Verdi-Handbuch

Bearbeitet von Anselm Gerhard, Uwe Schweikert

2., überarbeitete und erweiterte Auflage; 25 Notenbeispiele 2013. Buch. xlii, 757 S. Hardcover ISBN 978 3 476 02377 3 Format (B x L): 17 x 24,4 cm Gewicht: 1443 g

Weitere Fachgebiete > Musik, Darstellende Künste, Film > Musikwissenschaft Allgemein > Einzelne Komponisten und Musiker Zu Inhaltsverzeichnis

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Verdi Handbuch

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Verdi-Bilder

von Anselm Gerhard

Giuseppe Verdi ist allgegenwärtig. Bis in die Fern- Verdis Selbststilisierung sehwerbung hinein begegnen seine Melodien. Seine Opern gehören neben denen Mozarts und Eine der erstaunlichsten Erkenntnisse der Verdi- noch vor den Musikdramen Richard Wagners zu Forschung der letzten Jahrzehnte war die Feststel- den meistgespielten nördlich und südlich der Al- lung, mit welcher Kaltblütigkeit Verdi ein sorgfäl- pen, innerhalb wie außerhalb Europas. Sein Kon- tig retuschiertes Bild seiner Person in Umlauf ge- terfei ist beileibe nicht nur den Italien-Touristen bracht hatte und wie wenig Wert er dabei auf präsent, die sich noch an die zwischen 1962 und Wahrheit legte. Julian Buddens Feststellung, dass 1981 ausgegebenen Tausend-Lire-Note erinnern. »Verdi im fortgeschrittenen Leben dazu neigte, Ebenso allgegenwärtig sind die Bilder, die sich das zu vergessen, was er nicht erinnern wollte« Musikfreunde, Opernfans, Theatermacher, Mu- (Budden 1973, Bd. II, S. 175), ist dabei noch als sik historiker und Tourismus-Werber von diesem euphemistische Umschreibung der Selbstinszenie- herausragenden Zeitgenossen des italienischen rungsstrategien eines Menschen zu begreifen, der 19. Jahrhunderts machen: »Leierkasten-Musiker«, sich durchaus zu Recht als »uomo di teatro«, als Begründer des »musikalischen Realismus«, Anti- »Mann des Theaters«, und nicht etwa als »musi- pode Richard Wagners, »Bauer von Sant’Agata« cista«, als »Komponist«, bezeichnet haben soll sind dabei nur einige der im Widerspruch mitein- (Pizzetti 1952, S. 23 bzw. S. 761). So ist hier mit ander stehenden Etikettierungen, die sich längst Nachdruck an Max Frischs Diktum zu erinnern: vor eine unvoreingenommene Wahrnehmung der »Jeder Mensch erfindet sich früher oder später Persönlichkeit und des Werks des erfolgreichsten eine Geschichte, die er für sein Leben hält, oder Komponisten in der italienischen Opernge- eine ganze Reihe von Geschichten« (Frisch 1976, schichte geschoben haben. S. 49). Ein Blick auf die Entstehung und auf die Wi- »Ich bin und bleibe immer ein Bauer aus Le dersprüchlichkeiten solcher Etiketten verspricht Roncole.« (Brief Verdis an Opprandino Arriva- deshalb nicht nur neue Aufschlüsse über die Wir- bene vom 25. Mai 1863; Ca Arrivabene, S. 26) kungsgeschichte dieses leidenschaftlichen Thea- Generationen von Opernfreunden sind mit die- termusikers. Nur dieses Vorgehen kann auch die sem Bild aufgewachsen: Der ungehobelte Land- Voraussetzungen schaffen, um sich dem Werk mann aus dem gottverlassenen Flecken Le Ron- Verdis zu nähern, ohne sich zugleich von dem cole in der Po-Ebene, der sich unter widrigsten Wust an überkommenen Vorurteilen den Blick Bedingungen aus ärmlichen Verhältnissen soweit verstellen zu lassen. hochgearbeitet hatte, dass er in Mailand überleben konnte, dort zwar zunächst vom Konservatorium schmählich zurückgewiesen worden war, dann aber – unbeirrt von Schicksalsschlägen wie dem Tod seiner jungen Frau und seiner beiden Kin-

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der – doch zu ersten Erfolgen kam und sich Bände umfasste (Phillips-Matz 1993, S. 20–26; schließlich in langen, langen »Galeerenjahren« ei- Tomasini 1996, S. 16 f.). nen bescheidenen Wohlstand erarbeiten konnte. In der stolzen Kleinstadt nutzte Verdi die An diesem Bild ist zwar nicht alles falsch. Aber neuen Möglichkeiten: Ab 1825 hatte er regelmäßi- kein einziges der Klischees, die sich in der Über- gen Musikunterricht beim städtischen Musikdi- lieferung seit über 150 Jahren über die historischen rektor Ferdinando Provesi. Ein unglaublicher Realitäten gelagert haben, trifft in dieser Form zu. Glücksfall war es jedoch, dass er in dem erfolgrei- Le Roncole, der kleine Flecken im Nordwesten chen Kaufmann Antonio Barezzi, seinem späteren von Parma, war gewiss kein kulturelles Zentrum, Schwiegervater, einen Gönner fand, der unbeirrt und ein Kind dieser Gegend hatte bildungssozio- an seine musikalische Begabung glaubte und ihn logisch betrachtet erhebliche Nachteile im Wett- mit Hartnäckigkeit und beträchtlichen finanziel- bewerb mit Musikern, die in Großstädten oder len Mitteln nicht nur in die schmale Funktions- wenigstens größeren Provinzstädten wie Pesaro elite dieses kleinen Zentrums einführte, sondern (Rossini), Bergamo (Donizetti) oder Catania (Bel- später auch die beiden entscheidenden Aufent- lini) geboren worden waren. Aber Verdi kam nicht halte in der größten Stadt Norditaliens, in Mai- aus ärmlichen, sondern aus relativ wohlhabenden land, ermöglichte. Verhältnissen: Seine Eltern waren keine Bauern, Die Tatsache, dass Verdi in Busseto angesichts sondern Händler und führten mit achtbarem Er- der schwachen Konkurrenz als außergewöhnliche folg den einzigen Kramladen des kleinen Dorfs. musikalische Begabung aufgefallen war, mag ihn Immerhin verfügte Verdis Familie seit Generatio- und sein Umfeld zur Überschätzung seiner Fähig- nen über eigenen Grundbesitz, und sein Vater keiten verleitet haben. Immerhin hatte Verdi im Carlo gehörte sogar zu dem knappen Zehntel der Juni 1832 die Aufnahmeprüfung am Mailänder Bevölkerung, das lesen und schreiben konnte. Von Konservatorium deswegen nicht bestanden, weil 1825 bis 1840 wirkte er überdies als Sekretär und die Prüfungskommission damals gar keine andere Schatzmeister der Kirchgemeinde seines Wohn- Wahl hatte: Als Altersgrenze für Neuaufnahmen orts. galt das 14. Lebensjahr, und nur bei außergewöhn- Insofern war Verdi durchaus begünstigt: In ei- lichen Begabungen waren Ausnahmen möglich. nem wesentlich von Analphabetismus geprägten Freilich hinterließ der fast neunzehnjährige Verdi ländlichen Umfeld engagierten seine Eltern bereits in der – nach dem Reglement allein entscheiden- 1817 Pietro Baistrocchi, den aus Sant’Agata stam- den – Klavierprüfung alles andere als einen bril- menden Geistlichen als Privatlehrer für ihren lanten Eindruck. einzigen Sohn. Der noch nicht Vierjährige erhielt Verdi, der diese Ablehnung noch im hohen Unterricht nicht nur in Italienisch, sondern auch Alter unversöhnlich als »Attentat auf [s]eine Exis- in Latein. 1819 besuchte er die von diesem Kleriker tenz« empfinden wollte (Brief an Giulio Ricordi geleitete private Dorfschule, 1820 kaufte ihm der vom 13. August 1898; Ab IV, S. 632), hatte dennoch Vater ein Spinett, und der Siebenjährige vertrat wieder Glück im Unglück: Barezzi finanzierte bisweilen schon seinen Mentor Baistrocchi an der großzügig kompositorischen Privatunterricht und Orgel der Kirche von Le Roncole. Verdi gehörte vor allem das für Verdis Karriere noch viel wichti- aber nicht nur zur verschwindenden Minderheit gere Lernen durch regelmäßige Besuche der ver- der Kinder, die damals im Herzogtum Parma schiedenen Mailänder Opernhäuser. Wie so oft im überhaupt eine Schule besuchen konnten – eine Leben berühmter Musiker kam dabei Verdi ein Statistik von 1833 geht von einer Einschulungs- Zufall zugute: Im April 1834 übernahm er kurzfris- quote von 1:47 aus –, er wurde überdies von seinen tig die Leitung einer von adligen Dilettanten or- Eltern 1823 ins Internat in die nahe gelegene ganisierten Aufführung von Haydns Oratorium Kleinstadt Busseto geschickt, wo er in vier Jahren Die Schöpfung im Mailänder Casino de’ nobili und das Gymnasium absolvierte. Dort studierte er konnte mit diesem Erfolg bei den tonangebenden nicht nur Autoren wie Vergil und Cicero, sondern Kreisen des aristokratischen Kulturlebens der konnte auch regelmäßig die ehemalige Jesuitenbi- habsburgischen Residenzstadt auf sich aufmerk- bliothek benutzen, die immerhin rund 10 000 sam machen.

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Dennoch setzte sich Verdi zunächst weniger was die Einschätzung rechtfertigen könnte, hier hochfliegende Ziele: Die Stelle seines 1833 gestor- zeichne sich das Genie eines herausragenden benen Lehrers Provesi in Busseto stand für eine Opernkomponisten ab. kurze Zeit im Mittelpunkt seiner Ambitionen. Die Ereignisse der Monate vor und nach der Nach vielen Intrigen in der Kirchturmpolitik zweiten Premiere werden auch heute noch von fast Bussetos und dem mehr oder weniger erzwunge- allen Biographen in der melodramatischen Form nen Verzicht auf die weit besser bezahlte Position nachgebetet, die ihr Verdi 1881 gegeben hat: eines Kapellmeisters und Organisten an der Ka- Nun aber trifft mich ein schwerer Schicksalsschlag nach thedrale der lombardischen Stadt Monza wurde er dem andern. Anfang April wird mein Junge krank [ …] im März 1836 tatsächlich zum maestro di musica und stirbt in den Armen der verzweifelten Mutter. [ …] Wenige Tage danach erkrankt mein Töchterchen gleich- der Stadt Busseto ernannt. falls! … und auch diese Krankheit endet tödlich! … aber In einem Alter, in dem der in Bologna ausge- noch immer nicht genug: In den ersten Tagen des Juni bildete Rossini mit seinem Tancredi (1813) bereits bekommt meine junge Frau eine schwere Hirnhautent- den entscheidenden Durchbruch erzielt hatte und zündung, und am 19. Juni 1840 tragen wir den dritten Sarg aus dem Haus! … Ich stand allein, allein! … Im in dem auch ein Donizetti schon auf drei Opern- Verlauf von rund zwei Monaten waren drei geliebte Men- premieren in Venedig zurückblicken konnte, schen für immer von mir gegangen: Meine Familie war kehrte Verdi also in die provinzielle Umgebung zerstört! … [ …] Un giorno di regno fand keinen Anklang. [ …] Ich seiner Jugend zurück, der er durch die Mailänder beschloss, nie mehr eine Note zu schreiben! … [ …] An Kontakte zu einem guten Teil bereits entfremdet einem Winterabend [ …] begegne ich Merelli [dem im- war. Diese Rückkehr in die eigene Vergangenheit presario der Scala], der auf dem Weg ins Theater ist. [ … Dort] steckt er mir das Manuskript [eines Librettos von mag sein subjektives Gefühl, er sei vom Schicksal Solera, das der erfolgreiche Komponist Otto Nicolai ge- nicht verwöhnt worden, nochmals verstärkt ha- rade zurückgewiesen hatte] zu. [ …] Ich rolle es zusam- ben; am 15. Oktober 1836 schrieb er einem Freund men, verabschiede mich und mache mich auf den Heimweg. [ …] Zu Hause angekommen, warf ich das in Mailand: »Mach Dir also klar, dass ich es leid Manuskript ziemlich heftig auf den Tisch, vor dem ich bin, in Busseto zu leben, weil wie Du weißt in ei- stehenblieb. Im Fallen hat es sich geöffnet: Unwillkürlich nem kleinen Dorf keine Ressourcen für einen haftet mein Blick auf der aufgeschlagenen Seite und dem Berufsmusiker existieren, weil es fern von der Vers: »Va, pensiero, sull’ali dorate«. Ich überfliege die folgenden Verse, sie machen mir Stadt keine Karrierehoffnungen gibt, also siehst starken Eindruck. [ …] Dann, fest in meinem Vorsatz, Du, dass ich meine schönste Jugend im Nichts nicht zu komponieren, gebe ich mir einen Ruck, klappe verstreichen lasse.« (Brief an Pietro Massini; Mar- das Heft zu und lege mich ins Bett! … Aber ja … Nabucco ging mir im Kopf herum! … Der Schlaf wollte sich nicht chesi 1979, S. 372) einstellen: Ich stehe wieder auf und lese das Libretto, Aber zu seinem Glück blieb die Anstellung in nicht einmal, nein: zweimal, dreimal, so oft, dass ich am Busseto eine Episode. Nach erfolglosen Versu- Morgen Soleras ganzes Libretto sozusagen auswendig kannte. chen, seine erste Oper in Parma statt in Mailand Trotz alledem verspürte ich keine Neigung, meinem unterzubringen, schickte er sich in die Einsicht, Vorsatz untreu zu werden. Im Lauf des Tages gehe ich dass nur die Präsenz in einer Stadt mit einem in- wieder ins Theater und gebe Merelli das Manuskript zu- tensiven Opernleben den Einstieg in die ›Opern- rück. (Pougin 1881, S. 43 f.) industrie‹ garantieren konnte. Im Oktober 1838 Dieser Bericht zeigt die ganze dramatische Bega- gab er die sichere Stelle in Busseto auf und über- bung des Theaterkomponisten. Zwar trifft es zu, siedelte mit Frau und Sohn nach Mailand – in dass nacheinander die drei anderen Mitglieder seinem riskanten Unternehmen wiederum groß- seiner jungen Familie gestorben waren. Aber zwi- zügig unterstützt von seinem Schwiegervater Ba- schen deren Todesdaten lagen nicht »rund zwei rezzi. Am 17. November 1839 kam endlich sein Monate«, sondern fast zwei Jahre. Verdis Tochter Erstling Oberto, conte di S. Bonifacio an der Scala Virginia war gar nicht mit der Familie nach Mai- und damit an einem der renommiertesten Opern- land gekommen, sondern am 12. August 1838 noch häuser Europas zur Aufführung, im September in Busseto gestorben. Erst am 22. Oktober 1839 1840 folgte die komische Oper Un giorno di regno. folgte der Tod des Sohnes Icilio Romano, und am Aber selbst bei wohlwollender Prüfung dieser 18. Juni 1840 starb auch die Gattin Margherita Partituren ist dort nur sehr wenig zu erkennen, Barezzi im Alter von nur 26 Jahren.

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Es fällt nicht schwer sich auszumalen, dass Komponisten verdrängt hatte, mag es ihn gelockt diese harten Schläge Verdi zutiefst getroffen haben haben, den älteren Kollegen auch in der Rolle des müssen. Aber angesichts seines freizügigen Um- zurückgezogenen Solitärs zu beerben. Rossini gangs mit den Sterbedaten seiner Angehörigen ist hatte in der Tat nach der Pariser Premiere von auch sein Bericht über die Entstehung seiner ers- Guillaume Tell (1829) allen Forderungen von ten wirklich erfolgreichen Oper mit einiger Vor- Theaterdirektoren und öffentlicher Meinung wi- sicht zu genießen. Die Erzählung, der erste unge- derstanden und beschäftigte sich bis zu seinem wollte Blick auf das Libretto habe dem Vers gegol- Tod 1868 nur noch mit nichtdramatischen Kom- ten, der bis heute mit einer der populärsten positionen. Melodien Verdis verknüpft ist, ist einfach zu Beim 45-jährigen Verdi – Rossini war 1829 ge- schön, um Glaubwürdigkeit beanspruchen zu rade 37 Jahre alt gewesen – hatte der schließlich können. Und auch wenn es mehr als nachvollzieh- auch laut angekündigte Rückzug allerdings kaum bar ist, dass einem jungen Witwer, der seine ge- zwei Jahre Bestand: Bereits 1861 ließ er sich zum liebte Familie verloren hat, Zweifel an seiner be- nächsten Auftragswerk (für die Kaiserliche Hof- ruflichen Zukunft kommen, ist es nur schwer oper in St. Petersburg) überreden. Nicht nur vor vorstellbar, ein kaum bekannter Debütant habe diesem Hintergrund erscheint die Metapher von sich von Merelli wie eine prima donna zum Kom- den langen Jahren der Sklavenarbeit unangemes- ponieren drängen lassen, nachdem der weit erfolg- sen. Wie im nächsten Abschnitt zu zeigen ist, reichere Otto Nicolai ein Libretto des angesehe- hatte Verdi bereits 1844 für Ernani derart exorbi- nen Solera zurückgewiesen hatte. Wenn Verdi als tante Gagen durchgesetzt, dass er sich vielleicht realitätsbewusster Kaufmannssohn, als der er sich nicht sofort den reinen Müßiggang, aber doch ein sein ganzes Leben lang immer verhalten hat, seine erheblich langsameres Produktionstempo hätte Situation richtig einzuschätzen wusste, hatte er erlauben können. Aber der ehrgeizige Komponist nicht den geringsten Grund, auch nur einen Mo- verfolgte mit unglaublicher Hartnäckigkeit das ment zu zögern angesichts der neuen und einma- Ziel, sich für das italienischsprachige Musikthea- ligen Chance, die sich ihm mit Nabucodonosor ter zur unangefochtenen Größe zu machen, an der bot. kein Theater von Buenos Aires bis London, von Aber Verdi war so geblendet von der Idee, sich Lissabon bis Sankt Petersburg und erst recht kein von ganz unten nach ganz oben durchgebissen zu Konkurrent mehr vorbei konnte. Gleichzeitig in- haben, dass er im Rückblick konsequent die Miss- vestierte er solche Summen in einen sehr hohen lichkeiten seiner frühen Karriere im grellsten Licht Lebensstandard und großdimensionierte Immobi- darstellte. Das gilt auch für eines seiner meistzi- liengeschäfte, dass er tatsächlich auf weitere Ein- tierten Worte, das der »Galeerenjahre«, während nahmen dringend angewiesen war. Dennoch: Die denen er sich in ununterbrochener Arbeit als Gefangenschaft auf der Galeere war eine selbstge- Sklave der zeitgenössischen Produktionsbedin- wählte. gungen der italienischen Oper gefühlt haben Auch weitere Details, die der fesselnde Brief- wollte. In den meisten Darstellungen wird das schreiber Verdi in Umlauf gebracht hatte und die griffige Bild der »Galeerenjahre« nur auf die Zeit noch heute unablässig reproduziert werden, könn- vor dem endgültigen Durchbruch zu unangefoch- ten auf ähnliche Weise widerlegt oder doch in ei- tener nationaler und sogar internationaler Aner- ner differenzierteren Wertung nuanciert werden. kennung bezogen, also auf die Jahre bis zur vene- Trotzdem ist auffällig, wie sich in fast allen dieser zianischen Uraufführung von Rigoletto (1851). Selbststilisierungen Verdis auch ein – bisweilen Geprägt wurde der Begriff von Verdi aber erst 1858 gut versteckter – wahrer Kern verbirgt, was im während der letzten Proben zu Un ballo in ma- Folgenden an ausgewählten ›Bildern‹ gezeigt wer- schera, und zwar verbunden mit der durchaus den soll. ernst scheinenden Absicht, sich völlig aus dem Theatergeschäft zurückzuziehen: Nachdem Verdi den übermächtigen Vorgänger Rossini endgültig aus der Position des berühmtesten italienischen

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›Self-made-man‹ 1850, vor allem aber der vermögende Adlige An- drea Maffei und dessen Ehefrau Clara, die dem Das bereits konturierte und die ganze Persönlich- jungen Verdi vielleicht schon in den 1830er Jahren, keit Verdis beherrschende Motiv, seinen Erfolg als spätestens aber 1842 ihren Salon öffnete – auch höchst mühsamen Aufstieg aus bitterer Armut nach der Trennung der ehelichen Gemeinschaft darzustellen, wird zu einem Teil verständlicher, im Jahre 1846 sollte Clara bis zu ihrem Tode zu wenn man es als Mystifizierungen eines Manns den engsten Freunden Verdis gehören, während begreift, der sich ständig – wie allerdings jeder Verdi den Kontakt mit Andrea 1848 brüsk abbrach »uomo di teatro« vor dem endgültigen Durch- (eine vorsichtige Wiederannäherung kam erst 1858 bruch – erheblichen Widerständen ausgesetzt sah auf Initiative des Grafen zustande). Gerade die und deshalb Zuflucht bei übersteigerten »self- intellektuellen und literarischen Anregungen in made-man«-Allüren suchte. Es erleichterte Verdis Claras Salon, den ein Balzac begeistert frequen- Selbstinszenierungen wesentlich, dass das 1861 tiert hatte und in dem der Maler endlich vereinte Italien genau solche Karrieren als ein- und ausging, aber auch im Gespräch mit leuchtende Beispiele für eine aufstrebende und Andrea, dem prominenten Übersetzer Schillers, immer mehr von einem finanzkräftigen Großbür- Byrons und Heines, sind dabei von kaum zu über- gertum geprägte Gesellschaft brauchte; nicht zu- schätzender, vom Komponisten selbst aber nie fällig findet sich einer der Schlüsseltexte dieser offengelegter Bedeutung für die geistige Prägung Mystifizierung Verdis zu einem leuchtenden Vor- Verdis. bild für das neue Italien in einem populären Buch Dabei ging es beileibe nicht nur um schöngeis- aus dem Jahre 1869: Michele Lessonas Volere è tige Diskussionen. In der ersten Hälfte des potere (»Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg«; Les- 19. Jahrhunderts wurde neben dem Musikleben sona 1869, S. 298 f.). die gesamte intellektuelle Kultur Mailands aus- Es ist offensichtlich, dass der wissbegierige und schließlich von einer überschaubaren Gruppe ehrgeizige Verdi sich in der provinziellen Umge- Adliger geprägt, die das Teatro alla Scala – wie von bung seiner Herkunft oft eingeengt fühlen musste. Balzac meisterhaft beschrieben – als Verlängerung So ist kaum anzunehmen, dass seine Eltern sich ihres eigenen Salons betrachteten. So ist es alles wirklich eine Vorstellung davon machen konnten, andere als überraschend, dass für einen angehen- was den – nach dem Tod der Schwester im Jahre den Komponisten die Protektion durch den Adel 1833 – einzigen Spross der Familie an Musik und eine unumgängliche Voraussetzung für erste Er- dramatischer Literatur begeistern konnte. Seine folge war. Während sich eine entsprechende Sicht beiden einzigen Kompositionslehrer – Provesi und auf die Produktionsbedingungen von Komponis- Lavigna – waren zwar in Fragen des musikalischen ten in dem eben durchaus noch nicht ›verbürger- Handwerks dem etwas unbedarften Schüler sicher lichten‹ Wien Beethovens seit den bahnbrechen- lange Zeit überlegen, dürften der eminent drama- den Hinweisen eines Maynard Solomon (Solomon tischen Begabung ihres Zöglings aber kaum ge- 1977, S. 77–88) allgemein durchgesetzt hat, be- wachsen gewesen sein. Als allenfalls drittrangige ginnt in der Verdi-Forschung erst kurz vor seinem Komponisten hatten sie allerdings auch die Größe, 200. Geburtstag eine wissenschaftliche Auseinan- dem Schüler die Begrenztheit der eigenen Mög- dersetzung mit den Mechanismen aristokratischer lichkeiten offen einzugestehen. Patronage, die im spätfeudal organisierten Mai- Freilich hatte Verdi immer wieder mit zielsiche- land bis mindestens 1848 fortdauerten (Gerhard rem Instinkt den Kontakt zu Menschen gesucht, 2012). Verdi hat im Rückblick selbst darauf hinge- die ihn weiterbringen konnten – mit Großzügig- wiesen, dass ihn in den 1830er Jahren ein Graf keit oder mit fordernden Erwartungen, mit groß- Renato Borromeo, der spätere Präsident des Mai- herziger Freundschaft oder anspruchsvoller intel- länder Konservatoriums, und der ebenfalls adlige lektueller Stimulation. Zu nennen sind hier neben Ingenieur Pasetti gefördert hatten. Auch wenn Antonio Barezzi, dem wichtigsten Gönner der dokumentarische Belege fehlen, ist es nicht vor- Jugendzeit, zunächst Bartolomeo Merelli, erfolg- stellbar, dass es ohne die Interventionen Adliger reicher impresario der Scala zwischen 1829 und möglich war, eine bereits weitgehend fertig kom-

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ponierte Oper wie Oberto, conte di S. Bonifacio vor 1815 nicht mehr als umgerechnet 800 Franzö- ausgerechnet an einem der wichtigsten Opernhäu- sische Franken für eine neue Oper erzielen konnte, ser Europas zu platzieren. Zwar kam es am Teatro erreichte er für seine letzte italienische Oper Semi- alla Scala in den 1830er und 1840er Jahren wieder- ramide (1823) die Rekordsumme von 5 000 Fran- holt zu Uraufführungen von Erstlingswerken un- ken. Donizetti erhielt noch 1830 an der Scala für bekannter Komponisten, aber kaum dürfte es sich seine Anna Bolena umgerechnet 3 478 Franken, bei Opern von Mariano Obiols (Odio e amore, sein Konkurrent Bellini 1828 aber schon für La 1837) oder Edoardo Vera (Anelda da Messina, 1843) straniera nicht weniger als 4 200 Franken. Der aus um Stücke gehandelt haben, auf deren Stoff der Sizilien stammende Komponist steigerte dann die impresario keinen Einfluss mehr nehmen konnte. Gagen auf umgerechnet 10 440 Franken für La Dass Verdi – nolens volens – solche Mechanismen sonnambula (1831) sowie Norma (1831) und damit keineswegs fremd waren, zeigt in aller Deutlich- auf ein Niveau, das Donizetti erst 1835 für Lucia di keit ein Brief, in dem er von seinen gescheiterten Lammermoor durchsetzen konnte (Rosselli 1983, Bemühungen berichtet, seine erste Oper am Hof- S. 13–18). theater von Parma ›unterzubringen‹: »Ich habe mir Über Verdis erste Gagen sind wir nicht zuver- hingegen alle denkbare Unterstützung bei Hof lässig informiert. In der fernen Erinnerung sprach verschafft, und Du siehst, dass das nicht wenig der Komponist davon, vom impresario Merelli ist.« (Brief an Pietro Massini vom 9. Oktober 1837; bereits nach Oberto, conte di S. Bonifacio ein An- Marchesi 1979, S. 379) gebot über 3 480 Franken für jede neue Oper er- Im Gegensatz zu einer vergleichsweise verschla- halten und für seine vierte Oper I Lombardi alla fenen Residenzstadt wie Parma spielte aber in prima crociata nicht weniger als 7 830 Franken Mailand seit den frühen 1830er Jahren auch die gefordert zu haben (Pougin 1881, S. 42 und 37, Presse eine entscheidende Rolle in den schwer Anm. 2) – Zahlen, die wohl eher unter- als über- kalkulierbaren Prozessen, welche Komponisten zu trieben sind, wenn wir Verdis tendenziöse Darstel- Stars wurden und welche nicht. Angesichts des lung seiner Karriere in Rechnung stellen. Gesi- Umstands, dass Verdi der erste italienische Opern- chert ist jedenfalls die Summe von 10 440 Franken komponist gewesen ist, für dessen Erfolg journa- für Ernani (1844) und dann gar 18 000 Franken für listische Berichte von entscheidender, schwerlich Macbeth (1847), ganz zu schweigen von den völlig zu überschätzender Bedeutung waren, ist es wohl neuen Dimensionen, die sich Verdi in dem Mo- kaum abwegig, eine Parallele zwischen dem ›Auf- ment eröffneten, als er die Preise mehr oder weni- bau‹ von Francesco Hayez zum bedeutendsten ger diktieren konnte: 28 150 Franken für Rigoletto Maler seiner Generation und dem ebenso plötzli- (1851), 60 000 Franken für La forza del destino chen wie durchschlagenden Erfolg des jungen (1862) und 150 000 Franken für Aida (1871), Sum- Verdi zu sehen: Die aktuelle kunsthistorische men, zu denen dann über Verlagsverträge noch Forschung geht davon aus, dass als Abgeltungen für die Exklusivrechte an weiteren »Medienstratege« eine »grundlegende Rolle« für Aufführungen und unterschiedlich berechnete die Karriere von Hayez spielte (Mazzocca 2004, Tantiemen hinzukamen (Rosselli 1983, S. 21–25). S. 30). Dass Verdi dabei sehr genau wusste, was er tat, Was materielle Freiheiten betrifft, war Verdi am geht nicht nur aus einem ersten ›Kaufrausch‹ nach Beginn seiner Karriere – gerade wegen der vormo- Ernani – 1844 Erwerb von Ländereien in Le Ron- dernen Verhältnisse in Mailand – allerdings weit cole für knapp 26 000 Franken, 1845 Kauf eines von den Möglichkeiten eines Giacomo Meyerbeer Palasts in Busseto für nicht weniger als 19 340 entfernt, dessen Eltern nicht nur zu den reichsten Franken (Cafasi 1994, S. 64) –, sondern auch aus Geschäftsleuten Berlins gehörten, sondern schlicht vertraulichen Briefen unmissverständlich hervor. über das höchste Vermögen im ganzen Königreich So schrieb er nach dem Abschluss der Verhand- Preußen verfügten. Verdi gelang es jedoch mit lungen über Aida an Camille Du Locle: »Ich bin harten Verhandlungen, bereits in jungen Jahren an froh, dass dieser ägyptische Vertrag noch nicht von der explosionsartigen Steigerung der Gagen für den Zeitungen herausposaunt wird. [ …] Be- Komponisten zu partizipieren. Während Rossini stimmt wird man ihn nicht für immer geheimhal-

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ten können, aber es wird keinen Sinn haben, die rergehilfe nicht über 260 Franken hinauskam (De Bedingungen bekanntzugeben. Zumindest muss Maddalena 1960, S. 419 f.). man die Summe geheimhalten, weil sie zum Vor- Vor diesem Hintergrund wirkt es mindestens wand dienen würde, so viele arme Tote zu stören. selbstgefällig, wenn Verdi in einem Brief an den Man würde nicht versäumen, die 400 Taler für befreundeten Grafen Arrivabene vom 6. März den Barbiere di Siviglia, die Armut Beethovens, 1868 kokettierte: »Es ist eine unumstößliche Tatsa- das Elend Schuberts, das Wanderleben Mozarts che, dass es mir niemals gelungen ist, das zu tun, usw. usw. zu zitieren.« (Brief vom 18. Juni 1870; was ich gerne getan hätte. Schauen Sie, zum Bei- Günther 1973, S. 56) spiel würde ich gerne Schreiner oder Maurer sein; Die von Verdi seit 1844 erzielten exorbitanten aber nein, mein Herr, ich bin maestro di musica.« Gagen könnte man natürlich in Beziehung setzen (Ca Arrivabene, S. 83) Dagegen dürfte seine Le- zu den unglaublichen Verdienstmöglichkeiten von benspartnerin die wirtschaftliche Situation des Sängerstars – Eugenia Tadolini, Verdis erste Alzira, Großverdieners an ihrer Seite sehr viel realistischer lehnte 1847 das Angebot von 26 100 Franken für eingeschätzt haben, als sie ihn am 3. Januar 1853 die stagione del carnevale am Teatro La Fenice in davor warnte, den bisherigen Produktionsrhyth- Venedig ab (Rosselli 1984, S. 61), während Sophie mus – siebzehn neukomponierte Opern zwischen Cruvelli, die erste Hélène in Verdis Les vêpres sici- 1842 und 1853 – fortzuführen: »Manchmal fürchte liennes (1855) in Paris Jahresgagen um 100 000 ich, die Liebe zum Geld kommt wieder über Franken durchsetzte. Aber man muss sie auch Dich, und verurteilt Dich noch zu vielen Jahren abwägen gegen die Verdienstmöglichkeiten des Arbeit.« (Ca Verdi IV, S. 264) Direktors der Pariser Opéra, die jährlich 12 000 Franken nicht überschritten (Gerhard 1992, S. 41), oder das Jahressalär von zunächst 2 088, dann 3 654 Franken, das der bedeutende Librettist Camma- »Un orso« – ein Bär rano am Ende seiner Karriere in Neapel für seine Tätigkeit am Königlichen Opernhaus erzielte, Im Januar 1854 schrieb Verdi seinem Librettisten eine Tätigkeit, die neben dem Verfassen von Li- Piave: »Wäre mir von Gott beschieden, so liebens- bretti die modernen Berufsbilder eines Regisseurs würdig zu sein wie Du, dann würde ich auf Gesell- und Abendspielleiters einschloss (Black 1984, schaften gehen, aber bei dem Bärenfell, worin ich S. 94). Musiker des Opernorchesters verdienten in stecke, liefe ich Gefahr, verprügelt zu werden. Paris jährlich maximal 3 000 Franken (Gerhard [ …] Ich bin dazu verdammt, Bär zu sein, und das 1992, S. 41), in Parma zwischen 348 und 2 610 werde ich ewig bleiben.« (Ab II, S. 267) Auch in Franken (Piperno 1996, S. 146–148). Verdi selbst späteren Jahren gehörte es zu dem Bild, das Verdi hatte 1836 als Musikdirektor in Busseto knapp 600 verbreitete und verbreiten ließ, dass er sich in statt der erwarteten 870 Franken erhalten und Gesellschaft nicht zu bewegen wisse. Wir glauben hätte in Monza das Doppelte, 1 740 Franken ver- gerne, dass Verdi – einem Johannes Brahms ver- dienen können (Phillips-Matz 1993, S. 68–70). gleichbar – sich in förmlichen Gesellschaften An der Spitze der Verwaltung erhielt der Gou- nicht besonders wohl fühlte. Aber wir wissen verneur des lombardo-venetischen Vizekönig- umgekehrt, dass Verdi mit der größten Selbstver- reichs, also der höchste habsburgische Beamte in ständlichkeit im Salon von und bei Mailand, ein Jahressalär von 36 000 Franken, der anderen Aristokraten verkehrte. Polizeidirektor 9 000 Franken, ein Professor an der Dabei hatte der schüchterne Jüngling aus der Universität Padua zwischen 2 400 und 6 000 Fran- Provinz sicherlich einige Schwierigkeiten zu meis- ken, ein Lehrer an Elementarschulen zwischen tern, aber eine Äußerung des Achtundfünfzigjäh- 200 und 1 200 Franken (Tucci 1960, S. 43, 46, 62 rigen belegt doch eindrücklich, dass diese Hinder- und 39), während Tagelöhner in der Landwirt- nisse auch für einen Verdi nicht unüberwindlich schaft zwischen 130 und 210 Franken jährlich ver- gewesen waren. Am 17. November 1871 berichtete dienten (Faccini 1983, S. 664) und auch ein Mau- er seiner Freundin Clara Maffei: »Es ist sonderbar! rer in Mailand nicht über 520 Franken, ein Mau- Ich, der früher doch ausgesprochen schüchtern

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war, bin es jetzt nicht mehr: Aber vor Manzoni brennt! Usw. usw. usw ….. Nein, nein: als Haus- fühle ich mich so klein (und beachten Sie wohl, tyrann genüge ich alleine, und ich weiß wohl, ich bin sonst hochfahrend wie Luzifer), dass ich wieviel Ärger ich mich koste!!!« (Brief vom 18. Mai nie oder fast nie ein Wort über die Lippen bringe.« 1872; Ca Maffei, S. 531 f.) (Ca Maffei, S. 531) Nur Manzoni, dem verehrten Literaten gegenüber, brach wohl die alte Schüch- ternheit durch, wie einer der wenigen Briefe be- legt, die den Eindruck einer unkontrollierten »Un compositore rozzo« – emotionalen Reaktion erhaschen lassen. Giusep- ein roher Komponist pina, die sich – ohne Verdis Kenntnis – bei Clara Maffei eingeführt hatte, hatte mit dieser den Plan Zu den wiederkehrenden Motiven der frühen ausgeheckt, Verdi müsse sich bei Manzoni vorstel- Verdi-Kritik gehört der Vorwurf, seinen Opern len. In ihrem Brief an Clara beschreibt sie nun mangele es an Eleganz, seine Musik erreiche nie Verdis Reaktion auf diesen Vorschlag: »Bumm! das in sich ruhende Ebenmaß der gelungensten Hier schlug die Bombe so kräftig und unerwartet Werke Bellinis und Donizettis. So schrieb der ein, dass ich nicht mehr wusste, ob ich die Türen Kritiker Paul Scudo anlässlich der Pariser Erstauf- der Kutsche öffnen sollte, um ihm zu frischer Luft führung von Luisa Miller im Jahre 1852: »Verdi, zu verhelfen, oder ob ich sie aus Furcht schließen der ein bisschen mehr vom Kontrapunkt versteht sollte, damit er nicht unter dem Schock der freu- als seine Bewunderer, aber doch nicht genug, um digen Überraschung herausspringt! Er ist rot ange- den Erfordernissen gewisser dramatischer Situati- laufen, erblasste und hatte einen Schweißaus- onen gerecht zu werden, ist gezwungen, die von bruch; er zog den Hut ab und malträtierte ihn in ihm verspürten Effekte zu überstürzen und mit einer Weise, dass er ihn beinahe zu einem Fladen Kraft zuzuschlagen anstatt am richtigen Platz zu- Brot geknetet hätte. Überdies (und dies soll unter zuschlagen. Deshalb diese abgehackten Phrasen, uns bleiben) hatte der strengste und stolzeste Bär diese brutalen strette, die ohne Unterlass wieder- von Busseto die Augen voller Tränen, und so ver- kehren und nichts anderes darstellen als die Explo- harrten wir beide ergriffen und erschüttert für sion einer Idee, die der Komponist nicht vorzube- zehn Minuten in tiefem Schweigen.« (Brief Giu- reiten vermochte. Alle Partituren Verdis sind mit seppinas an Clara Maffei vom 21. Mai 1867; Ca denselben Effekten angefüllt, mit bisweilen gran- Maffei S. 554) diosen Effekten, deren Monotonie aber schließlich In der Tat dürfte die Selbststilisierung als »Bär« müde macht, weil die ebenso ärmliche wie lärmige wesentlich dazu gedient haben, seine Gefühle vor Instrumentation der mageren melodischen Gestalt anderen zu verbergen, aber auch dazu, seine cho- nicht aufhilft.« (Meloncelli 1993, S. 101) Vier Jahre lerische und bisweilen verstörende Art im Umgang später verschärfte derselbe Kritiker noch den Ton: mit anderen zu kaschieren. Seine Lebensgefährtin »Was La traviata fehlt [ …], ist das, was allen Giuseppina soll berichtet haben, wenn Verdi ar- Opern Verdis fehlt: Noblesse, Eleganz und Ab- beite, habe er »eine Laune – unausstehlich!« (De wechslungsreichtum.« (ebd., S. 103) Amicis 1902, S. 232 bzw. S. 783). Und in einem Noch schärfer finden sich solche Wertungen vom Komponisten selbst verfassten Brief an Clara im maßgeblichen französischen Musiklexikon und Maffei findet sich in einem Anflug von realisti- in einer Frühschrift eines der erfolgreichsten Lite- scher Selbsteinschätzung ein sehr glaubwürdiges raten jener Zeit. Im Jahre 1864 zog François-Joseph Selbstportrait: »Ich hasse jede Art von Tyrannei Fétis am Ende seines Verdi-Artikels folgendes und besonders die häusliche. Heutzutage sind die Résumé: großen Gärtner, die großen Köche, die großen Kut- [Verdi] hatte seine Epoche und sein Land beurteilt (denn scher die wahren Tyrannen eines Haushalts. Bei er ist sehr reflektiert), und er hat begriffen, dass die Zeit ihnen haben Sie nicht mehr das Recht, eine Blume des Schönen in der Kunst vorbei war. Dagegen war die in Ihrem Garten zu berühren, ein einfaches Ei mit der nervösen Aufregungen gekommen: Und genau diese sprach er an. Die aufmerksame Prüfung seiner Partituren Salat zu essen, Ihre Pferde aus dem Stall zu holen, lässt in dieser Beziehung keinen Zweifel. Alles ist dort wenn es etwa regnet oder wenn die Sonne zu sehr aufgeboten für den übertriebenen, ungestümen und üp-

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pigen Effekt; das Unisono der Stimmen, das Staccato des weitgehend vornehme Zurückhaltung, und die Orchesters; die häufigen Tempowechsel, die gehetzten musikalische Personencharakterisierung setzt auf und eindringlichen Rhythmen, die in ihre höchsten Re- gister getriebenen bebenden Stimmen, der unaufhörliche feine, heute oft nur noch mit Mühe rekonstruier- Wechsel von Kontrasten, alles richtet sich in dieser Musik bare Nuancen. an die Sinne. Selten findet man irgend etwas für die Er- Verdi setzt hier völlig andere Akzente. Zwar habenheit des Geistes; noch seltener etwas für das Gefühl und den wahrhaftigen Ausdruck. Verdi ist weder in der konnte er in Donizettis Lucrezia Borgia (1833) – Idee noch in der Form innovativ gewesen: Seine Origina- nicht zufällig wie Ernani und Rigoletto auf eine lität besteht im Übermaß der Mittel, mit dem er das ge- Vorlage Victor Hugos komponiert – ein Vorbild setzte Ziel erreicht und oft das Publikum mitreißt. (Fétis 1875, S. 324) für eine übersteigerte »Ästhetik des Hässlichen« vorfinden. Aber was bei Donizetti Ausnahme war, Ganz ähnlich auch die Worte, die Jules Verne 1863 wurde bei ihm zur Regel. Schon das Libretto von seinem Romanhelden Quinsonnas in der Vision Nabucodonosor strotzt vor Brutalitäten und Ver- eines Paris des Jahres 1960 in den Mund legte: stößen gegen die letzten Überreste der »bien- »Und hier nun der Mann des harmonischen séance«, wie Otto Nicolai sehr treffend beobach- Lärms, der Held des musikalischen Getöses, der tete, als er vor sich begründete, warum er das Li- grobschlächtige Melodien schrieb, so wie man bretto Soleras abgelehnt hatte: »Das für Mailand damals grobschlächtige Literatur schrieb, Verdi, bestimmte neue Buch von Temistocle Solera Na- der Schöpfer des unermüdlichen Troubadour, der buco war durchaus unmöglich in Musik zu set- für seinen Teil auf einzigartige Weise dazu beige- zen, – ich mußte es refüsieren, überzeugt, daß ein tragen hat, den Geschmack des Jahrhunderts irre- ewiges Wüten, Blutvergießen, Schimpfen, Schla- zuleiten.« (Verne 1994, S. 89) Aus einer ganz ande- gen und Morden kein Sujet für mich sei.« (Nicolai ren Perspektive brachte der Wiener Kritiker Edu- 1937, S. 211) Den jungen italienischen Kollegen ard Hanslick diese verbreitete Kritik auf den reizte aber offensichtlich gerade dieses »ewige Punkt, indem er Ernani zum Schlüsselwerk von Morden«; Verdis Theater ist fast immer ein Verdis Schaffen erklärte: »Seine Physiognomie ist Theater des gewaltsamen Todes. in dieser Oper zum erstenmal ausgeprägt: jene Dies hat nicht nur mit den »realistischen« Ten- Mischung von Energie und Leidenschaft mit denzen von Verdis Dramaturgie zu tun, wie sie vor hässlicher Roheit, welche wir Verdi’sch nennen.« allem an La traviata exemplifiziert werden, ohne (Hanslick 1875, S. 222) dass es jedoch möglich wäre, von Verdis »Rea- Einem Publikum, das mit sogenannt »veristi- lismus« eine direkte Linie zu Bizets Carmen oder schen« Opern wie Cavalleria rusticana (1890) oder gar dem sogenannten »verismo« des ›fin de siècle‹ Tosca (1900) vertraut ist, muss diese Kritik abwe- zu ziehen. Auch im poetischen und kompositori- gig scheinen, und dementsprechend spielt dieses schen Detail finden sich auf Schritt und Tritt Verdi-Bild heute keine wahrnehmbare Rolle mehr. »Roheiten«, die einem an älteren Modellen orien- Dabei spricht vieles dafür, den Vorwurf des »Häss- tierten Beobachter mit gutem Grund als »ewiges lichen« und »Rohen« in Verdis Werk sehr ernst zu Wüten« erscheinen konnten. Verdis Figuren sagen nehmen. Publikum der italienischen Oper war bis ohne Umschweife, was sie wollen – bis zum Ex- in die 1850er Jahre hinein eine zahlenmäßig äu- trem der Worte »Due cose e tosto … tua sorella e ßerst schmale Elite gewesen, die wesentlich von del vino« (»Zwei Dinge und zwar schnell … Deine der Aristokratie beherrscht wurde. Insofern über- Schwester und Wein«), mit denen der Herzog im rascht es nicht, dass sich die sogenannte 3. Akt von Rigoletto dem Wirt der Spelunke seine »belcanto«-Oper eines Rossini, Bellini und Doni- ›Bestellung‹ aufgibt. Aber nicht nur diese – von zetti zwanglos – und zwar unabhängig von der der venezianischen Zensur zu »una stanza e del Frage der Stoffwahl – auf aristokratische Verhal- vino« (»ein Zimmer und Wein«) abgeschwächte – tensmuster beziehen lässt: Das Vokabular der Li- Roheit, auch Violettas Aufforderung »Amami, bretti weist irritierend viele Archaismen aus fer- Alfredo« (»Lieb’ mich, Alfredo«) im 1. Akt von La nen, ritterlichen Zeiten auf, die melodische Erfin- traviata ist von einer Direktheit, die in anderen dung ist vorwiegend von Eleganz geprägt, in den Frauenrollen des 19. Jahrhunderts unvorstellbar Beziehungen zwischen den Figuren herrscht gewesen wäre. Und das Verfehlen des Spitzentons

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im röchelnden Todeskampf Riccardos am Ende das Streben einer unterdrückten Nation nach von Un ballo in maschera lässt sich beim besten Freiheit unterstützte).« (Casella 1913, S. 2) Willen mit keiner überkommenen Vorstellung Casellas rüde Worte haben freilich eine gewisse vom Kunst-Schönen mehr in Einklang bringen. Grundlage in den sozialen Realitäten des neuen, Obwohl Verdi immer an der gebundenen Spra- vereinten Italiens. Die nach der Einigung in allen che gereimter Dichtung als selbstverständlicher großen Städten neu erbauten politeami mit bis zu Grundlage seiner Opern festhielt, ist sein Theater 6 000 Plätzen standen nicht nur Zirkusdarbietun- in gewisser Weise prosaisch. Genau dies hat der gen, sondern auch Opernaufführungen offen – Florentiner Kritiker Abramo Basevi bereits 1859 in und um derart große Räume risikolos füllen zu hellsichtiger Weise beschrieben: »Allerdings war können, griffen die Verantwortlichen mit Vorliebe Verdi der einzige in Italien, der auf ernsthafte auf Verdis Erfolgsopern aus den 1850er Jahren zu- Weise die Gefühle von Figuren unserer modernen rück, die im letzten Drittel des Jahrhunderts nun und prosaischen Gesellschaft ausdrückt, wie in La tatsächlich zum ›Besitz‹ breiterer Schichten der traviata. [Bellinis] La sonnambula, [Donizettis] italienischen Gesellschaft geworden waren. Aus Linda [di Chamounix] und andere Opern haben dieser Perspektive betrachtet mag es auch kein ähnliche Stoffe, aber nicht prosaische.« (Basevi Zufall sein, dass sich Verdi in den ›demokrati- 1859, S. 300) Genau deshalb konnte Verdis drama- schen‹ Gesellschaften des späten 20. und begin- tisches Werk im Rückblick als Inbegriff des italie- nenden 21. Jahrhunderts unangefochten als erfolg- nischen 19. Jahrhunderts verstanden werden. Auch reichster Opernkomponist des 19. Jahrhunderts wenn in Politik und Gesellschaft weiterhin Aristo- durchgesetzt hat. kraten, nun aber gemeinsam mit situierten ›Bür- gerlichen‹ den Ton angaben: In Verdis Theater hatte der neue, ›bürgerliche‹ Ton die überkom- mene aristokratische Eleganz verdrängt, die ganz Der »Leierkasten«-Musiker selbstverständlich noch Rossinis und Bellinis Stil, aber genauso auch denjenigen Meyerbeers und Während das Attribut des »Rohen« für das heutige Liszts ausgezeichnet hatte. Reste solcher Eleganz Verdi-Bild keine nennenswerte Rolle mehr spielt, finden sich bei Verdi letztlich nur noch in ironi- hat der Vorwurf der undifferenzierten Leierkasten- schen Zusammenhängen, etwa dem parodistisch Musik gerade nördlich der Alpen nichts an An- eingesetzten »reverenza« in Falstaff. ziehungskraft verloren. Das ist einigermaßen er- Während Basevis Klassifizierung von Verdis staunlich, weil das Etikett »Leierkasten« im Luisa Miller als »bürgerliches und häusliches Trau- 19. Jahrhundert untrennbar mit dem Unbehagen erspiel« (ebd., S. 159 f.) nicht negativ gemeint ist, an Verdis derber Ästhetik verknüpft war. Heute schalt am Beginn des 20. Jahrhunderts eine jün- aber zielt dieses Klischee nicht mehr im Gerings- gere Generation den Komponisten für seine ver- ten auf den soziologischen Kontext ästhetischer meintliche Anbiederung an die aufstrebende Fragen, sondern allein auf den handwerklichen Bourgeoisie – im Unwissen darum, dass noch Differenzierungsgrad der musikalischen Detailge- Opern wie Rigoletto, Il trovatore oder Un ballo in staltung. maschera an den Vorlieben eines von Adligen do- So wird Wagners böses Wort, in den Händen minierten Opernpublikums ausgerichtet gewesen des »italienischen Opernkomponisten« sei »das waren. In einer harschen Polemik schrieb der ge- Orchester nichts anderes als eine monströse Gui- rade dreißigjährige Komponist Alfredo Casella tarre zum Akkompagnement der Arie« (Wagner zum 100. Geburtstag des ›Meisters‹: »Der Ge- 1860, S. 130) ebenso immer wieder aufgegriffen schäftsmann [ …] Verdi wusste einen erstaunli- wie das Bild des »Leierkastens«, das nicht erst von chen Vorteil aus den politischen Opportunitäten Hans Pfitzner in den 1940er Jahren in die Diskus- zu ziehen. Er erreichte eine unglaubliche Popula- sion geworfen wurde (Reck 1994, S. 111), sondern rität, indem er dem schlechten bürgerlichen Ge- schon in einer 1869 in Mainz aufgeführten antise- schmack in seiner niedrigsten und vulgärsten mitischen Parodie mit dem Titel Die Meistersinger Form schmeichelte (und gewiss nicht indem er … oder: Das Judenthum in der Musik begegnet. Dort

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