeben werden. Wir erwähnen nur im Vorbeigehen, dass ein Kardinalpunkt in der absolut unerlässlichen militärischen Tauglichkeit der Provinzgrenze liegt, ohne dass freilich das geltende Dogma hierauf die allermindeste Rücksicht nähme. Weiterhin kommt die gerade Linie, welche Ptolemäus von den Anfängen des Rheins nach den Donauquellen zieht, um grosso modo die räto-helvetische Grenze zu bezeichnen, die aber vom Standpunkt der Pfyn-Theorie trotz aller aufgewendeten Künsteleien als bare Unwahrheit erscheint, vollständig zu Ehren. 3 Ueberhaupt treten auf unserer Grundlage sämtliche Nachrichten der alten Schriftsteller in erwünschten Einklang, sofern man nur die verschiedenen Perioden gehörig auseinander hält, anstatt sie, mit dem System, grausam durcheinander zu werfen.

Bei der berühmten Stelle Tacitus hist. 1, 67 über das Treffen zwischen Römern und Helvetiern am Bözberg im Jahr 68 n. Chr.

3 Ptolemäus spricht natürlich nicht von den entlegenen, damals nur und in sehr vager Weise supponierten Quellen des oder der Rheine, die ja auch ganz untauglich gewesen wären, einen fixen Ausgangspunkt seiner "geraden Linie" zu bilden, sondern bloss von dem bekannten Gesamt-Rhein. Seine Vorstellung trifft merkwürdig zusammen mit der Zeichnung der Peutinger'schen, dem Original nach in jene Zeit fallenden Karte, welche oberhalb des Bodensees nur einen kurzen, anscheinend bei Maienfeld beginnenden Rheinlauf kennt. - 8 -

ist es anerkanntermassen ein für die herrschende Theorie unlösbares Rätsel, wie Tacitus voraussetzen kann, die angeblich "am Bodensee oder im Gaster stehenden rätischen Truppen" (Mitteilungen 12, 296) hätten sich in nächster Nähe der Helvetier befunden. Es erklärt sich auf das einfachste dadurch, dass die ersteren zwar auf rätischem Boden, aber direkt hinter der Limmig oder Aare stationierten.

Ein weiteres, bei ganz unbefangener Auffassung schon für sich allein, entscheidendes Moment liegt in dem Umstand, dass die gallische Zollgrenze nicht etwa (absurder Weise) über Pfyn, sondern wie topographisch selbstverständlich und überdies durch die Inschrift vom bestens bewiesen ist, von Magia-Maienfald über das linke Zürichsee-Ufer und so weiter lief.

Entsprechend sind inschriftliche Daten vorhanden (Mommsen 237), wonach das von Natur hierzu vorzüglich geeignete, dem Namen nach evident vorrömische 4 eine - natürlich rätische - Zollstation gewesen ist, zumal ein Grund, Rätien militärisch gegenüber Helvetien in Verteidigungszustand zu setzen, während der ganzen Dauer der Römerherrschaft niemals vorhanden war. Ein Fall, wo die Römer dermassen vom gesunden Menschenverstand verlassen gewesen wären, um die Provinzial- resp. Militärgrenze und anderseits die von den nämlichen Truppen im fiskalischen Interesse zu bewachende Zollgrenze mutwillig auf zirka zehn Stunden auseinander zu reissen, müsste aber erst noch gefunden werden.

Den neuesten und einen der stärksten Stösse erlitt der Glaubenssatz neuerlich. Bis dahin galt es als Evangelium, dass (wie natürlich) auf der Höhe von "Adfines" Rätien auch dem Untersee entlang gegen Westen hin aufhören müsse. Indessen hat sich durch zwei vor einigen Jahren zu Eschenz aufgedeckte Inschriften die Lokalität Burg-Eschenz, eine geographische Meile westlich von Pfyn,

4 Die Benennung stimmt buchstäblich mit der berühmten Hebrideninsel "Jona", welche vormals (der Bedeutung des Namens gemäss) ein Zentralpunkt ältester Gottesverehrung und nach dem herrschenden Glauben vom dereinstigen Weltuntergang eximiert war. Es ist nicht erstaunlich, aber doch bemerkenswert, dass in Sehweite von Jona das nicht minder bekannte "Staffa" liegt, und dass gleichermassen unfern von unserm Jona sich das Pendant "Stäfa" findet. In einleuchtender Identität mit dem helvetischen Jura und Jorat heisst eine dritte Hebride "Jura". Im benachbarten Hochschottland trifft man den Berg und See "Lomond". Auch diese Bildung kehrt (nur wenig entstellt durch Accommodation an das nahe liegende mont) in dem jurassischen Berg "Lomont" wieder. - 9 -

unzweifelhaft als das alte, unbestritten zu Rätien gehörige "Tascaetium" 5 enthüllt. Wie Jedermann sieht, wird durch diese Tatsache ein dicker Strich durch die Hypothese der Theorie gezogen. Der Name Adfines kann von jetzt an unmöglich mehr als apodiktische Instanz gegen irgendeine weit westlich davon gelegene Granzlinie geltend gemacht werden.

Aber hätte Einer die an sich berechtigte Meinung unter solchen Umständen sei nunmehr auch das Gelehrten-Dogma abgetan und mundtot, so würde derselbe die enorme Zähigkeit, welche diesen seltsamen Gebilden innewohnt, erheblich unterschätzen. Der neueste Autor über den Gegenstand, C. Morel, behauptet in der Tat (Commentationes philologicae in honorem Th. Mommseni. Berolini 1877 S. 158) allen Ernstes, die rätische Grenze müsse jetzt allerdings um eine "halbe Stunde" - in Wirklichkeit wäre es das Dreifache - weiter nach Westen gerückt werden, im Uebrigen bleibe aber trotzdem Alles lediglich beim Alten.

Eigentümlicherweise übersieht er dabei ganz, dass diese neue Auflage des alten Kathedersatzes wiederum nichts anderes ist als eine blanke Hypothese, welche jeden Augenblick durch einen ähnlichen, noch westlicheren Fund dementiert werden kann, und insbesondere, dass er sich durch notgedrungenes Aufgeben des Stützpunktes "Adfines" bereits allen überhaupt vorhandenen, wenn auch trügerischen Beweisgrund selbst unter den Füssen weggezogen hat, so dass die modifizierte Vermutung nun vollends in der Luft schwebt.

5 Der Name Eschenz (volkssprachlich Eschez mit dem Akzent auf der ersten Silbe) hat schon vielfache Erklärungsversuche hervorgerufen. Vorzüglich beliebt ist die Annahme, das urkundlich vorkommende, auch zur Lokalität passende Exientia "Ausgang" (des Rheins aus dem See) sei das wirkliche Etymon. Jedenfalls ist es plausibler als Gatschet's acernus Esche. Bedenkt man indessen das dringende Bedürfnis, unverständliche Name zu accommodieren, und die Parallelen Exscientia, Aschenza, so ist nicht zu verkennen, dass alle lediglich Accomodationsformen an Lateinisch und Deutsch sind. Gehen wir hingegen von dem jetzt urkundlich erwiesenen Tascaetium aus und erwägen, dass der incommensurable Anlaut sehr leicht abfallen konnte, so resultiert "ascet", lautverschoben eschez, das genau mit der wirklichen Aussprache stimmt. Dieser gegenüber sind bekanntlich die schriftsprachlichen Formen häufig blosse künstliche Fabrikate, beziehungsweise Korruptionen, wie z.B. "" statt Limmig, "Rhone" statt Rotten. Bezüglich des abgefallenen Anlautes von Tascet liegt ein treffendes Beleg in folgendem. Der romanische, unzweifelhaft ursprüngliche Name der sehr alten Niederlassung "Erlach" am Bielersee heisst bekanntlich "Cerlier". Dies bedingt nach feststehender Lautregel (vergleiche Tschachtlan aus Castellan) eine ältere Form deutscher Zunge "Tscherlach", welche überdies z.B. durch das besser erhaltene "Tscherlach" am Walensee - auch an der Sprachgrenze - sowie durch "Tscherlan" in Friburg bekräftigt wird. Bei dem Fallenlassen des Anlautes, woraus "Erlach" resultierte, hat unstreitig zugleich das Streben nach Accommodation an Erlen mitgewirkt. Das nämliche Moment trat aber auch bei Eschenz ein. Es ist ein Anklang nicht etwa an Esche, dessen Vokal differiert, sondern an den bekannten Lokalnamen "Aesch" ehemals "asca" gesucht und gefunden worden. - 10 -

Bei gegenwärtiger Sachlage hätte es sich für ihn darum gehandelt, die behauptete, aber unnatürliche und praktisch unmögliche Grenzlinie vom Speer nach Burg-Eschenz unabhängig von dem jetzt zerflossenen Nimbus der Buchstaben "Adfines" durch feste historisch-topographische Daten erst zu motivieren. Da es objektiv an solchen gänzlich mangelt, wäre allerdings die Einlösung der Verpflichtung ein äusserst schwieriges Unternehmen gewesen.

III.

Mit Rücksicht auf die Beziehungen zwischen Rätien und Rom ist ferner an sich und der Umstände wegen das Verhältnis der Eroberer zu dem Namen "Raeti" bemerkenswert.

Ungefähr um Christi Geburt hat das Bedürfnis einer kurzen und klaren Bezeichnung der neuen Provinz die römische Verwaltung zur offiziellen Approbation und Adoption von "Raetia" geführt, welches samt dem Volksnamen von da an äusserst häufig begegnet. Dagegen gibt sich vor dieser Zeit, wie zuerst K. L. Roth in Basel bemerkt hat, eine in der Tat auffällige Zurückhaltung, ja eine förmliche offizielle Perhorreszierung des Ausdruckes Raeti kund. Kurz zusammengedrängt sind die Tatsachen folgende.

Zum ersten male erscheint das Wort literarisch bei dem um 150 vor Christus sein grosses Werk verfassenden Griechen Polybius, bekanntlich dem intimen Vertrauten der Scipionen. Es liegt nahe, dass er auf der ausdrücklich von ihm erwähnten Forschungsreise nach den Alpen und Oberitalien diese Kollektivbezeichnung - er spricht von dem Alpenpass durch das Gebiet der "Rhaetoi" - und deren Bedeutung erkundete, so dass beides bei dem Ansehen, welches dieser Schriftsteller genoss, den "princepes" zu Rom kein Geheimnis blieb. Auch abgesehen hievon ist es bekannt, dass das Gebirgsvolk sich durch regelmässige gemeinsame Kriegs- und Raubzüge in steter Erinnerung erhielt, und dass die Römer, wie z.B. Caesar's Memoiren über den gallischen Krieg verraten, es an sorgfältiger Exploration feindselig gegenüber stehender Stämme durchhaus nicht fehlen liessen

Dessen ungeachtet dauert es von Polybius an gerechnet merkwürdiger Weise mehr als ein Jahrhundert, bis circa 30 vor Christus Vergil im "Landleben" - mit Anspielung auf die Vorliebe des Augustus für den Veltliner - es unternimmt, der rätischen Weinrebe Erwähnung zu tun, immerhin so, dass der Ausdruck sichtlich ein bekannter vom Publikum wohlverstandener ist. Sodann preist um 15 vor Christus der zweite Hofdichter Horaz den blutigen Sieg der römischen Waffen über die "grausen Raeti". - 11 -

Eben damals oder schon vorher schreibt Livius die ersten Bücher seiner Geschichte, worin wie im ganzen Werk Raeti zu Raetia ständig wiederkehren. Im fünften Buch referiert er die für diesen Punkt bedeutsame Sage von dem Führer "Raetus", der dem Volke seinen Namen geliehen haben soll. Endlich errichtet um dieselbe Zeit L. Munatius Plancus, der Gründer von Basel-Augst, oder dessen Familie das jetzt noch zu Gaeta vorhandene Epitaph, worin der im Jahre 43 vor Chr. gefeierte Triumph des Consulars über die Raeti mit ausdrücklicher Anführung dieses Namens ("triumphabit ex Raetis") namhaft gemacht wird.

In auffälligem Widerspruch mit dem hiernach konstatierten, immerhin noch sparsamen und augenscheinlich unter einem gewissen Hemmnis stehenden privaten Sprachgebrauch befindet sich der offiziöse. Am direktesten tritt der Gegensatz darin hervor, dass bei dem soeben erwähnten Triumph des Plancus die öffentlichen Fasti das doch von dem Triumphator selbst verwendete "Raeti" ausweichen, und dafür - der konstanten Präzision römischer Erlasse zuwider - das zu dieser Zeit schon sehr vage und vieldeutig gewordene "Gallia" ("triumphavit ex Gallia") gesetzt haben. Im Ferneren ist es besonders bezeichnend, dass das im Jahr 8 vor Chr. von Senat und Volk zu Ehren des Sieges über die Raeti beschlossene Denkmal nicht weniger als 45 Völkernamen aufzählt, aber offenbar absichtlich just das fast unmöglich zu umgehende Raeti vermeidet, und statt dessen zu dem unbestimmten und sonst ungebrauchten Ausdruck "Alpenvölker" zweimal seine Zuflucht nimmt, während es gleichzeitig das ebenfalls barbarische und auch kollektive, unstreitig für die Römer neu auftretend "Vindelici" neben den darunter fallenden Einzelvölker keineswegs verschmäht.

K. L. Roth hat den Versuch gemacht, die von ihm wahrgenommene Bewandtnis, welche es für die Römer mit dem Namen Raeti hatte, durch die Hypothese zu erklären, der Kollektive Sinn des Ausdrucks wäre erst unter Augustus neu geschaffen worden. Dass er prima facie auf diese Vermutung gelangen konnte, ist an sich wohl begreiflich. dagegen hätte er bei unbefangener Prüfung davon zurückkommen und zu dem Ergebnis gelangen müssen, dass der Grund der Erscheinung aus den bisher besprochenen Verhältnissen sich nicht erkennen lässt. Stattdessen sucht er, minder beifallswürdig, durch Bemängelung und anderseits durch Ignorierung verschiedener Tatsachen einseitige Auffassung des Unbestreitbaren und diverse gewaltsame Voraussetzungen die präliminäre Idee um jeden Preis aufrecht zu erhalten. Dieselbe scheitert indessen besonders an folgenden durchaus liquiden Momenten. - 12 -

Dass Raeti im Kollektivsinne eines Tages so ganz ohne Weiteres entstanden und gleichsam direkt vom Himmel gefallen wäre, kann und will verständigerweise Roth selbst nicht behaupten. Er supponiert demnach notgedrungen das Vorhandensein eines Einzelvolkes "Raeti", welches sich den Römern vorzugsweise bemerklich gemacht hätte, weswegen sie späterhin - eben zu Augustus Zeit - dessen Spezialnamen auf die Gesamtheit übertragen haben sollen. So unerlässlich nun in der Tat eine derartige Supposition ist, um einen Zusammenhang der Dinge nach seinem Sinne - der hiermit steht und fällt - überhaupt denkbar zu machen, so positiv widerspricht dieselbe den Tatsachen, und macht die Elimination der ganzen Hypothese zu einer leichten Aufgabe.

Zunächst steht es ausser allem Zweifel, dass von diesem angeblichen Separatvolk Raeti in der Gesamten griechischen und römischen Literatur aller Zeiten auch nicht die allergeringste Spur vorhanden ist. Diese Tatsache erscheint aber mit der Annahme seiner einstigen Existenz, um so unvereinbarer, da ja dasselbe - sei es nun durch nächste Nachbarschaft oder aus irgend einem andern Grunde - den Römern gerade zuerst und zunächst in die Augen gefallen sein sollte. Unter allen Umständen liegt es auf der Hand, dass just dieser notabelste aller raetischen Einzelstämme auf dem Tropäum, das mit römisch-offizieller Akkuratesse nicht weniger als fünfundvierzig und darunter unstreitig manche sehr geringfügige Völkerschaften oder Clane aufzählt, ganz unmöglich hätte weggelassen werden können.

Dazu tritt erst noch und in vollends durchschlagender Weise der schon erwähnte Mythos von dem Eponymus Raetus. Obschon bloss Sage, beweist derselbe mit zwingender Notwendigkeit zwei gegen Roth entscheidende Dinge. - Einmal beurkundet er, dass der Bezeichnung Raeti - und zwar in der kollektiven Funktion derselben - schon zu Augustus Zeiten ein ganz beträchtliches Alter zukam. Zweitens erhellt daraus evident die Tatsache, dass damals zu Rom nicht einmal ein Gedanke an die Möglichkeit waltete, als könnten die Römer (oder sonst Jemand) den Namen eines einzelnen Stammes auf das gesamte Gebirgsvolk übertragen haben. Denn diese blosse Möglichkeit hätte ja, wie Jedermann sieht, die ganze Eponymussage absolut ausgeschlossen. Sie hätte weder geglaubt noch auch nur vorgebracht werden können.

Aus dem Gesagten ergeben sich folgende teils positive, teils negative Resultate.

Der Name Raeti, der zunächst und wesentlich die Bewohner der nachmaligen Raetia prima umfasste, war von jeher kollektiv. Ein sich so nennender Separatstamm kann gar nicht existiert haben. - 13 -

Auch ist die Kollektivbedeutung, weit entfernt unter Augustus neu kreiert zu sein, vielmehr schon damals von ehrwürdigem, die Bildung vom Mythen veranlassendem Alter.

Als Kollektivum von Ursprung an muss das Wort ein den verschiedenen Völkerschaften gemeinsames Merkmal bezeichnet haben.

Der langsam, gleichsam schüchtern auftauchende und spärliche private Gebrauch, insbesondere aber die konstatierte offizielle Vermeidung, ja Perhorreszierung weisen darauf hin, das Prädikat sei den Römern aus irgend einem Grunde widerwärtig gewesen.

Der Grund dieser Abneigung - welche hernach aus publizistisch-administrativen Rücksichten auf einmal zurücktritt - kann allen Umständen zufolge kaum ein anderer als ein politischer gewesen sein.

Bei dieser Sachlage erscheint der Gedanke nicht unberechtigt, es möchte vielleicht der Name Raeti selbst irgendetwas für die Römer Anstössiges involviert haben. Wir wollen demnach untersuchen, ob sich in dieser Richtung möglicherweise etwas feststellen lässt und ob das Ergebnis geeignet ist, das obwaltende Dunkel aufzuhellen.

IV.

Was eigentlich das Wort Raeti bedeuten möchte, ist eine in mehrfacher Beziehung erhebliche, in der Tat schon oft und viel ventilierte Frage.

Nach der neuesten Erklärung P.C. Planta's ist Raetia einfach lateinisch und zwar identisch mit dem bekannten rete, Netz, Mehrzahl retia. Allerdings steht das gewöhnlich angewandte rh (Rhaetia) nicht im mindesten entgegen, da es ein purer und objektiv grundloser, obschon in allen Schulen eingelebter Missbrauch ist. Im Fernern spricht für P.C. Planta das ganze Gewicht der philologischen Autorität Theodorich des Grossen und seines Kanzlers Cassiodor, die sich überdies auf Ueberlieferung aus dem in Etymologien so glücklichen und gründlichen Altertum beziehen. Hiernach rührt der Name Raetia Retia daher, dass die Vorsehung dieses Land zum Schutz Italiens gleichsam wie ein System von Netzen (retia) den nordischen Barbaren vorgespannt hat.

Objektiv betrachtet ist nun freilich aus einem eigentlichen Ueberfluss von Gründen die bare Unmöglichkeit dieser Genesis auf den ersten Blick einleuchtend. Ungerechnet, dass rete Netz für "srete" steht und von serere knüpfen stammt, zudem die echte, vielfach inschriftlich beglaubigte Form von Raeti "Raiti" lautet, also der Vokal gründlich differiert, - 14 -

hätten die Römer sicherlich nie den Schnitzer begangen, einen neutralen Plural als weiblichen Singular zu verwenden und Raetia prima, secunda daraus zu formieren. Viel näher hätte es ihnen gelegen, die Raeti mit einem sehr bekannten Ausdruck der Arena "retiarii" zu nennen.

Nicht minder monströs und verkehrt ist die konnexe, alles Ernstes verteidigte Annahme, "Raeti" sei aus dem Provinznamen Raetia, also rückwärts deriviert. Das Ganze passt mit einem Wort allerdings in das sechste, keineswegs aber in das neunzehnte Jahrhundert, und ebenso wenig in die augusteische Zeit. Dessen ungeachtet ist die Ableitung von einigem Wert. Denn sie ist lediglich ein allerdings etwas mehr als gewöhnlich fadenscheiniger Ableger des herrschenden Systems, fremdartige Formen um jeden Preis auf den "festen Boden" der bekannten klassischen Sprachen zurückzuführen, sobald ein entfernter Anklang etwas Handhabe zu bieten scheint.

Gar so vornehm dürfen wir darum auf "retia" doch nicht herabsehen. Sachlich durchaus nicht besser ist z.B. die auch von Mommsen adoptierte Erklärung von Basilia-Basel durch griechisch basileus König, sowie die immer noch durch manche Unkundige verteidigte von Renus Rhein durch griechisch rheo fliessen, beziehungsweise dessen Stamm "sru". Wäre letzteres mehr als täuschender Schein, so hiesse der Fluss, wie eine Fülle von Formen zeigt (vergleiche z.B. Sarunetes, heut Sarein, Schrein), und die Reuss, die auch mit R anfängt, und demnach gleiche Ehre geniesst, schriebe sich "Schreuss". Gleicher Qualität ist die viel verbreitete Weisheit, welche Curia Chur mit lateinisch curia Hof identifiziert, in welchem Fall der wirkliche raetoromanische Name Cuera und ebenso das italienische Coira positiv unmöglich wären. Ebenso verhält es sich mit Marsöl zu Chur, angeblich mars in oculis, Spinöl, spina in oculis, Bregaglia, prae Gallia, Cambrodunum- vermeintlich "hundert Wiesen" (centum prata), Lutetia-Paris, nach anerkannter Schultheorie von lutum (Kotstadt) und Luzern vorgeblich gleich lucerna, d.i. "Studierlampe", bei welcher man sich nur verwundern muss, dass der vermeinte Leuchtturm es trotz der Grösse des Sees s.Z. nicht einmal zu einer wirklichen Laterne (lat. lanterna) zu bringen vermocht hat.

Gelehrte und Schulbücher wissen denn auch ganz genau, dass der uralte Name der volle neun Stunden langen Landschaft Gaster (St. Gallen) von dem lateinischen "Castrum" herkommt, und den meisten ist des nähern klar, dass "castra raetica" zu Grunde liegen.

So günstig nun dies (wäre es wahr) für die von uns geltend gemachte Naturgrenze zwischen Rätien und Helvetien spräche, - 15 -

so vermag doch unbefangene Prüfung darin bloss einen leeren, lediglich auf anscheinendem Gleichklang beruhenden, in der Wirklichkeit gar nicht ernstlich vorzubringenden Einfall zu erkennen. Schon der Anlaut ist - wie z.B. Kästris, Tiefenkastel zeigen - mit dem angeblichen Ursprung unverträglich. Dazu kommt die schlagende, obschon wie es scheint unbeachtete Parallele mit der bernerischen Landschaft "Gasteren", wo doch Niemand ehemalige römische castra behauptet hat, noch verständiger Weise behaupten kann. -

Die Leistungsfähigkeit des Lateinischen zu der gesuchten Interpretation erscheint durch "retia" gänzlich erschöpft. Es ist auch unseres Wissens die Aufstellung eines zweiten dieser Sprache angehörigen Etymons bis jetzt nicht versucht worden.

Nach der massgebenden Autorität von C. Zeuss und anderer kompetenter Forscher unterliegt es keinem Zweifel, dass das unrömisch Element des rätoromanischen alter und neuerer Zeit, soweit es nicht untergegangen ist, dem gallischen Gebiete angehört. In der Tat gewähren denn auch dessen Idiome z.B. zu manchen Volksnamen des Tropäums teils evidente, teils wahrscheinliche Aufschlüsse. Aus demselben wird von zahlreichen Werken ein Stamm "rait" geltend gemacht in der Bedeutung "Gebirge", so dass Raeti Bergbewohner bezeichnete. Form und Sinn würden so vortrefflich passen, dass kaum etwas zu wünschen übrig bliebe, abgesehen etwa davon dass die Abneigung der Römer gegen einen so harmlosen Gesamtnamen ganz unbegreiflich, ja kaum möglich zu nennen wäre. Fataler Weise ist aber das angeblich Wort in der Wirklichkeit gar nicht vorhanden, sondern fälschlich vorgespiegelt. Die trügliche Angabe lässt sich auf das germanistische Werk "Erläuterungen des Tacitus" von F. Rühs (Berlin 1821, Seite 66, zurückverfolgen, der ohne Nennung seiner Quelle positiv versichert, rait bezeichne im Gallischen eine "gebirgichte Gegend". Möglicherweise schöpfte er diese Fabel aus Adelung. Ursprünglich beruht sie zum mindesten auf grobem Versehen, da ein ähnliches Wort eine "nicht gebirgichte Gegend", nämlich eine Ebene bedeutet. Uebrigens ist F. Rühs auf eigene Rechnung seltsamer Dinge fähig. 6 Das Ganz ist ein Beweis, mit welcher Leichtfertigkeit diese Dinge noch unlängst behandelt wurden.

Zum Ersatz für diese bare Fiktion hat sich seither J. Rausch, Geschichte des rätoromanischen Volkes (1870) auf einen Stamm rid d.i. Furt berufen,

6 Ihm zufolge war vormals (S.71) "von Chur bis Baden ein grosser See, bis die Gewalt der Gewässer den Lägernberg bei Baden durchbrach. Der Rhein nahm seine Richtung durch den Walensee und das Lindt- Tal. Wahrscheinlich bezieht sich hierauf Strabo's Äusserung, dass der Rhein sich in viele Sümpfe und einen grossen See ausbreite". Demnach sollte man schliessen, Strabo hätte in der Tertiär-Zeit gelebt und geschrieben. - 16 -

der allerdings existiert, aber lautlich und begrifflich unzulässig erscheint. Denn die Bedeutung Furtanwohner führt unter gegebenen Umständen auf einen evidenten Widersinn, und die Form ergäbe anstatt Raeti etwa Ridones, mit langem i und kurzem o, äusserlich vergleichbar dem wirklich existierenden Redones.

Bei diesen Versuchen scheint - wie dies ja nicht ganz selten vorkommt - gerade das Nächstliegende bisher nicht beachtet zu werden. Es existiert nämlich ein bestens beglaubigter Stamm rait, mit den konnexen Bedeutungen: Vertrag, Bündnis, auch Ehe, Eid, Gesetz, Ordnung - begrifflich frappant übereinstimmend mit der gleichen Ideenverbindung in dem althochdeutschen ewa, Bund, Gesetz, Vertrag, Gemeinschaft, Ehe. Eine scotirische, nicht abzutrennende Parallelform bezeichnet "Notwendigkeit" und dem walischen (kymrischen) rhaith ist insbesondere der Sinn "Eid" eigen, während im bretonischen wieder "Richtschnur, Norm" hervortritt. In der nächsten Schwestersprache, dem Lateinischen, sind wohl ratum ratio und ritus (Gebrauch, Ordnung) zu vergleichen und in fast allen übrigen verwandten fehlt es ebenfalls nicht an Analogien. Im Germanischen wirt gotisch garaids, festgestellt hierher gehören.

Lautlich entspricht dieses rait unserm Raeti, Raiti, griechisch Rhaitoi in tadelloser Weise. Es fragt sich nur ob es auch begrifflich annehmbar sei. Das scheint nun allerdings der Fall zu sein. Die Raeti wären hiernach "die Verbündeten", "Verschworenen", ja ganz eigentlich "die Eidgenossen". Durch die objektiven Verhältnisse wird dies Epitheton hinlänglich erklärt und gerechtfertigt.

Eine nach innen und nach aussen gerichtete Verbündung der nächstverwandten Stämme liegt schon an sich in der Natur der Sache, wie auch in gallischer Sitte. Nach innen gewährte sie Schutz gegen Vergewaltigung der zum Teil offenbar sehr kleinen Völkchen durch die mächtigeren Nachbarn, wie denn auch von Zwietracht unter ihnen selbst, die sonst nahe genug lag, nicht das mindeste verlautet. Nach aussen konnten sie einzig als Konföderation einige Bedeutung beanspruchen. Dazu kommen die mehrfach überlieferten, regelmässig wiederkehrenden gemeinsamen Expeditionen nach Italien, Helvetien etc. - vom rätischen Standpunkt aus Kriegszüge, in gegnerischen Augen aber organisierte Räubereien - welche eine dauernde Einigung voraussetzen. Auch führt die von Dio Cassius überlieferte Notiz, die "nicht Verbündeten" hätten die rätischen Alpenpässe nicht ungestraft frequentieren dürfen, zu dem naturgemässen und kaum abweisbaren Schluss, die unmittelbaren Anstösser der Alpenstrasse hätten anderseits "Verbündete" gehabt, denen die Passage offen gestellt war. - 17 -

Ja es ist wohl denkbar, dass gerade in diesem von der Natur gegebenen Verhältnis der erste Anstoss zu der "Verbündung" mit den übrigen Talschaften lag, die sich sodann zu einem Schutz- und Trutzbündnis erweiterte.

Ohne Zweifel wirft die hiernach vorliegende Bedeutung von Raeti: "Verschworne, Eidgenossen" einiges Licht auf das vorhin unter III besprochene seltsame Verhalten der Römer zu diesem Volksnamen. Anderseits liegt hierin wieder eine allerdings nur sekundäre, dennoch aber erwünschte Bekräftigung unserer schon vor Dezennien (vergleiche Jahrbuch von Glaris 9, 51 N.) unabhängig von diesem damals noch unbeachteten Umstand ins Auge gefassten Interpretation von Raeti.

Nach dem früher Gesagten kann in Folge der steten kriegerischen Berührungen zwischen den Römern und den Raeti dieser Name und dessen Bedeutung den ersteren von langem her nicht verborgen geblieben sein. Beispielsweise zeigt das oben erwähnte Epitaph des L. Munatius Plancus, dass im Jahre 43 vor Chr. "Raeti" eine für diesen Befehlshaber feststehende und altbekannte Bezeichnung des Gebirgsvolkes gewesen ist. Insbesondere ist es nicht bloss möglich, sondern dringend wahrscheinlich, dass der Gesamtname im Kriege als Losungswort und Schlachtruf gebraucht zu werden pflegte. Dies entsprach nämlich einer konstanten Nationalsitte. Am bekanntesten ist in dieser Richtung das Faktum, dass die Ambrones diesen ihren Namen als Schlachtruf verwendeten, und derselbe einst von den gegenüber kämpfenden Ligures verstanden, ja als einheimisch erkannt wurde. Noch im Mittelalter pflegten nach Mathäus Parisiensis Hist. ad annum 1138 und Roger Hoveden Annales 1, die schottischen Hochländer ihren Gesamtnamen "albain" latinisiert Albani - neben welchem wie in Rätien zahlreiche Separatnamen existierten - in der Schlacht laut auszurufen. "Et ascendit clamor usque in coelum: Albani! Albani!" Demgemäss wird begreiflich, dass aus gleicher Veranlassung der Name Raeti für die Römer ein widerwärtiger und verhasster Missklang war. Ums sich dies zu vergegenwärtigen, kann man sich an die aus Abscheu und Furcht gemischte Wirkung erinnern, welche die Namen der räuberischen Genossenschaften der "Filibustier" und "Buccanier" während einer geraumen Periode ausgeübt haben. Zu gleicher Zeit erschien die "Conjuration" der Raeti, welche man mit Recht oder Unrecht als gegen Rom gerichtet ansehen konnte, als eine Beleidigung der majestas populi Romani. Man weiss, dass die Eroberer in diesem Punkte sehr empfindlich waren. Von diesem Gesichtspunkte aus wird nun auch verständlich, dass gerade die beiden Leibdichter der Dynastie, Vergil und Horaz, deren unbedingte Loyalität natürlich über jeden Schatten von Verdacht erhaben war, - 18 -

es wagen durften, den Bann zu brechen und die Initiative zum öffentlichen Gebrauch eines Prädikats zu ergreifen, das im Publikum wohl bekannt, aber offiziell verpönt war. Insbesondere wird Grund und Zweck jener Reserve und Abneigung der öffentlichen Akten gegen das Wort ersichtlich. Die Sache hatte in der Tat einigermassen einen politischen Hintergrund. Eine Erwähnung der "Raeti" ausdrücklich mit diesem Namen in dem Triumpfalfasti oder auf dem Tropäeum hätte gewissermassen eine Anerkennung des "Bundes" als einer existenzberechtigten Potenz, modern zu sprechen als einer völkerrechtlich anerkannten "kriegsführenden Macht" involviert, während doch derselbe römischer Staatsraison zufolge nicht anderes sein durfte, als eine rechtlose und verwerfliche Verschwörung von Aufrührern und gewerbsmässigen Räubern.

Eine annähernde Parallele zu dem Verhältnis bietet sich in nächster Nähe dar. Etwa ein Jahrtausend später - das ursprüngliche Datum ist bis jetzt noch nicht gefunden - bildet sich an den Grenzen des alten Raetiens zwischen einigen benachbarten Talschaften wiederum eine "Eidgenossenschaft". Auch ihr Name hat für die Machthaber - die soi- disant Nachfolger der römischen Cäsaren - einen widerwärtigen und verhassten Klang. Er ist als der Titel, welchen freche Aufrührer sich selbst gegeben hatten, ebenfalls - und zwar während einer sehr viel längeren Zeit - ignoriert, vermieden und offiziell förmlich perhorresziert worden. Eine Unterwerfung der Empörer, wie sie bei den Raeti eintrat und den Widerwillen der Herrscher gegen den Namen der Verschwörer dämpfte, hat eben in diesem letztern Fall nicht stattgefunden.

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