4Vergangenheit:Hollywood-Genrepoetiken

Wenn in dieser Arbeit die Konvergenz vonpolitischenund historischen Prozessen mit ästhetischen ErfahrungsmodalitätenimHintergrund der Fragestellungen steht,dannerscheint der Griff zum populären Unterhaltungs-und Genrekino zunächstnicht selbstverständlich. Dahinter steckt aber ein theoretischerBegriff vonGenrekino, der im Folgenden dargelegt und vertieftwerden soll.¹ Es soll herausgearbeitet werden, dass die Erfahrungsmodalitätendes Genrekinos zu verstehen sind als eine spezifische Form und medialePraxisunter anderen, mit der sich ein politisches Gemeinwesen affektivauf sich selbst bezieht.Aus dieser Perspektive heraussoll plausibel gemacht werden, inwiefern diese Form des Bezugs die Gestalt vonSchuldgefühlenannehmen kann. Hier soll die These verfolgt werden, dass sich im Genrekino ein bestimmtes Denken des Politischen, welches jede Form menschlicher Gemeinschaft nur in der konkreten sinnlichen Dimension eines geteilten Wirklichkeitszugangsund einer geteilten Struktur der Anerkennungvon Selbst-Artikulationen verortet,mit einem bestimmtenDenken des Ästhetischen verbindet, das die Erfahrung der Kunst allein auseinem allen Menschen gleich zugänglichen Empfindungsvermögen begründet.Was Robert Burgoynemit Bezugauf Geschichtsfilme im US-amerika- nischenKino der 1980er und 1990erbehauptet,lässt sich aufdas Genrekino im Allgemeinen übertragen: Hinter jeder noch so kommerziellen und populären Erscheinung steht ein Dialog zwischender kritischenNeubetrachtung einerseits und der Erhaltungund Tradierung der zentralen Tropen des Gemeinwesensan- dererseits.Dieser Dialog aktualisiert die fundamentalen Brüche und Machtfragen und artikuliert die grundlegenden Ängste, Ambivalenzen und Hoffnungendieses Gemeinwesens.² Um diese Bedeutung vonGenrepoetik sinnvoll herauszuarbeiten, ist es al- lerdings notwendig, sich jenseits der in weiten Teilen der Filmwissenschaft und des Alltagsgebrauchs gängigen Genrebegriffe zu orientieren, die Genre aufre- produzierte Konventionen und aufProduktionszyklen reduzieren. Als Aus- gangspunkt für diese Kritik berufe ich mich zunächstauf die Thesen Stanley

 Die folgenden Thesen und Überlegungen beruhen maßgeblich aufeiner gemeinschaftlich er- arbeitetendreiteiligenVorlesungsreihe „Genreund Gemeinsinn“ vonHermann Kappelhoff, Mi- chael Lück und mir,die wir ab dem Sommersemester 2013 an der Freien Universität Berlin gehalten haben. Vgl. Hermann Kappelhoff. Genreund Gemeinsinn.Hollywood zwischen Krieg und De- mokratie. Berlin/Boston 2016.  Robert Burgoyne: Film Nation. Hollywood Looks at U.S. History.Minneapolis/London 1997, S.1– 15.

DOI 10.1515/9783110531732-005, ©2017 Matthias Grotkopp, publiziertvon De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziertunter der CreativeCommons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 Lizenz. 184 Vergangenheit: Hollywood-Genrepoetiken

Cavells, um diese dann um eine affektpoetische Komponente aufBasis von Theorienzum Melodrama zu ergänzen. In PursuitsofHappiness lehnt Cavell es explizit ab,Genres dadurch zu defi- nieren, dass man eine Mengeannotwendigenoder hinreichenden Eigenschaften angibt.Ein Genreist kein Objekt mit Eigenschaften, an das manden Film als ein weiteres Objekt mit Eigenschaften wieaneine Schablone hält,umsie zu ver- gleichen und festzustellen, ob sie passen oder nicht.Was er stattdessen vor- schlägt,klingt zunächst nicht sehr verschiedendavon:

The idea is that the members of agenresharethe inheritanceofcertain conditions,proc- edures and subjects and goals of composition, and that in primary art each member of such a genre represents astudyofthese conditions,somethingIthink of as bearingthe responsi- bility of the inheritance.³

In diesemSatz stecken aber zwei entscheidende Aspekte, die ichandieser Stelle nur kurz beleuchten kann. Zunächstmacht Cavell damitdeutlich, dass der Bezug eines Genrefilms aufdas Genre eine inhärente Geschichtlichkeit beinhaltet.Und er führt die Verschiebungein, dass die Verfahren und Themen, die Genrefilme teilen, nicht etwas sind, was sie schlicht ‚haben‘,sondern dass die Filme einesGenres diese Verfahren und Themen zu ihrem Gegenstandselbstmachen. Sie sind Stu- dien ihrer eigenen Bedingungen. AndyWarhols Serienbilder z.B. benutzen den Siebdruck nicht einfach als ein Verfahren der Vervielfältigung,umberühmte Leute wie Marilyn Monroe und Elvis Presley oder industrielle Massenprodukte abzu- bilden, sondern diese Bilder sind Studien über die Fragenach dem Zusammen- hang zwischen Vervielfältigung und Ruhm, Serialität und Publizität. Genre verweist bei Cavell aufeinen Prozess ausBewegungen der Kompen- sation und Negation solcher Bedingungen, in denenjeder Film, jedes ‚Mitglied‘ an den Bedingungendes Genres arbeitet, neue Verfahren hinzufügtoder ersetztund ‚argumentiert‘,dass er trotzdem oder gerade deswegen an diesem Erbe teilhat.Die Filme eines Genres sind sich nichtähnlich, weil sie sich aufdas gleiche ideelle Muster,sondern weil sie sich aufeinanderbeziehen: „Iwould mean not onlythat they look like on another or that one gets similar impressions from them; Iwould mean thatthey are what they are in view of one another.“⁴ Diese Art und Weisedes Zueinandergehörens ist dabei – und in dieser Hin- sicht strengmit dem Geschmacksurteil nach Kant verbunden – durch keinen Begriff und kein Gesetzgeregelt.Esgibt keine Summe vonEigenschaften, keine

 Stanley Cavell: Pursuits of Happiness.The Hollywood ComedyofRemarriage.Cambridge,MA/ London 1981,S.28.  Cavell: Pursuits of Happiness,S.29[Herv.imOrig.]. Genrepoetiken als ästhetische Erfahrungsmodalitäten 185

Grammatik,⁵ die bestimmt,wann welcheFilme zueinander, zu einem Genre ge- zählt werden können, außer der Art und Weise in der die Filme sich selbst ge- genseitig in Perspektive rücken, einem Urteil aussetzen, sich ein Beispiel geben: „a movie comes from other movies“.⁶ Genrefilm zu sein bedeutet,ein Film über die Bedingungen der Zugehörigkeit zu einem Genre zu sein. JederFilm erfindet das Genre, an dem er teilhat, neu. AufBasis dieses Verständnisses soll im Folgenden argumentiert werden, dass es dieser Prozess der gegenseitigen Bezugnahme vonStudien der eigenen Be- dingungenist,der die Inszenierungsweisen der Genrefilme als eine Form greifbar macht,die subjektive,privateErfahrungen in öffentliche konvertiert⁷ und die individuell verkörperteErfahrung mit geteilten Phantasien kurzschließt: „Show- ing us our fantasies, they express the inner agenda of anation thatconceives Utopian longings and commitments for itself.“⁸ Inwiefern es auch und gerade immer wieder um ein Scheitern an diesen Utopien und Selbstverpflichtungen geht,soll hier nun mit Blick aufdas Schuld- gefühl gefragt werden und zwar ausgehend vonzwei Genresdes Hollywoodkinos: dem und dem Kriegsfilm. Beide sind dadurch gekennzeichnet,dass sie voneiner spezifischen Krisensituation des Gemeinwesensnach Innen und nach Außen ausgehen.⁹ Zuvormuss aufBasis dieser theoretischenRahmung das Genrekino weiter ausformuliert werden als ein ästhetischer Erfahrungsmodus, dessenBedingungensich maßgeblich anhand der Gestaltungvon Affekten und Gefühlen bestimmen lassen.

4.1 Genrepoetiken alsästhetische Erfahrungsmodalitäten

Das Denken der Genre- und Gattungspoetiken¹⁰ nimmt seinen Ausgangbei Ari- stoteles, der Poetik als eine Herstellungsozialer Lernprozesse versteht,die auf

 Stanley Cavell:The Politics of Interpretation (Politics as opposed to what?). In: ders.:Themes out of School. Effects and Causes.Chicago/London 1984,S.27–59,hier S. 45: „The moral of ordinary languagephilosophy, and of the practice of art,isthat grammar cannot dictatewhat youmean, what is up to youtosay.“  Cavell: The World Viewed, S. 7.  Ein Prozess,den Cavell mit Emerson „Denken“ nennt.Vgl.Cavell: Cities of Words, S. 29.  Cavell: Pursuits of Happiness,S.18.  Vgl. Burgoyne: Film Nation, S. 8.  Aussystematischer und ausetymologischer Sicht gibt es keine stringenteMöglichkeit,zwi- schen diesen Begriffen zu unterscheiden. Es kannlediglich im Deutschenein verschiedene Ge- genstandsbereiche wertend differenzierender Begriffsgebrauch konstatiert werden, dem ich mich aber nicht anschließe. 186 Vergangenheit: Hollywood-Genrepoetiken vielfältigeArten und Weisen den Menschen als Möglichkeitswesen erschließen und die engmit einer Politik der Gefühle verbunden sind: Mit dem Begriff der Katharsis führt er eines der produktivsten Rätsel in die Geschichte des Denkens der Künste ein. Es verweist unabhängig vonder konkreten Interpretation aufdie zentrale Rolle der Affektmodulation für die verschiedenen Gattungen und Gen- res.¹¹ Auch wenn ich an dieser Stelle nicht die systematischen und historischen Linien vonder Poetik bis in die Gegenwart nachzeichnenkann, so ist der Hinweis hier insofernbesonders relevant,weildie gängigenPositionen zu Film und Genre eher vonder regelpoetischen Interpretation der Poetik durch Horaz und die französische Klassik bestimmtsind.¹² Dort wird die Vorstellungformuliert,dass Gattungen getrennte Entitäten sind, die in einer gegebenen Ordnungdurch feste Regeln für die Entsprechungenzwischenästhetischen Formen und ihren reprä- sentierten Inhalten zu unterscheiden seien.¹³ DieseIdee einer systematisch und historisch gegebenen Gattungsordnung und ihre strikteEinhaltungwird als not- wendigfür die jeweilige eigene kulturelle Geltungpostuliertund so grundlegend für die Regelpoetiken der frühen Neuzeit und für ihren Vorschriften zur ange- messenenHervorbringungvon Werken. Sie ist in der Tatnach wie vorwirksam, wenn die Genres des Hollywoodkinos als Regeln der wechselseitigen Bestim- mungen vonInhalten der Darstellungund medialen Formen und Verfahren be- schriebenwerden.¹⁴ Die konkrete Art und Weise, in der diese Regeln in den Theorienausformuliert wird, folgt allerdings nicht mehr der Vorstellungeiner idealen Form, sondern einer Idee vonPrototypenund vorallen Dingen einerIdee vonCodeübereinkunft in Form vonKonventionen.¹⁵ Unter solchenKonventionen, die das Verhältnis eines Films zu einem Genre regeln sollen, versteht man dann mal mehr oder malwenigereinfache Auflis-

 Aristoteles: Poetik, S. 19.Vgl.Girshausen: Katharsis.  Vgl. hierzu Rick Altman: Film/Genre. London 1999,S.1–12.  Horaz: Ars poetica/DieDichtkunst,Übersetzt und herausgegeben vonEckartSchäfer.Stuttgart 1972 [13 v.u.Z].  Für einen allgemeinen Überblick, mit dem angemessenen Problembewusstsein ausgezeich- net,verweise ich aufdie Arbeiten vonAltmanund Neale: Altman: Film/Genreund SteveNeale: Genreand Hollywood. New York 2000.  Thomas Sobchack: GenreFilm.AClassical Experience[1975]. In: Barry Keith Grant (Hg.):Film GenreReader IV.Austin 2012,S.121–132, hier S. 121. Weitere Vertreter kanonischer Positionen zu Filmgenres als Konventionen sind Andrew Tudor:Genre[1973]. In: Barry Keith Grant (Hg.):Film GenreReader IV.Austin 2012, S. 3–11;EdwardBuscombe: The Idea of Genreinthe American Cinema. In: Grant (Hg.): Film GenreReader IV.Austin 2012,S.12–26;Noël Carroll: Film, Emotion, and Genre. In: Carl Plantinga,GregM.Smith (Hg.): PassionateViews.Film, Cognition, and Emotion.Baltimore1999,S.21–47. Genrepoetiken als ästhetische Erfahrungsmodalitäten 187 tungen vonEigenschaftsbündeln wie Ikonographien, stereotypeFiguren und Handlungselemente.Diese Eigenschaftsbündelschließlich werden als Rahmen- bedingungen für das Erzählen und das Verstehen vonNarrativenbegriffen. Auch hier allerdings gabeseine Verschiebungzwischen den klassischen Regelpoetiken und der Genretheorie des Unterhaltungskinos,denn das Zutreffen der Regel leitet sich nichtmehr ausdem Wahren und Schönen her,sondern es meint ‚nur noch‘ das psychologisch Effiziente oder kommerziell Erfolgreiche – wobei beides im Idealfall miteinander identisch ist.Konventionalität,sodie dahinterstehende Überzeugung, erlaubt es dem Film, schnell und unproblematisch narrative In- formationen zu überbringen. Diese kognitiveVerstehenserleichterungdient der Befriedigunguniverseller Grundbedürfnisse und damit dem kommerziellen Er- folg.¹⁶ Ein Aspekt wird dabei sichtbar, mit dem die Forschungsansätze zu Genre als produktionsökonomischer Kategorie in eine Reihe mitsolchentaxonomischen Ansätzenzustellen sind: Beide betrachten Genre (die einen implizit, die anderen explizit) unter einem Blickwinkel vonÖkonomisierung und präsentieren auf filmanalytische oder kulturhistorische Fragen stets Variationen überdie Relation vonAufwand und Ertragals Antwort. Dabei ist es vorallem das zugrundeliegende Verständnis vonGenre als durch Konventionen geregelt, das hier zu kurz greift: Erstens ist der Begriff der Kon- vention selbstinseiner sozialwissenschaftlichen Prägung ungeeignet,daermit einer Vorstellungvon Erlaubtem und Verbotenem verbunden ist und Kriterien für das Gelingen oder Misslingenunterstellt.Sprich:erprägt den poetischen Pro- zessen normative Zwängeauf. Zweitens birgt dieser Ansatz in sich eine problematische Vorstellung von Geschichte. Diese konstruiert ein transhistorisches, entzeitlichtes Sein¹⁷ und stellt durch die Setzung einer Urform jegliche Tradierung vordie Wahl, sich danach zu formenoder barockeZerfallserscheinungzusein. Dass Genrepoetiken nie auf- hören sich mit jedem Film zu verändern,wird so nicht greifbar und es entsteht eine Genregeschichteohne Geschichte.¹⁸ Drittens schließlich führt das Denken in Konventionen und Regeln ausganz pragmatischer Sicht zu Fragestellungen, die ungeeignet sind, die spezifische Form der Wiederholungvon ästhetischen Strukturen zu beschreiben, die mit Gattungen und Genres gemeint sind.¹⁹ Wenn man davonausgeht,dass ein Set vonRegeln

 Carroll: Film,Emotion,and Genre, S. 125. Vgl. als extremes Beispiel ausdem Bereich der evolutionspsychologisch argumentierenden Filmtheorie: Grodal: Embodied Visions.  Sehr deutlich bei Sobchack: GenreFilm.AClassical Experience, S. 121–122.  Vgl. Altman: Film/Genre, S. 19–22.  Vgl. Altman: Film/Genre, S. 16–17. 188 Vergangenheit: Hollywood-Genrepoetiken existiert,eine Liste vonEigenschaften, die das Zusammengehören vonFilmen zu einem Genre bestimmen, begibt man sich in ein auswegloses Dilemma:

They aredefiningawesternonthe basis of analyzing abodyoffilms that cannot possiblybe said to be westerns until after the analysis. […]Weare caught in acircle that first requires that the films be isolated, for which purpose acriterion is necessary,but the criterion is, in turn, meant to emerge fromthe empiricallyestablished commoncharacteristics of the films.²⁰

Hinter diesenpraktischen und ideologischenProblemen des Konventionen- und Korpus-Denkens der gängigen Genreansätze steht das begriffliche Problem, Genres als Objektemit Eigenschaften zu verstehen, die Regeln unterworfen seien, nach denenFilme als Objektemit korrespondierenden Eigenschaften hergestellt und kategorisiertwürden. Der taxonomische Ansatz kann per se nicht funktio- nieren, weil er keinen Maßstab hat,der begründet,welche Unterscheidung einen Unterschied macht,was überhaupt ein Genremerkmal sein kann und ob eine Eigenschaft nun notwendigoder hinreichend ist,umeinen Film so oder so zu klassifizieren. Dies ist nicht nur ein theoriehistorischesProblem. Auch in aktuellen Veröf- fentlichungenzufilmischen Genres herrscht immer noch – trotzder Lippenbe- kenntnisse, es handele sich um Dynamiken und offene Prozesse – eine Art Zwei- Welten-Theorie:Hier die Welt der Ideen, der Klassen und Begriffe, dort die Welt der Erscheinungen. Und dazwischen das zirkuläreProblem der Inklusion und Ex- klusion, der Taxonomie und Korpusbildung.²¹ Es geht an dieser Stelle darum, das Genrekino aufder Ebene der Immanenz der Dynamik expressiveraudiovisueller Formen und als System der Rekombi- nation und Interaktion solcher Dynamiken zu beschreibenund nicht als Kate- gorisierung aufder Basis vonRegeln und Konventionen. Es soll so greifbar werden als eine Form kultureller Kommunikation und Bedeutungsgenerierung,die über

 Tudor:Genre, S. 5. Der häufig vorgeschlagene Ausweg ausdiesem Dilemma ist in der Regel keiner,denn entweder konstruiert man einen kulturellenKonsens (Tudor:Genre, S. 7: „Genreis what we collectively believeittobe.“)bzw.ein Genrebewusstsein (JörgSchweinitz: Genreund lebendigesGenrebewußtsein. In: Montage/AV3(1994), H. 2, S. 99–118) als analytisch un- durchdringliche black box, die alle theoretischen und analytischen Probleme in sich aufnimmt, oder man zieht sich aufeine bloße Untersuchung institutionalisierter Diskurse in Industrie und Kritik zurück (Neale: Genreand Hollywood, S. 39–43).  Als Beispiel für die anhaltende Dominanz dieses Verständnisses die Beiträgein: Markus Kuhn et al. (Hg.): Filmwissenschaftliche Genreanalyse.Berlin/Boston2013.Symptomatisch für die falsche Alternative zwischen Form- und Diskursanalyse ist MalteHagener:Der Begriff Genre. In: Rainer Rother,Julia Pattis (Hg.): Die Lust am Genre. Verbrechergeschichten ausDeutschland. Berlin 2011,S.11–22. Genrepoetiken als ästhetische Erfahrungsmodalitäten 189 die Gestaltungkörperlicher Empfindungen, über die Modulation vonGefühlszu- ständen operiert.Dafür beziehe ich michauf die einschlägigenArbeiten zum melodramatischen Modus bei Brooks,Gledhill und Kappelhoff,mit deren Hilfe der kulturelle Modus der Welterschließung des Melodramas als eine grundlegende Funktionsweise vonGenrekino verstandenwerden soll. Mit Gledhill verstehe ich dabei „the concept of modality as the sustaining medium in which the genre system operates.“²² Melodrama als Modus ist dabei nicht identisch mit dem women’sfilm oder dem family melodrama,sondern es ist die Form der Sinnstiftung, welche diesen und anderen Genres zugrunde liegt,ein „mode of conception and expression, as acertain system for making sense of experience,asasemantic field of force“²³ oder in anderen Worten ein „culturally conditioned mode of perception and aesthetic articulation.“²⁴ Im Folgendensoll in aller Kürze der Begriff des melodramatischen Modus dargelegt werden und so gezeigt werden, wie er sich in die einzelnen Genremo- dalitäten ausdifferenziert,indenen jeweils unterschiedliche Formen sozialer Er- fahrungen und Konflikte „in visceral, affectiveand morallyexplanatory terms“²⁵ organisiert werden. Für eine engere Beschreibungdes melodramatischen Modus kann man zunächst vonBrooks’ Definition als dem „mode of excess“ ausgehen: „the postulation of asignified in excess of the possibilities of the signifier,which in turn produces an excessive signifiermaking large but unsubstantiable claims on meaning.“²⁶ Die melodramatische Erzählungbegnügt sich nicht damit,die banalen Oberflächen der Wirklichkeit zu beschreiben und die Dingeaufzuzeichnen‚ wiesie sind, wiederzugeben was passiert,was gesagt wird und was für Gesten gemacht werden. Die Dinge, Sprechakteund Gesten werden ‚unter Druck gesetzt‘ damit sie eine unbegrenzteund unbestimmte, emotionale, moralische Bedeutung preis- geben.²⁷ Während Brooks dies zunächst aufden Roman bezogen als eine suk- zessive Dramatisierung des Leseprozesses darstellt,sowird dieser Modus mit Bezugauf das Bühnenmelodram und aufaudiovisuelle Formen verstehbar als eine Dramatisierung des verkörperten Wahrnehmungsprozesses in der Zeit seiner

 Christine Gledhill: RethinkingGenre. In: ChristineGledhill, Linda Williams (Hg.):Reinventing Film Studies.London 2000,S.221–243, hier S. 227.  Peter Brooks:The Melodramatic Imagination. Balzac, Henry James,Melodrama, and the Mode of Excess. New Haven/London 1995[1976], S. xvii.  Gledhill: RethinkingGenre, S. 227.  Gledhill: RethinkingGenre, S. 229.  Brooks:The Melodramatic Imagination, S. 199.  Brooks:The Melodramatic Imagination, S. 1. 190 Vergangenheit: Hollywood-Genrepoetiken

Entfaltung.²⁸ Der Zuschauer erfährtdie Welt als einenaffektivenProzess, in dem die Oberflächen der alltäglichen Wirklichkeit sich als Artikulationen einer von ethischen Kräften durchwirkten Dimension offenbaren. Die Erscheinungen verwandeln sich in spektakuläreInteraktionen und Be- ziehungen zwischen Figuren und Objekten. Weniger die ‚Tiefe‘ der Bedeutungen spielt dabei eine Rolle als vielmehr die Tatsache, dass die Zuschauer quaSpektakel und affektiverBetroffenheit mit einer Welt moralischer Konflikte in unmittelbaren Kontakt treten.²⁹ Der Begriff des „moral occult“,³⁰ den Brooks dafür einführt,ist nicht un- problematisch, da er zunächst eine bloße Verfallserscheinung der sakralen Ord- nung impliziert.Aber streng genommenbedeutet er nicht mehr und nicht weniger als das Drama einer Okkultisierung,d.h.die Verborgenheitdes Moralischen als etwas Unsinnlichem in der sinnlichen Wirklichkeit.D.h.ermeint die prekäre Wahrnehmbarkeit des Gutenund des Schlechten. In diesem Sinne lässt sich der melodramatische Modus als eine kulturelle Praxis begreifen, die ein fundamen- tales Problem der alltäglichen Erfahrungbearbeitet. Nämlich die Frage, wie ich den Anspruch der Moral erkennen und moralischeProbleme artikulieren kann. Wieidentifiziere ich ethische Imperative?Und die Antwort dieses Erfahrungs- modus ist: Indem ich Moral und Gefühl unmittelbar verknüpfe, indem ichsoziale und moralischeKonflikte affektivbewerte und im Prozess der Entfaltungder Konflikte die Gefühle des Mitleids und der Bewunderung,der Angst,des Ekels und der Empörung oder der Scham und der Schuld evoziere. Es geht eben nicht nur um moralische Dilemmata als Gedankenexperimente, sondern um die Schwierigkeit der Moral, sich erkennbar zu machen, das Gute, Unschuldige und Tugendhafte zu zeigen: „making the world morallylegible“.³¹ Zentraler Gradmesser der Sichtbarkeit der Tugend ist dabei die Leidensfä- higkeit des individuellen, physische und seelische Schmerzen durchleidenden Körpers. Der melodramatische Modus befragt Strukturen des Miteinander,Formen des Sozialen im Zeichen ihrer radikalen Kontingenz daraufhin, ob und wie sie Leiden verursachen: „The realm of melodrama is not aworld inhabited by things whose essence threatens to escape us; it is aworld in which ideas inflict suffe- ring.“³² Damit ist einerseits der melodramatische Modus als allgemeine Konstante

 Kappelhoff: Matrix der Gefühle, S. 16–20.  Brooks:The Melodramatic Imagination. Vgl. Gledhill: RethinkingGenre, S. 232–234und Augustin Zarzosa: Melodrama and the Modes of the World. In: Discourse 32 (2010), H. 2, S. 236– 255, hier S. 239.  Brooks:The Melodramatic Imagination, S. 5.  Brooks:The Melodramatic Imagination, S. 42.  Zarzosa: Melodrama and the Modes of the World, S. 242–243. Genrepoetiken als ästhetische Erfahrungsmodalitäten 191 unter den Strategien der Dramatisierungvon Erfahrung benannt und andererseits die historische Emergenz einer bestimmten Erscheinungsform vonMelodrama als dominanter Form kultureller Sinnstiftung, mit der sich die Kultur der westlichen Moderne als eine Weltwahrnehmung zeigt,die ethische und moralische Impe- rative ausnichts anderem mehr als ausdiesem Leiden herleiten kann:

The origins of melodrama can be accuratelylocated within the contextofthe FrenchRe- volution and its aftermath. This is the epistemological moment which it illustrates and to which it contributes […]. It comes intobeinginaworld where the traditional imperativesof truth and ethics have been violentlythrown intoquestion, yetwhere the promulgation of truth and ethics,their instauration as away of life, is of immediate, daily, political concern.³³

Der melodramatische Modus selbstbzw.das Auftreten bestimmter melodrama- tischer Formen kann dementsprechendals ein historisches Ereignis gesehen werden.³⁴ Denn was ihn und andere Modiauszeichnet,ist das Potential, in his- torischen Konstellationen spezifische ästhetische Erfahrungsmodalitätenund Verzweigungen vonPoetiken auszubilden und zugleich die historischen Kon- stellationen in ihren Differenzen und Wiederholungen aufeinander beziehbar zu machen. Deswegen sind die Gefühle in den melodramatischen Genres nicht die Gefühle der Individualpsychologie, sondern es sind künstliche, ästhetische Gefühle als historisch emergente Weltverhältnisse und Formen der Sinnstiftung,die es ohne die konkreten Formen und ästhetischen Operationen in ihren spezifischen his- torischen Konstellationen gar nicht gäbe: Ohne den sentimentalen Roman, ohne die Gothic Novel, ohne das Familienmelodram und den Actionstreifen gibt es das, was wir dadurch jeweils an komplexen Prozessformen zu Fühlenbekommen, gar nicht. Unabhängigvon Fragen des konkreten, einzelnenGehalts geht es bei dem melodramatischen Modus um eine Art und Weise der Erfahrung,für die man ein Primatder Gestaltung eines affektivenErlebensdurch dynamische Rhythmisie- rung und Oberflächenstrukturen behaupten kann. Sie appellieren an die Zu- schauer,moralische Entitäten und soziale Ideen am eigenen Leib als affektive Verstrebungenzurealisieren – sie sind insofern radikalsäkular,historisch und geschlichtlich verfasst und stellen spezifische soziohistorische Schauplätze der Untersuchung menschlicherLeidensfähigkeit her.³⁵ Laut Gledhill kann es gar

 Brooks:The Melodramatic Imagination, S. 14– 15.  Vgl. Stanley Cavell: ContestingTears. The HollywoodMelodrama of the Unknown Woman. Chicago/London 1996,S.42.  Gledhill: RethinkingGenre, S. 228–234. Für Gledhill ist an dieser Stelle auch entscheidend, dass damit im neunzehnteJahrhundertdie klassenspezifischen Formen proletarischer und 192 Vergangenheit: Hollywood-Genrepoetiken nicht das eine singuläre Genre des „Melodrams“ geben, weil dieser Modus per se Grenzen verwischt und dabei andere Modiund Registerkultureller Produktion in sich aufnimmt.Die Realisierung sozialer und moralischer Konfliktfelder als af- fektive Verstrebungenbezeichnet dann auch die Ebene, aufder sich Differen- zierungen und Verbindungender einzelnen Genres als komplexeAusfächerungen des melodramatischen Modus als kulturellem System beschreiben ließen:

Thus action and sentiment,pathos and spectacle,presumed todaytoappeal to differently gendered audiences, aredrawn intoacompositeaestheticand dramatic modality,capable of different emphases and generic offshoots.³⁶

Die Unterscheidung zwischen einzelnenGenres verläuft demnach nichtzwischen verschiedenen Ikonographien, Stereotypen und Korpora, sondern zwischen ver- schiedenengrundlegenden Bildformen und Zeitstrukturen.³⁷ In diesem Sinne sind nicht nur die Genremodalitäten des melodramatischen Modus,sondern auch die anderen Modi ästhetischer Erfahrung, wie insbesondere der komische oder der tragische Modus, „different versions of reality“,³⁸ die sich durch je andere Strukturen und Effekte auszeichnen und dabei sowohl diachron als auch synchron zueinanderimVerhältnis stehen. Genres sind verschiedene Formen ein Wahrnehmen, Fühlen und Denken in leiblich-materiellen Prozessenzugenerieren und so alltägliche, historische, so- ziale, politische, geschlechtliche usw.Beziehungen und Konflikte zu gestalten. Sie tun dies durch die Erzeugung verschiedener komplexer Raum- und Zeitstrukturen, die als Modulierungen und Dramatisierungen des Rezeptionsprozesses zu ver- stehen sind.Und diese perzeptivenStrukturen der „narrative and physical rhythms“³⁹ bezeichnendie Ebene, aufder sich so etwas wie Genrehybridisierung erst als sinnvolles Konzept filmanalytisch und kulturwissenschaftlich begreifen lässt,denn letzten Endesbeschränkt sich kein Genrefilm aufeineneinzelnen Ausdrucksmodus,sondern gestaltet seine Affektdramaturgie immer schon durch

bourgeoiser Unterhaltung miteinander kurzgeschlossen wurden und so etwas wie ein modernes Massenpublikum entstand.  Gledhill: RethinkingGenre, S. 230.  Ein exemplarischer Versuch, eine solche Form der Unterscheidung zu systematisieren, ist Linda Williams’ Begriff der bodygenres (Linda Williams:FilmBodies.Gender,Genre, and Excess [1991]. In: Barry Keith Grant (Hg.): Film GenreReader IV.Austin 2012,S.159 – 177).  Brooks:The Melodramatic Imagination, S. 203.  Cavell: The World Viewed, S. 31. Genrepoetik undSchuldgefühle 193 die Interaktion verschiedener Modi und Affektdynamiken und konstruiert so Fluchtlinien im historischen Raum der Genre- und Gattungspoetiken.⁴⁰

4.2 Genrepoetik undSchuldgefühle

Welche Verbindungenbestehen nun zwischen den affektivenDynamiken, den Zeitstrukturen der einzelnenGenremodalitäten des melodramatischen Modus und dem Schuldgefühl als einer bestimmten Verlaufsgestalt und leiblichen Dynamik? Einerseits kann manzeigen, dass für bestimmte Formen des Thrillers und der Suspense die Destabilisierungmoralischer Perspektiveneine Option für das Spiel mit der Balance zwischen Kontrolle und Kontrollverlust darstellt. Hier wären die Zeitstrukturen des Schuldgefühls Grundelement der Genrepoetik, besonders deutlich eventuell in jenen aktuelleren Varianten, die unter der Bezeichnung mindgame gefasst werden, wieMemento (USA 2000,Christopher Nolan) oder Shutter Island (USA 2010,Martin Scorsese). Diese operieren dezidiert mitder Revision der moralischen Perspektivenübereine ständigeRevision der zeitlich- epistemischen Zusammenhänge. Andererseits lässt sich behaupten, dass Schuldgefühle in allen Genrefilmeneine mögliche aber nichtunbedingt für ihre Bedingungen konstitutive Rolle spielen, sondern eine affektive Modalität der Studie dieser Bedingungendarstellen. In anderen Worten: Sie sind dort Teil der Affektpoetik einesFilms,woder Prozessder Kompensation und Negation der „procedures and subjects and goals of composition“⁴¹ sich in Form einer moralisch wertenden Revision vollzieht. Die Leidenserfahrungen, die im melodramatischen Modus inszeniert werden, meinen nichtbloß in der jeweiligenGesellschaft vorfindbare Interessenskolli- sionen und Probleme, sondern sind als moralischeund vorallem als politische Konflikte konstitutiv. Sie betreffen ganz unmittelbar Fragen der Gewaltausübung in der Entstehung und Aufrechterhaltung der Gemeinschaft,der intimen Ver- bindungvon Terror und Zivilisation, der Labilität vonzivilen Ordnungen und ihre Bedrohung durch innere Machtkonflikteund Gewalt,sie betreffen die unauf- hörlichen Prozesse vonEin- und Ausschließungen, vonHaben und Nicht-Haben, vonSollen und Begehren. Die affektivenDynamiken solcher Fundamentalkon- flikte sind dort relevant,woeskeine Möglichkeit gibt,sie durch einen Appell an eine höhere Ebene aufzulösen und wo es tatsächlichnicht mehr um die Lösung

 Vgl. Matthias Grotkopp und Hermann Kappelhoff: Film Genreand Modality. The Incestuous NatureofGenreExemplified by the WarFilm. In: Sébastien Lefait,Philippe Ortoli (Hg.): In Praise of Cinematic Bastardy.Newcastle upon Tyne 2012,S.29–39.  Cavell: Pursuits of Happiness,S.28. 194 Vergangenheit: Hollywood-Genrepoetiken des praktischenKonflikts geht,sondern um den Protest der Leidenserfahrung als einzig möglichem aber immer nur vorläufigem Beweis moralischer und ethischer Imperative. Eine solche affektpolitische Fassung des Verhältnisses vonGenrepoetiken und gesellschaftlichenSollbruchstellen stelltsich dezidiertaußerhalb einer Tra- ditionslinie, die sie entlang einer Dichotomie von ‚rituellen‘ und ‚ideologischen‘ Funktionsweisen beurteilt.⁴² Es geht mir an dieser Stelle nicht darum zu klären, ob die Dramatisierung und Moralisierung ‚gesellschaftlicher Widersprüche‘ im Genrekino die realen Bedürfnisse der Zuschauer manipulativausnutzt und ver- hindert,dass diese sich den Problemen im wahren Leben widmen können und dass die Filme damit im Interesse derer agieren würden, die vondiesen Wider- sprüchen profitieren.⁴³ Es ist aber auch nicht meine Absicht,aus einer naiven Position herausGenrefilme als freien und phantasievollen Selbstausdruckeiner Kultur zu feiern, in denen das Publikum seine Ideen und Wertewidergespiegelt sieht.⁴⁴ Die Konflikte,Widersprüche und Probleme, die hier reflektiert werden, sehen sich nicht in die eine oder andere Richtungaufgelöst,sondern sie werden jeweils als ungelöstund konstitutivfür jegliche politische Gemeinschaft verfügbar ge- macht.Indiesem Sinne sind Ausdrucksmodi und Genremodalitäten die Register, in denen sich das Gemeinwesen aufsich selbstbezieht: „society talking to it- self“.⁴⁵ Dass die Bedingungen und Ausdrucksmodi aufeiner grundsätzlicheren Ebene, als der vorfindlicher sozialer Konflikte zu betrachten sind, ist nicht zuletzt durch ihre spezifische Herstellungvon Geschichtlichkeit und Erbe zu begründen. Die Bedeutung generierenden Strukturen der Genres sind immer schon Wieder- holungenund vorläufigeRe-Konstruktionen, die sich in der größeren Sinneinheit des Genresystems zueinander verhalten. Sie konstruieren Geschichtlichkeit,in- dem sie sich als gegenwärtigeWeltentwürfe immer auch aufandere Entwürfe in einem kontinuierlichen Prozess der Kompensation und Negation vonAus-

 Vgl. Altman: Film/Genre, S. 26–28 und Neale: Genreand Hollywood, S. 220 –230.  Vgl. als extreme Variante: Judith Hess-Wright: GenreFilms and the Status Quo [1974]. In: Barry Keith Grant (Hg.): Film GenreReader IV.Austin 2012,S.60–68.  Vgl. u.a. John G. Cawelti: Adventure, Mystery,and Romance. Formula Stories as Art and Po- pular Culture. Chicago 1976.  Gledhill: RethinkingGenre, S. 238. Nach Gledhill artikulieren Modi soziale als ästhetische Fragen und umgekehrt und betreiben einen fortwährenden Austausch zwischen kulturellen Konflikten und fiktionalen Welten. Ich meine allerdings, dass die konstruierten fiktionalen Welten nicht bloß die Felder vorfindlicher sozialer Grenzziehungwiderspiegeln und darausdann af- fektive Erfahrungen und moralische Einstellungen in Bezugauf diese konkretistisch gedachten Grenzziehungenliefern. Genrepoetik undSchuldgefühle 195 drucksformen beziehen und so Fluchtlinien einer geteilten Geschichte herstellen. Und diese Geschichte, so letztlich meine These,lässt sich unter anderem als ein Gefühl fassen, das die Bindungandie Gewaltzusammenhängeund Konflikte sowie vorallem ausden unerfüllten Hoffnungenund Verprechen,aus deneneine politische Gemeinschaft hervorgegangenist und welche sie nach Außen und nach Innen kennzeichnen, als ein Schuldgefühl erfahrbarmacht:

Even within the area of mass culture, therealwaysexist acurrent of opposition,seekingto express by whatever means areavailable to it that sense of desperation and inevitable failure which optimism itself helps to create.⁴⁶

Genres haben sich im historischen Werden als die unterschiedlichen Formen kristallisiert,indenen Filme sich als ästhetische Formen aufeinander beziehen. Sie entwerfen die Wahrnehmungswelt eines historisch situierten Gemeinwesens so, dass dieses für sich selbstanschaulichwird. Sie konstituieren einen kom- plexen Prozessder Bildung, Konsolidierung und Erweiterung vonZugehörig- keitsgefühlen, der sich aufkeinerlei absoluten Begriff oder absoluten Ursprung mehr beziehen kann. Im Sinne Rortys⁴⁷ ist dieserProzess nur als die radikale Kontingenz jeglicher politischer Gemeinschaft zu begreifen und realisiert sich nie anders denn in der Gestaltung individueller Erfahrungen in historisch entstan- denen,veränderbaren Gegenwarten. Die Art und Weise in der die Gesellschaft alsoinden Genremodalitäten zu sich selbst spricht,ist die einerModulation eines ganzheitlichen Gefühls zur Welt eines miteinander geteilten Selbst-und Weltverhältnisses.D.h.die Genremodalitäten sind Teil einer historisch kontingenten politischen Wirklichkeit,deren innere und äußere Gewaltzusammenhängesie artikulieren und somit die Möglichkeiten an- derer Formen des Zusammenlebens formulieren. Genres betreiben in ihrer je- weiligenBezüglichkeit aufund Rekombination vonAusdrucksmodalitäten eine Hervorbringungdes gesellschaftlichenZusammenhalts als Erfahrungsmodus: Sei es der Gangsterfilm als Revision des Glücksversprechens im Zeichen der Urba- nität,⁴⁸ sei es der Science-Fiction-Film als technikgeschichtliche Übertragung der Gewissheit individueller Sterblichkeit aufdie Nation und die Gattung Mensch,⁴⁹

 Robert Warshow:The Gangster as Tragic Hero [1948]. In: ders.: The ImmediateExperience. Movies,Comics,Theatreand other Aspects of Popular Culture. Cambridge,MA/London 2001, S. 97– 103,hier S. 98–99.  Vgl. Rorty:Kontingenz, Ironie und Solidarität.  Warshow:The Gangster as Tragic Hero.  Susan Sontag: The Imagination of Disaster.In: dies.:Against Interpretation and Other Essays. New York 1966,S.209–225. 196 Vergangenheit: Hollywood-Genrepoetiken oder sei es die Erfahrung der Geschichtlichkeit der Geschlechterverhältnisse im Familienmelodram und in der comedy of remarriage.⁵⁰ Das Schuldgefühlwäre in dieser Sichtweise nicht der Zusatz, der zu dem bestehenden Gefühlsregister eines Genres hinzugefügt würde, sondern die af- fektive WirkungeinerReperspektivierung,einesNeufühlens: Es sind die in den expressivenFormen materialisierte gemeinsameVergangenheit,Gegenwart und Zukunft,die jetzt als schuldbeladen empfunden werden. Es ist das vonindivi- duellen Zuschauern geteilte Gefühl der Zugehörigkeit,das jetzt als ein schlechtes Gewissen moduliert wird. Genrepoetik macht genausolche Veränderungen der affektivenBezüge begreifbar als Verschiebungenund Kontinuitäten in den Er- fahrungsmodi des Gemeinwesens. Besonders deutlich wird dieses Verhältnis sicherlichinden zwei Genres,die im Folgendenexemplarisch analysiert werden sollen:

In ihrem jeweiligen Bezugauf Mythos und Geschichtehandeln der Western und der Kriegsfilm vonGeburtund Wiedergeburt der Nation in der Überwindung vonUnrechtund Gewalt.⁵¹

Die melodramatischen Inszenierungsformen im Western und Kriegsfilm, um die es im Folgendengehen soll, lassen sich in diesem Sinne verstehen als Neuvertei- lungenvon affektivenund moralischen Einstellungenangesichts der gesell- schaftlichen Umbrüche in den USAder 1960er Jahre und um Reperspektivierungen eines Geschichtssinns angesichts der Erfahrungen des Vietnamkrieges. Die beiden Beispiele – Little Big Man vonArthur Penn, der u. a. mitBonnie and Clyde (USA 1967) zu einem Protagonisten des New Hollywood zählt und Casualties of War vonBrian De Palma,dessen ganzes Schaffen oft unter dem zweifelhaften Vorwurf des Epigonentums betrachtet wird – sind dabei keine Filme ausdem Bereich, den man historisch und poetologisch als klassisches Hollywood bezeichnet.Sie wurden ausgewählt,weilinihnen der Prozessder Umwertungder Normen und Phantasien in den Formen, aufdie sie sich explizit beziehen, besonders deutliches und zentrales Movens ihrer Inszenierungsstrategien ist – ein Prozess der dezidiert nicht mit ‚postmoderner Selbstreflexivität‘ zu verwechseln ist. Die Gewalt der Prozesse vonAusgrenzungund Grausamkeit gegenden An- deren in der eigenen Vergangenheit – nichtnur als historischer Fakt,sondern als Bewegungsgesetz der Imagination der Gemeinschaft in den Genrepoetiken, des- wegen lassen die Beispiele den Vietnamkrieg als ihre Referenz weit hinter sich – wird als Schuldgefühl transponiert in ein Gefühl der neuen Solidarität oder der

 Cavell: Pursuits of Happiness und Cavell: Contesting Tears.  Kappelhoff: Der Krieg im Spiegel des Genrekinos, S. 193. Genrepoetik undSchuldgefühle 197 neuen moralischen Identität.AlteVorstellungenund Ausdrucksformenvon Ge- schichte und Nation werden so inszeniert,dass sie als Leid bringend und im Widerspruch zum Selbstentwurfder Gemeinschaft erfahren und so verworfen werden. Mit Robert Burgoynelässt sich eine solche Neuverteilungder moralischen Identität im Register des Schuldgefühls beschreiben als eine Erfahrung innerer Nicht-Identität,d.h.einerIdentität,die sich weder auseiner abstrakten Idee noch auseinem ethnischen Ursprung generiert,sondern ausder Reibungsenergie ein- und ausgrenzender Beziehungen und den darausentstehenden Gefühlen:

Social identity,asconceivedinthese films,originatesneither from „above“,inalignment with the nation-state, nor frombelow,with ethnicity or race,but rather from „across“, through horizontal relations whose antagonistic and transitive character is best represented in termsof„inside“ and outside“.[…]identity is constructed in relations of opposition and, occasionally, imitation „from across“.⁵²

Das Hineinholen eines ‚Außen‘ durch die Realisierung eines schlechten Gewissens und des damit verbundenen Scheiterns vonSolidarität ist daher zugleich Kritik und Neubelebung eines Versprechens aufeben diese Solidarität einer politischen Gemeinschaft.Geradesolche Gefühle der Schuld und der inneren Nicht-Identität verweisen damit darauf, inwiefern sich die Geschichte und die Gemeinschaft von metaphysischen oder totalitären Zusammenhängen emanzipiert haben und sich nunmehr qua Genrepoetik als Erfahrungimmer wieder generieren. Die Gefühle der Schuld,der Scham und des Zorns sowie des Stolzes und der Bewunderung in den Ausdrucksmodalitäten der Genres bezeichnen diejenigen Bruchstellen und Konfliktlinien, die sich einstellen, wenn sich die Gemeinschaft als sich verändernd wahrnimmt und sich die Register der Wahrnehmung,der Gefühle und der Expressivität selbstverändern und Gegenstand der Modulation durch ästhetische Prozesse werden. Es ist also nicht nur eine veränderte Be- schreibung(Rorty) oder ein verändertes Narrativ(Burgoyne), das entsteht,wenn in den entscheidendenMomenten und Neufigurationen der Geschichte die Grenz- bereiche ins Zentrum der Gemeinschaft⁵³ gerückt werden, sondern tatsächlichein verändertes Gefüge der Erfahrungsmodiund der Gefühle für die geteilte Welt. Deswegen geht es nicht alleinumdas Schuldgefühl für dieses oder jenes historische Ereignis während der Eroberung des Westens oder in den Kriegen der amerikanischen Nation. Sondern diese sind der Bezugspunkt,die Quelle für ein verändertes Gefühl für die Gemeinschaft,ein Gefühl für die Geschichte einer

 Burgoyne: Film Nation, S. 3.  Burgoyne: Film Nation, S. 12. 198 Vergangenheit: Hollywood-Genrepoetiken verlorenen Unschuld. Wassich im Folgendenwird zeigen müssen ist,wie sich Filme durch Refigurationen der Genrepoetiken des Westerns und des Kriegsfilms aufVerschiebungen in der Affektökonomie der Gemeinschaft beziehen und diese Verschiebungen als ästhetische Erfahrungsformen gestalten. Es gilt,die Filme als poetischesKalkül zu analysieren, das im veränderten Bezugauf eine geteilte Vergangenheit zugleich aufeinen veränderten Modus politischer Legitimation in der Gegenwart zielt:

Political legitimation depends just as much on collective memory as it ever has,but this collective memory is now often one disgusted with itself, amatter of „learningthe lessons“ of history morethan of fulfillingits promise or remainingfaithful to its legacy.⁵⁴

4.3 LITTLE BIG MAN:Die Dysfunktionalitätdes Western

Wiekaumein anderes Genredes Hollywoodkinos ist der Western miteiner be- stimmtenIdee von ‚promise‘ verbunden. Sie besteht in der einfachstenFormu- lierung darin, dass man sich mit der Landschaft,mit der wilderness identifiziert und sie voneinerdynamischen frontier der Kultivierung und Ordnungsstiftung durchziehen lässt.Der klassische Western, jedoch nicht die Geschichte, die er begründen will, endet,bevor dieser Prozess die wilderness als Freiheitsverspre- chen und Objekt der Begierde zerstört haben wird. Ein Charakteristikum dieser dynamischen Bewegung ist die Behauptung einer Notwendigkeit vonGewalt im Moment der Begründung der Ordnungund einer gleichzeitigenNotwendigkeit der Verschleierung oder Rechtfertigung dieser Rolle der Gewalt.⁵⁵ Das Verhältnis vonnotwendigerGewalt und notwendigerVerschleierung der Gewalt gilt dabei sowohl für die inneren als auch für die äußeren Beziehungender weißen Gesellschaft. Nach innen besteht das Dilemma der Revolverhelden in Shane (USA 1953, George Stevens) oder The Man whoshot Liberty Valence (USA 1962, John Ford) darin, dass mit offener physischer Gewalt zwar das pure Naturgesetz des Recht des Stärkeren aufzuhalten aber nichtder Frieden einer Gemeinschaft zu stiftenist:

Power mayprevent chaos,but it is impotent to establish the order of community;power- lessness mayattract destruction, but acceptingthe limitation of one’sindividual power can

 Olick: The Politics of Regret,S.122.  Cavell: The Incessanceand the Absenceofthe Political, S. 310.Vgl. Cawelti: The Six Gun Mystique. BowlingGreen 1971,S.14und Slotkin: Nation, passim. LITTLE BIG MAN: Die Dysfunktionalität des Western 199

attract higher power to one’said. And astern moral is drawn: justice,to be done, must be seen to be done; but justice, to be established, must not be seen to be established.⁵⁶

Nach außen wiederum überschreibtder Mythos vonder „regeneration through violence“⁵⁷ den Prozess der VerdrängungAnderer,sprich der indigenen Bevöl- kerung, als eine Nebenwirkungder unvermeidbaren Bewegungsdynamik und permanenten Transformation, die ‚Amerika‘ bedeutet.Insofern ist der Western

the elaboration of the communal fantasy of the bringingoflaw to aland, havingtoserveat the same time as the veiling of the fact that the land was not previouslyvoid of human order, but that the new bringers or supplicants of lawhavevoided that order.⁵⁸

Zentral für die Affektdynamiken des Westerngenres ist letzten Endesdie grund- legende Transitorität als eine seiner Bedingungen, wie sie im einemder be- rühmtesten Vertreter im Strukturelement der Postkutsche verkörpert und studiert wird: DieGemeinschaft der PassagiereinStagecoach (USA 1939,John Ford) konstituiert sich in der Bewegungund in der begrenzten Räumlichkeit im Kontrast zur Weite der Landschaft und löst sich immer auf, stratifiziert sich umgehend, wenn die Kutsche irgendwoankommt und anhält.⁵⁹ Der Start-und Endpunkt der Reise ist identisch, was zählt,ist lediglich die Möglichkeit,wieder aufbrechen zu können. Die Affektregister des Genresspeisen sich aussolchen Momenten des Zwi- schenzeitlichen, der kontingenten Loyalitäten, der Freundschafts-und Bin- dungsgefühle sowie der melodramatischen Leidenserfahrungen und der Rechts- und Unrechtsempfindungen. Dazu kommen die Register der Inszenierung von Gewalt,die einerseits den Schrecken und die Ohnmacht – das Pathos der Schwächeren – und andererseits den Thrill und die Action umfassen. Mit diesen Dynamiken und Mustern gestaltet der Western ein affektivesBild der Geschichte – nicht als eine glorifizierende und verfälschende Erzählungvon einer gemeinsa- men Vergangenheit, sondern als eine Vorstellungvon denjenigen Kräften, Zeit- lichkeiten und Prozessformen, die Geschichte und Identitätüberhaupt erst pro- duzieren. Aufden ersten Blick scheint die frontier,als das dominante Deutungsschema einer impliziten „theory of cause-and-effect and therefore atheory of history“,⁶⁰ in

 Cavell: The World Viewed, S. 58.  Slotkin: Gunfighter Nation,S.10–12.  Cavell: The Incessanceand the Absenceofthe Political, S. 310.  Slotkin: Gunfighter Nation,S.309–311.  Slotkin: Gunfighter Nation,S.6. 200 Vergangenheit: Hollywood-Genrepoetiken sich kohärent und in seiner ideologischen Funktion eindeutig. Sie beschreibt in der Formulierungvon Slotkin einen Prozess der Geschichtswerdungdurch äußere, physische Expansion aufBasis einer vorhergehenden Trennungund einer an- schließenden Wiederherstellung:

The Myth representedthe redemption of American spirit or fortune as something to be achieved by playingthroughascenario of separation, temporary regression to amorepri- mitive or „natural“ stateand regeneration through violence.⁶¹

Der entscheidende Punkt ist nun, dass die Konfliktlinien und Sollbruchstellen von diesem Mythos nicht vollständig harmonisch aufgelöst werden, dass er in sich vielgestaltigund in ständiger Revision befindlich ist.Dies liegt vorallen Dingen daran, dass dasZusammenspiel zwischen einerfundamentalen Transitivität und einer Vorstellung „of aworld divided by significant and signifyingborders“⁶² zwangsläufig in eine beständigeAmbivalenz widersprüchlicher Zuschreibungen und Bewegungsdynamiken mündet,die immer zugleich den TraumeinesBruchs mit dem Vergangenen und die expansiveKontinuität der Zivilisation behauptet.⁶³ Damit werden diese Grenzziehungen und die ihnen zugrundeliegenden Gewalt- akte und Gewaltzustände einerseits für eine Vielzahl vonAus- und Einschlie- ßungsmechanismen verfügbar – die Wildnis und die Zivilisation, der Osten und der Westen, monopolistisches big business und fortschrittlich-demokratische Kleinsiedler und Kleinunternehmer,Stadt und Land, Kulturen der Gewalt und der christlichen Nächstenliebe etc.⁶⁴ Anderseits sind genaudiese Mechanismen nicht homogen, sondern geraten immer wieder miteinander in Konfliktund machen so die fundamentalen Operationen vongewaltsamer Grenzziehungenund Grenz- überschreitungen und das vonihnen hervorgebrachten Leid und die Schuld sichtbar. Das Problem der Gewalt als Katalysator einer (Wieder‐)Herstellungder Gemeinschaft ist dasaller Katalysatoren: Sie werden in den Reaktionen, die sie verursachen, einfach nichtverbraucht. Die innere Vielgestaltigkeit des frontier-Mythos zeigt sich etwa bei Cawelti, der vier grundlegende Traditionendes Westen unterscheidet,die untereinander in Widerstreit sind und so den Stoff für melodramatische Konflikte und Umvertei- lungenvon Werten liefern.⁶⁵ Sie sindzugleich einander ergänzende Rechtferti-

 Slotkin: Gunfighter Nation,S.12[Herv.imOrig.].  Slotkin: Gunfighter Nation,S.351.  John G. Cawelti: The Frontier and the Native American. In: Joshua C. Taylor:America as Art. Washington D. C. 1976,S.135–183, hier S. 141.  Slotkin: Gunfighter Nation,S.351.  Cawelti: The Frontier and the Native American. LITTLE BIG MAN: Die Dysfunktionalität des Western 201 gungsschema für die Ausbeutung, Vertreibungund Ausrottungder Ureinwohner Nordamerikas. Diese gewaltsame Verdrängungstelltnun eine Facettedar,auf die ich mich im Folgenden besonders konzentrieren möchte, da sie die plakativste und fundamentalste Form der gewaltsamen Ein- und Ausschließungen des Wes- terngenres darstellt: das Verhältnis der frontier zu den Native Americans. Dabei solltevon Anfang an klar sein,dass es an keiner Stelle um die Repräsentation oder Misrepräsentation der Native Americans in den Indianern des Westerngenres ge- hen soll.⁶⁶ Auch wenn es legitim seinmag,eine angemessene und objektive Darstellungals wünschenswerten, moralischen und ästhetischen Maßstab zu formulieren, so ist doch evident,dass das Studium des Westerns „will reveal little about Native American people of the past or present,but alot about the evolution of the whiteAmerican attitudes and values“.⁶⁷ So ist der Westen immer zugleich der Ort,anden die Zivilisation der Ostküste noch nicht ganz hinreicht und der Ort,andem sich eine ganz andere, religiös erneuerteForm der Gemeinschaft einstellen wird. Während dem einen die Ur- einwohner nur als Ärgernis und Hindernis des Fortschritts sind, sind sie dem anderen ein zugleich faszinierendes und bedrohliches Gegenüber.Der Westen ist aber auch für das Individuum die Möglichkeit sich gegenüber der Gesellschaft völlig neu zu verwirklichen – sei es durch ein neuesVerhältnis zur Natur,sei es durch dasVersprechen plötzlichenunermesslichen Reichtums. Für die frontier als Ort der Selbstfindungist der Indianer nicht nur „positive symbolfor whatever naturalvirtueswerebeing projected onto the frontier“,⁶⁸ sondern er wird zugleich mit einer höheren Einsicht ausgestattet, die eine Einsicht in die Unausweichlichkeit des eigenen Verschwindensgleich mit beinhaltet. Gleichzeitig kann seine gewaltsame Verdrängungauf ein bloßes Begleitphänomen reduziert werden, das immer nur den wenigenangelastet werden kann, die den Wunsch nach Vermögen zu rücksichtlos und gierig verfolgen. Damit gewinnt er als Opfer der Wenigen und Hüter verlorener Schätze die öffentliche Sympathie für

 Ichhabe mich in diesem Kapitel dafür entschieden, im Folgenden für die Figurender Filmedie Bezeichnung „Indianer“ statt „Native Americans“ zu benutzenund damit deutlich zu machen, dass gar nicht erst der Versuch gemacht wird, die Darstellungen des Westerns aufeine historische Lebenswirklichkeit zu beziehen, auch wenn zugleich in Kauf zu nehmen ist,dass die historische Subsumption dieser Lebenswirklichkeiten unterdie ideologischen, mythologischen und sym- bolischen Verzerrungender hegemonialenPerspektive in dieser Terminologie nicht revidiert werden kann. Vgl. Cawelti: The Frontier and the Native American, S. 137,Fn.  Michael Hilger: From Savage to Nobleman.Images of Native Americans in Film.Lanham, MD/ London 1995, S. 2.Vgl. Michael Valdez Moses:Savage Nations.Native Americans and the Western. In: Jennifer L.McMahon, B. SteveCsaki (Hg.):The Philosophyofthe Western. Lexington 2010, S. 261–290.  Moses:SavageNations,S.152. 202 Vergangenheit: Hollywood-Genrepoetiken sich, weil er der weißen Gesellschaft erlaubt,die tatsächlichen blutigenKonflikte und die anhaltenden Ungerechtigkeiten zu vergessen und stattdessen den un- wiederbringlichen Ruhm und Zauber des Vanishing American nostalgisch genie- ßend zu betrauern. Entscheidend ist nun, dass diese Rechtfertigungsschemata einander – zu- mindest potentiell – zu durchkreuzen vermögen und die einzelnenFormen des frontier-Mythos die inneren Ambivalenzen und moralischen Konflikte als grund- legende Krisenformation einer Gemeinschaft gestalten. Dies findet insbesondere dort statt,woder Prozess einer Identität „from across“ (Burgoyne) sichtbarund in diesen durch Prozesse der Störungund der affektivenVerschiebungeine grund- legende Ambivalenz vonGewalt und Schuld eingetragen wird.

4.3.1 „So our slaughteredbeauty mocks us…“

Als Gegenstand soll mir hier der Film Little Big Man dienen, da er sichtlich von der Absicht getragen ist,nicht nur eine möglicheRevision des frontier-Mythos zu gestalten, sondern tatsächlichdie Transmutabilität der Bedingungen des Genres wiederum so zu wenden, dass sie zu unmöglichen, zu moralisch und affektiv unerträglichen Bedingungenwerden. Nicht der Widerspruch zwischen verschie- denen Begründungen und Bewegungsdynamiken der frontier,sondern der Fakt der ständigen Grenzziehung wird dabei schmerzhaft erfahrbar. Dabei schließt Little Big Man an mehrereTraditionslinien des Genreszu- gleich an. Da sind zum einen die Kavalleriefilme John Fords und ihre Ambivalenz zwischeneiner Kritik der Illusion eines gleichberechtigten Rechtsdiskurses zwi- schen Weißen und Native Americans und ihrer gleichzeitigen Bestätigung.⁶⁹ Be- sonders Fort (USA 1948, John Ford) überführt das Bild einerwilden Unabhängigkeit letztlich in eine Vorstellung vonden Indianern als den einfachen Leuten, vonden Umständen und der korrupten Elite gebeutelt.⁷⁰ Eine andere Traditionslinie, aufdie sich Little Big Man sehr direkt bezieht, ist die des ‚going native‘,die seit JamesFenimore CoopersLederstrumpf-Erzäh- lungen(1823–1841) dazu dient,neue Gemeinschaftsformen zu imaginieren und diese zugleich immer schon als unmöglich zu betrauern: vonder Letztheit des Last of the Mohicans,überdie zum Scheitern verurteilteRomanze zwischen dem weißen Mann und der roten FrauinBroken Arrow (USA 1950,Delmer Daves) als

 Vgl. Michael J. Shapiro:The Demise of ‚International Relations’.America’sWestern Palimpsest. In: Geopolitics 10 (2005), H. 2, S. 222–243.  Moses:SavageNations,S.271. LITTLEBIG MAN: Die Dysfunktionalität des Western 203

Metapher für den unerreichbaren Frieden zwischen den Rassen, bis hin zur Bil- dungdes neuen, umweltbewussten weißen Paars, mit dem Segen der dem Un- terganggeweihten Natives,inDances with Wolves (USA 1990,Kevin Costner). Diese und weitere Bildformen und Zeitstrukturen überführt Little Big Man in einen affektdramaturgischen Parcours zwischen melodramatischen Inszenie- rungsweisen und einem Modus der Satire, mit dem die Leidenserfahrungen mit einer Wahrnehmung vonBeliebigkeit,von der Willkür und Unbegründetheit ihrer Ursachen konfrontiert werden.⁷¹ Während einerseits – in Relation zu den India- nern – an die moralischen Gefühle der Zuschauer appelliert wird, wird anderer- seits die historische Selbstpositionierung,der eigene Standpunktder weißen Gesellschaft durch Absurditäten und durch die Aushöhlungder Idealvorstellun- gen, die sie vonsich selbst produzierthat,lächerlich gemacht.Damit werden zweierlei Wirkungsstrategien deutlich, die zum Potential des Genrekinos gehören, selbst in der Negation seiner Prozeduren und Kompositionsmuster nochvalide Auskünfteüber den Stand und das Selbstverständnis eines Gemeinwesens zu liefern. Die melodramatischen Umwertungen der Begründungs-und Verschleie- rungsmechanismen der Gewaltsowie die satirische Disorganisation des darge- stellten Gesellschaftsbildes machenentscheidende Verschiebungen im Affekt- haushalt dieses Gemeinwesens verfügbar.Die Zufälligkeit und Haltlosigkeit als Darstellungskalkül des einen Modusverleiht der Moralisierung, dem affektiven Seite-Beziehen als Wirkungsabsicht des anderen, erst seine Bedeutsamkeit. Wirhaben es bei LittleBig Man mit einem jener Western zu tun, in und mit denen das ganze Genregemeint ist und zur Dispositionsteht.Essteht zur Dis- position als die Form, die ausder nordamerikanischen Landschaft und den Menschen, die sich in ihr westwärts bewegen, ein Bild der US-amerikanischen Geschichte erschafft und das befriedigende Gefühl evoziert,man sei immer noch Teil einerandauernden Eroberungdes Westen. Der Film beruht aufdem gleich- namigen Romanvon Thomas Berger ausdem Jahr 1964,dessen Verhältnis von Farceund Geschichte er in ein Verhältnis vonFarceund Filmgeschichte über- trägt.⁷² Film und Buch werden auseiner Rahmenhandlungherausperspektiviert, in welcher der 121Jahre alteJack Crabb(Dustin Hoffman) seine Lebensgeschichte als ein Pendeln zwischen zwei Kulturen, den Weißen und den erzählt:

It was Crabb’squiteextraordinary fatetobecaptured by the at the ageoften, raised by them as abrave,rescued by the whitesatthe ageoffifteen, and then to spend the next twenty years survivingtwo marriages, bankruptcy, sometime careers as an Indian scout

 Vgl. zur Satire: Northrop Frye:AnatomyofCriticism. Four Essays.Princeton 1957,S.223–239.  Thomas Berger: Little Big Man. London 1999 [1964]. 204 Vergangenheit: Hollywood-Genrepoetiken

and con artist,alcoholism, abrief period as asuicidal hermit,and, finally, General Custer’s ill-timed decision to push on into the territory of the Little Big Horn. The film has the circular form of encounters with friends or relativesthat Jack has somehow lost earlier along the way. […]Most important, however,are the re-encounters with his Cheyenne family, presided over by the ancient chief, Old Lodge Skins (Chief Dan George), through whose eyes Jack Crabb watches the virtual extinction of „human beings,“ which is what the Cheyennes call themselves.⁷³

Das Mittel der Rahmenhandlungist dabei jedoch mehr als ein narrativerKniff.Es verweist aufdie Zeit seiner Entstehung als eine Umbruchsituation, als ein Moment der Realisierung eines endgültigenVerlusts.LittleBig Man kam Weihnachten 1970 in die Kinos und zur gleichen Zeit schreibt Stanley Cavell über ein Ende der Mythen als natürlichem Zustand des Kinos:

Every American city has someone in it whoremembers when part of it was still land. In the world of the Western there is onlyland, dottet hereand therewith shelters and now and then with adash of fronts that men therecall acity.The gorgeous,suspended skies achieved in the works of, say, John Ford, areasvacant as the land.When the Indians aregone, they will take with them whatevergods inhabitedthose places, leavingthe beautiful names we do not understand (Iroquois,Shenandoah, Mississippi, Cheyenne) in placeofthose places we will not understand. So our slaughtered beauty mocks us,and gods become legends.⁷⁴

Der Verlust,von dem hier alsodie Rede sein soll, meint nicht allein das Ver- schwindender Indianer,sondern der möglichen Zukünfte, die im Western hätten enthalten seinsollen. Die Diskrepanz zwischen der Gegenwart und der Landschaft als geschichtlichem Versprechen ist dabei nur eine Facetteder Desillusionierung. Tatsächlich geht es dem Film darum, die „epistemological foundation upon which we have constructed American history“⁷⁵ zu revidieren und zwar nichtnur durch die satirischen Inhalte, die er dem Roman entnimmt,sondern indem er unmit- telbar an den audiovisuellen Mustern, den expressivenFormen und Zeitstrukturen des Westerngenres arbeitet. In dieser Hinsicht ist es zwar korrekt,daraufzuverweisen, dass der Film sich in einen Zeitgeistder Gegenkulturen, der sexuellen Revolutionen, der Bürger- rechts-und Antikriegsbewegungeneinfügt.⁷⁶ Aber als vorgefertigteZuschrei-

 Vincent Canby:Movie Review.Little Big Man. In: New York Times, 15.Dezember 1970.  Cavell: The World Viewed, S. 59 – 60.  W. BryanRommel-Ruiz: American History Goes to the Movies.Hollywood and the American Experience. New York/London 2011,S.119.  Margo Kasdan und Susan Tavernetti: Native AmericansinaRevisionist Western.Little Big Man (1970). In: Peter C. Rollins,John E. O’Connor (Hg.): Hollywood’sIndian.The Portrayal of the Native American in Film. Lexington 1998, S. 121–136,hier S. 125. Vgl. Moses:SavageNations, S. 274–275. LITTLEBIG MAN: Die Dysfunktionalität des Western 205 bungen scheinen mirdiese Bezugnahmen sowohl den Blick aufdie Details der audiovisuellen Inszenierungals auch aufdie fundamentalereBedeutung der Genremodalitäten zu verdecken: „The film, much more than the novel, is asearch for identity.“⁷⁷ Erst voneiner Analyse des Films als einer Befragung der morali- schen Identität ausgehend können diese zeitgeschichtlichen Bezüge sinnvoll herausgearbeitet werden und die politischen und sozialen Prozesse vonMacht und Gewalt der Gegenwartsinnvoll aufein Bild der Geschichte bezogen werden. Denn letztlich ist die Umwertungder im Mythos des Westerns enthaltenen Vorstellungvon Geschichte nicht nur eine diskursive Operation, sondern man muss sie auch als eine affektive Erfahrung fassen: Stolz oder Scham, Zornoder Schuld – wenn es draufankommt,entwickelt das Pathos der Zugehörigkeit, Angesichts vonGewalt,die im eigenen Namen ausgeübt wurde, moralische Ap- pelle.

4.3.2 Dramaturgie der Gewalt und (Stereo‐)Typen des Genres

Das vielleicht wichtigste und offensichtlichste dramaturgische Strukturelement des Films ist der beständigeWechsel der Zugehörigkeit des Protagonisten als Jack Crabb oder als Little Big Man, Adoptivsohn des HäuptlingsOld Lodge Skins, zu den zwei Kulturen der Weißen und der Cheyenne.Diese Wechseljedoch passieren nicht einfach: Jedes Mal, wenn um diese Figurdie Grenzen der Zugehörigkeit neu gezogen werden, handelt es sich um gewaltsame Begegnungen zwischen Weißen und Indianern. Die Tatsache, dass es sich bisweilen um „twomovies in one“⁷⁸ handelt,deren Vorstellungenvon Werten, Politik, Moral, Besitz und Gemein- schaftsformen sich nicht berühren, sondern nur vonGewaltakt zu Gewaltakt kollidieren, ist nicht die Schwäche des Films,wie es einigeKommentatoren⁷⁹ auszumachen scheinen, sondern präzise die Erfahrung, um die es Little Big Man geht: dass die Formen der Imagination amerikanischer Geschichte keinen anderen Übergang zwischenGesellschaftsformen denken lassen als den eines dauerhaften Kriegszustands.

 Jacquelyn Kilpatrick: Celluloid Indians.Native Americans and Film.Lincoln/London 1999, S. 85.  Dan Georgakas:They Have not Spoken. American Indians in Film.In: Gretchen M. Bataille, Charles L. P. Silet (Hg.): The Pretend Indians.ImagesofNative Americans in the Movies.Ames 1980,S.134–142, hier S. 140.  Georgakas:They Have not Spoken, vgl. Kilpatrick: Celluloid Indians,S.84–94. 206 Vergangenheit: Hollywood-Genrepoetiken

Der Mythos vonder „regeneration through violence“⁸⁰ wird am laufenden Band reproduziert,nur dass sich zu keinem Zeitpunkteine „redemption of Americanspirit or fortune“⁸¹ einstellen will. Damit macht der Film eine der fun- damentalen Operationendes Genres sichtbar und durchkreuzt die Behauptung,es wäre möglich, Macht und Legitimität ausGewalt herzuleiten, was nach Hannah Arendt, mit der ich hier diese beiden Begriffe voneinander getrennt wissen möchte, nicht statthaft ist:

Zwischen Macht und Gewaltgibt es keine quantitativenoder qualitativenÜbergänge;man kannweder die Macht ausder Gewaltnoch die Gewaltaus der Macht ableiten, weder die Macht als den sanften Modus der Gewalt noch die Gewalt als die eklatanteste Manifestation der Macht verstehen.⁸²

Machtentsteht für Arendt „wann immer Menschen sich zusammentun und ge- meinsam handeln“⁸³ und stammt ausder Berufung aufeine gemeinsame Ver- gangenheit.Gewalt dagegen ist instrumentelles Mittel und „kann gerechtfertigt, aber sie kann niemals legitim sein“.⁸⁴ Die epistemologische Operation vonLittle Big Man ist es nun zu zeigen, dass es zum Modus des Western gehört,andieser Stelle eine Gleichsetzung⁸⁵ oder kausaleHerleitungzubehaupten. Der Film macht so sichtbar,wie im klassischen Western die Verwandlungeiner gerechtfertigten, weil ausSelbstverteidigung und Schutz der Schwachen herausmotivierten Gewalt in eine legitime, die Gemeinschaft fundierende und vonder Gemeinschaft fun- dierte Macht imaginiert wird. Er tut dies, indem er durch Wiederholungen, durch Dauer und Exzess der Gewaltdarstellungennicht nur ihre mangelhafte Begrün- dung, sondern ihre absoluteNichteignungzur RegelungeinesZusammenlebens demonstriert.Erzeigt,dass Macht „niemals ausden Gewehrläufen kommt“.⁸⁶ Damit steht das, was die frontier im Mythos bedeutet,zur Disposition: Sie be- zeichnet nicht mehr den Raum, in dem Amerika sich noch nicht ausgebildet hat, aber wo es werden soll, dessen gewaltsame Eroberungund Zivilisierung sich durch die Gemeinschaft,die dort entstehen soll, legitimiert.Stattdessen gibt es nur noch eine Front.

 Slotkin: Gunfighter Nation,S.12.  Slotkin: Gunfighter Nation.  Arendt: Macht und Gewalt, S. 58.  Arendt: Macht und Gewalt, S. 53.  Arendt: Macht und Gewalt, S. 53.  Arendt: Macht und Gewalt, S. 54:Die „üblicheGleichsetzung vonGewaltund Macht [beruht] darauf, daß man das staatlichgeregelteZusammenleben als eine Herrschaft versteht,die sich auf Mittel der Gewaltstützt.“  Arendt: Macht und Gewalt, S. 54. LITTLE BIG MAN: Die Dysfunktionalität des Western 207

Diese Revision der Gründungsformel lässt sich nun unmittelbar in der In- szenierungsweise des Films,bzw.inden Revisionen spezifischer Inszenierungs- weisen, zeigen. Es gibt eine Szene,die das sehr exemplarisch vorführt: Darin wird eine Postkutsche überfallen (0:49:23–0:52:30) und diese Stelle bezieht sich dabei sehr direkt aufeine Szene ausStagecoach (1:09:15–1:17:42),entzieht aber dem Geschehenzugleich eine Bildidee vomWesten, die John Fords Western im All- gemeinenund auch im Besonderen auszeichnet.Ich meine das Bild der Landschaft und des Himmels über ihr,indas sich der heroische Vektor der Bewegung nach Westen einträgt,mit der ganzenBugwelle an Siedlungund Zi- vilisierung,die in der vonder Kutsche aufgewirbelten Staubwolkeimaginär hinterher strömt.Dieses Bild lässt durch seine erhabene Weite jegliche Besiedlung und Zivilisierung als ein Projekt empfinden, das räumlich wie zeitlich niemals an seine Grenzen stoßen könnte. Little Big Man wiederholt nun zwar die tumulthafteMischung ausGesten des Heroismus,der Feigheit und der Pietät im Inneren der Kutsche sowiebestimme Aktionen, die diese Szene unverkennbar an Stagecoach anlehnen, insbesondere der Sprungvon der Kutsche und vonPferderückenzuPferderückenauf das vor- derste Pferd des Sechsspänners. Aber der Bewegung der Kutscheselbstwird das spezifische Verhältnis zur Landschaft entzogen. Kein Schwenk in der Totalen zeigt uns – wie gleich zweimal in Stagecoach – die lauernden Indianer mit einer Ethnizität signalisierenden Fanfare. Überhaupt zeichnetsich die Kadrierungin Little BigMan durch eine extreme Nähe und Fragmentierung aus: ein chaoti- sches Bündel ausMenschenkörpern, Pferdekörpern, Kutschenteilen und umher fliegenden Gepäckstücken. Dieser Kampf findet außerhalb vonKategoriendes Territorialen statt und damit gehen der Heroismus der Bewegungund ihr Po- tential, eine zivilisatorische Speerspitze zu sein, verloren. Eine andere Facetteder Revision der Ausdrucksmodi des Genres lässt sich ebenfalls an der audiovisuellen Umkehrung einer Szene vonJohn Ford, in diesem Fall ausThe Searchers (USA 1956), zeigen. Mit den klassischen captivity nar- ratives hing stets eine in der Darstellungimmer nur antizipierte oder suggerierte Gewalt zusammen, insbesondere an Frauen. Fords Tonfilmwestern – von Stagecoach und Drums along the Mohawk (USA 1939) bis Cheyenne Autumn – spielen mit den rassistischen und sexualisierten Angst-und Lustphantasien und versuchenzugleich, die Projektionen dieser Phantasien aufdie Indianer als „the sourceofmuch of the worst violence on the frontier“⁸⁷ kritisch zu wenden: „Ford

 KenNolley:The RepresentationofConquest.John Ford and the Hollywood Indian. 1939–1964. In: Peter C. Rollins,John E. O’Connor (Hg.):Hollywood’sIndian. The Portrayal of the Native American in Film. Lexington 1998, S. 73 – 90,hier S. 87. 208 Vergangenheit: Hollywood-Genrepoetiken shows how graphicallyand powerfullyracist fears fill in the undefined spaces in an ambiguous situation.“⁸⁸ WasLittle Big Man nun ganz zu Beginn (0:03:01–0:07:16) macht,ist erstens,dass er die blutigenLeichen ausdem Dunkel der Vorstellungskraft direkt in den Bildvordergrund rückt: Während im Hinter- grund der Planwagen qualmt und die Titel eingeblendet werden, steht im Vor- dergrund eine Chaiselongue mit bordeauxrotem Polster,auf die in Form und Farbe geschmackvoll passend eine blutige Leiche drapiert ist.Und zweitens macht der Film ausdem Gesicht,dessen Ausdruck für uns moralischund emotional lesbar macht,was da passiert ist (und das in The Searchers dem designierten Rächer gehört), das Gesicht eines Cheyenne.⁸⁹ Jeglicher Impuls der ausrassistischen und sexuellen Ängsten hervorgehenden Legitimation vonGegengewalt läuft so von Beginn an ins Leere. Aufdie Bearbeitung eines weiteren expressivenMusters des Genres,verkör- pert in den Auftritten der Kavallerie beiFordund insbesondere im Custer-Biopic They died with their bootson(USA 1941, Raoul Walsh), werde ich an späterer Stelle noch genauer eingehen. Mit dieser Umstülpungoder Verweigerung der dynamischen Muster des klassischen Westerngenres geht auch eine Suspendierung der in diesen Mustern eingebetteten Rollen als Formen des Agierens und als Formen der Identifikation einher.Das beginnt bereits mit der Wahl des Hauptdarstellers: nicht ‚The Duke‘ John Wayne, sondern der nette jungeMann, der gerade seine Reifeprüfung hinter sich hat.⁹⁰ Als Strukturelement übernimmt der Film ausBergers Romanden Kontrast zwischender stabilen Identität Dustin Hoffmans als Little Big Man und der Art und Weise, in der er als Jack Crabb in der Gesellschaft der Weißen voneiner

 Nolley:The Representation of Conquest.  Auch hier gehen die Wertungenfehl, die den Film an den Ambivalenzen des Romans messen, wo tatsächlich die Cheyenne das Massaker verüben, das den ProtagonisteninihreZelteführt.Vgl. Hilger: From Savage toNobleman, S. 180,John W. Turner:Little Big Man. The Novel and the Film. In: GretchenM.Bataille, Charles L. P. Silet (Hg.):The Pretend Indians.Images of Native Americans in the Movies.Ames 1980,S.156–162, hier S. 159.Stattdessen geht es gerade darum, dass der Film seine eigenen Ambivalenzen durch ein direktes, aufdie konkreten Formen zielendesVerhältnis zur Filmgeschichteherstellt.  „Hoffman was widelyidentified as apersonification of the youth cultureofthe 60s after his performance in The Graduate (1966) [sic!] and he had been featured in a1967Life article („Dusty and the Duke“)asanalternative to the John Wayne model of American heroism.“ (Slotkin: Gunfighter Nation, S. 630). In einer Szene wirddiese Verbindung explizit gemacht,indem die BegegnungJacks mit seiner ehemaligenZiehmutter (FayeDunaway) im Bordell genauso kadriert ist,wie eine berühmt gewordene Einstellung ausThe Graduate (USA 1967, Mike Nichols), in der Hoffmans FigurBen von Mrs. Robinson (Anne Bancroft) im Schlafzimmerempfangenwird. LITTLEBIG MAN: Die Dysfunktionalität des Western 209

Rolle in die andere stolpert: „In the Indian world his identityremains consistent, but in the white worldhetries on personalities and lifestyles like one tries on costumes.“⁹¹ Diese Suchenach einer weißen Identität ist insofern zum Scheitern verurteilt, als die sozialen Rollen, die er ausprobiert,tatsächlicheben keine Persönlichkeitsformate,sondern nur noch Kostüme sind. Aber es ist nicht alleinso, dass die Gesellschaft der Weißen –„goal-oriented, hypocritical, and exploitative“⁹² – keine einzelnensinnstiftenden Identitätsan- gebote mehr machen kann, sie ergibt auch als Ganzes keinen wie auch immer gearteten Mikrokosmos, kein soziales Gefüge mehr.Eshandeltsich um eine Ge- sellschaftsform, in der die Pluralitätder Individualitäten nur in Form des ge- genseitigen Betrugs zur Geltung kommt. Während es dem Roman an einigen Stellen eher um die Begegnungen mit den mal mehr und mal wenigerver- schlüsselten historischen Figurenzugehen scheint,von Wild Bill Hickock und WyattEarp zu Walt Whitman, geht es dem Film um die vonJack jeweils auspro- bierten Typen und Stereotypen des Genres und die dabei aufscheinende Erklä- rungsbedürftigkeit weißer Sozialität als einer ‚dysfunktionalen Ansammlung‘.⁹³ Um die Bedeutung dieser Operationzuerläutern, ist es hilfreich, aufStanley Cavells Definition des type zurückzugreifen: Beiden Typen des klassischen Genrekinos handelt es sich nämlich für Cavell nicht um bloße Stereotypen und Ähnlichkeiten: „Forwhat makes someone atype is not his similaritywith other members of that type but his striking separatenessfrom other people.“⁹⁴ Statt- dessenhandelt es sich um Formen, in denen sich Individualität und Sozialität versöhnen: „particular ways of inhabiting asocial role“.⁹⁵ In der Geschichte des Genres beschreibt die Inszenierung der jeweiligenSo- zialitäten – entlang einer ständigen Oszillation der Figurenzwischenstereotypen Figurenmusternals Ähnlichkeiten, bloßen Fassadenund Kostümierungen und den je spezifischen, besonderen Realisierungen – die wandelnden Positionie- rungen der Zuschauer zu den Möglichkeiten und Grenzen des Werdens und der Anerkennungvon Individualität.Filme als Kunst und Formen des Denkens sind Bezugnahmen aufdie Möglichkeit politischer Gemeinschaft und individueller Selbstentfaltung,sie sind

 Kilpatrick: Celluloid Indians,S.85.  Kasdan/Tavernetti: Native Americans in aRevisionist Western, S. 128.  Moses:Savage Nations,S.273.Deswegen ‚scheitert’ der Film im Übrigengleichzeitigals der Schelmenroman, der er zu sein vorgibt,dadie Gesellschaft eben nicht mehr als stratifiziertes, homogenes Gefüge auftritt,das der Held dann irgendwie durchlaufen könnte, und da diese Ge- sellschaft immer trickreicher ist,als es jeder Schelm sein könnte.  Cavell: The World Viewed, S. 33.  Cavell: The World Viewed [Herv.imOrig.]. 210 Vergangenheit: Hollywood-Genrepoetiken

about the arbitrariness and the inevitability of labels, and hence about the human need for society and the equal human need to escape it,and henceabout human privacyand un- knownness.They areabout the search for society,orcommunity,outside, or within, society at large.⁹⁶

Es geht alsoimWesterngenre nicht darum, die Rolle des Siedlers, des Revolver- helden, des Killers und der gutherzigen Prostituiertenusw.einfach wiederzuer- kennen und sie durch das fertigeEtikett in eine feste soziale und narrative Struktur einzufügen. Indemdiese Typen durch „inflections of demeanor and disposition“⁹⁷ immer auch eine flüchtige Dimensionbeinhalten, die den Festlegungen durch Stereotypisierung und sozialer Rollenvorgabe entkommt,beziehen sich die Filme politisch aufdie Möglichkeiten sich als Individualität innerhalb einerPluralität vonexzentrischen Selbstentwürfen zur Geltungzubringen.⁹⁸ Little Big Man lässt Dustin Hoffmans Individualität und die sozialen Rollen, in die seineFigur schlüpft,nicht zusammen kommen: Er spieltzwar den gun- fighter, aber er verkörpert ihn nicht,die Verwandtschaft zwischen individueller Autonomie und Gesetzlosigkeit⁹⁹ ist an ihm vollkommen verloren. Der Humor,den der Film darausentwickelt, wenn er in absurd überdekoriertem Kostüm schreck- und sprunghaft bei jeder kleinenBewegung und jedem kleinen Geräusch die Augen zusammenkneifendzur Waffegreift (0:39:59–0:44:58), ist eben nicht der einer Karikatur,die ihr Objekt durch Verzerrung in ihren spezifischen Eigenheiten umso deutlicher hervorkehrt.Esist vielmehr eine Mischung ausBeschämung und Lächerlichkeit,die sich einstellt, weil diese kulturelle Codierung und damit das Bild vonGemeinwesen, das sie mit transportiert, einfach nichtmehr mit der physischen Realität und der Individualität der Figurzusammengehen. Das un- terscheidet den Film dannganz grundsätzlich vonParodien wie Support your Local Sheriff! (USA 1969, Burt Kennedy) oder Cat Ballou (USA 1965, Elliot Silverstein), in deneninder Regel am Ende auch der unwahrscheinlichste oder widerwilligste Held – aufseine eben ganz eigene partikulare Weise – seine Rolle ausfüllt und die Gemeinschaft verteidigt. Spätestens dort,woJack sich als Alkoholleiche im Morast wälzt (1:39:09–1:40:27und 1:48:04– 1:49:30), die Schminke im Gesicht seiner ehema- ligenZiehmutter und nun Prostituierten(Faye Dunaway) einen bläulich-bleichen Hauch vonVerwesungverströmt (1:42:44–1:48:04) und wir der Schwindlerfigur wiederbegegnen,die nicht ihre Seele, sondern Körperteile für die Hoffnungauf

 Cavell: The World Viewed, S. 176.  Cavell: The World Viewed, S. 35.  Cavell: The World Viewed, S. 34–35.  Cavell: The World Viewed, S. 176. LITTLEBIG MAN: Die Dysfunktionalität des Western 211 schnellenReichtum veräußert (1:48:04–1:49:30), wird deutlich, dass der Film auch aufein Geschmacksurteil des Ekels und der Abscheu gegenüber dieser weißen Gesellschaft hinausläuft.Als Jack Crabbgeht Dustin Hoffman durch die vielfältigen Traditionender kulturellen Mythologie der frontier hindurch und kehrt nicht nur ihre Widersprüche hervor,sondern er verwandelt sie alle so, dass sie nunmehr als Verschleierungdes einen einzigen Mythos erscheinen: des Traums vonden verborgenen Reichtümern, vomAmerika als Goldmine. Selbstsucht und Gier erscheinensoals wahrerAusdruck des American Dream und des pursuit of happiness.¹⁰⁰

4.3.3 Geschichte und Gegenwart der Massaker

In der bisherigen Darstellungder diversen Umwertungender Bildformen und Figurendes Genres scheint die Fragenach dem Gefühlsregister dieser Revisionen am deutlichsten durch eine komisch-satirischeNote zu beantworten zu sein. Et- was anders sieht es aus, wenn mandiese Umwertungenins Verhältnis zur strukturellen dramaturgischen Funktion der Gewalt setzt.Inder ständigen In- szenierungvon Kollisionender Weißen und der Indianer,die stets dazu führen, dass sich die Grenzen der Zugehörigkeit um Jack Crabb/Little Big Man neu ziehen, gibt es eine deutliche Steigerung der Intensität,deren Höhepunkt zugleich die radikale Neuperspektivierung des Genrebildes vonder Kavallerie bedeutet.Die Kavallerie wird als ein Denkmusterder amerikanischen Identitätbeschrieben, das radikal dysfunktional und Ursache unverantwortlichen Leids geworden ist. Es handelt sich um die Szene, in der eine historische Referenz einerseits und ein Verweis aufdie Gegenwart des Films 100 Jahre späterandererseits miteinander aufunheimliche Art und Weise zur Deckungkommen – die Massakervom Washita-River(November1868) und vonMyLai (März 1968) und andere gerade publik gewordenen Gräueltaten amerikanischer Soldaten in Vietnam. Nachdem Little Big Man eine Patchworkfamilie mit vier Frauen und einem Adoptivkind gegründet,seine HauptfrauSunshine(Aimée Eccles) ihm einen Sohn geboren und sich der Stamm in einer winterlichen Landschaft –„for once, we wereinasave place, giventousbytreaty“–niedergelassen hat,werden sie vonder Kavallerie um Custer überfallen, die alles rücksichtslos niedermetzelt.Little BigMan und Old Lodge Skins gehen dabei unbehelligt durch das Chaoshindurch, müssen aber hilflos mitansehen, wieFrauen, Kinder und zuletzt Sunshine vonden Soldaten getötet werden (1:26:10 –1:33:52).

 Vgl. Cawelti: The Frontierand the Native American,S.179 – 180. 212 Vergangenheit: Hollywood-Genrepoetiken

Hier wird das,wasimmer schon die Verkörperungdes bedrohten Eigenen,der Zivilisationdarstellteund dessenVerteidigungimmer schon die Brücke vonder Rechtfertigung der Gewalthin zur Legitimation der Machtdarstellt – nämlich Frauen und Kinder, die sich nicht selbst verteidigenkönnen – eindeutig der Seite des kulturell Anderen zugeschlagen.¹⁰¹ Zudem werden wir als Zuschauer in eine merkwürdigeSpannung ausunmittelbar betroffener Nähe und urteilender Distanz zum Ereignis selbst gesetzt,womit die Szene, was noch genauer auszuführen sein wird, die expressive und temporale Struktur eines Schuldgefühls gestaltet.Nicht zuletzt aber wird diese Szene vonden bekanntenBildern und Tönen des Genres heimgesucht: Die Erinnerung an eine positive Identifikation mit der heranstür- menden Kavallerie, die in der eigenen Gegenwart eindeutignicht mehr funktio- niert,wird schmerzhaft präsent gemacht. Eine solche Verbindungvon Geschichte und Gegenwart ist allerdings keine genuine Erfindungdieses Films,sondern prägteseinerzeit die öffentliche Wahr- nehmung des Kriegs in Vietnam: Feindesgebiet war „Indian country“¹⁰² und um vonden Redskinszuden Reds als Feindbild zu kommen, musste man auch nur eine Silbe weglassen. The Big Picture: Anationbuilds under fire (USA 1967, Harry Middleton), ein Propagandafilm der Abteilung Armed Forces Information & Education des US-Verteidigungsministeriums, holtesich John Wayne als Gast- moderator in ein südvietnamesischesDorf als Spiegelbild der friedvollen Siedler des amerikanischen Westens und dieser wiederum ließ in The Green Berets (USA 1968, John Wayne/RayKellogg), dem einzigen heroisch-optimistischen Versuch Hollywoods einen klassischen Kriegsfilm überden laufenden Krieg zu produ- zieren, die Soldaten ihr Fort ‚Dodge City‘ gegenheranstürmende Wilde verteidi- gen.¹⁰³ WieRichard Slotkin in GunfighterNation ausführlich schildert,führte dies dazu, dass auch die zeitgenössische Berichterstattung über Kriegsverbrechen in Vietnam geprägt war voneiner schlicht invertierten Anwendungder Darstel- lungsmuster des Western. Slotkin beschreibt die Inszenierung vonBild und Text in der Reportage des Life Magazine¹⁰⁴ über das Massakervon My Lai als „‚cinematic‘ wayoftellingthe story“¹⁰⁵ und schlussfolgert:

 Nolley:The RepresentationofConquest,S.80.  Daniel Hallin: The „Uncensored War“.The Media and Vietnam. New York/Oxford1986, S. 142– 143.  Vgl. Hermann Kappelhoff, Christian Pischel, Eileen Rositzkaund Cilli Pogodda: The Green Berets.Der Vietnamkriegsfilm als Herausforderungder klassischenGenrepoetik. In: Thomas Morsch (Hg.):Genreund Serie. München 2015,S.75–110.  Hal Wingoetal.: The MassacreatMylai. In: LIFE Magazine, 5. Dezember1969, S. 36–45.  Slotkin: Gunfighter Nation, S. 584. LITTLEBIG MAN: Die Dysfunktionalität des Western 213

The inversion of the normal war-movie/Westernscenario is now complete. Instead of res- cuingthe woman/child from rape and slaughter,the Americans commitrape – in fact,child- rape – and murder amid the burningbuildings of the „settlement“.Weare back in the symbolic terrain of the captivity myth – the terrain of Mary Rowlandson [Autorineines der erstenberühmt gewordenen Erlebnisberichteeiner captivity,Anm. M.G.] and Ethan Edwards [von John Wayne gespielterProtagonist in Fords The Searchers,Anm. M.G.] – onlynow we arethe „savages.“¹⁰⁶

Entscheidend für die affektive Wirkungdieser Invertierung ist bei Slotkin – und meine These ist,dassdies auch für die Inszenierung des MassakersinLittleBig Man gilt –,dass man als Rezipient nicht einfach mitder Umkehrung der Zu- schreibungvon Opfer und Täter die Seitenwechseln kann. Stattdessen zielen die Darstellungenauf ein Gefühl der Implikation des Sehenden in das Gesehene: „The cognitive playwhich this quasi-cinematic narrativeinvites seems designed to make us feel that complicity.“¹⁰⁷ Die Darstellung zielt im ständigen Wechselvon unbegründeterGrausamkeit einerseits und den diese Grausamkeit verurteilenden Wertungen andererseits aufein Spiel der Vorstellungskraft mitdem dämonischen Potential der eigenen Zivilisation und bleibt darin bewusst unaufgelöst.¹⁰⁸ Es ist nun genaueine solche Oszillation zwischeneiner beobachtenden, ur- teilenden Distanz und einer unerträglichen Nähe, eine Implikation in die Posi- tionen des Zuschauers, Opfers und Täters zugleich, die die fragliche Szene aus Little Big Man strukturiert und ihr im Wechselvon Passivierung und Flucht- bewegungdie affektive Färbung eines Schuldgefühls verleiht.Dazu gehört maß- geblich die Tatsache, dass die einzelnenInszenierungsmodi und Affekte, die hier in dieser fast achtminütigen Szene kombiniert werden, eben nichtineine ein- heitliche Stimmung aufgelöst werden, sondern dass die geglückte Rettung zu- gleich ein hilfloses Scheitern ist. Aufder Ebene der audiovisuellen Komposition und insbesondere der Ka- meraführung handelt es sich um einen konsequenten Wechselzwischen Ein- stellungenaus extremen Totalen, extremen Teleoptikenund sehr kurzen, oft fragmentarischen und vonwischenden Bewegungen durchzogenen Naheinstel- lungen. NuranwenigenStellen etabliert sich zwischen diesen Extremen so etwas wie ein Handlungsraum der Figuren, die entweder nur stillgestellte Sehendesind oder für Sekundenbruchteile aufblitzende, anonyme Körper,die reiten und schießenoder laufen und getroffen werden.

 Slotkin: Gunfighter Nation, S. 586 [Herv.imOrig.].  Slotkin: Gunfighter Nation, S. 584 [Herv.imOrig.].  Slotkin: Gunfighter Nation, S. 586. 214 Vergangenheit: Hollywood-Genrepoetiken

Little Big Mans verzweifelterBlick ins Off verbindetsich am Auftakt der Szene einfach nicht in einen kohärenten Raum mitder dagegen geschnittenen extremen Teleaufnahmeeinertraumartigen Winternebellandschaft,die schemenhaft Reiter zu Pferde zeigen (1:26:40 –1:26:58). Die folgendenTotalen und Teleeinstellungen werden voneinerunheimlichen Marschmusik begleitet,die ganz allmählich lauter wird, und zeigen zunächst die Bewegung der Armee aufdas Camp der Cheyenne zu als eine physisch unaufhaltsame Kraft (1:26:58–1:27:54): Sie reiten und reiten und reiten, und plötzlich stehen sie mitten zwischenden Tipis und strecken In- dianer nieder.Insbesondere diejenigen Aufsichten ausder Totalen, die das Camp am Fluss vomanderen Ufer auszeigen, haben dabei einen prägnanten Vorder- grund vonZweigenund Ästen und machen diese Positionierungals eine der ohnmächtigen Distanz besonders spürbar.Esist die Position, die Little Big Man am Ende der Szene einnehmenwird, als er zuschauen muss,wie seine indianische Frau Sunshine und ihr gemeinsames Kind umgebracht werden. Das Eintreffen der Kavallerie im Camp wird durch den Umbruch in voll- kommen unübersichtliche, schnell geschnittene Ansichten als ein explosionsar- tiges Wahrnehmungsereignis gestaltet (1:27:54–1:28:28), gegendas Little Big Man nur eine einzigeAntwort hat: Er und Old Lodge Skins ziehen sich ins Zelt zurück, wo der alteHäuptling sich in aller Ruhe eine Pfeife anzündet,während Little Big Man wild umherläuft und wir nichts mehr vonder Gewalt sehen (1:28:28–1:29:37). Während Little Big Man versucht,den Häuptling zur Flucht zu überreden – indem er ihm erklärt,ein Traumhätte ihnen Unsichtbarkeit beschieden –,verändert sich auch die Tonspur und die Militärmusik wird durch indianischesKampfgeschrei ersetzt, begleitet vomPfeifen der Geschosse. Der folgende Abschnitt fügt der Szene noch eine Ebene des voice-over-Kom- mentars des alten Jack Crabb hinzu, die für viele Passagen des Films charakte- ristischist (1:29:37– 1:30:51). Während Little Big Man und Old Lodge Skins durch die wildgeschnittenen Szenen des Gemetzels laufen, nun wiedervon der un- heimlichenMusik begleitet,sind die Zuschauersoineine unmögliche Beziehung zu den Geschehnissen versetzt,die sie zugleich als fern und vergangenund als völlig nah und präsent wahrnehmen.ImFolgenden etabliert sich ein Wechsel aus Nahaufnahmen Little Big Mans und Teleobjektiveinstellungenauf General Custer, die den zuvorbereits gezeigten Totalen und Teleaufnahmen aufdie heranstür- mende Kavallerie ähneln (1:30:51–1:31:19). Ein Gespräch zwischen Custerund seinem Lieutenant wirkt gegendie beiden hier dominanten Pole der Totalen und der schnell geschnittenen Fragmentierunginseiner audiovisuellen Konventio- nalität (1:31:19–1:31:49) bei gleichzeitig extrem rassistischer Rhetorik als retar- dierendes Moment umso verstörender. Die folgende Montageist dann der Klimax des ganzenFilms (1:31:49–1:33:15): Soldaten schießen aufPonys und treffen Indianerinnen, die ausbrennenden Tipis LITTLEBIG MAN: Die Dysfunktionalität des Western 215 stürzen. Aufder Tonspur vermischensich die Schreie der Tieremit denen der Frauenund Kinder.Kaumeine Einstellungdauert länger als zwei Sekunden. Die bisher immer nur angespielten und wieder zurückgenommenenMomente von Angst,Verwirrung und Schrecken brechen sich ungehindert Bahn. Ab einen be- stimmtenPunkt (1:32:16) kristallisieren sich dann ausdiesem Chaoszwei Bewe- gungs- und Blickachsen, die gegeneinandergeschnitten werden: Sunshines Flucht voreinem berittenen Soldaten, das Kind im Arm, und Little Big Mans verzweifelte Rufe und Gesten. Dabei werden ihre jeweiligenBewegungen in ihrer Richtung und Intensität zunächstaufeinanderangepasst,beide beginnen ihren Lauf strau- chelnd, im Bild vonrechts nach links und vonhinten nach vorne. Dann trennt sich dies aber wieder auf, er kniet rufend aufallen Vieren im Schnee, während sie aus immer wieder neuen Perspektivenniedergeschossen wird, sich wiederaufrichtet und erneut getroffen wird. Zwischen den Schüssen dünnt die Tonspur dann aus und mit dem letzten Treffer alternieren bei totaler Stille kurze Bilder der stür- zenden, das blutige Bündel an sich klammernden Sunshine und des sich win- denden, ebenfallstürzenden Little Big Man. Die Szene endet damit,dass überBilder abziehender Soldaten und getöteter Indianer – Kinder, Alteund Frauen – dann ganz allmählich die Militärkapelle wiederzuhören ist.Die letzten Einstellungenzeigen die in Reih und Glied ste- hendenMusikanten, in den für diese Szene so charakteristischen extremen Te- leobjektiv-Aufnahmen, die sie durch die Nebel, Rauch- und Hitzeschwaden zu einer verschwommenen, gespenstischen Erscheinung machen. Wenn man diese chronologisch aufgezählten Beobachtungen zusammenfügt, dann erkennt man, inwiefern dieser Szene der retrospektive Charakter des Schuldgefühls eingetragen ist: Exzessive Wiederholungenwechseln mit Retar- dation – die Episode im Tipi, Custers Belehrung seines Offiziers – und zugleich steigern sich die Evokationen vonAngst und Verwirrung,Mitleid und schließlich Schmerz und Ohnmacht.Inihrer ganzenzeitlichenEntfaltung entspricht die Szene einer Erfahrungder Irreversibilität: Das Schlimmste ist immer schon ein- getroffen, es quält,aberman kann es nicht ändern. In den Teleaufnahmen und Totalen sowie in den unverbundenen fragmentarischen Details wird jede Form von Aktivität und zeitlichemFluss blockiert.Auch die Körperinszenierung und die Bewegungen der Figuren schwankenbeständig zwischeneiner Aktivierung,einem Fluchtimpuls und der totalen Passivierung des Protagonisten, der nur nochinsich zusammensacken kann. Man will wegschauen, Augen und Ohren verschließen, aber es drängt sich immer wiederauf. Die Wirkungder Musik ist dabei vonbesonderem Interesse, nicht nur weil sie in ihrer ständigen Wiederholungund ihrem vorwärtstreibendem Rhythmus die Unaufhaltsamkeit des Geschehens maßgeblich mit verursacht.Eshandelt sich nämlich tatsächlichumdie vonCusterpersönlich ausgewählte, Gemeingut ge- 216 Vergangenheit: Hollywood-Genrepoetiken wordene Schlachthymne der 7. Kavellerie, das irische Trink-und Tanzlied „Ger- ryowen“.Damit kehrt der Film eine der zentralen Darstellungstropen des Wes- terngenres in ihr Gegenteil:

Music, which is typicallyused to guide emotional responses in the audience, maintains this Eurocentric emphasis in the positive emotional resonanceWesterns give to folk songs,mi- litary tunes,and traditional hymns.Indian music,when it is suggested, is as limited as Indian speech and almost invariablyassociated with war,stereotypicallyinvoking asense of threat and suspense.¹⁰⁹

Der entscheidende Punkt ist nun, dass der Film nicht einfach die Seiten wechselt, nicht einfach die indianische Perspektive einnimmt und vondort ausdas Hand- lungsgeschehen und den affektivenTon neu bestimmt. Stattdessen ändert sich radikal das Gefühlsregister der ethnozentrischen weißen Perspektive:Essind die eigenen Symbole und Zeichen, die eine Bedrohlichkeit ausstrahlen. Diese kultu- relle Komplizenschaft enthält gleichzeitigdie lähmendeOhnmacht,die eigene Vergangenheit nicht aufhalten zu können: „The ‚voice‘ of the music bringsup feelingsofswelling prideatodds with the reality of what the soldiers are doing to the village. The result is eerilydisconcerting inner speech.“¹¹⁰ Nicht einfach nur das Entsetzen über die drastische Darstellung abge- schlachteter Frauen und Kindermacht diese Szene aus, sondern das dumpfe Gefühl, dass dies mit anderen Bildern und Tönen des Genres und der Operationen des Mythos in einem kausalen Zusammenhang stehen könnte.¹¹¹ Ganz besonders handelt es sich dabei um Bilder und Töne ausThey died with theirboots on – wobei dieser Bezug, und das gilt auch für die anderen Verweise des Films,deutlich diffuserist,als es die Kategorie des Zitats fassen könnte, denn schließlich geht es um die sinnstiftende Funktion der Formen in einem kulturellen Feld. In They died with their boots on ist es nun so, dass die Kraft der Musik,das zugleich energische und fröhliche Motivineiner Montagesequenz in der Mitte des Films das entscheidende Bindemittel für die Entstehungder 7. Kavallerie als einer Körperschaft mit einergeteilten Identität wird: In sich immer weiter vermehren- den, vergrößerten Ensembles – vonSologesang mit Klavierbegleitungbis zum großen Blasorchester – untermalt „Gerryowen“ erst die Formation dieserMili- täreinheit,bis sie schließlich vorden Augen der Öffentlichkeit ausstolzen Damen und Repräsentanten des Ostens und wohlwollenden Trappern, den Pionierender frontier, defiliert.Anschließend, immer noch vomgleichen Motivgetragen, nun

 Nolley:The RepresentationofConquest,S.82.  Kilpatrick: Celluloid Indians,S.93.  Slotkin: Gunfighter Nation, S. 613. LITTLEBIG MAN: Die Dysfunktionalität des Western 217 etwas schneller und mit anderen bekannten Motivenwie dem Trompetensignal des Angriffs und indianisch konnotiertenTrommeln vermengt,führt eine Montage aus, was die Schrifttafel hierzu verspricht: „And so was born the immortal 7th U.S. Cavalry which cleared the plains for aruthlesslyadvancingcivilization that spelled doom to the redrace.“ Little Big Man schafft es, das Bilderrepertoire und die frivole Geste, mit der hier die Komplizierungen der Historie beiseite geschoben werden, ausdiesem und vielen anderen Filmen aufzurufen und zwar als ein Bauchgefühl: ‚Ichkenne diese Musik, ich kenne diese Bilder,aber irgendetwas ist anders.‘ Die Dramaturgie der Gefühle funktioniert dabei als eine Art vonDysfunktionalitätsdetektor und in genaudieser Kapazität begründetsich die Wirkungdieser Szene: Sie greift un- mittelbar in das Selbstbild eines Gemeinwesens ein. Deswegen ist auch die Frage, ob es hier entweder um My Lai oder um Washita, entweder um die Indianerkriege oder um Vietnam geht,auch die falsche Frage.¹¹² Genauweil niemandem die VerbindungzuVietnam entgehen konnte, ist es umso entscheidender,dassLittle BigMan daraufhin arbeitet, das Wiedererkennen dieses Blutbads zugleich aufdie Figuren, narrativenGrundmuster und Bild- strukturen des Genremythos zurückzuführen. Er nutzt die Identifikationsmuster und affektivenOperationen, um sie als Trugschlüsse und Fallstricke zu entlarven. Er konfrontiert die Attraktivität der Selbstbilder,die der Mythos generiert,mit der historischen Schuld, die diese Selbstbilderverursacht haben und nach wie vor verursachen. Es geht um genauden Kurzschluss zwischen den historischen und imaginären Bildern der Kavallerieund den gegenwärtigen Bildern geopolitischer und militärischer Macht.¹¹³ Wegendieser Querverbindungder historischen und zeitgenössischen Bilder des Militärischenist es auch wichtig,dass man die Parallele zwischenWashita und My Lai, die Little BigMan zieht,mit der Binnenlogik der dramaturgischen Rolle der Gewalt in Verbindungsetzt.Esist nämlich zugleich eine Steigerung und Erinnerung an andere Szenen des Films,die nicht aufdie Vietnam-Metapher zu reduzieren sind. So gibt es schon früh im Film eine Szene, in der die Cheyenne zu

 Vgl. für eine solche kontrastierende Haltung Kilpatrick: Celluloid Indians,S.93.  Man vergleichedie berühmteSzene des Helikopter-Angriffs vonApocalypse Now (USA 1979, Francis Ford Coppola),die nicht nur inhaltlich vonder Beerbungder Kavallerie durch die Heli- kopter-Staffel handelt – wie auch schon affirmativinThe Green Berets – sondern auch formal den gleichen unheimlichen Umbruch eines vonMusik als psychologischer Kriegsführunguntermal- ten, unaufhaltsamen Anmarschs in die Explosion vonGewaltund Zerstörung nutzt.Auch die extremen Teleeinstellungeneiner flächigen, flimmerndenKulisse ausRauch und Feuer sind in beiden Filmen quasi identisch,nur dass im einen Pferde und im anderenHubschrauber durch den Bildvordergrund wischen. 218 Vergangenheit: Hollywood-Genrepoetiken spät an der Stätte eines Massakerserscheinen(0:17:07– 0:18:40) und beschließen „We must have awar on these cowards and teach them alesson.“ Diese Szene mündet jedoch in einer Slapstick-Einlage, in der die Kriegsführungender Indianer und der Weißen miteinander kontrastieren(0:20:02– 0:22:01). Das zweiteMal, als explizit Frauen und Kinder durch die Armee getötet werden, sind wir mit Jack Crabb als Scout buchstäblich aufder falschen Seite des Geschehens, nämlich auf Seite der Armee (1:04:00 –1:10:17). Obwohl er sofort ausder Gewalt ausschert, scheitert er daran, sich den Indianernals einer der ‚ihren‘ zu erkennen zu geben, die richtigeSeite zu beziehen. Insgesamt lässt sich voneiner affektdramaturgischen Steigerung der Insze- nierung der Massakerreden, die sich nicht nur in der quantitativenund quali- tativenSteigerung der expliziten Gewaltdarstellungzeigt.Sonderndiese Steige- rung transponiert das Verhältnis vontraurigem Entsetzen über Ohnmacht und Zorn schließlich zu einem Gefühl schmerzhafter Schuld, das der Zuschauerposi- tion als in das Geschehenimplizierterund zugleich entzogener Position einge- schriebenwird: Das Zuschauergefühl ist das Gefühl einesimmer Zu-Spät-Kom- mens, immer unversehens Sich-Auf-Der-Falschen-Seite-Wiederfindens. An dieser Stelle wird deutlich, warum der Film diese auffälligen Wiederho- lungsschleifen eingebaut hat.Genauso wie Schuldgefühle etwas damit zu tun haben, dass man Ereignisse sich selbst immer wieder repräsentiert,sie durch- spielt,sich an ihnen abarbeitet,genauso arbeitet sich auch LittleBig Man ab:an der weißen Gesellschaft,anden Massakern, an der Figur ‚Custer‘ als Verkörperung des Militärs und am Militär als Bild der Gemeinschaft.¹¹⁴ So entsteht in dem Verhältnis,das der Film in den Wiederholungenzur Ka- vallerie entwickelt,ein Impetus, der – ausder Schuld heraus – mit der Schlacht am Little Big Horn (1:51:18–2:03:35) so etwas wie eine Erfüllungsphantasie des Wunsches nach Wiedergutmachung enthält.Das ist insofern wichtig,als – wie Hannah Arendt in Machtund Gewalt schreibt – die Selbstanklage ‚Wirsind alle schuldig‘ an sich noch keine konkrete Handlungs-oder Veränderungsansage enthält.Sie ist aber ein Zwischenschritt,man ist bewegt,betroffen, angesprochen. Erst in der Wutund Empörungüber Ungerechtigkeit entwickelt sich eine politische Dimension der menschlichen Affektivität.¹¹⁵ Doch diese Erfüllungsphantasie ist nicht ohne innere Widersprüche, denn in der gewaltsamen Bestrafung Custers reinstalliert der Film die regenerative Funktion der GewaltimMythos der frontier:

 Slotkin: Gunfighter Nation, S. 292.  Arendt: Macht und Gewalt, S. 63 – 65. LITTLE BIG MAN: Die Dysfunktionalität des Western 219

It implies that its violenceisanessential and necessary part of the process throughwhich American society was established and through which its democratic values aredefended and enforced.¹¹⁶

Indem Little Big Man den Indianern diejenigen Werteund Tugenden zuschreibt, die im klassischen Hollywood die Selbstbeschreibungergaben, und indemer zugleich die Bedrohungund Rettung dieserWerteinAkten der Gewalt und der Gegengewalt durchspielt,ist diesesklassische Westerngenre dysfunktionalisiert und am Ende doch zugleich bestätigt:

To recover one’sproperroleinthe myth of regenerative violencewemust actuallyorim- plicitlyidentify with the enemyand see him as an embodimentofthose virtues we once claimed as our own.¹¹⁷

Allerdings verstündeman sowohl die Funktion des Mythos als auch die Wir- kungsintention des Films als Intervention in die Affektökonomie der US-ameri- kanischen Gesellschaft falsch, wenn mandiese Identifikation als eine tatsächlich einnehmbare Position und politische Agenda interpretiere.¹¹⁸ Als eine Modulation der Affektregister des Genres,der Evokation vonFreundschafts- und Gruppen- bindungen, der Rechts- und Unrechtsgefühle hin zu einemGefühl geteilterhis- torischer Schuld geht es dem Film gerade darum, eine affektive und moralische Haltungder Disidentifikation gegenüber der bis in die Gegenwartanhaltenden Rolle der historischen Selbstbilderinder Begründungnicht legitimierbarerGewalt einzunehmen.

4.3.4 Ein Gefühl fürdie eigene Geschichte

Wenn es in LittleBig Man um die störende Einschreibungeiner Perspektive des Anderen geht,soist es zunächstoffensichtlich, dass es sich beidiesen Cheyenne, die sich selber ‚Human Beings‘ nennen, mit Betonungauf der ersten Silbe,nicht um eine konkrete historische Gruppe handelt,sondern um die Verkörperungeiner Idee voneiner anderen Form des Sozialen. Eine der Grundmaximen des Wes- terngenres bleibt auch hier intakt:Nur ein metaphorischer Indianer ist ein guter Indianer.Esist erst diese Verzerrung,die ausden unsichtbaren real-historischen Lebensweisen der Native Americans in ihrer Partikularität eine Projektionsfläche

 Slotkin: Gunfighter Nation, S. 352.  Slotkin: Gunfighter Nation, S. 591.  Vgl. Slotkin: Gunfighter Nation. 220 Vergangenheit: Hollywood-Genrepoetiken für die Selbstzuschreibung einer weißen nationalenIdentität macht – sei es in der Abgrenzung,als Gegenbild oder als Spiegel, als Prismaoder in Form der gegen- seitigen Überbietung, in der jeder edle Wilde seinen Weißen findet,der noch ein bisschenedler und noch ein bisschenwilder sein kann.¹¹⁹ Am Ende beschließt der Häuptling Old Lodge Skins: „It is agood daytodie.“ Und als ihn Little Big Man nach dem Grund fragt,antwortet er: „Because there’sno other waytodeal with the white man.“ Im Romanheißt es an einer früheren Stelle:

Whatever else youcan sayabout the whiteman, it must be admitted that youcannot getrid of him. He is in never-endingsupply. There has always been onlyalimited number of Human Beings, because we are intended to be special and superior.Obviouslynot everybodycan be a Human Being.To makethis so, theremust be agreat manyinferior people.Tomymind, this is the function of white men in the world. Thereforewemust survive,because without us the world would makenosense.¹²⁰

Und als ob er diesen letzten Satznun beim Worte nehmen wollte, lässt der Film, im Gegensatz zum Roman, den Häuptling eben nicht auseigener Willenskraft ster- ben. Im Roman formulieren seine letzten Worte nochdie Utopie eines universellen Indianertums:

Even if my people must eventuallypass from the face of the earth, they will live on in whatever men arefierceand strong. So that when women see aman who is proud and braveand vengeful, even if he has awhite face,they will cry: ‘That is aHuman Being!’¹²¹

Man könntebehaupten, dass dies 1970 nicht mehr vorstellbar ist,dass es Little Big Mans/Jack Crabbs insistierende Anwesenheit ist,die genaudiese friedliche Ak- zeptanz des eigenen Verschwindens verhindert.Mit den Worten Vine Delorias: „But the Indian survivesbecause whites have manyunanswered questions about who they are.“¹²² In seiner vonvornherein gegenden Film eingenommenvergleichenden Kritik zwischenFilm und Roman schreibt John W. Turner dazu:

 Vgl.: Nolley:The Representation of Conquest,S.88und Rommel-Ruiz: American History Goes to the Movies,S.120 –123. Kilpatrick: Celluloid Indians,S.67. Slotkin: Gunfighter Nation, S. 19 und S.630. Man denkenur an Avatar (James Cameron,USA2009) um sich die anhaltende Attraktivität des letztgenannten Musters zu vergegenwärtigen.  Berger: Little Big Man, S. 157.  Berger: Little Big Man, S. 419.  Vine Deloria: Foreword/American Fantasy.In: Gretchen M. Bataille, Charles L. P. Silet (Hg.): The Pretend Indians.ImagesofNative Americans in the Movies.Ames 1980,S.ix–xvi, hier:S.xiv. LITTLE BIG MAN: Die Dysfunktionalität des Western 221

In the novel, Berger capturesthis ironic sense of the Indian defeated even in victory by concluding Jack’snarrative of the battle with the death of Old LodgeSkins.[…]Morethan simplythe death of one man, the death of the old chief symbolizesthe death of amode of life. Penn’scomicending, therefore,not onlyundermines the dignity of Old LodgeSkins,but also raises questions about Penn’shistoricism. To agreat extent,Penn seems to resist the historical implicationsofthe conflict on the Plains. By optingfor asentimental ending, Penn undermines the effectiveness of his cinematic achievement in the Washita scene […]. As aresult,the movie lacks the closure that its storydemands.Havingenteredthe arena of history,Pennobligates himself to anarrative structurethat rests on the opposition between the past and the present.¹²³

Der Punkt ist,dass hier sehr genauaufgeschlüsselt, aber nicht als Folgeseiner genrepoetischen Funktionsweise erkannt wird,wasder Film tatsächlichnicht sein will: eine historisch-genaue, wertende Darstellungder Indianerkriegeder zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts und eine Grabrede aufeine untergegangene Lebensweise. Es geht ihm nicht um Geschichte als Ansammlungvon Ereignissen, sondern um die Formen und Prozesse, in denendiese Geschichte gedacht wird: Es geht ihm um die Spielregeln in dieser ‚arena of history‘.Deswegen operiert der Film eben sowohl im melodramatischen als auch im satirischenModus.Erver- sucht sich im Rekurs aufdiese und andere Ausdruckssysteme an der Revision der sentimentalen Form des Westerngenres.Und diese Revision will gerade keinen ‚Abschluss‘,keinen ‚Gegensatz vonVergangenheit und Gegenwart‘ erreichen, sondern wahrnehmbar machen, inwiefern die Gewalt der Geschichte die eigene Gegenwart mit gestaltet.¹²⁴ Indem er ‚seinen‘ Indianer am Leben lässt,beharrt der Film aufder Möglichkeit einerNeuentwurfs des Gemeinwesens durch den ima- ginären Kontakt mit dem, was man vernichtet hat.Die Aussicht aufein besseres Leben, eine offenere und friedlichere Gesellschaftsform für die Weißen überlebt mit dem Bild des Native American und dieses ist unmittelbar verbunden mit einem kulturellen Schuldgefühl als einem spezifischen Gefühl für die eigene Geschich- te.¹²⁵ Während dieses Weiterleben des alten Häuptlingsdie Hoffnung beinhaltet, dass die Herrschaft des Weißen Mannes ein vorübergehender Fehler,eine Fata Morgana im Werden dieser anderen Gemeinschaft sei, so bleibt dieser Hoffnung die Erkenntnis eingeschrieben, dass das Werden einerjeden Gemeinschaftsform mit Gewalt und Schuld verbundenist.

 Turner:Little Big Man, S. 161.  Vgl. Ahmed: Cultural Politics of Emotion, S. 200.  Vgl. Maurine Trudelle Schwarz: Collective Guilt, Conservation, and Other Postmodern MessagesinContemporary Westerns. In: American Indian Culture and Research Journal 26 (2002), H. 1, S. 83 – 105,hier S. 86–87,S.92und S. 95. 222 Vergangenheit: Hollywood-Genrepoetiken

Nachdem die ‚regeneration through violence‘ durch die Dysfunktionalität ihrer eigentlichen Anwendungspraxis im klassischen Westerngenre hindurch re- vidiertund wieder gewonnen wurde, taugtdiese Maxime eben nicht mehr selbst als historische Erklärung,sondern steht als das eigentlich immer wiederErklä- rungsbedürftige da. In der Rahmenerzählungdes Films erwartet der Interviewer vomalten Jack Crabb einen Western als Erklärung für die Schlacht am Little Bighorn. Er bekommt zwar einen Western – oder etwas, das einem Western ähnelt – aber keine Erklärung.LittleBig Man ersetzt den Mythos nichtdurch eine Idee vonhistorischer Wahrheit,sondern durch die innere Vielfalt und Ambivalenz des Mythos,seine Destruktivität,indem es vonnun an immer zwei Seiten der frontier, zwei Seiten der Gewalt gibt. Wenn der Western also die Artund Weisebezeichnet,inder sich Amerika als geschichtlich versteht,die Zuschauer sich als Teil eines historischen National- wesens erfahren, dann zeigt Little BigMan,dass und wie um 1970 diese Art,sich als historisches Projekt selbst zu gründen, zu katastrophalen Folgen führt. Eine implizite Geschichtstheorie, die Fortschritt,Selbsterhaltung und Selbstfindungin der Eroberungund Umwidmung vonTerritorien sucht und die vonder Mayflower bis zur Landunginder Normandie hoch funktionalwar,geht zeitgleich mit dem Vietnamkrieg verloren. Als Wertesystem und Ausdrucksform einer nationalen Kultur wird der Mythos des Westerns genaudadurch zerstört,dass die offizielle Politik der Nixon-administration den Mythos ungebrochen zu erhalten meinte, während Filme wie LittleBig Man versuchten, den Mythos zu retten, indem sie ihn dysfunktionalisierten.¹²⁶ Sie bearbeiten das Genre als kulturelles Muster und betreiben eine spezifische Genealogie der Moral, um die falsche Vertrauensse- ligkeit in die Wertigkeit der Werte zu erschüttern und die Möglichkeit besserer Wertezudenken.¹²⁷ Die richtigen Gefühle können helfen zu verstehen, dass man sich selbst missversteht.

4.4 CASUALTIES OF WAR:Eine Revision der Affekpoetik des Kriegsfilmgenres

Die Ausführungen zum Western haben aufeine Traditionslinie hingedeutet,inder das Militärals Synekdoche für Vorstellungen vonAmerika, Demokratie und Na- tion steht.¹²⁸ Sowohl für den Western als auch für die offiziellen Begründungs-

 Slotkin: Gunfighter Nation, S. 623.  Vgl. Prinz: The EmotionalConstruction of Morals, S. 217.  Vgl. Slotkin: Gunfighter Nation, S. 359. CASUALTIES OF WAR: Eine Revision der Affekpoetik des Kriegsfilmgenres 223 mechanismen und Kritiken des Zweiten Weltkriegs, des Korea- und Vietnam- Krieges gilt:

oncethe „cult of the cavalry“ was established as amajor division of American mythic space and was seen to be responsive to the course of political events, its fictive rationales and heroic styles of action […]became functional terms in public discourse and symbols of the correct or heroic response to the challengesofthe Cold War.¹²⁹

Diese Übertragung lässt sich auch zwischen den beiden Genres des Western und des Kriegsfilms aufweisen, handelt es sich doch jeweils um Formen der Recht- fertigung der Gewalt und der Transformation der Grenzen der Gemeinschaft.So gehorchen sowohl die Kavalleriewestern wie Fort Apache und Rio Grande (USA 1950,John Ford) als auch die Kriegsfilme der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg – vonThey wereexpendable (USA 1945, John Ford) bis Attack (USA 1956,Robert Aldrich) – einer „populist perspective,inwhich the real, if unsung,heroes are the enlisted men and junior officers often needlesslysacrificedbyconceited and vainglorious senior commanders“.¹³⁰ Im Unterschied jedoch zum Zweiten Weltkrieg und zum Korea-Krieg,zudenen Hollywood jeweils in unmittelbarer Zeitgenossenschaft Filme herausbrachte – wenn auch im Falle des Letzteren in deutlich bescheidenerem Umfang –,fand die Auseinandersetzung mit dem Vietnamkrieg im Kino, mit Ausnahme vonThe Green Berets,erst mit zeitlicherVerzögerung bzw.eben in allen möglichen an- deren Genres außer dem Kriegsfilm statt:

Although the Vietnamization of America was asubtext of almost every importantmovie put out in this country between Bonnie and Clyde,and The Godfather,Part II,movies didn’t deal head on with the war while it was goingon.¹³¹

Man könntedieses Argument sogar so weit zuspitzen, dass für das Kino der späten 1960erund frühen 1970er das zentrale Kriterium für die kulturelle und politische Relevanz dieses war: Taugtesals Subtext?¹³²

 Slotkin: Gunfighter Nation, S. 365.  Moses:SavageNations,S.267.Vgl. Kappelhoff: Der Krieg im Spiegel des Genrekinos.  SteveVineberg: DePalma in Vietnam. In: The ThreepennyReview (Sommer 1990), H. 42, S. 25–27,hier S. 25.  Vglhierzu die BeiträgeinJohn Carlos Rowe und Rick Berg (Hg.): The Vietnam Warand American Culture. New York 1986;Michael Anderegg(Hg.): InventingVietnam. The WarinFilm and Television. Philadelphia 1991;Linda Dittmar und Gene Michaud (Hg.):From Hanoi to Hol- lywood. New Brunswick/London 2000. 224 Vergangenheit: Hollywood-Genrepoetiken

Für die Kriegsberichterstattung in den Nachrichtenmedien und insbesondere im Fernsehengilt zwar,dass die Bebilderung des Krieges in Umfangund in Ak- tualitätvöllig neue Maßstäbe erreichte, weswegeneinigeauch vom „uncensored ‚living-room war‘“¹³³ sprechen. Aber man kann sagen, dass das Fernsehen genauso wenigwie John Waynes The Green Berets in der Lage war,die Konsequenzen darauszuziehen, dass die ursprüngliche Idee vonheroischer Kriegsführunginder Tradition der Kavallerie scheiterte.¹³⁴ Alle Versuche,den Vietnamkrieg in die Rationalität der Handlungs-und Bewegungslogik der Vormärsche im Zweiten Weltkrieg einzufügen, zerschellten relativschnell an der Frontlosigkeit der Gue- rillataktikensowie am extrem ambivalentenVerhältnis zur Zivilbevölkerung.¹³⁵ Die Chronologie der expliziten Bezüge Hollywoods aufden Vietnamkrieg liest sich dementsprechend wie eine alineare Rekonstruktion einer Krisenformation der nationalen Autobiographie: Es beginnt mit der körperlich und seelisch ver- sehrten Heimkehr¹³⁶ ausdem Krieg in Taxi Driver (USA 1976,Martin Scorsese) und Coming Home (USA 1978,Hal Ashby), über die groß angelegten, auteuristi- schen Blockbuster The Deer Hunter (USA 1978,Michael Cimino) und Apoca- lypse Now, über Kriegsgefangene befreiende reaktionäre Actionfilme¹³⁷ wie Missing in Action (USA 1984,Joseph Zito) und Rambo – First Blood Part II (USA 1985, George P. Cosmatos) hin zu der Fragenach einer moralischen Identität und der Suche nach Vergebung in Platoon (USA 1986,OliverStone) und in Casualties of War,dem Film, mit dem ichmich im Folgenden genauer be- schäftigen möchte. Die zeitliche Distanz sowie die Diskrepanz zwischen den nachträglichen Siegesphantasienund den Zeichen einer insistierenden kulturellen Verunsiche- rung führten in der Kritik und der kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung zu problematischen Haltungengegenüber den Filmen. Zwischen einer ideolo- giekritischen Verengung aufrevisionistisch-reaganistische Propaganda und einer Krise ‚realistischer‘ Kriegsrepräsentation geht dabei eine entscheidende Wendung

 Hallin: The „Uncensored War“,S.158.  Vgl. Kappelhoff/Pischel/Rositzka/Pogodda: The Green Berets.Der Vietnamkriegsfilm als Herausforderungder klassischen Genrepoetik.  Hallin: The „Uncensored War“,S.146.  Vgl. Tobias Haupts: ComingHome Again. ZurScheinnormalisierungdes Kriegsheimkehrers im US-amerikanischen Vietnamkriegsfilm. In: Hermann Kappelhoff, David Gaertner,Cilli Pogodda (Hg.): Mobilisierung der Sinne. Der Hollywood-Kriegsfilm zwischen Genrekino und Historie. Berlin 2013,S.160 –183.  Vgl. Gregory A. Waller: Rambo. GettingtoWin this Time. In: Linda Dittmar,Gene Michaud (Hg.): From Hanoi to Hollywood. New Brunswick/London 2000,S.113–128. CASUALTIES OF WAR: Eine Revisionder Affekpoetik des Kriegsfilmgenres 225 verloren.¹³⁸ Nämlich, dass es sich um Erinnerungsbezügehandelt,die immer schon medial und ästhetisch konfiguriert sind und in denen sowohl die Brüche als auch die Wiederherstellungen individueller Erfahrungsmächtigkeit aufgemein- schaftlich geteilteSinnhorizonte zu beziehen sind:

These Vietnam films are therefore not films that try to tell Americans „how it reallywas,“ but how aprocess can be started that might heal the scarredAmerican psyche. In this, they are also films of asuccessful recuperation. They makeitpossible to facethe fact of defeat,and possiblyevenofguilt.¹³⁹

Es wäre tatsächlichsehr verkürzend, die Fragenach der Bedeutung der audio- visuellenKriegsinszenierungen im Kino allein an einer Chimäre von ‚authenti- schen‘, ‚wahrhaftigen‘ oder ‚realistischen‘ Bildern auszurichten,¹⁴⁰ ohne die Darstellungsmodi des Genrekinos und des Kriegsfilmgenres als ein affektpoeti- sches Muster vondramaturgischen und inszenatorischen Wirkungsstrategien zu berücksichtigen.¹⁴¹ Letzten Endes geht es diesen Filmen darum, dass dieser Krieg eine irreversible Verschiebung in den Bildern und Mythen Amerikas bewirkt hat, die sie als Rekalibrierungen des Affekthaushalts der Gemeinschaft versuchen aufzunehmen und verfügbar zu machen. Die Grundmotive des Kriegsfilms – die körperliche Marter,die Auseinandersetzung mitdem kulturell Anderen und der Konflikt zwischen individueller Selbstbestimmung und gesellschaftlicherMacht – bilden zugleich „das Dispositivkultureller Imagination des Geschichtlichen in der amerikanischen Populärkultur“¹⁴² und markieren somitden Krieg als das, was immer schon der unhintergehbare Schatten der Ursprünge und Grenzziehungen der Gemeinschaft ist.Indiesem Sinne wird aufgezeigt,wie die Matrix der Bilder

 Vgl. Jan-Hendrik Bakels:Der Klang der Erinnerung. Filmmusik und Zeitlichkeit affektiver ErfahrungimVietnamkriegsfilm. In: Hermann Kappelhoff, David Gaertner,Cilli Pogodda (Hg.): Mobilisierung der Sinne. Der Hollywood-Kriegsfilm zwischen Genrekino und Historie. Berlin 2013, S. 266–306,hier S. 267–271.  Winfried Fluck: The ‚Imperfect Past’.Vietnam According to the Movies.In: Hans-Jürgen Grabbe, Sabine Schindler(Hg.):The Merits of Memory.Concepts,Contexts, Debates. Heidelberg 2008, S. 355–385, hier S. 382.  Vgl. für einen Ansatz, der schwerpunktmäßigsolche Fragen verfolgt: GerhardPaul: Bilder des Krieges – Krieg der Bilder.Die Visualisierung des modernen Krieges. Paderborn 2004.  Vgl. Hermann Kappelhoff, David Gaertner und Cilli Pogodda: Einleitungder Herausgeber.In: dies. (Hg.):Mobilisierungder Sinne. Der Hollywood-Kriegsfilm zwischen Genrekino und Historie. Berlin 2013,S.9–20.  Hermann Kappelhoff: Shell shocked face.EinigeÜberlegungen zur rituellen Funktion des US-amerikanischen Kriegsfilms.In: Nicola Suthor,Erika Fischer-Lichte(Hg.): VerklärteKörper. München 2006,S.69–89,hier S. 81. 226 Vergangenheit: Hollywood-Genrepoetiken und Narrative der „patriotischen Ballade“¹⁴³ des klassischen Kriegsfilms selbst zum Gegenstand der audiovisuellen Inszenierungwird.¹⁴⁴ Entscheidend ist,dass das Ausmaßindem der interpretative Rahmendes Genres selbstObjekt eineraffektivenModulation wird, letzten Endes nichtanders ermitteln zu sein wird, als über die Analyse des konkreten Inszenierungskalküls des einzelnen Films.ImFolgendensollen in der gebotenen Kürze die Bedingungen des Kriegsfilmgenres,seine affektpoetischen Grundmusterskizziert werden und die Vertiefung seiner moralischen und affektivenBruchstellen durch den Viet- namkrieg erläutert werden. Anschließend geht es mit Casualties of War um einen Film, der das Problem einerVerstrickungder Zuschauerposition in eine gemeinschaftlich geteilte Schuld unmittelbarals Produkt der affektivenMatrix der Inszenierung einer kriegerischenVergemeinschaftung im klassischen Genre her- leitet. Im Rahmen der bereitserfolgten Ausführungen zu Genrepoetik soll der Kriegsfilm hier mitHermann Kappelhoff als eine Form des kulturellen Genießens verstanden werden, die sich aufeine sentimentale Erfahrungsform des Erinnerns und der Imagination einer kulturellen Identität bezieht:

Eben dies – die Verschränkung der subjektivenRealität leibgebundenen Selbstempfindens mit einer abstrakten Ideevon Gemeinschaft – bezeichnet die Nahtstelle, an der sich das Hollywoodkino mit der historischen Erfahrungdes Krieges verbindet. Damit ist das Kino als eine ästhetischeErfahrungsform angesprochen, in der sich die symbolischenPraktikenund Systeme, die eine Gesellschaft konstituieren, mit der leibgebundenen affektivenRealität konkreter Individuen verbinden.¹⁴⁵

Das Pathos der Erinnerung und der historischen Erfahrung richtet sich dabei in den Kriegsfilmen nach dem Zweiten Weltkrieg nicht aufdie politische und mo- ralische Rechtfertigung des Kriegseinsatzes, wie es noch für Filme wie Bataan (USA 1943, TayGarnett) oder Gung Ho! – TheStory of Carlson’sMakin Island Raiders (USA 1943, RayEnright) gültigist.Ihr Konflikt ist vielmehr der unmög- liche Ort des Krieges selbst im Selbstverständniseiner Gesellschaft,der die freie Entfaltungdes Individuums das höchste Gut ist und für die ein Anspruchauf Leib und Leben dieses Individuums als Werkzeugder Selbsterhaltung dieser Gesell- schaft eine unauslöschbare Schuld darstellt:

 Kappelhoff: Shell shocked face.  Fluck: The ‚ImperfectPast’,S.368.  Kappelhoff: Der Krieg im Spiegel des Genrekinos,S.184.Vgl. Kappelhoff: Shell shocked face, S. 76;Kappelhoff: Genreund Gemeinsinn. CASUALTIES OF WAR: Eine Revisionder Affekpoetik des Kriegsfilmgenres 227

Der amerikanische Soldat selbst verkörpert als Soldat und als Amerikaner zugleich einen unauflösbarenWiderspruch zwischen der Würde des Individuums und seiner Selbstaufgabe in den militärischen Vergemeinschaftungsritualen. […] Der Konflikt,der die Kriegsfilme Hollywoods insbesonderenach dem ZweitenWeltkrieg beherrscht,ist die insistierende Fragenach der Schuld an den Soldaten, gleichviel ob sie gefallen, physischoder psychisch zerstört worden sind.¹⁴⁶

Genauindieser Hinsicht ist das Bild des Soldaten als Gefallener,als physisch Leidender,als seelisch Gequälter und die Erniedrigungender militärischen Aus- bildungund Befehlsstrukturen Durchstehender ein Bild, das sich immer schon auf den Grund der politischen Gemeinschaft bezieht,umden individuellen Zu- schauern

das historische Ereignis als Schicksal einer politischen Gemeinschaft zugänglich zu machen, indem es dieses Schicksal als ein gemeinschaftlich geteiltes Leiden erfahrbar macht.¹⁴⁷

Dabei ist dieses Schicksal nicht ein für alle mal aufeine Bedeutung des histori- schen Ereignisses festgelegt,denn „die Kriegsfilmeverorten nicht nur die dar- gestellten Begebenheiten, sondern auch ihre Zuschauer stets historisch“¹⁴⁸ und beziehen sich aufeine Gemeinschaft im historischen Prozessdes Werdens.Die Geschichte des Kriegsfilmgenres ist dementsprechendnichtnur eine Geschichte der Kriege, sondern auch eine der Neubestimmungen der Gemeinschaft und ihrer Grenzen, Solidaritäten, Ungerechtigkeiten, Demütigungen und damit eine Neu- bestimmungihres Affekthaushalts,eine Neubestimmung der Gründe für Stolz, Empörungund Mitleid, Scham und Schuld. Die Art und Weise, in der das Kriegsfilmgenre daraufzielt,seine Zuschauer in ein geteiltes Gefühl für das Gemeinschaftliche einzubinden, lässt sich nun mit Kappelhoff als die je spezifische Modulation einer Verlaufsform wechselnder Gefühlswerte beschrieben. Diese Gefühlswertelassen sich zurückführen aufden Kontrast zwischender Ohnmacht des individuellen Infanteristen, dem Bild des Leidens und der entfesselten Omnipotenzphantasien vonMännlichkeit,Kriegs- technik und Kinoaction.¹⁴⁹ Diese Matrix lässt sich nun als ein Parcours auseiner begrenzten Anzahl von Figuren- und Handlungskonstellationen sowie audiovisuellen Ausdrucksmustern

 Kappelhoff: Der Krieg im Spiegel des Genrekinos,S.226.  Kappelhoff: Der Krieg im Spiegel des Genrekinos,S.191.  Kappelhoff: Der Krieg im Spiegel des Genrekinos,S.189.  Kappelhoff: Shell shocked face, S. 70 – 76.Kappelhoff: Der Krieg im Spiegel des Genrekinos, S. 193–194. 228 Vergangenheit: Hollywood-Genrepoetiken entfalten.¹⁵⁰ Diese Konstellationen gehen dabei aufspezifische Affektmodalitäten zurück, die sich ausden genreübergreifenden Affektpoetiken des Hollywoodki- nos¹⁵¹ speisen und vonKappelhoff als Pathosszenen des Kriegsfilmgenres be- zeichnet werden.¹⁵² Diese Pathosszenensind insofernschon in sich jeweils als komplexeAffektprozesse konzipiert,als sie jeweils erst über ambivalenteoder konflikthafteGefühlsdomänen zu fassen sind.Sie gestalten als zeitliche Struk- turierungen der audiovisuellen Komposition einen komplexen Gefühlsverlauf der Zuschauer aufder Ebene der Szene sowie in ihrer Anordnung über den Film hinweg.Dadie einzelnenDefinitionen dieser Pathosszenen für die spätereAr- gumentationzentral werden, möchte ich sie an dieser Stelle kurz anführen: – Dabei handeltessich erstens um Szenen, die den Verlust der Formen ziviler Gemeinschaft betrauern und zugleich diesen Trennungsschmerz in ein neu gewonnenes Gefühl der Zugehörigkeit zur militärischen Gemeinschaft zu überführen versuchen. – Es handelt sich zweitens um Szenen, die den Prozess der Eingliederung des individuellen,physischen Körpers in die ebenfalls konkret physische Kör- perschaft des militärischen corps als eine Oszillation zwischen angstbesetzten Momenten der Bedrängungund Momenten der Erfahrungvon Entgrenzung inszenieren. – In den Pathosszenen,indenen es um das Verhältnis zur Natur geht,lehnt sich der Kriegsfilm einerseits an die Genremodalität des Horrorfilms an und ge- staltet andererseits,als Gegenmittel zu Angst und Ungewissheit,eine ent- fesselteFeindseligkeit und Aggressivität. – Letztere gehen in die Inszenierungvon Kampf und Technologie über, die wiederum den ständigen Umschlagvon triumphaler Verschmelzungslustin ohnmächtigeÜberwältigung als ein spezifisches Genießen in der Genremo- dalität des Actionkinos gestaltet. – Die gebrochene Verbindungzwischen dem in die militärische Gemeinschaft eingegliederten Individuum und der zivilen Gesellschaft wird in Pathosszenen des Heimwehs sowohl als medialisierter Erinnerungsbezugwährend des

 Vgl. Jeanine Basinger: The World WarIICombat Film. AnatomyofaGenre. 2. Aufl. Mid- dletown 2003 [1986], S. 14– 75;Robert T. Eberwein: The Hollywood WarFilm. Chichester 2010, S. 11–13.  Vgl. Grotkopp und Kappelhoff: Film Genreand Modality.  Kappelhoff: Genreund Gemeinsinn,S.136–144. Für die Definitionen und weitere Materialien siehe die Webseitedes Projektverbunds „EmpirischeMedienästhetik“ unterHermann Kappelhoff: http://www.empirische-medienaesthetik.fu-berlin.de/emaex-system/affektdatenmatrix/in- dex.html [letzter Zugriff: 14.November 2016]. CASUALTIES OF WAR: Eine Revisionder Affekpoetik des Kriegsfilmgenres 229

Krieges als auch in Form anhaltender Entfremdungdes Heimkehrers affektiv gestaltet. – Das Bild der Sterblichkeitund Verwundbarkeit wird in den Filmen in einer Spanne ausder Agonie des körperlichen Schmerzes und der Trauer,der Transformation der Opfer in Helden inszeniert: „Die Innenansicht einer un- auflösbaren, unversöhnlichenLeidenserfahrung bezeichnet das zentrale Pa- thos des US-Kriegsfilms.“¹⁵³ Es ist das zentrale Pathos, weil sich vonihm ausgehendauch die beiden übrigen Pathosszenen begründen, nämlich – die Erfahrung vonUnrecht und Demütigungals Konditionen der militärischen Gesellschaftsform einerseits und – das Gemeinschaftsgefühl der medial geteilten Erinnerung an das Leid, an die Verwundeten und Toten andererseits.

Der Kriegsfilmlässt sich anhand dieser Systematik vonAusdrucksfigurationen als eine zeitliche Form analysieren, die zwischen zweigrundlegenden Modisubjek- tiverErfahrung changiert,nämlich zwischendem Leiden und der Lust der Ver- schmelzung,zwischen Melodrama und Action. Der Motor,der die zweiteHälfte antreibt,ist dabei stets bezogen aufein Umschlagender (sexuellen) Entsagungen und der demütigenden Strukturen der militärischen Sozialitätin„die Lust am Körperlichen, welche sich zuspitzt in der Raserei, der Rebellion und im explosiven Zorn des Berserkers“.¹⁵⁴ Der Krieger als Held –„amodel of successful and morally justifyingactiononthe stageofhistorical conflict“¹⁵⁵ – droht so immer über das Ziel hinauszuschießen und eine blutrünstige Tradition amerikanischer Kriegs- führung als „wars of extermination“¹⁵⁶ wieder aufbrechen zu lassen. Die Arbeit der Vietnamkriegsfilme am Affekthaushalt des Kriegsfilmgenres bezieht sich nun ganz zentral aufdie Entgleisung und Dysfunktionalisierung dieser künstlich gezüchteten Wutdes Kriegers, angetrieben vonangestautem sexuellen Begehren, vonder alltäglichen Frustration sowie der Sinnlosigkeit des Sterbens um ihn herum.¹⁵⁷ Die doppelte Implikation der Zuschauerindie Struk- turen der militärischen Bearbeitung des Individuumsund in die Mitverantwort- lichkeit für die darausentstehende Grausamkeit wiederum kennzeichnet die Anschlussstelle für eine moralische Identität in Form eines Schuldgefühls. Diese Umwertungen des Bildesvom Krieger lassen sich zum Beispiel in den gegenden Vietnamkrieg polemisierenden Dokumentar-und Propagandaformen

 Kappelhoff: Der Krieg im Spiegel des Genrekinos,S.199.  Kappelhoff: Der Krieg im Spiegel des Genrekinos.  Slotkin: Gunfighter Nation, S. 3.  Slotkin: Gunfighter Nation, S. 12.  Vgl. Kappelhoff. Genreund Gemeinsinn, S. 329–348. 230 Vergangenheit: Hollywood-Genrepoetiken wie Hearts and Minds (USA 1974,Peter Davis) finden. Dessen Kritikbezieht sich aufeine Kultur des universellen Verdrängungswettbewerbs, eines „sinsiter cult of victory in America“.¹⁵⁸ Hearts and Minds gestaltet einen dramaturgischen Ver- lauf der sich in einem ständigen Wechselvon Geschichten der Desillusionierung und Geschichten der Verblendungund Irreführung bewegt.¹⁵⁹ Für die Zuschauer wird dieser Wechsel dabei zur ErfahrungeinerKluft zwischenden traditionellen Selbstbildern und den offiziellen Kriegsbildern einerseits und den Bildern von Grausamkeit,Verschwendung und Zerstörung andererseits, zur Erfahrung eines Gefühls vonVerantwortlichkeit und eines Patriotismus, der sich nur nochinder Form eines Verlusts spürbar macht: Heimweh nach dem Stolzsein. Im Folgenden soll es mitCasualties of War um einen der Filme gehen, die diese Dysfunktionalisierung in der Darstellungkonkreter Fehlhandlungengegen wehrlose Zivilistenzufassen versuchen. Casualties of War versucht dabei eine expressive Form zu finden, die die moralischen Brüche als Krisenformationen im affektivenGefüge zu registrieren vermag. Es geht um ein Gefühl der Mitschul- digkeit,das ausden affektivenGrundmustern des Genres selbstherauszupräpa- rieren sei.Wenn die Kriegsfilme voneiner Schuld handeln, „die dem Akt des Sich- Erinnerns und des Zuschauenkönnens eingeschrieben ist“,¹⁶⁰ dannbeschränkt sich dies vonnun an nichtmehr nur aufeine Schuld der Überlebenden gegenüber den gefallenen Kameraden, sondern um die Schuld der militarisierten Gemein- schaft gegenüber dem Anderen und des Verratsanden eigenen Werten und Idealen. Es geht in diesem Film darum, einen tiefgreifenden Wandel im Gefühl für die eigene Geschichte und für die Bindungandas politische Gemeinwesen in der Neugestaltungder Affektpoetik des Kriegsfilmgenres begreifbar zu machen.

4.4.1 Eine Affektdramaturgie der De-Formierung

Die US-amerikanischen Kriegsfilme über den Vietnamkrieg kamen erst nach- träglich, ab den späten 1970er Jahren in die Kinos und sind gekennzeichnet durch jeweils verschiedene Versuche, diese zeitlicheSpanne selbstinihrem poetischem Kalkül zu reflektieren. Brian De Palmas Casualties of War,beruhend aufeinem

 Tony Shaw: Hollywood’sCold War. Edinburgh2007, S. 246. Vgl. David Grosser:WeAren’ton the WrongSide, We Arethe WrongSide. In: Linda Dittmar,Gene Michaud (Hg.):From Hanoi to Hollywood. New Brunswick/London 2000,S.269 – 282, hier S. 279.  Vgl. Grosser:WeAren’tonthe WrongSide, We Are the WrongSide, S. 276–278.  Kappelhoff: Der Krieg im Spiegel des Genrekinos,S.227. CASUALTIES OF WAR: Eine Revisionder Affekpoetik des Kriegsfilmgenres 231

Artikel des Magazins The NewYorker ausdem Jahr 1969,¹⁶¹ reiht sich in dieses Prinzip ein, indem er seineNachträglichkeit in mehrfacher Hinsicht ausstellt. Er tut dies nicht nur über eine narrative Rahmung,die im Jahr 1974 verortet ist, sondern in der audiovisuellen Inszenierung, die einenkomplexen zeitlichenund affektivenBezugzwischen den Zuschauern,moralischen Normen und der his- torischen Referenz herstellt. Der Film ist geprägt voneiner beinahe pädagogischen Insistenz, die das Themader Zeugenschaft und des Versagens immer wiederdurch Metaphern des kinematographischen Blicks gestaltet,mit der die Frageder moralischen Per- spektive und Rahmung unmittelbar als eine ästhetische Operation nachvoll- ziehbar wird. Das ambivalenteVerhältnis zwischenIndividuum und Kollektiv, das die Poetikdes klassischen Kriegsfilms prägt,wirdhier aufdie Fragenach indi- vidueller Urteilsfähigkeit und der Implikation in eine moralisch entfesselteVer- gemeinschaftungsdynamik zugespitzt:

Four grunts aresent out on ascouting mission with their sergeant („Meserve“); on the way, actingonhis orders, they kidnapaseventeen- or eighteen-year-old Vietnamese woman from her familyhooch in the middle of the night,gang-rape her,and eventuallykill her.The one soldier whorefuses to take part, „Eriksson,“ is branded ahomosexual and atraitor; when they return to camp, he reportsthe incident.The armybrass is reluctant to bringthe men to court-martial, however – to turn on their own, to expose behavior they must know is more than just an isolated case – and Eriksson, whose life has been in dangersincehedivorced himself from the actions of his buddies,begins to despair of ever bringingthem to justice.And then,unexpectedly, achaplain he confides in is sufficientlyshocked and outraged to force the hand of the military higher-ups.The men come to trial,where Meservestands on his excellent record and claims the victim was aVCspy and even the most inexperienced of the four, „Diaz,“ explains the importanceofmaintaining aunified front in the jungle. They all end up with stiff sentences.¹⁶²

Inwiefern der Gegenstand dieser Erzählungnicht nur eine für sich gesehen ab- scheulicheHandlung, sondern ein geradezu epistemisches Skandalon darstellt, wird deutlich, wenn man sich die zentrale Rolle der captivity in der nationalen Selbsterzählungvergegenwärtigt,die hier ausder Gefangenschaft bei den An- deren in die Gefangennahmedes Anderen umgekehrt wird: „Rescuingthe captives is the strongest of mythical imperatives, aself-evident ‚higher law‘.“¹⁶³ Im Fol- genden werde ichzeigen, was die Verletzung dieser Selbstverständlichkeit für den zeitlichenDurchgangder Zuschauer durch die Anordnungder Pathosszenen des

 Daniel Lang: Casualties of War. An Atrocity in Vietnam. In:The New Yorker,18. Oktober 1969, S. 61– 146.  Vineberg: DePalma in Vietnam, S. 25–26.  Slotkin: Gunfighter Nation, S. 361. 232 Vergangenheit: Hollywood-Genrepoetiken

Genres in Casualties of War bedeutet.Anschließend sollen über ausgewählte detaillierte Szenenanalysen die kinematographischen Operationen De Palmasals eine „Erziehung der Sinne“¹⁶⁴ untersucht und als Mittel der inszenatorischen Evokation vonSchuldgefühlen befragt werden. Aufder Ebene der Handlungund der Affektdramaturgie ist der Film klar strukturiert.¹⁶⁵ Es lassen sich drei sehr distinkte Abschnitte ausmachen, insgesamt gerahmt voneinem Prologund einem Epilog,die in der Zeit unmittelbar nach Kriegsende spielen: Der erste Teil (0:02:15–0:27:58) verläuft streng entlang eines Grundmusters des klassischen Kriegsfilms und stelltdie Formierung der Gruppe um Sergeant Meserve(Sean Penn) als einen zeitlichen Prozess dar,der sich durch die Erfahrung des gemeinsamenKampfes,ziviler Momente und durch geteiltes Leid und ge- meinsame Trauer entwickelt. Der zweiteTeil (0:27:58–1:13:01) setzt dem einen radikalen Bruch entgegen und restrukturiert das affektive Muster des Films rund um die Präsenz des Opfers Oahn (Thuy Thu Le), das entführt,vergewaltigt und getötet wird. Spürbargemacht wird diese Präsenz für die Zuschauer in der Erfahrung einer grundlegenden Stö- rung innerhalb der Gruppe,die sich aufspaltet in Meserveund seinen Handlanger Clark (Don Harvey), einen gedankenlosen Mitläufer (John C. Reilly), den hin- und her gerissenen Diaz (John Leguizamo) und den Protagonisten und ‚conscientious objector‘ Eriksson (Michael J. Fox). Der Schluss des Films (1:13:01– 1:39:28) schließlich widmet sich dem Konflikt zwischender Binnenlogik einer militärischen Wertegemeinschaft und einem zi- vilen Wertehorizont in einem ständig neu ansetzenden Versuch Erikssons, dem Unrecht irgendeine Form vonAnerkennungzuverschaffen. Ein zentraler analytischer Schlüssel liegt in der Tatsache, dass dasThemader Herausbildungeiner übergeordneten Körperschaft in Casualties of War durchgängigthematisiertwird. Aspektedes Aufgehens des einzelnen Individuums in der kollektivenOrdnungdes Militärs ziehen sich leitmotivisch durch die af- fektdramaturgischen Konstellationen des Films.Ich zitiere ausder Definition dieser Kategorie vonPathosszenen:

 Peretz: Becoming Visionary.  Die dramaturgische Anordnung der Pathosszenen vonCasualties of Warübernehmeich aus der Arbeit des Projektteams um Hermann Kappelhoff, das diesen und andere Kriegsfilme einer vergleichenden Methode qualitativ-empirischer Filmanalyse unterzogenhat: http://www.empi- rische-medienaesthetik.fu-berlin.de/emaex-system/affektdatenmatrix/filme/casualties_of_war/ index.html[Letzter Zugriff: 14.November 2016]. CASUALTIES OF WAR: Eine Revisionder Affekpoetik des Kriegsfilmgenres 233

Figurativbewegensich diese Pathosszenen stetszwischen zweiPolen: Zumeinen die Be- tonung individueller Körperlichkeit; diese vermittelt sich inszenatorisch über Bilder einer physischen Nähe, gesteigert in Bildern einer physisch drängenden Enge,inletzter Zuspitzung schließlich in der Inszenierungeiner individuellen Körperlichkeit,die explizit nicht oder noch nicht im Gruppenkörper der Truppe aufgeht bzw.aufzugehen vermag. Zumanderenin der Verschmelzungindividueller Körperlichkeitenzum Gruppenkörper; dieser Verschmel- zung wohnt stetseine zeitliche Dimension inne – als ihr Ausgangspunkt wirddas Individuum betont,der Übergang geht inszenatorisch stetsmit einer Formierungmehr oder weniger insuffizienter Individualkörper zu einem durchschlagenden Gruppenkörper einher.Dieser zweite Pol rückt oftmals das Motivdes militärischen Drills als treibende Kraft der Ver- schmelzungins Zentrum, bildkompositorisch mündet die geglückteVerschmelzung oftmals in geometrische Figurationen des Gruppenkörpers.

Das affektive Potential dieser Pathosszenen gründet sich aufErfahrungendes Ich-Verlusts einerseits,Erfahrungen einer Entgrenzungindividueller Potentiale im Gesamtzusammen- hang des Gruppenkörpers andererseits.¹⁶⁶

Hier findet in Casualties of War nun eine doppelteVerschiebungstatt: Zum einen gerätdie affektive Dimension deutlich ausdem Gleichgewicht vonder Entgrenzung des Individuumshin zur Angst und Beklemmung.Zum anderen wird das nicht-aufgehende Individuum,Eriksson, nicht einfach als insuffizient dar- gestellt, sondern als jemand, der sich widersetzt,der in diesem Körper nicht aufgehen will. Während die durchgehende Inszenierung einer problematischen Formierung des Gruppenkörpers die Affektdramaturgie über den gesamtenVer- lauf des Films hinweg bezeichnet,ist damit zugleich auch das Erfahrungsmuster gegeben, dass die militärische Organisationsform einer moralisch bewertenden Haltungzugänglich macht.Die physische Verschmelzung in und die Herauslö- sung individueller Körperaus dem Gruppenkörper – im Gefecht,imCamp und auf dem Marsch – bildet den permanenten Hintergrund,vor dem die moralischen Fragen Gestalt gewinnen. Diesen Prozess der Formation und De-Formation als zugleich audiovisueller Struktur und affektiv-moralischem Urteil giltesnun de- tailliert zu rekonstruieren. Nach der eröffnenden Klammer führt der Film direkt in eine unübersichtliche Situation,eine Dschungelkampfszene ein (0:02:15–0:09:54). Eine expositorische Kamerafahrt parallel zu den sich bewegenden Figuren wird durch statische Kompositionenabgelöst,deren räumliche Bezüge kaum nachvollziehbar sind.Zu Stasis, Dunkelheit und fragmentiertem Raum treten dann hektischer werdende Dialogeund die Geräusche unregelmäßiger Mörsergeschosse in der Ferne hinzu.

 Hermann Kappelhoff et al.: Definition der Kategorie „Formierungeines Gruppenkörpers (corps)“.http://www.empirische-medienaesthetik.fu-berlin.de/emaex-system/affektdatenma- trix/kategorien/formierung/index.html [letzter Zugriff: 14.November 2016]. 234 Vergangenheit: Hollywood-Genrepoetiken

Diese physische erfahrbare Drucksituation löst sich in einer entfesselten Montage einschlagenderBomben,rennender oder getroffener Körper,Lichtblitzen und Dunkelheit und geht dann in eine anderen Form der Drucksituation über: Ein Soldat – Eriksson – gerätzwischen einerBedrohung vonoben (den näher kom- menden Bomben ausdem Off)und einer Bedrohung vonunten (er ist mit den Beinen in einen Tunnel des Vietcong eingebrochen) buchstäblich in die Mangel. Im Laufe der Szene überwindetdann aber eine andere Figur – Meserve – die einzelnenDimensionen dieses Drucks: Er verbindetdurch seine zielstrebigeBe- wegungdie disparaten Räume und rettet Eriksson vorder Gefahr ausdem Tunnel und vorden näher kommenden Einschlägen. ZumAbschluss kooperierensie er- folgreich gegeneinen feindlichen Soldaten in einem explosivenTötungsrausch und begründen so den wehrhaftenGruppenzusammenhang:Erst der aggressive Trieb der wie ein einziger KörperagierendenSoldaten ist hier in der Lage, sich gegeneinen Feind zu behaupten, der mitder Natur verbündet ist und hinter bzw. unter den sichtbaren Oberflächen operiert.Diese Erfahrung vonKampf und Waffentechnologie als audiovisueller Phantasie der Omnipotenz und der Über- windungder chaotischen Kräfte des Feindesund der Natur ist im klassischen Kriegsfilm ein Kulminationspunkt – in Casualties of War ist es der Ausgangs- punkt,der die tragische Fallhöhe der Truppeals Held markiert. In den folgendenzwei Szenen (0:09:54–0:13:52und 0:13:52– 0:19:45) generiert und konsolidiert sich der so begründete Zusammenhalt der Gruppe durch die körperliche Eingliederung individueller Körper in die geschlossene Bewegung durch ein vietnamesisches Dorf hindurch sowie die dabei zugleich erfolgende Abgrenzung nach außen. Ganz und gar eingegliedert in die Gruppe werden alle Individuen dann im Modus des erneuten gemeinsamen Kampfes (0:13:52– 0:19:45) und der gemeinsamen Trauer um den gefallenen Kameraden Brownie (0:19:45 – 0:23:48) als einerBewegung,die die Körperund Gesichter der Soldaten ergreift und in der expressivenReaktion der Trauer und des Zorns miteinander synchronisiert.Tod und Leiden werden hier als etwas inszeniert,das sich erst in der Vergemeinschaftung durch den Gruppenkörper realisiert: die Kameraden teilen unweigerlich den Schmerz des Einzelnen, versuchen diesem Teilen einen Sinn zu gebenund reagieren mit Wutund Verzweiflung. Nach den Szenen der Trauer und des Zorns, mit denen sich die Gruppe endgü ltig zusammenschweißt, offenbart diese neue, übergreifende Körperlichkeit auch ihr unheimliches Potential als eine übergriffigeKörperlichkeit,die sich durch Frustpotential und sexuelle Aggression auszeichnet.Der klassische Hollywood- kriegsfilm der 1940erund 1950er verwendet sehr viel Zeit daraufzuzeigen, wie sich die Soldaten auseinem zivilen Hintergrund herauslösen und in die militä- rische Gesellschaft eingehen. In Casualties of War ist dieser Übergangvon Beginn an vollzogen und wird in seiner sexuellen Dimension explizit gemacht, CASUALTIES OF WAR: Eine Revisionder Affekpoetik des Kriegsfilmgenres 235 indem das klassische dramaturgische Muster ab der Szene gebrochen wird, in der den Soldaten ein Bordellbesuch verweigert wird (0:23:48 – 0:27:58). Ein aggressiver männlicherSexualtrieb gerätsoselbstzum Initiationsprinzip und die Verweige- rung der Bedürfnisse dieses Triebs durch einen Wachposten wird zu einem Mangel der Schlagkraft des Militärs: Die Kamerafahrt parallel zu den Figuren stellt diese als eine dynamische Einheitdar; abrupt wird ihre fließende Bewegung gestoppt – es gibt keinen Sex, denn der ist heute Abendvom Feind ausgebucht worden. Es ist,als ob sich der Rückstaudieser aufgehaltenen Bewegungsdynamik in eine Angst einflößendeQualität dieser Körperlichkeit spürbar umsetzt: Die mili- tärische Sozialität setzt sich über diese Selbstbeschränkunghinwegund vergeht sich am Zivilen. Die Entführung einer jungenvietnamesischenFrau (0:27:58–0:31:40) führt die Zuschauer mit einem unmittelbaren inszenatorischen Bruch in eine Figuration des Horrorgenres ein: Eine Kamerafahrt wird durch die Dauer und die Bewegungsqualität als eine ‚subjektive‘ Perspektive markiert,die jedoch zunächstkeiner konkreten Figurzuzuordnen ist.Die Dunkelheit,eine antizipierende Musik, das blaue Licht der Nacht und die markanteRöte einer Taschenlampetragendazu bei, für die Zuschauer das Ausdruckserleben einer spürbaren Präsenz zu gestalten, einer Entität mit unbekannten Kräften und Ei- genschaften, die sich nicht endgü ltig oder vollständig im Bild manifestiert.Genau dies meint die Genremodalität des Horrors und während der klassische Kriegsfilm diese Erfahrungsform dem Feind und der Natur zuordnet,werden sie hier nun mit der Gruppe verbunden: Der Umschnitt enthüllt zweiBlickträgerdieserAngst einflößenden Körperlichkeit – Clark und Meserve. Das Ergebnisist,dass die En- tität,das ‚Monster‘ dieser Szene keine einzelne Figurist,sondern die Gruppe als eine Körperlichkeit,von der wir nun wahrnehmen, dass wir nicht wissen, wozu sie fähig ist.¹⁶⁷ In den folgendenSzenen (0:31:40 –0:44:43) gestaltet sich aufEbene der Fi- guren- und Kamerachoreographie der Kampf zwischenEriksson und Meserveum die Deutungshoheit darüber,was ‚Armee‘ und ‚Zusammenhalt der Gruppe‘ be- deuten und was fürHandlungsweisen dem entsprechen. Dieser Konflikt wird als ein KampfumOahns Körper inszeniert,der zugleich ein Kampfumdie Position des zivilen Einspruchs im Inneren des militärischen Körpers ist.Denn um so etwas wie zivile Wertezur Geltungzubringen, muss Eriksson immer wieder den tem- porären Austritt ausbzw.die Konfrontation mit der Gruppe und Meserveriskieren. Die Integration individueller Körper in die Gruppe wird zu einem Spiel der zen- trifugalen und zentripetalen Kräfte des Gruppenkörpers.

 Vgl. zur weiterenAnalyse dieser Szene Bakels:Der Klangder Erinnerung,S.281–286. 236 Vergangenheit: Hollywood-Genrepoetiken

Die Choreographie der Figuren im Verhältnis zum Raum und zueinander ist auch die dominanteEbene, aufder anschließend die Deformation der Gruppe als Ursache oder als Bedingung der Möglichkeit der Vergewaltigunggestaltet wird (0:44:43 – 0:54:30). Als die Vergewaltigung geschehen ist,fällt ein entscheidender Wortwechsel, der die Bedeutung dieses Kampfes noch einmalanders rahmt:

Meserve: Youprobablylike the army, don’tyou Eriksson? Ihate the army. Eriksson: This ain’tthe army. This ain’tthe army, Sergeant.

Dahinter steckt im Grunde die Frage, ob die ‚Armee‘ in etwas bestehen könne oder dürfe, das mit der Zugehörigkeit zur rein männlichen Gemeinschaft eine Bindung an Zivilität ausschließt und sich allein aufeinen archaischen Grund des Krieges beruft.Diesen Kampf um die Deutungshoheit und um die Wirkungsmächtigkeit der Gruppe verliert Eriksson: Er scheitert mit dem Versuch, ihr zur Flucht zu verhelfen (0:54:30 –1:04:01), und muss ohnmächtig zusehen, wie Oahn inmitten einer chaotischen Gefechtssituation in einem hochstilisierten Leidensbild er- mordet wird (1:04:01–1:13:01). Die letztgenannte Szene durchkreuzt die klassische Logik der Gefechtsszene als einer direkten Verbindungder Formierung des Gruppenkörpers mit dem Entgrenzungspotential der Waffentechnik.¹⁶⁸ Die Verschmelzung der vielen In- dividuen zu einem durchschlagenden Gruppenkörper offenbartihre selbstzer- störerische Tendenz. Zudem wird das zentrale Pathos des Kriegsfilms – die existentielle Einsamkeit des Individuums im Moment des Schmerzes und des Todes – nicht mehr an eine Erfahrung des geteilten Leides und der sinnstiftenden Rekonstitution der Gruppe gebunden. Es wird stattdessen zum Movens einer Herauslösung des Betrachters ausder Armee und im Folgenden zur affektiven Bindunganeine insistierende, lastende Erfahrung der Zeugenschaft. In der Wiederholungder Bewegungsmuster und in der Dehnung der Ereig- nisse zwischen der Entführung und der Tötung entfaltet sich für die Zuschauer die Erfahrungder physisch spürbarenKräfte des Gruppenkörpers als Zusammenhalt und als Aggressor.Und es gilt dabei nicht nur eine Haltungzuder Vergewaltigung einzunehmen, sondern vielmehr zu der Tatsache, dass die Wahrnehmung der Zuschauer vonder ersten Kamerafahrt des Films an in diesen übergriffigen Körper eingewoben, mitihm solidarisiert war.Esgilt auch eine Haltungzum Scheitern der Flucht,zum Scheitern des Einspruchs und der Ohnmacht Erikssons zu gewinnen. Für die Zuschauer realisiert sich im Verlauf des mittleren Teils des Films ein moralischer Konflikt zwischen der verurteilten Grausamkeit gegenüber Oahn und dem Imperativdes Gruppenzusammenhalts aufder Ebene ihrer sinnlichenEr-

 Vgl. zur weiterenAnalyse dieser Szene Bakels:Der Klangder Erinnerung,S.286–294. CASUALTIES OF WAR: Eine Revisionder Affekpoetik des Kriegsfilmgenres 237 fahrung als ein Prozessder ständigen audiovisuellen Formation und Deformation der Physis der Gruppe. Die zeitliche Dehnung ist zugleich die notwendige Dauer des Prozesses in dem Eriksson als neue Form des Protagonisten des Kriegsfilms entstehen kann: nicht der entfesselter Krieger,nichtder kampferprobteVeteran und auch nicht der stille Heroismus des einfachen Infanteristen, der alle Leiden und Strapazen aufsich nimmt, sondern der Soldat,der verzweifelt seine mora- lische Integrität bewahren will. Das letzte Drittel des Films ist ein Kräftemessen zwischeneinem moralisch- wertenden Anspruchdes Individuums und der Armee als einer statischen, nicht empathiefähigen Gesellschaftsform, begleitet vonder Fragenach einem Sinn der Erfahrungvon Sterblichkeit und Verletzlichkeit (1:18:56–1:23:04) und gesteigert in einem Ausbruch vonAngst und Wut(1:26:38 – 1:31:13). In zwei kurzen Szenen wird gezeigt,wie Eriksson versucht,eine interne Untersuchung der Entführung,Ver- gewaltigung und Ermordungzuerwirken (1:16:04–1:18:56und 1:23:04– 1:26:38). Darin wird die militärische Führung als eine vonLeid und Zerstörungunbewegte Ordnungwahrnehmbar,die das aggressive Selbstbehauptungsrecht als ihr oberstes Prinzip artikuliert. Entscheidend ist,dass Eriksson in diesen Szenen nicht mehr als Randfigur im Feld der Kraftverhältnisse der Gruppe verortet ist,sondern sich herauslöst und ihr unmittelbar als Individuum gegenübertritt.Dies gilt auch für die Szene der Trauer (1:31:13 – 1:34:49) – in der Eriksson ‚beichtet‘ und bewirkt,dass die Leiche geborgen wird – die nun nicht mehr der rituelle Gedenkakt ist,indem sich ein Gemein- schaftsbezugvollzieht.Die Trauer als ein an die Zuschauer gerichteter Erinne- rungsappell findet nun weder,wie noch zu Beginn des Films,innerhalb der die- getischen Gemeinschaft der Gruppe noch über extradiegetisch hergestellte musikalische Stimmungen oder symbolische Bezüge statt.Die Kontemplation des Ausstiegs ausder militärischen Ordnung gerätzur Bedingungder Möglichkeit von Trauer und verbindetsich so mit der individuellen Erfahrung vonLeidals dem Verlust vonZivilität.Erst der Auftritt einer deus ex machina in Form eines mili- tärischen Seelsorgers eröffnet die Möglichkeit,der Unverzeihlichkeit des Verbre- chens einen Raum zu geben. Die folgende Szene vomMilitärprozess (1:34:49–1:39:28) zeigt dannnoch einmalinihrer absoluten Reduktion, den fixen Standpunkten und begrenzten Kadrierungen, die Inkongruenz vonmilitärischer Justiz und ihrem formalen Urteil einerseits und einem affektiv-moralischem Standpunkt andererseits. Diese Szene zeugt damitvon einer Unabgeschlossenheit des Konflikts, der als Kampf um den Körper der Frau begann und als Streit um den Ort des moralischen Einspruchs innerhalb oder außerhalb der militärischen Körperschaft weitergeführt wurde. Dies setzt sich darin fort,dass übereine im voice-over wiederholteDrohungdurch den Vorgesetzten das Militär das Recht aufZorn und Aggression fürsich rekla- 238 Vergangenheit: Hollywood-Genrepoetiken miert.Dem Individuum bleiben nur der Schrecken und der Nachhall, die Erin- nerung an eine belastende Erfahrung und eine ständigeWiederkehr des irrever- sibel Geschehenen. Gerade die pathetische Überhöhung der Schließungder narrativen Klammer (1:39:28–1:42:51) entlässt die Zuschauer in einer höchst am- bivalenten Stimmung. Die Inszenierung der Formierung eines Gruppenkörpers in Casualties of War zeichnet sich dadurch aus, dass sich diese Formierung in ihrem unbedingten Anspruchals eine Angst einflößende Entität darstellt,die jede Form der Abwei- chung sanktioniert.Die Inszenierung einer individuellen Körperlichkeit,die nicht im Gruppenkörperder Truppe aufzugehen vermag,wird so zu einem moralischen oder ethischen Anspruchaneben diesen Gruppenkörper.Teiltman zu Beginn noch die Trauer und den Zornder Soldaten über den überraschenden Todder FigurBrownie, so ändert sich dies zunehmend in Verwunderung und Empörung über ihr Verhalten und letztlich in das Gefühl der Schuld als machtloser,aber doch kompromittierter Zeuge.Ein spezifisches Empfinden wird so als ein individuelles, subjektivesIch-Erleben als moralisches Verhältnis zu den Gesellschaftsformen Militär und Nation gestaltet. Eine Szene ausdem letzten Teil des Films führt diese dramaturgischeEnt- wicklungnoch einmalinkonzentrierter Form vor(1:18:56 – 1:23:04): Die Kompanie marschiert.Ein scheinbar kompakter,geschlossener Körper der Armee bewegt sich wie eine Schlangeüber die Strasse.Ein Segmentist dabei jedoch deplatziert. Ein Neuling(Darren E. Burrows) hat den Anschluss an seineAbteilungverloren, sucht Schutz und Geselligkeit bei Eriksson und seinem Vertrauten Rowan(Jack Gwaltney). Diese weisen ihn genervt ab, was unmittelbar zu seinem Todführt: Ausgestoßen, aussortiert,weicht er vonder Strasse ab und wird voneiner Mine zerfetzt. Ungerührt setzt die Armee ihren Wegfort. Die Kamera – und Eriksson – jedoch verharrennoch für einen Moment aufdem Körper des Toten, die Augen zum Himmel aufgerissen, eine sentimentale, getragene Streichermelodie setzt ein. Die Unmöglichkeit einesrestlosen, reibungslosen Aufgehensdes Individuums in den Gruppenkörpererscheintindieser neuen Perspektive,inder Aufsicht der Kamera, nicht mehr als Zeichen der Insuffizienz des Individuums, sondern als eine Form, in der Körperals das Verwundbare entdeckt werden und das Nicht-Aufgehen des fragilen und gefährdeten Lebens,zum Mal, zum Makel des Gruppenkörpers wird. Eine Pluralität der sich gegenseitig ausgesetzten Körperwird hier als völlig neue Dimension in den Pathosszenen der Formierung eines Gruppenkörpers inszeniert. CASUALTIES OF WAR: Eine Revision der Affekpoetik des Kriegsfilmgenres 239

4.4.2 Eine Erziehung der Sinne

Im vorherigen Kapitel ging es darum zu zeigen, inwiefern Casualties of War einen Parcours ausden narrativen, inszenatorischenund affektivenGrundformen des Kriegsfilmgenres gestaltet,indemereine starke Bindungder Gruppe entstehen und schließlich im moralischen Konfliktbrechen lässt.ImFolgenden soll be- schriebenwerden,wie der Film bestimmte Bildformen einsetzt und variiert,umdie Wahrnehmung der Zuschauer in spezifische Verhältnissezuden diversen Kör- perlichkeiten Erikssons, des Opfers,Meserves, der Gruppe und des Militärs zu versetzen. Dabei beziehe ich mich aufeine Studie des Philosophen und Kompa- ratisten Eyal Peretz, der in De PalmasFilmen eine spezifische inszenatorische Logik untersucht hat.¹⁶⁹ Diese Logik stelltsich als eine Ethik der Wahrnehmung, der Bewegung,des Kadrierens und Dekadrierens dar,ein Denken des Körpers und der Multimodalität des Empfindens im Zeichen der Erfahrung von Horror, Sus- pense und Thrill. Die Verknüpfung dieserinszenatorischenLogik mitder affektdramaturgi- schen Analyse des Films soll es ermöglichen, Casualties of War als eine Ge- staltungmoralischer Gefühle evidentzumachen: die sinnliche Adressierung der Zuschauer über eine Verwebungder diegetischen Zeugenfigur mit den bildlichen Operationen des Films.Die zeitliche Entfaltungder Genrefigurationen und der spezifischen, expressivenBild- und Bewegungsmuster gestalten ein körperliches Empfinden, in dem sich die Position des Zeugen – seine Anklageund sein Scheitern – mit einer Position der Zuschauer verbindet.Diese Inszenierungs- muster sollen als eine kulturelle Form der Modulation eines Zuschauergefühls als Schuldgefühl nachvollziehbar gemacht werden. Es soll gezeigt werden, wie sie die Wahrnehmung des Geschehens in einen Zustand der Retrospektion und der Ir- reversibilität versetzen, durch Formen der Dehnung,der Wiederholungund der Isomorphie, durch audiovisuelle Verlaufsgestalten, deren expressive Qualitäten sich für die Zuschauer als die Wahrnehmung einer Welt entfalten, in der sie sich schuldig fühlen. Nach Peretz werden Moral und Bedeutung bei De Palma als Ereignisse zwi- schen Körpern, Bewegungen und sinnlichen Exzessen hergestellt. Es geht um Figurenchoreographien, Kamerabewegungen, Kadrierungen, Split-Screens und andere Formen, in denen die Bewegung der Körper vorder Kameranicht zu trennen ist vonder Bewegtheit des Bildes selbstund vonder Bewegtheit der ins-

 Peretz: BecomingVisionary.Peretz’ detaillierteAnalysen widmen sich den FilmenCarrie (USA 1976), The Fury (USA 1978), Blow Out (USA 1981) und Femme Fatale (F 2002); der theo- retische Hintergrund geht vonPlatons Bilderskepsis über Lacan,Derrida und Nancyhin zu Cavell und Deleuze. 240 Vergangenheit: Hollywood-Genrepoetiken

Bild-gesetzten Weltausschnitte. Dies meint nicht ‚nur‘ Stil und Selbstreferentia- lität,sondern bearbeitet unmittelbardas Verhältnis vonSinnproduktion und Sinnlichkeit.¹⁷⁰ Im Zentrum steht beiPeretz das Prinzip, den Beginn und das Ende der Ka- merabewegung als Formen der destabilisierten Orientierung und Bedeutungsge- nese zu nutzen.¹⁷¹ Dies ist auch in Casualties of War vonder ersten Szene (0:00:40 –0:02:15) an präsent: Es beginnt mit einer stehenden Einstellungauf das Interieur eines Straßenbahnabteils,die Kameraist in der Mitte des Gangsungefähr aufHüfthöhe positioniert,sodass das Abteil symmetrisch aufgeteiltwird. Ein gutes Dutzend Leuteverteilen sich recht gleichmäßig aufdas Bild, in der rechten unteren Ecke ist eine Zeitungsüberschrift –„NIXON RESIGNING“–deutlich zu lesen. Die Bahn fährt durch einen Tunnel in eine Station ein, roteLichtquellen fahren am Bildrand vorbei, die Bahn hält,Leutesteigenein und aus. Just in dem Moment,indem eine der einsteigenden Figuren, eine asiatisch aussehende junge Frau mit bunten Ordnernandie Brust gedrückt, sich aufeinen Platz mit dem Rücken zur Kamerasetzt,beginnt diese eine Fahrtnach vorn (0:01:07). Die Kamera fährt an ihr vorbei und weiter aufeine andere Figurzu, den Stardes Films,Michael J. Fox, schlafend den Kopf an das Fenster gelehnt.Als die Kameraihr Ziel erreicht und die Bewegung anhält,überträgt sich ihre Bewegungauf eine Bewegungder Bahn: Diese fährt ruckartiglos und die Figurerwacht und blickt mit einer Mi- schung ausNeugier,Ungläubigkeit und Erschrecken in das Off. In genaudieser Folgevon Ereignis und Bewegung stelltsich das ein, wasPeretz als den offenen Horizont der Bedeutungsschöpfung bezeichnet:Der Film deutet uns Zuschauer aufetwas hin, aufeine signifikante Verbindung, ohne dass sich das schon in so etwas wienarrative Information ummünzen ließe. Ein kurzer Einstellungswechsel vonGroßaufnahmen aufihn und halbnahen Point-of-view-Einstellungen aufdie junge Frau werden voneiner einsetzenden Musik untermalt: Es ist das Bambusflöten-Motiv,dass uns späterals das Motivder Entführung wiederbegegnenwird, genauso wie die roten Lichtblitze, die dazu auf sein Gesicht fallen, als die rote Taschenlampe der Entführer wiederkehren werden. Noch während die ersten Töne der Bambusflöte nachhallen, fährt die Kameravon seiner Position ausauf die junge Frauzu, porträtiert sie in Untersicht,während die Zeitung hinter ihr aufgefaltet wird und erneut „NIXON RESIGNING“ deutlich ins Bild gesetzt wird. ZumEnde eines kurzen Schuss-Gegenschuss-Wechsels wendet sie die Augen ab und die Kameraverharrt im folgenden Umschnitt aufihm, der den

 Peretz: Becoming Visionary,S.127.  Peretz: BecomingVisionary,S.36: „In De Palma’sfilms,itisalways the arrest of the camera’s movement that punctuates,that givesthe period, and it is always highlyinstructive in watchinghis films to noticepreciselywhen he decides to stop moving.“ CASUALTIES OF WAR: Eine Revisionder Affekpoetik des Kriegsfilmgenres 241

Kopf wieder an die Scheibe lehnt,und das Bild blendet langsam in den Dschungel über.Die folgenden 100 Minuten sind der Versuch zu entfalten,was dieser Moment des Zusammenzuckens bedeutet,inwelchemSinne sich die konkreten und die metaphorischen Opfer des Krieges in die Gegenwart zusammenzuckender Körper eingetragen haben werden. Im Durchlauf durch verschiedene, immer wiederreaktualisierteBewe- gungsmuster und sich zueinander verhaltende Blick-und Bewegungsachsen so- wie die damit verbundenen Gefühlskomponenten wird die Zuschauerwahrneh- mung mit einerFiguration des Zeugenverwoben. Diese ist dabei aber nicht identisch mit einem empathie- oder sympathiebasierten Verhältnis zu einer fik- tivenFigur, sondern ein Strukturprinzipder audiovisuellen Gestaltung einer Re- lation zwischen Körpern.¹⁷² In der Szene der nächtlichen Entführung Oahns ausihrem Heimatdorf (0:27:58–0:31:40) verläuft diese Perspektivierung in drei Abschnitten: Zuerst gibt es eine Identität der Kamerabewegung mit einemunheimlichenKörper,dann bindet sich die KameraanEriksson als Zeugen, den sie alternierend mit Point-of- view-Aufnahmen fixiert und schließlich entwickelt sich ein dynamischer Wechsel der Perspektiven. Dieser Verlauf geht einher mit einem Prozess des Durchlaufens vonAngst,über Unruhe, hin zu Mitleid und schmerzhafter Schuld,einer Impli- kation in verwerfliches Verhalten und den gelähmten Impuls des Anhaltens der Zeit,des Rückgängigmachens:

Die kompositorische Anordnungvon sinnlich erfahrbaren Bildern der Angst,des Mit-sich- Ringens und des Schmerzes lässt sich hier als ein Parcours betrachten, der gewissermaßen als ein Affektskript des Schuldgefühls gefasst […]werden kann.¹⁷³

Das ungläubigeStaunen im Gesicht vonMichael J. Foxist deshalb auch kein in- dividuelles,der Figurzuzuschreibendes personales Empfinden, es ist genaudie Übergangszone der Affekte, es ist die Zeitder Verwandlungdes Bilds als Hor- rorfiguration in ein Bild der Unruhe, es ist die Zeit der Verwandlungder Unruhe in Mitleid und Lähmung.¹⁷⁴ Und diese Zeiten des Übergangs in den Mikrobewe- gungen des Gesichtseinerseits und der Choreographie der Figurenkörper und Kamerabewegungenandererseits sind zusammen die Erfahrung der Zeitlichkeit eines Schuldgefühls im Moment seiner Entstehung als lähmendes Erschrecken. Auch die Szene der Vergewaltigung (0:44:43 – 0:54:30) ist ein Beispiel dafür, wie Casualties of War das Verhältnis vonFiguren und Raum als eine zeitliche

 Peretz: Becoming Visionary,S.41.  Bakels:Der Klang der Erinnerung, S. 286.  Vgl. zum Staunen als Affekt-Bild: Deleuze: Das Bewegungs-Bild, S. 124–127. 242 Vergangenheit: Hollywood-Genrepoetiken

Dynamik des Wechsels vonenergischen Bewegungsimpulsen und schmerzhaften Hemmungeninszeniert und somitals eine affizierende Zeitstruktur gestaltet.Die Choreographie der Figuren und der Kamera, die Dynamik der Blicke und Gesten verwickeln die Zuschauer in einen Prozess des Herausgefordertseins und des Positionbeziehens im Rahmeneiner eskalierendenKonfliktsituation. In der zeit- lichen Entfaltung dieses Konfliktesentsteht eine Wahrnehmung des Raums der Gruppe als ein Feld vonAnziehungs- und Abstoßungskräften,vonKollisionen und Frontbildungen. Diese Entfaltungerscheintauf affektiverEbene als eine Ge- fühlsdramaturgie der Empörung,des Ekels¹⁷⁵ und der ohnmächtigen Entgeiste- rung. Es beginnt mit einer langen Einstellung (0:44:43 – 0:46:01), einer langsamen Kranfahrt auseiner Aufsicht in Totale nach unten, in der zunächstDiaz, Meserve, Clark und Hatcher zu sehen sind, im Off hört man die Geisel in der Hütte husten, an der die Gruppe eine Rast einlegt.Mit der Fahrt kommt Eriksson halbnah vorne sitzend ins Bild, während Meserveaus dem Hintergrund zu ihm schlendert.Me- serveverwickelt Eriksson in ein Gespräch, dessen betonteLässigkeit zugleich auf eine extreme Anspannung verweist: Es geht um die verbale Evokation der fun- damentalen Feindlichkeit der Umgebung und die Beschwörungeines Zusam- menhalts und gegenseitiger Angewiesenheit trotz allem. Als Eriksson verlegen Zustimmung murmelt,fordert Meserveihn aufmitzukommen. Der Lauf der folgenden Eskalation folgt der Logik einesständigen schlagar- tigen Wechsels der Bewegungsintensität und der Etablierungdes Platzes vorder Hütte als einer Arena (0:46:01–0:49:31). Das Bild schneidet um aufeine Per- spektive ausdem Inneren der Hütte heraus, eine Fahrtund Schwenk-Kombination folgt dabei Meserveund Eriksson, die in einer geschwungenen Halbkreisbewe- gung aufdie Veranda der Hütte laufen, wo mit der fließenden Kamerabewegung Oahn hustend ins Bild kommt.DieseDynamisierung mündet aber sofort in eine sehr starre Bildkomposition, in der Oahn zwischenEriksson aufder linken und Meserveauf der rechten Bildhälfte eingerahmt wird. Die Symmetrie der Kompo- sition wird aber durch Meserves Aggressivität verschoben.Mit seinem Versuch, die Geisel zu küssen, erhöht sich die Schnittfrequenz und die verbale und gestische Intensität.Als Meserveimmer heftiger fordert,Eriksson müsse sich an der be- vorstehenden „interrogation“ der Gefangenen beteiligen, wird dieser aktivund es folgt eine erneute Kombination ausFiguren- und Kamerabewegung,die sich zu der vorherigen genaukomplementär verhält: Der Kampfplatz ist bereitet.

 IchdankeTobias Haupts für den beharrlichenHinweis, dass die Figuration des Ekels für diese Szene zentral ist. CASUALTIES OF WAR: Eine Revision der Affekpoetik des Kriegsfilmgenres 243

Eriksson wird vomzeternden Meserveverfolgt,durchläuft die anderen Figu- ren, die jedoch aufseine Bewegung erst trägereagieren und sich dann um den immer wüster schimpfenden, mitseinem Gewehr um sich schlagendenMeserve als dem Polmit der größeren Anziehungskraftversammeln. Die folgende, sehr regelmäßigeSchuss-Gegenschuss-Montage(0:46:57– 0:48:01) zeigt im Wechsel die sich immer massiverformierende Gruppe um Meserveund den ausdiesem Gravitationsfeld ausgetretenen Eriksson. Nachdem die verbale Drohungdurch homophobe Beleidigungen Eriksson nicht zurück in den Gruppenkörper holt, schlägt Meserves Aggression in eine neue Stufe um – eine neuer Einstellungs- wechsel zeigt im Profil in Großaufnahme,wieEriksson vonihm und Clark physisch bedrängt wird. Als auch dies nicht hilft,droht Meservedamit, dass die Geisel vielleicht nicht das einzigeVergewaltigungsopfer bleiben könnte, womit Eriksson erneutvor der physischen Vereinnahmung fliehtund der Konfliktsich in eine Duellsituation mit gezückten Waffen wandelt. Aber auch diese Kombination ausschnellen Schnittenund hastigen Bewe- gungen wird wieder entschleunigt.Meserveschleudert dem verdutzten Eriksson seine Waffe zu, denn er hat den Kampf um den Körperder Geisel längst gewonnen. So wird die nun folgende Vergewaltigung zu einemunmittelbarenResultat des Bruchs im Gruppenkörper (0:49:31–0:50:53): Mit einemMonolog,Full Metal Jacket (USA/UK 1987, Stanley Kubrick)zitierend, über das männliche Ge- schlechtsteil als eigentlicherWaffe, bewegt sich Meservedurch die anderen Fi- guren hindurch aufdem gleichen Halbkreis zurück in die Hütte, zum Opfer. Während die Kameraihm folgt,bilden die Anderen nun die Barriere zwischen Eriksson und der Vergewaltigung.Eine melancholische Musik setzt ein, untermalt die Ausweglosigkeit des Geschehens: ein Kontrapunkt für die ununterbrochenen Schreie Oahns. Mit Oahns kurzenFluchtversuch aufdie Kamerazu, mit der Eriksson und die Zuschauer zugleich adressiert werden, setzt wieder jene Inszenierungsweise ein, die schon in der Szene der Entführung aufdas Ergreifen der Geisel folgte: Das Gesehene wird an die Figurdes Zeugen gebunden. Ein Gegenschuss aufden er- schöpft und ungläubig blickenden, Eriksson wechseltmit dem Anblick Meserves, der die schreiende Oahn aufden Tisch drückt und ihre Hose zerreißt. Eriksson langsame Seitwärtsbewegungwird ergänzt durch eine leichte Kamerafahrtseit- wärts aufdie stattfindende Misshandlung, die kaum vonder ins Bild kommenden Wand verdeckt wird. Als Eriksson bei dem debil grinsenden Clark ankommt,er- folgt ein erneuter Schnitt aufMeserve, der sich umdreht und in die Kameraruft: „Youwanna watch?“ AlsEriksson nun mit einiger Verzögerung einfällt, dass er dies vielleicht nicht will, wird er vonClark gepackt und mit gezücktem Messer erst gezwungen weiter hinzuschauen und dann jedoch weggeschickt. 244 Vergangenheit: Hollywood-Genrepoetiken

Ein Umschnitt zeigt nun in einer Halbtotalen und starker Teleoptik die Hütte in der Meserveweiterhin deutlich hörbar,aber kaum mehr sichtbar, sein Opfer malträtiert,davor der Rest der Gruppe und in der rechten BildhälfteEriksson, der mit dem Rücken zum Geschehender Kameraentgegen läuft (0:50:32–0:50:53). DiesesBild ist dabei extrem verkantet.Die VerbannungErikssons ausdem Gruppenbild mit Vergewaltigung führtdazu, dass die Zeugenposition direkt in die Bildstruktur selbst eingetragen wird: „He doesn’twatch while his comrades violate the girl, but his presenceisliterallythe frame through which we see it.“¹⁷⁶ Im Zwiespalt ausstillgestelltem, voyeuristischem Blick und Nicht-Sehen-Wollen, in der Spannung ausWahrnehmung und dem exzessivenEreignis, das in keinen bloß registrierenden Sehenund Hören aufzugehen vermag,gerät das Bild ausden Fugen. Die Vergewaltigung wird zu einer passivzuerleidenden Dauer,inder dieses Bild, in seiner Gebrochenheit und Unvollständigkeit,auszuhaltenist. Im Folgenden bleibt diese starreEinstellungkonstant,mit zwei durch lang- same Überblendungenüberbrückten zeitlichen Sprüngen, in denen der weitere Vollzugder Gräueltat jeweils ausgespartwird(0:50:53 – 0:52:53). Während die Musik eine größereorchestrale Intensität entfaltet und die Schreie kaum mehr zu hören sind, wechseltder Dialog zwischen der Frageder Reihenfolge und dem in seiner Banalität empörend obszönen Wunsch Hatchers nach einem kalten Bier und anderen Erinnerungen an ein ziviles Dasein, die zu einer bösartigen Karikatur ihrer selbst werden. Die Vergewaltigung wird durch die verkantete, statische Kamera, den ei- gentlichenAkt unsichtbar machend,als ein ohnmächtiges Bild inszeniert,als ein insistierender aber machtloser Blick. Als die Gruppe nach der vollzogenen Gräueltat lose aufder Veranda verteilthockt,ist das Bild durch die Nacht und den Regen sowie die Beleuchtung in der Hütte in eine auffälligeFarbkomposition aus bläulicher Umgebung und rötlichem Farbfleck aufgeteilt. Im Gegenschuss in ex- tremer Großaufnahmewiederholt sich in Erikssons Gesicht genaudiese Farb- komposition, als würde er das Geschehen dadurch bezeugen, dass es sich phy- sisch aufihn übertragen hat:

One does not then witness necessarilywhat one has factuallyseen, but rather,whathas been transmitted according to an altogether different logic; one does not witness facts,but the blank and enigmatic excess of an event that is the other,invisible, and hauntingside of these facts.¹⁷⁷

 Vineberg: DePalma in Vietnam, S. 27.  Peretz: Becoming Visionary,S.78. CASUALTIES OF WAR: Eine Revision der Affekpoetik des Kriegsfilmgenres 245

In der audiovisuellen Inszenierung bleibt Eriksson als Handelnder ausdem Raum der Gruppe ausgeschlossen, er ist sozusagenauf der anderen Seite der Fakten und in keiner räumlich kohärenten Position zu den anderen verortbar. „This ain’tthe army, sergeant.“ Aber was ist es dann?Esist die Kapitulation der Armee vorden Kräften des Amorphen. Für die Zuschauer ist es die Erfahrung eines moralischen Ekels,¹⁷⁸ der die Entwertung der genreimmanent positiven Wertigkeit des Gruppenzusammenhalts gegendie Natur betrifft.Esgibt aber auch einen rein physiologischen Ekel angesichts der schmutzigen Hütte, der schwit- zendenKörperund der kauenden,spuckenden Obszönität Meserves. Der Film entwickelt an Gestik und Mimik dieser Figureine „übermäßigeoder am falschen Orte entfaltete Vitalität“¹⁷⁹ als Gegenstanddes moralischen Ekels,eine übergrif- figeVitalität. Diese Szene gestaltet wenigerdas Unrecht an Oahn als singulärem Akt als vielmehr die Erfahrung der dahinterliegenden, ekelerregenden Gleich- gültigkeit gegenüber Richtig und Falsch, die diesen Akt ermöglicht. Wieumdiese Gleichgültigkeit zu bestätigen, setzt die folgende Szene zunächst unbeirrt mit einem Standardszenario des Kriegsfilmgenres ein: Eine feindliche Stellung wird beobachtet (0:54:30 –0:55:44), anschließend werden Eriksson und Hatcher dazu beordert,zusätzliche Munition ausder Hütte zu holen, in der Clark die Geisel bewacht.Dieserwill die niedere Aufgabe nicht weiter erfüllen und befiehlt Eriksson, den Posten zu übernehmen(0:55:44– 0:57:24).Indiese rein militärische Interaktion der Soldaten brichtzaghaft aufder Tonspur und durch einen flüchtigen Blick Erikssons die Präsenz der Geisel ein und wird am Ende, als Eriksson allein in der Hütte zurückbleibt, energischer.Ineiner langen Großauf- nahme realisiert sich in seiner Mimik die Erkenntnis,dass dasmoralische Problem bei weitem nochnicht aufgelöst ist. Der anschließende Abschnitt widmet sich der Erfahrungder Dauer,die nötig ist,umaus diesem elenden, in die Ecke gekauertem Bündelein Gesicht und eine Stimme der Anklagezumachen (0:57:24–1:00:40). Eriksson wendet sich um und das Bambusflötenmotivder Entführung setzt ein, während fahrende Großauf- nahmen aufihn und Point-of-view-Kamerafahrten aufOahn miteinander wech- seln. Sie weicht vorihm zurück,ihre Schreie und hilflosen Gesten bezeugenauf eine extrem schmerzhafte Art und Weise, dass Eriksson nach wie vorTeil dieses übergriffigen militärischen Körpers ist.Umihre Fesseln zu lösen,muss er sie letztlich genauso körperlich überwindenund gewaltsam still stellen, wiezuvor ihre Vergewaltiger.

 Kolnai: Der Ekel, S. 39–47.  Kolnai: Der Ekel, S. 41. 246 Vergangenheit: Hollywood-Genrepoetiken

Als er sie befreit hat,steigert sich die Musik in eine klagende Streichermelodie, während sie sich verängstigt in eine Ecke zurückzieht und beginnt,mit aufge- rissenen Augen aufEriksson klagend, hustend und jammernd einzureden. In der Schuss-Gegenschuss-Montagezwischen ihrem Klagelied und seinem konster- nierten Gesicht und gemurmelten Entschuldigungen wird besonders deutlich, dass es für die affektive Wirkungder Schuldzuweisungnicht aufden semanti- schen Inhalt des gesprochenen Wortes ankommt,sondern aufden expressivenAkt des Adressierens.Eine Wechselbewegung vonGegen- und Miteinander,von Ver- schmelzenund Trennen des Sprechens,des Schreiens und der Filmmusik: Syn- chron zu der Darbietungihres Gesichts und ihren ununterbrochen Anflehungen steigert sich die Musik zu einem Höhepunkt mit hohen Streichern, in denensich ihre Worte mit den ansteigendenTonverläufen verflechten, während Erikssons kurze Sätze genauindie Abwärtsbewegungen der Melodie fallen. Der Anspruch aufÜbersetzungund Übertragung wird im Folgenden als eine Reihe vonhektischenÜbersprungshandlungengestaltet,untermaltdurch stän- digeMusikwechsel. Wieein verängstigtes Tier nimmt sie hastig die krümeligen Kekse und die Feldflasche entgegen, die Eriksson ihr anbietet, und redet wieder, nun in einem leiseren, ermatteten Tonfall aufihn ein, während er nur immer wiedermit seinem Nichtverständnis antworten kann: „Idon’tunderstand. Idon’t understand. Idon’tknow what you’re saying.“ Der folgende Umschnitt aufdie nach wie vordie Feindesstellungüberwa- chende Gruppe um Meserveleitet eine Parallelmontagezwischen dem nun ein- setzenden Fluchtversuch Erikssons und Oahns und dem zu ihnen zurückge- schickten Clarkein, der diesen letztlich verhindernwird (1:00:40 –1:04:01). Es folgt ein Wechsel vonVerzögerungen, Hemmungender scheinbarewig dauernden Flucht und kurzen Bewegungsimpulsen des heranschreitenden Clark als einem klassischen inszenatorischenMittel der filmischen Spannungserzeugung.Die langeEinstellung in der Hü tte (1:01:14– 1:01:56) formt dabei alleindurch die extrem weitwinkligenBrennweite die Welt zu einer Enge, macht sie als eine in sich ge- krümmte Ausweglosigkeit wahrnehmbar.ImKontrast zu der Weite des wolken- verhangenen Himmels in den ersten Einstellungen aufClark entsteht eine bild- liche Spannung, die in ihrer Dringlichkeit somatischerfahrbar wird und sich dann endlich als die Fluchtbewegungaus der Hütte herausrealisiert. Die Einstellungauf diese Fluchtbewegung(1:02:54– 1:03:12) ist dabei para- digmatisch für die ästhetische Logik der Kamerabewegung bei De Palma.¹⁸⁰ Zu- nächstzeigt eine Kranfahrt in der Halbtotalen, wie Eriksson und Oahn vonder Hütte weg und aufdie Kamerazulaufen. Ein erster Umschlag dieser Bewegung in

 Peretz: Becoming Visionary,S.26–33 und passim. CASUALTIES OF WAR: Eine Revisionder Affekpoetik des Kriegsfilmgenres 247

Statik stellt sich ein, als sie bei der Kameraankommen und Eriksson selbst plötzlich stoppt.Die Bewegungen werden präzise in dem Moment abgebrochen, in dem sie kurz davorsind,den Bildkader zu verlassen. Wasdies bedeuten würde, wird kurz daraufdirekt ausgesprochen: den Kader zu verlassen, hieße zu deser- tieren. Er schicktsie weg,schiebt sie nach links ausdem Kader hinaus. Dann setzt wiedereine Fahrt ein, diesmal aufdie Hütte zu und Eriksson wird vondieser Fahrt quasi zurückgedrängt.Plötzlich kehrt sie ausdem Off wiederindas Bild zurück und erneut schlägt das Bild um:Während sie sich mitdem ganzen Gewicht ihres Körper-Seins aufihn wirft,rückt das Bild in die Schräge, lässt das Bild unter dem Konflikt zwischenihren Bewegungsimpulsen und der Beharrlichkeit des Bildka- ders als Grenze einbrechen, einknicken, in die Knie gehen. Die Verkantungdes Bildes setzt sich in den folgendenGroßaufnahmen fort, die zeigen, wie sie sich immer wiederanihn drängt und wie er sie immer wieder vonsich stößt, ausdem Bild hinaus zu drücken versucht: „I’msorry.Ican’tdo this.“ Diese Einstellungenwerden dabei immer schneller mit den Aufnahmen des lauschenden und dann heraneilendenClarkmontiert.Die Verkantung kann ver- standen werden als die sinnliche Präsenz vonetwas Nicht-Sinnlichem, die im Sichtbarenwirkende Intervention vonetwas Nicht-Sichtbaren, nämlich der Zu- gehörigkeit zur Ordnungder Armee. DieseOrdnung wird aufeiner sinnlichen Ebene als eine Kraft realisiert,die der FigurEriksson den Gebrauch der eigenen Freiheit verweigert. Als Eriksson und Oahn doch wieder aufbrechen, steigert sich die Musik in eine trauernde, elegisch-schwelgende Streichermelodie, mit der diese Flucht bereits als vergebliche spürbar wird: Ihre Bewegung in der Halbtotalen vonhinten nach vorne aufdie Kamerazuwird vonClarks Bewegung vonrechts nach links durchkreuzt.Eigentlich aber ist es die Zeit selbst,die Irreversibilität des Ge- schehens, die den Fluchtversuch durchkreuzt: Die musikalische Untermalung, die zeitliche Dehnung in den Übersprungshandlungenund dem zweifachen Ansatz zu fliehen – all dies versetzt das Dargestellte in einen Zustand der Retrospektion. Somit wird deutlich, was das oben beschriebene abrupte Ende der Kamerafahrt und die exzessive Kadrierung an dieser Stelle auch bedeuten: Sie bedeuten die Unmöglichkeit ausdieser Erinnerung herauszukommen und zugleich bedeuten sie das schmerzhafte Bewusstsein, dass es doch hätte möglich sein müssen, es zu verhindern, dass es hätte möglich sein müssen, ein anderes,unvorhersehbares frame zu betreten, ausdem Rahmen der militärischen Ordnungund dem Rahmen des Kriegsfilmsauszutreten. Das Versagen der Figurist unmittelbar in der Wahrnehmung der Zuschauer realisiert,die expressivenQualitätenund zeitlichen Strukturen des audiovisuellen Bildesgestalten eine Erfahrungsform vonmorali- scher Schwäche, als eine Bewegungsdynamik, die als Bewegung ein Scheitern ist. 248 Vergangenheit: Hollywood-Genrepoetiken

In der folgenden, den mittlerenTeil des Films abschließenden Szene (1:04:01–1:13:01), wird dieses Scheitern, diese Erfahrung der Schuld nocheinmal variiert und in ein klassisches inszenatorisches Musterdes Kriegsfilms,der Kampfszene, eingefügt.¹⁸¹ Durch diese Verwebungder Inszenierungsweise der Kampfsequenz mit der Modulation des Schuldgefühls setzt sich die Ketteder af- fektivenUmwertungender zentralen pathetischen Bildkomplexedes Kriegsfilm- genres in Casualties of War fort.Hier sind es die Lust an der Verschmelzung der Körper und der Waffen im Rausch des Kampfes sowie das Motivdes Leidens, die umgewidmet werden. Ersteres mündet in ein Bild der totalen Selbstzerstörung während Letzteres nicht dem einzelnen Soldaten, sondern dem Mord am Opfer der Gräueltaten gilt. Die Szene beginnt mit einer Etablierungder militärischen Situation – der Trupp um Meservebeobachtet eine feindlicheStellung am gegenüberliegenden Ufer eines Flusses.Zunächstentspinnt sich aber eine angespannte Situation im Inneren der Gruppe als Meserveerst vonEriksson und dannvon Diaz verlangt,die Geisel zu töten (1:04:01–1:07:25). Unter all den Momenten der Gerinnung der Zeit in diesem Film ist dessengedehntes Heranrobben an Oahn wohl die Stelle, die am deutlichstendie Qualität eines sich hochschaukelnden Albtraums annimmt,dy- namischbegleitet vonanschwellender Musik. Phantasmatisch ist diese Dehnung vonRaumund Zeit nicht zuletzt deshalb, weil sie vonder Idee getrieben scheint, das Ereignis aufzuhalten, das in der Logik der Retrospektion des Films immer schon bereits geschehen ist.Eriksson unterbricht diesesSpannungsmoment mit einer Gewehrsalve in die Luft,eine Peripetie, die dazu führt,dass die Gruppe sich unvermittelt in ein Gefecht geworfen sieht. Das Feuergefecht setzt zunächstinder klassische Inszenierungslogik des Gefechts ein, akustisch untermaltvom puristischen, trockenen Klang der unun- terbrochenen Gewehrsalven, so dass die Einstellungender Soldaten vonvorne oder halb vonder Seite, mit einer konstanten Blickachse nach links vorne,sich abwechseln mit Totalen und Halbtotalen aufden Feind ausihrer Perspektive (1:07:31–1:08:21). In dieses Gefecht fällt nun eine besondere Einstellungsart,die den Bildkader ähnlich wieein split-screen durch eine spezielle Linse in zwei Hälften mit getrennten Schärfeebenen teilt, einer Großaufnahme des schießenden Eriksson aufder rechten und einer Halbtotale aufder linken Seite, in der wir sehen, wie ClarkOahn mit einem Messer attackiert (1:08:21– 1:08:28). Diese Ein- stellungwird unterbrochen voneiner Point-of-view-Einstellungentlang des Ge- wehrlaufesvon Eriksson, die zeigt,wie er einenanonymenFeind aufs Korn nimmt, schießt und trifft.Was die dann wiedereinsetzende Aufteilungder Linse dabei

 Bakels:Der Klang der Erinnerung, S. 193. CASUALTIES OF WAR: Eine Revisionder Affekpoetik des Kriegsfilmgenres 249 zeigt ist tatsächlicheine multiple Aufspaltung der Szene selbst und ihrer Be- deutungen.¹⁸² Es ist die Aufspaltungzwischen Tonund Bild. Es ist die Aufspaltung der Aufmerksamkeit zwischender Sorge um die Geisel und der Verteidigunggegen den militärischen Feind. Es ist eine Aufspaltungdes Sehens selbst, denn für die Zuschauer wird nicht nur der Gewaltakt sichtbar, sondern auch das Nicht-Sehen dieses Gewaltakts,die Blendungdes kämpfenden und schießenden Soldaten.Und es ist eine Aufspaltung der Bedeutung dieserSzene selbst,zwischeneiner Kampfszene und dem damit verbundenen anonymenTöten aufder einen und einem kaltblütigenMord aufder anderen Seite. Der folgende Abschnitt überführtdie Spaltungder Situation in Gefecht und Marter in eine Form des Kurzschlusses oder der Stauchung,indemdie Interakti- onsachse des Gefechtsund der Waffengewalt umgebogen und nun direkt entlang der Achse des inneren Gruppenzusammenhalts, alsoparallel zur Gefechtsfront, aufden Körper der jungenFraugerichtetwird (1:08:50 –1:11:16). Denn diese richtet sich wieder aufund geht,stolpernd, schleppend aufihre Peiniger zu, in einer weiteren Steigerung der Verwandlungihres Körpers, ihrer Stimme und ihres Ge- sichts zu einereinzigen Ausdrucksfiguration der Anklage. Für einen kurzen Momentnähert sich der Film einer subjektivenPerspektive Erikssons an (1:10:34–1:10:44), indemfahrende Großaufnahmen aufihn, wie er aufMeserveund Oahn zu läuft,mit Kamerafahrten ausseiner Perspektive und mit kurzen, stehendenNahen aufMeservealterniert werden. Meserverammt ihm schließlich, am Höhepunkt einer sich steigernden Schnittfrequenz, das Gewehr in den Leib:Mit dieser kurzen Annäherung an Erikssons Handlungsimpuls übersetzt der Film die extrem bedrückende Wirkungdes blutenden,winselnden Gesichts, das uns Zuschauern seineVerwundungentgegenhält,ineine kurze, intensive Wiedergutmachungstendenz, die aber sofort abgebrochen und in ein Bild der Ohnmacht mündet (1:10:44–1:11:01). Durch die Dauer der Szene, durch den Rhythmus der Montageund durch die Musik wird die Großaufnahme des blu- tenden, wimmernden Antlitzes selbst zu einem anklagendenBild. Alle Bewe- gungen, alle Blicke, alle Handlungsachsen werden im Laufe ihres Leidensweges wie magisch vonihr angezogen, verdichten sich in ihr und werden zugleich als Anklagezurückgespiegelt: ‚Seht,was ihr getan habt!‘ Dann wird sie vonden Gewehrkugeln zerfetzt und in die Tiefe gestürzt. Der Film hat sich für uns in der Dauer dieser Szene als sich qualvoll hinzie- hendesBild des ‚Schocksund der Ohnmacht‘ entfaltet.Wir erfahren als audio- visuelle Dynamik den Akt seiner Zeugenschaft,der nicht die Fakten meint,son- dern das passive Erleiden des Ereignisses, sein Schmerz und sein Schreials

 Vgl. Peretz: Becoming Visionary,S.121–125. 250 Vergangenheit: Hollywood-Genrepoetiken

Übertragungen, Fortsetzungen ihrer Schreie und ihres Leidens. Der dritte Teil des Films widmet sich dem Imperativ,diesesSchicksal vordem Vergessen zu be- wahren, ein Imperativ, der sich ausder Übertragung,der Kommunikation zwi- schen ihrem Leid und seiner Ohnmacht körperlich ereignet hat: „challengingthe soldier’sview of her as anonymous ‚Other‘,which is so intrinsic to Western ways of thinking,aswell as the genre of the war film“.¹⁸³ Die dynamischen Positionierungen der Zuschauer und die zeitliche Abfolge und Interaktion der Gefühlsregister der Angst,des Mitleids, des Ekels und des Schmerzesgestalten in Casualties of War eine sich im Durchlauf des Films entfaltende Erfahrung eines Schuldgefühls. Der Film stellt so eine Bearbeitung der Genremuster des Kriegsfilms als pathetische Bildstrukturen und zugleich eine Bearbeitung der gemeinschaftlich geteilten Wahrnehmung und Bewertung des geschichtlichen Handelns dar.¹⁸⁴ Casualties of War gestaltet diese geteilte Wahrnehmung in einer Dramaturgie der Insistenz. Die schuldbringenden Ereig- nisse werden hier in einem Modus inszeniert,der sie als bereitsgeschehen, nicht rückgängigzumachen darstellt.Die Zeit und die Unumkehrbarkeit des histori- schen Geschehens werden als Skandal, als Schmerz und Verletzung erfahren.¹⁸⁵ Das Prinzip einer generellen Verlangsamungund wiederholten Repräsenta- tion des schuldbringenden Ereignisses zeigt sich in der zeitlichen Dehnung sowie der wiederholten Referenz zwischen Szenen und Ereignissen und konkreten Bil- dern und Gesten. Die Gräueltat selbst vollzieht sich in mehreren, durch Unter- brechungenimmer wiederhinausgezögerten Etappen der Entführung,des Miss- brauchs, der Vergewaltigungund schließlich der dreifachen Ermordungdurch Messerstiche, Schusswunden und den Sturz in die Tiefe. Innerhalb dieser drei- viertel Stundemacht die szenische Logik der wiederholten, allmählich eskalie- renden Konfliktlinien und der wiederholten Ohnmacht des anklagendenGesichts und der ermahnenden Position diese Zeit als eine schmerzhafte Dauer erfahrbar. Auch die späteren Szenen rufen immer wieder ein filmimmanentes affektives Bildgedächtnis durch wiederholteGesten und Einstellungsformen hervor. Absolut zentralist jedoch, dass sich die widersprüchliche Position Erikssons in der Gruppe, am Rand oder außerhalb der Gruppe nie eindeutig auflöst – schließlich sind wir vonder ersten Szene an eingewoben in die enge Bindungdes Individuums an den Körper der Gruppe, an die anderen Soldaten und schließlich erhebt Eriksson seinen Einspruch und seine Anklageimmer als Soldat –„This ain’t

 Deborah Thomas:UpClose and Personal. Facesand Names in Casualties of War. In: Christine Gledhill (Hg.): GenderMeets GenreinPostwar Cinemas. Urbana-Champaign/Chicago/Springfield 2012,S.133 – 145, hier S. 142.  Kappelhoff/Gaertner/Pogodda: Einleitungder Herausgeber,S.12.  Jankélévitch: La Mauvaise Conscience, S. 64. CASUALTIES OF WAR: Eine Revisionder Affekpoetik des Kriegsfilmgenres 251 the army“–und dezidiert ausder ersten Person Plural –„we gottobeextracareful what we do“. Diese widersprüchliche Position zeigt sich wiederinder Prozessszene ganz am Ende des Films,indemdie Großaufnahme des zufrieden drein blickenden Eriksson in die Kamerafahrt der Großaufnahmen der anderen Gruppenmitglieder hineinmontiert wird, als die Urteile verkündet werden (1:38:29–1:39:28). D. h. genauimMoment der Urteilsverkündungholt der Film ihn wieder buchstäblich in die Mitte der Gruppe zurück. Ihre Blicke und Körpersind aufuntrennbareWeise miteinander verwoben und einander ausgesetzt.Ihre Schuld bleibt sein und unser Versagen.

4.4.3 Das Unverzeihliche

Wenn der Film am Ende wieder zu der narrativen Klammer mit der jungen, asiatisch aussehenden Frau und dem mit einem Ruck erwachendenEriksson in der Straßenbahn zurückkehrt (1:39:28–1:42:51), scheint er sich aufden ersten Blick mit einer Szene der Sühne und der Entschuldigung vonder Insistenz des Gefühls der Schuld zu lösen. Es beginnt mit einer akustischen Erinnerung an die Rachedrohungder ehemaligen Kameraden und den plötzlichen Knall der hy- draulischen Bremsen der Straßenbahn. LangeGroßaufnahmen aufden erwa- chenden,desorientierten Eriksson werden mitimmer länger werdenden halbna- hen Gegenschüssen aufdie Unbekannte alterniert (1:39:39–1:40:49). Dazu setzen sofort mit dem ersten Blickkontakt zwischen ihnen die Streicher und das Ent- führungsmotiv aufder Panflöte ein und untermalen die ängstliche Anspannung in seiner Mimik. Als sie in einer Halbnahen aufsteht,wendet sich die Musik plötzlich und deutlich in eine hellere, geradezu strahlendeStreichermelodie, die sich noch einmalsteigert,als er ein vonihr zurückgelassenes Tuch aufdem Sitz sieht: Das Bild gerätinBewegungund damit auch der um Atem ringende Eriksson. Er läuft ihr hinterher,spricht sie an, überreicht ihr das Tuch und als sie den Kader verlässt, ruft er ihr etwas aufVietnamesisch zu: Sie hält an, dreht sich um und die Kamera fährt aufsie zu. In dem sich nun entfaltenden kurzenGespräch in ruhigen Schuss- Gegenschuss-Einstellungen setzt in der Musik aufihre Frage „Do Iremind youof someone?“ hin ein vokalisierender Chor ein:

Sie: Youhad abad dream,didn’tyou? Eriksson: Yes. Sie: It’sovernow,Ithink. 252 Vergangenheit: Hollywood-Genrepoetiken

Während Eriksson nun nach Worten ringt,nach links, rechts und zu Boden schaut, den Mund immer leicht geöffnet,steigert sich die Intensität der Musik, die nun als Variation des Entführungsmotivzuerkennen ist,noch einmaldeutlich, woraufhin sie nur lapidar „Ciao!“ sagt und sich wegdreht. Die letzte Einstellungzeigt Eriksson in einerAmerikanischen vonhinten, wie er ihr hinterher sieht,während sie weiter in einen lichten Parkgeht.Erdreht sich um, die Arme in die Seite gestemmt,gen Himmel blickend und läuft nach links unten ausdem Kader.Indiesem Moment erhebt sich die Kamera langsam und blickt aufdie offene Weite des Parks und der Wolkenkratzer San Franciscos im Hintergrund, aufdie sie zu läuft,während das Bild nun in Schwarzausblendet (1:42:14– 1:42:51). Mit dieser Einstellungverbindet sich seineBewegung und die der Kamera – eben im Unterschied zu der Szene des fehlgeschlagenen Flucht- versuchs – zu einerFiguration, in der das Verlassen des Kaders, das Betreten eines anderen frames möglich ist: Der Blick aufdie Stadt in der Ferne als dem Bild einer prinzipiell erreichbaren aber in der Gegenwartnoch nicht verwirklichten Ordnung als ein offener Horizont, „this new yetunapproachable America“,¹⁸⁶ wird präzise in dem Moment sichtbar,als Eriksson nach links in das Ungewisse abtritt und eine autonome Kamerabewegunginitiiert wird. Als Bild der Befreiung und der Ent-Lastung¹⁸⁷ ist die Schlussszene höchst ambivalent,gerade in der Mischung ausder extremen Überzeichnungals in der Musik der Chor einsetzt und der offensichtlichen Nichtigkeit der hier vollzogenen Geste: Die junge Frauhat ihren Schal vergessen und er trägt ihn ihr hinterher.Was in der Szene der Entführung nocheine bedeutsame, wenn auch unlesbareGeste zwischenOahn und ihrer Mutter war,die der Entführten ein Tuch mitgegeben hat, ist hier einfach nur ein Stück Stoff.¹⁸⁸ Diese Geste verläuft als melodramatische Geste, als „struggle toward recognition of the sign of virtue and innocence“¹⁸⁹ merkwürdig im Sande: „Ciao!“

SinceDePalma’sendings aregenerallyreaffirmations of horror,Idon’tthink youcan takethe young woman’sline at face value – certainlynot after what De Palma has put us through (and the remnants of the horror Eriksson has endured arestill on Michael J. Fox’sface).¹⁹⁰

 Ralph Waldo Emerson: Experience[1844]. In: ders.: Natureand Selected Essays.New York 1982, S. 285–311, hier S. 302.  Bakels:Der Klang der Erinnerung, S. 303.  Thomas:UpClose and Personal, S. 144.  Brooks: The Melodramatic Imagination, S. 28.  Vineberg: DePalma in Vietnam, S. 27. CASUALTIES OF WAR: Eine Revisionder Affekpoetik des Kriegsfilmgenres 253

Auch die Überwindungder Barriere zwischenden Sprachen und den Ge- schlechtern, ihre Reaktion aufseine Anrufung aufVietnamesisch wirft ihn schließlich lediglich aufseine eigene Sprachlosigkeit zurück und wird aufden Chor weiter verwiesen.

But isn’tthis unconvincingness – the cobbled-together-feel – of the film’sresolution precisely the point?[…]She speaks sympathetically(the voiceisAmy Irving’s, toughthe onscreen actress is ThuyThu Le, whoplays Oahn as well), but impatientlydismisseshis attempt to connect with her and project his guilt her way, as if needingher forgiveness for his failure to help Oahn.¹⁹¹

Tatsächlich scheint mir die Ambivalenz dieserSzene daher zu rühren, dass ei- nerseits der ‚Wunsch‘ des Schuldgefühls die „Restauration der Integrität der an- deren Person“¹⁹² ist,dass aber andererseits die Illusion, das Opfer könnte tat- sächlich wiederhergestellt werden, wieder auftauchen oder verlustfrei ersetzt werden, einen schlechten Beigeschmackhinterlässt.Deswegen ist diese Schlussfiguration wenigerein Bild der Vergebung,nicht die Fiktion einerFigur, die ihre Traumatisierung überwindet und eine bewältigte Erinnerung zurückbehält, sondern es geht um die Integration dieses Unverzeihlichen als insistierenden Störfaktor in das affektive Profil der Gegenwart.Eriksson erwacht nicht ausdem Schuldgefühl, sondern das Erwachen vervollständigtdas affektive Skript eines moralischen Bewusstseins, dass sich in der Dauer des Films auseinemStand-by- Modus in den Wachzustand eines schlechten Gewissens entfaltet hat.¹⁹³ Der Schrecken und die Angst,die schmerzhafte Erfahrung moralischen Versagens werden am Ende nicht einfach weggesungen, sondern in das affektiv-moralische Gefüge des Gemeinwesens integriert als Erfahrung einer inneren Differenz, einer Nicht-Identität mit dem eigenen Selbstbild. Es geht nicht darum, den Schmerz loszuwerden, sondern ihn als Gegengift zum Vergessen zu affirmieren:

Die Affektdramaturgie dieser Filmeliest sich als eine umfassende Suche nach Perspektiven zur affektivenBewältigung der Kriegserfahrung. Essenz dieses Strebens nach Bewältigung ist nicht der Drang,die Vergangenheit zu ändern, sondern der Wunsch nach einer gegenwärtigen Haltung zur Vergangenheit,die der Idee einer fortwährender [sic!] Präsenz jener Vergan- genheit in der Zukunft ihrenSchreckennimmt.¹⁹⁴

Es ist also nicht die Erlösung und Vergebung,die hier inszeniert werden, sondern der Wunsch nach Erlösung und gleichzeitigem Bewahrendes Vergangenen, nach

 Thomas:UpClose and Personal, S. 143.  Benthien: Tribunal der Blicke, S. 59.  Jankélévitch: La Mauvaise Conscience, S. 43 – 46.  Bakels:Der Klang der Erinnerung, S. 305. 254 Vergangenheit: Hollywood-Genrepoetiken

Anerkennungdes fundamental Unbewältigbaren. Damit geht es immer schon um mehr,als nur um dieses oder jenes einzelne Gefühl. Die Inszenierung des Schuldgefühls zielt aufdie affektive Realisierung der Erkenntnis,dass das Un- verzeihliche, das unerhörte Verbrechen unauslöschlicherTeil der Geschichte der Nation geworden ist,dass das Unverzeihliche in den Rahmen der Gemeinschaft eingewoben ist.

4.5 Der Fall des Genres

In den zweihier analysierten Filmen gibteseine überraschende Isomorphie in den Szenender bezeugten Verbrechen: Der Sturz der Opfers,Sunshine in Little Big Man und Oahn in Casualties of War,findet sein Echo im Sturz der Zeugen, Little Big Man und Eriksson. Der Moment der Übertragung des Schreckens und des Erschreckens wird in beiden Filmen durch Zeitlupe, durch wiederholteSchnitt- wechsel betont,dem Zeugenund der Wahrnehmung der Zuschauer wird der feste Boden unter den Füßen weggezogen, das Ereignis stürzt ihre Welt ausden Fugen, unterbricht die physischen und moralischen Koordinaten.¹⁹⁵ Es ist diese Unterbrechung,die Wahrnehmung des Verrats an der Solidarität mit den Opfern, die dazuführt,dass manals Wahrnehmender eine Form kausaler Verantwortlichkeit aufsich nimmt. Die dynamischen Vektoren der filmischen Inszenierungen werden als unmögliche, immer wieder scheiternde, sich ständig wiederholende Wiedergutmachungsversuche spürbar: Die Filme gestalten in ihrer Entfaltungeine spezifische Dauer,eine ästhetische Zeitlichkeit der Handlungan einer irreversiblen, unwiderruflichen Vergangenheit.Der gefühlteWunsch, die Massakerund Misshandlungenzuverhindern,verändert zwar nicht die Vergan- genheit,aber er verändert,was diese Vergangenheit bedeutet haben wird. Und diese Veränderung wird nun greifbar als eine VerschiebungimWertegefüge und in den ästhetischenErfahrungsmodalitäten, in den dynamischen Mustern des Genresystems. Man darf diese Schuldgefühle, die Übernahme einer Form kausaler Verant- wortlichkeit dabei nicht mit einerAnnahme einer realenStrafbarkeit oder Vor- werfbarkeit verwechseln, es sind keine Argumentationen für eine objektive his- torische kollektiveSchuld.Vielmehr sind es affektive Interventionen aufder Ebene der audiovisuellen Muster der Genrepoetiken, die einen Bruch im Bereich der primären Organisation vonLebensbereichen und moralischen Kompetenzen verzeichnen und der „Selektion eines tauglichen Zeichens oder Bildeszur Re-

 Peretz: Becoming Visionary,S.76–78. Der Falldes Genres 255 präsentation der im Verbrechen verletztenGefühle“¹⁹⁶ dienen.Die gewaltsame Kollision der Gemeinschaftsformen in Little Big Man und die Aufspaltungenin das Zivile und das Militärische, das Weibliche und das Männliche,das Fremde und das Eigene in Casualties of War machendie Widersprüchlichkeit und die Schmerzhaftigkeit der Ein- und Ausschließungsprozesse zwischen individueller Leiblichkeit und Kollektivität erfahrbar. In diesem Sinne handeltessich bei diesen Filmen um affektive Bezugnahmen aufeinenbestimmten Modus vonGeschichtlichkeit,für den Identität immer aus der Erfahrungder inneren Nicht-Identität hervorgeht und für den die Geschichte gerade das ist,was nichtdazu taugt, dass man sich darin stolz einfach nur wiederfindet,sondern in der man immer aufs neue die Unschuld verliert.¹⁹⁷ Ge- rade die Genres des Western und des Kriegsfilms bauen aufder Ambivalenz einer Aggression auf, die einerseits nach Innen vonpositivenBindegefühlenimZaum gehalten wird und die andererseits nach außen durch diese Bindegefühle erst begründet und angefeuert wird. Mit dem jeweiligenUmschlagen – oder mit dem Ausbleiben des Umschlagens – vomPathos der Leidenden in den zustimmenden Genuss der Action und vondiesem in ein Erschrecken, in Ekel, Scham und Schuldgefühle zeichnendiese Genres eine sich ständig wandelnde Landkarteder Moral: WelcheGründe für Gewalt akzeptieren wir und welche nicht?Aus welchen Konflikten und welchen Legitimierungsprozessen kommen unsere Werte? Die schmerzhaften, moralischzerknirschendenGefühle im Kino –„gerade weil sie vermitteltsind und vonaußen projiziert werden und weil wir uns ihnen relativgefahrlos hingeben können“¹⁹⁸ – ermöglichen es, dass wir „prinzipiell er- fahren können, was in der unmittelbaren Betroffenheitoftmals opak und unzu- gänglich,jaan-ästhetisch und un-erfahrbar bleibt“.¹⁹⁹ Die Genrepoetiken des Western und des Kriegsfilms arbeiten nicht an der Darstellungder vergangenen Ereignisse und Kriege, sondern an der anhaltenden, affektivenGegenwart der historischen Gewalt in der Selbstbeschreibungund Selbstwahrnehmung des Gemeinwesens,sie arbeiten an den insistierenden Appellen zur Solidarität und zur Vermeidungvon Grausamkeit,als Aufforderungen, die Prozesse der Macht und Gewalt,die Grenzziehungen der Gemeinschaft immer wieder vonneuem aufs Spiel zu setzen.²⁰⁰ Das bedeutet eben auch, dass es in den detaillierten Be- schreibungender Verwicklunginunnötiges Leiden „nicht um die kathartische Reinigungder Affekte geht […], sondern darum, die negativenAffekte auszuhal-

 Lotter:Scham, Schuld, Verantwortung, S. 212.  Burgoyne: Film Nation, S. 1–12.  Tedjasukmana: Wieschlecht sind die schlechten Gefühle im Kino?, S. 20.  Tedjasukmana: Wieschlecht sind die schlechten Gefühle im Kino?, S. 21.  Vgl. Rorty:Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 310. 256 Vergangenheit: Hollywood-Genrepoetiken ten“.²⁰¹ Durch dieses ‚Aushalten‘ können die Formender ästhetischen Erfahrung zwar die Moral genauso wenigauf letzte Begründungenzurückführenwie die Philosophie oder die gesetzgebende Politik,abersie können der Forderungnach Solidarität,nach der Anerkennungder Verletzbarkeit des Anderen und der in- neren Nicht-Identität der Gemeinschaft die größte Anschaulichkeit verleihen und diese Forderungauf die gemeinschaftlich geteilten Formen des Denkens,Wahr- nehmens und Fühlens beziehen. Das Schuldgefühl duldet keine Reinigungund keinen Freispruch; seine Tri- bunalesind immer nur nachträgliche Metaphern.²⁰² Wiedas Gericht in Kafkas Proceß²⁰³ duldet es lediglich den scheinbaren Freispruch, der nur kurz das Ge- wissen entlastetund immer wiederneu infragegestelltwird, und die unendliche Vertagung eines Urteilsspruchs. Man könntedies auch als Beschreibungeiner Politik des Genrekinosansehen.

 Tedjasukmana: Wieschlecht sind die schlechten Gefühle im Kino?, S. 26.  Vgl. Benthien:Tribunal der Blicke, S.78 – 82 und Jankélévitch: La Mauvaise Conscience, S. 36.  Franz Kafka: Der Proceß. Kritische Ausgabe. Frankfurt 2002 [1925], S. 205–218.