<<

Zeitschrift für Literatur- und http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html Theatersoziologie Herausgegeben von Beatrix Müller-Kampel und Helmut Kuzmics

NUMMER 7 (MÄRZ 2012) Das Lachen und das Komische I Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie Herausgegeben von Beatrix Müller-Kampel und Helmut Kuzmics

NUMMER 7 (MÄRZ 2012) Das Lachen und das Komische I Medieninhaber und Verleger LiTheS. Ein Forschungs-, Dokumentations- und Lehrschwerpunkt am Institut für Germanistik der Universität Graz Leitung: Beatrix Müller-Kampel

Herausgeber Ao. Univ.-Prof. Dr. Beatrix Müller-Kampel Institut für Germanistik der Universität Graz Mozartgasse 8 / P, A-8010 Graz Tel.: ++43 / (0)316 / 380–2453 E-Mail: [email protected] Fax: ++43 / (0)316 / 380–9761 Ao. Univ.-Prof. Dr. Helmut Kuzmics Institut für Soziologie der Universität Graz Universitätsstraße 15 / G 4, A-8010 Graz Tel.: ++43 / (0)316 / 380–3551 E-Mail: [email protected]

Lektorat Mag. phil. Evelyn Zechner E-Mail: [email protected]

Umschlagbild © Fotos von Burkhard Gager und Margarete Payer

Gestaltung und Satz mp – design und text / Dr. Margarete Payer Gartengasse 13 / 3 / 11, 8010 Graz Tel.: ++43 / (0)316 / 91 44 68 oder 0664 / 32 23 790 E-Mail: [email protected]

© Copyright »LiTheS. Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie« erscheint halbjährlich im Internet unter der Adresse »http://lithes.uni-graz.at/lithes/«. Ansicht, Download und Ausdruck sind kostenlos. Namentlich gezeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors oder der Autorin wieder und müssen nicht mit jener der Herausgeber identisch sein. Wenn nicht anders vermerkt, verbleibt das Urheberrecht bei den einzelnen Beiträgern.

Editorische Notiz LiTheS Nr. 7: Das Lachen und das Komische I präsentiert u.a. die Ergebnisse der im Rah- men der LiTheS-Tagung gleichen Titels im Juni 2011 geführten und davon angestoßenen Diskussionen.

Unterstützt von der Universität Graz (Vizerektorat für Forschung / Forschungsmanagement und -service und Dekanat der Geisteswissenschaftlichen Fakultät) und dem Land Steier- mark (Abteilung 3: Wissenschaft und Forschung).

ISSN 2071-6346=LiTheS Inhaltsverzeichnis Komik und das Komische: Kriterien und Kategorien Von Beatrix Müller-Kampel 5

Theorien und Poetologien des Komischen revisited 5

In den Feldern der (Beschäftigung mit) Komik I | ‚Subversiv‘ und ‚affirmativ‘ 7

In den Feldern der (Beschäftigung mit) Komik II | Evolution und Anthropologie 9

Gegensatz und Widerspruch | Inkongruenz und Diskrepanz (Paradigmen des Komischen I) 11

Zwischenüberlegung: Wider den komiktheoretischen Universalismus 12

Gegenbildlichkeit und Widerstreit | Norm und Konflikt(Paradigmen des Komischen II) 14 Fallhöhe und Verkehrung | Superiorität und Degradation (Paradigmatische Syntagmen des Komischen I) 14

Schauspiel und Verspieltheit | Match und Jeu (Paradigmatische Syntagmen des Komischen II) 17 Erstarrt und außer Rand und Band | Automatismus und Versteifung (Syntagmen des Komischen I) 18 Verwechslungen und Missverständnisse | Variation und Interferenz (Syntagmen des Komischen II) 19

Zuschauen und abwarten | Distanz und Ambivalenz (Pragmatische Kontexte I) 20

Bühnenwirklichkeit und Als-ob | Deixis und Parabasis (Pragmatische Kontexte II) 20 Vertrauen und Misstrauen | Kommunikation und Interaktion (Kommunikative Kontexte des Komischen) 22 Entlastung und Befreiung | Aggression und Anästhesie (Psychologische Kontexte des Komischen) 24

Kippen und Kapieren | Bisoziation und Pointe (Kognitionspsychologische Kontexte) 25

Gemeingemacht und verlacht | Possen und Plebejer (Zur Moralgeschichte des Komischen I) 28 Das verbotene und verschwundene Gelächter | Zensur und Zivilisation (Zur Moralgeschichte des Komischen II) 31

Zwischenüberlegung: Wider den komiktheoretischen Essentialismus 34

Happy End und Heiterkeit | Thomas-Theorem und Komikkultur 34

Spaß und Macht | Das Komische und die Autorität (Soziologische Kontexte II) 36

Woraus folgt: Plädoyer wider die komische PC 38

Satire in der DDR – ein Widerspruch? Von Alfred Dorfer 40

A) Position der Satire in der DDR 40

B) Historische Rahmenbedingungen 54 Die Komik der Extravaganza James Robinson Planché und der Londoner Unterhaltungsdiskurs der 1820er bis 1850er Jahre Von Marion Linhardt 63

Was ist eine „Extravaganza“ und wer war eigentlich James Robinson Planché? 64 Planchés Extravaganzas und das Komische 68

Lachen und Gesellschaft in literarischen Texten von Molière bis Flaubert Von Joseph Jurt 75

Lachen und Gesellschaft im Ancien Régime 75 Die Französische Revolution und die Komik angesichts der Gleichheit der Klassen 80 Die Wiederentdeckung Rabelais’ durch die romantische Generation 82

„… daß man in Gesellschaft mit Anstand und melodisch lache“ Höfische und bürgerliche Lachkultur im 17. und 18. Jahrhundert Von Eckart Schörle 87

Anständiges Lachen 87 Höfische Lachkultur 90 Bürgerliche Lachkultur 93 Selbstkontrolle und Verinnerlichung 96 Fazit 98

Prolegomena zu einer Kulturgeschichte des Parasiten in der griechisch-römischen Komödie Von Matthias J. Pernerstorfer 99

I. Ressentiments & Ideale 99 II. Mit Athenaios gegen Athenaios 101 III. Motivgeschichte 102 IV. Die Komödie 103 V. Publikumserwartungen 104 VI. Handlungslogik & Moral 105 VII. Der ideale Parasit 107 VIII. Die Verteidigung 110 IX. Der Spaßmacher 112 X. Der Parasit in Rom 113 XI. Parasiten & Schauspieler 114 XII. Resümee & Ausblick 115 Komik und das Komische: Kriterien und Kategorien1 Von Beatrix Müller-Kampel

„Voltaire sagte, der Himmel habe uns zum Gegengewicht gegen die vielen Mühseeligkeiten des Lebens zwey Dinge gegeben: die Hofnung und den Schlaf. Er hätte noch das Lachen dazu rechnen können; wenn die Mittel es bey Vernünftigen zu erregen nur so leicht bey der Hand wären, und der Witz oder Originalität der Laune, die dazu erfor- derlich ist, nicht eben so selten wären, als häufig das Talent kopf brechend, wie mystische Grübler, ha lsbrechend, wie Genies, oder herzbrechend, wie empfindsame Ro- manschreiber, (auch wohl dergleichen Moralisten) zu dich- ten.“ (Immanuel Kant: Critik der Urtheilskraft, 1790)2

Theorien und Poetologien des Komischen revisited Die Reflexion über das Komische hat in den deutschsprachigen Kulturwissenschaf- ten vor allem seit der Jahrtausendwende Konjunktur. Wohl angestoßen durch die seit 1988 erscheinende Zeitschrift Humor – International Journal of Humor Research (Berlin, New York), das Teilprojekt Transformationen von Wissen und Gewissheit in den Lachkulturen der Frühen Neuzeit des DFG-Sonderforschungsbereichs 447: Kul- turen des Performativen (2001–2010), die Kasseler Komik-Kolloquien (seit 2000)3 und die damit zusammenhängende Schriftenreihe Kulturen des Komischen (seit 2003),4 erschien eine kaum überschaubare Fülle von Studien und Beiträgen (auch mit mit- unter kaum fassbaren Ansätzen). In dem Maße, wie sich diese Konjunktur nun ab- zuschwächen beginnt, bietet sich die Gelegenheit der Bilanz, Systematisierung und Revision – übrigens auch der mehr als zweitausendjährigen Geschichte der Ästhetik, Moral- und Geschmacksgeschichte des Komischen. Denn auch diese gleicht einem Babylon aus Begriffen und Systemen.

1 Der Beitrag führt meinen Aufsatz: Das Lachen, das Komische und ihre Theorien / Oder / Was für eine Analyse der Komödie übrig bleibt. In: Sprachkunst. Beiträge zur Literatur- wissenschaft 40 (2010), 2. Halbband, S. 301–325 weiter, systematisiert und gewichtet neu und versteht sich überdies als kommentierte Bibliographie zur Geschichte und Theorie der (Beschäftigung mit) Komik (Stand: November 2011). Für kritische Durchsicht und Kom- mentare danke ich Marion Linhardt, Reinhard Müller und Matthias J. Pernerstorfer. 2 Immanuel Kant: Critik der Urtheilskraft. Berlin; Libau: Lagarde und Friedrich 1790, S. 225. 3 2000: „Haben Frauen nichts zum Lachen?“; 2003: „Die Komik der Medien“; 2006 und 2009: „12 Stunden bis zur Ewigkeit“; 2011: „mn“ [!]. 4 Bielefeld: Aisthesis; 1: LachArten. Herausgegeben von Arnd Beise (2003); 2: Jan Siebert: Flexible Figuren. Medienreflexive Komik im Zeichentrickfilm (2005); 3: Komik – Medi- en – Gender. Herausgegeben von Friedrich W. Block (2006); Eckart Schörle: Die Verhöfli- chung des Lachens (2007). Vgl. den Beitrag von E. Schörle in diesem Heft, S. 87–98.

5 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

Die Argumentation zielt in der Folge durchgängig auf eine Sichtung der Geschichte komiktheoretischer und komödienpoetologischer Reflexion im Hinblick auf ein be- griffliches Instrumentarium ab, das zur Analyse einzelner Lustspiele, aber auch der Gattung Komödie und des Komischen überhaupt taugt.5 Zur Disposition stehen dabei die zentralen Thesen der Distanztheorie (Komik als Folge distanzierter Kog- nition durch den Zuschauer / das Publikum), Energietheorie (Komik als Mittel zur Entspannung, Entlastung, Befreiung des Lachenden), Inkongruenztheorie (Komik als spezifisches Setting von Kontrasten, Antagonismen, Oppositionen, Divergenzen, Diskrepanzen, Dichotomien und Konflikten), Superioritätstheorie (Komik als Aus- druck von Aggression und Degradation) sowie Bisoziations- oder Kipptheorie (Ko- mik als Phänomen plötzlichen Kapierens von nicht Zusammengehörigem).6 Dabei wird stets die Verbindung zur Geschichte der Komödienästhetik im Sinne der gefor- derten wie praktizierten poetisch-poetologischen Normen einerseits, zur Geschichte des Komischen und der Gattung Komödie andrerseits zu halten sein. ≡ „Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen“: Maßstab der folgenden Revi- sion von Theorien und Poetologien des Komischen soll die analytische Sachdienlichkeit, Erklärungskraft und Verwendbarkeit der jeweils für ‚das Komische‘ geltend gemachten Aspekte und Attribute sein – will heißen deren Eignung, konkret Komisches im Alltag wie auch in Artefakten und in der Fiktion funktional (und nicht essentialistisch oder substantialistisch) beschreiben und begreifen zu können. ≡ An transhistorisch-evolutionistischen oder universalistisch-anthropologischen An- sätzen mangelt es auch nach mehr als zwei Millennien Ästhetik des Komischen keineswegs. Und trotz zahlreicher einschlägiger Publikationen vor allem der letzten zwei Jahrzehnte gilt nach wie vor, dass die germanistische und die kulturwissen- schaftliche Komikforschung kaum einmal daran denkt, „aus den (zwar oft ephe- meren, aber vielfältigen) Theorieansätzen zum Lachen wie zum Komischen ihre Schlüsse zu ziehen, geschweige denn, sie am literarischen ‚Material‘ anzuwenden.“7

5 Für die allgemeine Wort- und Begriffsgeschichte sei verwiesen auf Klaus Schwind: Ko- misch. In: Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Herausgegeben von Karlheinz Barck [u. a.]. Bd. 3: Harmonie – Material. Stuttgart; Wei- mar: Metzler 2001, S. 332–384. 6 M. Geier beschränkt sich in seinem philosophiegeschichtlichen Abriss auf Superioritäts-, Inkongruenz- und Entspannungstheorie: Vgl. Manfred Geier: Worüber kluge Menschen lachen. Kleine Philosophie des Humors. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006. (= rororo sachbuch. 62117.) S. 144–177. L. Wirag nennt außerdem „Ambivalenztheorien (Komik aus Dualität von Gefühlen)“ und „Konfigurationstheorien (Komik als plötzliches Zusammen- passen)“: Vgl. Lino Wirag: Komik als Handwerk? Eine Neudefinition. Online: http://www. linowirag.de/text_nachwort.pdf [2011-11-24]. 7 Daniela Weiss-Schletterer: Das Laster des Lachens. Ein Beitrag zur Genese der Ernsthaf- tigkeit im deutschen Bürgertum des 18. Jahrhunderts. Wien; Köln; Weimar: Böhlau 2005. (= Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts. 11.) S. 7.

6 Beatrix Müller-Kampel: Komik und das Komische

„Ins Kröpfchen“ heißt es damit für rein logische, ontologisch-metaphysische, es- sentialistisch-substantialistische, aber auch für die meisten evolutionären und an- thropologischen Erklärungsversuche; „ins Töpfchen“ (zumindest vorläufig) für semantische, epistemologische, explanatorische Definitionen und (ganz bestimmt) für kontextuell-funktionale und induktive, also im weitesten Sinn soziologisch-his- torische und sozialpsychologische Definitionen. Soviel sei vom Ergebnis vorwegge- nommen und zugleich mit Siegfried J. Schmid als These formuliert: „dass es Komik nicht gibt, sondern dass sie aus Anwendungen der Kulturtechnik Komik resultiert. Wenn niemand etwas komisch findet, findet Komik nicht statt.“8 Essentialistische Definitionsversuche des Komischen zeigten nach Schmidt „deutlich, daß es sich hier um ein prinzipiell zum Scheitern verurteiltes Unterfangen handelt. Ein kon- textdeterminierter pragmatischer qualitativer Begriff wie ‚Komik‘ ist aus logischen Gründen nicht ahistorisch definierbar.“9

In den Feldern der (Beschäftigung mit) Komik I | ‚Subversiv‘ und ‚affirmativ‘ Nach wie vor begleiten sie jede historiographische und poetologische Bemühung um das Komische: Mutmaßungen darüber, ob das Komische wie auch das dazugehörige Lachen als affirmativ oder subversiv einzustufen seien – nämlich in Bezug auf ein Kollektiv, die Sozietät, den Staat. Als prinzipiell subversiv galt und gilt das Komische wohl jenen, die sich mit dem Gegenstand und dieser These positionieren woll(t)en in einem bestimmten Teil des kulturellen Feldes, den man das intellektuelle nennt – wo man übrigens auch auf jene trifft, denen das Lachen über Komisches für wenig anderes gilt als ein Zeichen mangelnder Reflexion oder Kritik. Zu erklären ist die Verpflichtung des Komischen auf Fragen der (politischen) Moral aus der Geschichte der Komiktheorie, die primär normativ-typologisch verfuhr. Die ‚Sitten‘ rangierten dabei nicht selten vor der Funktion des Komischen, die Präskription nicht selten vor der Deskription. Man kennt diesen Konnex aus den Komikpoetiken gottschedianischer und maria- theresianisch-josefinischer Provenienz, aber auch aus den nach 1968 von Aufbruchs- stimmung und rebellischem Impetus durchdrungenen Geisteswissenschaften. Im Selbstanspruch oft der Kritischen Theorie verpflichtet, erschloss man sich einerseits neue Forschungsfelder wie das Publikum, die Rezeption, die ‚Trivialliteratur‘, und begründete andrerseits den alten Kanon neu.10 Zu Letzterem zählt das an Adornos Ästhetischer Theorie, 1970 aus dem Nachlass herausgegeben und beileibe keine Theo-

8 Siegfried J. Schmidt: Inszenierungen der Beobachtung von Humor. In: Komik – Medi- en – Gender. Ergebnisse des Kasseler Komik-Kolloquiums. Herausgegeben von Friedrich W. Block. Bielefeld: Aisthesis 2006. (= Kulturen des Komischen. 3.) S. 19–51, hier S. 31. 9 Siegfried J. Schmidt: Komik im Beschreibungsmodell kommunikativer Handlungsspiele. In: Das Komische. Herausgegeben von Wolfgang Preisendanz und Rainer Warning. Mün- chen: Fink 1976. (= Poetik und Hermeneutik. VII.) S. 165–190, hier S. 169. 10 Was auch mit weniger Arbeitsaufwand verbunden war als bei der neuen Empirie.

7 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

rie, geschulte Bemühen, das ‚Negative‘ eines Kunstwerks im Sinne des ‚Subversiven‘ ans Licht zu fördern und kritisch zu legitimieren.11 Auf der Suche nach der Negation als ästhetischer Legitimierungsinstanz griff die Komik- und Lachforschung, dabei meist am komischen Kanon des hochliterari- schen Lustspiels oder der Satire mit Kunstanspruch orientiert und auf diesen fixiert, erst einmal auf Joachim Ritters Aufsatz Über das Lachen von 1940 zurück. Der Philosoph Ritter hatte das Komische als ein Ineinanderspiel zweier Bereiche verstan- den: des Ausgrenzenden und des Ausgegrenzten einer Kultur. Im Komischen trete das Ausgegrenzte oder Verdrängte einer Kultur plötzlich in Erscheinung und werde im Lachen positiv besetzt und anerkannt. Das Komische entsteht nach Ritter aus einer Parallelisierung von Ausgrenzendem und Ausgegrenztem12 – sei also bei aller Ambivalenz kritisch angelegt. Seit den 1980ern glaubt man überdies, sowohl bei der allgemeinen Erforschung des Komischen als auch bei dessen (ideologie-)kritischer Unterfütterung, auf Michail Bachtins Karnevalismuskonzept zurückgreifen zu können – indem ‚karnevalistisch‘ als Attribut zu einem allgemeinen Definiens aufgeblasen wird und nunmehr auf alles und jedes passt, das ästhetisch als ‚komisch‘ festgeschrieben beziehungsweise kanonisiert werden soll.13 Wie jede Leerformel eignet sich eine der karnevalistischen Subversivität des Komischen überall und wofür auch immer. Doch das karneva- listische Konzept der verkehrten Welt verkehrt die Welt nur für die begrenzte Zeit von Jubel, Trubel, Heiterkeit14 und sieht ein wirklich Neues gar nicht vor. Auch die (Selbst-)Positionierung in komischer Face-to-Face-Kommunikation wie auch das oktroyierte Komische in Diktaturen belegen, dass Humor als praktizierte Komik „ein äußerst raffiniertes Instrument zur Verstärkung und Aufrechterhaltung des Sta- tus quo und des damit verbundenen Machtapparates“ sein kann.15

11 Vgl. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Herausgegeben von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. 2. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974. (= suhrkamp taschenbuch wis- senschaft. 2.) 12 Vgl. Joachim Ritter: Über das Lachen. In: Blätter für deutsche Philosophie 14 (1940 / 41), S. 1–21, hier S. 9 und S. 12. 13 Vgl. dazu den Abschnitt „Fallhöhe und Verkehrung | Superiorität und Degradation (Para- digmatische Syntagmen des Komischen I)“, S. 14–17. 14 Vgl. Hellmut Thomke: Jm schimpff man offt die worheit seyt. Vom reformatorischen Fast- nachtsspiel zum Bibeldrama. In: „Kann man denn auch nicht lachend sehr ernsthaft sein?“ Sprachen und Spiele des Lachens in der Literatur. Herausgegeben von Daniel Fulda, Antje Roeben und Norbert Wichard. Berlin; New York: de Gruyter 2010, S. 87–103, hier S. 87. 15 Anton C. Zijderveld: Humor und Gesellschaft. Eine Soziologie des Humors und des La- chens. [Sociologie van de zotheid, 1971.] [Erw. und korr. Ausgabe.] Aus dem Niederlän- dischen von Diethard Zils. Graz; Wien; Köln: Styria 1976, S. 174. Vgl. auch A. C. Z.: A Sociological Theory of Humor and Laughter. In: Semiotik, Rhetorik und Soziologie des Lachens. Vergleichende Studien zum Funktionswandel des Lachens vom Mittelalter zur Gegenwart. Herausgegeben von Lothar Fietz, Joerg O. Fichte und Hans-Werner Ludwig. Tübingen: Niemeyer 1996, S. 37–45.

8 Beatrix Müller-Kampel: Komik und das Komische

Dem Komischen entweder affirmative oder subversive Intention oder Rezeption zu unterschieben, mag aufmerksamkeitspolitisch spannend und insofern dessen Ver- fechtern sogar nützlich sein – das historische, das konkret Komische berührt die Behauptung nicht. Alles spricht dafür, dass Partei ergreifende Komik dies „mit dop- pelter Stoßrichtung“ tut: „kritisierend und bestätigend zugleich.“16 In Erwägung, dass sich Diktaturen mit Komödien und Komik feiern lassen, darauf aber auch der Tod stehen kann (wie beim Flüsterwitz17), mag ein Sowohl-als-Auch definitorisch durchaus plausibel sein18 – so recht befriedigen kann es nicht. ≡ Ob das Komische affirmativ, subversiv, aversiv sei oder in welchen dieser Varianten es in komischer Kommunikation wirksam wird, hängt in jedem Fall von Kultur, Epoche, Situation ab – damit aber auch von den Autoritäten und Mächten, die gerade wirksam sind. ≡

In den Feldern der (Beschäftigung mit) Komik II | Evolution und Anthropologie Lachen, so viel steht fest, ist im Gegensatz zum Lächeln ein physiologischer und weitgehend unwillentlicher Prozess.19 „Der Mensch ist ein lachendes Säugetier“. Etwa so pirschen sich die Evolutionsbiologie und die Philosophische Anthropologie an das Problem heran,20 anknüpfend auch an Aristoteles: „Daß nur der Mensch kitzlig ist, liegt an der Freiheit seiner Haut und an dem Umstand, daß nur er von allen Geschöpfen lachen kann.“21 Tatsächlich geht das erste kindliche Lachen auf einen physiologischen Reiz, das Kitzeln, zurück. „Lachen“, könnte man daraus fol- gern, „hat phylogenetisch und ontogenetisch seinen Ursprung im Kitzeln.“22

16 Wolfgang Trautwein: Komödientheorien und Komödie. Ein Ordnungsversuch. In: Jahr- buch der Deutschen Schillergesellschaft 27 (1983), S. 86–123, hier S. 117 und S. 119. 17 Vgl. die Sammlung von Flüsterwitzen und v. a. die dazugehörigen Kommentare in: Auf La- chen steht der Tod! Herausgegeben von Reinhard Müller. Innsbruck: StudienVerlag 2009. 18 Vgl. Rolf Lohse: Überlegungen zu einer Theorie des Komischen. In: PhiN. Philologie im Netz (1998), Nr. 4, S. 30–42, hier S. 31. Online: http://web.fu-berlin.de/phin/phin4/p4t2. htm [2011-11-24]. 19 Vgl. Norman Holland: Laughing. A Psychology of Humor (1982), S. 76, zit. n. Peter L. Berger, Erlösendes Lachen. Das Komische in der menschlichen Erfahrung. [Redeeming Laughter. The comic dimension of human experience, 1997.] Aus dem Amerikanischen von Joachim Kalka. Berlin; New York: de Gruyter 1998, S. 54. 20 Vgl. den Dokumentarfilm: Vom Lachen und dem aufrechten Gang, Deutschland 2006, 12min; Drehbuch und Regie: Alexander Kluge; Fachberatung Carsten Niemitz. Produkti- on: Kairos-Film, München; Premiere: 30.4.2006, dctp auf SAT 1. 21 Aristoteles: Die Lehrschriften. Herausgegeben, übertragen und in ihrer Entstehung erläu- tert von Paul Gohlke. Bd. 8,2: Über die Glieder der Geschöpfe. Paderborn: Schöningh 1959, S. 125. 22 Rainer Stollmann: Das Lachen und seine Anlässe. In: Komik. Ästhetik, Theorien, Strate- gien. Herausgegeben von Hilde Haider-Pregler, Brigitte Marschall, Monika Meister, An- gelika Beckmann und Patric Blaser. Wien; Köln; Weimar: Böhlau 2006. (= Maske und Kothurn. 51,4.) S. 13–20, hier S. 13. Vgl. auch Rainer Stollmann: Groteske Aufklärung.

9 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

Helmut Plessner, dem Begründer der Philosophischen Anthropologie, galt das La- chen (auch über Komisches) als Zeichen der „exzentrischen Positionalität“23 des Menschen. In Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen menschli- chen Verhaltens von 1941 wird das Lachen über Komisches anthropologisch gebun- den und entbunden zugleich: das eine, indem das Komische aus der menschlichen Sphäre überhaupt expediert wird, das andre, indem es sowohl in die Welt der Nor- men als auch in jene der Konflikte mit diesen Normen zurückkatapultiert wird.24 Wo und wie dieses a-anthropologische, a-psychische, a-sozial-soziale ‚Elementare‘ des komischen Konflikts und mit ihm das darin waltende Lachen zu finden seien, bleibt bei Plessner freilich auch ziemlich nebulos. ≡ Der Klärung der Frage, worin Komik bestehe und woraus das Lachen darüber hervor- gehe, wird mit evolutionsbiologischen und anthropologischen Ansätzen nicht beizukom- men sein. Und wozu auch? ≡ Schon der alte Stechlin wusste auf die Vermutung, ob es nicht die Sprache sei, die den Menschen ausmache, sarkastisch zu parieren: „Also, wer am meisten red’t, ist der reinste Mensch.“25 Wäre also in unserem Fall erst Mensch, wer lacht? Und je öfter, desto mehr? Charles Darwin bekräftigte den „sense of humour“ besonders von Affen, Konrad Lorenz die Lachfähigkeit von Hunden,26 und mittlerweile konnte im Versuch an Ratten (ausgerechnet Ratten) und an Menschenaffen festgestellt werden, dass auch Säugetiere auf Kitzeln hin lachen. „Affen und Menschen lachen ähnlich“, so das Ergebnis einer mehr als 10-jährigen Studie an der Tierärztlichen Hochschu- le Hannover.27 Aufnahmen von Spaß treibenden und dabei unmissverständlich la- chenden Menschenaffen kursieren in TV wie WWW schon seit längerem. Alles spricht also dafür, dass die Frage nach dem Evolutionsbiologischen und Anthropolo- gischen am Lachen aus dem reichen Fundus kulturwissenschaftlicher „Reduktions-

Studien zu Natur und Kultur des Lachens. Stuttgart: M und P, Verlag für Wissenschaft und Forschung 1997. 23 Vgl. Joachim Fischer: Exzentrische Positionalität. Plessners Grundkategorie der Philosophi- schen Anthropologie. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 48 (2000), Nr. 2, S. 265– 288. Online: http://www.fischer-joachim.org/exzentrischepositionalitaet.pdf [2011-11-24]. 24 Vgl. Helmuth Plessner: Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen menschlichen Verhaltens. In: H. P.: Gesammelte Schriften. Herausgegeben von Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker. Bd. VII. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S. 201–387, hier S. 299. 25 Theodor Fontane: Der Stechlin. München: Hanser 1966. (= Theodor Fontane: Sämtliche Werke. Herausgegeben von Walter Keitel. Abt. I / 1.) S. 23. 26 Vgl. Rudolf Helmstetter: Vom Lachen der Tiere, der Kinder, der Götter, der Menschen und der Engel. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 56 (2002), H. 641 / 642: Lachen. Über westliche Zivilisation, S. 763–773, hier S. 764. 27 Vgl. die Dokumentation u. a. von Elke Zimmermann, Carsten Niemitz, Marina Davila Ross: Affen und Menschen lachen ähnlich. ZDF / 3sat, 3sat nano Science Wissenschaft TV vom 5.6.2009. Online: http://stream-tv.de/sendung/1252178/nano-affen-und-menschen- lachen-aehnlich [2011-11-24].

10 Beatrix Müller-Kampel: Komik und das Komische tricks“ stammt, wie sie Hermann Bausinger beschrieben hat.28 Wer über Lachkultur spreche, tue jedenfalls gut daran, diesen biologischen oder biologisierten Bereich zu verlassen.29

Gegensatz und Widerspruch | Inkongruenz und Diskrepanz (Paradigmen des Komischen I) Wenn es denn so etwas gibt wie einen im Bildungs- und Kulturbereich gebräuchli- chen Komik-Begriff, so spiegeln ihn sicherlich jene Organe, die ihn am allerstärks- ten tradieren – für die schnelle Übersicht von heute (2011) ist das Wikipedia. Die freie Enzyklopädie, die unter „Ausprägungen“ des Komischen vermerkt: „Zum einen sind Kontrasttheorien zu benennen, die v. a. Unterschiede als Aus- löser komischer Wirkungen festmachen. Andere Systeme argumentieren mit Umkehrungen, mit der Veränderung von Machtstrukturen, mit sozialen Di- mensionen, dem Vexierspiel von Eindrücken, mit Normbrüchen; dem Drang nach Freiheit, der sich in der Komik artikuliert; mit Bewegung und Erstarrung, schnellem Wechsel, Angstgefühlen oder kultureller Zugehörigkeit.“30 Um auch die beiden auf die Literatur bezogenen, gewiss viel benutzten Komik-Arti- kel im Metzler Literatur Lexikon heranzuziehen (sie stammen von Irmgard Schweik- le und in der Neuauflage von 2007 von Christoph Deupmann): „Trotz kontroverser Ansatzpunkte (das K[omische] ident[isch] mit dem Lächerl[ichen]?, menschl[icher] oder sozialer Natur?, als Kategorie des Schönen oder Häßlichen? etc.) und Ergebnisse wird das K[omische] doch grundsätzl[ich] (wie das Trag[ische]) begriffen als Konflikt widersprüchlicher Prinzipien.“ (Irm- gard Schweikle)31 „Für die neuzeitlichen K[omik]-Theorien […] ergibt sich K[omik] aus einer überraschend wahrgenommenen Inkongruenz, die auf unterschiedliche Struk- turformeln gebracht wird: Gemeint ist der Kontrast“ [wonach eine Aufzählung von Kontrastkategorien vom 17. bis zum 20. Jahrhundert folgt].32

28 Hermann Bausinger: Lachkultur. In: Vom Lachen. Einem Phänomen auf der Spur. He- rausgegeben von Thomas Vogel. Tübingen: Attempto Verlag 1992. (= Attempto Studium Generale.) S. 9–23, bes. S. 9. 29 Vgl. ebenda. 30 Komik. In: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie. Online: http://de.wikipedia.org/wiki/Ko- mik [2011-11-24]. Seit einer früheren Einsichtname am 13.12.2009 wurde die einleitende Definition geschärft, vgl. Müller-Kampel, Das Lachen, das Komische und ihre Theorien, S. 308–309. 31 Irmgard Schweikle: das [!] Komische. In: Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Defini- tionen. Herausgegeben von Günther Schweikle und I. S. 2. Aufl. Stuttgart: Metzler 1990, S. 243–244, hier S. 243. 32 Christoph Deupmann: Komik. In: Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen. Begründet von Günther und Irmgard Schweikle. Herausgegeben von Dieter Burgdorf, Christoph Fasbender und Burkhard Moenninghoff. 3., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart; Weimar: Metzler 2007, S. 389–390, hier S. 390.

11 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

Die Einträge geben die Quintessenzen vergangener und gegenwärtiger europäischer Poetiken zu den Paradigmen komischer Gegenstände getreu wieder. ≡ So gut wie alle Definitionen des Komischen laufen bei der Erfassung der Gegenstands- attribute hinaus auf: Diskrepanz, Kontrast und Inkongruenz; Antagonismen, Oppositi- onen und Divergenzen; Dichotomien, Kontraste und Konflikte. ≡ Nach skriptsemantischen Modellen entsteht Komik dann, wenn zwei verschiedene, sich jedoch überschneidende / überlappende und / oder oppositionelle ‚Skripts‘ auf- einandertreffen, wobei das Lese- / Hör- / Schaupublikum diese Opposition ‚auflösen‘ muss.33 Das ‚Skript‘ ist auch hier als Inkongruenz gedacht. In ein Bonmot gegossen: „Komik traut jedes Paar“ (Lino Wirag).34

Zwischenüberlegung: Wider den komiktheoretischen Universalismus ‚Inkongruenz‘ ist der Schlüsselbegriff in den skriptsemantischen Konzepten der SSTH: „Semantic Script-based Theory of Humor“, der GTVH: „General Theory of Verbal Humor“ und der OSTH: „Ontological Semantics Theory of Humor“, den drei linguistisch-essentialistischen Theorien zum Komischen von dem Anglisten und Linguisten Victor Raskin und dessen Schüler Salvatore Attardo. Humor und Komik sollen darin auf axiomatische Prinzipien und Regeln mit universalem Status festgelegt werden.35 Wenn man sich vom konkret Komischen in Funktion fern- hält, dieses auf eklektizistisch ausgewählte Beispiele beschränkt bzw. an die SSTH- / GTVH- / OSTH-Axiomatik anpasst, gehen die Modelle wohl auf – doch um den Preis des Bezugs zum empirisch Komischen. Der ‚Inkongruenz‘ entlang lassen sich auch, wie Tom Kindt es kürzlich in seiner Habilitationsschrift unternommen hat, eine Theorie literarischer Komik und Unter- suchungen zur deutschsprachigen Komödie von Lessing bis Tieck entwerfen, auch „ohne den Absichten und Verhaltensweisen von deren Produzenten oder Rezipienten Be- achtung zu schenken“.36 Für die erste Sichtung und Ordnung der Struktur(en) einer einzelnen Komödie ist die ‚Inkongruenz‘ als deskriptives Instrument wohl unab- dingbar; für ein weiteres, genauer: näheres Verständnis des Komischen reicht sie

33 Vgl. Victor Raskin: Semantic Mechanisms of Humor. Dordrecht: Reidel 1984. (= Studies in linguistics and philosophy. 24.) 34 Lino Wirag: Platzen vor Lachen! Komik und Kinderbuch. Berlin: Autumnus 2009. (= Schriftenreihe Essays zur Kinderliteratur. 6.) S. 11. 35 Zur Kritik vgl. Helga Kotthoff: Spaß Verstehen. Zur Pragmatik von konversationellem Humor. Tübingen: Niemeyer 1998. (= Reihe Germanistische Linguistik. 196.) S. 42, 47 und S. 68. 36 Tom Kindt: Literatur und Komik. Entwurf einer Theorie literarischer Komik und Unter- suchungen zur deutschsprachigen Komödie von Lessing bis Tieck. Göttingen, Univ., Ha- bilitationsschrift 2009, S. 25; identisch in der nur geringfügig veränderten Druckfassung Literatur und Komik. Zur Theorie literarischer Komik und zur deutschen Komödie im 18. Jahrhundert. Berlin: Akademie-Verlag 2011. (= Deutsche Literatur. Studien und Quel- len. 1.) S. 23.

12 Beatrix Müller-Kampel: Komik und das Komische nicht aus.37 In Anbetracht von Kindts Titel Theorie literarischer Komik von Lessing bis Tieck (in der gedruckten Fassung im Anspruch ein wenig abgeschwächt zu Zur Theorie literarischer Komik und zur deutschen Komödie im 18. Jahrhundert) geriet die Corpusbildung mit gerade einmal vier Komödien erschreckend schmal (Lessings Minna von Barnhelm, Lenz’ Der Hofmeister, Kotzebues Die Indianer in England und Tiecks Der gestiefelte Kater),38 und das Argument, man könne säuberlich zwischen dem Komischen und dem Komischen von jemandem und für jemanden unterschei- den, hält keiner Überprüfung stand.39 Auch als historiographisches Perspektiv, mit dem man Gattungsgeschichte betreiben könnte, taugt ‚Inkongruenz‘ allein nicht eben viel, weder für die Komödiegeschichte einer bestimmten Epoche noch einer Kultur (und einer womöglich ‚hybriden‘ am allerwenigsten). ≡ ‚Inkongruenz‘: Zu weit, zu vage und zu wenig trennscharf ist der Begriff, um damit allein so etwas „Flüchtiges“40 wie Komik zu fassen und verstehen zu können41 – selbst wenn man ihn erweitert um Diskrepanz und Differenz, Antagonismus und Opposition, Divergenz und Dichotomie, Kontrast und Konflikt. ‚Inkongruenzen‘ kennzeichnen das Komische gewiss in besonderem Maße, jedoch mit derselben Gültigkeit auch eine Fülle sprachlicher Äußerungen und Texte ganz anderen Typs (und letztlich auch das Tragi- sche). ≡ Man wird in so manchen literarischen Gattungen und nichtliterarischen Textsorten nicht lange suchen müssen, um diese Merkmale als Strukturprinzip identifizieren zu können. Inkongruenz ist eben bloß „formale Bedingung“42 des Komischen und nicht das Komische selber – und schon gar nicht ein universell Gültiges.

37 Zur Kritik vgl. Kotthoff, Spaß Verstehen, S. 47. 38 Vgl. Kindt, Entwurf einer Theorie literarischer Komik, S. 173–256, und Kindt, Zur Theorie literarischer Komik und zur deutschen Komödie, S. 159–240. 39 Kindt, Entwurf einer Theorie literarischer Komik, S. 144, und Kindt, Zur Theorie litera- rischer Komik und zur deutschen Komödie, S. 137: „Wenn eine Textpassage im Sinne der entwickelten Bestimmung komisch ist, dann muss das nicht heißen, dass sie […] komisch gemeint war oder von Lesern komisch gefunden wurde oder wird.“ 40 Leitbegriff von Peter L. Berger, Erlösendes Lachen. 41 Als endgültig entleert kann der Begriff bei Schopenhauer gelten. Auch er rekognosziert als Hauptkennzeichen des „Lächerlichen“ eine Kategorie des Missverhältnisses, nämlich „Inkongruenz“, und baut folgendes Argument darum herum: „[…] ist der Ursprung des Lächerlichen allemal die paradoxe und daher unerwartete Subsumtion eines Gegenstandes unter einen ihm übrigens heterogenen Begriff, und bezeichnet demgemäß das Phänomen des Lachens allemal die plötzliche Wahrnehmung einer Inkongruenz zwischen einem sol- chen Begriff und dem durch denselben gedachten realen Gegenstand, also zwischen dem Abstrakten und dem Anschaulichen.“ Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vor- stellung. Bd. II. Stuttgart [u. a.]: Klett-Cotta 1987, S. 124–125. 42 Walter Haug: Das Komische und das Heilige. Zur Komik in der religiösen Literatur des Mittelalters. In: Wolfram-Studien VII. Herausgegeben von Werner Schröder. Berlin: E. Schmidt 1982, S. 8–31, hier S. 10.

13 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

Gegenbildlichkeit und Widerstreit | Norm und Konflikt (Paradigmen des Komischen II) Mit „Gegenbildlichkeit“ versuchte es der Romanist Hans Robert Jauß, indem er (an Kant anschließend: „Das Lachen ist ein Affect aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts“43) Komik als Diskrepanz zwischen Erwarte- tem und Beobachtetem definiert: „[…] der komische Held ist nicht an sich selbst, sondern vor einem Horizont bestimmter Erwartungen, mithin im Hinblick darauf komisch, daß er diese Erwartungen oder Normen negiert. Nennen wir dies eine Komik der Gegen- bildlichkeit, so ist klar, daß hier das Vergleichen selbst mit zum Rezeptionsvor- gang gehört: wer nicht weiß oder erkennt, was ein bestimmter komischer Held negiert, braucht ihn nicht komisch zu finden.“44 Rainer Warning betont das nach den Wertmaßstäben und Urteilsformen des Pu- blikums Konflikthafte und Konfliktbeladene daran; der „komische Kontrast“ sei demzufolge stets ein „komischer Konflikt“, für den gelte: „Der komische Konflikt ist nicht komisch aus sich selbst, sondern nur im Reflex einer verletzten Erwartungsnorm. Zur komischen Situation gehört daher neben dem Träger des komischen Konfliktes selbst wesentlich auch der Betrachter, für den dieser Konflikt komisch ist und der ihn lachend beantwortet.“45 ≡ Mit den Kategorien des Erwartungshorizonts und des Normbruchs ist nun das Publi- kum („der Betrachter“) mit einbezogen: Was komisch ist, wird hermeneutisch zu etwas, was jemand komisch findet,46 und das Lachen darüber entsteht aus dem Spaß daran, ein ungezeigtes Gegenbild, einen nicht ausgesprochenen Konflikt erfasst zu haben. ≡

Fallhöhe und Verkehrung | Superiorität und Degradation (Paradigmatische Syntagmen des Komischen I) Die weltweit wohl häufigste, aber auch meist falsch zitierte Referenzquelle zur The- orie des Komischen ist jene von Michail Bachtin. Schon die erste Rezeptionswelle im nicht-sowjetischen Europa war von einem Missverständnis getragen: dass man es überhaupt mit einer Komiktheorie zu tun hätte. Realiter entwarf Bachtin in seiner 1940 geschriebenen und 1965 in Moskau erschienenen Studie Rabelais und seine

43 Kant, Critik der Urtheilskraft, S. 222. 44 Hans Robert Jauß: Über den Grund des Vergnügens am komischen Helden. In: Das Komi- sche, S. 103–132, hier S. 105. 45 Rainer Warning: Elemente einer Pragmasemiotik der Komödie. In: Das Komische, S. 279– 334, hier S. 303. 46 Jauß stellt jedoch in Abrede, dass für das Verstehen komischer Gegenbildlichkeit unbedingt (literar-)historisches Wissen über beide Seiten des Kontrasts vonnöten sei, da die komische Folie mitunter auch aus deren Satire erkennbar werde (wie das Schema der Ritterromane aus dem Don Quixote). Dies gilt auch für Parodien, deren Komik sich nicht notwendig aus der Kenntnis der Vorlage ergibt. Vgl. Jauß, Über den Grund des Vergnügens am komischen Helden, S. 105.

14 Beatrix Müller-Kampel: Komik und das Komische

Welt47 eine gezwungenermaßen aus wenigen Quellen gearbeitete48 Theorie und Ge- schichte grotesker Körperlichkeit, die sich zeitlich allenfalls auf die pantagruelischen Welten von Rabelais (um 1495–1553) und die karnevalistischen Lachkulturen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit bezogen (und camouflageartig, siehe den Un- tertitel Volkskultur als Gegenkultur, auf den Stalinismus um 1940). Doch ein Attribut des karnevalistischen Lachens scheint für eine übergeordnete De- finition des Komischen überaus geeignet: jenes der lachenden ‚Heraufsetzung‘ des- sen, was moralisch und emotional eigentlich (i. e.: außerhalb der Lachgemeinschaft, außerhalb der karnevalistischen Situation) herabzusetzen wäre und auch herabge- setzt wird. Dieses für die karnevalistische Narrenkultur typische heraufsetzende La- chen über moralisch und ästhetisch Herabgesetztes sei „heiter, jubelnd und zugleich spöttisch, es negiert und bestätigt, beerdigt und erweckt wieder zum Leben“49 – kenne also weder die Distanzierung des moralischen noch die Negation des bloß satirischen Lachens. Charakteristische Ausdrucksformen dieser Lachkultur bildeten die verschiedensten Varianten von Parodie und Travestie, Degradierung und Profa- nierung50 sowie eine überschäumende Rhetorik des Schimpfens, Fluchens, Verwün- schens und des Obszönen.51 ≡ Die Fallhöhe zwischen Hoch und Niedrig, Erhaben und Gemein, Geist und Körper ist generell als gegenständlich-struktureller Angelpunkt des Komischen anzusprechen. ≡ Für Justus Möser ist sie in seiner Vertheidigung des Groteske-Komischen von 1761 die Voraussetzung der komikspezifischen Beobachtung der „Größe ohne Stärke“;52 für Jean Paul notwendige Bedingung von Humor überhaupt, denn: „Der Humor, als das umgekehrt Erhabene, vernichtet nicht nur das Einzelne, sondern das Endliche durch den Kontrast mit der Idee.“53 Anknüpfend daran wandte Theodor Lipps in seiner Schrift Komik und Humor. Eine psychologisch-ästhetische Untersuchung (1898) besonderes Augenmerk auf die komische Fallhöhe von Groß und Klein: Das Große

47 Творчество Франсуа Рабле и народная культура средневековья и Ренессанса / Tvorčestvo Fransua Rable i narodnaja kul’tura Srednevekov’ja i Renessansa. Moskau: Izd. Chudož Li- teratura 1965. 48 Zur Kritik an Bachtin vgl. Dirk Schümer: Lachen mit Bachtin – ein geisteshistorisches Trau- erspiel. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 56 (2002), H. 641 / 642: Lachen. Über westliche Zivilisation, S. 847-853. 49 Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Aus dem Russi- schen von Gabriele Leupold. 2. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998. (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft. 1187.) S. 61. 50 Vgl. ebenda, S. 60. 51 Vgl. ebenda, S. 66–67. 52 Justus Möser: Harlekin, oder Vertheidigung des Groteske-Komischen. [O. O: o. V.] 1761, S. 48. 53 Jean Paul [i. e. Johann Paul Friedrich Richter]: Vorschule der Ästhetik. Nach der Ausgabe von Norbert Miller herausgegeben, textkritisch durchgesehen und eingeleitet von Wolfhart Henckmann. Hamburg: Meiner 1990. (= Philosophische Bibliothek. 425.) S. 127.

15 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

erscheine im Komischen als das Kleine, das sich wiederum zum Großen aufbau- sche.54 Die ‚Fallhöhe‘ ist einerseits eine besondere Variante der komischen Merkmale In- kongruenz und Diskrepanz, Kontrast und Gegenbildlichkeit und dergestalt gegen- ständliches Paradigma, doch zugleich auch Syntagma beziehungsweise besondere Form der Dramaturgie der Komik.55 Mithin trifft die ‚komische Fallhöhe‘ begriff- lich auch das, was rangiert unter ‚komischem Kipp-Phänomen‘ und auch unter ‚gro- tesker Körperkomik‘, wie Bachtin sie verstand. Ursprünglich diente ‚Fallhöhe‘ ja als dramaturgischer Terminus nicht nur zur Begründung der Ständeklausel, sondern beschreibt auch einen wirkungsästhetischen Grundmechanismus des Tragischen: dass der ‚Fall‘ eines tragischen Helden oder einer tragischen Heldin umso beispiel- hafter und um so tiefer empfunden werde, je höher sein beziehungsweise ihr Rang sei. In den Verkehrungen, Verzerrungen und Vermischungen,56 den Verkürzungs- und Übertreibungsverfahren von Groteske wie auch Satire, wird die Fallhöhe zu (Ve- xier-)Bildern konkretisiert, darin Tropen gleich, „denen die gemeinte Wirklichkeit nach den Verfahren der Metonymie, Synekdoche, Hyperbel unterworfen wird.“57 Auch alle drei Grundformen des Komischen: (1) Figuren- und Typenkomik, (2) Si- tuationskomik und (3) Sprach- und Wortkomik, lassen sich durch den Begriff der ‚Fallhöhe‘ erfassen: In der Figuren- und Typenkomik wird die körperliche, charak- terliche, geistige und mentale Abweichung gleichsam Person beziehungsweise Kör- per; die Fallhöhe wird personifiziert. Figuren- und Typenkomik operiert ja stets mit Mängeln, Fehlern, Lastern, allgemein: „Verschiebungen von einem durchschnittli- chen Menschen“58 und Devianzen der durch theatrale Tradition zu Typen gewor- denen Figuren.59 Situationskomisch wiederum wirken alle belachbaren (also unter die Unschädlichkeitsklausel fallenden) Vorgänge, in denen auf der Handlungsebene

54 Vgl. Theodor Lipps: Ästhetik. Psychologie des Schönen und der Kunst. Bd. 1. Hamburg; Leipzig: Voss 1903, S. 575. 55 Vgl. Rüdiger Zymner: Lachen machen. Zu Robert Gernhardts Theorie der Komik. In: literaturkritik.de / Nr. 7, Juli 2006. Online http://www.literaturkritik.de/public/rezension. php?rez_id=9724&ausgabe=200607 [2011-11-24]. 56 So die Typologie der Mechanismen des Grotesken bei Peter Fuß: Das Groteske. Ein Medi- um des kulturellen Wandels. Köln; Weimar; Wien: Böhlau 2001. (= Kölner Germanistische Studien. N. F. 1.) [Vorher Köln, Univ., Diss. 1999.] S. 235–421. 57 Wolfgang Preisendanz: Zur Korrelation zwischen Satirischem und Komischem. In: Das Komische, S. 411–413, hier S. 413. 58 Wirag, Platzen vor Lachen, S. 26–27. 59 Ihrerseits typologisiert, hat man es mit einer „Triade“ der komischen Fehler zu tun: mit den Fehlern des Körpers, den Fehlern der Seele oder Charakterfehlern sowie den Fehlern des Geistes oder Unverstand. Vgl. Kap. 2 in: Helmut von Ahnen: Das Komische auf der Bühne. Versuch einer Systematik. München: Utz 2006, S. 15–44, hier S. 20. [Zugl. Mün- chen, Univ., Diss.] Zur Deskription von Körperkomik siehe den praktikablen Katalog bei Hans Rudolf Velten: Laughing at the Body: Approaches to a Performative Theory of Hu- mor. In: Journal of Literary Theory 3 (2009), No 2: Theory of Humor, S. 353–373, hier S. 367–368.

16 Beatrix Müller-Kampel: Komik und das Komische

Erhaben und Gemein, Groß und Klein, Gescheit und Blöde, Schön und Hässlich, u. s. w. aufeinanderprallt. Schließlich wird in Wortkomik Fallhöhe mit Sprachspie- len hergestellt,60 in komischer Lyrik meist auch mit dem Reim.

Schauspiel und Verspieltheit | Match und Jeu (Paradigmatische Syntagmen des Komischen II) Für das Bühnen- wie das Gesellschaftsspiel, das kindliche wie das sportliche gilt laut Johan Huizinga: „Spiel ist eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewis- ser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewußtsein des ‚Andersseins‘ als das ‚gewöhnliche Leben‘.“61 ≡ Das Spiel geht als komisches nur auf, kennt man das Feld des Spiels und dessen Regeln ganz genau. Im Diskurs des Komischen, seiner Textsorten und Gattungen (als Kommu- nikationsschemata auch diese nichts anderes als Settings von Spielregeln)62 sind dies allen voran Distanziertheit (zum Gegenstand) und zugleich Vertrautheit (mit den Personen und auch den Typen oder Figuren, mit denen man lacht), eine elementare Verspieltheit dessen, was auf der Bühne passiert63 und zugleich das Wissen darum. ≡ Das Spiel auf der Bühne wie auch die dortigen Spiele im Spiel führen erstaunlich oft – Spiele vor. Nach Les jeux et les hommes, dem ludologischen Grundlagenwerk des Literaturkritikers und Soziologen Roger Caillois von 1958, gibt es vier For- men des Spiels: Mimikry (Maskerade), Agon (Wettstreit), Alea (Glücksspiel) und Ilinx (Rausch; griechisch: Strudel, Wirbel: das absichtlich aufgesuchte ‚Andere‘ des Schwindels oder Rauschs). Die allererfolgreichsten komischen Gattungen wie die hellenistisch-römische Komödie, die karnevalistischen Umtriebe des Mittelal- ters, die Commedia dell’arte und die Comédie-Italienne, die Hanswurstiade und Bernardoniade, das im 19. Jahrhundert in Jahrmarktsbuden und ins Wirtshaus ab- gedrängte Puppentheater und schließlich die Comedy des 20. Jahrhunderts führen alle diese Spiele geradezu systematisch vor: Mimikry mit Verwandlungen und Ver- kleidungen, Geschlechtertausch und Statustausch; Agon in den Konflikten der ko-

60 Vgl. Wirag, Platzen vor Lachen, S. 27. 61 Johan Huizinga: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel [Homo ludens. Proeve eener bepaling van het spelelement der cultuur, 1938]. In engster Zusammenarbeit mit dem Verf. aus dem Niederländischen von Hans Nachod. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991. (= Rowohlts Enzyklopädie. 435.) S. 37. 62 Auch literarische „Gattungsregeln funktionieren im engeren Sinne als Spielregeln.“ Helga Kotthoff: Gemeinsame Herstellung humoristischer Fiktionen im Gespräch – Eine namen- lose Sprechaktivität in der spielerischen Modalität. In: SpracheSpielen. Herausgegeben von Helga Andresen und Franz Januschek. Freiburg im Breisgau: Fillibach 2007, S. 187–213, hier S. 188. Vgl. auch Kotthoff, Spaß Verstehen, S. 65–66. 63 Um den hier griffigeren Austriazismus ‚passieren‘ zu setzen statt des schweren ‚geschieht‘.

17 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

mischen Alten mit den verliebten Jungen, der Hausteufel mit den Schürzenjägern, der Geizigen mit den Generösen, der Gewitzten mit den Schwachköpfen; Alea mit den Zufällen und Überraschungen in den Handlungsverläufen oder als Spiele „mit logischen Sinninhalten“, „mit emotionalen Sinninhalten“ und „mit Sinninhalten des täglichen Lebens“;64 Ilinx mit körperkomischem Klamauk, burlesker Aktions- komik, ausgiebigen Prügelszenen (oft zwischen Trunkenbolden) und Clownsakro- batik.65 Zumindest eines dieser Spiele ist jeder Komödie aus den genannten Genres thematisch-motivisch zentral, meist sind es mehrere und in vielen alle in unter- schiedlicher Variation.

Erstarrt und außer Rand und Band | Automatismus und Versteifung (Syntagmen des Komischen I) Henri Bergson hatte in Le rire, der im deutschen Sprachraum seit ihrer Überset- zung 1914 kanonisch gewordenen Schrift von 1900, das Diktum geprägt, dass „das lachenerregende Moment eine Art Automatismus“ sei.66 In dieser (wohl nicht recht glücklichen) Formulierung hat es zu allerlei Missverständnissen geführt, die üb- lichste: Das Komische falle grundsätzlich mit körperlichen (auf der Bühne: figura- len) Automatismen und / oder situativen (auf der Bühne: dramaturgischen) Mecha- nisierungen in eins. Demnach entstehe Komik also „durch die Mechanisierung und Versteifung des Lebendigen, durch eine Beharrungstendenz, die den wechselnden Sachlagen nicht gerecht wird“.67 Man wird nicht nur jede Menge Gegenbeispiele, sondern auch kaum eine komische Textsorte finden, die sich allein darauf festlegen ließe. So systematisch wie ideal- typisch die Commedia dell’arte, die Comédie-Italienne, das Théâtre de la Foire, die Hanswurstiade, die Bernardoniade, die Comedies eines Charlie Chaplin, Buster Keaton, Dick & Doof und der, sagen wir, drei Nackten Kanonen (The Naked Gun) mit Leslie Nielsen68 in der Präsentation und Interpretation ihrer Komik auch ange- legt sein mochten – auf den Automatismus als Hauptmedium des Komischen lassen sie sich nicht reduzieren. Nach Bergsons Lachtheorie sind jedoch „Automatismus“, „Mechanisierung“ und „Versteifung“ nicht substantiell, sondern relational zu verste-

64 Zijderveld, Humor und Gesellschaft, S. 29–39 (Titel von Kurzkapiteln). 65 Vgl. Rainer Warning: Theorie der Komödie. Eine Skizze. In: Theorie der Komödie – Poetik der Komödie. Herausgegeben von Ralf Simon. Bielefeld: Aisthesis 2001. (= Aisthesis Studi- enbuch. 2.) S. 31–46, hier S. 34. 66 Henri Bergson: Das Lachen [Le Rire. Essai sur la signification du comique, 1900]. Aus dem Französischen von Julius Frankenberger und Walter Fränzel. Jena: Diederichs 1914, S. 15. 67 Walter Hinck: Das deutsche Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts und die Italienische Komödie. Commedia dell’arte und Théâtre Italien. Stuttgart: Metzler 1965. (= Germanis- tische Abhandlungen. 8.) S. 40. 68 The Naked Gun, USA 1988. Regie: David Zucker, Drehbuch: Jerry Zucker, Jim Abra- hams, David Zucker, Pat Proft; Produktion: Robert K. Weiss; Kamera: Robert M. Stevens; Schnitt: Michael Jablow. Mit Leslie Nielsen und Priscilla Presley. Es folgten: Die nackte Kanone 2 ½ (1991) und Die nackte Kanone 33 ⅓ (1994).

18 Beatrix Müller-Kampel: Komik und das Komische hen (im Vergleich zu dem, was automatisiert, mechanisiert, versteift wird). Bergson denkt in zwei Richtungen: ≡ Je nach dem, was das ‚Lebendige‘ (gegen den Strich übersetzt: das Konventionelle, das Habituelle) gerade fordert und das Publikum erwartet, wirkt als komische Abweichung einmal das Automatische, dann wieder der ungewollte Verstoß dagegen oder ein plötz- licher Defekt darin; einmal die Mechanisierung, dann wieder die unwillentliche Pause darin. ≡ Man stelle sich eine der berühmtesten Sequenzen der Comedy-Geschichte vor: die Ess-Maschine in Charlie Chaplins Modern Times,69 wie sie (als Maschine per defi- nitionem) den lebendigen, im Tempo unrhythmisierten Vorgang der Nahrungsauf- nahme automatisiert: man lacht (aus sicherer Perspektive, aus komischer Distanz) über die Automatisierung des normalerweise Unautomatischen. Eine Steigerung und zugleich Umkehrung erfährt der Zusammenhang, als der Rotor immer schnel- ler wird, ‚außer Rand und Band gerät‘ / ‚aus dem Ruder gerät‘ (hier erkennt die Idio- matik schneller als die Theorie) und der Tramp fast erstickt daran: Man lacht über die Abweichung vom anfangs als normal eingeführten Automatischen. Auch der Sturz über die Bananenschale ist wie jedes Missgeschick unbeabsichtigter Bruch in einem automatisierten Bewegungsablauf, nicht dessen Gegenteil – und das Lachen darüber heutzutage so und so verpönt: Hier wacht nun die stärker gewordene Politi- cal Correctness darüber, dass der Unfall auch im Witz witzlos bleibt.

Verwechslungen und Missverständnisse | Variation und Interferenz (Syntagmen des Komischen II) An Syntagmen des Komischen nennt Wolfgang Trautwein in seinem „Ordnungs- versuch“ Komödientheorien und Komödie von 1983 zum einen das Prinzip der Wie- derholung beziehungsweise der Serie. Es zeigt sich in Verkleidungen und Masken- wechsel; in Steigerungen, Potenzierungen, Kontrastierungen, Umkehrungen von Themen, Motiven oder Sprecheinheiten; schließlich figurativ im Komischen Paar oder im Ungleichen Paar, verbunden mit Geschlechtertausch und Statustausch. Das Prinzip des Aneinander-Vorbei entfaltet sich in Missverständnissen, Aneinander- vorbei-Sprechen, Fehlschlüssen und Verwechslungen.70 ≡ Das ‚Syntagma‘ des Komischen meint nichts anderes als eine spezifische Dramatur- gie oder Platzierung von Kontrasten im Handlungsverlauf, also ‚Situationskomik‘. Der komische Kontrast beziehungsweise die komische Fallhöhe kommen dadurch zustande, „dass eine den Gesetzen der Logik gehorchende Welt sich in eine andere Richtung entwi- ckelt als angenommen“71 – und zwar schnell und in oft mehrmaliger Variantion. ≡

69 Modern Times, USA 1936. Regie, Drehbuch, Produktion, Schnitt: Charles Chaplin; Ka- mera: Roland Tothero, Ira Morgan. Mit Charles Chaplin und Paulette Goddard. 70 Vgl. Trautwein, Komödientheorien und Komödie, S. 105–108. 71 Wirag, Platzen vor Lachen, S. 25.

19 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

Zuschauen und abwarten | Distanz und Ambivalenz (Pragmatische Kontexte I) Komik hat mit jeder Unterhaltung gemeinsam (und, wer weiß, mit aller Kunst), dass sie sich weder rein rezeptionsästhetisch noch produktionsästhetisch begreifen lässt, sondern auf einen spezifischen Kommunikationsprozess hindeutet. „Und konkret […] gesprochen, ist ihnen gemeinsam, dass Doppelnatur und Doppelbedeutung zentral für ihren je spezifischen Kommunikationsprozess sind.“72 „Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte.“ „Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.“ Hier erkennen die Redensarten, was kommunikations- theoretisch Distanz und Distanzierung meinen, die das Lachen über Komisches heraufbeschwören beziehungsweise mitbedingen: „Komisch ist nicht schon die fremdbestimmte Handlung selbst, sondern erst ihre Erfassung in der Perspektive einer anderen Person. […] Komik ist nicht schon das Resultat der fremdbestimmten Handlung, sondern ihrer Interpretation.“73 ≡ Räumliche���������� / ����������ideelle / �������������������������������������������������������������������emotionale Distanz ist nötig, um lachen zu können über die Strei- tenden des Sprichworts, die Protagonisten des Witzes, die Pechvögel und Peinlichen die- ser Welt, das Komischen auf der Bühne. ≡ Eine Garantie auf komisches Lachen bietet Distanz indessen nicht. Vielmehr schwankt der / die lachende Dritte zwischen identifizierender Parteinahme und he- rabsetzender / heraufsetzender Abstandnahme.74 Ambivalent ist dieses Lachen seiner psychischen Funktion nach, und ambivalent gehen das Komische und die Komödie auch mit den belachten Simpeln und Tölpeln um.75

Bühnenwirklichkeit und Als-ob | Deixis und Parabasis (Pragmatische Kontexte II) Tatsächlich besteht ein enger Zusammenhang zwischen der distanzierten Beobach- tung eines Spiels und der eigenen spielerischen Gestimmtheit, wie sie sich im La- chen entlädt. Das Spielerische als Prinzip charakterisiert nach Trautwein ja sowohl den kommunikativen Pakt des „Als-ob“ zwischen Bühnenfiguren und Publikum als auch die vorgeführte Geschichte (oder Anti-Geschichte, je nach Epoche und poetischer Konvention).76 Geschehen und Geschichte verweisen stets auf Muster

72 David Roesner: Zweideutigkeit als komisches Erfolgsrezept. Komik und Kommerz in der Commedia dell’arte und den Silent Slapstick Comedies. In: Komik. Ästhetik. Theorien. Strategien, S. 479–491, hier S. 490. 73 Karlheinz Stierle: Komik der Handlung, Komik der Sprachhandlung, Komik der Komödie. In: Das Komische, S. 237–268, hier S. 244. Vgl. auch Karlheinz Stierle: Komik der Lebens- welt und Komik der Komödie. In: Das Komische, S. 372–373, hier S. 372. 74 Vgl. Trautwein, Komödientheorien und Komödie, S. 90. 75 Vgl. ebenda. 76 Vgl. ebenda.

20 Beatrix Müller-Kampel: Komik und das Komische außertheatraler Wirklichkeit wie letztlich jedes Bühnenspiel; was deren komische Varianten jedoch auszeichnet, ist eine bestimmte Art der Wirklichkeitsstilisierung, die ich deiktisch nennen möchte: ≡ Im Komischen und in der Komödie wird das „Als-ob“, diese stillschweigende Überein- kunft zwischen Autor / Protagonisten und Publikum, die Fiktion als zeitlich begrenzte virtuelle Realität gelten zu lassen, oft deiktisch thematisiert und dergestalt spielerisch relativiert. ≡ Zu diesen deiktischen Fiktionsdurchbrechungen zählen spielexterne Figuren (Spiel- leiter, Erzähler, Chor) und spielinterne Figuren wie „epische Randfiguren auf der Grenze zwischen Spiel und Wirklichkeit (Hanswurst, Harlekin, Gracioso)“, die ad spectatores (Beiseitesprechen, Kommentierung des Spiels) oder ex persona (Aus- der-Rolle-Fallen) sprechen.77 Zu den impliziten Fiktionsdurchbrechungen gehören die meisten Spielarten der Intertextualität, beispielsweise Selbstzitation, Parodie, „Bloßlegung stereotyper Handlungsschemata“, reichhaltige Verwendung von Thea- termetaphorik, Spiel im Spiel.78 Hier nützt der dafür von Ralf Simon wieder ins Spiel gebrachte, aus Schlegels Überlegungen zur Ironie übernommene Begriff der „Parekbase“ beziehungsweise „Parabasis“. Dieses ‚Heraustreten‘ (griech. παράβασις < παραβαίνειν) in der griechischen Alten Komödie meinte eine mitten im Stück eingeschaltete Ansprache des Chors an das Publikum, oft in Form eines satiri- schen Kommentars. Demnach sei die Gattung Komödie per definitionem „in sich selbst parabatisch“, und das Spiel im Spiel gehöre als „Metahandlung“ und „Art und Weise selbstreflexiver Fabelkonstruktion […] zu den gattungskonstitutiven Komponenten.“79 Wenn es auch komiktheoretischer Leersprech ist zu behaupten, „Komödie“ bedeute stets, „dass sie ihre eigene Phylogenese reflektiert“ (wie Peter von Matt),80 so verweist die Formel doch auf die spezifischen Doppelungen rezeptionsäs- thetischer Grundkategorien in der Komödie und hier vor allem auf das Prinzip von Handlung über Handlung, Spiel im Spiel.81

77 Ahnen, Das Komische auf der Bühne, S. 137. 78 Vgl. Warning, Elemente einer Pragmasemiotik, S. 311–313, und Trautwein, Komödienthe- orien und Komödie, S. 92. 79 Ralf Simon: Theorie der Komödie. In: Theorie der Komödie – Poetik der Komödie, S. 47– 66, hier S. 52–53. 80 Peter von Matt: Das letzte Lachen. Zur finalen Szene in der Komödie. In: Theorie der Ko- mödie – Poetik der Komödie, S. 127–140, hier S. 127. 81 Deren Verhältnis untereinander wie auch zur außertheatralen Wirklichkeit über die Kate- gorien der „hyperbolischen“, „hypothetischen“ und „natürlichen Wahrscheinlichkeit“ zu rubrizieren (wie Elder Olson und nach ihm Wolfgang Trautwein), greift komik- / komö- dienanalytisch zu kurz und widerspricht überdies dem deutschen Sprachgebrauch. Vgl. El- der Olson: The Theory of Comedy. Bloomington [u. a.]: Indiana University Press 1968. Vgl. Trautwein, Komödientheorien und Komödie, S. 99.

21 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

Vertrauen und Misstrauen | Kommunikation und Interaktion (Kommunikative Kontexte des Komischen) Bergson hatte an die Spitze seiner „drei Beobachtungen“ zur Komik gesetzt: „Es gibt keine Komik außer in der menschlichen Sphäre. Eine Landschaft kann schön, lieblich, erhaben, langweilig oder häßlich sein; nie wird sie lächerlich erscheinen.“82 Das ‚Menschliche‘ meint hier nicht die Distinktion zum Tier, sondern das Soziale. Selbst die anthropologisierenden Ab- und Seitenwege der Komik-Diskussion erge- ben zwei übergreifende Befunde: zum einen, dass das Komische als spezielle Form der Kommunikation und Interaktion aufzufassen, und damit zum anderen ein so- ziales, ein Gruppenphänomen ist. Wie „die meisten anderen Arten des Genießens“ erfordert das Vergnügen am Komischen „wenigstens einen Partner“83 – wobei der Partner auch ein Ding sein kann –, ist relational beziehungsweise kommunikativ und kann insofern „ohne die Beziehung auf die Auffassung eines Subjekts nichts für sich“ sein.84 Ob nun ein Kind in Lachen ausbricht, weil es gekitzelt wird, weil es sich beim La- chen ‚anstecken lässt‘ oder weil man es neckt – bei allem geht das Lachen aus dem Zusammenspiel von mindestens zwei daran Beteiligten und deren wenn schon nicht vertrauter, so doch zumindest positiv gestimmter Beziehung hervor. Die Erfahrung zeigt, dass „fast alles Lachen gemeinsames Lachen“ ist.85 Also gibt es objektiv Ko- misches oder das Komische ‚an sich‘ nicht; „es gibt nur das von einem Subjekt aus Komisierte, das komisch Gefundene, Gesehene, Gestaltete, in die komische Per- spektive Gerückte.“86 In einem der ersten Versuche, das Lachen über Komisches soziologisch zu verstehen, unterschied der Philosoph und Soziologe Eugène Dupréel zwischen „rire d’accueil“ und „rire d’exlusion“.87

82 Bergson, Das Lachen, S. 6. 83 Zijderveld, Humor und Gesellschaft, S. 14. Hervorhebung durch Kursivierung B. M. K. 84 Wolfgang Preisendanz: Komische (das), Lachen (das). In: Historisches Wörterbuch der Phi- losophie. Unter Mitw. von mehr als 900 Fachgelehrten. In Verbindung mit […] herausge- geben von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Völlig neubearb. Ausg. des Wörterbuchs der philosophischen Begriffe von Rudolf Eisler. Bd. 4: I–K. Basel; Stuttgart: Schwabe 1976, Sp. 889–893, hier Sp. 889. Vgl. auch Jörg Schönert: Theorie der (literarischen) Satire. Ein funktionales Modell zur Beschreibung von Textstruktur und kommunikativer Wirkung. In: textpraxis. Digitales Journal für Philologie 2 (2011), Nr. 1, S. 1–42, hier S. 6. Online: http://www.uni-muenster.de/Textpraxis/joerg-schoenert-theorie-der-literarischen-satire [2011-11-24]. 85 Werner Röcke, Hans Rudolf Velten: Einleitung. In: Lachgemeinschaften. Kulturelle Insze- nierungen und soziale Wirkungen von Gelächter im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Herausgegeben von W. R. und H. R. V. Berlin; New York: de Gruyter 2005. (= Trends in Medieval Philology. 4.) S. IX-XXXI, hier S. XIII. 86 Christian Janentzky: Über Tragik, Komik und Humor. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 40 (1936), S. 3–51, hier S. 23. 87 Eugène Dupréel: Le Problème sociologique du Rire. In: Revue philosophique de la France et de l’Étranger 106 (1928), S. 213–260, hier bes. S. 228.

22 Beatrix Müller-Kampel: Komik und das Komische

≡ Kommunikations- und interaktionsdynamisch schließt Lachen (über Komisches) ein und aus, es schafft Partner- oder Gruppenzugehörigkeit88 – kulturelle, ethnische, sexuel- le, nationale, des Alters, des Lebensstils89 – und schottet sich gegen jene ab, die ihm nicht folgen, nicht in es einstimmen können.90 Die Grundlage davon bildet ein Gefühl des Vertrauens – zu den Mitlachenden und Mitwitzelnden wie auch in die Situation. ≡ Als vertrauensbildend ist auch gemeinsames implizites (Kultur-)Wissen anzuspre- chen (weshalb Komik und Witz das Letzte sind, was man beim Leben in einer an- deren Kultur erlernt).91 Vorwissen und komisches „Skriptwissen“92 sind dem emoti- onalen Vertrauen als notwendige Bedingung des Komischen freilich nachgeordnet. Kinder lassen sich nicht von einem fremden Menschen, nur von einer vertrauten Person kitzeln; und Heiterkeit im und durch Spiel stellt sich nur ein, wenn dieses über Vermittlung einer Vertrauensperson als heiter erkannt und anerkannt wird. „Spaß macht Lachen nur unter Vertrauten“,93 sowohl beim Kitzeln als auch beim Spiel, sowohl in der Witzgemeinschaft als auch im Theater oder Kino. Und selbst vor der Glotze, dem TV-Gerät, dem Video- oder PC-Bildschirm, lacht man über Klamauk lieber zu zweit als allein. Davon abgesehen, bleibt ja auch der vereinzelte Rezipient eines Buches, einer Komödie, einer Stand-up-Comedy – Rezipient, mithin in einem Kommunikationszusammenhang.94 Von Komischem könne man mithin nach Lino Wirag nur sprechen: „Wenn (a) absichtlich etwas Komisches ausgestrahlt wird (ich erzähle einen Witz in der Absicht, den Zuhörer zum Lachen zu bringen) oder wenn (b) etwas Komisches empfangen wird (ich sehe / höre etwas Lustiges und muss lachen).“95

88 Vgl. Rose Laub Coser: Lachen in der Fakultät. Eine Studie über die sozialen Funktionen von Humor unter den Fakultätsmitgliedern einer psychiatrischen Klinik [Laughter among colleagues. A Study of the Social Functions of Humor Among the Staff of a Mental Hos- pital, 1960]. Aus dem Englischen von Helga Kotthoff. In: Das Gelächter der Geschlechter. Humor und Macht in Gesprächen von Frauen und Männern. Herausgegeben von Helga Kotthoff. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 1988. (= Die Frau in der Gesellschaft.) S. 95–120, hier S. 95 und S. 106, sowie Giselinde Kuipers: Humor Styles and Symbolic Boundaries. In: Journal of Literary Theory 3 (2009), No 2: Theory of Humor, S. 219–239, hier S. 219, Röcke / Velten, Einleitung, S. XIV, und Susanne Günthner: Zwischen Scherz und Schmerz – Frotzelaktivitäten in Alltagsinteraktionen. In: Scherzkommunikation. Bei- träge aus der empirischen Gesprächsforschung. Herausgegeben von Helga Kotthoff. Opla- den: Westdeutscher Verlag 1996, S. 81–108, hier S. 100. 89 Vgl. Neal R. Norrick: A Theory of Humor in Interaction. In: Journal of Literary Theory 3 (2009), No 2: Theory of Humor, S. 261–283, hier S. 261, und Kuipers, Humor Styles, S. 225. 90 Vgl. Dupréel, Le Problème sociologique du Rire, S. 213–260. 91 Vgl. Kuipers, Humor Styles, S. 226. 92 Als kulturspezifisches „Skriptwissen“ ist nach Kuipers (von der Kategorienbildung nicht recht kohärent) anzusprechen: Vorwissen, um die Komik dekodieren, die Inkongruenz er- kennen und die Textsorte als komische identifizieren zu können. Vgl. ebenda, S. 229. 93 Stollmann, Das Lachen und seine Anlässe, S. 14. 94 Vgl. Kuipers, Humor Styles, S. 224. 95 Wirag, Platzen vor Lachen, S. 30–31.

23 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

Entlastung und Befreiung | Aggression und Anästhesie (Psychologische Kontexte des Komischen) Bei der Typisierung von psychischen Ursachen und Funktionen des Komischen sind zweigliedrig-dichotome Modelle üblich, sei es nun „erbaulich“ versus „aggressiv“,96 „funniness“ versus „aversiveness“97 oder (in der Werbewirkungsforschung) „ag- gressiv“ versus „sentimental“98 (jeweils in Verbindung mit „Humor“ als komischer Haltung).99 Die Humortherapie geht davon aus, dass das Lachen (über Komisches) von Ängsten entlastet, Stress abbaut, Wut und Hass, Zorn und Stolz verfliegen lässt, die Realität verleugnen, Schicksalsschläge oder das Grauen vor Tod und Sterben überspielen kann.100 Peter L. Berger legt seiner Taxonomie sozialpsychologische Ka- tegorien zugrunde und unterscheidet in seinen ungemein witzigen Ausführungen zu Redeeming Laughter (Erlösendes Lachen) zwischen „Komik als Ablenkung“, „Komik als Trost“, „Komik als Spiel des Intellekts“ und „Komik als Waffe“.101 ≡ Nach psychoanalytischem Verständnis handelt es sich, unabhängig von Intentions- und Rezeptionstypen, um einen ins Unbewusste verlegten Funktionszusammenhang von Ta- bubruch und Aggressionsabfuhr, Entlastung und Befreiung. ≡ Als psychologische Poetologie angelegt, schwankt Sigmund Freuds viel zitierte Schrift Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten von 1904 zwischen psy- choanalytischer Anthropologie, Kulturtheorie und spekulativer Reflexion über eine Textsorte: eben den Witz.102 Die Distanz beziehungsweise Distanznahme der la- chenden Person vom komischen Phänomen galt auch Bergson als notwendige Be-

96 Rolf-Peter Janz: Erhaben und lächerlich – eine denkwürdige Allianz. In: Vom Erhabenen und vom Komischen. Über eine prekäre Konstellation. Herausgegeben von Hans Richard Brittnacher und Thomas Koebner. Würzburg: Königshausen & Neumann 2010, S. 15–23, hier S. 18. 97 Willibald Ruch und Giovannantonio Forabosco: A cross-cultural study of humor apprecia- tion: Italy and Germany. In: Humor – International Journal of Humor Research 9 (1996), Nr. 1, S. 1–18, hier S. 3. Vgl. auch Koestler, Der göttliche Funke, S. 43. 98 Schmidt, Inszenierungen der Beobachtung von Humor, S. 37. 99 Wenig ausgearbeitet ist Martin Seels Typologie von ästhetischem, theoretischem und prak- tischem Humor; vgl. Martin Seel: Humor als Laster und als Tugend. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 56 (2002), H. 641 / 642: Lachen. Über westliche Zivi- lisation, S. 743–751, hier S. 745–746. 100 Vgl. Vera M. Robinson: Praxishandbuch therapeutischer Humor. Grundlagen und Anwen- dung für Gesundheits- und Pflegeberufe. [Humor and the Health Professions. The Thera- peutic Use of Humor in Health Care, 1991.] Aus dem Amerikanischen von Silke Hinrichs. Deutschsprachige Ausgabe bearbeitet von Rudolf Müller. Herausgeben von Joachim Gar- demann. Bern [u. a.]: Huber 1999. 101 Berger, Erlösendes Lachen, Kap. 7 bis 10 (Kapitelüberschriften). 102 Im Überblick dargestellt bei Carl Pietzecker: Sigmund Freud: Der Witz und seine Bezie- hung zum Unbewußten. In: Lachen. Herausgegeben von Wolfram Mauser und Joachim Pfeiffer. Würzburg: Königshausen und Neumann 2006. (= Freiburger Literaturpsychologi- sche Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse. 25.) S. 19–28.

24 Beatrix Müller-Kampel: Komik und das Komische dingung für Komik,103 und er nennt sie „Gefühllosigkeit“, „seelische Kälte“ oder „eine zeitweilige Anästhesie des Herzens“.104 Freud nahm das Unbewusste des Distanz haltenden Lachenden in ein psychoanaly- tisches Visier. Der Witz (womit Freud im Grunde genommen jede Form des Lachens über Komisches meinte, was auch so verstanden wurde) setze sich stets über ein Tabu hinweg und verschaffe damit dem darüber Lachenden momentane Entlastung und Befreiung von Verdrängungsdruck. Im Lachen über den Witz würden aggres- sive und sexuelle Wünsche imaginär ausgelebt – wie Humor ganz grundsätzlich ein Lustgewinn aus erspartem Gefühlsaufwand sei, aus erspartem moralischen Einsatz für oder gegen eine Person, eine Gruppe, eine Sache. Vorwiegend lache man über jene, die ein Zuviel oder ein Zuwenig vorstellten oder leisteten – immer im Vergleich zu einem selber. Die „Lust des Witzes“ scheint ihm „aus erspartem Hemmungsauf- wand hervorzugehen, die der Komik aus erspartem Vorstellungs(Besetzungs)aufwand und die des Humors aus erspartem Gefühlsaufwand.“105 Ähnlich sahen und sehen die Zensoren dieser Welt dies wohl auch, doch ziehen sie daraus den Schluss, dass das ‚Ersparte‘ nicht Ventil, sondern Ursache und Motor des Rebellischen sei. Wie anders als durch die Annahme, im Lachen werde potenziell die Moral / das Gesetz außer Kraft gesetzt, sind die Invektiven eines Gottsched oder Sonnenfels gegen die hanswurstische Körperkomik ihrer Zeit zu verstehen? (Zu- mindest wenn die Moralität des zuschauenden Bürgers Norm und Ziel der Poetik ist?)

Kippen und Kapieren | Bisoziation und Pointe (Kognitionspsychologische Kontexte) Keine Komikdefinition kommt ohne die Reflexion der „Pointe“ aus. Doch schon ob sie generell notwendig sei zur Erzeugung des komischen Lachens (und nicht nur für jenes über den Witz), pointenlose Komik gar nicht aufs Lachen abziele (son- dern auf Assoziationen)106 oder gar nicht mehr als solche anzusprechen sei, darauf geben Poetologie und Ästhetik nur spärliche Antworten. Und worin bestehen sie überhaupt, die aus der französischen ‚Spitze‘, lateinisch puncta: ‚Stich‘, kommen-

103 Vgl. Bergson, Das Lachen, S. 7. 104 Ebenda, S. 8. 105 Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. In: S. F.: Studienaus- gabe. Herausgegeben von Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey, Mit- herausgeberin des Ergänzungsbandes Ilse Grubrich-Simitis. Bd. 4. 7. Aufl.. Frankfurt am Main: Fischer 1970, S. 9–220, hier S. 219. 106 Vgl. Helga Kotthoff: Lachkulturen heute. Humor in Gesprächen. Online: Hochschule der Medien / Bibliothek (9.2. 2004): http://opus.bsz-bw.de/hdms/volltexte/2004/338/ S. 2 [2011-11-24].

25 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

de deutsche ‚Pointe‘ und das aus ‚Schlag‘ und ‚Linie‘ zusammengesetzte englische ‚punchline‘107? Nach Arthur Koestlers kreativitätstheoretischem, in der Humorforschung kano- nisch gewordenem Basiswerk The Act of Creation von 1964 (deutsch: Der göttliche Funke)108 meint „Bisoziation“ das Durchbrechen geistiger Routinen, indem Begriffe, Vorstellungen, Sichtweisen aus zwei üblicherweise auseinander gehaltenen Ebenen miteinander verbunden werden, unerwartet aufeinandertreffen / aufeinanderpral- len / ineinander kippen.109 Der kreative Einfall habe mit der Wirkung von Witzen und von Komik die explosive Konfrontation und Konfundierung von Bezugsebenen gemeinsam.

Abb.: Arthur Koestler: Bisoziation110 L = Erfassen einer Situation oder Idee; M1, M2: unterschiedliche Bezugssysteme.

≡ Das Komische verknüpft in, mittels und kraft der Pointe auf plötzliche Art und den- noch ganz logisch Fremdes, Unzusammenhängendes, Unvereinbares.111 In der Pointe

107 Hierbei ist ‚punchline‘ weitaus aggressiver besetzt als das Lehnwort ‚Pointe‘; engl. punch als Verb: boxen, knuffen, tech.: punzen, stanzen, punzieren, jemanden (mit der Faust) sto- ßen, schlagen, einhämmern auf; als Substantiv: Schlag, Boxhieb, Fausthieb, Faustschlag, Schlagkraft, Stoß (mit der Faust). Die Lustige (Puppen-)Figur Punch heißt so – bemerkens- werter Weise erhielt sich der englische Punch bis heute sein Prügel- und Säuferprofil (im Gegensatz zum deutschen und österreichischen Kasperl). 108 Vgl. i. d. F. Arthur Koestler: Der göttliche Funke. Der schöpferische Akt in Kunst und Wissenschaft. [The Act of Creation, 1964.] Einzig berechtigte Übertragung aus dem Engli- schen von Agnes Cranach und Willy Thaler. Bern; München; Wien: Scherz 1966. (= dms – das moderne Sachbuch. 78.) 109 Vgl. ebenda, S. 24–25. 110 Ebenda, S. 25. 111 Vgl. ebenda.

26 Beatrix Müller-Kampel: Komik und das Komische erfolgt eine überraschende Bisoziation von nicht zusammengehörigen Rahmen; in an- deren Worten: mittels Kontrasten, Konflikten und Gegenbildlichkeit entstehen Doppel-, Mehr-, Vieldeutigkeiten und damit auch ein semantischer Mehrwert – ein unerwarteter Sinn tut sich plötzlich auf. ≡ Quittiert wird diese kognitive Dissonanz bei Komik und Komischem nicht mit Argumenten, Erklärungen oder Bekenntnissen, sondern mit Lachen112 – der Witz ‚zündet‘ (wie eine neue Idee). Nach Wolfgang Iser ist dies Zeichen dafür, dass sich das komische „Kipp-Phäno- men“, wie er es nennt, im Rezipienten gleichsam wiederholt.113 Wie dieses „Umkip- pen“ im Sinne eines schnellen, plötzlichen, Lust und Lachen bereitenden Kapierens von Zwei- oder Mehrdeutigkeiten im komischen Kommunikationszusammen- hang funktioniert, erläutert die Musikethnologin Gerlinde Haid am Beispiel des Gstanzl-Singens (einer so gut wie verschwundenen komischen Praxis114 im ländli- chen Raum): „Einer lacht, weil er etwas kapiert, ein anderer lacht, weil er meint, etwas zu kapieren, ein dritter lacht, weil er weiß, dass der zweite meint, er kapiere etwas, sich aber sicher ist, dass dieser sich irrt usw. Lachen in solchen Situationen ist deshalb ungemein ansteckend, denn dem ‚Umkippen‘ von Vorstellungen sind in einer Runde, in der kreuz und quer das Aushandeln von Beziehungen, das Auftischen von Erfahrungen usw. am Köcheln gehalten wird, keine Grenzen gesetzt.“115 An so genannten Kippfiguren, einer besonderen Form von Such- und Vexierbildern, wird das geschilderte Gruppenphänomen wahrnehmungspsychologisch deutlich. Berühmt sind die zwei Zeichnungen, in denen man einen Hasen oder eine Ente erkennen kann, beziehungsweise auf dem anderen eine junge oder eine alte Frau – aber nicht zugleich.116 Komik ist demzufolge ein Phänomen innerhalb einer herme-

112 Vgl. Zijderveld, Humor und Gesellschaft, S. 62. 113 Wolfgang Iser: Das Komische: ein Kipp-Phänomen. In: Das Komische, S. 398–402. 114 Zur Komik in einer speziellen Gstanzl-Sammlung aus dem Steirischen Salzkammer- gut vgl. Beatrix Müller-Kampel: Gstanzln als Lust-Spiel und Lustspiel. Zur Komik im Steyerischen Rasplwerk von Konrad Mautner. In: Musikalien des Übergangs. Festschrift für Gerlinde Haid anlässlich ihrer Emeritierung 2011. Herausgegeben von Ursula Hemetek, Evelyn Fink-Mennel und Rudolf Pietsch. Wien; Köln; Weimar: Böhlau 2011. (= Schriften zur Volksmusik. 24.) S. 123–149. 115 Gerlinde Haid: Umkippen: Vom Witz erotischer Gstanzln. In: Leidenschaft und Laster. Akten der Tagungen des IRCM an der Universität Salzburg […]. Herausgegeben von Sabi- ne Coelsch-Foisner und Michaela Schwarzbauer. Unter Mitarb. von Andrea Oberndorfer. Heidelberg: Winter 2010. (= Wissenschaft und Kunst. 13.) S. 67–86, hier S. 79. 116 Vgl. die amüsante Sammlung von Al Seckel: Optische Illusionen. [The art of optical illu- sions, 2000.] Aus dem Englischen von: Leonie Hodkevitch. Wien: Tosa 2001, sowie man- che Graphiken von Maurits C. Escher: Leben und Werk M. C. Escher. Eltville am Rhein: Rheingauer Verlagsgesellschaft 1986.

27 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

neutischen Konfiguration, in der sich Positionen wechselseitig negieren bzw. zum Kippen bringen.117 ≡ Das Überraschungsmoment, nach Koestler ein „bisoziativer Schock“,118 verbindet sie alle, denn „Plötzlichkeit ist eine grundlegende Bedingung des Komischen und damit Voraussetzung für das Lachen“119 – diese Plötzlichkeit, mit der an der ‚Pointe‘ die Er- wartung getäuscht, die Wahrnehmung gebrochen oder das Verstehen abgelenkt wird; wo wir etwas kapieren und uns darüber lachend freuen120und wo mit dem Lachen die Pietät kurzfristig außer Kraft gesetzt wird.121 ≡ Schon Thomas Hobbes bestimmte als notwendige Bedingung zur „Entstehung des Lachens“, dass „die Empfindung plötzlich eintritt.“122 Am schnellsten, vermutet Lino Wirag, funktionieren dabei – Bilder.123

Gemeingemacht und verlacht | Possen und Plebejer (Zur Moralgeschichte des Komischen I) Dass eine auch lexikalisch einigermaßen sachliche Deskription des Komischen so schwer fällt, hat weniger mit dem Gegenstand als mit dessen Moralisierung zu tun – ähneln doch die Komödien-Poetiken zumal seit dem Barock eher „Tugendlehre[n] mit amüsanten Mitteln“ als deskriptiven Poetologien.124 Ganz gleich, welches komische Lachen die Meister125 der normpoetologischen Re- flexion bevorzugten: ob das herabsetzendeVer lachen oder das heraufsetzende Mitla-

117 Vgl. Iser, Das Komische: ein Kipp-Phänomen, S. 398–402, und Jenny Schrödl: Vom Schei- tern der Komik. In: Komik. Ästhetik, Theorien, Strategien, S. 30–40, hier S. 31. 118 Koestler, Der göttliche Funke, S. 88. 119 Ahnen, Das Komische auf der Bühne, S. 223. Vgl. auch Lipps, Ästhetik, Bd. 1, S. 575. 120 Für den Überraschungseffekt im Witz vgl. Wolfgang Preisendanz: Über den Witz. Kon- stanz: Universitätsverlag 1970. (= Konstanzer Universitätsreden. 13.) S. 27. 121 Vgl. Peter von Matt: Tod und Gelächter. Der Tod als Faktor des Komischen in der Litera- tur. In: Der Tod im Leben. Ein Symposium. Herausgegeben von Friedrich Wilhelm Graf und Heinrich Meier. München; Zürich: Piper 2004. (= Serie Piper. 4271.) S. 155–200, hier S.172. 122 Thomas Hobbes: Vom Menschen. Vom Bürger. [De homine, 1658. De cive, 1642.] Aus dem Lateinischen von Max Frischeisen-Köhler. Herausgegeben von Günter Gawlick. Ham- burg: Meiner 1959. (= Philosophische Bibliothek. 158.) S. 33. 123 Vgl. Wirag, Platzen vor Lachen, S. 10. 124 Stefanie Stockhorst: Lachen als Nebenwirkung der Barockkomödie. Zur Dominanz der Tugendlehre über das Komische in der Komödientheorie des 17. Jahrhunderts. In: An- thropologie und Medialität des Komischen im 17. Jahrhundert (1580–1730). Herausgege- ben von Stefanie Arend, Thomas Borgstedt, Nicola Kaminski und Dirk Niefanger. Amster- dam; New York: Rodopi 2008. (= Chloe. Beihefte zum Daphnis. 40.) S. 27–48, hier S. 35. 125 Meisterinnen der normpoetologischen Reflexion kennt die europäische Geschichte der Ko- miktheorie bemerkenswerterweise nicht.

28 Beatrix Müller-Kampel: Komik und das Komische chen, stets standen Konfession, Moral oder das Schöne Wache vor dem Tollhaus des possenhaften Komischen und des Lachens, das diesem folgte. In diesem Tollhaus regierten über Jahrhunderte, ja Jahrtausende hinweg,126 Zügellosigkeit, Verzückung und Schamlosigkeit; das Fressen, Saufen, Furzen, Scheißen und Vögeln; das Exag- gerierte und Exorbitante, das Schrille und Grelle, auch Skelette, der Teufel und der Tod. Dieses Lachhafte galt dem mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Christen- tum, bei allen komischen Repertoires des Heiligen von Narrenfest und Eselsmesse über „risus paschalis“, Obszönitäten in Oster- und Mysterienspielen bis hin zu den zu Drôlerien in Handschriften, als Ausdruck der Torheit und letztlich als sünd- haft.127 Die Poetologie seit dem 18. Jahrhundert wiederum verwarf es als unmora- lisch und geschmacklos (wenn auch stets ‚ästhetische‘ Argumente ins Treffen geführt wurden) – wobei die Regulierungsversuche in eine erstaunlich ähnliche Richtung gingen: Die üblichen Ridicula (auf dem Theater) seien blasphemisch und obszön, auf die Verletzung der Verlachten, also die Erregung bloßer Schadenfreude aus und sympathisierten mit dem Unmäßigen, indem sie es lustvoll zelebrierten.128 Außer- dem stünden sie „mit dem Körper und der ‚niederen‘ Lebenswelt im Bunde.“129 Im deutschen Sprachraum setzt die Neuzeit poetologischer Komik-Reflexion (zu- mindest der kanonisierten) ein mit Opitz und damit – der protestantischen Mo- ral. In geradezu entrüstetem Ton heißt es im Buch von der Deutschen Poeterey von 1624:

„Die Comödie bestehet in schlechtem Wesen und Personen: redet von Hoch- zeiten / Gastgebotten / Spielen / Betrug und Schalckheit der Knechte / ruhm- räthigern Landsknechten / Buhlersachen / Leichtfertigkeit der Jugend / Geitze des Alters / Kupplerey und solchen Sachen / die täglich unter gemeinen Leuten vorlauffen. Haben derowegen die welche heutiges Tages Comödien geschrie-

126 „Die Groteske ist das Zentrum der Lachkultur der bäuerlichen Welt, also der Geschich- te des Lachens zwischen etwa 8000 vor unserer Zeit und dem 17. Jahrhundert, und der Witz ist das Zentrum der Lachkultur von Stadtbewohnern, also dominant etwa seit dem 18. Jahrhundert.“ Stollmann, Das Lachen und seine Anlässe, S. 17. 127 Vgl. Stefanie Wolff: Todesverlachen. Das Lachen in der religiösen und profanen Kultur und Literatur im Frankreich des 17. Jahrhunderts. Frankfurt am Main [u. a.]: Lang 2009, bes. S. 87, 115, 192 und S. 217–232. Vgl. auch Katja Gvozdeva und Werner Röcke: Performative Kommunikationsfelder von Sakralität und Gelächter. In: „risus sacer – sacrum risibile“. Interaktionsfelder von Sakralität und Gelächter im kulturellen und historischen Wandel. Herausgegeben von K. G. und W. R. Berlin [u. a.]: Lang 2009. (= Publikationen zur Zeit- schrift für Germanistik. Neue Folge 20.) S. 9–28, hier S. 9–10. 128 Vgl. Manfred Pfister: „An Argument of Laughter“: Lachkultur und Theater im England der Frühen Neuzeit. In: Semiotik, Rhetorik und Soziologie des Lachens. Vergleichende Stu- dien zum Funktionswandel des Lachens vom Mittelalter zur Gegenwart. Herausgegeben von Lothar Fietz, Joerg O. Fichte und Hans-Werner Ludwig. Tübingen: Niemeyer 1996, S. 202–227, hier S. 211. 129 Janz, Erhaben und lächerlich, S. 16.

29 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

ben / weit geirret / die Keyser und Potentaten eingeführet; weil solches den Regeln der Comödien schnurstracks zuwieder leufe.“130 Es ist die (womöglich sittengefährdende) Simultaneität des herabsetzenden und he- raufsetzenden Lachens der Gegenbildlichkeit, die hier für komödientypisch ange- sehen wird, denn die „Komik der Herabsetzung schert sich nicht um Würde und Verdienst einer Person, ihr Mechanismus durchschlägt die Konventionen der Moral wie der poetischen Gerechtigkeit“.131 Ständemoralisch heißt dies, dass die Komödie über „schlechte[s] wesen“ und „solche[ ] sachen“ lachen mache, „die täglich vnter gemeinen Leuten vorlauffen“ – und nur über solche ‚Gemeinen‘ und ‚Gemeinheiten‘ dürfe man lachen. Mithin gilt das Komische als ein in der Comoedie vermitteltes, reflektiertes,132 doch nur in den unteren Schichten verortetes Lächerliches. ≡ Was Komik ist und komisch sein dürfe, bestimmte sich in der traditionellen Komö- dienpoetik mit ihren Ständeklauseln nach der, soziologisch übersetzt und überspitzt, Klassenspezifik der dabei thematisierten Lebensstile und deren Protagonisten. Lachen über Komisches bedeute ja immer, die daran beteiligte Figur und ihren Stand im „Ge- fühl der eigenen Überlegenheit“ (Thomas Hobbes)133 zu verlachen – was Wunder, wenn untertänige Poetik die Obrigkeit davon ausgenommen wissen wollte. ≡ Geradezu einen Katalog komischer Rollenfächer und zugleich der ständischen Mo- ral präsentiert der protestantische Diakon, Prediger, Rhetor und Dichter Balthasar Kindermann rund vier Jahrzehnte nach Opitz: „Die Comœdie stellet nur auf gemeine Personen / HaußVäter und Hauß- Mütter / Jünglinge und Jungfrauen; Und offtermals auch gar unerbare Leute / als Huren und Huren Wirthe / Fuchsschwäntzer und Tellerlecker / und wie es heutigen Tages gebräuchlich ist / Bauren / Jüden / und solche Personen / die das Volck zum lachen bewegen könnten.“134 Sieht man einmal von der Opitz wie Kindermann eigenen, poetologisch daherkom- menden Ständeideologie ab,135 so hat man es mit Definitionen eines komisch-ko-

130 Martin Opitz: Prosodia Germanica, Oder Buch von der Deutschen Boeterey / In welchen alle ihre Eigenschafft und Zugehör gründlich erzählet / und mit Exempeln ausgeführet wird. Breßlau: Fellgibel 1690, S. 23. 131 Jauß, Über den Grund des Vergnügens am komischen Helden, S. 106–107. 132 Vgl. Schwind, Komisch, S. 353. 133 Hobbes, Vom Menschen, S. 33. 134 [Balthasar Kindermann]: Der Deutsche Poët / Darinnen gantz deutlich und ausführlich gelehret wird / welcher gestalt ein zierliches Gedicht […]. Wittenberg 1664. (= Nachdruck Hildesheim; New York: Olms 1973.) S. 242. 135 Die antike Komödienpoetik zog bemerkenswerterweise die Linie zwischen ‚Hoch‘ und ‚Niedrig‘ ähnlich und doch wieder anders; vgl. Karl-Heinz Bareiß: Comoedia. Die Ent- wicklung der Komödiendiskussion von Aristoteles bis Ben Johnson. Frankfurt am Main; Bern: Lang 1982. (= Europäische Hochschulschriften. Reihe XIV: Angelsächsische Sprache und Literatur. 100.) [Zugl. Köln, Univ., Diss. 1977.] S. 339.

30 Beatrix Müller-Kampel: Komik und das Komische mödiantischen Erfolgsmodells zu tun – jenes Erfolgsmodells, wie es sich im Laufe des 16. Jahrhunderts herausgebildet und mit Beginn des 18. Jahrhunderts als ge- meineuropäisches etabliert hatte: in England mit Shakespeare und den Englischen Komödianten, in Italien als Commedia dell’arte, in Frankreich als Théâtre de la Foire und Comédie-Italienne, und im deutschen Sprachraum als hanswurstische „Haupt- und Staatsaktion“ (wie sie ihr Gegner Gottsched abfällig, ungenau, aber dauerhaft nannte). Das verbotene und verschwundene Gelächter | Zensur und Zivilisation (Zur Moralgeschichte des Komischen II) Die transkulturelle und plurilinguale Distribution durch Wandertruppen – nichts anderes als (Groß-)Familienunternehmen, zwischen denen geheiratet wurde, die sich teilten oder ineinander aufgingen – bedingte und förderte Austausch und Verbrei- tung komischer Erfolgsrezepte. Greifbar werden die dazugehörigen Komikformen durch manifeste Kontroversen sowie Maßnahmen der Repression und Zensur – und tatsächlich fehlte es seit den 1730er-Jahren nicht an Versuchen, ihnen den Garaus zu machen. Im Visier standen Hanswurst, Harlekin, und im mariatheresianischen Ös- terreich auch der Bernardon des Joseph Felix von Kurz (1717–1784) – Typenkomik also, und damit auch der ihr eigene Körper- und Unsinnsklamauk. Erwähnt seien Hanswursts (auch überregional wirksame) Ächtung durch Gottscheds Normpoetik (1730),136 seine berühmt-berüchtigte allegorische Vertreibung durch die Neuberin (1737), seine (wenn auch nicht gelungene, so doch intendierte) Verweisung durch das von Maria Theresia im Januar 1752 erlassene Hofdekret,137 der zwischen 1747 und 1769 in Wien unter Prinzipalen und Poetologen ausgetragene Hanswurst-Streit (re- aliter ein Bernardon-Streit)138 sowie die Verdikte Joseph von Sonnenfels’, des mäch- tigsten Poetologen der mariatheresianisch-josefinischen Zeit.139 Vorgeworfen wurde dem Wurstel in erster Linie, dass er in seiner Faulheit und Gier ‚abgeschmackt‘, ‚schamlos‘, ‚widernatürlich‘, eben ein moralisch abnormes Monstrum sei und damit dem Publikum, das erzogen werden sollte, ein schlechtes Beispiel gebe. Der Feldzug der poetologischen Zivilisatoren wider das ‚Rohe‘, ‚Niedrige‘ und ‚Triebhafte‘ war nichts weniger als ein „Kampf gegen die Kultur der niederen Schichten“ (Burghard Dedner).140

136 Vgl. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. In: J. Ch. G.: Schriften zur Literatur. Herausgegeben von Horst Steinmetz. Stuttgart: Reclam 1972. (= Universal-Bibliothek. 9361.) S. 12–196, hier bes. S. 181–182 und S. 189. 137 Es handelt sich dabei nicht um das vielfach genannte „Norma“-Edikt vom Februar 1752. Für den Hinweis danke ich Matthias J. Pernerstorfer. 138 Vgl. Otto Rommel: Die Alt-Wiener Volkskomödie. Ihre Geschichte vom barocken Welt- Theater bis zum Tode Nestroys. Wien: Schroll 1952, bes. S. 385–389. 139 Vornehmlich in: J[oseph] v[on] Sonnenfels: Briefe über die wienerische Schaubühne. Wien: Konegen 1884. (= Wiener Neudrucke. 7.) 140 Burghard Dedner: Über das Vergnügen am Unerfreulichen in der Komiktheorie der Auf- klärung. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 19 (1984), S. 7–42, hier S. 10. Zum La- chen im Prozess der Zivilisation ist von Norbert Elias selber nichts zu erfahren, zumal der

31 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

Schließt man von der moralisch-poetologischen Rage im deutschen Sprachraum des 18. Jahrhunderts auf die Zugkraft dieser Komikkultur zurück, so hielt man diese offenbar für schwer modellierbar oder reformierbar – für verbietbar, das schon. In den (zugegebenermaßen in den deutschen Ländern und im Österreich des 18. Jahr- hunderts noch gering ausgebildeten) Feldern des literarischen Theaters141 war dies am ehesten an den stehenden, also leichter überwachbaren Theatern zu exekutieren (bis auf Wien und die ihm ideell angeschlossenen Theater der österreichischen Pro- vinz, die weit länger am komischen Possenreißertum alten Stils festhielten als die protestantischen Länder).142 Jedenfalls gilt für Johann Christoph Gottsched, dass in Bezug auf die Komödie „wir“ (stracks wird der Leser rhetorisch eingemeindet) „nichts rechtes aufzuweisen“ hätten, „so unserer Nation Ehre machen könnte“. Wie auch, wenn der Wert von Komik und Komischem für die Komödie überhaupt in Abrede gestellt wird.143 Zwar sieht der Lehrplan aufklärerischer Poetik für die Komödie das Lachen allein über Komisches und Komiker nicht mehr vor, hält jedoch an der Komödie als Kom- munikationsmedium durchaus fest. ≡ Unter dem Titel „Lustspiel“ wird die alte „Comœdie“ der Moral und der Erziehung halber Bildungsinstitut, d. h. mit Ernst angereichert und um Komisches beschnitten (wie hier die Metapher des Kastrierens ganz vortrefflich greift, da der Hanswurst / Bernar- don / Harlekin dabei nicht Haare lassen muss, sondern seine Grotesk-Virilität). Im Zu- sammenwirken von Normpoetik, Zensur und einem in den Eliten, den Oberschichten und der (kleinen) Mittelschicht gewandelten, (im Sinne von Norbert Elias) ‚zivilisierten‘ Geschmack verliert die deutsche Komödie das Komische und das Lachen (die österreichi- sche schlägt allerdings Sonderwege ein – doch das nur nebenbei).144 ≡ Der auf der Bühne wirkende zivilisatorische Prozess setzt offenbar jenen im Alltag mit einer gewissen Verspätung fort, und zwar insofern, als gegen Ende des 17. Jahr-

im Nachlass gefundene Essay on Laughter zum Großteil – biologisch argumentiert. Vgl. Eckart Schörle: Die Verhöflichung des Lachens. Anmerkungen zu Norbert Elias’ Essay on Laughter. In: Höfische Gesellschaft und Zivilisationsprozess. Norbert Elias’ Werk in kulturwissenschaftlicher Perspektive. Herausgegeben von Claudia Opitz. Köln; Weimar; Wien: Böhlau 2005, S. 225–244, sowie Michael Schröter: Wer lacht, kann nicht beißen. Ein unveröffentlichter Essay on Laughter von Norbert Elias. In: Merkur. Deutsche Zeit- schrift für europäisches Denken 56 (2002), H. 641 / 642: Lachen. Über westliche Zivilisa- tion, S. 860–873. 141 Im Sinne der Feldtheorie von Pierre Bourdieu. 142 Vgl. Beatrix Müller-Kampel: Hanswurst, Bernardon, Kasperl. Spaßtheater im 18. Jahrhun- dert. Paderborn [u. a.]: Schöningh 2003, S. 152–193 (Kap. „Modellierungen des Komischen im 18. Jh.“), und Beatrix Müller-Kampel: Sittenrichter gegen Possenreißer. Österreichische Lösungen auf dem Theater der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: literatur für leser (1996), S. 221–237. 143 Vgl. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. [Unveränderter photomechanischer Nachdruck der 4., verm. Auflage. Leipzig 1751.] 5. Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1962, bes. S. 643 und S. 654. 144 Vgl. Müller-Kampel, Sittenrichter gegen Possenreißer.

32 Beatrix Müller-Kampel: Komik und das Komische hunderts und vollends im Laufe des 18. Jahrhunderts in Europa die Tradition des öf- fentlichen Verlachens und Verspottens von körperlich Behinderten und Abnormen, die auch Übergriffen ausgesetzt waren, sich erst abgeschwächt hatte und schließlich weitestgehend verschwunden war. Ausgesetzt waren ihm ja genau jene gewesen, mit deren lustigen Widerspielen auf der Bühne das Publikum noch länger seinen Spaß hatte: die missgestalteten Narren wie Zwerge, Bucklige, Kropfige, Humpelnde, Ein- beinige und Fettleibige, und die irren und tollen Narren wie (in heutiger Begrifflich- keit) Debile, Paranoiker, Querulanten, Schizophrene und Psychotiker.145 Und selbst im Theater wird nach und nach nur mehr über ‚unschädliche Hässlichkeiten‘ wie auffallende Nasen und große Bäuche gelacht.146

Sowohl normpoetologisch als auch theatergeschichtlich sind „das Komische“, das seit dem 18. Jahrhundert lexikalisch an die Stelle des „Lächerlichen“ trat, und die „Komödie“ zwei unterschiedene und unterscheidende Kategorien. Schon für Johann Elias Schlegel ist Lachen im Sinne einer Erregung von Gelächter keine notwendige Bestimmung der Gattung mehr; Gellert setzt an die Stelle des Gelächters das unter- richtende Ergötzen, wenn möglich unter oder mit Tränen.147

Das lauthalse, das ‚ausgelassene‘ Lachen zog sich mit der es ‚auslösenden‘ Komik (hier erkennt die Metaphorik schneller als die Historiographie) dramaturgisch ins Extempore zurück, medial zu den wandernden Schau- und Puppenspielertruppen, den Wirtshauskomödianten und -komödiantinnen, in die Cabarets und Kabaretts, den Boulevard und den Zirkus, kurzum: in die nichtkanonisierten, ästhetisch stig- matisierten Unterhaltungs- und Vergnügungsviertel der deutschen und österreichi- schen Theaterkulturen.

Und heute? Ist es in den massenmedialen Lachangeboten der so genannten Spaßge- sellschaft anzutreffen. Womöglich gründet der feuilletonistische Ekel davor in nichts anderem als in Tugendwächtertum, nunmehr Political Correctness genannt?148

145 Einen Überblick dazu bietet Claudia Gottwald: Lachen über das Andere. Eine historische Analyse komischer Repräsentationen von Behinderung. Bielefeld: transcript 2009. (= Dis- ability Studies. Körper – Macht – Differenz. 5.) 146 Vgl. ebenda, S. 258. 147 Vgl. Komödientheorie. Texte und Kommentare. Vom Barock bis zur Gegenwart. Heraus- gegeben von Ulrich Profitlich in Zusammenarbeit mit Peter-André Alt, Karl-Heinz Hart- mann und Michael Schulte. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1998. (= rowohlts enzyklopä- die.) S. 37–38 (Herausgeberkommentar); vgl. auch Ulrich Profitlich: Komödien-Konzepte ohne das Element Komik. In: Theorie der Komödie – Poetik der Komödie, S. 13–30. 148 Vgl. Kotthoff, Lachkulturen heute, S. 4. Die Vermutung als Titel formuliert: Harald Mar- tenstein: Die Spaßgesellschaft: Warum sie so verhaßt ist und wie man sie kritisieren könnte. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 56 (2002), H. 641 / 642: La- chen. Über westliche Zivilisation, S. 906–911.

33 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

Zwischenüberlegung: Wider den komiktheoretischen Essentialismus Zumindest die Zensoren waren und sind davon überzeugt: Um seine Wirkung zu entfalten, braucht das Komische einen aggressiv-degradierenden Impetus, den Ta- bubruch, bei der Konstruktion des komischen Konflikts. Eine Form der ‚militanten Ironie‘ (Northrop Frye),149 baut das Satirische als Erzählhaltung und als literari- sche Gattung darauf auf, ebenso die meisten Spielarten des Witzes. Auch von ihren Funktionen her ist Komik mit Aggression verknüpft: Unter der Maske des Komi- schen150 lassen sich Angriffe leichter verbergen und ertragen, und wenn man denn d’accord geht mit der Stoßrichtung des Komischen, so entlastet das Lachen (wenn auch nur für den Moment), oder es lenkt zumindest ab. Auch darin bestimmt sich das Komische als Phänomen der Kommunikation, der Interaktion, der Gruppe, die Situationen als belachbare vordefinieren, Personen einschließen und ausschließen und mitunter auch aggressiv mit Häme überziehen. ≡ Komik ist diskursiv konstruiert und dergestalt durchdrungen von Historie, Milieu, Ethnie. ≡ Wieso dies in der Komiktheorie noch immer nicht außer Zweifel steht, bleibt rät- selhaft (ließe sich jedoch vermutlich mit der Feldtheorie Pierre Bourdieus klären – die komiktheoretischen Positionen und Positionierungen wohlgemerkt, nicht die Komik selber).

Happy End und Heiterkeit | Thomas-Theorem und Komikkultur Und wenn am Ende der Komödie dennoch kein Lachen und nicht einmal ein Lä- cheln aufkommen mag (worauf selbst die moralischsten und politisch korrektesten Poetologen des Komischen nicht verzichten wollen) – so hat es meist mit eben die- sem: dem Ende zu tun. Das ‚gute‘, das ‚glückliche‘ Ende der Geschichte steht bei der Komödie von vornher- ein fest und steuert deren Rezeption. Als konzeptionelles Fixum bedingt das Happy End weniger eine bestimmte dramatische „Finalstruktur“ als eine Vorabgarantie, „daß die Konflikte letztendlich doch harmloser Art bleiben werden, was im Lachen vorab zum Ausdruck kommt und im glücklichen Ende eingelöst wird.“151 Jeden- falls „bestätigt der Ausgang der Komödie die Belachbarkeit des voraufgegangenen Spiels“.152 Dass freilich, um den seit Jahrhunderten allerüblichsten Komödienschluss zu nennen, die Heirat des zuvor wodurch auch immer gestörten Paars die Belach-

149 Vgl. Northrop Frye: Anatomy of Criticism. Four Essays. Princeton, N.���������������������� ���������������������J.: Princeton Univer- sity Press 1957, bes. S. 223. 150 „Für das Witzemachen setzen wir gewissermaßen immer eine Maske auf. Das heißt, mittels Witzen kommunizieren wir mit anderen auf indirekte Weise.“ Zijderveld, Humor und Ge- sellschaft, S. 85. 151 Trautwein, Komödientheorien und Komödie, S. 105. 152 Ebenda, S. 93.

34 Beatrix Müller-Kampel: Komik und das Komische barkeit der Störungen und Störenfriede verbürgt, ist seinerseits sozialisiert. Denn wer nicht weiß, dass er es, allein vor dem TV-Gerät sitzend, mit einer Komödie zu tun hat, nichts Komisches daran findet, da er dieses weder zu erkennen noch über lachende Dritte zu erschließen weiß (und sei es durch Gelächter aus dem Off), wird auch mit der abschließenden Heirat nicht eines Komischen belehrt. Mag das Happy End, genauer: das Vorwissen darum, nahezu unverzichtbar für gelungene Komik sein, so ist es doch nur Teil eines Bündels rezeptionspsychologischer Bedingungen für das Lachen über Komisches. Rainer Warning hat diese Bedingungen nach Freud hierarchisiert und einen Katalog angelegt; er enthält als Wichtigstes eine „allgemein heitere Stimmung“, „die Erwartung des Komischen“ sowie die Ausblendung von Gefühls- oder Interessenbeteiligung.153 Im Grunde laufen sie alle, ob ‚Happy End‘ oder ‚heitere Stimmung‘, ob ‚Entlastung von Ernst‘, ‚schwache Affektbindung‘ oder, in den Worten Bergsons, „zeitweilige Anästhesie des Herzens“,154 auf die (im Publikum oder in der Gruppe: kollektive) emotionale Einstimmung auf die Harmlosigkeit dessen hinaus, was man hört, sieht, worüber man also lachen darf und kann.155

Die vorausgehende Situationsdefinition (wie die Soziologie es nennt) bestimmt je- weils den Ort und die Zeit als Zonen der Heiterkeit, des Humors und des Lachens (mitunter selbst über das andernorts am allerwenigsten Belachbare, die Krankheit und den Tod). ≡ In Abwandlung des jedem Studenten der Soziologie bekannten Satzes von William Isaac Thomas „If men define situations as real, they are real in their consequences“ („Tho- mas-Theorem“) formuliert Peter L. Berger: „Wenn man eine Situation als komisch de- finiert, wird ihre Wirkung eine komische sein.“156 Definitionsmacht kommt wohl auch den an der komischen Kommunikation beteiligten Individuen zu, doch weitaus stär- ker den übergeordneten sozialen Institutionen und kulturellen Praktiken: das eine Mal kommunikativen Institutionen (Theater, Musik- und Filmgenres, Textsorten), das andre Mal, und vielfach zugleich, bestimmten Typen (Pausenkasperl, Ulk-Nudel, Witzeerzäh- ler) und Professionen (Clown, Komiker, Komödiant, Kabarettist), die wiederum stets abhängig sind von den Wertvorstellungen des intendierten Publikums.157 ≡ Was wir als ‚komisch‘ rubrizieren, „ist soziokulturell (bildungs-, klassen- oder schich- tenspezifisch) und historisch“ modelliert und nichts anderes als „eine Funktion von

153 Warning, Elemente einer Pragmasemiotik der Komödie, S. 304. 154 Bergson, Das Lachen, S. 8. 155 Vgl. Zijderveld, Humor und Gesellschaft, S. 45. 156 Berger, Erlösendes Lachen, S. 80. Vgl. auch Zijderveld, Humor und Gesellschaft, S. 60–61. 157 Vgl. Zijderveld, Humor und Gesellschaft, S. 74.

35 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

sozialisatorisch erworbenen Erwartungen, die durch Wissen, Werte, Gefühle und Zielsetzungen bestimmt sind“.158 Die Begriffe „Lachgemeinschaft“ und „Lachkultur“ sind dafür in Anlehnung an Bachtin geprägt worden;159 Peter L. Berger zieht ihnen jene der „komischen Kultur“ beziehungsweise „Komikkultur“vor. „Eine spezifische komische Kultur läßt sich ganz einfach als die Summe der Definitionen komischer Situationen, Rollen und akzeptabler komischer The- men in einer Gruppe oder Gesellschaft auffassen. Wieder lassen sich mikro- und makrosoziologische Aspekte unterscheiden. Es gibt Komikkulturen en miniature in Familien, Freundeskreisen oder anderen Gruppen in konstanter direkter Kommunikation. Und dann gibt es die komischen Kulturen von Regi- onen, verschiedenen (ethnischen, religiösen, professionellen usw.) Subkulturen und ganzen Gesellschaften. […] Der Außenseiter wird genau dadurch definiert, daß er nicht in der Lage ist, die Komikkultur der In-Group zu begreifen. Damit dient die Komik dersel- ben wichtigen Funktion wie alle anderen Symbolsysteme: Sie zieht die Gren- ze zwischen Eingeweihten und Außenseitern. Jede Komikkultur ist in- und exklusiv.“160 ≡ Komik erweist sich – wie sie intendiert ist, um- und aufgesetzt wird und wie sie wirkt – als kulturelle Praxis, so gruppen-, milieu- und klassenspezifisch wie alle kultu- rellen Praxen und auch so durchdrungen von Machtbeziehungen, Hierarchien und der Autorität wie sie. ≡

Spaß und Macht | Das Komische und die Autorität (Soziologische Kontexte II) Korrelationen zwischen Spaß und politischer Macht, dem Komischen und der staat- lichen Autorität, dem Humor und sozialen Hierarchien herzustellen, heißt auch die eingangs gestreifte Frage wieder aufzunehmen: ob denn das Komische als subversiv oder affirmativ anzusehen sei. So kritisch, ätzend, radikal, fundamental der Satiriker agieren mag, er ist „nicht daran interessiert, die bestehenden Sinnstrukturen umzu- stürzen. Er will nur mit ihnen spielen, und sein Spiel bleibt innerhalb der Grenzen des Lachens.“161 Und so karnevalistisch Hanswurst, der vom Fressen, Saufen, Fur- zen und Vögeln Besessene, auch über die Bühne getollt sein mag – er „akzeptiert die

158 Schmidt, Inszenierungen der Beobachtung von Humor, S. 23. Vgl. auch Kuipers, Humor Styles, S. 223–224. 159 Vgl. Bausinger, Lachkultur. 160 Berger, Erlösendes Lachen, S. 79. Vgl. auch Zijderveld, Humor und Gesellschaft, S. 75. 161 Zijderveld, Humor und Gesellschaft, S. 24; vgl. auch ebenda, S. 82.

36 Beatrix Müller-Kampel: Komik und das Komische

Wirklichkeit, die er (da er sie) als Materie, als Körper und nicht als Geist erlebt.“162 „Der Narr stürzt die Weltordnung nicht um, er rüttelt nicht einmal daran, höchs- tens bohrt er mit seinem Holzschwert hier und da ein Loch hinein.“163 Und „Har- lekin beläßt in seinem Triumph alles beim alten.“164 Selbst der Flüsterwitz „entsteht nicht als Waffe gegen Tyrannei, sondern als Hilfe für die Opfer der Tyrannei.“165 Kluge Diktatoren und Diktaturen erahnen oder wissen um die psychosoziale Ven- tilfunktion, also systemstabilisierende Funktion selbst aggressiver Komik und neh- men ihr den Stachel, indem sie sie erlauben oder institutionalisieren. Heraus kommt „regulierte Komik mit sogenanntem ‚Top-down‘-Mechanismus, die also ‚von oben nach unten‘ wirkt.“166 Empirische Untersuchungen der letzten Jahrzehnte legen (mitunter ohne explizit darauf abgezielt zu haben) nahe, dass Komikverbote und die Verfolgung, Inhaf- tierung, Ermordung von Komikern oder Witzeerzählern auf nichts weniger als die Dummheit oder den paranoiden Charakter von diktatorischen Systemen und ihren Tyrannen zurückzuführen sind. Schon die erste einschlägige Studie von Rose Laub Coser, Laughter among colleagues (1960), in der Witz- und Scherzkommunikation unter dem wissenschaftlichen Personal einer pychiatrischen Klinik untersucht wur- de, ergab, dass „Humor zur Aufrechterhaltung der Sozialstruktur bei[trägt]“167 – mit- hin diese nicht zerstören, umstürzen möchte, ja nicht einmal ernstlich in Zweifel zieht. Bereits die Rollen- und Replikenverteilung unter Scherzenden, Witzelnden, Schmähführenden überbrückt Hierarchien und Machtgefälle allenfalls scheinhaft (z. B. wenn der herablassende Humor eines Ranghöheren den Rangniedrigeren ein Gefühl des Dazugehörens vermitteln soll).168 ≡ Besonders in direkter Kommunikation spiegelt, ja bekräftigt Komik die im jeweili- gen kommunikativen Kontext geltenden sozialen Hierarchien – auch, weil die Situa-

162 Gerald Stieg: Versuch einer Philosophie des Hanswurst. In: Austriaca. Cahiers Universi- taires d’Information sur l’Autriche 5 (1979), Numéro special: Deux foix l’Autriche après 1918 et après 1977, Bd. 2 (Februar 1979), S. 92. 163 Helmut G. Asper: Hanswurst. Studien zum Lustigmacher auf der Berufsschauspielerbühne in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert. Emsdetten: Lechte 1980, S. 162. Ähnlich Ger- hard Scheit: Hanswurst und der Staat. Eine kleine Geschichte der Komik: Von Mozart bis Thomas Bernhard. Wien: Deuticke 1995, S. 35. 164 So das Fazit von Lohse, Überlegungen zu einer Theorie des Komischen, S. 13. 165 Peter Bender: So lachte der Osten. Über politische Witze. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 56 (2002), H. 641 / 642: Lachen. Über westliche Zivilisation, S. 854–859, hier S. 859. 166 Wirag, Platzen vor Lachen, S. 23. 167 Coser, Lachen in der Fakultät, S. 119. Hervorhebung durch Kursivierung von B. M. K. 168 Vgl. Zijderveld, Humor und Gesellschaft, S. 197.

37 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

tionsdefinition im Sinne von Situationskontrolle ja auch wieder von oben nach unten geht.169 ≡ „Die im Humor freiwerdenden Aggressionen werden von der gleichen Autori- tätsstruktur kontrolliert, gegen die sie sich richten. Diejenigen an der Spitze ha- ben mehr Recht auf die Rolle des Aggressors als die unter ihnen Stehenden, auch wenn die Angriffe in Form von Humor daherkommen. […] Es sieht […] so aus, daß nicht nur die Witzehäufigkeit, sondern auch die Richtung der Witze dem Autoritätsgefälle entspricht. Gewitzelt wird auf Kosten der Machtlosen.“170 Auch Helga Kotthoff hat am Beispiel von Humor am Arbeitsplatz aufgezeigt, dass der Komiker immer auch einen privilegierten Rang und Status erhält, dass Komik auch dazu genutzt wird, Hierarchien und Machtverhältnisse zu bestätigen. Tenden- ziell (und dem entsprechend) inszenieren sich Chefs oder hierarchisch übergeordne- te Personen eher als Witzemacher und Komiker gegenüber den Untergeordneten als umgekehrt.171 „Humor mit Biss“172 bellt offenbar mehr, als er beißt: zähmt den aggressiven Impuls des Sprechers, dient auch wohl als Versöhnungsangebot, Bestätigung gemeinsamer Werte, Bitte um und Dank für Unterstützung.173 Die komische Praxis ist solcherart soziales Regulativ.174 Erkennbar wird es als solches auch im umgekehrten Fall: wenn der Angriff mit Komischem komisch-aggressiv pariert wird. Hier bildet das Komi- sche die Maske, hinter der sich die Kritik zu verbergen weiß.

Woraus folgt: Plädoyer wider die komische PC Wenn es darum geht, bestimmte Formen der Komik aus den Alltagsdiskursen ab- zudrängen, so hakt die Political Correctness als Kanon ethnischer, konfessioneller oder feministischer Moralen meist an der unausgesprochenen Rücksichtslosigkeit und Gewissenlosigkeit des komischen Lachens ein. Im Visier stehen der ethnisch- rassistische Witz (Juden-, „Neger-“, Moslem-, allgemein „Ausländer“witze), der se- xistische Witz (Frauenwitze, Schwulenwitze), Krüppel- und Irrenwitze (Witze über Opfer generell) oder das Lachen über Komisierungen von Gewalt und Folter, Mord,

169 Vgl. generell Kotthoff, Lachkulturen heute (nach Rose Laub Coser). 170 Coser, Lachen in der Fakultät, S. 102. 171 Vgl. Kotthoff, Lachkulturen heute, sowie H. K.: Von gackernden Hühnern und röhren- den Hirschen. Zur Geschlechtsspezifik von Humor, Witz und Gelächter. In: Vom Lachen, S. 192–210, hier S. 197. 172 So der Titel eines Beitrags von Helga Kotthoff: Humor mit Biss. Zwischen sozialer Kon- junktion und Disjunktion. In: Gewalt in der Sprache. Rhetoriken verletzenden Sprechens. Paderborn; München: Fink 2010, S. 61–95. 173 Vgl. Coser, Lachen in der Fakultät, S. 98. 174 Vgl. Gary Alan Fine und Michaela de Soucey: Joking cultures: Humor themes as social regulation in group life. In: Humor – International Journal of Humor Research 18 (2005), Nr. 1, S. 1–22.

38 Beatrix Müller-Kampel: Komik und das Komische

Krieg und Tod.175 Alt-neue „Limits Of Humour“ (so der Untertitel eines 2005 er- schienenen Sammelbandes) werden abgesteckt, Menetekel des unheilvoll Komischen an die Wand gemalt: des ethnisch-rassistischen und sexistischen Witzes vor allem, der nichts anderes als Nötigung, Belästigung und Gewalt bedeutete und daher zu ahnden und zu verbieten sei.176 Abgesehen davon, dass der Glaube an die selig ma- chenden Segnungen der Zensur ebenso naiv (s.o.) wie gefährlich ist (nämlich für die Freiheit des Worts), missversteht die PC (wie jede fundamentalistische Ideologie) auch Intention und Funktion des Komischen ganz generell. Denn der ethnische Witz, der sexistische Schmäh, die antiklerikale Satire sind ja nur deshalb komisch konstruiert, um der Eindeutigkeit mit Zweideutigkeit, Mehrdeutigkeit, Vieldeutig- keit beizukommen – zumindest diskursiv. Eben deshalb werden ja weder Hetzreden noch Propagandafeldzüge aus Witzen gemacht, und auch Hasstiraden bedienen sich nur selten der komischen Rede. (Meist ist das Gegenteil der Fall.) Noch dazu macht es einen großen Unterschied, wer den Witz vor wem oder für wen reißt. Ethnisch-rassistisch und sexistisch Komisches kann Vorurteile unterlau- fen oder Rassisten / Sexisten sogar blamieren, wenn es in der verächtlich gemachten Gruppe zum Besten gegeben wird.177 Für die moralische Inbrunst der PC gilt dasselbe wie für jede Zensur und jeden Maulkorb dieser Welt: Mit Redeverboten und Schweigegeboten, SprachpolizistIn- nen und KomikwächterInnen wird das politisch Unkorrekte, das moralisch Ver- werfliche nicht aus der Welt zu schaffen sein – so wenig, wie „Schwule“ je die Situ- ation von „Schwuchteln“ verbessert hätten, „Afroamerikaner“ jene von „Niggern“, „Roma“ und „Sinti“ jene von „Zigeunern“, „Verhaltenskreative“ jene von „Verhal- tensgestörten“, „Behinderte“ jene von „Krüppeln“, das Binnen-I oder die „/ innen“ jene von Frauen. Und sollte jemand glauben, die politisch korrekte Korrektion von Komik korrigiere die Sozietät und Kultur im Sinne des vorgeblichen Ziels, der lese nach bei den Zensoren aller Epochen und Länder, nichts anderes als Wächter über die je gängige PC. Das Reich der anbefohlenen Moral oder Ideologie rückte damit niemals näher, doch gefügig und humorlos, das wird er immerhin, der Mensch im komikfreien Regime.

175 Vgl. Simon, Theorie der Komödie, S. 56–57. 176 Beyond a Joke. The Limits Of Humour. Herausgegeben von Sharon Locker und Michael Pickering. New York: palgrave macmillan 2005. 177 Vgl. Zijderveld, Humor und Gesellschaft, S. 188. Vgl. auch Helga Kotthoff: New forms of ethnic joking? Stand-up comedy, performance and ideological loadings. In: Diskurs, Politik, Identität. / Discourse, Politics Identity. Festschrift für Ruth Wodak. Herausgege- ben von R[udolf] de Cillia, H[elmut] Gruber, M[ichał] Krzyżanowski und F[lorian] Menz. Tübingen: Stauffenburg Verlag Brigitte Narr 2010, S. 115–124, bes. S. 115–116.

39 Satire in der DDR – ein Widerspruch?1 Von Alfred Dorfer

A) Position der Satire in der DDR „Es gab im Lande keine offizielle Meinung für die Satire“2, meinte Gerd Nagel, der letzte Chefredakteur des DDR-„Eulenspiegels“. Das Dilemma der offiziellen DDR lag in ihrem Zwiespalt der Satire gegenüber. Kritik wurde grundsätzlich als partei- feindlich aufgefasst, gleichzeitig wollte man demonstrieren, dass es jederzeit möglich sei, sich in der DDR kritisch zu äußern. In der Kabarettgeschichte von Rainer Otto und Walter Rösler, die im Jahre 1977 im ostdeutschen Henschelverlag erschien, werden die Aufgaben der Satire in einen historischen Kontext gestellt: „Angeregt besonders durch die vielfältigen Probleme der politischen und öko- nomischen Entwicklungen, durch die Vielzahl der Auseinandersetzungen und Diskussionen um die Meisterung der Aufgaben der wissenschaftlich-techni- schen Probleme der ökonomischen Entwicklung, begann auch das politische Kabarett, diese Themenbereiche für sich zu entdecken und zu erschließen. Ideologische Probleme der ökonomischen Entwicklung, Fragen der Arbeitsin- tensität und Arbeitsmoral, der Planung und Arbeitsorganisation spielten nun- mehr in den Programmen der DDR-Kabaretts eine immer größere Rolle.“3 Die typische Satireform der DDR – besonders was die Bühne und den Film be- trifft – war das Kabarett. In den ersten Jahren der DDR galt es, die Forderung nach einer positiven, system- affirmativen Satire zu erfüllen. Zu den ersten Ensembles zählte die „Kleine Bühne“, deren Lied von der Freiheit auch im ersten Textbuch der „Distel“ berücksichtigt wurde: „Freiheit wozu und Freiheit für wen? Das ist uns keine Frage! Denn wir sind so frei, für den Frieden zu stehn! Und wir sind so frei, an die Arbeit zu gehn!

1 Dieser Beitrag basiert auf überarbeiteten und ergänzten Teilen der 2011 an der Universität Wien eingereichten Dissertation: Alfred Dorfer: Satire in restriktiven Systemen Europas im 20. Jahrhundert. Wien, Univ., Diss. 2011. 2 Interview von Sylvia Klötzer mit Gerd Nagel vom 20.10.1998, zitiert nach: Sylvia Klötzer: Satire und Macht. Film, Zeitung, Kabarett in der DDR. Köln; Weimar; Wien: Böhlau 2006, S. 163. 3 Rainer Otto und Walter Rösler: Kabarettgeschichte. Abriß des deutschsprachigen Kaba- retts. Berlin [DDR]: Henschelverlag 1977, S. 351.

40 Alfred Dorfer: Satire in der DDR

So ändern wir die Lage! Unentwegt Schritt für Schritt Ziehn wir andere mit! Es singen die Maschinen: Durch unsere Hände schaffen wir Freiheit für wen? Für uns!!!“4 Ein anderer Text der frühen Zeit des DDR-Kabaretts stammt von der „Laterne“ und lässt den Unterschied zur Satire des „bürgerlichen“ Westens nur schwer erkennen: „Wer sich frei von Fehlern glaubt, wer kein offnes Wort erlaubt, wer vollkommen scheinen will, wer Kritik vernichten will, wer die Wahrheit nicht verträgt, wer nur Wert auf Phrasen legt, nicht die eignen Schwächen sieht – verbrennt sich letzten Endes doch die Pfoten.“5 Angesichts der Ereignisse von 1953, nämlich der Beendigung der Demonstrationen durch das Eingreifen der Roten Armee in Berlin, besticht dieser Text, zumal aus dem Jahre 1951 stammend, mit seltsam antizipierendem Inhalt. Es gab also keine offizielle Haltung gegenüber der Satire. Aber was darf Satire? Eine Frage, die Tucholsky mit „Alles.“6 beantwortete. Er ging von der „Berechtigung eines ehrlichen Mannes, die Zeit zu peitschen“,7 aus. Was aber Satire in der DDR wirklich durfte, war kaum mit „Alles.“ auszudrücken. Hegel zufolge handelt es sich bei der Satire um „[d]ie Kunstform, welche diese Gestalt des hervorbrechenden Gegensatzes der endlichen Subjektivität und der entarteten Äußerlichkeit annimmt“8. Seine Sati- re-Definition ist hier nicht anwendbar: Man ging in der DDR bezüglich des Systems selbstredend nicht von einer „entarteten Äußerlichkeit“ aus, da die Wirklichkeit im Grunde nicht infrage gestellt wurde oder werden durfte. Höchstens kleine Miss- stände auf dem Weg zur Utopie sollten satirisch dargestellt werden. Zudem scheint der Satireansatz des DDR-Kabaretts im Gegensatz zur bürgerlichen Kritik aus der

4 Erich Brehm: Lied von der Freiheit aus dem Textheft: Die Distel blüht zum Spaße (Berlin [DDR], 1958), zitiert nach: Ebenda, S. 212. 5 Wolfgang Brandenstein: Entree des „Laterne“-Programms Heitere Streiflichter, zitiert nach: Ebenda, S. 213. 6 Kurt Tucholsky: Was darf die Satire? [1919.] In: K. T.: Gesammelte Werke. Herausgegeben von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Bd. 2: 1919–1920. 70.–119. Tausend. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1985, S. 42–44, hier S. 44. 7 Ebenda, S. 43. 8 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Bd. 14: Vorlesungen über die Ästhetik 2., auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausg. Redaktion: Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970. (= Theorie-Werkausgabe.) S. 123.

41 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

Perspektive des Individuums, das Staat oder Gesellschaft infrage stellt, invers. Die Satire der DDR zielte, vom idealen Staat ausgehend, auf die Unzulänglichkeit des Individuums. Das verspricht fürs Erste keine aufregende Satire, zumal aus heutiger Sicht dieser Ansatz selbst als unfreiwillige Satire angesehen werden könnte. Hegels „Mißklang der eigenen Subjektivität“9 im Verhältnis zur „entarteten Äußerlichkeit“ war den ost- deutschen Humorideologen insofern fremd, als es die entartete Wirklichkeit zwar gab, aber woanders. Diese prinzipielle Kritik konnte also lediglich bei Außenfeinden fündig werden und musste im Inneren systemimmanent bleiben. Das ist zwar kein alleiniger Maßstab für satirische Schärfe, schließt aber a priori die vollkommene Irritation der Zuschauer im Sinne der Relativierung des Gesamtsystems aus. Zudem sah sich die DDR in den 1950er-Jahren auch mit dem Problem der Kul- turmigration in Sachen Kabarett, Satire und Entertainment in den Westen, der diesbezüglich offensichtlich attraktiver war, konfrontiert. Die westdeutsche Truppe „Günther Neumann und seine Insulaner“ widmete sich zum Beispiel explizit der humorlosen Welt im Osten Deutschlands: „Der Insulaner richtet sein besonderes Augenmerk auf Parteiführer und ‑ver- treter Ostdeutschlands und der Sowjetunion. Deshalb gehörte der ‚SED-Fuzio- när‘ mit seinen banalen Reden über die neuesten Richtlinien zum regelmäßigen Repertoire. Fast alle Nachrichten von und über Ostblockpersönlichkeiten wur- den in einer der folgenden Insulanersendungen behandelt.“10 Solcherlei Informationen galt es den Ostbürgern vorzuenthalten, und dies hoffte man, mit einem starken Gegengewicht namens DDR-Kabarett erreichen zu kön- nen. Den Anfang machten 1953 die „Stacheltier“-Serie und ein Magistratsbeschluss zur Gründung verschiedenster Berufskabaretts. Als solches gilt etwa die bereits er- wähnte „Distel“, die am 2. Oktober 1953 mit dem Programm Hurra! Humor ist eingeplant gegründet wurde. In Leipzig entstand 1954 das erste Programm der „Leipziger Pfeffermühle“ und ein Jahr später folgte die „Herkuleskeule“ in Dresden. Auch die Zeitungssatire erhielt Auftrieb, wie etwa mit „Frischer Wind“ und dem „Eulenspiegel“. Eine wichtige Rolle spielte zu dieser Zeit das so genannte Filmkabarett. Dass sich die DEFA überhaupt auf dieses Experiment einließ, lag in einer massiven Krise des Films begründet. In den ersten Nachkriegsjahren erreichte die DEFA zwar ein erstaunliches Produktionsvolumen qualitativ hochwertiger Filme, welche die SED, vorerst noch in Beraterfunktion, zuließ, doch der wachsende Einfluss der Partei auf die filmischen Inhalte führte dazu, dass immer mehr Filme nur für das Archiv pro-

9 Ebenda. 10 Im Original undatierter, von Bryan T. van Sweringen auf 1958 datierter Bericht der RIAS, zitiert nach: Klötzer, Satire und Macht, S. 202.

42 Alfred Dorfer: Satire in der DDR duziert wurden. Das Publikum entschied sich in der Folge, wann immer möglich, zunehmend für westliche Produktionen. Kurz vor der Staatsgründung 1949 hatte der Prozess begonnen, der unter Aufsicht der SED dem Film immer mehr massenagitatorische Funktionen übertrug. Beson- dere Kritik galt den DEFA-Unterhaltungsproduktionen, die zwar Publikumserfolge waren, doch im Sinne der gesellschaftlichen Entwicklung als wertlos galten. Dies führte zu einer drastischen Reduktion der Spielfilmproduktion, was auch Entlas- sungen und damit Arbeitslosigkeit mit sich brachte. In dieser Notlage wollte man mit der ‚scharfen Waffe des Kabaretts‘ punkten.11 Walter Ulbricht gab die Marschrichtung vor, indem er sich auf Georgij M. Ma- lenkow, den stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates und Sekretär des ZK bezog, der auf dem Parteitag der KPDSU im Jahre 1952 den aus DDR-Perspektive nachahmenswerten Satz formulierte: „Was wir brauchen, sind die sowjetischen Go- gols und Schtschedrins, die mit der Flamme alles Negative, Überlebte, alles das, was die Vorwärtsbewegung hemmt, aus dem Leben ausbrennen“.12 Nun war es die SED-Führung, und hier im Besonderen Hermann Axen, die den Ruf nach Satire ebenso laut werden ließ, ohne jedoch selbst die Zielscheibe dieser Kritik abgeben zu wollen. Sepp Schwab, einer der Vorsitzenden des staatlichen Komitees für Filmwesen, sprach sich dafür aus, „daß man Satire durch so eine Art ‚Kabarett- film‘ ins Kino bringen sollte. Nicht viel Aufwand: Tisch, Stuhl, Telefon, Vorhang, davor gute Kabarettnummern, zum Beispiel mit der Brummerhoff oder ähnlichen Kabarettisten. Kosten maximal 10.000 Mark pro Stück.“13 Die Produktionsverhält- nisse und die damit verbundenen niedrigen Kosten waren ein weiterer Grund für die Umsetzung des „Stacheltiers“. Das Abnahmeverfahren eines jeden Films verlief in zwei Schritten: zuerst erfolgte die Abnahme des Textes und dann jene des fertigen Filmes. Die etwa achtköpfige Abnahmekommission aus der Hauptverwaltung Film im Ministerium für Kultur protokollierte diese Abnahme und zeigte in vielen Fällen rigorosere Haltungen gegenüber dem Inhalt als bei Bühnenstücken. Als bekanntes Beispiel für das Wirken von Zensur gilt der Film Hausbeleuchtung, in dem die Hausbewohner einen Vortrag über die großen Probleme der Zeit zu hören bekommen, während ihre Beschwerden über die kleinen Defekte des Hauses mit dem Hinweis auf den großen Zusammenhang der Friedensproblematik abge- schmettert werden. Dieser Film wurde nie gezeigt, die Begründung las sich im Pro- tokoll der Kommission folgendermaßen:

11 Nach dem Wort von der „scharfen Waffe der Satire“ von Georgij M. Malenkow: Rechen- schaftsbericht an den 19. Parteitag über die Tätigkeit des Zentralkomitees der KPdSU (B), 5. Oktober 1952. [O. O.]: Verlag der Neuen Zeit [um 1953]. (= Beilage zur Neuen Zeit. 42.) S. 35. 12 Ebenda. 13 Richard Groschopp: Über die Anfänge des satirisch-humoristischen KurzfilmsDas Stachel- tier, August 1979 (Typoskript), zitiert nach: Klötzer, Satire und Macht, S. 33.

43 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

„Dieser Streifen, der nach einer Groteske aus einem Programm des Berliner Kabaretts ‚Die Distel‘ inszeniert wurde, hat sein Ziel verfehlt. Statt das negative Verhalten des Redners zu glossieren, macht er umgekehrt alles lächerlich, wi- tzelt hemmungslos über die Hausversammlung als demokratisches Organ und über solche Begriffe wie Frieden, Einheit und Demokratie.“14 Trotz aller Widrigkeiten und Zwiespältigkeiten war man bemüht, den Kabarettfilm möglichst rasch als Vorfilm einzubauen, zwischen einem aktuellen politischen Teil und einem „ernsten Teil“, also einem Spielfilm. Der Kabarettfilm quasi als Mittel- stück war also der „heitere Teil“. Walter Ulbricht selbst war es, der dem ungeliebten Kind Satire das Wort redete, indem er forderte, „mehr satirische Kurzfilme zu pro- duzieren“, was jedoch kein „Recht auf unbekümmerte Kritik“ beinhalten sollte.15 Die SED behielt es sich vor, zu entscheiden, was Satire sein durfte und was nicht. Zu spüren bekam das Günter Kunert mit Eine Liebesgeschichte, der fünften Folge des „Stacheltiers“: „Die Filmfassung der Liebesgeschichte beginnt mit einer Szene im Büro. […] Als ein Dichter hereintritt und ihnen eine Liebesgeschichte anbietet, erkennt man in ihnen Gutachter. Mit ‚Darauf warten wir gerade‘ ermutigen sie den Autor, seine Geschichte vorzutragen, und wir sehen zu seinen Worten eine gefühlvol- le, romantische und etwas schwülstige Liebesszene. Einem knappen Lob folgt herbe Kritik in Lingua und Redeweise der SED-Propaganda: ‚Die Frage des frohen Jugendlebens ist nicht scharf genug angeschnitten worden […]. Auch die Rolle der Gleichberechtigung der Frau wurde zu wenig angesprochen‘. Der Dichter solle sein Werk ‚selbstkritisch überarbeiten‘, denn er habe es noch nicht genügend verstanden‚ […] das zentrale Problem der kollektiven Zusammen- schweißung breit zu entfalten.‘ Als der Gescholtene das nächste Mal erscheint, präsentiert er eine völlig neue Liebesgeschichte, die tatsächlich alles Verlang- te ‚anspricht‘, frohes Jugendleben, Gleichberechtigung der Frau und kollekti- ve Zusammenschweißung. Diese sozialistisch-realistische trash-Variante einer Liebesgeschichte bildet das Kernelement der Satire.“16 Kunert entzieht in diesem Gleichnis der Liebesgeschichte alles, was sie ausmacht, und ersetzt es durch Phrasen und Stereotypen – desgleichen wird vom DDR-Satiri- ker verlangt: Er soll kritisch sein, jedoch im Geiste des sozialistischen Realismus. 28 der 275 gedrehten „Stacheltier“-Produktionen spiegelten diesen offenbar nicht wider und wurden verboten.

14 Abnahmeprotokoll vom 6.4.1957, Archiv Hauptverwaltung Film / Ministerium für Kultur der DDR, zitiert nach: Jacques Poumet: Kabarett und Zensur in der DDR. In: Hundert Jahre Kabarett. Zur Inszenierung gesellschaftlicher Identität zwischen Protest und Propa- ganda. Herausgegeben von Joanne McNally und Peter Sprengel. Würzburg: Königshausen und Neumann 2003, S. 151–166, hier S. 160. 15 Walter Ulbricht auf der 16. Tagung des ZK der SED am 17.9.1953, zitiert nach: Klötzer, Satire und Macht, S. 42. 16 Klötzer, Satire und Macht, S. 53–54.

44 Alfred Dorfer: Satire in der DDR

Im Einzelfall konnte auch ein bereits abgelehntes Projekt im Nachhinein reaktiviert werden, wenn es politisch angemessen schien. So schreibt Jacques Poumet: „Ein Streifen über das Schieberwesen in Ost und West wird 1956 abgelehnt, weil er zu ‚politisch falschen Schlußfolgerungen führen kann‘, und das, obwohl seine künstlerische Qualität als außerordentlich gut eingeschätzt werden muß. Drei Jahre später wird der Film jedoch aus der Schublade gezogen, weil sich in der Zwischenzeit ein politischer Nutzen herausgestellt hatte. Die neue Abnah- me-Kommission findet den Film dieses Mal von der künstlerischen Seite her gar nicht so gut, läßt ihn aber trotzdem zu, weil er den großen Vorteil hat, daß er um mehr Verständnis für Kontrollen an der Westberliner Grenze wirbt.“17 Probleme mit der Zensur hatte auch jenes „Stacheltier“, das Eva und Erwin Stritt- matter im Jahre 1958 verfassten, es war eines der wenigen über die Landwirtschaft: Eine Gruppe von Erntehelfern aus dem Ministerium für Land- und Forstwirtschaft wird für die Kartoffelernte eingesetzt. Der Minister ist selbst inkognito dabei, um sich die Schlamperei in der LPG anzusehen. Am Abend improvisieren die Erntehel- fer einen Kabarettabend, um das Erlebte nachzuspielen, der Minister gibt sich zu erkennen und hält einen Vortrag über Arbeitsmoral. In der Endfassung wurde dieser Film um die Hälfte gekürzt. Das Thema Arbeitsscheu wurde zur Gänze herausge- schnitten – vergebens, trotz aller Korrekturen hatte der Film bei der Abnahmekom- mission keine Chance: „Die entscheidende Frage bei der Beurteilung des Stacheltieres ist die Frage nach der Tendenz der Aussage: Wem nützt das Stacheltier? […] da dieses Sta- cheltier die aufgeworfene Problematik in seiner Gestaltung nicht löst, kann dieser Film seine Aufgabe nicht erfüllen […]. Der Film wurde abgelehnt.“18 Nicht genug, dass der Kabarettfilm mit Zensur zu kämpfen hatte, es gab auch Kritik seitens der Kollegenschaft ob der Zahnlosigkeit des „Stacheltiers“, so wie etwa 1961 durch das „Lachbrett“: „Ich sah ein Stacheltier mir an und kann eins nicht verstehn: weshalb kriegt man an frechem Witz so gut wie nichts zu sehen?“19 Peter Jelavich bringt in seinem Essay Satire under socialism die Problematik der Sati- riker in der DDR auf den Punkt: „From the outset, cabarets in the GDR were in a difficult and paradoxical situ- ation. They were supposed to employ satire, which is normally aimed against

17 Poumet, Kabarett und Zensur in der DDR, S. 161. 18 Abnahmeprotokoll „Darf der denn das?“, 10.11.1958, Archiv Hauptverwaltung Film / Mi- nisterium für Kultur, zitiert nach: Ebenda, S. 162. 19 Peter Ensikat und Rudolf Hösch: Kabarett von gestern und heute, zitiert nach: Otto / Rösler, Kabarettgeschichte, S. 241.

45 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

those in power, to advance the goals of the ruling Socialist Unity Party (SED). Cabarets were allowed to criticize shortfalls in the actual development of social- ism, without attacking its fundamental precepts. In principle, even that task should have given great leeway to cabarets. After all, the classic German con- ception of satire, voiced by generations of writers from Friedrich Schiller to Kurt Tucholsky, was to highlight the discrepancy between ideals and realities.“20 Die Autoren und Satiriker der DDR waren sich dieser Diskrepanz bewusst, sie war ihr Alltag. Abgesehen von Richtlinien seitens der offiziellen Stellen in Sachen Satire gab es auch das Prozedere, jedes neue Stück in mehrfacher Hinsicht abnehmen zu lassen. Die meisten Programme mussten nicht nur der örtlichen Magistratsverwaltung vorge- legt werden, sie wurden auch von den jeweiligen regionalen SED-Offiziellen begut- achtet. Dasselbe wiederholte sich dann kurz vor der Premiere in einer geschlossenen Vorstellung für eine sehr geringe Zahl von SED-Zensoren, welche nunmehr nicht nur den Text, sondern auch die Darbietung auf ihre Systemtauglichkeit überprüf- ten. Um ganz sicher zu gehen, entsandte man auch noch Zensoren in die ersten Vorstellungen, ganz zu schweigen von der perfidesten Form der Zensur, dem Ein- schleusen von Stasi-Spitzeln in die jeweilige Truppe, sei es als Texter, Darsteller oder im operativen Bereich. Zu trauriger Berühmtheit gelangten hier etwa Mathias Wedel und Gisela Öchelhäuser, die als besonders liberal galten und in den Jahren nach der Wende als Stasi-Informanten enttarnt wurden. Die „subjektive Nichterfüllung gesellschaftlicher Erfordernisse, beabsichtigt durch produktive Kritik, die Denkanstöße und Handlungsimpulse zur weiteren Vervoll- kommnung des Menschen gibt“21, wurde hier offensichtlich missverstanden. Es gab allerdings graduelle Unterschiede im Zulassen von leichter Systemkritik mit einem lokalen Gefälle. So war Berlin aufgrund seiner Doppelüberwachung (Zen- trale und örtliches Magistrat) kein guter Boden für offene Kritik, da beide Behör- den – laut Ensikat – sogar versuchten, „einander in Wachsamkeit zu übertreffen“22. In dieser Beziehung tat man sich in Sachsen, und dort besonders in Dresden, leich- ter, da der lokale SED-Vorsitzende, Hans Modrow, einen pragmatischen, um nicht zu sagen liberalen Kurs fuhr. So kam es also, dass der „Herkuleskeule“ der Ruf anhaftete, das systemkritischste Kabarett in der DDR zu sein.

20 Peter Jelavich: Satire under Socialism. Cabaret in the German Democratic Republic. In: Die freche Muse. The Impudent Muse. Literarisches und politisches Kabarett von 1901 bis 1999. Herausgegeben von Sigrid Bauschinger. Tübingen; Basel: Francke 2000, S. 163–178, hier S. 164. 21 Aus der Leitlinie des wissenschaftlichen Beitrags für Volkskunst beim Ministerium für Kul- tur der DDR, zitiert nach: Metzler Kabarett-Lexikon. Herausgegeben von Klaus Budzinski und Reinhard Hippen. Stuttgart: Metzler 1996, S. VIII. 22 Peter Ensikat: Ab jetzt geb’ ich nichts mehr zu. Nachrichten aus den neuen Ostprovinzen. München: Kindler 1993, S. 104.

46 Alfred Dorfer: Satire in der DDR

Die „Pfeffermühle“ in Leipzig stand dem kaum nach, wie sich an einem Zensurku- riosum aus dem Jahre 1979 festmachen lässt. Allein bis zum Jahre 1960, also in den ersten sechs Jahren ihres Bestehens, waren bereits vier Programme dieser Truppe bei der Zensur durchgefallen. Pünktlich also zum 30-Jahr-Jubiläum der DDR gab man in Leipzig das Programm Wir können uns gratulieren, das durch die lokalen Behör- den genehmigt worden war. Nach einigen höchst erfolgreichen Vorstellungen teilte man aus Berlin mit, dass der Inhalt allzu nahe am Standpunkt des Klassenfeinds schramme. Die Folgen waren weit reichend. Nicht nur der Direktor Horst Günther wurde entlassen, auch sein Dramaturg Rainer Otto, ein SED-Mitglied, wurde mit einem Disziplinarverfahren konfrontiert. Des Weiteren wurden als Folge der Zulas- sung dieses konterrevolutionären Programms, das selbstredend aus dem Spielplan genommen werden musste, auch zwei Offizielle der örtlichen Zensur suspendiert.23 Ein weiteres Beispiel für die Fallhöhe von Satirikern in der DDR ist jenes des „Ra- tes der Spötter“: Im Jahre 1961 mussten sechs der Mitglieder für neun Monate ins Gefängnis, mit zusätzlichen zwei Jahren auf Bewährung. Der Spielort des Ensem- bles, der „Spötterkeller“, wurde geschlossen. Es bestand der dringende Verdacht der „staatsgefährdenden Propaganda und Hetze“.24 Wie aber war es zu dieser Entwicklung gekommen, zumal der „Rat der Spötter“ eine angesehene Kabaretttruppe war – auch im Sinne der offiziellen DDR? Das beweist nicht nur die hohe Zahl an Auftritten dieses Studentenkabaretts, sondern auch die zweimalige Entsendung ins Ausland, die als Indiz für offizielle Akzeptanz gewertet werden muss. Man war nicht nur zu Gast in Wien bei den Weltfestspielen der Jugend 1959, sondern auch 1961 in Marburg, wo ein Auftritt vor den Studenten der Philipps-Universität stattfand. Es liegt also die Annahme nahe, dass der „Rat der Spötter“ Kabarett im kulturpolitischen Sinne der DDR machte, zumal sich das Ensemble aus Studenten, die zum Teil SED-Mitglieder waren, zusammensetzte: „Begründer des ‚Rates der Spötter‘ war Horst Pennert, damals Student an der Leipziger Fakultät für Journalistik. Die meisten Mitglieder waren Studentin- nen oder Studenten der Journalistik an der Karl-Marx-Universität in Leipzig, einige studierten Medizin, Pharmazie, ein Mitglied war Grafiker.25 Stein des Anstoßes war das Programm Wo der Hund begraben liegt im Septem- ber 1961. Der Staatsanwalt konstatierte einen Aufruf „in der Endkonsequenz zum Handeln gegen die Arbeiter- und Bauernmacht“.26 Insbesondere wurde Bezug auf den Sekretär der Universitätsparteileitung genommen, der den konterrevoluti-

23 Vgl. Dietmar Jacobs: Untersuchungen zum DDR-Berufskabarett der Ära Honecker. Frank- furt am Main [u. a.]: Lang 1996. (= Kölner Studien zur Literaturwissenschaft. 8.) S. 77. 24 Zitiert nach: Sylvia Klötzer: „Wir sind vereint im Turnverein“: Kabarett und Öffentlichkeit in der DDR und in Ostdeutschland. In: Hundert Jahre Kabarett, S. 167–184, hier S. 169. 25 Ernst Röhl: Rat der Spötter. Das Kabarett des Peter Sodann. Leipzig: Kiepenhauer 2002, S. 168. 26 Zitiert nach: Klötzer, Satire und Macht, S. 121.

47 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

onären Charakter aufzeigte, nachdem er einer Voraufführung beigewohnt hatte. Das Hauptproblem entzündete sich an der Figur des Pumpernickel, der pausenlos Ulbricht zitiert und so in eine gefährliche Nähe des „Herrn Staatsrats“ kam. Die Kritik greift jedoch weiter: „Die Szene stellt dürftige Ulbricht-Formulierungen bloß sowie deren öffentli- che Omnipräsenz. Abgesichert durch detaillierte Quellen-Angaben, die auf der Bühne genannt werden, lassen die Autoren Pumpernickel ungelenke wie in- haltsleere Sätze aus veröffentlichten Reden des Staatsratsvorsitzenden zitieren. Am Schluß der Szene versucht jemand, Pumpernickel endlich zu einer ‚eigenen Meinung zu verführen‘. ‚Wie würden Sie argumentieren‘, fragt er, ‚wenn’s keine Ulbricht-Reden gäbe?‘ – ‚Engels‘, lautet die Antwort. ‚Und wenn der nichts geschrieben hätte?‘ – ‚Dann eben Marx, oder auch Lenin.‘ ‚Ach, wissen Sie‘, fügt Pumpernickel dann leutselig hinzu, ‚tun Sie doch nicht so, als wenn meine Existenz als Agitator der Nationalen Front aufs Spiel gesetzt wäre, wenn’s keine Zitate gäbe. (lachend) Es gibt doch so viele handfeste Argumente.‘ Darauf wird der Pumpernickel das erst Mal gelobt: ‚Da haben Sie endlich mal was Vernünf- tiges gesagt.‘ ‚Ich nicht, Walter Ulbricht‘, lautet die Pointe aus Pumpernickels Mund.“ 27 Man tat sich im Zuge der Gerichtsverhandlung schwer, den Tatbestand der Hetze in diesem grundsätzlich harmlosen Text aufzufinden. Bis zur Verhandlung dauerte es neun Monate, in denen den Gefangenen sämtliche Lektüre verweigert wurde. Vor Gericht war man bemüht, das Konterrevolutionäre auch dadurch herauszustreichen, dass eben durch jene erwähnten Gastspiele im bourgeoisen Westen eine Versuchung stattgefunden habe und der Beweis der Hetze gegen das sozialistische System „durch die grölende Zustimmung reaktionärer westdeutscher Studenten in Marburg“28 er- bracht sei. Des Weiteren wurde der an einen Beweis grenzende Verdacht geäußert, dass in der Zeit, als der „Rat der Spötter“ seinen Kabarettkeller ausbaute, das Studi- um des Marxismus vernachlässigt werden musste und es so überhaupt erst zu dieser katastrophalen Entwicklung hatte kommen können. Was war das Prekäre an diesem „Fall“? 1961 war das Jahr des Mauerbaus und es existierten diesbezüglich zwei konträre Standpunkte innerhalb der DDR – auch unter den Parteimitgliedern. In der SED-Führung gab es eine wachsende Nervosität bezüglich der zu erwartenden Reaktionen der Bevölkerung. Daraus resultierte eine harte Parteilinie, die das rigorose Durchgreifen auch gegenüber Parteimitgliedern verlangte. Dem entgegengesetzt existierte aber auch eine liberalere Haltung, die an- gesichts der hohen Flüchtlingszahlen für einen „weicheren“ Umgang mit Kritik und mit der Jugend plädierte. Selbst als die Mauer bereits errichtet war, wurde von dieser Fraktion nicht unbedingt eine abrupte Verschlechterung des Klimas erwartet.

27 Klötzer, „Wir sind vereint im Turnverein“, S. 170. 28 Zitiert nach: Ebenda, S. 171.

48 Alfred Dorfer: Satire in der DDR

Heiner Müller sah darin sogar Vorteile: „Jetzt ist die Mauer da, jetzt kann man in der DDR über alles offen reden.“29 Das offene Reden wurde aber von der SED- Führung umbenannt in „Fehlerdiskussion“. Eine Reihe von Strafaktionen innerhalb und außerhalb der Partei folgte, mit dem Ziel, „Fehlerdiskussionen“ zu vermeiden. In der Folge wurde relativ schnell klar gemacht, dass auch im Kabarett die Partei als Zielscheibe von Kritik nicht geeignet war. Kritik an der Partei wurde so zur Sys- temkritik, und Kritik am System war von nun an erst recht nur mehr zwischen den Zeilen möglich. Der Ort für diese Form von Kritik war der Kabarettkeller, nicht das Fernsehen oder Kino. So entstand ein Satirereservat, das im Sinne der breiten Öf- fentlichkeit irrelevant, als Feigenblatt aber wirkungsvoll blieb. Die Bedingung, den Klassenfeind als Zielscheibe der Kritik konsequent beizubehalten, galt als Tausch- ware für die gezügelte, domestizierte satirische Behandlung von Missständen, die es zwar offiziell nicht gab, inoffiziell aber als Ventil erstaunlich gut funktionierte. So erklärt sich auch, dass nach der Machtübernahme Erich Honeckers die Gründung zahlreicher Berufskabaretts forciert wurde, was jedoch keinen Einfluss auf das Nicht- Verhältnis von Satire und DDR-Fernsehen hatte. Dieses blieb absolut satirefrei. Was war die Reaktion der Kabarettistinnen und Kabarettisten? Sie sahen sich selbst als Resultat einer (widerwilligen) Toleranz bis zu einem gewissen Grad, als Teil einer verlogenen Medienlandschaft und hatten nun die Möglichkeit, in einem quantitativ reduzierten Rahmen darauf in kritischer Weise Bezug zu nehmen. Zwei historische Ereignisse waren es, die dem DDR-Kabarett Auftrieb gaben und im Gegenzug eine härtere Haltung der Behörden provozierten: die Ausbürgerung Wolf Biermanns im Jahre 1976 und die sowjetische Glasnost-Politik ab der Mitte der 1980er-Jahre – zwei geschichtliche Umstände, die in ihrem Wesen unterschiedlicher nicht sein konnten, sich allerdings als kongruent erwiesen in ihrem bedrohlichen beziehungsweise rela- tivierenden Charakter gegenüber der DDR. Änderte sich dadurch die Satire hinsichtlich einer Verlagerung der Inhalte? Tradi- tionellerweise galt es als sicherer Lacher, offizielle Slogans zu ironisieren. So trans- formierte die „Distel“ die elfte These von Marx zu: „Die Ökonomen haben die Welt so weit verändert, dass es den Philosophen mittlerweile schwer fällt, sie zu interpretieren.“30 Auch die Wichtigkeit, Devisen zu besitzen, nicht nur um beste- chen zu können oder an Güter des Schwarzmarkts heranzukommen, sondern auch um etwa Zahnplomben erstehen zu können, war immer wieder Thema von Texten und Songs. So nahm die „Distel“ im Jahre 1980 mit der Dreigroschenoper einen der bekanntesten Brecht-Texte zur Vorlage:

29 Heiner Müller: Gespräche 2. 1987–1991. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008. (= H. M.: Werke. Herausgegeben von Frank Hörnigk. 11.) S. 772. Vgl. auch Marianne Streisand: Chronik einer Ausgrenzung – Der Fall Heiner Müller. Dokumente zur Umsiedlerin. In: Sinn und Form 43 (1991), H. 3, S. 429–486. 30 Heinz Kersten 1985 zitiert nach: Werner Rossade: Gesellschaft und Kultur in der Endzeit des Realsozialismus. Berlin: Duncker & Humblot 1997. (= Beiträge zur politischen Wissen- schaft. 98.) S. 270.

49 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

„Und der Haifisch der hat Zähne Und die trägt er im Gesicht Meine Oma, die hat keene Zahngold gibt’s für Ostgeld nicht.“31 Bei oberflächlicher Betrachtung stellt sich anhand der zitierten Textpassagen und der bereits besprochenen Zensurpraktiken die Frage, ob eine Linie in der Restriktion zu erkennen ist, ob vielleicht zeitliche Differenzen betreffend das zu Zensurierende auszumachen sind. Lokale Unterschiede wurden bereits besprochen, die individuelle Empfindlichkeit oder Nachlässigkeit von Zensoren ebenfalls. Auch die Kunstfertig- keit, systemkritische Satire dem Zensor vorzuenthalten, während sie dem Publikum nicht verborgen blieb. Die Zensur scheint allerdings bei aller Gründlichkeit und bei allen Richtlinien auch immer etwas dem Zufall überlassen gewesen zu sein. Zufall in dem Sinne, dass letztlich ein Aufeinandertreffen von mehreren Faktoren – aus dem Persönlichen, offiziell Politischen, Lokalen oder Außenpolitischen – als Amal- gam wirksam war, um Zensur entweder herbeizuführen oder nicht. Die Frage nach den Möglichkeiten der Kritik respektive deren Spielraum ist nicht eindeutig zu beantworten. Ein Weg der Zensur aber war es, in erster Linie Ensem- blekabaretts zuzulassen: „Zu DDR-Zeiten gab es aus politischen Gründen fast nur Ensemblekabarett. Das war einfach besser zu überwachen als irgendwelche Einzel- kämpfer, die kritisch über die unbewachten Dörfer tingelten.“32 Ein bedeutendes Ensemble der DDR-Kabaretts ist die heute noch existierende „Her- kuleskeule“, deren Autor Wolfgang Schaller das Schlagwort vom ‚sozialistischen Hollywood‘ prägte, auf das später noch näher eingegangen werden soll. Er war es auch, der sich für die kleine dramaturgische Revolution des durchgängigen Kaba- rettstücks stark machte: „Die Bemühungen um thematisch geschlossene Program- me sind produktiver, weil sie zu einer neuen Qualität unserer Programme und ihrer Aussage führen, weil sie darauf aus sind, ein Problem in seiner Vielschichtigkeit und Kompliziertheit zu zeigen und tiefer nach Ursachen zu loten.“33 Schaller und auch Ensikat waren aber bei aller formalen Experimentierfreudigkeit dennoch in einer Zwickmühle, was die Objekte der Satire betraf. „Aside from humor, […] due to its call for civic courage. It argued that all individuals can and do make choices, and that they should opt for what is morally correct, instead of what is simply expedient. But it was hard to put into practice within the framework of the GDR.“34 Dennoch meint Ensikat, dass es besonders die Zivilcourage der Satire gewesen sei, die zumin- dest partiell zu den Entwicklungen von 1989 beitrug.

31 Zitiert nach: Jelavich, Satire under Socialism, S. 170. 32 Zitiert nach: Ensikat, Ab jetzt geb’ ich nichts mehr zu, S. 121. 33 Zitiert nach: Jacobs, Untersuchungen zum DDR-Berufskabarett der Ära Honecker, S. 257. 34 Jelavich, Satire under Socialism, S. 175.

50 Alfred Dorfer: Satire in der DDR

„Der Witz – oder sagen wirs etwas vornehmer: die Satire – macht keine Revo- lution. Aber sie kann helfen diese vorzubereiten. Ich behaupte – nun laßt mich auch mal ein bißchen größenwahnsinnig sein – die Satire hat diese Revolution in der DDR mit vorbereitet. Was da zwischen gedruckten Zeilen stand, aus den Kabarettkellern und Theaterbühnen erklang, war keine mächtige Internationa- le. Es war das leise, manchmal auch lauter werdende und nicht totzukriegende Verlachen des Bestehenden.“35 Die andere Seite sah dies naturgemäß anders, zumindest solange sie das noch ver- mochte. Man unterstellte der „Herkuleskeule“ und hier im besonderen Ensikat und Schaller, dass es sich um „frustrierte Autoren“ handelte, die „Partei und Staat belei- digen wollten“.36 Das Programm Auf dich kommt es an, nicht auf alle wurde nach langem Tauziehen im Vorfeld doch zugelassen. Der Plot war ein alternativer Parteitag, der im Pro- grammheft als Außenseiterkonferenz angekündigt wurde, das Publikum wurde als „Abgeordnete“ begrüßt und das Programmheft selbst war eine Delegiertenmappe. Die Darsteller agierten zunächst vom Publikum aus. Man schickte in der Folge einen Darsteller auf die Bühne, der widerwillig den Versammlungsleiter geben musste. Es wurde insinuiert, dass jeder die gleichen Rechte hätte, und die zunächst gängigen Parodien auf langatmige Parteitagsreden wurden mit Fortdauer des Abends abgelöst durch ein sich verdichtendes Stück Kabarett, das in der Folge zum Auftreten der Außenseiter führte – der Arbeiter, die sich nach wie vor in einer rechtlosen Situation befänden, wogegen die Funktionäre in der Hierarchie den Ton angäben. Die „glei- chen Rechte“ seien lediglich eine Phrase. Nach dem Thema der sozialen Unausgewogenheit folgte das Thema Bildung. Als Parodie Bezug nehmend auf das alte Arbeiterkampflied Solln im Gleichschritt uns entfalten und im Kampfe stille stehn wurde die hohle Rhetorik der tatsächlich nicht mehr stattfindenden Bildungspolitik thematisiert. Es ist hier nicht notwendig, auf die absolute Brisanz dieser beiden Aspekte im Programm der „Herkuleskeule“ hin- zuweisen, da zwei Grundpfeiler des offiziellen Systems, Bildung und soziale Gerech- tigkeit beziehungsweise Gleichheit, ad absurdum geführt wurden. Folgende Passage wurde in diesem Zusammenhang leicht nachvollziehbar zensiert: „Eins – 2, 3, 4, 5, 6, 7 Ich hab eine Fünf geschrieben Thema war ganz klar gestellt Sozialismus, deine Welt. Ich schrieb, was mir nicht gefällt. Was mich ärgert, was mich quält. Klar, das Thema war verfehlt.“37

35 Ensikat, Ab jetzt geb ich nichts mehr zu, S. 336. 36 Zitiert nach: Klötzer, Satire und Macht, S. 211. 37 Zitiert nach: Ebenda, S. 215.

51 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

Es war offensichtlich, dass dieses Programm den eben zu Ende gegangenen Parteitag als Anlass nahm. Die Ausgegrenzten dieser Produktion der „Herkuleskeule“ waren die typischen Repräsentanten der DDR in programmatischer Hinsicht, es wurde also ein Staat auf die Bühne gestellt, der sich seiner Ideale entledigt hatte. Hierin lagen auch unter anderem die Gründe, warum es von der ersten Konzeption bis zur Erstaufführung von Auf dich kommt es an, nicht auf alle zwei Jahre brauchte. Dennoch erstaunlich, zumindest in der Theorie, da das Programm doch eine An- forderung erfüllte, die Bodo Zabel, der Leiter der Abteilung Unterhaltungskunst im Ministerium für Kultur, an das Kabarett stellte, nämlich jene der Bewusstmachung des Umstands des verletzten Ideals: „Die Besonderheiten des Kabaretts sind zu suchen in der schnellen Reaktion auf Erscheinungen der Gesellschaft, in einer der Satire eigenen Sichtweise, die besonders stark vom verletzten Ideal ausgeht, die also positive politische Ab- sichten aus der Sicht der Negation ins öffentliche Bewußtsein bringt“.38 Sehr früh forderte Schaller bereits die SED-Bezirksleitung auf, Einwände bezüglich der Textvorlage anzumelden, und betonte in seinem Schreiben an die begutachten- den Instanzen immer wieder seine Loyalität: „Wir sind keine Untergrundkämpfer, sondern wollen Mitstreiter und Verbündete sein“.39 Die Autoren der „Herkuleskeule“ wurden in der Folge vorgeladen und davon infor- miert, dass „die progressive Wirkung als Anliegen der Satire fehle“.40 Es folgte ein langwieriges Lavieren von beiden Seiten, schließlich wurde das Programm aber von offizieller Stelle als nicht staatsfeindlich eingestuft und so der Weg zumindest bis zur Abnahme geebnet. Entscheidend war an Auf dich kommt es an, nicht auf alle, dass man aus dem Pro- gramm Spitzen, einzelne Pointen und dergleichen nehmen oder streichen konnte, was nichts am grundsätzlichen Problem für die Zensoren änderte, das darin be- stand, dass Inhalt und Plot an sich die gefährliche Pointe waren. Dies hatte aber auch den Vorteil, dass solche Programme grundsätzlich schwerer zu zensieren waren. Eine solche Form des Kabaretts, die theatralischer war als in der Vergangenheit, lag durchaus im Trend. Man meinte es ernst, oder gab dies vor, unter dem Schlagwort der ‚helfenden Kritik‘, die zumindest theoretisch von offizieller Seite eingefordert wurde. Es wurde zwar keine optimistische Perspektive aufgezeigt, doch eben das konnte als Aufforderung verstanden werden, sich bewusst zu machen, dass die Le-

38 Bodo Zabel: Zu ausgewählten Tendenzen und Problemen bei der Entwicklung des politisch satirischen Berufskabaretts in der DDR. In: Auswertung der 3. Werkstattage des Berufska- baretts vom 14. bis 18. Januar in Gera. SächsHstA IV E-2 / 9 / 02 / 570, zitiert nach: Ebenda, S. 218. 39 Schreiben Wolfgang Schallers an Dr. Cassier, SED-Bezirksleitung Dresden, Abt. Kultur, vom 6.9.1985, zitiert nach: Ebenda, S. 220. 40 Zitiert nach: Ebenda, S. 221.

52 Alfred Dorfer: Satire in der DDR bensumstände in der DDR optimiert werden sollten, was wiederum einen positiven, fast optimistischen Ansatz repräsentiert hätte. Diese Zeilen lesen sich selbst wie Kabarett, waren aber der reale Alltag der DDR im Zusammenwirken von Kabarett, Satire und Zensur. Hierbei ist noch einmal zu be- tonen, dass der Hauptkonflikt nicht auf der Ebene ‚offizieller Staatssozialismus der DDR versus gesellschaftsveränderndes Kabarett in Richtung westliche Zustände‘ lag. Die meisten Kabarettisten wollten den Sozialismus und es lag ihnen viel daran, diesen in der Realität der DDR umzusetzen. Die offizielle DDR als Gegenpart sah sich aber angesichts allzu sozialistischer Ideale und Anliegen eher gefährdet. Weitere Gegner dieser Bestrebungen waren die Kollegen selbst, die einen Nebenjob bei der Stasi unterhielten. Es lag also der Schluss nahe, dass nur eine vollkommene Verhin- derung des Programms Auf dich kommt es an, nicht auf alle das Problem zu lösen imstande war. Bleibt die Frage, warum es schließlich doch zugelassen wurde. Abgesehen vom erwähnten Problem der Zensur im Sinne der Greifbarkeit staats- feindlicher Elemente bei dieser durchgehenden Dramaturgie bestand auch eine au- ßergewöhnlich gute Gesprächsbasis zwischen der Leitung des Kabaretts und der Bezirksleitung. Des Weiteren nimmt das Programm Bezug auf die sowjetische Re- formpolitik und findet dann doch noch zu einem optimistischen Ansatz, indem es der Hoffnung Raum lässt, diese könne sich auf die DDR übertragen. Im Jahre 1985 wandte sich Wolfgang Schaller, der Autor der „Herkuleskeule“, an die SED-Bezirksleitung Dresden. Das Schreiben liest sich wie ein Programm, muss aber unter Bedachtnahme des Umstands betrachtet werden, dass es sich um die Zeilen eines Kabarettisten (!) an seine Zensurabteilung handelt – das Spiel mit dem doppelten Boden ist hier inkludiert: „Ich halte diese Sehnsucht nach einem sozialistischen Hollywood, wo jedes Problem schön bunt retuschiert wird, für genauso gefährlich wie die graue, alles negierende Sicht einiger Künstler. Ich schreibe das nur deshalb, weil auch bei der Diskussion in der Keule Träume unwidersprochen blieben, wie lustig es doch einst auf der Kabarettbühne bei Schlagloch- und Klopapierwitzen her- ging. Nein, ich kann meine Aufgabe nur darin sehen, mich und andere in Dis- kussionen zu verwickeln, die Menschen belastbar zu machen für Widersprüche, auch für solche, mit denen wir noch lange leben müssen. Wenn ich was bewe- gen will, muß ich mich und die anderen verunsichern. Angst, ein Problem beim Namen zu nennen, ist dabei ein schlechter Ratgeber.“41

41 Brief von Wolfgang Schaller an Dr. Cassier, SED-Bezirksleitung Dresden, Abt. Kultur vom 14.11.1985. Dresden SächsHstA IVE-2 / 9/ 02/ 570, zitiert nach: Sylvia Klötzer: Herrschaft und Eigen-Sinn: „Die Herkuleskeule“ Dresden. In: Die freche Muse, S. 179–194, hier S. 179.

53 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

Die zum Teil verordnete und zum Teil geduldete Satire wirkte vornehmlich zwischen den Zeilen in Kooperation mit einem Publikum, das zwischen den Zeilen zu hören imstande war. Die Diskrepanz zwischen dem Soll- und dem Ist-Zustand, zwischen der offiziellen Wahrheit und der inoffiziellen Wirklichkeit war der Nährboden des Witzes im DDR-Kabarett. Das ist nun kein Spezifikum an sich, es gab lediglich eine größere Differenz zwischen der Inszenierung der Harmonie im öffentlichen Raum und der tatsächlich stattfindenden privaten Situation als im Westen. Das Kabarett der DDR war also im Grunde bereits dazu angehalten, ein universelleres Kabarett zu kritisieren. Die unfreiwillig komische Inszenierung des Staates DDR (mit stark tragischen Zügen wie Menschenrechtsverletzungen oder Maueropfern) galt es kaba- rettistisch zu entlarven, in gewisser Hinsicht ein interdisziplinäres Unterfangen.

B) Historische Rahmenbedingungen War der Staat DDR überhaupt vorhanden im Sinne eines autonomen Handlungs- spielraums oder war er ein Appendix der sowjetischen Zentralmacht? Ist in diesem Falle nicht eher von einem Statthalterprinzip seitens der SED mit Unterstützung der Stasi zu sprechen, und liegt damit nicht eine Verifikation Hannah Arendts vor, die Totalitarismus im eigentlichen Wortsinn als „gegen den Staat gewandt“ betrachtet hatte? Arendt befürwortete eher den Begriff des „totalitären Systems“, das inner- halb eines scheinbaren Staatsgebildes als oligarchischer Machtfaktor zu existieren scheint: „Daß man die Sowjetunion im strengen Sinn des Wortes nicht mehr totalitär nennen kann, zeigt natürlich am deutlichsten das erstaunlich rasche und üppi- ge Wiederaufblühen der Künste in den zehn Jahren. Gewiß, es gibt periodisch wiederkehrende Anregungen, Stalin zu rehabilitieren und die von Studenten, Schriftstellern und Künstlern immer lautstarker vorgebrachten Forderun- gen nach Rede- und Gedankenfreiheit zu unterdrücken, aber sie sind bisher durchwegs ohne großen Erfolg geblieben und werden es wohl auch in Zukunft bleiben“.42 Arendts Definition scheint zweifelhaft: Zunächst wird hier von einem streng politi- schen Ansatz ausgegangen, der „Diktatur“ nicht gleichsetzt mit „totalitär“, gleicher- maßen werden aber, um Missverständnisse zu vermeiden, die Mankos aufgelistet: „[…] ohne Zweifel werden dem sowjetischen Volk alle denkbaren politischen Frei- heiten vorenthalten, nicht nur die Versammlungsfreiheit, sondern auch die Freiheit des Gedankens, der Meinung und der öffentlichen Meinungsäußerung“.43 Interes- sant ist in diesem Zusammenhang der Ansatz Arendts, das totalitäre System und die freie Meinungsäußerung – ein Grundrecht westlicher Demokratien – nicht in unmittelbaren Konnex. Die Unterdrückung der Redefreiheit bedingt also nicht un- bedingt den Tatbestand des totalitären Systems im engeren Sinn.

42 Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt am Main: Europä- ische Verlagsanstalt 1955, S. 650. 43 Ebenda.

54 Alfred Dorfer: Satire in der DDR

Arendt fokussiert die totalitären Bewegungen schwerpunktmäßig auf die Führer- gestalten, bei denen sie als Gemeinsamkeit die rasche Vergänglichkeit ihres Ruhms und die stupende Schnelligkeit und Leichtigkeit, mit der sie ausgewechselt werden können, erkennt. Was die DDR betrifft, zeigt die Historie, dass das nicht der Fall sein muss. Ein wesentlicher Punkt dieses monolithischen Prinzips im Sinne seiner Fragwürdigkeit war stets die Divergenz zwischen Parteiinteressen und Staatsinteres- sen, wie am Beispiel der Sowjetunion zu erkennen war: „[…] es lag in der Zurück- drängung der Partei als der politische Entscheidungen treffenden Gruppe, seit Le- nins Theorie über die Organisation der Partei hat sich das Konzept der Diktatur des Proletariats zum Konzept der Diktatur der bolschewistischen Partei gewandelt.“44 Die Partei werde gebraucht, so Stalin, um die Diktatur des Proletariats zu ermög- lichen. Anders als die NSDAP, die als Leiterin der öffentlichen Meinung fungieren sollte, lag die der Kommunistischen Partei zugedachte Rolle darin, die Massen zu lenken. Die Herrschaft Stalins bedeutete in der Praxis jedoch eher Nepotismus als parteiinterne Entscheidungsfindung. Erst in der Ära nach Stalin konnte die Kom- munistische Partei in der Sowjetunion eine beherrschende Rolle einnehmen, so ge- lang es etwa Chruschtschow, die Autorität der Partei gegenüber den Ansprüchen der Geheimpolizei oder der Armee zu wahren. Im Fall der Entwicklung des kommunistischen Gesellschaftssystems ging die Ent- wicklung der politischen Religion mit deren Säkularisierung einher. Ljudmila An- dreevna Mercalowa hält eine Gleichsetzung von nationalsozialistischem und kom- munistischem System im Sinne einer identischen Herrschaftsform für unzulässig: „Pumpjanski stellte den Hitlerschen Nationalsozialismus mit dem Stalinismus- Sozialismus auf eine Stufe. Andere Autoren, die eine extrem konservative Auf- fassung der Doktrin vertreten, weisen den Gedanken vom Sozialismus als einer Abart des Totalitarismus zurück und meinen, daß Sozialismus und Totalita- rismus Synonyme seien (K. Ljubarskij). Indem er sich einer falschen Verallge- meinerung bedient, fordert I. Zaslavskij dazu auf, in einer Einheitsfront gegen das totalitäre System, das auf der ganzen Welt einfach Kommunismus genannt wird, vorzugehen“.45 Mercalowa sieht im Nationalsozialismus wie auch im Stalinismus besonders „grelle und widerwärtige Erscheinungen des Totalitarismus“, deren Wurzel sie im 19. Jahr- hundert ortet. Sie widerspricht aufgrund dieser historischen Erfahrung der Annah- me, es gebe so etwas wie einen „progressiven“ Autoritarismus, dessen Etymologie sie überraschend mit „furchteinflößend“ herleitet. Sie erwähnt zwar ähnliche Aus- gangsbedingungen für den Stalinismus und den Hitlerismus, hebt jedoch die Diffe- renzen als überwiegend hervor:

44 Michael Curtis: Totalitarismus – Eine monolithische Einheit? In: Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung. Herausgegeben von Eckhard Jesse. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1996, S. 277–285, hier S. 283. 45 Ljudmila Andreejevna Mercalowa: Stalinismus und Hitlerismus – Versuch einer verglei- chenden Analyse. In: Totalitarismus im 20. Jahrhundert, S. 200–212, hier S. 200.

55 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

„[…] der Stalinismus bildete sich unter den Verhältnissen der Zerstörung der kapitalistischen Beziehungen heraus, der Hitlerismus auf der Grundlage ihrer Stärkung; der erste auf der Welle des wirtschaftlichen Aufschwungs, der zweite auf der Welle der ‚großen Depression‘, der in der Geschichte des Weltkapitalis- mus vielleicht tiefsten Überproduktionskrise“.46 Im Prinzip gilt als Kriterium für die Systeme des ehemaligen Warschauer Paktes, ob die Gleichschaltung allumfassend war oder ob es Zellen der Gesellschaft gab, die davon nicht erfasst wurden: „Erstens das, was [Joachim] Friedrich und [Zbigniew] Brzezinski ‚Inseln der Absonderung‘ genannt haben. Also die Institutionen und Traditionen, die so- zialen Gruppen und Lebensbereiche, die sich als mehr oder weniger resistent gegen den massiven Versuch der Gleichschaltung erwiesen haben. Hier wäre die soziale, ökonomische und kulturelle Ausgangslage der Länder zu unter- suchen, in denen totalitäre Regime zur Macht kamen. Hierzu gehört die ver- gleichende Analyse des Verhaltens von Parteien, Kirchen, Universitäten usw. in totalitären Systemen. Hieraus ergäbe sich z. B. eine Erklärung dafür, daß es in der Sowjetunion kaum eine Institution oder Gruppe gab, die als solche der Gleichschaltung widerstand (wie vergleichsweise die Kirche und ein Großteil der Intellektuellen in Polen). Zweitens wäre gewiß der Zeitfaktor zu betrachten. Es wird oft gesagt, es bedeute einen großen Unterschied, ob eine Gesellschaft 40 oder 70 Jahre lang totalitär beherrscht worden sei. Daran möchte ich nicht zweifeln. Es ist für die Zukunftschancen posttotalitärer Gesellschaften wichtig, ob bei den Lebenden noch Erinnerungen an vortotalitäre Zeiten vorhanden sind und Möglichkeiten des Anknüpfens an alte Traditionen bestehen. Aus den hier vorgetragenen Überlegungen ergibt sich jedoch, daß der Zeitfaktor auch positive Bedeutung haben kann. Erlebt zu haben, was eine totalitäre Diktatur ist, aber auch wie sie an ihr Ende kam, kann auch als Voraussetzungen dafür gewertet werden können, daß die Bürger Mittel- und Osteuropas an der ge- wonnenen Freiheit festhalten werden.“47 Im Bestehen solcher „Inseln der Absonderung“ kann man die Chancen nicht nur ei- nes reliablen Widerstands ablesen, sondern auch die Emphase, nach Beendigung des restriktiven Systems nicht mehr darin zurückzufallen. Ein wesentlicher Punkt, der die DDR dann doch von der Sowjetunion unterschied und den relativ reibungslosen und raschen Übergang zu einer neuen Gesellschaftsform erklären könnte. Das Ka- barett in der DDR war in jedem Fall – bei aller reduzierten Breitenwirksamkeit – so eine „Insel der Absonderung“. Zwar vom Staat unterstützt, zensuriert und kontrol- liert, doch als Kontrapunkt zugelassen und partiell akzeptiert.

46 Ebenda, S. 202. 47 Karl Graf Ballestrem: Der Totalitarismus in Osteuropa und seine Folgen – eine theoretische Betrachtung. In: „Totalitarismus“ und „politische Religionen“. Konzepte des Diktaturver- gleichs. Herausgegeben von Hans Maier. Bd. 1: A. Referate und Diskussionsbeiträge der internationalen Arbeitstagung des Instituts für Philosophie der Universität München vom 26.–29. September 1994. Paderborn [u. a.]: Schöningh 1996. (= Politik- und kommunikati- onswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft. 16.) S. 259.

56 Alfred Dorfer: Satire in der DDR

„Unterhaltung und Belehrung“ seien die finalen Aufgaben der Satire. Was war nun der Kontrapunkt der Künstler des DDR-Kabaretts? Was war das Aufklärerische, das Jürgen Henningsen als essentielles Merkmal des Kabaretts postuliert? Das Kabarett sei „Engagement für die Demokratie“.48 Durch Mündigkeit solle Freiheit erreicht werden. Dennoch schränkt Henningsen die Wirkungsmöglichkeiten des Kabaretts ein: „Das Kabarett […] täte gut daran, seine Möglichkeiten nicht zu überschätzen: es ist weder so stark noch so gefährlich, wie seine Anhänger und Gegner wünschen oder befürchten.“49 Für die DDR eine allzu wahre Feststellung. Es war nicht Ziel der Kabarettisten, ähnliche Verhältnisse wie in der BRD zu schaffen. Diese galt vor und nach dem Mauerbau als Feindbild. Walter Rösler schrieb 1977 enthusiastisch in der in der DDR erschienenen Kabarett- geschichte über die rapide Entwicklung auf dem Boden der „damaligen sowjetischen Besatzungszone“, die rasche und konsequente Enteignung der Kriegsverbrecher, die Bodenreform und die gewaltigen Erfolge in der Errichtung eines einheitlichen demokratischen Systems.50 Wie es damals um die Meinungsfreiheit und andere de- mokratische Qualitäten stand, verschweigt dieser Enthusiasmus. Aufgrund dieser behaupteten Prosperität erhielt auch die DDR-Satire eine völlig neue Funktion zu- geschrieben, die sie grundlegend von der Satire der bürgerlichen Gesellschaftsord- nung unterschied: „Befindet sich diese in ständiger Opposition gegen die eigene Ge- sellschaftsordnung, ist ihr Angriffsziel die bürgerliche Gesellschaftsordnung selbst samt ihrer Grundlagen, Ziele und Interessensvertreter“.51 Ist eine Satire, die sich gegen die bürgerliche Werteordnung wendet, nicht im Grunde gutzuheißen? Wenn sich also die bürgerliche Satire gegen ihre eigene Gesellschaftsordnung wendet, ist sie dann nicht im Sinne der Dialektik sozialistisch? Wenn nicht, müsste sie feudal sein, was man bei aller Antipathie dem Westkabarett gegenüber schwer behaupten hätte können, da sie in jedem Falle keine Satire im Sinne der Mächtigen war – zumindest in den allermeisten Fällen: „[…] so geht die Satire in der sozialistischen Gesellschaftsordnung von der Identifikation mit der Gesellschaft aus, von der Übereinstimmung der Ziele der Satire mit denen der Ge- sellschaft und ihrer Interessensvertreter.“52 Die prinzipielle Übereinstimmung der Intentionen des Satirikers mit jenen seines Interessensvertreters ist im politischen Sinne nicht grundsätzlich höfisch. Denn die Rolle des Hofnarren, des privat bezahl- ten Unterhalters am Hofe des Fürsten, war hier in der DDR weniger eng gefasst. Die Loyalität des Satirikers mit dem System und dessen Repräsentanten scheint ein sehr schmaler Zugang zur Satire und ihren Freiheiten.

48 Jürgen Henningsen: Theorie des Kabaretts. Ratingen: Henn 1967, S. 18. 49 Ebenda. 50 Vgl. Otto / Rösler, Kabarettgeschichte, S. 208. 51 Ebenda, S. 209. 52 Ebenda, S. 210.

57 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

„Die Satire in der bürgerlichen Gesellschaft begreift sich als Ankläger der Ab- sichten und Praktiken des Staates und seiner führenden Klasse, der Bourgeoi- sie, die Satire in der sozialistischen Gesellschaft weiß sich im Bunde mit den Zielen und Errungenschaften des sozialistischen Staates und seiner führenden Klasse, der Arbeiterklasse.“53 Wenn man der Satire der bürgerlichen Gesellschaft vorwirft, gegen die Mächtigen zu sein, ergibt sich eine gewisse Unschärfe im Wortsinn. Satire, die sich im Bunde weiß mit den Errungenschaften des sozialistischen Staates und vorgibt, dass die Arbeiterklasse, zu welcher Zeit auch immer, die führende Klasse sei, stimmt ins fal- sche Lied der Mächtigen mit ein, ist also nicht Satire im originären Sinne, sondern Hofberichterstattung in humoristischer Form zur Verfestigung einer Machtlüge – insofern hatte sie also doch höfische Funktion. Eckhard Jesse spricht in diesem Zusammenhang von einem unterschiedlichen De- mokratieverständnis. Aus marxistisch-leninistischer Sicht stellt sich der Unterschied zwischen sozialistischer und bürgerlicher Demokratie folgendermaßen dar: In der sozialistischen Demokratie, die sich gesetzmäßig herausgebildet hat, geht die Macht von der Arbeiterklasse und ihrer klassenbewussten Partei aus. Sie wird zum Wohl der Allgemeinheit ausgeübt: „Die Interessen der Einzelnen fallen mit denen der Gesamtheit zusammen. Zunehmende soziale Errungenschaften prägen das gesellschaftliche Leben, das durch die Beteiligung der Bürger an der Planung und Gestaltung zwecks Wei- terentwicklung der eigenen Persönlichkeit gekennzeichnet ist. Im Gegensatz zur bürgerlichen Demokratie, bei der sich das Privateigentum an Produktions- mitteln in der Hand einer kleinen Minderheit konzentriert.“54 Aus dieser Sicht muss also zwischen zwei verschiedenen Formen kapitalistischer Staaten unterschieden werden, nämlich der „bürgerlichen Demokratie“ und dem faschistischen System. Dagegen unterscheidet das westliche Demokratieverständnis zwischen Demokratien und Diktaturen. Bei Letzteren kann es sich entweder um totalitäre oder autoritäre handeln. Als Merkmale der Demokratie gelten: autono- me Legitimation der Herrschaftsstruktur und der Regierenden, heterogene Gesell- schaftsstruktur und Unabhängigkeit der Judikatur. Dennoch sieht Gerhard Lozek in dem im Jahre 1985 erschienenen Werk Die To- talitarismus-Doktrin im Antikommunismus – zumindest aus dem Blickwinkel der 1960er-Jahre – zwar die Singularität des Hitlerregimes, verweist aber auf eine gewis- se Wesensverwandtschaft zur damaligen BRD, besonders in Hinblick auf den „nach

53 Ebenda, S. 211. 54 Eckhard Jesse: Die „Totalitarismus-Doktrin“ aus DDR-Sicht. In: Totalitarismus im 20. Jahrhundert, S. 424–449, hier S. 425.

58 Alfred Dorfer: Satire in der DDR innen gewandten Terror“, der über „pseudoliberale Herrschaftsformen“ obsiege.55 Er spricht etwa zwanzig Jahre später von der Totalitarismus-Doktrin, die lediglich als probates Mittel des Antikommunismus tauge. Im Werk Die Totalitarismus-Doktrin im Antikommunismus wird konsequent zwi- schen der konservativen Spielart und dem „Sozialreformismus“ unterschieden.56 Im Wesentlichen wandten sich Lozek und seine Mitautoren gegen den weit verbreiteten Usus, dass sich die westliche Totalitarismus-Doktrin in erster Linie gegen den realen Sozialismus richte. Die Totalitarismustheorie sei ein Produkt des Kalten Krieges, um die DDR und andere sozialistische Staaten zu diskreditieren. Weiters konnte man in der DDR die im Westen anerkannte Unterscheidung zwi- schen autoritären und totalitären Systemen nicht akzeptieren und klassifizierte diese Unterscheidung als eine Kampagne gegen Links. Der fließende Übergang zwischen „autoritär“ und „totalitär“ sei durchaus nicht gegeben, wie bei „demokratisch“ und „nicht demokratisch“, hält Jesse entgegen und fokussiert seine Kritik an der Kritik der Totalitarismus-Doktrin lediglich in einer gewissen ideologischen Idiosynkrasie der DDR-Wissenschaft gegenüber westlicher Forschung.57 Das war zwar der Fall, dennoch erklärt sich das Phänomen damit nicht vollständig. Die Unterscheidung allerdings, die sich auf „bürgerlich“ und „nicht bürgerlich“ be- schränkt, trifft den Aspekt der Hierarchie kaum. Den Künstlerinnen und Künstlern des DDR-Kabaretts ging es jedoch primär um die Umsetzung eines Ideals. Sie wa- ren solidarisch mit einem System, wenn auch in Form eines Utopos, und sahen das Regime als Hindernis auf dem Weg zu diesem Ideal. Stellvertretend ein Zitat von Peter Ensikat, der jene Hybris wie folgt beschreibt: „Ein Satiriker ist, um Tucholsky zu zitieren, ein ‚beleidigter Idealist‘. Es ist die Pflicht der Künstler, an die Utopie zu erinnern, in meinem Falle an die Idee des Sozialismus. Ich messe den Abstand zwischen Ideal und Wirklichkeit.“58 Um den Abstand zu verkleinern, gab es Richtli- nien, die das Staatliche Komitee für Unterhaltungskunst herausgab, um den rechten Weg zu weisen. Dieser wurde von Ensikat im doppelten Sinne interpretiert: „Linkes Gedankengut war der schwarzen SED-Führung immer das Gefährlichste. An ihm konnte man allzu leicht ermessen, wie wenig diese DDR mit dem zu tun hatte, was auch heute für mich links ist.“59 Die Perspektiven verschoben sich durch die Ereignisse des Jahres 1989, der so ge- nannten Wende, noch einmal, sogar innerhalb der „nicht bürgerlichen“ Deutungen

55 Vgl. Autorenkollektiv unter der Leitung von Gerhard Lozek: Die Totalitarismus-Doktrin im Antikommunismus. Kritik einer Grundkomponente bürgerlicher Ideologie. Berlin [DDR]: Dietz 1985, S. 429. 56 Ebenda. 57 Vgl. Jesse, Die „Totalitarismus-Doktrin“ aus DDR-Sicht, S. 425. 58 Ensikat, Ab jetzt geb ich nichts mehr zu, S. 72. 59 Ebenda, S. 73.

59 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

der Totalitarismusproblematik. Wenn also nach Thomas von Aquin die Oligarchie als der Terror Weniger (Geeigneter) angesehen wird und daher in der historischen Chronologie wiederkehrend, ja sogar redundant scheint,60 so wäre in diesem Fall die ideologische Ausrichtung sekundär. Auffällig ist die Parallele im Sinne der Überein- stimmung der politischen Utopien und der Opposition zur realpolitischen Macht- struktur zwischen den Futuristen und dem DDR-Kabarett. Beide konnten in der Theorie mit dem jeweiligen restriktiven System übereinstimmen, was das dynami- sche Element der Gesellschaftsveränderung betraf. Diese Übereinstimmung fand jedoch nur in der Theorie statt, da beide Regime durch die realpolitische Erosion im Sinne der praktischen Machterhaltung auf dem Weg zum Ideal stehen geblieben waren oder sich konträr entwickelt hatten. Satire muss also nicht notwendigerweise Demokratisierung zum Ziel haben, zumal der aufklärerische Aspekt unterschiedlich interpretiert werden kann. Satire kann, und das scheint überraschend, durchaus unterstützenden Charakter für ein auto- ritäres politisches Umfeld haben, so sie sich über die utopisch-theoretische Ebene instrumentalisieren lässt. Die Opposition zum Machthaber ist also nicht Conditio sine qua non, wäre aber im Sinne ihrer Hauptaufgabe, der intellektuellen Aufklä- rung unter den Rahmenbedingungen der ethischen Verantwortlichkeit, relevant. Beim Kabarett der DDR verhielt es sich differenzierter. Zunächst müssen historisch zwei Phasen der ostdeutschen Satire unterschieden werden, die durch den Mauerbau entstanden. Vor dem Jahre 1961 galt es, die Abwanderung in den Westen auch be- züglich des Kulturkonsums einzudämmen. Zu diesem Zwecke wurden Phänomene wie der Kabarettfilm erst möglich, und das Kabarett galt zumindest als offiziell to- leriert. Initiiert durch zarte, positive Signale aus der Sowjetunion, begann die DDR ab 1953 sogar offensiv, Satire auch mit kalkuliertem, breitem öffentlichem Zugang herzustellen, wie etwa durch das DEFA-Studio. Besonders in Berlin befand man sich im direkten Vergleich mit dem kulturellen Angebot des Westteils der Stadt: „An jedem einzelnen Tag vor dem August 1961 wurde die Grenze zwischen den Städten Berlins in beiden Richtungen fünfhunderttausendmal überschrit- ten, vielmals in den gelbroten Zügen der Stadtbahn […] von neun Bewoh- nern beider Berlin war immer einer unterwegs, oft stellvertretend, hinüber und herüber. Die Städte blieben einander wenigstens bekannt, flüchtig verwandt, locker verwachsen.“61 Da der Westteil zu Fuß oder per S-Bahn erreichbar war, entging den Bewohnern Ostberlins naturgemäß nicht der rasch aufschießende Kabarett-Boom Westberlins

60 Vgl. Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten [De regimine principum, um 1256]. Aus dem Lateinischen von Friedrich Schreyvogl. Stuttgart: Reclam 1971. (= Univer- sal-Bibliothek. 9326.) S. 9. 61 Uwe Johnson: Boykott der Berliner Stadtbahn. In: U. J.: Berliner Sachen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975. (= Suhrkamp-Taschenbuch. 249.) S. 22–37, hier S. 22.

60 Alfred Dorfer: Satire in der DDR in den frühen 1950er-Jahren. Dem galt es ein Gegengewicht zu bieten, das von der SED praktisch gefördert und partiell inhaltlich unterstützt wurde. „Satire ist das, was sein muß“,62 sprach Walter Ulbricht, Staatsratsvorsitzender der DDR. Aber war die Satire in der DDR so etwas wie eine „Satire mit Maulkorb“, wie Hans Seifert anmerkte? „Wir sind immer davon ausgegangen, wir tun der Republik einen großen Ge- fallen, denn wir dokumentieren vor der Öffentlichkeit: wir dürfen hier sehr kritisch unsere Arbeit beleuchten […] wir demonstrieren, ja bei uns kann ein kritisches Wort geäußert werden, wo Fehler auftreten. Das war unsere Aus- gangsposition. Ja und dafür wurden wir belehrt. Das ist ja parteifeindlich, staatsfeindlich, alles. Nichts Positives, nichts Gutes ist dran. Freilich sind wir davon ausgegangen, wir wollten etwas Gutes tun. Wir wollten die Finger auf offene Wunden legen, um Mißstände zu beseitigen – beseitigen können wir sie nicht, aber helfen, dazu beitragen, die Augen zu öffnen. Das ist immer unsere Ausgangsposition gewesen, nie etwas anderes“.63 Die Funktion des DDR-Kabaretts vor dem Mauerbau lässt sich durch zwei Aspekte definieren: Es ging – wie immer bei Satire – einerseits um die Ventilfunktion bei Re- zensenten und Kreativen, andererseits um eine Art repräsentative Duldung seitens der Parteiführung und der Zensur. Die Ventilfunktion wiederum differenziert den Aspekt der reinen Erleichterung im Sinne von Unterhaltung und jenen der Spiege- lung im Sinne der Erkenntnis durch die Methode des Humors, der Ironie etc. Doch galt das Kabarett in diesen Jahren auch als liberales Feigenblatt für die Machthaber, als Indiz für freie Meinungsäußerung und als Rechtfertigung des zweiten Buch- stabens im Landesnamen. Für die SED waren die im Grunde systemaffirmativen Kabarettisten ein willkommenes Werkzeug für die vorgeblichen demokratischen Werte eines im Grunde auf die Diktatur zusteuernden, inautonomen Staates. Die Satiriker wiederum nutzten diese liberale Zeitnische, allerdings nicht um die kom- munistische Ideologie prinzipiell infrage zu stellen, sondern um das System – zum Teil ohne Absicht – auf seinem Weg zu einer restriktiveren Politik zu unterstützen. Was wiederum für die SED im dualen Sinne hilfreich war, zum einen für die au- ßenpolitische Selbstdarstellung und zum anderen für die innenpolitische Festigung eines eingeschlagenen Weges unter sowjetischer Dominanz. So erfüllte die Satire in der DDR vor 1961 zur relativen Zufriedenheit der Macht- haber mehrere Funktionen im dialektischen Sinn. Den Kreativen in diesem Zusam- menhang intentionales Wirken zu unterstellen, wäre historisch unscharf. Kritiker von Satire im Allgemeinen führen an dieser Stelle oftmals die viel zitierte Verant- wortung der Satire an: Erstens bezüglich der Gefahr des Missverständnisses, das

62 Zitiert nach: Hierzulande. Kabarett in dieser Zeit ab 1970. Herausgegeben von Volker Kühn. Weinheim; Berlin: Quadriga 1994. (= Kleinkunststücke. 5.) S. 237. 63 Brief des ehemaligen „Eulenspiegel“-Redakteurs Hans Seifert vom 27.2.1999, zitiert nach: Klötzer, Satire und Macht, S. 9.

61 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

auch den unkritischen Rezipienten aufgrund des Unterhaltungsanteils den Genuss von Satire nicht verwehrt, und zweitens, besonders in diesem Fall, hinsichtlich der im Grunde konstruktiven Funktion in Hinblick auf ein System, das sich zusehends in Richtung Demokratieabbau bewegte. Nach dem Mauerbau stellte sich die Situation anders dar: Die außenpolitische Camouflage war marginalisiert. Ein Land mit offensichtlichen demokratischen Mankos, ohne echte Wahlen und Reisefreiheit konnte international nicht länger auf ein liberales Image hoffen. So wandelten sich auch die Rolle und Funktion des Kabaretts. Es verschwand aus der breiten Öffentlichkeit, das offizielle Bekenntnis dazu fehlte zusehends. In Bezug auf die Satire war nun ein simultanes Einherge- hen von widerwilliger Duldung und restriktivem Umgang zu beobachten. Letzterer beschränkte sich aber nicht nur auf Systemkritik im Allgemeinen, sondern auch auf allzu linke Ansätze im Speziellen. So textete Peter Ensikat im Jahre 1998 im „Distel“-Programm Man trifft sich: „Entweder, man war für den DDR-Sozialismus, der war zwar nicht gut, aber machbar, oder man war für den richtigen Sozialismus, der war zwar nicht machbar, aber gut. Wir richtigen Sozialisten waren ja für die DDR-Sozialisten so etwas, wie der Klassenfeind Nr. 2. Ein geiles Gefühl sage ich Ihnen. Als Sozialist warst Du im Sozialismus Dein eigener Gegner.“64 Ab dem Jahre 1961 wurde nicht nur „Satire durch Humor ersetzt“, sondern es be- gann die bereits beschriebene Domestizierung in dafür vorgesehenen Reservaten. Auch dort gab es Standpunktnummern, die jedoch, wenn man den meisten Doku- mentationen der Publikumsreaktionen Glauben schenken darf, die am wenigsten geschätzten waren. Peter Jelavich berichtet über die divergente Reaktion auf poli- tisch korrekte Agitation und „private Themenbereiche“: „While the pro-Soviet, pro SED, and anti-Western songs and skits received at best a lukewarm reception, the numbers that made fun of conditions in the GDR were greeted with loud laughter and applause, and accounted for cabarets popularity. Two of the favorite topics were the shoddiness of goods and services, and the hollowness of official verbiage.“65 So erfüllte das DDR-Kabarett ab den 1960er-Jahren auch eine Ventilfunktion, die den Machthabern nicht ungelegen kam. Die punktuelle Bündelung liberal-kriti- scher, aber prinzipiell noch immer systemtreuer Künstler, kontrolliert durch ein re- lativ dichtes Netz der Zensur, stellte keine wirkliche Gefahr in Hinblick auf einen etwaigen Umsturz dar. Dennoch konnte in den Kellerbühnen zwischen den Zeilen im kritischen Gelächter zumindest ein Teil des bestehenden Systemfrusts abgebaut werden. Der SED war dieses Phänomen, zumal örtlich und quantitativ limitiert, nicht wirklich unrecht. Jedenfalls kam es bis zum Jahre 1989 zu keinem Verbot dieser Kunstform.

64 Zitiert nach: Hundert Jahre Kabarett, S. 197. 65 Jelavich, Satire under Socialism, S. 168.

62 Die Komik der Extravaganza James Robinson Planché und der Londoner Unterhaltungsdiskurs der 1820er bis 1850er Jahre

Von Marion Linhardt

Der Freischütz; or, The Seventh Bullet1 Success; or, A Hit if You Like It2 English House, Juli 1824 Adelphi Theatre, Dezember 1825 Air des Max Song der Success Text: Walter M’Gregor Logan Text: James Robinson Planché nach Friedrich Kind Musik: nach Carl Maria von Weber Musik: William Hawes nach Carl Maria von Weber

Through the forests, through the meadows, In the parlour, in the kitchen, Joy was wont with me to stray Still I hear the well-known sound, While my rifle never failing, Every place you put your foot in Made each bird and beast my prey Echoes with the chorus round.

When, at length, with booty loaded, In the street the pot-boys whistles, ’Ere home rose before my sight, From the mail ’tis heard afar Agnes, smiling, came to meet me, La, la, la, la, la, la, la , &c. Cloth’d in beauty’s heavenly light.

1 Zitiert nach: The Universal Songster, or, Museum of Mirth. Bd. 1. London: Jones & Co. 1825, S. 122. – Im deutschen Original: „Durch die Wälder, durch die Auen / zog ich leich- ten Sinn’s dahin! / Alles, was ich konnt’ erschauen, / war des sichern Rohr’s Gewinn, […] Abends bracht’ ich reiche Beute, / und wie über eig’nes Glück, / drohend wohl dem Mörder, freute / sich Agathe’s Liebesblick“. Carl Maria von Weber: Der Freischütz. Partitur. Lon- don; Zürich; Mainz; New York: Eulenburg 1976, S. 100–102. 2 James Robinson Planché: Success; or, A Hit if You Like It. In: The Extravaganzas of J. R. Planché, Esq. (1825–1871). Herausgegeben von T. F. Dillon Croker und Stephen Tucker. 5 Bde. London: French 1879, hier Bd. 1, S. 24.

63 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

Was ist eine „Extravaganza“ und wer war eigentlich James Robinson Planché? Die „Extravaganza“ und ihr hauptsächlicher Vertreter James Robinson Planché be- zeichnen ein Kapitel der englischen Theater- und Populärkulturgeschichte, das au- ßerhalb des angloamerikanischen Raums in der Forschung bislang kaum Beachtung gefunden hat. Mit Planché werden selbst Theater-, Literatur- und Musikwissen- schaftler, die einigermaßen mit den Abseitigkeiten des musikalischen Theaters des frühen 19. Jahrhunderts vertraut sind, bestenfalls zwei Daten verbinden: er schrieb das Libretto zu Carl Maria von Webers „Grand Romantic and Fairy Opera“ Obe- ron or The Elf King’s Oath (1826)3 und das Melodrama The Vampire; or, The Bride of the Isles (1820), eine der frühen Dramatisierungen von John William Polidoris Erzählung The Vampyre und wesentlicher Vorläufer der Vampir-Opern von Hein- rich Marschner und Peter von Lindpaintner (beide 1828).4 Tatsächlich gehörte der weitgehend vergessene Planché (1796–1880) zu den produktivsten Persönlichkeiten der Londoner Theaterszene seiner Zeit. Ein Nebeneffekt des vorliegenden Versuchs über die Komik der Extravaganza könnte darin bestehen, in Planché einen Theater- macher vorzustellen, der in einer Mediengeschichte des Populären eine Zentralfigur abgeben müsste und der darüber hinaus ein idealer Gegenstand für die Diskussion um Fragen des kulturellen Transfers im 19. Jahrhundert wäre.5 Unter den von Planché zwischen 1818 und 1872 verfassten Stücken, deren Zahl sich – Bearbeitungen eingeschlossen – auf ca. 170 beläuft, finden sich originale Opernlibretti neben Adaptionen französischer Melodramen, Farcen neben Roman- Dramatisierungen, Antike-Parodien neben Christmas Pantomimes. Der Praxis des großstädtischen Theaters entsprechend, bewegte Planché sich frei in einem Feld von Bildern und Geschichten, das keine klaren Grenzen zwischen Sprech- und Mu- siktheater, zwischen avancierter und Unterhaltungskunst, zwischen Eigenem und

3 Da Forschungsarbeiten zu Planché rar sind, werden – bezogen auf Planchés unterschied- liche Betätigungsfelder – in diesem Beitrag auch Hinweise auf Literaturtitel gegeben, auf die nicht unmittelbar Bezug genommen wird. Zu Planché als Librettist des Oberon vgl. John Warrack: Oberon und der englische Geschmack. In: Musikbühne 76. Probleme und Informationen. Herausgegeben von Horst Seeger. Berlin: Henschel 1976, S. 15–31; Alan Fischler: Oberon and Odium. The Career and Crucifixion of J. R. Planché. In: The Opera Quarterly 12 (1995 / 96), S. 5–26; Markus Schroer: Carl Maria von Webers Oberon. Müns- ter: Agenda-Verlag 2010. 4 Vgl. Marion Linhardt: Ruthven’s Song. Der Vampir in Mélodrame, Melodrama und ro- mantischer Oper. In: Dracula Unbound. Kulturwissenschaftliche Lektüren des Vampirs. Herausgegeben von Christian Begemann, Britta Herrmann und Harald Neumeyer. Frei- burg im Breisgau: Rombach 2008. (= Rombach Litterae. 163.) S. 213–239. 5 Grundlegend zu Planché sind: Donald Roy: Introduction. In: Plays by James Robinson Planché. Herausgegeben von Donald Roy. Cambridge: Cambridge University Press 1986, S. 1–35; Jon Kenner Evans: James Robinson Planché and His Influence on Playwriting, De- sign and Staging in the Early Nineteenth-Century British Theatre. Los Angeles, University of California, Diss. [masch.] 1986; Kathy Fletcher: Planché, Vestris, and the Transvestite Role: Sexuality and Gender in Victorian Popular Theatre. In: Nineteenth Century Theatre 15 (1987), S. 9–33; Paul James Buczkowski: The Theatrical Strategies of James Robinson Planché. Detroit (Mich.), Wayne State University, Diss. [masch.] 1999.

64 Marion Linhardt: Die Komik der Extravaganza

Fremdem, zwischen Theater und populären Schaustellungen kannte. Aus franzö- sischen Märchen entwickelte er seine berühmten Fairy Extravaganzas; deutsche, französische und italienische Opern machte er ‚passend‘ für die Erwartungen des Londoner Opernpublikums, dem man nach Planchés eigener Aussage nicht allzu viel Musik zumuten durfte,6 oder er formte sie um zu spektakulären Melodramen; Stücke des älteren englischen Repertoires brachte er in Bearbeitungen neu auf die Bühne. Neben seiner Tätigkeit als Bühnenautor beschäftigte Planché sich intensiv mit Kostümgeschichte. Mit einer Reihe von Shakespeare-Produktionen an Covent Garden leitete er eine Reform des Bühnenkostüms ein, das nun konsequent an die historischen und regionalen Vorgaben des jeweiligen Stücks angepasst und nicht mehr nach der gerade aktuellen Zeitmode gestaltet werden sollte.7 Die Extravaganza, die in London ab den 1820er Jahren zu den beliebtesten Ausprä- gungen des unterhaltenden Theaters gehörte und dabei – anders als etwa das Melo- drama8 mit seinen abgegrenzten Sequenzen eines comic relief – nahezu durchgehend auf komische Wirkungen setzte, bildet einen Schwerpunkt in Planchés dramatischer Produktion.9 Eine fünfbändige Planché-Gedenkausgabe, die 1879 erschien10 und zu der Planché selbst ausführliche Kommentare beisteuerte, ist allein diesem Genre gewidmet und enthält 44 der betreffenden Planché-Arbeiten, die sich zu einer Reihe von Subgenres wie Mythen-Travestien und den bereits erwähnten Fairy Extravagan- zas fügen. Die für uns interessante Gruppe umfasst Gelegenheitsstücke von revue- artiger Struktur, für die Planché den BegriffExtravaganza zuallererst prägte. Planché hatte in Paris an den Théâtres secondaires die Form des theatralen Jahresrückblicks kennen gelernt, in dem in unterhaltsamer Weise zu Begebenheiten des städtischen Lebens Stellung bezogen wurde. Vergleichbares wollte er auch in London einführen,

6 Vgl. Planchés entsprechende Äußerungen in: The Recollections and Reflections of J. R. Planché. A Professional Autobiography. 2 Bde. London: Tinsley Brothers 1872, hier Bd. 1, S. 79–81. 7 Nicht zuletzt aufgrund seiner kostümkundlichen und antiquarischen Interessen konnte Planché Verbindungen zum englischen Königshaus herstellen: 1842, 1845 und 1851 wirkte er an der Ausstattung großer Kostümbälle von Queen Victoria mit, nachdem er bereits an- lässlich ihrer Vermählung 1840 an Covent Garden die Masque The Fortunate Isles; or, The Triumphs of Britannia (Musik: Henry Bishop) herausgebracht hatte. Vgl. hierzu die Infor- mationen bei Roy, Plays, sowie Paul Reinhardt: The Costume Designs of James Robinson Planché (1796–1880). In: Educational Theatre Journal 20 (1968), S. 524–544. 8 Zur Praxis und Rezeption des Komischen vor allem im Melodrama vgl. Merle Tönnies: Laughter in Nineteenth-Century British Theatre: From Genial Blending to Harsh Distinc- tions. In: A History of English Laughter. Laughter from Beowulf to Beckett and Beyond. Herausgegeben von Manfred Pfister. Amsterdam; New York: Rodopi 2002. (= Internatio- nale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft. 57.) S. 99– 119. 9 Zur Extravaganza vgl. Stanley Wells: Shakespeare in Planché’s Extravaganzas. In: Shakespeare Survey 16 (1963), S. 103–117; Kathy Fletcher: The Planché Extravaganzas as Victorian Popular Theatre. Bloomington, Indiana University, Diss. [masch.] 1986. 10 The Extravaganzas of J. R. Planché, Esq. (1825−1871). Herausgegeben von T. F. Dillon Croker und Stephen Tucker. 5 Bde. London: French 1879.

65 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

und da seiner Meinung nach der französische BegriffRevue nur schwerlich ins Eng- lische zu übertragen war,11 nannte er die betreffenden Stücke Extravaganza. Eine erste solche Arbeit entstand 1825 für das Adelphi Theatre: Success; or, A Hit if You Like It, eine formal noch wenig anspruchsvolle Revue, die vor allem das Ziel hat, als Jahresüberblick die zugkräftigsten Produktionen der Londoner Theaterszene he- rauszustellen und nebenbei das willkürliche, ja unsinnige Treiben von Fashion und Success im städtischen Leben zu thematisieren, erweist sich als Prototyp, auf den Planché in späteren Jahren deutlich komplexer gebaute Extravaganzas folgen ließ. Zur Verständigung über den Ablauf einer Extravaganza und als erster Hinweis da- rauf, mit welchen Mitteln in diesem Genre komische Wirkungen erzielt werden (sol- len), hier nun zunächst einige Bemerkungen zur Gestalt von Success; or, A Hit if You Like It: Ort der Handlung ist der Palast des Statthalters Fashion, des Nachfolgers des von Kaiser Whim entlassenen Common Sense. Der Palast vereinigt in sich die Architekturen aller Zeiten und Länder – angefangen vom Parthenon bis zur Londo- ner Patent Shot Manufactory – und ist mit Nachbildungen der berühmtesten Figu- ren geschmückt: zu sehen sind der Apollo von Belvedere, die Venus de’ Medici, die so genannte „Hottentot-Venus“ Sara Baartman, die von einem englischen Schiffs- arzt aus ihrem Herkunftsland Südafrika nach Europa gebracht und 1810 / 1811 an verschiedenen Orten in London ausgestellt worden war,12 sowie der als „Anatomie Vivante; or, Living Skeleton“ bekannte „dünnste Mann der Welt“ Claude Ambroise Seurat, der sich 1825 im Chinese Saloon13 in Pall Mall produzierte. Fashions Sorge gilt seiner launischen Tochter Success, die bislang keinem der Bewerber um ihre Hand, denen sie sich zugewandt hat, treu geblieben ist. Deshalb hat Fashion heute elf Zeitungen eingeladen, die Success beraten sollen. Success’ Ansinnen, sie wolle eine freie Wahl treffen, hält Fashion entgegen, dass sich seiner Anordnung entspre- chend niemand selbst eine Meinung bilden dürfe, dass man vielmehr stets die Zei-

11 In seiner Einleitung zu Success; or, A Hit if You Like It im ersten Band der Ausgabe der Extra- vaganzas schreibt Planché: „[…] I have never been able to find an English word that would convey to English ears a satisfactory definition of a French ‚Revue.‘ The literal translation would suggest either a military spectacle or a critical magazine; and yet it is, undoubtedly, a ‚Review‘ of the dramatic productions of the past season […].“ The Extravaganzas, Bd. 1, S. 13. 12 Eine ausführliche Kommentierung der von Planché verarbeiteten historischen und zeitge- nössischen Motive aus Literatur, bildender Kunst, Musik, Alltagskultur und Technik würde ein Kompendium des populären Wissens im England des frühen und mittleren 19. Jahr- hunderts ergeben. Dies zu leisten ist im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht möglich; immerhin soll für verschiedene Motive auf einschlägige Forschungsliteratur verwiesen wer- den. Zu Sara Baartman vgl. Clifton Crais, Pamela Scully: Sara Baartman and the Hotten- tot Venus: A Ghost Story and a Biography. Princeton: Princeton University Press 2009; Sabine Ritter: Facetten der Sarah Baartman. Repräsentationen und Rekonstruktionen der ‚Hottentottenvenus‘. Münster; Berlin: Lit Verlag 2010. (= Racism Analysis. Series A: Studies. 1.) 13 Nach wie vor unerreicht in der Darstellung des weiten Spektrums von Schaukünsten in London ist Richard D. Altick: The Shows of London. Cambridge, Mass.; London: Belknap Press 1978.

66 Marion Linhardt: Die Komik der Extravaganza tungen zu konsultieren habe. Immerhin erlaubt er Success, noch einmal eine Reihe von Bewerbern zu empfangen, darunter Zamiel aus Carl Maria von Webers Oper Der Freischütz (in der Version von Walter M’Gregor Logan und William Hawes) als Repräsentant des Lyceum Theatre (English Opera House), Polichinelle (Charles Mazurier) aus dem Ballett The Shipwreck of Policinello or The Neapolitan Nuptials als Repräsentant von Covent Garden, Long Tom Coffin aus Edward Fitzballs Nautical Drama The Pilot; or, A Tale of the Sea als Repräsentant des Adelphi Theatre und Ar- mando aus Giacomo Meyerbeers Oper Il crociato in Egitto als Repräsentant von His Majesty’s. Success entscheidet sich zu Fashions Entsetzen schließlich für einen jener vielen Affen, deren zahlreiches Erscheinen die Verbreitung des französischen Stücks Jocko, ou Le Singe de Brézil auf Londoner Bühnen dokumentiert. Fashion spricht ein Machtwort: Success muss ledig bleiben und auch in Zukunft ihre Gunst immer wieder neu verschenken.

Mit Success; or, A Hit if You Like It etablierte Planché in London ein dramatisches Modell, das er bis in die 1850er Jahre immer wieder aufgriff, um damit aktuelle Entwicklungen zumal im Bereich des Theaters und der Unterhaltungskunst, aber auch anderweitige Tendenzen der städtischen Kultur zu kommentieren. Die Stücke weisen eine Struktur auf, wie sie sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in vergleichba- rer Weise bei den berühmten Jahresrevuen des Berliner Metropoltheaters findet: Es gibt rahmende Teile von der Art eines Prologs und eines Epilogs, die gewissermaßen die thematische Begründung für eine Schau liefern; diese wird im großen Mittelteil vor dem Publikum abgerollt. Führer durch die Schau sind Figuren, die man aus der Geschichte der Revue als „Compère“ bzw. „Commère“ kennt, ohne dass Planché sie jedoch so nennen würde. In der Regel handelt es sich dabei um Allegorien; sie treten an, die Hauptfigur des jeweiligen Stücks in die Theater- und Vergnügungs- szene Londons einzuweihen bzw. ihr die aktuellsten kulturellen, technischen oder infrastrukturellen Entwicklungen vorzuführen. In The Drama’s Levée; or, A Peep at the Past (1838) wird die verzweifelte Drama von Praise und Censure, also von Lob und Tadel, durch die Londoner Theater begleitet; in The Drama At Home; or, An Evening with Puff (1844) gesellt sich Puff, die Hauptfigur aus Richard Brinsley Sheridans Klassiker The Critic; or, A Tragedy Rehearsed (1779), zu der heimatlosen Drama und erörtert mit ihr anhand aktueller Moden Optionen für ihre Zukunft; in The New Planet; or, Harlequin Out of Place (1847) werden Neptun, der 1846 neu entdeckte Planet, und eine ganze Reihe weiterer Himmelskörper von Merkur in der Gestalt Harlequins mit dem bekannt gemacht, was in London gerade Gesprächs- thema ist; in Mr. Buckstone’s Ascent of Mount Parnassus (1853) ist es der neue Pächter des Haymarket Theatre, den Fortune bei der Suche nach Erfolg versprechenden Entertainments unterstützt; eine vergleichbare Konstellation gibt es schließlich in The Camp at the Olympic (1853), in dem die neuen Pächter des Olympic Theatre Mr. und Mrs. Wigan von Fancy, der Einbildungskraft, eine dramatische Truppenschau geboten bekommen.

67 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

Planchés Extravaganzas und das Komische Planchés Extravaganzas sind neben vielem anderen in erster Linie Theater über Thea- ter: sie nehmen Bezug auf aktuelle Erfolgsstücke, auf das Publikumsverhalten und auf Fragen der Theaterpraxis, zu der die Theatergesetzgebung ebenso gehört wie das Ausstattungswesen, sie kommentieren längerfristige Entwicklungen des Londoner Theaters und ordnen das Theater in den weiteren Zusammenhang der großstädti- schen Unterhaltungskultur ein. Die Art und Weise, wie in den Extravaganzas über Theater verhandelt wird, hat das Ziel, beim Zuschauer Lachen zu erzeugen. Dies geschieht, indem die aus anderen theatralen Kontexten übernommenen Elemente einem Verfahren der Verfremdung unterzogen werden, wie es auch für die gerade in jener Zeit europaweit äußerst beliebten Genres der Parodie und der Travestie charakteristisch war. Nun wird in der Extravaganza nicht ein ganzes Stück, ein anderes Genre, ein Mythos oder ein literarischer Topos in Form einer mehr oder we- niger geschlossenen Handlung parodierend oder travestierend verarbeitet; parodiert bzw. travestiert werden vielmehr unzählige theatrale Details, die in ein in seinen Grundzügen gleich bleibendes, im Einzelnen aber sehr variables dramatisches Mo- dell eingefüllt werden. Wie im Fall der ‚geschlossenen‘ Parodie oder Travestie setzt auch bei der Extravaganza die komische Wirkung der Verfremdung eine bestimmte Rezeptionshaltung auf Seiten des Publikums voraus. Teil dieser Rezeptionshaltung ist eine wie auch immer erworbene Kenntnis dessen, was verfremdet wird. An dieser Stelle gilt es einen Seitenblick auf die Forschungen von Johann Hüttner zur Parodie im Wiener Vorstadttheater zu werfen, die er bereits in den 1970er Jahren angestellt hat. Seine Überlegungen zum Zusammenhang von Parodie und Vorlage sind für ihn – wie Hüttner selbst schreibt – ein Umweg, um zu Aussagen über die Publikumsstruktur der Wiener Theater zu gelangen: wenn man davon ausgehen könnte, dass das Interesse an einer Parodie die Kenntnis des parodierten Textes bzw. seiner Aufführung voraussetzt, dann würde dies bedeuten, dass es eine Mobilität des Publikums zwischen den verschiedenen Theatern, insbesondere zwischen den Vor- stadt- und den Hoftheatern gegeben haben müsste. Hüttner trifft für die von ihm untersuchten Wiener Stücke eine überzeugende Annahme: eine Kenntnis der Vorla- gen – sei es durch Theaterbesuch oder Lektüre – war nicht zwingend notwendig, da die Funktion des in den Vorstadttheatern angesiedelten Genres Parodie, das in der Regel auf „hochkulturelle“ Erscheinungen bezogen war, in einer „Transponierung in eine dem Vorstadttheater adäquate Ausdrucksform“14 lag; „die Parodien – sprich: Trivialisierungen – waren für das Galeriepublikum der Vorstädte, was die Originale für die gebildeten Zuschauer bedeuteten“.15 Das, was im direkten Vergleich der Tex- te als Parodie erscheint, hat so gesehen hier keine andere Funktion (und Wirkung)

14 Johann Hüttner: Literarische Parodie und Wiener Vorstadtpublikum vor Nestroy. In: Mas- ke und Kothurn 18 (1972), S. 99–139, hier S. 113. 15 Ebenda, S. 114.

68 Marion Linhardt: Die Komik der Extravaganza als etwa eine verwienernde Bearbeitung oder ein Seitenstück, Formen, die unabhän- gig vom Ausgangstext bestehen können.16 Ganz anders verhält es sich mit den Extravaganzas, die sich bis zu einem gewis- sen Grad als intellektuelles Spiel auffassen lassen. Sie besitzen kein dramatisches Eigenleben, sondern reihen persiflierende Bezugnahmen auf das, was da und dort zu sehen ist, aneinander. Zwar ist es auch für die komische Wirkung dieser Bezug- nahmen keine unumgehbare Bedingung, dass man mit den betreffenden Stücken oder Entertainments aufgrund eigener Lektüre oder des Besuchs einer Vorstellung vertraut ist. Notwendig ist allerdings die Verfügung über bestimmte Teilbereiche eines kulturellen Wissens, das einerseits aus der nationalen bzw. lokalen Tradition ge- speist wird, andererseits durch die je aktuellen Medien täglich neue Impulse erhält. (Auch Hüttner zieht übrigens in Erwägung, dass das Publikum Vorkenntnisse zu parodierten Stücken in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen erworben haben kann, geht dem aber nicht weiter nach.17) Die Kategorie des kulturellen Wissens18 steht im Zentrum meiner Argumentation zur komischen Wirkung der Extravagan- za: grundsätzliche Techniken der Komik wie Verzerrung, Übertreibung oder Störung werden auf Ausschnitte dieses Wissens appliziert, wobei die komische Wirkung ent- scheidend davon abhängt, dass der Kontrast der Kontexte erkannt wird. Besonders deutlich wird dies auf der musikalischen Ebene. Wie für eine ganze Reihe von Gen- res des musikalischen Theaters im 18. und 19. Jahrhundert – zu nennen wären das Quodlibet, die , die und die comédie-vaudeville – wird auch für die Extravaganza keine neue Musik komponiert, sondern bereits vorhandene Musik aus aktuellen Opern oder aus dem Bereich der Volks- bzw. Unterhaltungs- musik übernommen und mit neuen Texten unterlegt.19 Aus der Übernahme von

16 Eine ausführliche Diskussion zu Begriff und Theorie der Parodie findet sich bei Nikola Roßbach: Theater über Theater. Parodie und Moderne 1870–1914. Bielefeld: Aisthesis 2006. – Für die vorliegende Annäherung an die Extravaganza ist die breite terminologische und theoretische Debatte vor allem zur literarischen Parodie, an der auch Roßbach sich abarbeitet, ohne grundsätzliche Relevanz. Die Kategorien der Referenzialität verschiedener Zeichensysteme, einer spezifischen Kompetenz des Rezipienten und des Einsatzes von Ko- mik, die sich als zentrale Aspekte parodistischer Verfahren und ihrer Wirksamkeit bestim- men (vgl. dazu bei Roßbach das Kap. „Terminologien, Theorien, Modelle“) und zugleich für die Extravaganza geltend machen lassen, sind im Hinblick auf Kunstproduktion und ‑rezeption von durchaus allgemeinem Charakter. 17 Vgl. Hüttner, Parodie, S. 110. 18 Als einschlägig zu Theorien des kulturellen Wissens sei hier genannt: Kulturelles Wissen und Intertextualität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextualisierung von Literatur. Herausgegeben von Marion Gymnich, Birgit Neumann und Ansgar Nünning. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2006. (= Studies in English Literary and Cultural His- tory. 22.) – Planchés Extravaganzas ließen sich gewissermaßen als Paradebeispiel für die Bezogenheit von „Texten“ (in diesem Fall Theatertexten) auf das kulturelle Wissen ihres Entstehungskontexts (vgl. Gymnich / Neumann / Nünning, S. 15) auffassen. 19 In England und Frankreich hatte diese Praxis theaterrechtliche Ursachen und stand mit der Konkurrenz zwischen den ‚ersten‘ und den ‚zweiten‘ Häusern in Zusammenhang. Grund- legend hierzu sind: Jane Moody: Illegitimate Theatre in London. 1770–1840. Cambridge:

69 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

Melodien oder ganzen Nummern aus anderen Kontexten und der Kombination dieser bekannten Musiken mit einem neuen Text ergeben sich verfremdende Ef- fekte unterschiedlicher Kategorie: so wird das Pathos von Vincenzo Bellinis Nor- ma-Musik zugleich zitiert und gebrochen, wenn Harlequin in The New Planet den Druiden-Chor und Normas Solo aus der Schlussszene dieser tragischen Oper vor Neptun aufführen lässt und Norma sich dabei als launische Primadonna geriert; ein komischer Kontrast zwischen Text und Musik (bzw. der mit dieser Musik traditio- nell verbundenen Emotion) entsteht beispielsweise, wenn in Success Thomas Arnes Musik zu der Hymne Rule Britannia nicht die weltweite Mission und unbeugbare Kraft Britanniens, sondern die Herrschaft Fashions, also der Mode, bekräftigt, der sich Jung und Alt als Sklaven beugen; eine komische Durchkreuzung von Bedeu- tungen ergibt sich, wenn die irrsinnige Ophelia, eine der Töchter der verzweifelten Drama, zu Beginn von The Drama at Home die über Jahrzehnte in England äußerst populäre Ballade The Beggar Girl aus der Pantomime Love & Magic; or, Harlequin’s Holiday (H. Piercy, Drury Lane 1802) mit einem Text anstimmt, der beschreibt, wie sie und ihre Geschwister hungrig und barfuß durch Berge und Moore ziehen. An ebendiesem Stück, The Drama At Home; or, An Evening with , Puff soll nun das für Planchés Extravaganzas charakteristische Geflecht von komischen Bezug- nahmen etwas genauer erklärt werden. Daran schließen sich einige Thesen zu den Medien des kulturellen Wissens an; unmittelbar evident wird dabei, dass Planchés Stücke einerseits auf das zeitgenössische kulturelle Wissen Bezug nehmen, dass sie andererseits aber selbst an der Erzeugung bzw. Organisation von kulturellem Wis- sen teilhaben. Den theaterhistorischen Ausgangspunkt von The Drama at Home von 1844 bildet eine für die Entwicklung des Londoner Theaters äußerst wichtige gesetz- liche Neuerung: 1843 wurde der Theatre Regulation Act erlassen, der eine bis dahin geltende gravierende Einschränkung für das Theaterspiel aufhob. Bislang war es lediglich Covent Garden und Drury Lane sowie im Rahmen von Sommerspielzeiten dem Haymarket Theatre, also den so genannten Patent Theatres, gestattet gewesen, das Regular Drama ohne Musikbegleitung zu spielen. Sämtliche anderen Bühnen, die so genannten Minor Theatres, waren auf musikalisches und Bewegungstheater verpflichtet, eine aus dem 18. Jahrhundert stammende Vorgabe, die auf dem Be- streben der Patent Theatres beruhte, Konkurrenz auszuschalten oder zumindest zu kanalisieren. Mit dem Theatre Regulation Act entfiel die Trennung von Patent und Minor Theatres und mit ihr die entsprechende Reglementierung des Repertoires.20

Cambridge University Press 2000; Nicole Wild: Dictionnaire des Théâtres Parisiens au XIXe Siècle. Les Théâtres et la Musique. Paris: Amateurs de Livres 1989. 20 Die hier nur angedeuteten Sachverhalte finden sich in ausgezeichneter Weise erläutert bei Moody, Illegitimate Theatre. – In vielen Aufsätzen der vergangenen Jahre habe ich mich auf Jane Moodys genaue und originelle Arbeiten über das Londoner Theater bezogen. Diesmal kann ich das nicht kommentarlos tun. Jane Moody ist im Oktober 2011 im Alter von nur 44 Jahren gestorben. Ich möchte ihr an dieser Stelle meine besondere Wertschätzung aus- sprechen.

70 Marion Linhardt: Die Komik der Extravaganza

Die Handlung von The Drama at Home setzt noch vor dieser Neuregelung ein, und zwar in einer für Drama äußerst prekären Situation: Drama hat kein Heim mehr, weil auch Covent Garden und Drury Lane sich längst anderen, gewinnträchtige- ren Genres zugewandt haben. Beim Gedanken an die hoffnungslose Lage all ihrer Kinder wünscht sich Drama nur noch eines: sie möchte sterben. Ihre Verzweiflung ruft Puff herbei, der sich als Ratgeber anbietet. Für Covent Garden schlägt er ein Kaltwasserduschprojekt vor, das die Idee der Wasser-Melodramen des Sadler’s Wells Theatre weiterführen würde, alternativ ein Projekt auf der Grundlage des animali- schen Magnetismus oder Mesmerismus, in dem Lady Macbeth und Julia mitwirken könnten. Um Drama begreiflich zu machen, dass ihre traditionellen Vorstellungen endgültig passé sind, führt Puff ihr die aktuellen Publikumsattraktionen von Co- vent Garden und Drury Lane vor. In Drury Lane zeigt sich ihr zunächst ein Ta- bleau aus Richard III. – allerdings nicht aus Shakespeares Original, sondern aus der Bearbeitung von Colley Cibber, wogegen die Statue Shakespeares sich heftig, aber vergeblich verwahrt. Es folgt das Duett Arnold / Matilde aus dem II. Akt von Rossinis Guillaume Tell, jener Oper, in der der französische Tenor Gilbert Duprez das Londoner Publikum und die Presse seinerzeit in einen Begeisterungstaumel versetzte. In das Zentrum der Londoner Ballettomania schließlich führt ein Aus- schnitt aus Jean Corallis romantisch-fantastischem Haremsballett La Péri; Alfred Bunn, Direktor an Drury Lane, beförderte insbesondere das Ballett und brachte 1843 La Péri mit der vom Publikum vergötterten Carlotta Grisi und Lucien Petipa in den Hauptpartien heraus. Zur Sensation geriet jene Szene im „Pas de songe“, in der die Grisi sich aus einer Wolke in drei Metern Höhe in die Arme ihres Part- ners fallen ließ – und genau diesen Sprung als aus dem Zusammenhang gelöste Spektakelnummer zeigt Puff Drama. Ebenso hoffnungslos wie an Drury Lane -er weist sich die Situation an Covent Garden: hier gibt der französische Kapellmeister Louis Antoine Jullien „Promenade Concerts“ mit Aufsehen erregendem szenischen Beiwerk, aktuell unter größtem Zulauf das Programm The Destruction of Pompeii mit spektakulären Bild- und Pyrotechnikeffekten. Da offensichtlich ist, dass es für Drama in ihren angestammten Häusern keinen Platz mehr gibt, schlägt Puff ihr vor auszuwandern. Für den Transport könne man Ariel engagieren, der nicht mehr in Prosperos Diensten steht, sondern in der Adelaide Gallery Vorträge über „Ariel Navigation“ hält21 und seine alten Streiche an der Polytechnic Institution vorführt. Wie sich herausstellt, haben auch Dramas andere Kinder ein neues Auskommen gefunden: Othello hausiert mit Schuhschwärze, Macbeth hat einen Zigarrenladen eröffnet, und Shylock betreibt einen Altkleiderladen in der Nähe des Tower. Schon ist Drama entschlossen, England zu verlassen, als Portia und Nerissa mit der Nach- richt von der Theaterfreiheit erscheinen: Drama ist gerettet, da sie jetzt auch in die Minor Theatres in Islington, Lambeth oder Whitechapel einziehen kann und das Haymarket Theatre Drama nun nicht mehr nur im Sommer, sondern das ganze

21 Vgl. zum Umfeld: Iwan Rhys Morus: TheTh e Electric Ariel. Telegraphy and Commercial CulCul-- ture in Early Victorian England. In: Victorian Studies 39 (1996), S. 339–378.

71 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

Jahr hindurch beherbergen darf. Zu Dramas großer Freude trifft sie hier auf Figu- ren aus The Merry Wives of Windsor und The Taming of the Shrew. Da Drama für sich wieder eine Heimat gefunden hat, gestattet sie großzügig, dass ihr die Freunde von den Minor Theatres unter musikalischer Begleitung ihre Aufwartung machen. Es kommen Repräsentanten von A Christmas Carol; or, Past, Present, and Future (Edward Stirling nach Charles Dickens) aus dem Adelphi Theatre, von The Road of Life, or the Cabman’s Career (Edward L. Blanchard) aus dem Olympic Theatre, von Susan Hopley (George Dibdin Pitt) aus dem Royal Victoria Theatre, von The Last Shilling (John Faucit Saville) aus dem Surrey Theatre und von The Magic Mirror (Gilbert Abbott à Beckett) aus dem Princess’s Theatre. Und da, wie Drama weiß, die Stadt kaum Zeit hat, an sie – Drama – zu denken, weil das Hauptinteresse den vielen Exhibitions gilt, die veranstaltet werden, dürfen auch diese in einem großen Finale aufmarschieren. Als besonders gefragte Attraktionen erscheinen die Ojibbeway Indians, die u. a. in der Egyptian Hall zu sehen waren,22 der als „General Tom Thumb“ beworbene Kleinwüchsige Charles Sherwood Stratton, der mit dem Zirkusunternehmer Phineas Taylor Barnum reiste, eine Wiedergabe der Centrifugal Railway, einer frühen Form der Achterbahn, Madame Toussaut mit einigen ihrer Figuren, die „Industrious Fleas“ aus einem Flohzirkus, Repräsentanten der Tauch- experimente der Polytechnic Institution,23 wo man seinerzeit erstmals gegen Eintritt in einer Taucherglocke unter Wasser gelangen konnte, und schließlich Figuren aus der Chinese Collection, die seit 1842 in einem Gebäude an der Hyde Park Corner gezeigt wurde. Als Erkenntnis aus Dramas Odyssee bleibt: geschickte Reklame ist das Wichtigste. Es ist offensichtlich, dass die textlichen, szenischen und musikalischen Pointen dieses Stücks ihre komische Wirkung – durch Kontrasteffekte, Kombination bzw. Gegen- überstellung von Stilebenen, auch Herauf- oder Herabsetzung24 – auf der Grundlage von Kenntnissen über das Gezeigte entfalten; ganz detailliert ließe sich diese These übrigens anhand der Folge der musikalischen Nummern belegen, die mit den ein- zelnen Auftritten kombiniert werden. Insbesondere im Fall der Bezugnahmen auf Phänomene der Hochkultur wie Literaturdramatik oder Oper stellt sich nun die Frage, auf welchen medialen Wegen Planchés Publikum diese Kenntnisse erlangt hat. Wesentlichen Anteil an der Formung des Wissens über aktuelle Erscheinungen hatte zweifellos das Medium Plakat, das im 19. Jahrhundert in London nicht nur zu einer erstaunlichen Größe anwuchs – auch Planché kommentiert dies, indem er in seinen Stücken Außenansichten von Theatern zeigt, die von dem jeweiligen

22 Eine aufschlussreiche zeitgenössische Quelle hierzu liegt vor mit: A Short History and De-De- scription of the Ojibbeway Indians Now on a Visit to England. London: Vizetelly Brothers and Co. 1844. Vgl. auch Paul Reddin: Wild West Shows. Urbana: University of Illinois Press 1999. 23 Vgl. Brenda Weeden: TheTh e Education of the Eye. ThThe e History of the Royal Polytechnic InIn-- stitution 1838–1881. London: Granta Editions 2008. 24 Vgl. den Beitrag von Beatrix Müller-Kampel in diesem Heft, S. 5–39.

72 Marion Linhardt: Die Komik der Extravaganza

Anschlagzettel völlig verdeckt werden –, sondern das zudem eine besondere Fülle an Informationen bot. Großdimensionierte Theaterzettel verzeichneten nicht nur die Stücke, die an einem Abend gegeben wurden, und die darin auftretenden Darstel- ler, sondern erläuterten die Bildfolge der Stücke, bühnentechnische Besonderheiten, Tanz- und Gesangspassagen so genau, dass sich aus der bloßen Lektüre eines sol- chen Zettels bzw. Plakats ein recht guter Eindruck vom szenischen Ereignis gewin- nen ließ. Diese Plakatkultur war natürlich nicht auf das Theater beschränkt: alles, was es in London zu sehen und zu hören gab – von der technischen Innovation bis zum Virtuosenkonzert –, wurde dem Publikum bis in Einzelheiten auf Plakaten zur Kenntnis gebracht. Wenn Planché entsprechende Schauereignisse in seinen Stücken komisch gebrochen vorführte, konnte er also gewiss sein, dass diese Brechung ver- standen wurde. Gleiches gilt im Fall der in den Extravaganzas verwendeten Musik. Opernmelodien etwa wurden in London auf vielerlei Weise popularisiert, so durch Notenausgaben für den Hausgebrauch, Darbietungen an leicht zugänglichen Orten wie in Saloons, Music Halls oder den Vauxhall Gardens, durch Straßenmusiker oder durch Adaptionen für Tanzkapellen. In Success widmet Planché dieser Popula- rität eine eigene Nummer: Success gerät in Verzweiflung, als Zamiel mit der Coda des Jägerchors aus dem Freischütz auftritt, einer Melodie, von der alle Klaviere Lon- dons widerhallen, die jedes Kindermädchen, jede Wäscherin und jeder Kellnerjunge singt und pfeift und derer Success gänzlich überdrüssig ist.25 Massive Werbung und die durchschlagende Wirkung zahlreicher Modeerscheinun- gen sind Modi der Wissensvermittlung, auf die die Komik der Extravaganza setzt; als Charakteristika einer spezifischen kulturellen Konstellation werden sie bei Planché aber zugleich selbst zum Gegenstand der Satire. Dies berührt einen weiteren Aspekt der Komik der Extravaganza. Was die Extravaganza als theatrales Genre besonders interessant für die Forschung zu Komik und zu Lachen macht, ist neben der persif- lierenden Verarbeitung von Details aus der Welt des Theaters und der Schaukünste die Tatsache, dass hier soziale und kulturelle Praktiken von unmittelbarer Aktua- lität einer Komisierung unterzogen werden. Planché beobachtet Verhaltensweisen seiner Zeitgenossen und reflektiert sie in einer Weise, die sie dem (selbst-)kritischen Lachen aussetzt. Unter Vernachlässigung historischer Differenzierungen ließe sich

25 Carl Maria von Webers Oper Der Freischütz, uraufgeführt in Berlin 1821, gelangte ab 1824 in London zu einer immensen Popularität. Nahezu sämtliche Londoner Bühnen brachten eigene Fassungen des Stücks, teils in adaptierter Opernform, teils als Melodramen heraus. Im Februar 1824 gab es am Royal Coburg Theatre das Melodram The Fatal Marksman; or, The Demon of the Black Forest (anonym), es folgten u a. im Juli Der Freischütz; or, The Seventh Bullet am English Opera House (vgl. die Zitate am Beginn dieses Beitrags), im Au- gust Der Freischütz im Royal Amphitheatre (Bearb. J. H. Amherst), im September Der Frei- schütz; or, The Demon of the Wolf’s Glen, and The Seven Charmed Bullets im Surrey Theatre (Melodram; Bearb. Edward Fitzball), im Oktober Der Freischütz; or, The Black Huntsman of Bohemia an Covent Garden (Bearb. Barham Livius und James Robinson Planché) und im November Der Freischütz an Drury Lane (Bearb. Henry Bishop und George Soane). Es handelt sich hier um Theater, die sehr unterschiedliche Schichten der Londoner Bevölke- rung ansprachen.

73 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

ein Bogen in die Jetztzeit schlagen: die Extravaganza ist in vielem dem gegenwärti- gen Kabarett vergleichbar, soweit dieses nicht ein ausschließlich politisches, sondern eher ein auf Themen der Alltagskultur oder der Medienpraxis bezogenes Kabarett ist. Die Komik der Extravaganza ist eine Komik, die uns etwas über eine bestimmte kulturelle Konstellation verrät. Sie unterscheidet sich damit grundsätzlich von ko- mischen Darstellungsweisen, die kanonisiert, weil gleichsam „zeitlos“ sind – obwohl auch diese, um eine komische Wirkung zu entfalten, eines spezifischen kulturellen Raumes des Verstehens bedürfen: erwähnt seien zwei so unterschiedliche Phänome- ne wie Molières Monsieur Jourdain und das Filmpaar Hans Moser / Theo Lingen. Abstrahiert man also von den Einzelereignissen, die Planché komisch verzeichnet, dann erweist sich die Komisierung des offenbar für einen breiten Ausschnitt der Londoner Bevölkerung charakteristischen Hangs zu „rages“ – einer Sucht nach Neuem, einer kritiklosen Begeisterung für Moden, einer Neigung zu Sensationel- lem – als zentraler Impuls für Planchés Darstellungsweise. Als Merkzeichen einer Kultur der „Moderne“ hatte Planché diesen Hang bereits in seiner ersten Extra- vaganza ausgestellt: im Reich von Kaiser Whim herrscht Fashion als Statthalter, während Common Sense vertrieben wurde und Success macht, was sie will. Planché bezieht in seinen Stücken eindeutig Position zu den Neigungen seiner Zeitgenossen; wenn er etwa in The New Planet die Begeisterung für Phänomene des Übersinnli- chen, in Mr. Buckstone’s Ascent die Dansomanie oder in The Camp at the Olympic die Fixierung auf Monstrositäten oder Exotismen in satirischer Weise behandelt, dann tut er dies von einer kulturkonservativen Warte aus – mehr oder weniger explizit flicht er in seine Satire ein Gegenbild ein, in dem Shakespeare als Repräsentant einer nationalen Kultur prominent figuriert. Indem Planché die „Manien“ seiner Zeitge- nossen dem Lachen aussetzt, praktiziert er nicht zuletzt, was wir heute Medienkritik nennen würden.

74 Lachen und Gesellschaft in literarischen Texten von Molière bis Flaubert Von Joseph Jurt

Es sind literarische Texte, die das Corpus des folgenden Beitrages ausmachen. Die Fragen, die an diese Texte gestellt werden, sind indes sozialgeschichtlicher Natur: Über welche sozialen Gruppen wird gelacht? Welche Haltung wird durch die Ko- mik zum Ausdruck gebracht? Wird durch das Lachen die bestehende soziale Ord- nung bestätigt oder in Frage gestellt? Diese drei Fragen sollen für den Bereich der französischen Literatur in drei Schritten untersucht werden: zunächst soll nach der Funktion der Komik im Ancien Régime im Zusammenhang mit dem hierarchi- schen Gattungssystem, das mit der sozialen Hierarchie in Verbindung steht, gefragt werden; danach gilt es, die Funktion der Komik nach der Französischen Revolution mit dem Einbruch des Gattungs- und Sozialsystems zu untersuchen; ein letzter Ab- schnitt gilt der Wiederentdeckung Rabelais’ durch die romantische Generation mit ihrer Neueinschätzung des Komischen.

Lachen und Gesellschaft im Ancien Régime Die Gesellschaft des Ancien Régime war, wie man weiß, extrem stratifiziert über das System der drei Stände. Diese soziale Differenzierung findet sich auch in der Literatur wieder über eine Gattungshierarchie, die den einzelnen Gattungen ein spezifisches Personal und einen spezifischen Stil zuordnet. Die Tragödie ist mit -ih rem hohen Stil und dem adeligen Personal die noble Gattung. Komödie und Satire stellen mit ihrem Personal aus Bürgern oder aus Leuten aus dem Volk eine interme- diäre Gattung dar. Diese Hierarchie wurde von Erich Auerbach in seinem fundamentalen Buch Mimesis herausgearbeitet. Er unterstreicht, dass das Tragische nur in der Tragödie sagbar ist, deren Personal ausschließlich aristokratisch ist. Auerbach spricht in diesem Kontext von einer „radikalen Trennung des Tragischen vom Realistischen“1. Boileau konnte sich Personal aus dem Volk nur als grotesk-komische Figuren vorstellen, zumindest im Bereich der theatralischen Darstellung. Auch Molière, dessen Theater noch das Höchstmaß der Realistik aufwies, die mit der literarischen Klassik vereinbar war, lässt Leute aus dem Volk nur als komische Chargen auftreten. Nicht nur Bauern und sonstige Typen aus dem Volk treten, so Auerbach, lediglich als komische Char- gen auf, sondern auch Kaufleute, Ärzte und Apotheker, weil im Ancien Régime jede professionelle Spezialisierung, und wäre es die des Dichters oder Gelehrten, dem gesellschaftlichen Ideal des ‚Honnête Homme‘ widersprach. Der Bürger, der einen

1 Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. 5. Aufl. Bern, München: Francke 1971, S. 369.

75 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

Beruf ausübte, konnte nur in der Kategorie des Grotesken Gegenstand der literari- schen Nachahmung werden.2 Selbst im Lustspiel und in der Satire, dem Bereich des mittleren Stils, ist so der Realismus eingeschränkt; das gilt noch mehr für den Bereich des hohen Stils, der Tragödie. „Dort ist in jener Zeit die Trennung des Tragischen von den Gegebenhei- ten des täglichen und menschlich-kreatürlichen Lebens in einer so radikalen Wei- se durchgeführt worden, wie nie zuvor, auch nicht in der Epoche, deren Stil als Muster diente, der griechisch-römischen Antike.“3 Corneille hatte schon verstanden, dass man im Theater weder alltägliche Aspekte der Ereignisse noch die kreatürliche Dimension des Menschen zeigen durfte. Die tragischen Personen werden so auf eine radikale Weise überhöht. „Die klassische Tragödie der Franzosen stellt so das äußerste Maß der Stiltrennung dar, von Loslösung des Tragischen vom Wirklich- Alltäglichen, das die europäische Literatur hervorgebracht hat.“4 Diese radikale Stiltrennung bedeutet einen Bruch mit der jahrhundertealten Tradi- tion der Stilmischung, die auf die christliche Tradition zurückging und die auch die Volksliteratur prägte. Mit anderen Worten, man lachte nur über bürgerliche Personen oder über Leute aus dem Volk und dies nur in Gattungen der mittleren Stillage, den Komödien und den Satiren, während Figuren aus dem Adel im hohen Stil der Tragödie erhöht und transfiguriert werden. Selbst bei Molière wird eine adelige Figur wie Don Juan ge- genüber dem Diener Sganarelle und allen anderen Figuren niederen Ranges erhöht. Die Haltung Don Juans ist die eines Herren, dem alles geschuldet ist, der fordert und nimmt, was er will, und der selber niemandem etwas schuldet. Die Position der Figuren aus dem Dritten Stand wird bestens mit folgenden Worten des Prota- gonisten Don Juan gegenüber seinem Diener definiert: „Es ist zuviel der Ehre, die ich Ihnen entgegenbringe; der Diener kann sich glücklich schätzen, der den Ruhm erwerben kann, für seinen Herrn zu sterben.“5 Wenn die Figur Don Juan mit ihrer Haltung auch Missfallen hervorruft, so verleiht ihr Molière trotzdem großes Prestige. Er weckt beim Zuschauer eine – sicher ambi- valente – Faszination durch seine aristokratische Libertinage. Paul Bénichou, dessen Interpretation wir hier folgen, vertritt die Meinung, dass das Theater von Molière weit davon entfernt ist, für das Bürgertum zu plädieren; alles Prestige wird den Le- bensformen und den Gefühlen zugeschrieben, die der aristokratischen Gesellschaft eigen sind.6

2 Vgl. ebenda, S. 350. 3 Ebenda, S. 352. 4 Ebenda, S. 364. 5 Molière: Don Juan. In: M.: Oeuvres complètes. Bd. II. Paris: Garnier-Flammarion 1965, S. 379 (übersetzt von J. J.). 6 Vgl. Paul Bénichou: Morales du Grand Siècle. Paris: Gallimard 1976, S. 298.

76 Joseph Jurt: Lachen in Texten von Molière bis Flaubert

Man wird da einwenden, dass sich Molière auch über die „kleinen Marquis“ lustig macht; er hebt in der Tat sehr frei lächerliche Züge von Landjunkern und hohen Da- men aus der Provinz hervor. Aber über die lachte man auch in Paris oder Versailles, wo die Satire der lächerlichen Höflinge keineswegs Anstoß erregte. Molière macht sich über die ‚kleinen Marquis‘ lustig, aber auf der Basis des Ideals des ‚Honnête Homme‘ (des Edelmannes), das die höfische Gesellschaft bestimmte. Wenn Mo- lière lächerliche Erscheinungsformen aufs Korn nahm, dann stellte er keineswegs die Klasse der Edelleute in Frage. Im Gegenteil, gerade um das Prestige des Hofes zu festigen, kritisiert Dorante, ein Mann des Hofes, der dem Ideal des Edelmanns entspricht, in dem Stück La Critique de l’Ecole des Femmes zumindest „ein Dutzend jener Leute, die die Ehre der Leute des Hofes durch ihre extravaganten Manieren gefährden, weil sie das Volk glauben lassen, wir alle seien so.“7 Gewisse Interpreten wollten indes in der Hauptfigur desMenschenfeindes (Le Misan- thrope) eine tragische Figur sehen, deren Ehrlichkeit durch die Gesellschaft verkannt und verurteilt werde. Nun aber präsentiert Molière seinen Alceste aus kritischer Sicht, indem er seine absolute Ehrlichkeit als eine Manie darstellt, als Ausdruck eines Egoismus, der einhergeht mit einem cholerischen Temperament, das nicht im Zaum gehalten wird. Alceste wirkt komisch durch ein starrköpfiges und vor allem inkonsequentes Verhalten – er ist in die Person verliebt, die von seinem Ideal der ab- soluten Ehrlichkeit am weitesten entfernt ist; dadurch entspricht er nicht dem Ideal des Edelmannes, das sicher nicht erlaubt, Gefühle oder Urteile zu simulieren, das sich aber nicht einer Haltung widersetzt, die darin besteht, dass man seine wahren Gefühle nicht äußert, um den anderen, der in der Konversations-Gesellschaft stets präsent ist, nicht zu verletzen. Das Lachen setzt, wie das Bergson sehr gut gesehen hat, eine Komplizenschaft der Lacher auf Kosten desjenigen voraus, der sich au- ßerhalb der Normen oder der Verhaltensweisen der Gesellschaft gestellt hat. Das Komische entsteht, so Bergson, wenn Menschen, die in einer Gruppe vereint sind, alle ihre Aufmerksamkeit auf einen richten und dabei ihr Mitgefühl ausschalten und nur aus rationaler Sicht urteilen.8 Es gibt im Menschenfeind eine gewisse Dissoziierung zwischen dem Guten und dem Lachen. Der Protagonist gehorcht mit seiner absoluten Ehrlichkeit den Vorgaben der Moral, aber er entspricht nicht den Verhaltensregeln der Gesellschaft. Es ist so die starre Haltung von Alceste, die das Lachen provoziert, selbst wenn diese starre Haltung einem moralischen Impuls entspricht. Nur diejenigen, die sich vom Ideal des Edelmannes entfernen, sind bei Molière Gegenstand des Lachens, ein Ideal, das als ‚natürlich‘ vorgestellt wird, obwohl es sich um einen sehr elaborierten sozialen Code handelt. Das Lachen bestätigt und bestärkt so die bestehende soziale Ord- nung.

7 Zitiert nach: Ebenda, S. 299 (übersetzt von J. J.). 8 Vgl. Henri Bergson: Le rire. Essai sur la signification du rire. Paris: P. U. F. 1976, S. 6.

77 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

Nachdem die Komödie vorher in Frankreich vor allem ein Jahrmarktspektakel ge- wesen war, das mit derben Späßen ein volkstümliches Publikum unterhalten wollte, wurde sie mit Molière zu einer differenzierten Gattung, die auch am Hofe geschätzt wurde. Das lag auch daran, dass in der höfischen Gesellschaft unter Ludwig XIV. nicht mehr so sehr die Heroisierung von Kriegshelden gefragt war, sondern das Rollenspiel am Hofe ins Zentrum des Interesses trat. Molière konnte die Komödie auf die höhere Ebene der ‚Honnêteté‘-Problematik holen, indem er sich, wie Volker Kapp unterstrich, auf den Boden einer Gesellschaft stellte, „deren hochelaborier- ter Verhaltenskode das Fehlverhalten mit Spott sanktionierte“9. Mit dem Wandel von der Intrigen- zur Charakterkomödie eröffnet sich der Gattung die Chance, das Lachen als Mittel zur Läuterung des Selbstverständnisses der höfischen Welt ein- zusetzen. In seiner Critique de l’Ecole des Femmes unterstreicht Molière, dass die Komödie im Hinblick auf das neue höfische und stadtbürgerliche Publikum eine differenzierte Komik bieten und Porträts von Figuren entwerfen müsse, in denen man zeitgenössische Probleme wiedererkennen könne, was viel schwieriger sei als in der Tragödie, wo man sich auf die Muster der Vergangenheit stützen könne. Die systematische Nutzung des Honnêteté-Ideals befähigte Molière, wie Volker Kapp hervorhebt, „in der Problematik höfischer Existenz die Problematik des Menschen schlecht- hin zum Gegenstand der Erheiterung zu machen. Er vermochte am Einzelfall einer Figur das Typische eines Charakters offenzulegen, weil in der höfischen Welt die Diskrepanz zwischen dem Anspruch der komischen Figur und den Handlungsmöglichkeiten, die ihr die Gesellschaft bietet, das Lächerliche kon- stituiert. […] Die Deutung menschlicher Schwäche als misslungenes Rollenspiel erlaubte Molière, die höfische Existenz als Problem der Kunst des Gefallens darzustellen und dabei die Schwierigkeit, die Identität der Person innerhalb der gegebenen soziokulturellen Verhältnisse zu verwirklichen, als Komik erzeugen- des Element zu benutzen.“10 Erst ein Rousseau wird, als Vertreter des Dritten Standes, Partei für Alceste, den adeligen Griesgram, ergreifen. In seinen Augen handelt Molière unverantwortlich, wenn er sich im Misanthrope über einen „aufrechten, ehrlichen und ehrenwerten Mann“ lustig macht. Der Standpunkt von Rousseau unterscheidet sich von dem Molières, des Vertreters der herrschenden Ordnung. Rousseau, der Verfasser der

9 Volker Kapp: Die Idealisierung der höfischen Welt im klassischen Drama. In: Französische Literatur in Einzeldarstellungen. Herausgegeben von Peter Brockmaier und Hermann H. Wetzel. Bd. 1: Von Rabelais bis Diderot. Stuttgart: Metzler 1981, S. 115–175, hier S. 159. 10 Ebenda, S. 163–164. Die sehr differenzierte Form der Charakterkomödie Molières erklärt auch, dass in Boileaus Art Poétique von 1674 die Komödie auf derselben Ebene platziert wird wie die Tragödie. Auch in Deutschland ist Molière der mit Abstand meistgespielte franzö- sische Autor geworden und nach Shakespeare sogar der beliebteste aller nichtdeutschen Dramatiker. Vgl. Fritz Nies: „Massakrierter Molière. Plädoyer für mehr ‚Chancengleich- heit‘ von deutschen und ausländischen Klassikern. In: Französische Literatur in deutscher Sprache. Eine kritische Bilanz. Herausgegeben von Bernd Kortländer und F. N. Düsseldorf: Droste 1986, S. 34–42, hier S. 34.

78 Joseph Jurt: Lachen in Texten von Molière bis Flaubert

Lettre à d’Alembert sur le spectacle (1758), verteidigt mit seinem Plädoyer für Alceste auch seine eigene Revolte als Plebejer gegen die Gesellschaft. Es ist im Übrigen kein Zufall, wenn zur Zeit der Französischen Revolution ein Folgestück von Fabre d’Eglantine aufgeführt wurde, das Alceste rehabilitierte: La suite du Misanthrope. Aber schon vor der Revolution gab es Schauspiele, die nicht schlicht die bestehende Ordnung bestätigen wollten. Man wird sich hier zunächst an die ersten Versuche Diderots und des frühen Beaumarchais erinnern, die über eine neue Gattung, das bürgerliche Drama, versuchten, die traditionelle Gattungshierarchie zu überwin- den, indem sie die Bürger ernsthaft darstellten und nicht mehr bloß als Objekte des Lachens. Diese Versuche stießen aber kaum auf Resonanz beim Publikum. Beau- marchais erinnerte im Übrigen in seiner Lettre modérée sur la chute et la critique du ‚Barbier de Séville‘ ironisch an die traditionelle Gattungsnorm: „Menschen mittleren Standes niedergeschlagen und vom Unglück betroffen darzustellen, wo führt das denn hin! Man darf sie nur lächerlich darstellen. Lächerliche Bürger und unglückliche Könige; darin besteht das gültige und das mögliche Theater. Und ich habe mir das als gesagt gelten lassen, so ist es, und ich will mich mit niemandem darüber streiten.“11 In der Hochzeit des Figaro ist der Diener Figaro nicht mehr bloß der treue Diener, der sich in allem seinem Herrn unterwirft, er verteidigt auch seine eigenen Interessen, die im Gegensatz zu jenen seines Herren stehen. Man erinnert sich an die berühmte Replik Figaros, durch die dieser die Legitimität der Aristokratie im Namen eines meritokratischen Ideals in Frage zu stellen scheint: „Weil ihr ein großer Herr seid, glaubt ihr ein großes Genie zu sein […]. Was habt ihr denn dafür getan, um so viele Güter zu besitzen. Ihr habt euch die Mühe der Geburt gegeben. Mehr nicht. Im übrigen ein ziemlich gewöhnlicher Mensch. Während ich, Herrgott, noch mal…“12 Repliken dieser Art ließen Danton ausrufen, Figaro habe den Adel zur Strecke ge- bracht, oder Napoleon das Stück von Beaumarchais als „Revolution im Anmarsch“ einstufen. Im Zentrum des fünften Aktes ist indes nicht mehr die Initiative von Figaro entscheidend als vielmehr die Komplizenschaft der Frauen – der Gräfin, die mit Susanne gemeinsame Sache macht –, die es verstehen, sowohl die Gelüste des Grafen als auch die Eifersucht Figaros hinters Licht zu führen. Man hat darum auch behaupten können, dass der Sieg – im Stück – weniger der Sieg einer Klasse war, sondern sich der Solidarität der Frauen verdankte, ein Sieg, so die Aussage von Marceline, über dieses „stolze, schreckliche und trotzdem etwas alberne männliche Geschlecht.“13 Man kann sich fragen, ob die komische Wirkung sich nicht auch dem Widerspruch zwischen der Macht, die den Frauen im Stück zugeschrieben wird, und der geringen Macht, die ihnen im realen Leben zukam, verdankte.

11 Beaumarchais: Théâtre. Paris: Garnier Flammarion 1977, S. 46 (übersetzt von J. J.). 12 Ebenda, S. 234. 13 Ebenda, S. 221.

79 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

Die Französische Revolution stellte die Hierarchie der Gesellschaft radikal in Frage und transferierte die Souveränität von der Person des Königs auf die Nation. Eine solche soziale Umwälzung konnte nicht ohne Folgen für die Gattungshierarchie sein, die auf der sozialen Hierarchie fußte. Die Regel der strikten Stiltrennung, die den Realismus in tragischen und ernsthaf- ten Gattungen ausschloss, wurde im Laufe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts etwas aufgeweicht, namentlich bei Diderot, der sowohl theoretisch als auch prak- tisch eine mittlere Stillage propagierte, ohne jedoch, so Auerbach, über das Bürger- lich-Rührende hinauszukommen.14

Die Französische Revolution und die Komik angesichts der Gleichheit der Klassen Bei den Frühromantikern konnte man dann vor allem eine Flucht aus der Wirk- lichkeit feststellen, selbst wenn ihre kritische Haltung gegenüber der Gesellschaft ernsthafter kritisch war als die der aufklärerischen Gesellschaft.15 Wenn dann Victor Hugo sich dem klassischen Prinzip der Stiltrennung widersetzte, so orientierte er sich doch an den Kategorien des Erhabenen und des Grotesken und mündete so in eine antithetische Stilisierung der Realität, die starke Wirkungen hervorruft, die aber „unwahrscheinlich und als Wiedergabe menschlichen Lebens unecht“16 erscheint. Die Stilmischung öffnet nichtsdestotrotz den Weg in Richtung auf einen größeren Realismus, weil man nunmehr die strikte Hierarchie der Themen und der Gattun- gen aufgab. Dank des Prinzips der Stilmischung wurde es möglich, „daß Personen beliebigen Standes mit all ihrer praktisch-alltäglichen Lebensverflechtung, Julien Sorel so gut wie der alte Goriot oder Mme Vauquer, zum Gegenstand ernster litera- rischer Darstellung wurden.“17 Bei Balzac findet man eine enzyklopädische Intention, die darin besteht, alle Aspek- te des Lebens und der Gesellschaft zu erfassen. Er will gleichzeitig seine Epoche als eine historische begreifen; es gibt bei ihm aber auch die Absicht, nicht nur das Au- ßerordentliche zu erfassen, sondern das, was überall vorkommt, kurz die alltägliche Realität. Balzac besitzt, so Auerbach, „gegenüber diesem mannigfaltigen von Geschichte durchtränkten, rücksichts- los mit dem Alltäglichen, Praktischen und Häßlichen und Gemeinen darge- stellten Leben eine Einstellung, wie sie ähnlich auch schon Stendhal besaß: er

14 Vgl. Auerbach, Mimesis, S. 434. 15 Vgl. ebenda, S. 436. 16 Ebenda, S. 437. 17 Ebenda, S. 441.

80 Joseph Jurt: Lachen in Texten von Molière bis Flaubert

nimmt es in dieser wirklich-alltäglich-innergeschichtlichen Gestalt ernst, und sogar tragisch. Das hatte es in der Zeit seit dem Aufkommen des klassischen Geschmacks nirgends gegeben“.18 Wenn der Realismus von Stendhal aus dem Widerstand des Autors gegen seine Epoche erwächst, die er verachtete, so belegt das letztlich noch eine aristokrati- sche Haltung. Balzac taucht seine Figuren viel tiefer in die Kontingenz der Realität. Aber gleichzeitig empfindet er – wohl unbewusst – das Bedürfnis, seine Option für die alltägliche Realität und für gewöhnliche Figuren zu legitimieren, indem er diese verbal überhöht, indem er den armen alten Goriot als einen „Christus der Vaterschaft“19 bezeichnet. Die Stilmischung entspricht dem Einbrechen der festen Grenzen zwischen den verschiedenen sozialen Schichten im Gefolge der Französischen Revolution; die Stilmischung entspricht der neuen sozialen Mobilität, für die Balzac so hellhörig war, wenn er etwa im Vorwort zur Comédie humaine schrieb: „In diesem immen- sen Lebensstrom kann ein Spezereienhändler sicherlich bis zum Rang eines Pair de France aufsteigen und der Adlige fällt manchmal auf den untersten sozialen Rang zurück.“ 20 Die Durchmischung der Gesellschaft hat vor allem zur Folge, dass Leute aus dem Bürgertum und dem Volk nicht mehr allein Objekt der Komik aus der Sicht der Spitze der sozialen Pyramide bleiben. Romanciers wie Balzac versuchen nun, das Bürgertum und das Volk aus einer ernsthaften Sicht zu betrachten. Balzac entwirft so in seinem Roman-Zyklus ein ernsthaftes Bild der Bürger und der Leute aus dem Volk, die in der klassischen Literatur nur als Objekte der Komik dargestellt werden konnten. Es gibt daneben in seinem Werk noch einen anderen Aspekt, den man bisher etwas vernachlässigt hat. In einem Brief an Madame Hans- ka aus dem Jahre 1834 unterstrich er die beiden Dimensionen seines Werkes: „Auf der Basis dieses Palastes [gemeint sind Sittenstudien als Teil der Comédie humaine] werde ich, der ich ein kindliches Gemüt habe und gerne lache, die Arabeske der Cent contes drolatiques [der Hundert tolldrastischen Geschichten] entwerfen.“21

18 Ebenda, S. 448. 19 Honoré de Balzac: Le père Goriot. Paris: Librairie Générale Française 1984, S. 254 (übersetzt von J. J.). 20 Honré de Balzac: Avant-propos de La Comédie Humaine. In: Anthologie des Préfaces de romans français du XIXe siècle. Herausgegeben von Herbert S. Gershman und Kernan B. Withworth. Paris: Julliard 1965, S. 189–206, hier S. 192 (übersetzt von J. J.). 21 Zitiert nach Alain Vaillant: La crise de la littérature. Romantisme et modernité. Grenoble: Ellug 2005, S. 211 (übersetzt von J. J.).

81 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

Die Wiederentdeckung Rabelais’ durch die romantische Generation Neben den ernsten Romanen verdanken wir Balzac die Hundert lustigen Geschich- ten, die er unter die Autorität „unseres wackeren Meisters Rabelais“22 stellt. Rabelais verweist auf eine andere Tradition der Komik als die, die von der klassischen Dok- trin hochgehalten wird. Die erste Generation der Französischen Romantik hatte Rabelais wiederentdeckt. Als Balzac den eben zitierten Brief an Madame Hanska schrieb, äußerte sich auch der junge Flaubert 1838 an seinen Freund Ernest Cheva- lier: „Wirklich, ich schätze tief nur zwei Kerle: Rabelais und Byron, die beiden, die geschrieben haben, um dem Menschengeschlecht zu schaden und ihm ins Gesicht zu lachen.“23 Die Schriftsteller der Romantik scheinen sich so für einen Schriftsteller auszuspre- chen, der eine Komik verkörpert, die der klassischen Tradition völlig entgegenge- setzt ist, einen Skandalautor: Rabelais hat, so Alain Vaillant, Partei ergriffen für das Leben, die organische Energie, die animalische und wildbewegte Kraft, die ihrer- seits der körperlichen und geistigen Doppelnatur des Menschen entspringt. Darum auch der Rückgriff auf die Figur des Enormen.24 Auch für Victor Hugo bedeutet Rabelais die Rache des Magens gegen alle Asketik. „Jedes Genre hat“, so schreibt er, „seine Erfindung und seine Entdeckung […]. Diese alte Welt schlemmt und verreckt. Und Rabelais bringt eine ganze Dynastie von Mägen auf den Thron. Grandgousier, Pantagruel und Gargantua […]. Auch der monarchische und der geistliche Kiefer isst, der Kiefer von Rabelais lacht.“25 Die Schriftsteller des 19. Jahrhunderts feiern Rabelais als Helden eines fröhlichen Wissens, weil nun das klassische Zeitalter die Folie bildet, von der man sich abhe- ben will. Das wird vor allem offensichtlich in Baudelaires Studie über das „Wesen des Lachens“. Baudelaire verteidigte hier nicht die brave klassische Definition des Lachens, wie man sie später auch bei Bergson finden wird. Nach Bergson entsteht das Lachen, wenn ich mein Mitgefühl zum Schweigen bringe. Wenn ich über einen lache, der stürzt oder stolpert, darf ich dabei kein Mitgefühl empfinden. Der Stol- perer muss selbst für sein Stolpern (mit-)verantwortlich sein. Für Baudelaire aber ist das Lachen „eines der offenkundigsten Anzeichen des Teufels im Menschen […]. Das Lachen kommt von der Idee der eigenen Überlegenheit. Wohl die teuflischste Idee, die es jemals gab! Stolz und Verwirrung!“26 Das Lachen wäre dann die Schwä- che, die über die Schwäche des andern lacht. Baudelaire bringt in der Folge das berühmte Beispiel des „Anblicks eines Menschen, der auf dem Eis oder dem Pflaster

22 Honoré de Balzac: Tolldrastische Geschichten. München: Winkler 1990, S. 14. 23 Gustave Flaubert: Correspondance. Bd. I. Paris: Gallimard 1980. (= Bibliothèque de la Pléiade. 244.) S. 28 (übersetzt von J. J.). 24 Vgl. Vaillant, La crise de la littérature, S. 213 (übersetzt von J. J.). 25 Zitiert nach ebenda, S. 214 (übersetzt von J. J.). 26 Charles Baudelaire: Aufsätze. Übertragen von Charles Andres. München: Goldmann 1960, S. 11.

82 Joseph Jurt: Lachen in Texten von Molière bis Flaubert hinfällt, der am Rande eines Gehsteigs strauchelt“, und er beschreibt die Reaktion desjenigen, der lacht: „Der arme Teufel hat sich doch zumindest verunstaltet, vielleicht hat er sich sogar ein wichtiges Glied gebrochen. Und trotzdem erfolgt das Lachen un- widerstehlich und plötzlich. Wollte man diese Gelegenheit ausschöpfen, man fände sicherlich am Grunde des Gedankens des Lachenden einen gewissen un- bewussten Stolz. Dies ist der Punkt, von dem man ausgehen muss: ich, ich falle nicht; ich, ich gehe aufrecht; ich, ich stehe fest und sicher auf meinen Füßen. Nicht ich bin es, der die Dummheit begänge, eine Unterbrechung des Gehstei- ges oder einen Pflasterstein, der den Weg versperrt, nicht zu sehen.“27 Und Baudelaire unterstreicht dann den zutiefst ambivalenten Charakter des La- chens: „Das Lachen ist teuflisch, folglich ist es zutiefst menschlich. Es ist die Folge der Idee des Menschen von seiner eigenen Überlegenheit; und tatsächlich, da das Lachen im Wesentlichen menschlich ist, ist es im Wesentlichen ein Wider- spruch, daß es heißt, es ist gleichzeitig ein Zeichen [von unendlicher Größe und von] unendlicher Armseligkeit, einer unendlichen Armseligkeit gegenüber dem absoluten höchsten Wesen, dessen Fähigkeit zu denken er besitzt, und einer unendlichen Größe gegenüber den Tieren.“28 Nach Baudelaire drückt das Lachen eine Unterlegenheit gegenüber dem Traum aus, der wegen seiner meditativen Unschuld dem Geist der Kindheit entspricht. Über ei- nen Analogieschluss erstellt Baudelaire die These, die Naturvölker verfügten weder über Karikaturen noch über Komödien. Da die Komik auf einem Gefühl der Über- legenheit beruht oder auf einer Überzeugung dieser Überlegenheit, sei es natürlich, zu glauben, dass die Völker bei sich die Motive für die Komik wachsen sähen nach Maßgabe des Wachsens ihres Überlegenheitsgefühls. Baudelaire antwortet dann dem Einwand, man freue sich nicht immer über die Schwächen, über die Unterlegenheit der andern, und es gebe auch unschuldige Er- scheinungen, über die man lache. Man dürfe indes nicht die Freude mit dem Lachen verwechseln. Das Lachen des Kindes sei vor allem Ausdruck der Freude: „Das Kin- derlachen ist wie eine Blume, die sich entfaltet. Es ist die Freude am Empfangen, die Freude am Atmen, die Freude am sich Erschließen, die Freude am Schauen, am Leben, am Wachsen. Es ist die Freude der Pflanze.“29 Ferner unterscheidet Baudelaire zwischen dem Komischen und dem Grotesken. Vom Standpunkt des künstlerischen Schaffens sei die Komik eine Nachahmung, das Groteske eine Schöpfung. Wenn für die Komik das Lachen der Ausdruck der

27 Ebenda, S. 12. 28 Ebenda, S. 13–14. 29 Ebenda, S. 17.

83 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

Überlegenheit des Menschen über den Menschen sei, dann sei das Groteske Aus- druck der Überlegenheit des Menschen über die Natur. „Das durch das Groteske hervorgerufene Lachen [schließt] etwas Tiefgründi- ges, Axiomhaftes und Ursprüngliches in sich, etwas, was dem unschuldigen Leben und der absoluten Freude viel näher liegt als das schlechtweg Komische. Von der Frage der Nützlichkeit abgesehen, besteht zwischen diesen beiden La- chen der gleiche Unterschied, der zwischen der Schule der Zweckliteratur und der Schule [des] ‚l’art-pour-l’art‘ besteht. Im gleichen Höhenverhältnis überragt das Groteske das Komische.“30 Das Groteske qualifiziert Baudelaire dann als das ‚absolute Komische‘, als Antithese zum gewöhnlichen Komischen, das er als das ‚signifikative Komische‘ bezeichnet. Das signifikative Komische bedient sich einer klareren Sprache, die leichter zu ver- stehen und zu analysieren ist, weil es sich leicht in zwei Elemente aufgliedern lässt: in die Kunst und die Moral. Das absolute Komische – das Groteske – stellt sich in einer einheitlichen Form dar, die intuitiv erkannt werden muss. Baudelaire stellt schließlich die These auf, die Komik variiere je nach nationalen Anlagen, und er kommt dann auf Frankreich zu sprechen: „In Frankreich, dem Land des [klaren] Denkens und der klaren Beweisfüh- rung, wo die Kunst in natürlicher und direkter Weise auf das Natürliche ab- zielt, herrscht im Allgemeinen das [signifikative] Komische vor. In diesem Genre war Molière wohl die beste französische Ausdrucksform. Da es jedoch ein Grundzug unseres Charakters ist, alles Extreme von uns fernzuhalten, da es das Kennzeichen aller französischer Leidenschaft, aller französischen Kunst und Wissenschaft ist, Übertreibung [das Absolute und das Tiefe] zu meiden, kommt infolgedessen bei uns wenig grausam Komisches vor; ebenso […] stei- gert sich unser grotesk Komisches selten zum absolut Komischen.“31 Die Komik in den Erzählungen von Voltaire, die ihrem Wesen nach typisch fran- zösisch sind, fußt auf der Idee der Überlegenheit, es handelt sich hier um den Typus des signifikativen Komischen. Nach Baudelaire ist Rabelais allein der große franzö- sische Meister der Groteske, aber selbst er „behält in allen seinen ungeheuerlichsten Phantasien etwas vom Nützlichen und vom Vernünftigen bei.“32 Die aristotelische Doktrin, die von der französischen Klassik wieder aufgegriffen wurde, ordnete das Komische dem Bereich des Hässlichen und des Mittelmäßigen zu, im Gegensatz zum vornehmen Bereich des Tragischen. Nach der Poetik des Aristoteles entsteht das Lachen aus der Darstellung von etwas, das Schwächen des

30 Ebenda, S. 18. 31 Ebenda, S. 20–21. 32 Ebenda, S. 21; siehe dazu auch Catherine Kintzler: Baudelaire et la théorie classique du rire: comment se moquer du monde. In: Charles Baudelaire. Dichter und Kunstkritiker. He- rausgegeben von Karin Westerwelle. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 123– 137.

84 Joseph Jurt: Lachen in Texten von Molière bis Flaubert

Menschen ausmacht, unter der Voraussetzung, dass diese nicht mit Schmerzen ver- bunden sind. Im 19. Jahrhundert jedoch wird in einer spektakulären Wende, wenn man Alain Vaillant folgt, das ernsthaft Tragische zum Lächerlichen, während das Lachen bei Gautier oder Baudelaire zu einem privilegierten Mittel der schöpferischen Erfindung wird. Das Lachen versucht im 19. Jahrhundert, die ursprüngliche Kraft der Freude wiederzufinden. Darin besteht nach Alain Vaillant das Geheimnis der Schreibweise von Flaubert. „Wenn man über alles verzweifelt, dann bleibt bloß mehr das sinnlich- rührende Glück des Lachens und das künstlerische Vergnügen, dieses Lachen allein durch die unschätzbare Anmut des Stils sichtbar zu machen.“33 In der Tat gibt es bei Flaubert nicht das moralisch korrekte und korrigierende La- chen der klassischen Komödie, die ein Gesellschaftsideal illustriert, indem sie jene Verhaltensweisen als lächerlich erscheinen lässt, die von diesem Ideal abweichen. Flaubert denkt nicht daran, ein soziales Ideal hoch zu preisen. Er sieht vielmehr überall eine universelle Dummheit lauern. Wenn Flaubert in Madame Bovary den Pfarrer Bournisien als stumpfen, wenig inspirierten Vertreter eines geistlichen Kon- formismus darstellt, so evoziert er seinen ‚aufgeklärten‘ Gegenpart, den Apothe- ker Homais, kaum in einem positiveren Licht. Er schildert in dieser Person – auf extrem ironische Weise – die Banalisierung der Philosophie der Aufklärung. Eine doppelte Distanzierung, die Flaubert in einem einzigen genialen Satz kondensiert, wenn er die Haltung der beiden bei der Totenwache Emmas beschreibt: „Der Pfar- rer Bournisien besprengte das Zimmer mit Weihwasser und Homais streute etwas Chlor auf den Boden.“34 In der Education Sentimentale durchleuchtet Flaubert erneut die Erscheinungsfor- men der allgemeinen Dummheit. In einem Brief fragt er, wie es wohl möglich sei, die Schrift von Thiers De la propriété als Beispiel der allgemeinen Dummheit dar- zustellen: „In welcher Form kann man manchmal seine Meinung über die Dinge dieser Welt zum Ausdruck bringen, ohne dabei Gefahr zu laufen, später als Dumm- kopf zu gelten? Ein schwieriges Problem. Mir scheint, das Beste ist es, dies einfach wiederzugeben. Diese Dinge, die einem auf den Wecker gehen – einfach sezieren, das ist die Rache.“35 Man kann dieses Verfahren ebenfalls feststellen bei der Schilderung des ‚Club de l’Intelligence‘ in der Education sentimentale. Schon die Bezeichnung ‚Club de l’Intelligence‘ für einen Palaververein ist extrem ironisch. Ohne persönlich mit Kommentaren zu intervenieren, spießt Flaubert wie ein Insektensammler die Ge- meinplätze der Redner als Beispiele der allgemeinen Dummheit auf. Die Wortmel-

33 Vaillant, La crise de la littérature, S. 225 (übersetzt von J. J.). 34 Gustave Flaubert: Madame Bovary. Paris: Garnier 1964, S. 310 (übersetzt von J. J.). 35 Gustave Flaubert: Correspondance. Bd. III. Paris: Gallimard 1991. (= Bibliothèque de la Pléiade. 374.) S. 711 (übersetzt von J. J.).

85 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

dungen stellen sich selber durch und in ihre(r) groteske(n) Plattheit bloß. „Sezieren ist eine Rache“, sodass selbst das Urteil Frédérics über „diese Dummheit“ nicht mehr nötig ist. Flaubert schildert im selben Roman beim Sturm auf die Tuilerien das Volk als bes- tialische Masse, die schreit und trampelt und sich frenetisch dem Zerstörungstrieb hingibt. Er entwickelt dazu eine parallele Szene blinder Gewalt auf Seiten des Bür- gertums vor einem Verließ der Tuilerien. Der Roman legt diese Parallele explizit nahe, wenn von einer „Gleichheit der brutalen Tiere“ die Rede ist. „Und die seide- nen Mützen erwiesen sich nicht als weniger hässlich als die roten Mützen.“36 Dass Flaubert eine negative Gleichwertigkeit anzeigen wollte, geht auch aus einem Brief hervor, den er an George Sand richtete: „Die Patrioten werden mir dieses Buch nicht verzeihen, die Reaktionäre ebenso wenig.“37 Flaubert zeigt sich extrem skeptisch gegenüber jeder finalistischen oder progressiven Geschichtsphilosophie. Schon als junger Mann schrieb er so an einen Freund: „Wenn man die Geschichte liest, sieht man stets dieselben Räder auf denselben Straßen sich drehen, inmitten von Ruinen auf dem Staub des Weges der Menschheit.“38 Flaubert stellt die Idee einer linearen und logischen Kohärenz der Geschichte radikal in Fra- ge. Der Roman der Diskontinuität organisiert diese Diskontinuität jedoch durch eine poetische Kohärenz.39 Nur die ästhetische Vollendung vermag die Unordnung der Welt zu überwinden. „Wenn es in einem Wort“, so Flaubert hinsichtlich seines Romans Salammbô, „keine Harmonie gibt, liege ich falsch, sonst aber nicht. Alles steht miteinander in Verbindung.“40 Angesichts des Fehlens eines Sinnes der Geschichte bleibt bloß mehr das Rabelais’sche Lachen, ein Lachen, das alles ironisch betrachtet und letztlich alles rettet durch die alleinige Macht der Form.

36 Gustave Flaubert: L’Education sentimentale. Paris: Garnier 1964, S. 338 (übersetzt von J. J.). 37 Flaubert, Correspondance, Bd. III, S. 770 (übersetzt von J. J.). 38 Ebenda, Bd. I, S. 51 (übersetzt von J. J.). 39 Vgl. Gisèle Séginger: Flaubert. Une poétique de l’histoire. Strasbourg: Presses universitaires de Strasbourg 2000. 40 Flaubert, Correspondance, Bd. III, S. 282–283 (übersetzt von J. J.).

86 „… daß man in Gesellschaft mit Anstand und melodisch lache“ Höfische und bürgerliche Lachkultur im 17. und 18. Jahrhundert

Von Eckart Schörle

Ende des 18. Jahrhunderts berichtete ein anonymer Verfasser in der Zeitschrift London und Paris von einer ungewöhnlichen Einrichtung: von der Lachschule des Monsieur Robert. Dieser hatte zunächst als Gesangslehrer seine Dienste angeboten, sein Angebot dann aber später erweitert. Wenn man in vornehmen Gesellschaften mit Anstand erscheinen möchte, erklärte Robert seinem Publikum, reiche es nicht aus, „wenn man Witz und Verstand zeige, schöne Komplimente […] machen, und reitzend tanzen könne“. Man müsse auch darauf achten, „daß man in Gesellschaft mit Anstand und melodisch lache“. Folglich bot der Pariser Gesangslehrer an, „allen Standespersonen beiderley Geschlechts in dieser höchst nöthigen Kunst Unterricht zu geben“.1 Auch wenn der deutsche Autor mit einem Schmunzeln von dieser Lachschule er- zählt, so markiert diese Anekdote doch eine Zuspitzung des Lachdiskurses im 17. und 18. Jahrhundert. Das menschliche Lachen, das uns auf den ersten Blick als spontane, natürliche Affektäußerung erscheint, will also – so könnte man daraus folgern – durchaus auch gelernt sein. Unser Lachpotenzial unterscheidet sich nicht von dem früherer Generationen. Ge- nauso wie im Mittelalter können wir uns heute vor Lachen ausschütten oder einen Witz mit einem Schmunzeln beantworten. Aber unser Lachen ist keineswegs ge- schichtslos. Warum wird nur beim weiblichen Lachen vom Kichern gesprochen? Warum reagieren wir auf einen Witz oder ein komisches Ereignis unterschiedlich? Warum lachen wir in einigen Fällen frei heraus, während wir uns das Lachen in anderen verkneifen? Warum lachen wir mit, obwohl wir den schlechten Scherz ei- gentlich gar nicht komisch finden? Antworten erhalten wir, wenn wir uns die ge- sellschaftlichen Aushandlungsprozesse und Normierungen des Lachens in früheren Jahrhunderten ansehen.

Anständiges Lachen Erste Aufschlüsse über die Normierungen des Lachens bietet eine Analyse der An- stands- und Höflichkeitsliteratur der Frühen Neuzeit.2 Neben anderen Bereichen des alltäglichen Umgangs galt den (durchweg männlichen) Autoren dieser Ratgeber

1 [Anonym:] Roberts Unterricht in der Kunst gut und mit Anstand zu lachen. In: London und Paris 8 (1805), Bd. 15, S. 60–67, hier S. 63. 2 Ausführlich dazu Eckart Schörle: Die Verhöflichung des Lachens. Lachgeschichte im 18. Jahrhundert. Bielefeld: Aisthesis 2007, S. 51–94.

87 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

auch das Lachen als ein zu reglementierender Bereich. Sie wollten das Lachen in der Regel nicht verbieten, sondern forderten zu einer Mäßigung des Lachens auf – ganz im Sinne des aristotelischen Gebots der maßvollen Mitte (mediocritas). Gerne führ- ten die Verfasser in diesem Zusammenhang ein Zitat aus dem Buch Jesus Sirach (21,29) an: „Ein Narr lacht überlaut / ein Weiser lächelt ein wenig.“3 Ein vernünfti- ger Mensch solle sich also auch beim Lachen mäßigen. Christian Friedrich Hunold (1681–1721), einer der erfolgreichsten Autoren der deutschen Anstandsliteratur, erläuterte Anfang des 18. Jahrhunderts in seiner Ma- nier höflich und wohl zu Reden und zu Leben: „Viele haben sich angewehnet / wenn etwas Lustiges erzehlet wird / so starck zu lachen / daß es durch das gantze Haus schallet“. In der Gesellschaft vornehmer Leute verlange der Respekt jedoch, dass man „mehr mit den Minen als vollem Halse“ lache.4 Ein schallendes Gelächter, das den ganzen Körper erschüttert, war mit dem Verhaltensideal der Mäßigkeit nicht in Einklang zu bringen. In einem 1760 aus dem Französischen übersetzten Ratgeber heißt es unter dem Stichwort ‚Lachen‘: „Leute, die Vernunft haben, sind nicht gewohnt anders, als mit einer gewissen Zurückhaltung und Mäßigkeit, zu lachen. Sie befinden sich fast al- lemal in einem kleinen Mistrauen gegen sich selbsten, weshalb sie befürchten in ein unüberlegtes Lachen zu verfallen.“5 Das Gebot des mäßigen Lachens erforderte also Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle, wollte man nicht in ein spontanes Lachen verfallen, das in einer konkreten Situation vielleicht unerwünscht war. Der Aufwand zur Kontrolle des Lachens ist ungleich höher als die Einübung höfli- cher Umgangsformen, die Norbert Elias in seinem Prozess der Zivilisation beschrie- ben hat.6 Die Tatsache, dass gerade der Versuch, das Lachen zu verkneifen, das

3 Vgl. z. B. [Antoine de Courtin]: La Civilité Moderne, Oder die Höflichkeit Der Heuti- gen Welt. [Nouveau traité de la civilité, 1671.] Aus dem Französischen von Menantes [d. i. Christian Friedrich Hunold]. Hamburg: Schiller 1708, S. 91. 4 Menantes [d. i. Christian Friedrich Hunold]: Die Manier Höflich und wohl zu Reden und Leben, So wohl Mit hohen, vernehmen Personen, seines gleichen und Frauenzimmer, Als auch, Wie das Frauenzimmer eine geschickte Aufführung gegen uns gebrauchen könne […]. Hamburg: Brandt 1738, S. 103; das Buch erlebte zwischen 1710 und 1752 sieben Auf- lagen. 5 Anton Ulrich von Erath: Unterricht für junge Personen beyderley Geschlechts, So dasjeni- ge, was zu einer vernünftigen Aufführung gehöret, kennen zu lernen begierig und zugleich fähig sind, darüber schon selbst etwas nachzudenken. Aus dem Französischen übersetzt. Frankfurt: Möller 1760, S. 311 (Kap. 153). Grundlage ist die französische Schrift Avis aux jeunes Gens, capables de réflechir sur ce qui regarde une sage conduite (1756). 6 Vgl. Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogeneti- sche Untersuchungen. Bd. 1–2. 18. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993. Norbert Elias setzte sich auch intensiv mit dem Lachen auseinander, sein Essay on Laughter blieb je- doch unvollendet. Siehe dazu Eckart Schörle: Die Verhöflichung des Lachens. Anmerkun- gen zu Norbert Elias’ Essay on Laughter. In: Höfische Gesellschaft und Zivilisationsprozess. Norbert Elias’ Werk in kulturwissenschaftlicher Perspektive. Herausgegeben von Claudia Opitz. Köln; Weimar; Wien: Böhlau 2005, S. 225–244.

88 Eckart Schörle: Höfische und bürgerliche Lachkultur im 17. und 18. Jh.

Lachbedürfnis noch verstärkt, macht die Kontrolle schwierig und verleiht dem La- chen in der Kommunikation eine besondere Aussagekraft. Ein einzelnes, isoliertes Lachen in der Öffentlichkeit, das die Anwesenden nicht einbezieht, irritiert. Bereits Erasmus von Rotterdam (1466–1536) kritisierte das Alleinlachen in Gesellschaft. Für den Fall, dass man dennoch einmal ohne ersichtlichen Grund lachen müsse, riet er seinem Zögling, „andern die Ursache des Lachens [zu] entdecken / oder aber / so du erachtest / daß sie nicht zu offenbaren sey / etwas erdichtetes vor[zu]geben / auf daß einer nicht argwohne / daß er von dir verlachet werde.“7 Wer lacht, ohne den Anwesenden den Grund zu offenbaren, verunsichert die anderen. Um das Misstrau- en auszuräumen und den Verdacht zu zerstreuen, man wolle jemanden auslachen, ließ Erasmus sogar die Notlüge zu. Die Lachregeln galten allerdings nicht für alle gesellschaftlichen Schichten gleicher- maßen. Die kontrollierte Äußerung des Lachens diente den höheren Ständen auch als Abgrenzung nach unten. Bereits in der Art und Weise des Lachens sollten soziale Unterschiede erkennbar werden. Wer über andere bestimmen wollte, musste auch in der Lage sein, sich selbst zu beherrschen. Kaum einer brachte dies pointierter zum Ausdruck als der Earl of Chesterfield (1694–1773), der in den Briefen an seinen Sohn riet: „Wahrer Witz also kann niemals einen Mann von Erziehung zum eigent- lichen Gelächter bewegen; er ist darüber hinaus.“8 Von sich selbst behauptete der englische Aristokrat, dass er niemals gelacht habe.9 Diese Einstellung hatte nichts mit Humorlosigkeit zu tun. Chesterfield unterschied vielmehr das auf Lachen an- gelegte grobe Scherzen vom aristokratischen Ideal des geistreichen und feinsinnigen Witzes, der bestenfalls ein Lächeln hervorrufen könne. Im gemeinsamen Lachen und Scherzen verschwinden soziale Unterschiede. Die An- standslehrer machten ihre Leser deshalb darauf aufmerksam, dass man die Rangun- terschiede keinesfalls durch ein vertrauliches Scherzen mit Höherstehenden infrage stellen dürfe, denn der Scherz sei, wie etwa der Göttinger Theologe Christoph Au- gust Heumann (1681–1763) betonte, „Zeichen einer grossen Familiarität“10. Nichts sei unangebrachter, erklärte Friedrich Wilhelm Scharffenberg seinen jungen adligen Lesern, „als wenn man in Fürstl. Zimmern […] sich frey aufführet / mit seinen

7 Desiderius Erasmus von Rotterdam: Liber Aureus De Civilitate Morum Puerilium, Das ist: […] Güldenes Büchlein Von Höflichkeit der Sitten und Gebärden der blühenden Jugend / Jetzo mit Fleiß ins Deutsche zu Nutz deroselben transvertiret und übersetzet. Leipzig: Gle- ditsch und Weidmann 1702, fol. B 2r. 8 Philip Dormer Stanhope, Earl of Chesterfield: Briefe an seinen Sohn Philip Stanhope über die anstrengende Kunst ein Gentleman zu werden. Aus dem Englischen von I. G. Gellius. Leipzig; Weimar: Kiepenheuer 1983, S. 76, Brief vom 9.3.1748. 9 Vgl. ebenda. 10 Christoph August Heumann: Der Politische Philosophus, Das ist, Vernunfftmäßige An- weisung Zur Klugheit Im gemeinen Leben. 3., verm. und verb. Aufl. Frankfurt; Leipzig: Renger 1724, S. 45. Erstmals veröffentlichte Heumann seine politische Philosophie im Jah- re 1714.

89 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

Cammeraden lachet und so laut mit ihnen redet / als wäre man alleine mit ihnen auf seiner eigenen Stube“11. Auf der andern Seite erschien es den Autoren der Ratgeber notwendig, ihre im ge- sellschaftlichen Umgang ungeübten Leser darauf hinzuweisen, dass der vollständige Verzicht auf das Lachen wiederum falsch verstandene Höflichkeit sei.12 Von den Mitgliedern der höheren Gesellschaft werde ein Beitrag zur Unterhaltung der An- wesenden erwartet, der Scherz und Gelächter sehr wohl einbeziehe. Auch hier war aber das richtige Maß schwer zu finden. Wer sich mit seinen Witzen zu sehr aufdrängte, galt als nicht ernst zu nehmender Lustigmacher. Ebenso uner- wünscht war der sauertöpfische Gelehrte. Auch ernsthafte Themen müsse man wohl dosieren, erklärte François de Callières (1645–1717), und warnte davor, „in den lä- cherlichen Wahn einer gewissen Art der Gelehrten zu fallen, die nichts vor wohl geredet achten, als was in Griechischer und Lateinischer Sprache von den Alten gesagt worden“13. Mit einer übertriebenen Ernsthaftigkeit zerstöre man das gesellige Moment. Die hier vorgestellten Höflichkeitsratgeber richteten sich meist an junge Adlige, zum Teil aber auch an ein bürgerliches Publikum. Im folgenden Abschnitt soll nun die Lachkultur der höfischen Gesellschaft genauer charakterisiert werden.

Höfische Lachkultur Eine bewusste Kontrolle des eigenen Lachens war bei Hofe durchaus angebracht, doch zugleich kam dem Lachen und Scherzen ein zentraler Stellenwert zu. Wer bei Hofe Erfolg haben wollte, musste redegewandt sein und als guter Unterhalter auf- treten. Witz und Esprit waren zentrale Eigenschaften, die man von den Mitgliedern der höfischen Gesellschaft erwartete. Direkte Auseinandersetzungen waren verpönt, hoch im Kurs stand hingegen der verbale Schlagabtausch. Die ‚Kunst zu Scherzen‘ bestand darin, die Lacher des Publikums auf seine Seite zu ziehen. Bissige Scherze

11 Friedrich Wilhelm Scharffenberg: Die Kunst, Complaisant und Galant zu Conversiren, oder in kurtzem sich zu einem Menschen von guter Conduite zu machen. Chemnitz: Stößel 1716, S. 16. 12 Vgl. Julius Bernhard von Rohr: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft der Privat-Per- sonen / Welche die allgemeinen Regeln / die bey der Mode, den Titulaturen / dem Ran- ge / den Complimens, den Geberden, und bey Höfen überhaupt, als bey den geistl[ichen] Handlungen / in der Conversation, bey der Correspondenz, bey Visiten, Assembleen, Spielen, Umgang mit Dames, Gastereyen, Divertissements, Ausmeublierung der Zimmer / Kleidung, Equipage u.s.w. Insonderheit dem Wohlstand nach von einem jungen Teutschen Cavalier in Obacht zu nehmen vorträgt […]. Berlin: Rüdiger 1728. Neudruck herausgege- ben und kommentiert von Gotthardt Frühsorge. Weinheim: VCH 1990, S. 195. 13 François de Callières: Unterricht Von der Kentnüs der Welt, Und von den Wissenschaften, Die zu Führung eines Welt=klugen Lebens dienlich sind. [De la science du monde et des conduites à tenir dans la vie.] Aus dem Frantzösischen ins Deutsche übersetzet. Mit vielen nützlichen Anmerckungen. Leipzig: Martini 1718, S. 70.

90 Eckart Schörle: Höfische und bürgerliche Lachkultur im 17. und 18. Jh. und Spöttereien gehörten selbstverständlich dazu, erhöhten allerdings auch die Ge- fahr, dass die Stimmung des Publikums gegen einen selbst umschlagen konnte. Während man mit witzigen Bemerkungen seine Beliebtheit steigern konnte, war auf der anderen Seite kaum etwas schlimmer, als sich vor Publikum lächerlich zu machen. Wer sich dem kollektiven Gelächter des Hofes aussetzen musste, war sozial tot, wie es Georg Braungart einmal drastisch, aber treffend zuspitzte.14 Beispiele dafür finden sich in den Memoiren des Herzogs von Saint-Simon (1675–1755). An- schaulich schilderte er Ende des 17. Jahrhunderts, wie sich ein junger Leutnant, der bis dahin erst wenige Male bei Hofe erschienen war, auf einem Ball der Lächerlich- keit preisgab: „Man hatte ihn gefragt, ob er gut tanze, und er hatte mit solcher Selbstgefäl- ligkeit geantwortet, daß man sich versucht fühlte, das Gegenteil anzunehmen, worin man sich dann auch völlig bestätigt fand. Bei der ersten Verneigung schon geriet er ins Schwanken, bei den ersten Schritten kam er aus dem Takt, was er durch gezierte Mienen und viel zu hoch angesetzte Armbewegungen zu vertuschen suchte. Dadurch wurde er jedoch erst recht zur komischen Figur und rief Gelächter hervor, das bei allem Respekt vor dem König – der selber nur mühsam das Lachen unterdrückte – schließlich in einen wahren Tumult ausartete.“15 Das kollektive Gelächter beendete die Karriere des jungen Adligen schlagartig und Saint-Simon bemerkt: „Ich glaube kaum, daß irgend jemand jemals eine solche Er- niedrigung hat hinnehmen müssen. Er verschwand dann auch sogleich danach und ließ sich lange Zeit nicht wieder blicken.“16 Die Auswirkungen des höfischen Gelächters konnten also auch bei scheinbar harm- losen Situationen drastisch sein. Dabei spielte es kaum eine Rolle, ob man verspottet wurde oder sich durch eigenes Zutun selbst lächerlich machte. Fritz Schalk sah daher im Lächerlichen auch einen der zentralen Begriffe der Kultur des Ancien Régime.17 Die Anstandslehrer rieten ihren Lesern, bei Hofe zunächst einmal alles zu vermei- den, was sie der Lächerlichkeit aussetzen könnte. Nicht zufällig wählte Morvan de

14 Vgl. Georg Braungart: Le ridicule: Sozialästhetische Normierung und moralische Sankti- onierung zwischen höfischer und bürgerlicher Gesellschaft – Kontinuitäten und Umwer- tungen. In: Semiotik, Rhetorik und Soziologie des Lachens. Vergleichende Studien zum Funktionswandel des Lachens vom Mittelalter zur Gegenwart. Herausgegeben von Lothar Fietz, Joerg O. Fichte und Hans-Werner Ludwig. Tübingen: Niemeyer 1996, S. 228–238, hier S. 230. 15 Louis de Rouvroy, Duc de Saint-Simon: Die Memoiren des Herzogs Saint-Simon. Heraus- gegeben und übersetzt von Sigrid Massenbach. Bd. 1. Frankfurt am Main [u. a.]: Ullstein 1977, S. 28. 16 Ebenda. 17 Vgl. Fritz Schalk: Das Lächerliche in der französischen Literatur des Ancien Régime. Köln; Opladen: Westdeutscher Verlag 1954, S. 12.

91 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

Bellegarde (1648–1734) für seinen breit rezipierten Ratgeber den programmatischen Titel Betrachtungen über die Auslachenswürdigkeit.18 Die Fähigkeit zur ungezwungenen, scherzhaften Unterhaltung setzte Erfahrung und Vertrautheit mit der Gesprächskultur höfischer Kreise voraus. Eine Erfahrung, über die junge Adelige vom Lande oder bürgerliche Aufsteiger in der Regel nicht verfügten. Die witzige Bemerkung musste aus der Situation heraus entstehen. Schon der bewusste Versuch, witzig zu sein, so der Schriftsteller Georg Carl Claudius (1757–1815), sei zum Scheitern verurteilt: „Der gesellschaftliche Witz muß, wenn er gefallen soll, im Nu erzeugt, und schlechterdings das Kind des Augenblicks seyn. Wer Witz machen will, der macht ihn gewöhnlich schlecht.“19 Doch gerade das war eben nicht einfach erlernbar. Der bürgerliche Pädagoge Johann Bernhard Basedow (1723–1790) empfahl daher in der zweiten Hälfte des 18. Jahr- hunderts schlicht das Anlegen einer eigenen Witzsammlung: „Wenn du ein gutes Buch kennen lernest, was gesellschaftlichen Ergötzlichkei- ten, die vom Spiele unterschieden sind, als von Scherzen, zufälligen Reimen, muntern Liedern und Sinnsprüchen, Räthseln, ermunternden Erzählungen, Comödien aus dem Stehgreife u.s.w., so kaufe dasselbe, und lerne daraus die Mittel, in Gesellschaft ermuntert zu seyn.“20 Das Vortragen auswendig gelernter und vorbereiteter Witze bzw. das Glänzen mit den geistreichen Einfällen anderer stand den Regeln der Gesprächskunst allerdings diametral entgegen. Claudius spottete: „Die elendsten Spaßmacher sind diejenigen, mein Sohn, die bevor sie in eine Gesellschaft gehen, ihre Vademecums=Geschichten noch einmahl sorgfältig durchlesen, um dann damit brilliren zu können.“21 Der Fokus auf die Lachkultur soll nicht den falschen Eindruck erwecken, als sei das alltägliche Hofleben ein andauernder Ausbruch von Heiterkeit gewesen. Über weite Strecken forderten die hierarchische Struktur und die repräsentativen Funktionen eine starke Kontrolle von Affekten und Mimik. So klagte beispielsweise Liselot- te von der Pfalz (1652–1722) Anfang des 18. Jahrhunderts in einem Brief an ihre Schwester über die Langeweile bei Hofe: „Des [kann] ich mich hier nie berühmen, mich mit guten Freunden lustig ge- macht zu haben; denn das geschieht mir nie, und ob wir zwar hier 14, 15, 16,

18 Morvan de Bellegarde: Betrachtungen über die Auslachenswürdigkeit, und über die Mittel, selbige zu vermeiden. [Réflexions sur le ridicule, et sur les moyens de l’éviter, 1696.] [N]ach der 7. frantzösischen Edition in die deutsche Sprache übersetzt und mit einigen Anmerkun- gen vermehret durch den Verfasser der Europäischen Fama [d. i. Philipp Balthasar Sinold, gen. v. Schütz]. 2. Aufl. Leipzig: Gleditsch 1710. 19 George Carl Claudius: Ueber die Kunst sich beliebt und angenehm zu machen. Leipzig: Boehme 1797, S. 139, 16. Brief. 20 Johann Bernhard Basedow: Die ganze Natürliche Weisheit im Privatstande der gesitteten Bürger. Halle: Curt 1768, S. 114. 21 Claudius, Kunst, S. 80, 9. Brief.

92 Eckart Schörle: Höfische und bürgerliche Lachkultur im 17. und 18. Jh.

ja 17 Personen an einer Tafel essen, geht es stiller her als in einem Nonnenre- fektorium. Ein jedes isst vor sich weg und wird kein Wort gesprochen, noch an kein Lachen gedacht.“22 Nirgends war das Lachen unangebrachter als beim höfischen Zeremoniell. Wer hier bei einer unbeabsichtigt komischen Situation in unkontrolliertes Lachen verfiel, konnte seine Karrierechancen bei Hofe rasch beenden. Einen gewissen Gegenpol zur hierarchisch geprägten höfischen Lachgesellschaft boten Institutionen wie der Hofnarr oder das Hoftheater, doch selbst hier stellte das Lachen den Monarchen kaum infrage, sondern konnte eher für die adligen Mitglieder der Hofgesellschaft gefährlich werden. Nach dieser kurzen Skizze der höfischen Lachkultur soll im nächsten Abschnitt die bürgerliche Perspektive dargestellt werden, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede deutlich zu machen.

Bürgerliche Lachkultur Die Hofkritik, die dann von einem bürgerlichen und an der Aufklärung orientier- ten Publikum aufgegriffen wurde, beklagte die angebliche Allgegenwärtigkeit einer oberflächlichen Lustigkeit. In der 1759 erschienenenBetrachtung des Sein=Selbst be- merkt der Schriftsteller Louis-Antoine Caraccioli (1721–1803) über die Höfe: „Man schmeichelt sich daselbst immer zu lachen, und […] eine Glückseligkeit zu genies- sen, die auf denen Angesichtern scheinet abgebildet“ zu sein. Wirkliche Glückselig- keit treffe man an den Höfen nicht an, sondern nur ein „beklemmtes Herz […], das Gefallen an der Erniedrigung der andern, und Vergnügen an der eigenen Erhebung hat.“ 23 Da jeder versuche, Mimik und Gesichtszüge zu kontrollieren, so warnte der Frei- herr von Knigge (1752–1796) Ende des 18. Jahrhunderts, solle man dem lächelnden Gegenüber nicht trauen oder ein freundliches Gesicht keinesfalls gleich als Gunst- beweis deuten: „Man […] glaube sich nicht auf dem Gipfel der Glückseligkeit, wenn der gnä- dige Herr uns anlächelt, die Hand schüttelt oder uns umarmt! […] Vielleicht fühlt er gar nichts bey seiner Freundlichkeit, wechselt Minen, wie Andre Klei- der wechseln, ist grade in der Verdauungs-Stunde zu unthätigem Wohlwollen gestimmt, oder will einen Andern seiner Sclaven dadurch demütigen.“24

22 [Elisabeth Charlotte d’Orléans:] Liselotte von der Pfalz. Madame Elisabeth Charlotte, Du- chesse d’Orléans. Briefe. Herausgegeben von Annedore Haberl. München: Hanser 1996, S. 311, Brief an die Raugräfin Amalie Elisabeth aus Marly vom 16.5.1705. 23 [Louis Antoine de] Caraccioli: Die Betrachtung des Sein=Selbst. [La Conversation avec soi- meme, 1753 / 54.] In einer neuen Übersetzung aus dem Französischen. Frankfurt am Main: Andreä 1759, S. 300. 24 Adolph Freiherr von Knigge: Über den Umgang mit Menschen. 5., verb. Aufl. Hannover: Ritscher 1796. In: A. F. v. K.: Sämtliche Werke. Bd. 10. Neudruck herausgegeben von Paul Raabe. München [u. a.]: Saur 1992, S. 546 (zit. n. der Paginierung des Neudrucks).

93 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

Rückblickend auf seine eigenen Erfahrungen bei Hofe bekannte Knigge: „In einer anderen Periode spottete ich der Thorheiten, zuweilen nicht ohne Witz; Man fürchtete mich, aber man liebte mich nicht. […] Oder wenn meine satyrische Laune durch den Beyfall lustiger Gesellschafter aufgeweckt wurde, hechelte ich große und kleine Thoren durch; die Spaßvögel lachten dann; aber die Weisern schüttelten die Köpfe und wurden kalt gegen mich.“25 Besonders im Umfeld der Moralischen Wochenschriften entwickelte sich ein neues Modell, das der kritisierten höfischen Lachkultur entgegengestellt wurde. Nicht das Lachen über andere, sondern das gemeinsame Lachen stand nun im Mittelpunkt. Während die Autoren das Spotten und Verlachen scharf verurteilten, erhoben sie das gutmütige Miteinanderlachen zur Basis bürgerlicher Geselligkeit. Realisieren ließ sich dieses Lachen allerdings nicht in einer großen Öffentlichkeit, sondern nur in einem kleinen Kreis vertrauter Personen und Freunde. Nur hier war das offene und freie Lachen über den Verdacht erhaben, es könne sich gegen andere richten und diese lächerlich machen. Das Ideal des Miteinanderlachens, das niemanden verletzt und ausgrenzt, ging eng mit der Herausbildung des bürgerlichen Humorbegriffs einher. Während man die höfische Gesellschaft mit den Schlagworten Witz und Esprit charakterisieren kann, steht für die bürgerliche Gesellschaft der Begriff des gutmütigen und versöhnen- den Humors.26 Scherz und Spott, verbunden mit dem kollektiven Gelächter einer Gruppe, gehen immer auf Kosten eines anwesenden oder vorgestellten Dritten.27 Die Ideologie des bürgerlichen Humors verlangt ein Lachen, das niemanden verletzt oder ausgrenzt. Dies hatte zur Folge, dass geradezu eine ‚Pflicht zur Fröhlichkeit‘ bestand. Wer sich dem Lachen verweigere – meint beispielsweise die Moralische Wochenschrift Men- schenfreund –, handle nicht nur wider die Natur, sondern auch gegen das Wohl der Gesellschaft und sei ein „unnützer Mensch, welcher der gantzen Republick un- brauchbar ist“28.

25 Ebenda, S. 44. 26 Siehe dazu Humor und Witz. Herausgegeben von Wolfgang Schmidt-Hidding. München: Hueber 1963; Arno Dopychai: Der Humor. Begriff, Wesen, Phänomenologie und pädago- gische Relevanz. Bonn, Univ., Diss. 1988. 27 Bergson hat auf die gesellschaftliche Dimension des Lachens hingewiesen und betont, dass das Lachen stets das Lachen einer Gruppe sei. „Lachen wird nur verständlich, wenn man es in seinem eigentlichen Element, d. i. in der menschlichen Gesellschaft, beläßt und vor allem seine praktische Funktion, seine soziale Funktion, zu bestimmen sucht.“ Henri Bergson: Das Lachen. [Le Rire, 1900.]. Aus dem Französischen von Julius Frankenberger und Walter Fränzel. Meisenheim am Glan: Hain 1948, S. 9–10. 28 [Jacob Friedrich Lamprecht:] Menschenfreund. Aus seinen Hinterlassenen Schriften ver- mehrt und verbessert. Nebst einem Vorberichte Von den Lebensumständen des Verfassers [von J. M. Dreyer]. Hamburg: Grund 1749, 16. Stück, S. 110.

94 Eckart Schörle: Höfische und bürgerliche Lachkultur im 17. und 18. Jh.

Wer nicht mitlachte, positionierte sich außerhalb der Gesellschaft. Der Menschen- freund ging sogar so weit, dass er eine Verbindung zwischen dem Lachen und der wirtschaftlichen Entwicklung herstellte: „Ich sorge mit meiner Fröhlichkeit auch für das Vergnügen meiner Mitbürger. […] Vergnügte und zufriedene Bürger sind allemal fähiger, für das Beste ihres Staates zu sorgen, und sie werden sich bemühen, den Flor einer Stadt zu erhal- ten, welche ihnen Gelegenheit giebt, vergnügt zu seyn.“29 Der scheinbar unproduktiven Lustigkeit des Hofes wird hier also ein Lachen ent- gegengestellt, das sich im Einklang mit der wirtschaftlichen Prosperität wähnt. Der fröhliche Bürger wird zur Grundbedingung des ökonomischen Wohlstands erklärt.30 Doch auch beim bürgerlichen Miteinanderlachen wurden keineswegs alle gleich be- handelt. Auch hier grenzte man sich vom Lachen der unteren Schichten ab. Dieses wurde als unkultiviert verurteilt, als einfältig und unvernünftig abgewertet oder als Zeichen der unbeschwerten Fröhlichkeit der armen Landbevölkerung romantisiert. Ähnliches galt für das Scherzen und Lachen der Frauen. Während in der höfischen Lachkultur das gelungene Erregen von Heiterkeit in geselligen Runden mit Män- nern und Frauen zum Ideal erhoben wurde, setzte sich in der bürgerlichen Literatur eher eine Abwertung des weiblichen Scherzens und Lachens durch. Der Schriftstel- ler Andreas Meyer (1742–1807) sprach seinen Leserinnen das Recht ab, aus vollem Halse zu lachen, denn ein „krachendes Gelächter ist in vernünftigen Augen für ein artiges Frauenzimmer etwas sehr unanständiges.“31 Beständig lachende Frauen, heißt es dort, seien in der Gesellschaft nicht gerne gesehen. Besonders das Lachen über einen unzüchtigen Scherz oder das laute Lachen sei einer Frau nicht angemes- sen, etwa wenn „ein erbar Frauenzimmer mit vollem Munde lachen wolte, daß man es über etliche Häuser hören könte“32. Kaum anders beurteilte der Philanthrop Basedow das unkontrollierte weibliche La- chen: „Man gewöhne die Mägden zu einer zwar vernehmlichen, aber etwas feinern und sanftern Stimme. Ein starkes Geräusch im Niesen, Husten und Lachen, ist ihnen noch unanständiger, als den Knaben. Sie müssen sich fast niemals stärker

29 Ebenda, S. 112. 30 Dass durchaus ein Zusammenhang zwischen Lachen und Wirtschaft bestehen kann, zeigen die Lächelboykotte, die Verkäuferinnen und Stewardessen seit den 70er-Jahren des 20. Jahr- hunderts immer wieder angewendet haben, um bessere Arbeitsbedingen durchzusetzen. 31 Andreas Meyer: Wie soll ein junges Frauenzimmer sich würdig bilden? 3. und verm. Aufl. Erlangen: Walther 1776, S. 12. 32 Ebenda, S. 49–50.

95 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

bewegen, als es der jedesmalige Zweck erfordert. Denn sie sind an Leibeskräf- ten das schwächere Geschlecht, und sollen es auch äußerlich zeigen.“33 Hier wird in einer ungewöhnlichen Offenheit begründet, warum von Frauen eine stärkere Kontrolle des Lachens verlangt wurde. Das Konstrukt des schwachen Ge- schlechts durfte nicht durch ein selbstbewusstes oder lautes Lachen infrage gestellt werden. Stattdessen forderten die Autoren ein gemäßigtes Lachen ein, das eher ei- nem passiven Lächeln nahe kam, mit dem die Frauen beispielsweise den männlichen Scherz goutieren sollten.34 Auch das bürgerliche Lachen war also keineswegs frei und ungezwungen. Mit dem kontrollierten Lachverhalten übernahm man ein Element des aristokratischen Ha- bitus und grenzte sich damit ebenfalls gegen andere soziale Gruppen ab. Das Ideal des Miteinanderlachens ließ sich nur im vertrauten Gespräch unter Freunden ver- wirklichen.

Selbstkontrolle und Verinnerlichung Sowohl in der höfischen wie auch in der bürgerlichen Gesellschaft unterlag das La- chen der sozialen Beobachtung. In vielen Fällen war das öffentliche Lachen unpro- blematisch. Allerdings ließ sich das Komische nicht immer mit dem gesellschaftlich erwünschten Lachen in Einklang bringen. Geschah während eines höfischen Zeremoniells ein ungeplantes Missgeschick, er- zeugte der Widerspruch zwischen der würdigen Inszenierung und dem Versagen körperlicher Motorik eine objektiv komische Situation. Das Lachen hatte man in diesem Moment zu unterdrücken. Eine vergleichsweise harmlose Szene schildert Ernst Ahasverus Heinrich von Lehndorff (1727–1811), der Kammerherr der Kö- nigin Elisabeth Christine von Preußen: „Als einmal ein Posthorn zu hören ist und alles aufspringt, ist der Königin, die ein gleiches tun will, ein Bein eingeschlafen, was sie dermaßen in Harnisch bringt, daß alle im stillen lachen müssen.“35 Während hier der Respekt vor den Höhergestellten ausschlaggebend war, stand beim Bürgertum die Angst vor einem ungeplanten, verletzenden Lachen im Vor- dergrund, das den hohen Anspruch des Mitgefühls mit einem Schlag vernichten könnte. „Mich haben viele Leute […] versichert“, bemerkte Carl Friedrich Pockels

33 Johann Bernhard Basedow: Practische Philosophie für alle Stände. Ein weltbürgerlich Buch ohne Anstoss für irgend eine Nation, Regierungsform und Kirche. Bd. 2. 2., verb. Aufl. Dessau: Heybruch 1777, S. 89. 34 Wie hartnäckig sich diese Rollenverteilung bis heute gehalten hat, zeigt der Umstand, dass es Komikerinnen immer noch sehr schwer haben, sich in den männlich dominierten Berei- chen Kabarett, Satire und Comedy als erfolgreiche Akteurinnen durchzusetzen. 35 Dreißig Jahre am Hofe Friedrichs des Großen. Aus den Tagebüchern des Reichsgrafen Ernst Ahasverus Heinrich von Lehndorff, Kammerherrn der Königin Elisabeth Christi- ne von Preußen. Herausgegeben von Karl Eduard Schmidt-Lötzen. Bd. 1. Gotha: Perthes 1907, S. 435.

96 Eckart Schörle: Höfische und bürgerliche Lachkultur im 17. und 18. Jh.

(1757–1814) im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, „daß sie sich oft gezwungen sähen, bei den Klagen andrer das Gesicht von ihnen weg zu wenden, um nicht in ein lautes Lachen auszubrechen“.36 Sie würden dann versuchen, das unwillkürliche Lachen durch einen neuen Gedanken zu überspielen, um nicht in den Verdacht der Gefühllosigkeit zu geraten. Zu den Momenten der Lachkontrolle kamen in beiden Gesellschaften die Forde- rungen nach einem konformistischen Lachverhalten. Der Hof erwartete von seinen Mitgliedern Witz und Esprit, belohnt wurden die erfolgreichen und geistreichen Unterhalter, die die ‚Kunst zu Scherzen‘ beherrschten. Wer sich dem gemeinsamen Lachen entzog, machte sich verdächtig. Ein betrübter Geist war möglicherweise mit seiner Karriere bei Hofe gescheitert oder in Ungnade gefallen. Von solchen unglück- lichen Personen, so die dringende Empfehlung der Ratgeber, müsse man sich daher fernhalten. Selbst solle man am besten stets mit einer fröhlichen Miene in der Öf- fentlichkeit auftreten. Die bürgerliche Gesellschaft verlangte ebenfalls eine Teilhabe an der Fröhlichkeit der Anwesenden. Bei einer geselligen Zusammenkunft solle man als freundlicher und aufgeweckter Gesellschafter erscheinen, so der Pädagoge Joachim Heinrich Campe (1746–1818), und sich „ein recht großes Maaß von Heiterkeit und guter Laune […] erwerben“37. Wer dieses Maß an Heiterkeit nicht aufbringen könne, solle die Zusammenkunft nicht durch seine Anwesenheit verdrießlich machen und besser gleich ganz fern bleiben. Die Pflicht zur Fröhlichkeit gipfelte darin, dass die Pädagogen im unschuldigen Kinderlachen den Keim des sozialen Miteinanders der bürgerlichen Gesellschaft ausmachten. Der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) hielt das Lachen für eine „heilige Gabe Gottes“, die man bei den Kindern erhalten müsse: „[…] fürchte dich nicht vor dem Lachen deines Kindes – aber fürchte dich hin- gegen und fürchte dich sehr vor dem Aufhören seines Lachens oder vielmehr seines Frohsinns, daraus das Lachen entkeimt! […] Ja, Mutter! wenn dir dein Kind lieb ist, so hüte seinem Lachen und der heiligen Quelle desselben – sei- nem Frohsinn.“38

36 C[arl] F[riedrich] Pockels: Psychologische Bemerkungen über das Lachen, und insbesondeinsbesonde-- re über eine Art des unwillkürlichen Lachens. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde 3 (1785), Stück 1. In: Karl Philipp Moritz: Die Schriften in 30 Bänden. Herausgegeben von Petra und Uwe Nettelbeck. Bd. 3. Nördlingen: Geno 1986, S. 70–82, hier S. 77. 37 Joachim Heinrich Campe: ThTheophron eophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne JuJu-- gend. Ein Vermächtniß für seine gewesenen Pflegesöhne, und für alle erwachsnere junge Welt, welche Gebrauch davon machen wollen. Bd. 1. Hamburg: Bohn 1783, S. 163. 38 Johann Heinrich Pestalozzi: Anleitung für Mütter (1803). In: J. H. P.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Herausgegeben von Artur Buchenau, Eduard Spranger und Hans Stett- bacher. Bd. 15. Zürich: Orell Füssli 1958, S. 412–413.

97 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

Diese Idealisierung des unschuldigen Kinderlachens stellte sich gegen die strenge Disziplinierung des Lachens. Doch auch hier sind die gesellschaftlichen Bezüge der Zuschreibungen und Erwartungen offenkundig.

Fazit Es sollte deutlich geworden sein, dass unter der Disziplinierung und Verhöflichung des Lachens nicht das Verschwinden einer ursprünglichen, unreglementierten Lach- kultur zu verstehen ist. Die soziale Sprengkraft des Lachens – es kann ausgrenzen und verbinden, verletzen und unterhalten, verborgene Einstellungen zum Ausdruck bringen und Zustimmung signalisieren – bringt es mit sich, dass sich jede Gesell- schaft auch über die soziale Lachpraxis und Regeln für das angemessene und unan- gemessene Lachen verständigen muss. Die Geschichte des Lachens ist in erster Linie ein permanenter Aushandlungsprozess von Freiräumen und Begrenzungen des Lachens. Entsprechend hat sich auch der Stellenwert des Lachens im Verlauf der Jahrhunderte geändert. Die Lachgeschichte lässt sich vielleicht am ehesten mit dem Bild einer Wellenbewegung begreifen. Es gibt Phasen und Orte der Lachkontrolle, aber ebenso Phasen und Orte, in denen sich das Lachen anders und freier entfalten kann. Mit den unterschiedlichen Lach- diskursen verändern sich auch die Bedeutungen des Lachens, verschiedene Lachmo- delle können so in Konkurrenz treten. Betrachtet man die Behandlung des Lachens in der Anstands- und Höflichkeitslite- ratur, lässt sich im 17. und 18. Jahrhundert durchaus eine besonders intensive Phase der Beschäftigung mit dem Lachen beobachten. Im 19. Jahrhundert scheinen die Lachregeln bereits selbstverständlich zu sein, zumindest nehmen sie in den Ratge- bern einen deutlich geringeren Raum ein. Das Lachen als solches – das sei noch einmal betont – hat sich durch die diskursive Prägung nicht verändert. Das kultivierte Lachen ist vielmehr als eine ständig neue Herausforderung zu sehen. Der Blick auf den Lachdiskurs richtet sich daher nicht nur in die Vergangenheit, sondern trägt dazu bei, dass wir unser heutiges Lachen – das keineswegs frei von Regeln ist – besser verstehen können.

98 Prolegomena zu einer Kulturgeschichte des Parasiten in der griechisch-römischen Komödie Von Matthias J. Pernerstorfer

I. Ressentiments & Ideale Die folgenden Ausführungen sind den Parasiten der Antike,1 vornehmlich der grie- chischen, gewidmet. Es stehen Beobachtungen zu jenen Figuren im Mittelpunkt, die dem griechischen Sprachgebrauch folgend als παράσιτοι bezeichnet wurden. Um diese angemessen interpretieren zu können, ist es notwendig, die Konsequen- zen der ideengeschichtlichen Entwicklung, die der Begriff Parasit besonders in den letzten Jahrhunderten durchgemacht hat,2 so weit wie möglich auszublenden, um nicht voreingenommen an den Untersuchungsgegenstand heranzutreten. Das ist

1 Literatur: Moritz Hermann Eduard Meier: Parasiten. In: Johann Samuel Ersch und Johann Gottfried Gruber: Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste. Sec- tion III. Theil 11. Leipzig: Brockhaus 1838, S. 417–423; Alfred Knorr: Die Parasiten bei den Griechen. Die Parasitennamen bei Alciphron. Programm des städtischen Gymnasiums zu Belgard, 1874 / 75. Belgard: Klemp 1875, S. 3–20; Otto Ribbeck: Kolax. Eine ethologi- sche Studie. Leipzig: Hirzel 1883. (= Abhandlungen der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften. 21.); Emil Giese: De parasiti persona capita selecta. Kiel, Univ., Diss., 1908; Johann Michaël Gerard Maria Brinkhoff: De parasiet op het romeinsche toneel. In: Neophilologus 32 (1948), S. 127–140; Ludwig Ziehen, Ernst Wüst und August Hug: Παράσιτοι / Parasitos. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Bd. XVIII / 4. Stuttgart: Druckenmüller 1949, Sp. 1377–1405; Jan Nuchelmans: De tafel- schuimer in der Griekse Komedie. In: Lampas 10 (1977), S. 362–375; Luis Gil: El ‘Alazón’ y sus variantes. In: Estudios Clásicos 25 (1981–1983), S. 39–57; Heinz-Günther Nesselrath: Lukians Parasitendialog. Untersuchungen und Kommentar. Berlin; New York: de Gruyter 1985. (= Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte. 22.) S. 88–121; Cynthia Damon: The Mask of the Parasite. A Pathology of Roman Patronage. Ann Arbor: The Uni- versity of Michigan Press 1997; Ulrich Enzensberger: Parasiten. Ein Sachbuch. Frankfurt am Main: Eichborn 2001, S. 11–72; Elizabeth Ivory Tylawsky: Saturio’s Inheritance. The Greek Ancestry of the Roman Comic Parasite. New York [u. a.]: Lang 2002. (= Artists and Issues in the Theatre. 9.); Stephan Flaucher: Studien zum Parasiten in der römischen Ko- mödie. Mannheim: Mateo 2003. (= Mateo Monographien. 29.) [Zugl.: Mannheim, Univ., Diss. 2002.]; Andrea Antonsen-Resch: Von Gnathon zu Saturio. Die Parasitenfigur und das Verhältnis der römischen Komödie zur griechischen. Berlin; New York: de Gruyter 2004. (= Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte. 74.); Matthias Johannes Per- nerstorfer: Menanders Kolax. Ein Beitrag zu Rekonstruktion und Interpretation der Komö- die. Mit Edition und Übersetzung der Fragmente und Testimonien sowie einem dramatur- gischen Kommentar. Berlin; New York: de Gruyter 2009. (= Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte. 99.) 2 Siehe dazu Enzensberger, Parasiten, ab S. 73. Von modernen Konzepten des ‚Parasiten‘ (etwa jenem von Michel Serres: Der Parasit. [Le parasite, 1980.] Aus dem Französischen von Michael Bischoff. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987) auszugehen, kann produktive Ergebnisse bringen (Damon, Mask of the Parasite), doch machen die in der Antike als παράσιτοι / parasiti bezeichneten Figuren / Personen in diesem Fall nur einen Bruchteil des Materials aus, und das Besondere des in der Mittleren und Neuen Komödie wesentlichen Konzeptes wird nicht deutlich.

99 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

eine methodisch selbstverständliche Forderung, der offenbar jedoch nur äußerst schwer entsprochen werden kann, was sich darin zeigt, dass die antiken Parasiten in der Regel eher abschätzig beurteilt und ihre Aussagen zur Selbsteinschätzung nicht ernst genommen werden. Der daraus resultierende latent negative und oberfläch- liche Zugang macht es unmöglich, die innere Logik dieser Figur zu erkennen. So erklärt sich, dass bislang keine Studie vorliegt, in der die Rolle des Parasiten in der griechisch-römischen Komödie in ihrer Komplexität umfassend beschrieben und dem Phänomen παράσιτος / parasitus mit der notwendigen Wertschätzung entgegen- getreten worden wäre. Dabei ist das Wort ursprünglich aus (vor allem in Attika beheimateten) Kulten bekannt, und zwar für Personen, die als Vertreter ihres Demos, ihrer Polis etc. bei Götterspeisungen für Apollon, Herakles u. a. teilnahmen und teilweise Aufgaben in der Organisation des jeweiligen Kultes innehatten.3 Für geehrte Personen, die im Prytaneion auf Kosten der Polis verköstigt wurden, war die Bezeichnung παράσιτος ebenfalls gebräuchlich. In den frühen Belegen für παράσιτος außerhalb des Kultes4 finden sich nun auffälligerweise keinerlei Anspielungen auf diese ehrenvolle Her- kunft des Wortes, und gesammelt bzw. überliefert sind die entsprechenden Belege fast ausschließlich im Kontext von Beschreibungen des Komödienparasiten.5 Offenbar erfährt das Wort παράσιτος erst durch die Verwendung auf der Bühne, die zur Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. einsetzt, eine weite Verbreitung. Doch genau dadurch tritt jene bereits von antiken Autoren diagnostizierte Bedeutungsver- schiebung ein,6 die dazu führt, dass παράσιτος einen negativen Beigeschmack erhält. Entscheidend für das Verständnis des Parasiten ist nun, dass einige Komödiendich- ter noch bis ins 3. Jahrhundert v. Chr. gegen diese Entwicklung anschreiben, indem sie unterschiedliche Arten des Parasiten als stehende Figuren etablieren, zwischen guten und schlechten Parasiten differenzieren bzw. das Ideal eines reinen Parasiten auf die Bühne bringen, der nur Parasit ist und sonst nichts. Dieser Parasit kann als positive Kontrastfigur zu kritikwürdigen Personen(gruppen) eingesetzt werden, weil

3 Siehe Ziehen / Wüst / Hug, Παράσιτοι / Parasitos, Sp. 1377–1381; Louise Bruit-Zaidman: Ritual Eating in Archaic Greece. Parasites and Paredroi. In: Food in Antiquity. Herausge- geben von John Wilkins, David Harvey und Michael Dobson. Exeter: University of Exeter Press 1995, S. 196–203; Peter Kruschwitz und Theodor Hiepe: Die antiken Wurzeln des Begriffs „Parasit“. In: Nova Acta Leopoldina. N. F. (2000), Bd. 83, Nr. 316, S. 147–158. 4 Platon, Laches 179c, Araros, Das Hochzeitslied Fr. 16 K.-A. und eben Alexis, Parasitos Fr. 183 K.-A. Die Fragmente der griechischen Komödiendichter werden zitiert nach: Poetae Comici Graeci (PCG). Herausgegeben von Rudolf Kassel und Colin Austin. Berlin; New York: de Gruyter 1983ff.; die Zählung der Menander-Fragmente erfolgt, abgesehen vom Kolax (nach Pernerstorfer, Menanders Kolax), nach: Menander. Volume I–III. Edited and translated by William Geoffrey Arnott. Cambridge; London: Harvard University Press 1979, 1996, 2000. 5 Möglicherweise waren die im Prytaneion auf Staatskosten Speisenden mehr präsent; vgl. Timokles, Drakontion Fr. 8 K.-A.; Platon bezeichnet im Protagoras (337d) das Haus des berühmt-berüchtigten Mäzens Kallias wohl nicht zufällig als „Prytaneion der Weisheit“. 6 So Polemon und Krates (zitiert bei Athenaios VI 234d und 235bc).

100 Matthias J. Pernerstorfer: Der Parasit in der griechisch-römischen Komödie er selbst nicht mit den Existenzsorgen der armen Schlucker der Alltagswirklichkeit zu kämpfen hat, aus deren sozialer Schicht seine ‚realen‘ Vorlagen stammen, sich also nicht deren (mit den gängigen Moralvorstellungen mitunter in Konflikt stehenden) Überlebensstrategien aneignen muss. Vielmehr verkörpert der reine Parasit durch sein Leben im Moment einen Idealzustand auf Dauer, der für gewöhnlich nur im Kontext eines Festes erlebt werden kann.

II. Mit Athenaios gegen Athenaios Neben den eingangs angesprochenen Ressentiments gibt es einen weiteren Grund dafür, dass diese kulturgeschichtlich interessanten Zusammenhänge bislang nicht untersucht worden sind: Die wichtigste Quelle zur Geschichte des Parasiten in der griechischen Komödie, das ‚Parasitenreferat‘ im sechsten Buch (234c–248c) der Deipnosophistai des Athenaios von Naukratis, in welchem auch der Großteil der Belege für Parasiten im religiösen Kontext überliefert ist, verstellt den Blick auf den Parasiten ebenso, wie sie ihn eröffnet. Das betrifft sowohl die begriffsgeschichtliche7 als auch die gattungsgeschichtliche Ebene. Den Ausführungen des Sophisten aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. liegt ein wirkmächtiger Ansatz zugrunde, der die Figur des Parasiten nach bestimmten Eigenschaften definiert und wenig Bewusstsein für die Bedeutung des Unterschiedes der dafür verwendeten Bezeichnung(en) sowie der einzelnen dramatischen Gattungen erkennen lässt. So ist es für Athenaios egal, ob ein ‚Parasit‘ in den Mimen Epicharms8 oder den Stücken der Alten Komödie auftritt (im 5. Jahrhundert v. Chr. werden unterschied- liche Bezeichnungen verwendet, am häufigsten κόλαξ, was am besten mit ‚schmei- chelnder Schmarotzer‘ zu übersetzen ist) oder eben in den Werken von Alexis oder Menander, Vertretern der Mittleren und Neuen Komödie.9 Letztere sind etwa be-

7 Der fiktive Sprecher des ‚Kolaxreferates‘ in den Deipnosophistai (VI 248d–262a) betont eingangs ausdrücklich, κόλαξ und παράσιτος seien nicht sehr unterschiedlich. Belege für die Verwendung von κόλαξ bei Alexis (Fr. 262 und 233 K.-A.) und Antiphanes (Fr. 142 K.-A.) sowie ein Testimonium zu Menanders Kolax (Test. ii), Quellen, die Athenaios kannte, doch offenbar nicht in sein Bild der Geschichte des Komödienparasiten einordnen konnte, wur- den nicht im ‚Parasitenreferat‘ behandelt, sondern ins ‚Kolaxreferat‘ abgeschoben. Zu den Thesen zur Begriffsgeschichte vonπαράσιτος und κόλαξ von Nesselrath, Lukians Parasiten- dialog, S. 88–121, und Peter G. McC. Brown: Menander, Frr. 745 and 746 K–T, Kolax, and Parasites and Flatterers in Greek Comedy. In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik (1992), Nr. 92, S. 91–107, siehe Pernerstorfer, Menanders Kolax, S. 151–166, und Matthias Johannes Pernerstorfer: Zum Begriffspaar κόλαξ und παράσιτος. H.-G. Nesselraths These und P. G. McC. Browns Kritik. In: Hermes 138 (2010), H. 3, S. 361–369. 8 In Die Hoffnung oder Der Reichtum (Fr. 31 K.‑A.) spricht ein ἀείσιτος, also einer, der immer isst. Die Behauptung, Epicharm habe das Wort παράσιτος verwendet (so Pollux VI 35 und ein Scholion zu Homer, Ilias ρ 577) ist wohl als Fehldeutung dieses von Athenaios (VI 235ef) überlieferten Fragmentes zu verstehen. 9 Zur Periodisierung der griechischen Komödie siehe Heinz-Günther Nesselrath: Die atti- sche Mittlere Komödie. Ihre Stellung in der antiken Literaturkritik und Literaturgeschich- te. Berlin; New York: de Gruyter 1990. (= Untersuchungen zur antiken Literatur und Ge- schichte. 36.)

101 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

züglich ihrer Dramaturgie und des zugrundeliegenden Maskenkabinetts deutlich von früheren Theaterformen unterschieden, und in ihnen wird der Parasit – nun auch so bezeichnet – zur stehenden Figur bzw. ist er eine solche bereits geworden. Das ändert die Rezeptionshaltung des Publikums entscheidend, und deshalb ist es notwendig, mit den in den Deipnosophistai versammelten Zitaten aus Komödien und theatergeschichtlichen Werken in zentralen Punkten gegen Athenaios Position zu beziehen.10

III. Motivgeschichte Mit dieser Kritik an Athenaios soll nicht geleugnet werden, dass der Parasit in einer motivgeschichtlichen Tradition steht: Die Figur des armen Schluckers, der häufig als ungeladener Gast (ἄκλητος) auftritt und durch Witz, Schmeichelei und kleine Dienste im Umfeld junger Männer einen Platz an deren Tafel verdienen und sein stark ausgeprägtes Bedürfnis nach Speis und Trank befriedigen möchte, lässt sich in dramatischen Texten bis Epicharm und in der Literatur allgemein bis Homer zurückverfolgen.11 Auf diese Tradition verweisen Dichter wie Hipponax (6. Jahr- hundert v. Chr.), wenn sie sich die Maske des ‚Parasiten‘ aufsetzen,12 ebenso wie die Komödienparasiten selbst, wenn sie z. B. ihr Verhalten von Figuren aus der Ilias herleiten, die ebenfalls ungeladen zu Gastmählern kommen (Menelaos in Homers Ilias, β 40813) etc.14 Die Odyssee markiert durch eine nuancierte Darstellung des Gastrechtssystems den sozialen Ort dieser Figur.15 Sofern sich ein armer Schlucker entsprechend verhält,

10 Nesselrath, Lukians Parasitendialog, S. 92–111, zeigt die Notwendigkeit einer Unterschei- dung der Epochen und Theaterformen. Ein Großteil der Forschung folgt jedoch dem me- thodischen Ansatz von Athenaios. 11 Siehe Josef Martin: Symposion. Die Geschichte einer literarischen Form. Paderborn: Schö- ningh 1931, S. 64–79; Burkhard Fehr: Entertainers at the Symposia. The Akletoi in the Ar- chaic Period. In: Sympotica. A Symposion on the Symposion. Herausgegeben von Oswyn Murray. 1. Paperback-Ausg. Oxford: Clarendon Press 1994, S. 185–195 (dazu Alfred Schä- fer: Unterhaltung beim griechischen Symposion. Darbietungen, Spiele und Wettkämpfe von homerischer bis in spätklassische Zeit. Mainz: von Zabern 1997, S. 17–18); Tylawsky, Saturio’s Inheritance, S. 7–16. 12 Vgl. bes. die Stilisierung zum Betteldichter in Frr. 42–48 Degani. Womöglich ist der Ur- sprung der iambischen Lyrik ebenso wie der Satirendichtung in dem im Rahmen von Sym- posien gern gepflegten komischen Wortgefecht (z. B. Homer, Odyssee σ 1–107, Horaz, Satire I 5, 52–70) zu verorten. 13 Vgl. Platon, Symposion 174bc. 14 Vgl. Athenaios VI 236cd (Podes als Parasit des Hektor). Lukians Simon bezeichnet Patrok- los als Parasiten des Achilleus (Parasitendialog 47) und Nestor als Parasiten des Agamemnon (Parasitendialog 44). 15 Zur Vielfalt der Darstellung des Umgangs mit dem Gastrecht in der Odyssee siehe Steve Reece: The Stranger’s Welcome. Oral Theory and the Aesthetics of the Homeric Hospitality Scene. Michigan: The University of Michigan Press 1993. (= Michigan Monographs in Classical Antiquity. 3.), der seine Einzelergebnisse jedoch nicht zu einer ‚Gastrechtslesung‘

102 Matthias J. Pernerstorfer: Der Parasit in der griechisch-römischen Komödie kann er, wie der als Bettler verkleidete Odysseus beim Schweinehirten Eumaios nach einer gelungenen Erzählung, Anspruch auf Belohnung erheben: Odysseus be- kommt zumindest Speis und Trank sowie einen Mantel (ξ 457–533). Dafür ist es notwendig, dass auch er den Regeln des Gastrechts gehorcht; vergeht sich jemand am Recht eines anderen, wie der Dorfbettler Iros, der sich auf Kosten des vermeint- lich schwächeren Odysseus vor den Freiern profilieren möchte, so folgt die Strafe auf den Fuß (σ 1–107). Unabhängig von diesem kulturgeschichtlichen Kontext, der für das Selbstverständnis der Parasiten in Griechenland stets von Bedeutung war, ist, das sei gegen Athenaios eingewendet, die motivgeschichtliche Tradition nur ein Aspekt, durch den eine Figur zu einem παράσιτος wird.

IV. Die Komödie Ein deutlich früherer Autor als Athenaios, nämlich Karystios aus Pergamon (2. Jahr- hundert v. Chr.), gibt in seinem in den Deipnosophistai zitierten Werk Über Auffüh- rungen von Dramen als ‚Erfinder‘ des Komödienparasiten den Dichter Alexis an, der seinen ersten Sieg bei den Großen Dionysien 347 v. Chr. feierte. Alexis brachte um die Jahrhundertmitte seine Komödie Parasitos zur Aufführung, in welcher die Titelfigur eben diesen Spitznamen trägt (Fr. 183 K.-A.). Dieser Παράσιτος hält sich bei einem Kreis junger Männer auf, die Witze über ihn machen, weil er so sehr auf das Essen fixiert ist, und ihm seinen ‚beschönigenden‘ Spitznamen gegeben ha- ben; dieser impliziert zwar, dass der so Genannte hierarchisch untergeordnet ist, wie die Präposition παρά- anzeigt, doch die ‚Freunde‘ hätten ihn ebenso gut abwertend κόλαξ rufen können, was für dergleichen Personen der Alltagswelt und aufgrund ih- rer gesellschaftlichen Position vergleichbare Figuren der Bühne bis dahin durchaus üblich war. Zudem wird der Mann als ‚Sturm‘ für seine ‚Freunde‘ bezeichnet. Das ist mit Ver- weis auf vergleichbare spätere Quellen dahingehend zu verstehen, dass er als Helfer in Liebesangelegenheiten in Aktion tritt.16 Die Vermutung liegt nahe, dass die Figur eine entsprechende Rolle im Zuge der Liebeshandlung der Komödie gespielt hat: Die ‚Erfindung‘ des Parasiten steht wohl von Anfang an in Zusammenhang mit der Etablierung von Liebesplots in der Komödie, wie sie unter Rückgriff auf Euripides im Laufe des 4. Jahrhunderts v. Chr. bestimmend wurden.

Die Veränderungen der Komödie, welche die Voraussetzung für die Etablierung der Parasitenfigur schufen, betrafen nicht nur die Handlungsstruktur und die da- mit verbundene Einführung eines relativ festen Personals, sondern auch Maske und Kostüm, die im Vergleich zum 5. Jahrhundert weitgehend realistisch oder besser

des Epos zusammenführt. Odysseus würde in einer solchen als Verkörperung des prüfen- den und strafenden Zeus Xenios erscheinen. 16 Vgl. Aristophon, Der Arzt Fr. 5 K.-A.; Antiphanes, Die Vorfahren Fr. 193 K.-A.

103 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

gesagt: soziostereotypisierend wurden.17 Archäologische Funde dokumentieren diese Entwicklung,18 doch eine zeitgenössische Beschreibung liegt nicht vor. Dem Mas- kenkatalog im Onomastikon des Pollux aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. ist für den παράσιτος und dessen Unterart, den κόλαξ, zu entnehmen, dass durch das Kostüm die soziale Stellung angezeigt wurde (IV 148): Es handelte sich um arme Schlucker, schwarz oder grau gekleidet, die die notwendigen Utensilien für die körperliche Ertüchtigung eines freien Bürgers in der Palästra, also Striegel und Ölfläschchen, selbst tragen mussten, weil sie keinen Sklaven hatten, d. h. beim Publikum wurden durch das Kostüm all jene Erwartungshaltungen (Vorurteile) hervorgerufen, die es gegenüber solchen Leuten hatte; die Alltagswelt bildete den Ausgangspunkt für die Assoziationen der Zuschauer.19

V. Publikumserwartungen Die Fragen, ab wann und wie ein παράσιτος als solcher für das Publikum erkennbar war und welche Assoziationen sich bei diesem durch den Anblick der Figur einstell- ten, werden im Allgemeinen von der Forschung zum Parasiten nicht behandelt. Da- bei ist dieser rezeptionsorientierte Ansatz von entscheidender Bedeutung. Für den Παράσιτος des Alexis ist davon auszugehen, dass seine soziale Stellung durch das Kostüm auf den ersten Blick definiert war – entsprechende Assoziationen stellten sich beim Publikum ein. Zudem wurde durch die Charakterisierung der Figur die motivgeschichtliche Tradition ins Bewusstsein der Zuschauer gerufen. Kann man nun aufgrund der motivgeschichtlichen Tradition davon ausgehen, dass das Publikum in Athen, nachdem der Parasit als stehende Figur etabliert war, beim Anblick eines Parasiten von vornherein erwartete, es mit einer lustigen Figur zu tun zu haben? Gab es also typische Eigenschaften und Verhaltensweisen von Parasi- ten (Witz, Schmeichelei, besonderes Verhältnis zu Speis und Trank),20 die im Auge

17 Siehe Horst-Dieter Blume: Menander. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, S. 64–65. Zur Entsprechung von Sprache und Charakter siehe Melanie Möller: Ta- lis oratio – qualis vita. Zu Theorie und Praxis mimetischer Verfahren in der griechisch- römischen Literaturkritik. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2004. (= Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaft. N. F. 2 / 113.) bes. S. 128–132. 18 Vgl. Thomas Bertram Lonsdale Webster: Monuments Illustrating Old and Middle Come- dy. 3. Aufl. Herausgegeben von John Richard Green. London: Institute of Classical Studies 1978. (= Bulletin of the Institute of Classical Studies. Supplement 39.); T. B. L. W.: Monu- ments Illustrating New Comedy. 3. Aufl. Herausgegeben von John Richard Green und Axel Seeberg. 2 Bde. London: Institute of Classical Studies 1995. (= Bulletin of the Institute of Classical Studies. Supplement 50.) 19 Das ist ein Beispiel dafür, weshalb es verfehlt ist, von einem hochelaborierten „theatrical code“ auszugehen; mit Peter G. McC. Brown: Masks, Names and Characters in New Co- medy. In: Hermes (1987), Bd. 115, S. 181–202, und Blume, Menander (1998), S. 69–74, gegen David Wiles: The Masks of Menander. Sign and Meaning in Greek and Roman Performance. Cambridge: Cambridge University Press 1991. 20 So e. g. Heinz-Günther Nesselrath: Parasit. In: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Bd. 9. Stuttgart; Weimar: Metzler 2000, Sp. 325–326, hier Sp. 325, als Beispiel für die communis opinio.

104 Matthias J. Pernerstorfer: Der Parasit in der griechisch-römischen Komödie des Betrachters selbständig ergänzt wurden, wenn ein Parasit auftrat, selbst wenn dieser nicht mit solchen Eigenschaften dargestellt wurde oder ein entsprechendes Verhalten an den Tag legte?21 Für diese Annahme spricht zwar a priori, dass das komische Potenzial, das darin steckt, wenn eine Figur über Hunger klagt, sich über eine Einladung freut, aufgrund einer Absage enttäuscht ist oder in Ekstase gerät, weil die Hoffnung auf eine üppige Tafel endlich erfüllt wird,22 besonders zur Gel- tung kommt, sofern dem Publikum klar ist, dass es sich dabei um eine besonders aufs Essen versessene Figur handelt. Es ist jedoch keineswegs gesichert, dass diese Voraussetzung für sämtliche Parasiten gilt. Die Annahme, es habe typische Parasiteneigenschaften gegeben, hat dazu geführt, dass Chaireas in Menanders Dyskolos mehrfach abgesprochen wurde, ein Parasit zu sein (obwohl er im antiken, wenngleich nicht auf Menander selbst zurückgehenden Personenverzeichnis als Parasit bezeichnet wird). Dabei zeigt gerade dieses Stück, mit dem Menander 316 v. Chr. den ersten Preis bei den Lenäen errang, dass es un- möglich ist, das Kriterium der (vermeintlich) typischen Parasiteneigenschaften für die Entscheidung, ob eine Figur als Parasit bezeichnet werden sollte, allgemein ver- bindlich zu machen: Hier treten Figuren auf, die keine Parasiten sind und dennoch schmeicheln, unterhaltsam sind oder sich besonders aufs Essen freuen. Chaireas (der nur einen Auftritt hat) hingegen wird einzig als erfahrener Helfer in Liebesange- legenheiten vorgestellt, der sich wohlhabende junge Männer verpflichten möchte (57–68), d. h. selbst nicht zu dieser sozialen Gruppe gehört. Der Text dieses Parasi- ten bietet nichts, worüber man lauthals lachen könnte;23 Chaireas wurde wohl vom Publikum aufgrund seines Kostüms als Parasit erkannt, ohne dass durch eine auto- matische Rezeption als lustige Figur ein Mehrwert an Komik erzielt worden wäre. Unabhängig davon, dass auch solche Parasiten im Dionysostheater in Athen auf- traten, über die man lachen konnte und sollte, war der Parasit in der griechischen Komödie wohl nicht grundsätzlich als lustige Figur konzipiert.

VI. Handlungslogik & Moral Näher kommt man dem Parasiten über seine dramaturgischen Funktionen:24 Er ist in der Regel dem Dienstpersonal zugeordnet und wird, sofern er als Helfer des jun-

21 Bei einem Auftritt der komischen Person in der Tradition des Wiener Volkstheaters, die meist an eine bestimmte Schauspielerpersönlichkeit gebunden ist (z. B. Hanswurst, Bernar- don, Kasperl), war das der Fall (siehe Beatrix Müller-Kampel: Hanswurst, Bernardon, Kas- perl. Spaßtheater im 18. Jahrhundert. Paderborn [u. a.]: Schöningh 2003). 22 Eine solche Hochschaubahn der Gefühle erlebt der Parasit Ergasilus in den plautinischen Captivi. 23 Zum Aspekt des Lachens bei Menander siehe Stephen Halliwell: Greek Laughter. A Study of Cultural Psychology from Homer to Early Christianity. Cambridge: Cambridge Univer- sity Press 2008, S. 388–428. 24 Zu den dramaturgischen Funktionen, die ein Parasit übernehmen konnte, siehe Walter Kraus: Parasitos. In: Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike. Bd. 4. München: Deutscher

105 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

gen Liebhabers in Aktion tritt, der Handlungslogik folgend zu einer positiven Figur, weil er für den glücklichen Ausgang mitverantwortlich ist. In der Funktion des Hel- fers ist der Parasit dem Intrigensklaven vergleichbar (im bereits erwähnten Dyskolos wird Chaireas vom jungen Liebhaber als der bessere Helfer anerkannt, 70–76): Die Autoren wählten die Figur nicht zuletzt nach dem Gesichtspunkt, ob für die Intrige ein freier, für Rechtshändel einsetzbarer Bürger (Parasit) oder ein Kenner des Haus- haltes (Sklave) gebraucht wurde.25 Mit dem Parasiten wurde nicht eine lustige Figur erfunden und für diese ein Stück geschrieben, sondern bestimmte Handlungskonstellationen und einige (meist komi- sche) Szenentypen bedingten bestimmte Verhaltensweisen der agierenden Figuren. Es war nicht von vornherein festgelegt, welche Figur – ein Parasit oder ein Sklave – in einem Stück vorkommen würde. So gibt es Parasiten mit einem Auftritt à la ser- vus currens26 oder bemühen sich sowohl der Parasit Theron in Menanders Sikyonios (343–376) als auch der Sklave Milphio in Plautus’ Poenulus (1099–1173) darum, einen falschen Zeugen zu finden, und zwar einen alten Mann, der sich als Vater des geliebten Mädchens ihres Herrn ausgeben soll (wobei beide ‚zufällig‘ den wahren Vater des Mädchens finden). Der letzte Punkt verdeutlicht den Grenzgang zwischen positiver Bewertung einer Handlung im Dienste des guten Ausgangs der Komödie und kritikwürdigem Ver- halten: Klarerweise wurden Leute, die keiner geregelten Arbeit nachgingen, obwohl sie nicht von ihrem eigenen Besitz leben konnten, und womöglich einen Einbruch begingen, um für ihren verliebten Herrn ein Mädchen zu entführen, falsche Zeu- gen abgaben oder gerichtliche Streitigkeiten anzettelten, in der Alltagsrealität ange- feindet. Besonders der Sykophant, ein Ankläger in Athen, der einen Teil der Klagsumme kassierte, stand im Kreuzfeuer der Kritik.27 Vertreter jener sozialen Gruppe, aus welcher die ‚realen‘ Vorlagen der Komödienparasiten stammten, hatten vielfach gar

Taschenbuchverlag 1972, Sp. 507–508, und Antonsen-Resch, Von Gnathon zu Saturio, S. 201–212. 25 Dazu passt, dass sich der ‚freie‘ Gott Merkur im plautinischen Amphitruo, als er in die Rolle des Sklaven Sosias schlüpft, zum ‚Parasiten‘ Jupiters macht (subparasitor, 993). Eine ‚Typenmischung‘ von Parasit und Sklave als Indiz für ein spätes Entstehen einer Komödie zu werten, ist deshalb nicht möglich. Grundsätzlich können auch andere Figuren als Intri- ganten auftreten; vgl. Habrotonon in Menanders Epitrepontes. 26 Vgl. Plautus, Curculio II / 3, und Captivi IV / 1. 27 Vgl. Nick Fisher: Symposiasts, Fish-eaters and Flatterers. Social Mobility and Moral Con- cerns. In: The Rivals of Aristophanes. Studies in Athenian Old Comedy. Herausgegeben von David Harvey und John Wilkins. London: Duckworth and The Classical Press of Wales 2000, S. 355–396; N. F.: The Bad Boyfriend, the Flatterer and the Sykophant: Re- lated Forms of the Kakos in Democratic Athens. In: Kakos: Badness and anti-value in Classical Antiquity. Herausgegeben von Ineke Sluiter und Ralph Mark Rosen. Leiden: Brill 2008, S. 185–231.

106 Matthias J. Pernerstorfer: Der Parasit in der griechisch-römischen Komödie keine andere Wahl, als sich als Sykophant zu betätigen, und so hat sich in der For- schung die Meinung durchgesetzt, dass auch der Komödienparasit letztlich ein ‚sy- cophant-parasite‘ sei.28 Dem widersprechen folgende Argumente: Erstens wird der als Sykophant auftretende Phormio im gleichnamigen Stück des Terenz – nach dem Epidikazomenos des Apollodor von Karystos – durchwegs positiv charakterisiert (er handelt selbstlos und wird mehrfach als guter Freund bezeichnet), und wenn er seine moralisch zweifelhafte Kunst lobt (325–334), so dient dieses Selbstlob zur Profilierung als Helfer des jungen Liebhabers.29 Zweitens werden Figuren, die aus- schließlich als Sykophanten o. Ä. agieren, dementsprechend bezeichnet, wie aus den Komödien Trinummus und Poenulus des Plautus ersichtlich ist, wo ein sycophanta bzw. gleich mehrere advocati auftreten. Der sycophanta ist sicherlich bereits in der Vorlage, dem Thesauros des Philemon (18–19), so und nicht als παράσιτος bezeichnet worden.30

VII. Der ideale Parasit Das bedeutet aber, dass der Parasit durch Maske und Kostüm eindeutig als armer Schlucker kenntlich gemacht war, was bestimmte Vorurteile wachrufen konnte, vor allem, wenn sich andere Figuren entsprechend negativ äußerten.31 Doch gleichzeitig unterlief die Darstellung der Figur – zumindest in einer Reihe von Komödien – et- waige negative Assoziationen: Dieses Verfahren der Vergabe von Information diente nicht in erster Linie der Erzielung eines komischen Effektes,32 sondern der Bewusst- machung der Diskrepanz zwischen den gängigen Vorurteilen und dem wirklichen Charakter der Figur.

Der παράσιτος ist, so die Logik mehrerer Stücke, kein Sykophant und er ist auch kein κόλαξ im gängigen alltagssprachlichen Sinne, und wenn er als Sykophant bzw.

28 Vgl. John Oscar Lofberg: The Sycophant-Parasite. In: Classical Philology 15 (1920), S. 61–72.

29 Siehe Eckard Lefèvre: Der Phormio des Terenz und der Epidikazomenos des Apollodor von Karystos. München: Beck 1978. (= Zetemata. 74.) S. 52–54; Pernerstorfer, Menanders Kolax, S. 104.

30 In Rom war für vergleichbare Personen die Bezeichnung quadruplator üblich (vgl. Georg Danek: Parasit, Sykophant, Quadruplator. Zu Plautus, Persa 62–76. In: Wiener Studien 101 (1988), S. 223–241).

31 So verstehe ich Menander, Kolax 34–45.

32 Vielfach ist die Informationsvergabe wesentlich für die Komik eines Stückes, vgl. Gudrun Sander-Pieper: Das Komische bei Plautus. Berlin; New York: de Gruyter 2007. (= Beiträge zur Altertumswissenschaft. 244.), doch das ist hier nicht der Fall.

107 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

κόλαξ handelt, dann gezwungenermaßen, sei es aufgrund einer konkreten Dro- hung33 oder einer allgemeinen (kritikwürdigen) gesellschaftlichen Entwicklung.34 Der reine Parasit, d. h. der einzige wahre Parasit, ist den Zwängen des Alltags entho- ben: Er hat nicht die Probleme der Reichen, hat keine Verpflichtungen und nichts zu verlieren. Reichtum ist den – meisten – Parasiten nichts wert (mehrfach haben sie ihr Erbe bereits verprasst,35 oder sie kündigen an, alles Geld, das ihnen in Aussicht steht, sofort in Feste zu investieren, bis sie wieder ihr gewohntes Leben führen36). Deshalb plagen einen Parasiten keine Sorgen und er schläft gut. Gleichzeitig kann er, obwohl er selbst nichts hat, an der Tafel anderer die Annehmlichkeiten des Le- bens in vollen Zügen genießen.37 Er lebt also ein Leben im Moment, so, wie es die ‚Freunde‘, an deren Tafel er speist, nur im Kontext eines Festes, meist eines Sympo- sions, können.38 Ein frühes Beispiel dafür, dass der Parasit gewissermaßen zu einem Ideal wird, stammt aus den Zwillingen des Antiphanes (gest. 334 / 330 v. Chr.): „Der Parasit ist ja, wenn man es recht bedenkt, ein Teilhaber an unserm Glück wie auch am Lebenslauf. Kein Parasit wünscht, daß die Freunde Unglück trifft, im Gegenteil, daß alle immer glücklich sind. Lebt einer prächtig, kennt er keinen Neid, er wünscht nur, daran teilzuhaben, mit dabeizusein. Er ist ein edler Freund, zugleich auch ein beständiger, er ist nicht streitsüchtig, nicht voreilig, nicht bösartig, den Zorn zu dulden ist er gut, und spottet man, dann lacht er mit, in seiner Art ein anhänglicher, fröhlicher und heitrer Mensch

33 Vgl. Plautus, Persa I / 3. Für das Verständnis und die Beurteilung des Saturio in dieser Komödie, der sich zuerst von den Sykophanten distanziert (zur Interpretation von dessen Eingangsmonolog siehe Danek, Parasit, Sykophant, Quadruplator), um gleich darauf ge- zwungen zu werden, als ein solcher zu agieren, hat die hier vorgelegte Argumentation eben- falls Konsequenzen. Auf dieses Stück ging ich in einem Vortrag zum Thema „Ödön von Horváth und die Plautus-Übersetzung Ludwig Gurlitts: Zu Der Sklavenball und Pompeji“ im Rahmen des Symposiums „Ödön von Horváth: Edition und Interpretation“ des Litera- turarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek in Kooperation mit der Wienbibliothek im Rathaus (2. Dezember 2011) näher ein; eine Publikation dazu ist geplant. 34 Häufig wird ein Mangel an Gastfreundschaft oder ein Fehlverhalten der potenziellen Gast- geber kritisiert: Diodoros von Sinope, Die Erbin Fr. 2 K.-A.; Plautus, Captivi 88–90, Stichus 183–190; Terenz, Eunuchus 232–264. 35 Vgl. Terenz, Eunuchus 243; Horaz, Epistel I 15, 26–41; Alkiphron, Epistel III 25. 36 Vgl. Plautus, Persa 121–122; Alkiphron, Epistel III 11, 12. 37 Lukians Simon definiert überhaupt nur den erfolgreichen Parasiten als Parasiten, denn je- der, der keinen Gastgeber finde, könne die Kunst der Parasitik nicht richtig beherrschen und sei demnach kein echter Parasit (Parasitendialog 54). 38 Vgl. Lukian, Parasitendialog 15.

108 Matthias J. Pernerstorfer: Der Parasit in der griechisch-römischen Komödie

und wiederum ein guter Krieger – auch weit übers Maß, wenn zur Versorgung ihm ein reiches Mahl bereitet wird.“39 Dieses Zitat, in dem der Parasit als der optimale Freund dargestellt wird, spielt wie ähnliche Komödienzitate40 auf den zeitgenössischen Freundschaftsdiskurs an, in dem es um die Frage ging, was ein wahrer bzw. falscher Freund sei.41 Es ist eine doppeldeutige Stellungnahme, denn auf der einen Seite hat der Sprecher ja Recht, doch auf der anderen Seite wirkt die Aussage komisch, da der Parasit so gar nicht dem Ideal eines Hetairos entspricht. Zudem weist dieses Zitat deutlich auf die Logik der Argumentation des Parasi- ten Simon in Lukians Parasitendialog voraus, die ihrerseits womöglich nicht erst von dem Sophisten aus Samosata stammt, sondern bereits in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts v. Chr. entwickelt wurde: Lukian verwendet vielfach Werke des Kynikers Menippos von Gadara als Quelle, und es ist äußerst verlockend, den Pa- rasitendialog – zumindest in seinem Kern – ebenfalls auf Menippos zurückzuführen (für einen Kyniker lag, ebenso wie für einen Epikureer, die Auseinandersetzung mit den Parasiten nahe,42 wobei sich Lukians Simon freilich von diesen Philosophen distanziert43). In diesem Fall kann das von Simon entworfene Bild vom Parasiten als direkter Reflex auf die Mittlere und Neue Komödie gewertet werden.

39 „ὁ γὰρ παράσιτός ἐστιν, ἂν ὀρθῶς σκοπῇς, κοινωνὸς ἀμφοῖν, τῆς τύχης καὶ τοῦ βίου. οὐδεὶς παράσιτος εὔχετ᾽ ἀτυχεῖν τοὺς φίλους, τοὐναντίον δὲ πάντας εὐτυχεῖν ἀεί. ἔστιν πολυτελὴς τῷ βίῳ τις· οὐ φθονεῖ, μετέχειν δὲ τούτων εὔχετ᾽ αὐτῷ συμπαρών. κἄστιν φίλος γενναῖος ἀσφαλής θ᾽ ἅμα, οὐ μάχιμος, οὐ πάροξυς, οὐχὶ βάσκανος, ὀργὴν ἐνεγκεῖν ἀγαθός· ἂν σκώπτῃς, γελᾷ· ἐρωτικός, γελοῖος, ἱλαρὸς τῷ τρόπῳ· πάλιν στρατιώτης ἀγαθὸς εἰς ὑπερβολήν, ἂν ᾖ τὸ σιτάρκημα δεῖπνον εὐτρεπές.“

Antiphanes, Die Zwillinge Fr. 80 K.-A.; Übersetzung zitiert nach Athenaios: Das Gelehr- tenmahl. Buch I–VI. Zweiter Teil. Buch IV–VI. Eingeleitet und übersetzt von Claus Fried- rich, kommentiert von Thomas Nothers. Stuttgart: Hiersemann 1998, S. 467. 40 Vgl. Antiphanes, Die Frauen von Lemnos Fr. 142 K.-A.; Alexis, Der Feueranzünder Fr. 205 K.-A.; Timokles, Drakontion Fr. 8 K.-A. 41 Vgl. Theophrast, Über die Schmeichelei Fr. 83 Wimmer; Klearchos aus Soloi, Gergithios Fr. 19 Wehrli (Athenaios VI 255c–257c, 258ab). Das Thema von PlutarchsQuomodo adula- tor ab amico internoscatur wurde bereits im Peripatos diskutiert. 42 Siehe Karl Büchner: Epikur bei Menander. In: Studi italiani di filologia classica. N. S. 14 (1937), S. 151–161 (auch in: K. B.: Studien zur Römischen Literatur. Bd. 1. Wiesbaden: Steiner 1964, S. 7–18); Fausto Montana: Menandro ‘politico’ Kolax 85–119 Sandbach (C190–D224 Arnott). In: Rivista di Filologia Classica 137 (2009), fascicolo 3–4, S. 302– 338. 43 Vgl. bes. Lukian, Parasitendialog 11–12, wo sich Simon explizit gegen Epikur wendet.

109 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

Die genannten Hinweise auf ein Konzept eines ‚idealen‘ Parasiten stammen aus einer ganzen Reihe von Werken. Ihre große Zahl spricht dafür, dass es sich dabei nicht um zufällige Gedankenblitze der einzelnen Autoren gehandelt hat, sondern dass in Athen von der Mitte des 4. bis ins frühe 3. Jahrhundert der Parasit als positive Figur diskutiert wurde – in einer Zeit, als aufgrund der immer größer werdenden Domi- nanz des ‚Realismus‘ in der Komödie mythologische Figuren wie Herakles (manche Parasiten opfern diesem44 oder leiten die Parasiten selbst von dessen Kult her45) aus dem Komödienpersonal ausgeschieden waren.46 Gut möglich, dass bereits Alexis dieser Grundgedanke dazu veranlasste, den Spitz- namen Παράσιτος zu wählen und damit die positive Bewertung dieser Figur auszu- drücken.

VIII. Die Verteidigung Ob alle Kollegen, die nach dem Parasitos des Alexis ähnlich gestaltete und eben- falls Παράσιτος genannte oder als παράσιτος bezeichnete Figuren auf die Bühne brachten47 und dadurch das Wort zur festen Bezeichnung der neuen Komödienfigur machten, ein vergleichbar positives Verständnis des Parasiten hatten, ist nicht sicher (die Situation ist wohl ähnlich wie bei den Hetären, wo die Autoren zwischen der Darstellung von bonae und malae meretrices wählten). Mit der Popularisierung von παράσιτος verschlechterte sich der Ruf der Parasiten. Die Komödiendichter reagierten auf diese Entwicklung – jedenfalls nehmen einige Parasiten ab einem gewissen Zeitpunkt (330er-Jahre?) ihre Lebensform vor Angrif- fen in Schutz und machen Unterscheidungen von guten und schlechten Methoden48 bzw. sprechen Parasiten mit negativen Eigenschaften gänzlich das Recht ab, sich Parasiten zu nennen.49 Auch die Herleitung des Parasitentums aus dem Kult findet sich erst ab dieser Zeit. Diese häufig hochtrabenden Reden wirken humorvoll: Es soll mit dem Parasiten – doch nicht über ihn – gelacht werden, denn es geht darum, den ‚idealen‘ Parasiten vom negativen Beigeschmack, den das Wort παράσιτος in dieser Zeit zu bekommen drohte, zu reinigen.

44 Vgl. Plautus, Stichus 233 und 486–487. Im Herakleion gab es eine Vereinigung von Spaß- machern; vgl. Hegesandros aus Delphoi FHG IV 413 (Athenaios VI 260ab). Wie die so genannten Dionysoskolakes in diesen Kontext passen, ist unklar. 45 Vgl. Diodoros von Sinope, Die Erbin Fr. 2 K.-A. 46 Vgl. jedoch den Ansatz zur Komik des Parasiten von Carl Eduard Geppert: Die Menäch- men des Plautus lateinisch und deutsch mit einer Einleitung über die Characterrolle des Parasiten. Berlin: Veit und Compagnie 1845, S. IX–X. 47 Komödien mit dem Titel Parasitos sind weiters von Antiphanes, einem älteren Zeitgenos- sen von Alexis, und Diphilos, einem Vertreter der Neuen Komödie, dem Athenaios (VI 258a) – wohl einer seiner theaterhistorischen Quellen folgend – bescheinigt, im Telesias den Parasiten trefflich dargestellt zu haben, bekannt. 48 Vgl. Diodoros von Sinope, Die Erbin Fr. 2 K.-A. 49 Vgl. Lukian, Parasitendialog 54.

110 Matthias J. Pernerstorfer: Der Parasit in der griechisch-römischen Komödie

In diesem Zusammenhang ist auch die Ausdifferenzierung des Maskenkabinetts zu sehen: Neben dem gewöhnlichen Parasiten betrat der κόλαξ (ursprünglich die übergeordnete, negativ konnotierte Bezeichnung für den ‚Parasiten‘ der Alltagswelt) in den letzten Jahrzehnten des 4. Jahrhunderts v. Chr. als schmeichelnde Unterart des eigentlichen Parasiten die Bühne. Hier wurde ganz explizit ein Schmeichler dar- gestellt, doch seine Schmeichelei war nicht negativ, sondern diente zur Bloßstellung des eitlen und einfältigen miles gloriosus.50 Ich persönlich nehme an, dass die Einführung der schmeichelnden Unterart des Parasiten durch Menanders Kolax erfolgte, und dass in diesem Stück die Titelfigur Struthias (alias Gnathon) vor dem ersten Auftritt durch den Pädagogensklaven des jungen Liebhabers Pheidias, der seinen Vorurteilen gegenüber den κόλακες freien Lauf ließ, vorgestellt wurde, doch dieser bereits durch den Eingangsmonolog des Parasiten (vgl. Terenz, Eunuchus 232–264) Lügen gestraft wurde, und Struthias im Folgenden sowohl den prahlerischen Soldaten Bias überlistete als auch Pheidias zu seiner Geliebten verhalf.51 Durch solche Stücke konnte offenbar über einen längeren Zeitraum vermieden wer- den, dass παράσιτος zu einem Schimpfwort wurde.52 Es setzte sich nicht als Bezeich- nung für die soziale Gruppe, aus der sich die ‚realen‘ Vorbilder der Figur rekrutierten, durch;53 die Verwendung des Wortes παράσιτος blieb weitgehend auf die Komödie beschränkt – die Ausnahmen betreffen entweder Fälle, in welchen sich jemand be- wusst zum Parasiten stilisiert, indem er sich in die motivgeschichtliche Tradition dieser Figur stellt, um dadurch eine Einladung zu erhalten (Athenaios erwähnt etwa Tithymallos, Korydos und den legendären Chairephon54), oder die Spaßmacher

50 Zum komischen und kritischen Potenzial des Paares miles gloriosus – parasitus colax siehe Pernerstorfer, Menanders Kolax, S. 123–130. 51 Siehe ebenda; vgl. die Gestaltung der Figur der Thais im Eunuchus des Terenz, die ihrem Vorbild, Chrysis in Menanders Eunuchos, weitgehend entsprechen dürfte. 52 Das änderte sich in späterer Zeit: Zum plautinischen Persa siehe Anm. 33; in Nikolaus Fr. 1 K.-A. (vermutlich 2. Jahrhundert v. Chr.) wird die Kunst der Parasiten (in 17–22 mit Menanders Kolax, 50–54, vergleichbar) kritisiert. Im so genannten Giftmischermimus (Papyrus Oxyrhynchus 413), einem nachchristlichen Mimusfragment (Helmut Wiemken, Der griechische Mimus. Dokumente zur Geschichte des antiken Volkstheaters. Bremen: Schünemann 1972, S. 81–109), ist von der einstigen positiven Bewertung des Parasiten nichts mehr zu spüren. 53 Vgl. jene Stellen, in welchen noch zur Zeit der Neuen Komödie von der Bühne aus Kritik an dem gesellschaftlichen Phänomen der κόλακες geübt wurde: Anaxilas Fr. 32 K.-A. (hier wird in einem aus dem Bereich der Tierwelt genommenen Vergleich der κόλαξ als pflanzen- fressendes Tier beschrieben), Diphilos Fr. 23 K.-A., Menander, Kolax 91–100, Theophoru- mene Fr. 1. 54 Vgl. Athenaios VI 240c–244a; zu Chairephon siehe Fisher, The Bad Boyfriend, the Flatterer and the Sykophant, S. 204.

111 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

der Alltagswelt.55 Für diese davor γελωτοποιοί genannten Personen wurde ebenfalls die Bezeichnung παράσιτοι üblich, wie noch Alkiphrons Parasitenbriefe aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. zeigen, in welchen, durchaus mit Rückgriff auf die Mittlere und Neue Komödie, Briefe von Spaßmachern, die eben als παράσιτοι bezeichnet werden, versammelt sind.

IX. Der Spaßmacher Die Maske des παράσιτος wirkt – Pollux zufolge56 – fröhlich, und die Figur steht motivgeschichtlich in der Tradition des ungeladenen Gastes und Spaßmachers.57 In den erhaltenen Fragmenten der Mittleren und Neuen Komödie wird vielfach auf die Unterhaltungskunst dieser Figuren hingewiesen, doch finden sich keine Szenen, in denen ein Parasit als Spaßmacher auftritt. Das verwundert, denn immerhin gibt es in den Komödien des Plautus, die bekanntlich auf griechischen Vorlagen ba- sieren, gleich mehrere professionelle Spaßmacher:58 Ergasilus (Captivi), Gelasimus (Stichus – nach Menanders Adelpoi A’), Peniculus (Menaechmi) und Saturio (Persa). Teilweise ist die Vorlage noch direkt greifbar, etwa wenn Gelasimus und Saturio von Striegel und Ölfläschchen, den typischen Requisiten der griechischen Komö- dienparasiten, sprechen (Stichus, 230, Persa 124). Möglicherweise ist dieses Fehlen eindeutiger Belege nicht zuletzt eine Folge des Kanonisierungsprozesses im grie- chischen Kulturraum in nachchristlicher Zeit, bei dem Stücke, die bestimmte, als überkommen eingestufte Formen von Komik enthielten und nicht den in späterer Zeit als klassisch empfundenen Regeln folgten, ausselektiert wurden. Zudem verändert sich der Sprachgebrauch unter dem Einfluss der Komödie, wie gesagt, dahingehend, dass die früher gebräuchliche Bezeichnung für Spaßmacher durch παράσιτος abgelöst wird. Und der Logik der Parasiten folgend ist Unterhal- ter beim Symposion der einzige Beruf, den ein Parasit ausüben darf, um noch als solcher zu gelten: Sobald ein Spaßmacher etwa durch die Veröffentlichung lustiger

55 Interessant sind auch jene Fälle, wo Dichter dies tun. So erscheint etwa im Werk von Horaz die Existenz des poeta laureatus an der parasitica mensa des Maecenas in raffinierter Weise reflektiert. 56 Über die Maske des παράσιτος sagt Pollux, sie wirke fröhlich, jene des κόλαξ hingegen gefährlich, wobei hier ein Beispiel dafür vorliegt, dass Pollux von einem stärker typisierten Bestand an Figuren ausgeht, als für das 4. und 3. Jahrhundert v. Chr. anzunehmen ist. Das zeigen die Funde aus Lipari (siehe Luigi Bernabó Brea: Maschere e personaggi del teatro greco nelle terracotte liparesi. Con la collaborazione di Madeleine Cavalier. Rom: «L’ERMA» di BRET­SCHNEIDER 2001). Die Maskenbildner der Mittleren und Neuen Komödie dürften Kenntnis von physiognomischen Theorien gehabt haben, doch dass alle konsequent einer Vorgabe folgten, ist unwahrscheinlich. 57 Ein besonders schönes Beispiel dafür gibt Philippos in Xenophons in den 360er-Jahren entstandenem Symposion ab. 58 Siehe Philip B. Corbett: The Scurra. Edinburgh: Scottish Academic Press 1986, S. 5–26; Robert Maltby: The Language of Plautus’ Parasites. In: Theatre Ancient and Modern. He- rausgegeben von Lorna Hardwick, Pat Easterling, Stanley Ireland, Nick Lowe und Fiona Macintosh. Milton Keynes: The Open University 2000, S. 32–44 sowie online: http:// www2.open.ac.uk/ClassicalStudies/GreekPlays/Conf99/Maltby.htm [2011-11-20].

112 Matthias J. Pernerstorfer: Der Parasit in der griechisch-römischen Komödie

Geschichten zum Autor avanciert oder aufgrund seines darstellerischen Talents ein Engagement als Schauspieler erhält, hat er einen Beruf und ist über die ausgeübte Kunst als Autor bzw. Schauspieler definiert. Auch für die griechische Komödie ist demnach die Existenz von Parasiten anzunehmen, die professionelle Spaßmacher waren.

X. Der Parasit in Rom Statt auf einzelne Parasiten der Stücke von Plautus und Terenz59 soll in den nun folgenden Ausführungen auf einige für das Verständnis der Parasiten in Rom we- sentliche Punkte eingegangen werden. Auf dem Weg nach Rom veränderte sich die griechische Komödie grundlegend.60 Fahrende Schauspielergesellschaften und nicht die hoch angesehenen Verbände von Schauspielern (Dionysostechniten), die für Theateraufführungen bei den großen Festen im griechischen Raum zuständig waren, brachten im Laufe des 3. Jahrhun- derts v. Chr. das Theater in die Hauptstadt der aufstrebenden neuen Macht im Mittelmeer. Sie boten ein Repertoire, das auch bei ihrem nicht literarisch gebildeten Publikum Erfolg versprach, was sich in der Wahl der gespielten Stücke niederschlug, aber auch die Stückstruktur selbst betraf. In Athen hatte sich im Laufe des 4. Jahrhunderts v. Chr. – soweit sich das am er- haltenen Material nachweisen lässt – das Prinzip der Wahrscheinlichkeit als grund- legende Kategorie weitgehend61 durchgesetzt, dem Maske und Kostüm der Figuren wie auch deren Sprache (Iambische Trimeter) sowie die Organisation der Auf- und Abtritte zu gehorchen hatten. Die Gliederung der Stücke in fünf Akte und die Zu- rückdrängung der gesungenen Teile in die Aktpausen wurde ebenfalls zur Regel.62

59 Zum Verhältnis der römischen Komödien zu ihren Vorlagen siehe Antonsen-Resch, Von Gnathon zu Saturio. Diese Studie ist wichtig, da sie zahlreiche Thesen – vor allem aus dem Freiburger Sonderforschungsbereich hervorgegangene, z. B. Gregor Vogt-Spira: Stichus oder Ein Parasit wird Hauptperson. In: Plautus barbarus. Sechs Kapitel zur Originalität des Plautus. Herausgegeben von Eckard Lefèvre, Ekkehard Stärk und Gregor Vogt-Spira. Tü- bingen: Narr 1991, S. 163–174. (= ScriptOralia. 25.); Lore Benz: Der Parasit in den Captivi. In: Maccus barbarus. Sechs Kapitel zur Originalität der Captivi des Plautus. Herausgege- ben von Lore Benz und Eckard Lefèvre. Tübingen: Narr 1998, S. 51–100. (= ScriptOralia. 74.) – widerlegt. 60 Zur Menander-Überlieferung siehe Blume, Menander (1998), S. 16–45; Horst-Dieter Blu- me: Menander: The Text and its Restoration. In: New Perspectives on Postclassical Comedy. Herausgegeben von Antonis K. Petrides und Sophia Papaioannou. Newcastle: Cambridge Scholars Publishing 2010. (= Pierides. Studies in Greek and Latin Literature. II.) 61 Diese Einschränkung erachte ich für wichtig, da die Komödien Menanders nicht repräsen- tativ für die gesamte dramatische Produktion sind. 62 Es gibt freilich auch die Ausnahmen von der Regel, in welchen eine Aktgrenze einen länge- ren Zeitraum überbrücken muss, damit die Einheit der Zeit gewahrt bleibt (vgl. Menander, Misoumenos; Plautus, Captivi), oder der Chor noch erkennbar ist (der Chor der Fischer im plautinischen Rudens, II / 1).

113 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

Ob die Stücke in Athen mit nur drei Schauspielern aufgeführt wurden, ist fraglich,63 doch bemühte sich zumindest Menander (wohl in Anlehnung an die Tragödie) da- rum, nur Szenen zu schreiben, in welchen nicht mehr als drei Schauspieler substan- zielle Sprechpassagen hatten. Das alles war den Dichtern in Rom, aber wohl auch schon den griechischen Wan- dertruppen relativ egal, da es ihnen nicht um poetologische Prinzipien ging, sondern um den Erfolg beim Publikum. In Rom gewannen Theatralität und Musikalität (Cantica, metrische Vielfalt) der Aufführungen wieder an Bedeutung. Mit dieser Entwicklung steht auch die Erweiterung der Rolle der lustigen Figur in Zusammen- hang, oder besser gesagt: Erst in dieser Theatertradition erfolgt die Etablierung einer lustigen Figur, wie sie in den Parasiten- und Sklavenfiguren des Plautus zu erkennen ist.64 Schon die Impresari der Wandertruppen setzten auf ihre komischen Schauspieler, die gegenüber dem Ensemble in den Vordergrund rückten (und wählten sicherlich dafür geeignete Stücke, die sie dann auch nach Rom brachten). Plautus erhöhte ebenfalls durch die Erweiterung der Rolle der lustigen Figur die Wirkung der Stü- cke, und selbst für Terenz ist belegt, dass er seine Parasiten mit ‚typischen‘ Parasiten- eigenschaften versah und dadurch ‚komischer‘ machte.65

XI. Parasiten & Schauspieler In Rom wurde die Idee eines ‚idealen‘ Parasiten aufgrund der geänderten gesell- schaftlichen Bedingungen nicht rezipiert: Ein Parasit, der keinen festen Platz im sozialen Gefüge sucht, sondern seinen Gastherrn frei wählt, ein scurra vagus, steht in Rom – anders als in Griechenland, wo er innerhalb des Gastrechts einen Platz beanspruchen kann – außerhalb der Gesellschaft.66 Er gliedert sich nicht in das System der Patronage ein, wird kein Klient. Dasselbe gilt für die Schauspieler der Wandertruppen, fahrendes Volk (häufig graeculi – es sei daran erinnert, dass in der Fabula Palliata weiterhin im griechischen Kostüm gespielt wurde). Der Übergang ist sowohl bzgl. ihrer sozialen Stellung als auch ihrer Kunst fließend. Zur Zeit von Plautus und Terenz konnte der Parasit in Rom zur Metapher für den Schauspie-

63 Die Argumente gegen diese communis opinio, die Blume, Menander (1998), S. 65–69, bringt, lassen sich noch ergänzen. 64 Wichtig ist hier der Unterschied zu späteren Komödientraditionen, in denen häufig eine bestimmte komische Person an einen bestimmten Schauspieler gebunden war; zum Wiener Volkstheater vgl. Eva-Maria Ernst: Zwischen Lustigmacher und Spielmacher. Die komische Zentralfigur auf dem Wiener Volkstheater im 18. Jahrhundert. Münster; Hamburg; Lon- don: LIT 2003. (= Literatur – Kultur – Medien. 3.); Müller-Kampel, Hanswurst, Bernar- don, Kasperl. 65 So Donat zu Terenz, Phormio 339. 66 Siehe Damon, Mask of the Parasite.

114 Matthias J. Pernerstorfer: Der Parasit in der griechisch-römischen Komödie ler werden.67 Szenen, in denen Parasiten als Spaßmacher auftreten, haben deshalb explizit metatheatralen Charakter; besonders anschaulich ist die von einer Sklavin belauschte und kommentierte Auftrittsszene des Gelasimus im plautinischen Stichus (155 –273). 68 Jene Personengruppe, die das Theater nach Rom brachte, hatte, da sie für gesell- schaftliche Entwicklungen, die konservativen Kreisen missfielen, (mit-)verantwort- lich gemacht wurde, von Anfang an einen schlechten Ruf. Im Zuge der Einführung von Theateraufführungen69 an staatlichen Festen wurden zwar Versuche unternom- men, das Ansehen der Schauspieler zu erhöhen (z. B. durch die Bildung eines Kol- legiums der Autoren und Schauspieler), doch diese schlugen fehl. Das führte in der Folge dazu, dass in erster Linie Sklaven und Freigelassene auf der Bühne agierten. Und die Parasiten? Theaterleute – anscheinend aus Mimus und Pantomimus – schlossen sich, womöglich schon im ausgehenden 3. Jahrhundert v. Chr., zu den pa- rasiti apollinis zusammen.70 Auch sonst blieb die Bezeichnung parasitus in Rom, wie auch in Griechenland, weitgehend der Bühne zugeordnet. In den nicht die Komödie betreffenden oder von dieser hergeleiteten Quellen kann parasitus in der Regel als Spaßmacher übersetzt werden.71

XII. Resümee & Ausblick Vergleicht man die im Einzelnen jeweils nur kurz erläuterten Beobachtungen, die in diesen Prolegomena zur Diskussion gestellt wurden, mit dem Stand der Forschung, so ist daraus zu schließen, dass eine Kulturgeschichte des Parasiten in der griechisch-rö- mischen Komödie trotz zahlreicher Studien bislang nicht geschrieben ist. Allzu leicht wurden die zeitgenössischen Vorurteile gegenüber ‚Parasiten‘ auf den Gegenstand

67 Vgl. Anne Duncan: Performance and Identity in the Classical World. Cambridge: Cam- bridge University Press 2006, S. 90–123. 68 Für diese Szene nehme ich eine Entsprechung in der Vorlage (Menanders Adelophoi A’) an, doch ist die Rezeptionshaltung in Athen sicher eine andere gewesen. 69 Zur den antiken Quellen zur Frühgeschichte des römischen Theaters siehe Peter Lebrecht Schmidt: Postquam ludus in artem paulatim verterat. Varro und die Frühgeschichte des rö- mischen Theaters. In: Studien zur vorliterarischen Periode im frühen Rom. Herausgegeben von Gregor Vogt-Spira. Tübingen: Narr 1989, S. 77–134. (= ScriptOralia. 12.), wobei ich den Einfluss der italischen Tradition für weniger bedeutend halte. 70 Siehe Hartmut Leppin: Histrionen. Untersuchungen zur sozialen Stellung von Bühnen- künstlern im Westen des Römischen Reiches zur Zeit der Republik und des Principats. Bonn: Habelt 1992, S. 93–95; Evelyn Fertl: Von Musen, Miminnen und leichten Mädchen. Die Schauspielerin in der römischen Antike. Wien: Braumüller 2005. (= Blickpunkte. Wie- ner Studien zur Kulturwissenschaft. 9.) S. 60–61. 71 Horaz, Satire I 2, 96–100 etwa erinnert an die Komödie; Juvenal, Satire I 135–140 und V 141–145 legen durch den symposialen Zusammenhang eine solche Deutung nahe, sicher ist sie für den cantus pernoctantis parasit[us] aus Juvenal, Satire XIV 44–46; weitere Belege bei Damon, Mask of the Parasite, S. 259–262.

115 LiTheS Nr. 7 (März 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_07.html

übertragen, allzu willig wurde dem methodisch fragwürdigen Ansatz des Athenaios gefolgt. Eine Studie, die gattungs- und begriffsgeschichtlich differenziert und sowohl die griechischen als auch die lateinischen Quellen umfassend berücksichtigt, liegt nicht vor; dabei ist es selbst für eine Untersuchung der griechischen Komödie allein zwin- gend notwendig, die lateinischen Quellen heranzuziehen und sich der Originalitäts- problematik – auch in Hinblick auf theaterwissenschaftliche Fragen – zu stellen, so heikel ein solches Unterfangen auch sein mag, da sonst ein Großteil der Quellen unberücksichtigt bleibt. Die Notwendigkeit einer Einbettung der Erfindung, Etablierung und Ausdifferen- zierung des Parasiten im Rahmen der Geschichte der griechischen Komödie wie auch der gesellschaftlichen Veränderungen im 4. Jahrhundert v. Chr. sollte deutlich geworden sein. Die Ausführungen zum ‚idealen‘ Parasiten bedürfen klarerweise ei- ner intensiven Weiterführung der Arbeit.

116 Zeitschrift für Literatur- und http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html Theatersoziologie Herausgegeben von Beatrix Müller-Kampel und Helmut Kuzmics

SONDERBAND 3 (JULI 2012) Kontrolle – Prestige – Vergnügen Profile einer Sozialgeschichte des Wiener Theaters 1700–2010

Von Marion Linhardt

Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie Herausgegeben von Beatrix Müller-Kampel und Helmut Kuzmics

SONDERBAND 3 (JULI 2012)

Marion Linhardt Kontrolle – Prestige – Vergnügen Profile einer Sozialgeschichte des Wiener Theaters 1700–2010

Herausgegeben von LiTheS in Kooperation mit dem Don Juan Archiv Wien Medieninhaber und Verleger LiTheS. Ein Forschungs-, Dokumentations- und Lehrschwerpunkt am Institut für Germanistik der Universität Graz Leitung: Beatrix Müller-Kampel

Herausgeber Ao. Univ.-Prof. Dr. Beatrix Müller-Kampel Institut für Germanistik der Universität Graz Mozartgasse 8 / P, A-8010 Graz Tel.: ++43 / (0)316 / 380–2453 E-Mail: [email protected] Fax: ++43 / (0)316 / 380–9761 Ao. Univ.-Prof. Dr. Helmut Kuzmics Institut für Soziologie der Universität Graz Universitätsstraße 15 / G 4, A-8010 Graz Tel.: ++43 / (0)316 / 380–3551 E-Mail: [email protected] Sonderband 3 hrsg. von LitheS in Kooperation mit dem Don Juan Archiv Wien.

Umschlagbild Gustav Klimt, Zuschauerraum im Alten Burgtheater in Wien, Aquarell, 1888. Wien, WIEN MUSEUM, Inv. Nr. 31.813. – Klimt schuf eine von zwei Ansichten des Innenraums des alten Burgtheaters am Michaelerplatz, die der Wiener Gemeinderat in Zusammenhang mit der Schließung dieses Hauses in Auftrag gegeben hatte. Klimts Arbeit blickt aus Richtung Bühne auf den Zuschauerraum, den er mit prominenten und weniger prominenten Zeitge- nossen gefüllt hat, Franz von Matschs komplementäres Gemälde hingegen blickt über das Auditorium hinweg auf die Bühne. Beide Maler waren auch für die Dekoration des neuen Burgtheaters verantwortlich, das 1888 eröffnet wurde.

Abbildungen Alle Abb. mit freundlicher Genehmigung der Wienbibliothek im Rathaus.

Gestaltung und Satz mp – design und text / Dr. Margarete Payer E-Mail: [email protected]

© Copyright »LiTheS. Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie« erscheint halbjährlich im Internet unter der Adresse »http://lithes.uni-graz.at/lithes/«. Ansicht, Download und Ausdruck sind kostenlos. Namentlich gezeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors oder der Autorin wieder und müssen nicht mit jener der Herausgeber identisch sein. Wenn nicht anders vermerkt, verbleibt das Urheberrecht bei den einzelnen Beiträgern. Unterstützt von der Universität Graz (Vizerektorat für Forschung und Nachwuchsförderung / For- schungsmanagement und -service und Dekanat der Geisteswissenschaftlichen Fakultät).

ISSN 2071-6346=LiTheS Marion Linhardt Kontrolle – Prestige – Vergnügen Profile einer Sozialgeschichte des Wiener Theaters 1700–2010 Vorbemerkung 5 1. Theater zwischen Stadt und Hof 7 2. Die Spektakelfreiheit und ihr Ende 19 3. Theater und Vergnügungen zwischen Stadt, Vorstädten und Vororten 31 4. Neue Stadt, neue Theater 42 5. Der organisierte Zuschauer und Österreichs kulturelle Identität 57 6. Theaterstadt Wien – für wen? 70 7. Ein Mythos 80

Zeitgenössische Berichte: Wiener Vergnügungen des 18. und 19. Jahrhunderts

Friedrich Nicolai: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, im Jahre 1781

Von den öffentlichen Schauspielen in Wien 82

V. Die Kreuzerkomödie 82

II. V Die Thierhetze, oder wie man in Wien sagt, die Hatz 83

[Johann Kaspar Riesbeck:] Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland an seinen Bruder zu Paris

Sieben und zwanzigster Brief 88

Acht und zwanzigster Brief 89

Johann Pezzl: Skizze von Wien

Der Kasperl 91 Friedrich Schlögl: Der Tingel=Tangel=Narr 93

Victor Stöger: Das Elysium in Wien. Ein Erinnerungsbild aus halbvergangener Zeit 102

Literaturverzeichnis 110

Abbildungen 118 Kontrolle – Prestige – Vergnügen Profile einer Sozialgeschichte des Wiener Theaters 1700–2010

Von Marion Linhardt

Vorbemerkung Sozialgeschichte des Theaters – das soll im folgenden bedeuten: eine Geschichte der Berührungen der Institution und des Mediums Theater mit ‚Gesellschaft‘.1 Diese Formel lenkt den Blick auf zwei Sachverhalte, nämlich zum ersten auf die Gruppe(n) derjenigen, die Theater rezipieren, also auf bestimmte Gesellschaftsausschnitte, aus denen sich gewissermaßen Publikum konstituiert, zum zweiten auf die Reflexion so- zialer Konstellationen und Prozesse im Rahmen des künstlerischen Produkts „Thea- ter“, etwa auf der Ebene der behandelten Themen und Stoffe. Beide Sachverhalte sind nicht zu trennen von der grundsätzlichen Frage nach der gesellschaftlichen Funktion von Theater. Gegenwärtig stellt sich diese Frage mit besonderer Schärfe, und zwar – unabhängig vom Problem der Finanzierbarkeit von Kultur – in erster Li- nie als Frage nach der Bedeutung des ‚audiovisuellen Mediums‘ Theater in Zeiten der Medienkonkurrenz. Welche Qualitäten zeichnen das Theater gegenüber dem Kino, dem Fernsehen, dem Internet aus? Zweifellos sind dies vor allem Qualitäten, die mit der Aufführungssituation zu tun haben, jener spezifischen Anordnung, die Darsteller und Zuschauer unmittelbar aufeinander treffen lässt und in aller Regel eine größere Anzahl von Menschen als Publikum in einem Raum vereint. Ob jemand Theater besucht, bemisst sich nach persönlichem Interesse, in historischer Perspektive aber auch danach, was sich mit Theater im Kontext individueller und kollektiver Lebens- wirklichkeiten verbindet, das heißt danach, was dem Theater zugetraut wird. Und es bemisst sich natürlich danach, in welchem Umfang Theater überhaupt zugänglich ist; als Ausschlusskriterien wirkten zumal im 18. und 19. Jahrhundert die Nichtzu- gehörigkeit zu einem bestimmten Stand, das Nichtverfügen über die notwendigen finanziellen Mittel, die räumliche Entfernung oder der Mangel an freier Zeit, gegen- wärtig wohl eher weiche Faktoren wie die jeweilige kulturelle Sozialisation. Wo und wie berühren Theater und Gesellschaft sich heute? Es ist nicht zu überse- hen, dass das Theater in den großen Städten des deutschsprachigen Raums, vergli- chen mit dem späten 18., dem 19. und dem frühen 20. Jahrhundert, ein wichtiges Merkmal verloren hat: es ist nicht mehr Medium der Unterhaltung für viele. Die- sem Bedeutungsverlust steht die Tatsache gegenüber, dass das Spektrum an Funk- tionen, die das Theater besitzt bzw. die ihm zugeschrieben werden, seit dem 18. Jahrhundert weitgehend unverändert geblieben ist: Theater unterhält, Thea- ter bildet, Theater dient der Repräsentation, Theater reflektiert – mit sehr unter- schiedlicher Brechung – gesellschaftliche Gegebenheiten. Bei einem Blick auf die

1 Dem kontinuierlichen Austausch mit W. E. Yates über das Wiener Theater verdanke ich entscheidende Anregungen. Ihm ist der vorliegende Beitrag gewidmet.

5 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

Wiener Theaterszene lassen sich neben diesen allgemeinen Tendenzen zwei spezi- fische Entwicklungen ausmachen: Einerseits hat das Wiener Theater jenes immen- se identitätsstiftende Potenzial eingebüßt, das Programmatiker mehr als 150 Jahre lang bewogen hat, sich in ungezählten Streitschriften, Pamphleten und kulturhis- torischen Abrissen leidenschaftlich mit seinem Erscheinungsbild und seiner Rezep- tion auseinander zu setzen; andererseits besitzt der seit langem gehegte Nimbus der „Theaterstadt“ Wien noch immer eine beachtliche, unter dem Gesichtspunkt der Metropolenkonkurrenz und des entsprechenden Stadtmarketing vielleicht gar eine zunehmende Relevanz für das Image Wiens. Nähert man sich Wien und seinem Theater über Konzepte wie Identität oder Image, so erhebt sich die Frage, wie sich dieses „Wien“ eigentlich fassen lässt. Wien als räumliches und soziales Gebilde besaß und besitzt eine überaus komplexe Struktur. So entscheidend die Propagierung einer homogen gedachten Wiener Identität als ein gleichsam „Wesenhaftes“ für viele ideologische Konzepte der vergangenen Jahr- hunderte war – hingewiesen sei in diesem Zusammenhang lediglich auf die für das Selbst- und Fremdbild Wiens ganz maßgebliche Kontrastierung mit Berlin –, so fern steht die Annahme eines einheitlich „Wienerischen“ der sozialen und kulturellen Realität dieser Stadt. Was also ist „Wien“, wer sind „die Wiener“? Um sich diesen Sachverhalten immerhin anzunähern und Wien als einen in einzigartiger Weise ge- ordneten Raum des sozialen Miteinanders, des Wohnens, des Arbeitens und des Vergnügens zu erschließen, bietet sich das Modell einer kulturellen Topographie an, eine Betrachtungsweise, die, vom Stadtkörper ausgehend, räumliche Gegebenhei- ten, soziale Strukturen und kulturelle Hervorbringungen aufeinander bezieht. Die topographische Perspektive wäre als eine Möglichkeit zu begreifen, die Verankerung des Theaters in der städtischen Gesellschaft jenseits der mit erheblichen Problemen behafteten historischen Publikumsforschung2 zu beschreiben. Mit den Begriffen Identität und Topographie sind jene beiden Kategorien benannt, an denen sich die folgenden Ausführungen zum Wiener Theater vornehmlich ori- entieren. Diese Zugangsweise erhebt ebenso wenig Anspruch auf Objektivität wie die Auswahl der Aspekte der Wiener Theatergeschichte,3 die aus der vorgegebenen,

2 Die wesentlichen Beiträge zur Publikumsforschung im Bereich des Theaters hat zweifellos das Institut für Publikumsforschung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaf- ten (1973–1987) vorgelegt. Hier schließt die Dokumentation von Elisabeth Großegger: Das Burgtheater und sein Publikum, Pächter und Publikum 1794–1817. 2 Teilbde. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1989, an. Zu erwähnen ist an dieser Stelle weiterhin die Untersuchung von Johann Hüttner: Literarische Parodie und Wiener Vorstadtpublikum vor Nestroy. In: Maske und Kothurn 18 (1972), S. 99–139. 3 Auf zwei Themenbereiche, die aus sozialhistorischer Perspektive durchaus von Interesse wä- ren, deren Behandlung aber den hier gegebenen Rahmen sprengen würde, sei immerhin hingewiesen: es handelt sich um das Thema der sozialen Stellung von BühnenkünstlerInnen und um das Thema des Liebhaber- oder Dilettantentheaters.

6 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters drei Jahrhunderte umfassenden Zeitspanne herausgegriffen und diskutiert werden.4 Einige hauptsächliche Prämissen der Darstellung seien gleichwohl benannt: Erstens wird im Sinne einer integralen Theatergeschichtsschreibung die dem Miteinander und Gegeneinander der Disziplinen (Sprech-)Theaterwissenschaft und Musikwis- senschaft nach wie vor zugrunde liegende, vom historischen Theateralltag aber nicht gedeckte Trennung von Sprechtheater und musikalischem Theater aufgegeben, fallweise auch die Trennung von institutionalisiertem Theater und semitheatralen Formen. Zweitens werden – entsprechend der im vorliegenden Kontext erforderli- chen Entprivilegierung (hoch-)kultureller Erscheinungen – populäre, auf ein breites Publikum zielende Genres besondere Berücksichtigung finden, Genres, die übrigens fast durchwegs dem musikalischen Theater angehören. Drittens wird es im Hinblick auf die Berührung zwischen der Gesellschaft bzw. ihren Teilen und dem Theater vorrangig um Zugänge und um Zugänglichkeiten gehen: das Stichwort „Zugänge“ bezieht sich auf Räume für Theater, und zwar auf Räume der Stadt, die dem Theater erschlossen werden, und auf die eigentlichen Theatergebäude / Institutionen als Orte des Aufeinandertreffens von Theaterspiel und Zuschauer; mit „Zugänglichkeiten“ sind jene Bereiche der Theatergesetzgebung (inklusive herrschaftlicher Einzelent- scheidungen) gemeint, die gleichsam die Rezeption von Theater steuern, wie etwa das Konzessions- und Privilegienwesen und die Zensur.

1. Theater zwischen Stadt und Hof Will man das Verhältnis von Theater und Gesellschaft im Wien des frühen und mittleren 18. Jahrhunderts zusammenfassend charakterisieren, dann sind wohl das von verschiedenen Instanzen getragene Bedürfnis nach Ordnung und die zuneh- mende Durchsetzung dieser Ordnung als die prägenden Faktoren zu nennen. Die Motive für solche Ordnungsbestrebungen waren durchaus vielfältig: sie reichten von der Definition von Machtverhältnissen über die Implementierung bestimmter Ideo- logien, denen ästhetische Programme häufig als Gewand dienten, bis zum Bemühen um Sozialdisziplinierung im weitesten Sinn. Die wirksamsten theaterpolitischen Setzungen des Zeitraums waren ohne Zweifel die bereits zu Beginn des Jahrhun- derts getroffene Entscheidung der Stadt Wien, ein stehendes Theater zu errichten, die teilweise Aufgabe der Exklusivität höfischen Theaters durch die Adaption des Hofballhauses am Michaelerplatz als öffentlich zugängliches Theater in den ersten Jahren der Regierung Maria Theresias und der Erlass der Spektakelfreiheit durch Joseph II. im Jahr 1776, mit dem die jahrzehntelange Praxis der Vergabe ausschließ- licher Privilegien aufgehoben wurde.

4 Als Überblicksdarstellungen, die allerdings methodisch erheblich voneinander abweichen, sind einschlägig: Franz Hadamowsky: Wien. Theatergeschichte. Von den Anfängen bis zum Ende des ersten Weltkriegs. Wien; München: Jugend und Volk 1988. (= Geschichte der Stadt Wien. 3.) und W. E. Yates: Theatre in . A Critical History, 1776–1995. Cambridge: Cambridge University Press 1996.

7 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

Das Theater als Element einer in Teilen öffentlichen, vorwiegend jedoch auf einen exklusiven Kreis beschränkten Kultur der Unterhaltung verfügte in Wien in jenem Jahr 1707, in dem der Entschluss gefasst wurde, ein städtisches Theater zu bauen, über drei Typen von Schauplätzen, deren Nutzung je eigenen rechtlichen Vorgaben folgte und deren Zuschauer sich naturgemäß aus unterschiedlichen sozialen Schich- ten rekrutierten: die höfischen Bühnen, die sogenannten Ballhäuser und eine Reihe von Markthütten. Das Theater bei Hof, ein anlassgebundenes Festtheater, wurde im Bereich der Oper und des Balletts von einer Gesellschaft nahezu ausnahmslos ita- lienischer Künstler realisiert, die dem Kaiser vermittels des Obersthofmeisteramtes unterstanden und gleichsam dem Hofstaat angehörten; gesprochenes Theater gab es bei Hof in Form von Gastspielen verschiedener Commedia-dell’arte-Truppen, vor allem aber im Rahmen des höfischen Dilettantentheaters, über dessen breite Aktivitäten noch in der Regierungszeit Maria Theresias die Tagebücher des Fürsten Johann Joseph Khevenhüller-Metsch Auskunft geben.5 In drei öffentlichen Ballhäu-

5 Vgl. Theater, Feste und Feiern zur Zeit Maria Theresias 1742–1776. Nach den Tagebuch- eintragungen des Fürsten Johann Joseph Khevenhüller-Metsch, Obersthofmeister der Kai- serin. Eine Dokumentation von Elisabeth Großegger. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1987. (= Veröffentlichungen des Instituts für Publikumsfor- schung. 12.)

8 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters sern in der Himmelpfortgasse, der nahen Ballgasse und der Teinfaltstraße spielten zu Beginn des 18. Jahrhunderts wechselnde deutschsprachige und italienische Wan- dertruppen, die vom Kaiser über Einschaltung der Stadt Wien und der niederös- terreichischen Regierung befristete Spielgenehmigungen erhielten. Diese Truppen fanden sich teilweise auch in den Markthütten auf dem Judenplatz, der Freyung und dem Neuen Markt, deren Vergabe seit 1382 in städtischer Hoheit lag und die während des Pfingstmarkts und des Katharinenmarkts, mit besonderen Genehmi- gungen zunächst auch darüber hinaus bespielt werden durften. Wesentlich für das hier vorgeführte a-mimetische Theater – eine Kombination von Seiltanz, Pantomi- me, Policinell-(Marionetten-)Spiel und vielem mehr – war, wie Gerda Baumbach herausgearbeitet hat, sein „componierter“ Charakter, mit dem sich „Regelverstoß und Grenzüberschreitung“ verbanden, und die räumliche und personelle Nähe zum Praktizieren von Heilkunst.6 Einschränkungen des öffentlichen Theaterspiels, etwa durch Versagung von Spielgenehmigungen, gab es, wie schon im 17. Jahrhundert, immer wieder, ob aufgrund von Todesfällen in der kaiserlichen Familie, aufgrund von Seuchengefahr oder politischen Unsicherheiten. Für die Aufrechterhaltung der Ordnung im Umfeld der genehmigten Aufführungen war die Theaterpolizei als städtische Behörde zuständig: die Komödianten wie ihr Publikum hatten Ehrbar- keit im Betragen zu wahren, andernfalls drohten Geld- oder „Leibsstrafen“.

Das Theater nächst dem Kärntnertor, mit dessen Bau 1708 nach Erteilung des ent- sprechenden kaiserlichen Privilegs begonnen wurde, gehört zu den ganz frühen ste- henden Theatern für ein zahlendes Publikum im deutschsprachigen Raum und zu den wenigen Theatern der Zeit, für die nicht bereits vorhandene Räumlichkeiten adaptiert, sondern die als eigenständige Bauaufgabe realisiert wurden. Das Prinzip des ausschließlichen Privilegs – des privilegium privativum –, das in Zusammenhang mit dem Bau und der Bespielung des Kärntnertortheaters in der Organisation des Wiener Theaterwesens auftaucht, war ein entscheidender Schritt hin zu einer Kana- lisierung des Theaterspiels, die anfänglich vor allem ökonomisch begründet war, im Lauf der Jahrzehnte aber weiterreichende Implikationen gewann: mit dem privilegi- um privativum war eine Kontrollmöglichkeit hinsichtlich aller Spektakel gegeben, die außerhalb der privilegierten Institution angesiedelt waren, und dabei handelte es sich vorrangig um die Vergnügungen von „Dienstbotten und solchen gemainen

6 Gerda Baumbach: Kreuzerkomödie. „[…] um einen Kreuzer kann man von redenden Ma- rionetten nicht viel fordern“. In: Maske und Kothurn 44 (2001), S. 101–131, hier S. 121. – Für Josef Anton Stranitzky, eine der „Gründungsgestalten“ des stehenden deutschsprachi- gen Theaters in Wien, hat Beatrix Müller-Kampel das Nebeneinander von Theaterspiel und heilkundlicher Betätigung festgehalten; vgl. Beatrix Müller-Kampel: Hanswurst-Stranitz- ky. Zur Revision seiner Biographie. Mit Dokumenten aus Johann Evangelist Schlagers Wie- ner-Skizzen. In: LiTheS. Literatur- und Theatersoziologie / Kasperl & Co. Theater des Ko- mischen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert / Forschung: http://lithes.uni-graz.at/forschung. html [14.5.2012].

9 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

leuthen welche weder Zeit noch gelt zur Frequentirung deren ordinari Comödien und Opern haben“.7 Aus sozialgeschichtlicher Perspektive verdienen zwei Details aus der frühen Ge- schichte des Kärntnertortheaters besondere Erwähnung. Das erste betrifft die auf- tretenden Truppen und das Repertoire. Joseph I. hatte zwar der Stadt Wien das ausschließliche Privileg für den Bau eines Theaters verliehen, die Spielbewilligung aber dem Conte Francesco Maria Pecori, dem Leiter einer italienischen Operntrup- pe erteilt. Das Ansuchen der Stadt, im neuen Theater die deutsche Truppe Josef Anton Stranitzkys spielen zu lassen, die bis 1706 in der Komödienhütte auf dem Neuen Markt und seit 1707 im Ballhaus in der Teinfaltstraße aufgetreten war, wur- de vom Kaiser zunächst abschlägig beschieden. Er wollte das Kärntnertortheater als italienisches Theater betrieben wissen, es der Stadt gegebenenfalls gar abkaufen, und tatsächlich wurde das Theater im November 1709 mit einer italienischen Vor- stellung eröffnet. Doch schon zu Ostern des folgenden Jahres musste der Kaiser den Einzug der „Teutschen Comoedianten“ in das Kärntnertortheater genehmigen, die 1712 vom neuen Kaiser Karl VI. die offizielle Spielbewilligung erhielten und sich bis in die frühen 1720er Jahre mit verschiedenen italienischen Truppen arrangierten. Stranitzky trat als Pächter des Theaters in Erscheinung, ab 1716 vorübergehend in Gemeinschaft mit Johann Baptist Hilverding. Die Stadt hatte sich also in gewisser Weise gegen den Hof und den Adel und deren Theatervorliebe durchgesetzt. Eine zweite Beobachtung betrifft das Publikum des Kärntnertortheaters. Im Gegensatz zu späteren Jahrzehnten gab es hier anfangs noch billige Platzkategorien, die einen Besuch nahezu allen ermöglichten, für die auch eine Teilnahme an den Spektakeln in den Markthütten erschwinglich war. Das komische Theater des Hanswurst Stra- nitzky, bei dem sich dieses Publikum unterhielt, zog in gleicher Weise vermögende Mitglieder der Oberschicht an, wie der theaterhistorisch überaus aufschlussreiche und daher vielzitierte Brief der Lady Mary Wortley Montague an Alexander Pope vom 14. September 1716 belegt. Lady Montague besuchte während ihres Wien-Auf- enthaltes neben der Uraufführung von Johann Joseph Fux’ „“ Angelica vincitrice di Alcina im Park der Favorita auch das Kärntnertortheater, wo man eine Version des Amphitryon-Stoffes gab, und berichtete darüber: „The way is to take a box, which holds four, for yourself and company. The fixed price is a gold ducat. […] I never laughed so much in my life. […] But I could not easily pardon the liberty the poet has taken of larding his play with not only indecent expressions, but such gross words as I don’t think our mob would suf- fer from a mountebank; and the two Sosias very fairly let down their breeches in the direct view of the boxes, which were full of people of the finest rank, that

7 Zitiert nach Carl Glossy: Zur Geschichte der Wiener Theatercensur. In: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 8 (1897), S. 238–340, hier S. 244 (Bericht des Bürgermeisters und Rathes der Stadt Wien an die Regierung vom 11. Dezember 1747).

10 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters

seemed very pleased with their entertainment, and they assumed me that this was a celebrated piece.“8 Die frühe Zeit des Kärntnertortheaters macht jenes breite Publikumsspektrum greifbar, in dem das spätere mythisierende Verständnis des „Wiener Volkstheaters“ als eines alle Schichten umfassenden Theaters wesentlich gründet. Tatsächlich fällt auf, dass noch lange Zeit ein Interesse der gesellschaftlichen Eliten an den „Belus- tigungen“ des „Volkes“ bestand, wohingegen der Zugang der Unterprivilegierten zu theatralen Veranstaltungen zunehmenden Restriktionen unterworfen wurde; 1751 verbot die Kaiserin außerdem eine Reihe von Spielformen, die den unteren Schich- ten eigentümlich waren, nämlich „die altersher üblichen Volksspiele, wie das: Som- mer- und Winterspiel, das Adam- und Evaspiel, die Darstellung der Geburt Chris- ti, und der heiligen drei Könige ec.“9 Nah waren sich die verschiedenen sozialen Schichten dann, wenn etwa Kaiser Franz sich dazu herabließ, Vorführungen auf den Marktplätzen zu besuchen – besonders zogen ihn die Darbietungen der berühmten Kinderpantomimentruppe des Philipp Nicolini in den Jahren 1746 / 47 an10 –, nah waren sie sich aber bald nicht mehr im Kärntnertortheater, dessen Eintrittspreise sich dergestalt entwickelten, dass weite Teile der Wiener Bevölkerung von einem Besuch ausgeschlossen blieben.11 Ein Dekret vom Juli 1748 zielte darüber hinaus auf eine soziale Segregation auch innerhalb des Theaters: es wurde anbefohlen, „daß in gmer Stadt Winn Comoedie=Haus nächst dem Kärntnerthor zu Ab- sönderung deren dem Parterre befindlich. Zuschauern von dem hohen Adel und anders im Character distinguirten Personen, gleich von dem Orchestre ein geraumer und gemässer Plaz Verschlagen, und mit dem Amphiteatro durch eine Communications Stiegen verschlossen, wie nicht weniger zu bequemli- cher Unterbringung der übrigen anwesende Spectatoren in allen denenjenig. Taegen, wo keine Logen vorhanden, drey Baenk in einer vergrösserten Höhe nacheinander gestellet und ordentlich zusammengesezet werden.“12

8 Letters from the Right Honourable Lady Mary Wortley Montague 1709 to 1762. Heraus- gegeben von R. Brimley Johnson. London: Dent [1906], S. 67 (Hervorhebungen von mir). 9 Zitiert nach Glossy, Theatercensur, S. 250 (Verordnung vom 26. Oktober 1751). 10 Vgl. dazu Horst Flechsig: Opera Pantomima. Sprachloses Nachspiel der Commedia dell’arte. In: Stimmen – Klänge – Töne. Synergien im szenischen Spiel. Herausgegeben von Hans-Peter Bayerdörfer. Tübingen: Gunter Narr Verlag 2002. (= Forum Modernes Theater. 30.) S. 543–556, sowie: Theater, Feste und Feiern. 11 Vgl. Gerhard Tanzer: Spectacle müssen seyn. Die Freizeit der Wiener im 18. Jahrhun- dert. Wien; Köln; Weimar: Böhlau 1992. (= Kulturstudien. 21.) S. 138–140, sowie Ulf Birbaumer: Das Werk des Joseph Felix von Kurz-Bernardon und seine szenische Realisie- rung. Versuch einer Genealogie und Dramaturgie der Bernardoniade. Wien: Notring 1971. (= Dissertationen der Universität Wien. 47.) Kap. B.II („Das Publikum“). 12 Zitiert nach Gustav Zechmeister: Die Wiener Theater nächst der Burg und nächst dem Kärntnerthor von 1747 bis 1776. Wien: Böhlau 1971. (= Theatergeschichte Österreichs III: Wien. Heft 2.) S. 26–27. – Eine räumliche Trennung zwischen dem Adel und den übrigen Zuschauern wurde auch im Burgtheater realisiert.

11 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

Zwei kaiserliche bzw. königliche Verfügungen aus den Jahren 1728 und 1741 tru- gen zu einer institutionellen Verstetigung des Wiener Theaters bei, die ihrerseits die Grundlage für eine zielgerichtete Repertoirepolitik und damit zugleich für die Umsetzung bestimmter ästhetischer, gesellschaftlicher und herrschaftsideologischer Konzepte im Theater bildete: 1728 erhielten Joseph Carl Selliers und Francesco Borosini, beide Mitglieder der kaiserlichen Oper, das ausschließliche Theaterprivileg und die Verfügung über das Kärntnertortheater, 1741 übertrug die junge Königin Maria Theresia Selliers zusätzlich die seit 1720 bestehende Position des Appaldators, des Impresarios des Theaters bei Hof, und beauftragte ihn mit der Adaption des Ballhauses am Michaelerplatz, das zukünftig als ein zweites öffentliches, wenn auch dem Hof eng verbundenes Theater betrieben werden sollte. Das die beiden öffent- lichen Theater und das Theater bei Hof umfassende Privileg Selliers’ weist auf jenes System voraus, das Maria Theresia 1752 mit der Einsetzung der Generalspektakel- direktion schuf: ab diesem Zeitpunkt befanden sich das Kärntnertortheater und das im Ballhaus neu eingerichtete Burgtheater unter der Gesamtleitung des Hofes, obwohl die Stadt Wien auf ersteres nach wie vor einen Teilanspruch hatte. Die Jahre des Selliers’schen Privilegs – seinen Hofvertrag konnte Selliers bis Fa- sching 1748 wahrnehmen, das Privileg für das Kärntnertortheater lief mit Fasching 1751 ab – zeigen in vielfältiger Weise, wie die Verfügung über Raum und die spe- zifische Beschaffenheit von Spielgenehmigungen die gesellschaftliche Anbindung des Theaters determinierten. 1728 etwa scheiterte Selliers’ und Borosinis Versuch, die Oper aus der exklusiven Sphäre des Hofes herauszuführen und einem zahlen- den Publikum zugänglich zu machen. Von April bis Dezember dieses Jahres ga- ben sie am Kärntnertortheater mit großem Erfolg neben den extemporierten deut- schen Komödien mit Gottfried Prehauser als Hanswurst auch Opernvorstellungen, mussten diese Spielpraxis dann allerdings einstellen, nachdem der Kaiser sie – nicht zuletzt auf Intervention des langjährigen, dem Hof zugeordneten Opernprivileg- Inhabers Francesco Ballerini hin – unmissverständlich auf das ihnen zugestandene Repertoire zurückverwiesen hatte: „Comödien mit einigen untermischt gesungenen Intermedien, und nichts anders, zu präsentiren“13. Die Oper blieb also zunächst weiterhin dem bei Hof zugelassenen Kreis vorbehalten, während Selliers und Boro- sini ihrerseits mittels Differenzierung der Eintrittspreise für die deutsche Komödie einerseits und die „moderne“ italienische Komödie mit Musik andererseits – hier galten höhere Preise – den Zugang zum Theater und zu bestimmten Genres kana- lisierten und darüber hinaus ihr Privileg zur Ausschaltung potenzieller Konkurren- ten im Bereich des nicht-sesshaften Theaters nutzten: wiederholt schritt die nieder- österreichische Regierung ein, wenn in den Markthütten außerhalb der regulären Marktzeit gespielt wurde. Auch Selliers’ Nachfolger als Privilegiumsinhaber, Rocco Lo Presti14, berief sich mehrfach auf seinen Vertrag, zufolge dessen ihm „die Priva-

13 Zitiert nach Hadamowsky, Wien. Theatergeschichte, S. 196 (Erlass vom 11. Dezember 1728). 14 Am Beginn der Impresa Lo Prestis lag der Neubau des Burgtheaters, das am 13. Mai 1748, am Tag nach dem Geburtstag Maria Theresias, mit der Uraufführung von Christoph

12 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters tiva all- und jeder Spectaculn sowohl in der Stadt als samentlichen Vorstädten (nur allein die kleinen in Jahrmarckts-Zeiten ausgenohmen)“ bewilligt waren.15 Es wird sich zeigen, dass jene Spielformen, die man den unteren Schichten zuzuordnen ge- neigt ist, nämlich das „Theater des souveränen Schauspielers“ (Baumbach),16 das sich gewissermaßen der Literarisierung verweigerte, nicht nur in der vor-institutionellen Ausprägung als Markt- oder Vorstadtspektakel Restriktionen herausforderten, weil das institutionalisierte Theater die Konkurrenz fürchtete und zudem verschiedene Obrigkeitsinstanzen das Freizeitverhalten des „Pöbels“ zu reglementieren suchten. Auch innerhalb der Institution, nämlich im Kärntnertortheater oder „deutschen Theater“, machte sich das „regellose“ Theater zumal in Gestalt der extemporierten Komödie des Joseph Felix von Kurz, genannt Bernardon, gerade wegen seiner über- wältigenden Popularität verdächtig: Die in den späten 1740er Jahren einsetzende und unter anderem auf die Bernardoniade gerichtete Debatte, für die der Begriff des „Hanswurststreits“ geprägt wurde, stellt sich vordergründig als Auseinandersetzung um die Ästhetik des Theaters dar; der Kampf um die Meinungshoheit hinsichtlich der öffentlichen Schauspiele, den die Verfechter eines regelmäßigen, literaturorien- tierten Theaters – als prominentester unter ihnen Joseph von Sonnenfels – führten, war jedoch ein zutiefst ideologischer, zielte doch die ‚Verregelmäßigung‘ des Theaters letztlich auf eine ‚Verregelmäßigung‘ der Untertanen. Ihnen wurde nahegelegt, wel- che Funktion Theater in ihrem Leben nun zu erfüllen habe: es sollte bilden und eine Schule der Sitten und der Moral sein. Versuche, außerhalb des Kärntnertortheaters und des Burgtheaters für ein zahlendes Publikum Theater zu spielen, wurden also von den jeweiligen Privilegiumsinhabern, der niederösterreichischen Regierung und den zuständigen Hofämtern überwacht und gegebenenfalls unterbunden. In späterer Zeit, so unter der Hoftheaterpacht Giuseppe Afflisios gegen Ende der 1760er Jahre, konnten nicht-privilegierte Thea- terunternehmer und Schausteller eine befristete Spielerlaubnis unter der Bedingung der Abtretung eines Teiles ihrer Einnahmen an den Hoftheaterpächter erhalten; zu ihnen gehörte die Badnerische Truppe des Johann Matthias Menninger, die in den Jahren 1769, 1770 und 1771 in der Leopoldstadt spielte und den Kasperl Johann Joseph La Roche berühmt machte – jenen Kasperl, der zur Hauptattraktion des ersten nach der Spektakelfreiheit erbauten vorstädtischen Privattheaters wurde, nämlich des 1781 eröffneten Theaters in der Leopoldstadt. Dass sich in den Jah- ren vor dem Erlass der Spektakelfreiheit trotz der zusätzlichen Spielgenehmigungen nicht notwendig ein breiteres Angebot für untere Schichten auftat, hat Gerhard

Willibald Glucks „“ La Semiramide riconosciuta nach einem Text Pietro Metastasios eröffnet wurde. 15 Zitiert nach Hadamowsky, Wien. Theatergeschichte, S. 210 (Anordnung der Niederöster- reichischen Repräsentation und Kammer vom Mai 1751). 16 Gerda Baumbach: Vorstellung zweier Welten und das Prinzip der Verkehrung. Die Tra- dition und Nestroy. In: Theater und Gesellschaft im Wien des 19. Jahrhunderts. Heraus- gegeben von W. Edgar Yates und Ulrike Tanzer. Wien: Lehner 2006. (= Quodlibet. 8.) S. 71–89.

13 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

Tanzer für die Aufführungen im Hetzamphitheater in der Weißgerber-Vorstadt und für die ab den 1770er Jahren beliebten Feuerwerke gezeigt: die Preise waren hier vornehmlich auf ein durchaus wohlhabendes Publikum ausgerichtet.17 Und auch mit der Tatsache, dass es ab 1741 / 42 zwei öffentlich zugängliche Theater mit einer beachtlichen Platzkapazität gab, in denen zunächst fast täglich gespielt wurde, ging nur bedingt eine Demokratisierung von Theater einher: der Eintritt für die meisten Platzkategorien war für große Teile der Bevölkerung nicht erschwinglich18 – Gratis- Vorstellungen am Burgtheater etwa anlässlich des Geburtstags des Kaisers, für die Selliers bzw. Lo Presti aus der kaiserlichen Schatulle entschädigt wurden, waren eine Besonderheit19 –, und die Konzentration des Burgtheaters auf die italienische Oper in den 1740er Jahren und auf französisches Schauspiel bzw. Opéra comique ab den 1750er Jahren band diese Bühne weiterhin an einen exklusiven Besucherkreis. Noch in die Zeit der alleinigen Impresa Selliers’, in die späten 1740er Jahre, fal- len die ersten Bemühungen, in Auseinandersetzung mit den Reformbestrebungen Johann Christoph Gottscheds ein regelmäßiges deutsches Schauspiel in Wien zu etablieren.20 Dieses vermochte sich jedoch gegenüber dem Erfolg der extemporierten Stücke vor allem Kurz-Bernardons, der, wenn auch mit Unterbrechungen, etwa 25 Jahre lang am Kärntnertortheater spielte, vorerst nicht durchzusetzen. Die Theater- reform, die Maria Theresia 1751 / 52 vornahm, richtete sich in ihrem ästhetischen Kern gegen die extemporierte Komödie Kurz-Bernardons, erweist sich darüber hinaus in der Verschränkung mehrerer Verordnungsziele aber als grundsätzliches kulturpolitisches Datum: „alle Schauspiele in Wien“ sollten in Zukunft der Kon- trolle eines dem Hof zugeordneten Directorial-Praesidenten unterstehen, dem die Direktoren – Franz Graf von Esterházy, dann Giacomo Conte Durazzo – Rechen- schaft schuldig waren (wobei die tatsächliche Entscheidungsgewalt unmittelbar bei der Kaiserin bzw. beim Kaiser lag); für das Repertoire wurden Festlegungen getrof- fen, die das Stegreifspiel zurückdrängen sollten und ein vorerst vage formuliertes Konzept von Theaterzensur einschlossen; die Zahl der jährlichen Spieltage wurde beschränkt. Der einschlägige Erlass war das Norma-Edikt vom 17. Februar 1752, das hinsichtlich des Repertoires und dessen Kontrolle vorsah: „Die Comödie solle keine andere Compositionen spillen als die aus dem frantzösisch oder wällisch, oder

17 Tanzer, Spectacle müssen seyn, S. 141–142. 18 Zu den Einkommensverhältnissen der WienerInnen im betreffenden Zeitraum vgl. Roman Sandgruber: Einkommensentwicklung und Einkommensverteilung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – einige Quellen und Anhaltspunkte. In: Österreich im Europa der Aufklärung. Kontinuität und Zäsur in Europa zur Zeit Maria Theresias und Josephs II. Herausgegeben vom Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung und der Öster- reichischen Akademie der Wissenschaften. 2 Bde. Wien: Verlag der Österreichischen Aka- demie der Wissenschaften 1985, S. 251–263. 19 Sogenannte Freispektakel gab es noch im 19. Jahrhundert, etwa anlässlich von Geburten im kaiserlichen Haus. 20 Einschlägig hierzu ist u. a. Hilde Haider-Pregler: Des sittlichen Bürgers Abendschule. Bil- dungsanspruch und Bildungsauftrag des Berufstheaters im 18. Jahrhundert. Wien; Mün- chen: Jugend und Volk 1980, Kap. IV.

14 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters spanisch theatri herkommen, alle hiesigen compositionen von Bernardon und an- deren völlig aufzuheben, wann aber einige gute doch wären von weiskern, s o l l t e n sie ehender genau durchlesen werden und keine equivoques noch schmutzige Worte darinnen gestattet werden, auch denen Comoedianten ohne straff nicht erlaubt sein, sich selber zu gebrauchen.“21 Was die Reduzierung der bisher 260 Spieltage pro Jahr auf 210 Tage22 betrifft, so wurde vor allem der kirchliche Festkalender wirksam: ein Spielverbot gab es unter anderem während der Adventszeit ab 12. Dezember, während der gesamten Fastenzeit, an Allerheiligen, Allerseelen, Christi Himmelfahrt, Heilige Drei Könige, außerdem an den Namens- und Geburtstagen der Eltern der Kaiserin.23 (Im späteren 18. und frühen 19. Jahrhundert wurde die Zahl der sogenannten Norma-Tage, also der Tage mit Spielverbot, allmählich wieder verringert.) In der Theaterreform Maria The- resias wird ein Bemühen um administrative und inhaltliche Reglementierung des Theaters von Seiten des Hofes manifest, das in den folgenden beiden Jahrzehnten in weiteren Einzelentscheidungen konkretisiert wurde und in die Einführung einer eigenständigen Theatralzensur einschließlich eines definitiven Extemporierverbotes im Jahr 1770 mündete. Vor dem Hintergrund eines Spektrums kontrastierender theatraler Kulturen, das auf den ersten Blick demjenigen des frühen 18. Jahrhunderts ähnelte – der Hof pflegte ein exklusives Theater, das inzwischen in den Schlössern Schönbrunn und Laxenburg neue Räume gefunden hatte und nicht mehr von eigenen Hofkünst- lern, sondern etwa vom französischen Schauspiel- und opéra-comique-Ensemble des Burgtheaters bestritten wurde, für den „Pöbel“ gab es „kleine fremde Spectac- len zu Marcktszeiten [und] Krippeln“24 sowie Vorführungen jener Schausteller und Komödienspieler, die sich mit den Hoftheaterpächtern abzufinden vermochten –, vor diesem Hintergrund also wurde etwa seit der Jahrhundertmitte eine Auseinan- dersetzung ausgetragen, in deren Zentrum das deutsche Schauspiel, sein Erschei- nungsbild, seine gesellschaftliche und kulturelle Funktion und letztlich seine staats- politische Bedeutung standen. Entsprechend formuliert Jürgen Hein: „Der Kampf zwischen ‚Hanswurstkomödie‘ und ‚Bildungstheater‘ hat von Anfang an nicht nur eine literarisch-ästhetische, sondern auch eine kulturpolitische Dimension: Bei ei- nem im Staatswesen verankerten Bildungstheater geht es um die Funktionalisierung der darstellenden Kunst zum Vermittlungsinstrument moralphilosophischer Postu- late, deren Ausübung im Alltag dem einzelnen Bürger (irdische) ‚Glückseligkeit‘ ver-

21 Zitiert nach Glossy, Theatercensur, S. 248–249. 22 Eine zweite Norma vom Dezember 1753 brachte zusätzliche Einschränkungen; sie betraf u. a. alle Freitage. 23 Für eine vollständige Auflistung der sogenannten Norma-Tage siehe Haider-Pregler, Des sittlichen Bürgers Abendschule, S. 454. 24 Zitiert nach Hadamowsky, Wien. Theatergeschichte, S. 220 (Pachtvertrag vom 31. Dezem- ber 1765 zwischen der Kaiserlich-Königlichen Theatraldirektion und Franz Anton Hilver- ding, dem ersten Pächter des Kärntnertortheaters nach der anlässlich des Todes von Kaiser Franz I. im August 1765 verfügten Theatersperre).

15 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

hieß, was in der Folge dem Gemeinwesen im Sinne gesellschaftlichen Fortschritts Nutzen bringen sollte.“25 Wichtige Aspekte der Entwicklung in den 1750er und 1760er Jahren waren: der Widerstreit zwischen dem Ringen um ein regelmäßiges Schauspiel – etwa durch die Verpflichtung von Darstellern, die nicht mehr aus der Stegreiftradition stammten, und durch Reservierung einer festen Anzahl von wö- chentlichen Spieltagen für regelmäßige Stücke – und dem anhaltenden Erfolg des extemporierten Theaters, auf das die Pächter teils aus wirtschaftlichen Gründen, teils aufgrund des Mangels an spielbaren regelmäßigen Stücken nicht verzichten mochten;26 der Beginn einer Überführung der Figuren und Szenentypen der extem- porierten Komödie in ‚literarische‘ Formen, verbunden vor allem mit dem Namen Philipp Hafners; die verstärkte Einflussnahme der Kaiserin bzw. des Kaisers sogar auf Details des Theaterbetriebs mittels eines komplexen Systems von Hofgremien; die Kontrolle des Theaterspiels durch die Bücher-Censurs-Hofcommission, die an- fänglich nur auf gedruckte Stücke, ab 1760 aber auch auf Handschriften und auf die Szenarien des extemporierten Theaters zugriff;27 die Eingliederung des im Novem- ber 1761 abgebrannten und als Neubau am 9. Juli 1763 wiedereröffneten Kärntner- tortheaters in das Hoftheatersystem;28 die Annäherung zwischen dem Theater und der ‚bürgerlichen‘ Lebenswelt über das theatrale Modell des Illusionstheaters, dem die von den Reformern geforderten Stücke mit ihren Stoffen und ihrem Personal entsprachen und das als Schule der Sitten zu wirken vermochte; schließlich die De- batte um ein Nationaltheater.

25 Jürgen Hein: Das Wiener Volkstheater. 3. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesell- schaft 1997, S. 23. 26 Vgl. dazu das Promemoria Giuseppe Afflisios vom 16. Dezember 1769, mit dem er um die Erlaubnis ansuchte, im Kärntnertortheater wieder extemporierte Stücke (konkret handelte es sich um Stücke von und mit Kurz-Bernardon) aufführen zu dürfen: „Noch zur Zeit sind also extemporirte Stücke nothwendig, bis nach und nach das Repertorium der studirten Stücke so stark wird, daß man ihrer entbehren kann. Sie können an und für sich selbst den Sitten nicht gefährlich seyn, wenn, wie es sich gebührt, alle Pasquinaden, Schmutz und Unanständigkeit vermieden werden. Das deutsche Theater, wenn es bestehen soll, kann derselben noch lange nicht entbehren, da es mit den studirten Stücken noch nicht fort- kommen kann, um nur die Kosten herauszubringen. Extemporirte Stücke können so ge- sittet als studirte seyn, sie geben auch den andern Akteurs, die nicht mehr extemporiren wollen, Zeit, unterdessen auswendig zu lernen, sie dienen zur Abwechslung, zur Ergötzung eines großen Theils des Publicums, sie sind unentbehrlich, wenn man so geschwind als es seyn kann, ein studirtes Theater gründen will. Dieses sind die Vorstellungen, die der Pach- ter allerunterthänigst zu Füssen legt, und worüber er mit der tiefsten Unterwerfung den Allerhöchsten Ausspruch erwartet, ob ihm frey stehe, so wie vorher, extemporirte Stücke zu geben.“ In: Bodo Plachta: Damnatur – Toleratur – Admittur. Studien und Dokumente zur literarischen Zensur im 18. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer 1994. (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. 43.) Microfiche-Beilage, S. 99. 27 Vgl. Franz Hadamowsky: Ein Jahrhundert Literatur- und Theaterzensur in Österreich (1751–1848). In: Die österreichische Literatur. Ihr Profil an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert (1750–1830). Herausgegeben von Herbert Zeman. Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1979, 1. Teilbd., S. 289–305, insbes. S. 290–291. 28 Das Theater wurde mit Friedrich Wilhelm Weiskerns Vorspiel Die Herstellung der deutschen Schaubühne zu Wien und der Komödie Der betrogene Betrug eröffnet.

16 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters

Im Jahr 1770 entstand mit der Durchsetzung der insbesondere von Joseph von Son- nenfels seit längerem geforderten Maßnahmen zur Reglementierung des Theaters mittels Zensur und Extemporierverbot eine theaterrechtliche Konstellation, die das Wiener Theater und seine Rezeption bis 1848 und weit darüber hinaus präg- te, obwohl das Zensurwesen in den betreffenden Jahrzehnten sowohl hinsichtlich seiner Organisation (behördliche Zuordnung, praktische Umsetzung der Bestim- mungen) als auch hinsichtlich der ihm zugewiesenen Ziele – zunächst Instanz der Geschmacks- und Sittenbildung, wurde die Zensur als Reaktion auf die französi- sche Revolution unter der Herrschaft Franz’ II. (Franz’ I.) und Ferdinands I. zum Instrument einer polizeistaatlichen Ordnung29 – sehr unterschiedlich ausgestaltet wurde. Das Novum der auf das Theater bezogenen Zensurbestimmungen von 1770 war, dass sie sich nicht nur auf den zugrunde liegenden Stücktext richteten, sondern ebenso auf die performative Umsetzung, dass also auch die Aufführungen einer Überwachung unterzogen wurden, was einerseits im Hinblick auf die angestrebte Ausschaltung des Extemporierens konsequent war, andererseits mit dem jenseits des gesprochenen oder gesungenen Wortes angesiedelten Spiel des Körpers gerade jene Ebene des Theatralischen betraf, die seit Jahrhunderten die selbstständige, nicht literaturabhängige Kunst des Spektakels ausgemacht hatte und die im Wien des 18. Jahrhunderts für ein nicht-elitäres Schau-Spiel stand. Diese Kontrolle der Kör- per scheint mir für die frühe Zeit der Theatralzensur weit wichtiger als die inhaltli- chen Bestimmungen, in denen von Religion, Staat und guten Sitten die Rede war. Die einschlägigen Passagen der auf einem Promemoria Sonnenfels’ basierenden Re- solution Josephs II. vom 15. März 1770 lauten: „4to ist, nachdeme ohnehin schon, das extemporiren vorbotten worden, den Schauspielern in der Vorstellung alles geflissentliche Zusetzen, Abändern, oder aus dem Stegreif, ohne vorgängige gleichmässige Billigung der Censur, an das publicum stellende Anreden, auf das schärfeste, und mit der Bedrohung zu untersagen, daß auf den ersten Übertrettungsfall ein dergleichen acteur oder actrice ohne Unterschied, wer es seye? also gleich nach geendigtem Schauspiel auf 24. Stunden in Arrest gebracht, bey dem zweiten Übertrettungsfall aber, der oder dieselbe, ohnnachsichtlich vom Theater abgeschaffet werden solle. 5to wird der Censor insonderheit auch entweder selbst, oder durch andere, für die er gut zu stehen hat, auf die Execution der Stücke die genaueste Aufsicht tragen, damit die Sittsamkeit eben so wenig durch Geberden, oder Gebrau- chung, ohnanständiger in denen zur Censur gegebenen Aufsatz nicht bemerk- ter sogenannter requisiten, oder attributen verlezet werde, als worauf die näm- liche Strafe, wie auf das extemporiren gesezt ist.“30 Unausgesprochene, gleichwohl entscheidende Implikationen der Theatralzensur wa- ren: Neben der Privilegienpraxis wurde mit der Zensur eine zweite Instanz etabliert,

29 Vgl. dazu u. a. Johann Hüttner: Theatre Censorship in Metternich’s Vienna. In: Theatre Quarterly 10 (1980), No. 37, S. 61–69, sowie Yates, Theatre in Vienna, Kap. 2.1. 30 Zitiert nach Plachta, Damnatur – Toleratur – Admittur, Microfiche-Beilage, S. 101.

17 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

die die Möglichkeiten der Bevölkerung, theatrale Darbietungen wahrzunehmen, kanalisierte; Repertoire und Sozialdisziplinierung standen in einem unmittelbaren Zusammenhang; die Einbeziehung aller Ebenen der theatralen Produktion in den Zensurvorgang ermöglichte eine Kontrolle über jedes Detail der Bühnenaktion. Die ausführliche Denkschrift, die Franz Karl Hägelin, Theaterzensor von Oktober 177031 bis Dezember 1804, im Jahr 1795 verfasste, macht nicht zuletzt deutlich, welches immense meinungsbildende Potenzial der Bühne zugetraut wurde – ein Potenzial, das allerdings sehr unterschiedlich bewertet werden konnte: die Regle- mentierung des Theaterspiels mochte im Sinn einer Propagierung bestimmter mo- ralischer oder staatspolitischer Positionen genutzt werden oder aber als Abwehr der Gefahren, die dem System von Seiten eines womöglich allzu selbstständig denken- den „Volkes“ drohten.32 Entsprechend erläuterte Hägelin: „Fürs 3te versteht es sich von selbst, daß die Theatralcensur viel strenger sein müsse als die blose Censur für bloße Lecture der Druckschriften wenn letzte- re auch in Dramen bestehen. Dieses ergibt sich schon aus dem verschiedenen Eindruck, den ein in lebendige Handlung bis zur Täuschung geseztes Werk in den Gemütern den [!] Zuschauer machen muß, den ein blos am Pulte gelesenes gedrucktes Schauspiel bewirkt. Der Eindruck des ersteren ist unendlich stärker als jener des letztern, weil das erstere Augen und Ohren beschäftiget, und sogar in den Geist des Zuschauers treten soll, um die beabsichtigten Gemütsbewe- gungen hervorzubringen, welches die bloße Lekture nicht leistet. Die Bücher- censur kann Lesebücher restringiren, und folglich solche, nur einer gewissen Gattung von Lesern gestatten, da hingegen das Schauspielhaus dem ganze Pub- likum offen stehet, das aus Menschen jeder Classe, von jedem Stande und von jedem Alter bestehet.“33 Während Joseph II. also über das Instrument der Zensur ein neues Ordnungskri- terium in das Wiener Theaterwesen einführte, war dieses Theaterwesen in insti- tutioneller Hinsicht in den Jahren nach der Hoftrauer um Kaiser Franz I. – der

31 Sonnenfels, der aktivste Verfechter einer Theatralzensur und von Joseph II. mit dem 15. März 1770 als Zensor eingesetzt, hatte dieses Amt nur für wenige Monate inne. 32 Diese Aspekte werden bei Yates, Theatre in Vienna, im Kap. „Censorship“ eingehend dis- kutiert. 33 Zitiert nach der Abschrift, die aller Wahrscheinlichkeit nach ein Mitarbeiter des Theater- historikers Carl Glossy in den 1890er Jahren erstellte und die im Haus-, Hof- und Staatsar- chiv Wien aufbewahrt wird. Die Musikwissenschaftlerin Lisa de Alwis hat diese und eine weitere Abschrift (in den Beständen der Österreichischen Nationalbibliothek) des Hägelin- Textes entdeckt und kann zeigen, dass Glossy in Hägelins Text zur Theaterzensur seinerseits „zensierend“ eingegriffen hat, bevor er ihn 1897 im Rahmen eines Beitrags zum Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft veröffentlichte (Glossy, Theatercensur). De Alwis bereitet der- zeit eine kommentierte Edition der Abschriften vor, hat wesentliche Aspekte ihres Fundes jedoch bereits in einem Beitrag für die Zeitschrift Nestroyana zusammenfassend erläutert. Lisa de Alwis: Zensieren des Zensors: Karl Glossys lückenhafte Übertragung (1897) von Franz Karl Hägelins Leitfaden zur Theaterzensur (1795). In: Nestroyana 30 (2010), S. 191– 192. – Ich danke Lisa de Alwis herzlich für die Möglichkeit des Vorabdrucks nach den ihr vorliegenden Materialien.

18 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters neue Pächter Franz Anton Hilverding konnte im Kärntnertortheater erstmals am 31. März 1766 spielen – eher von Unordnung gekennzeichnet, mitbedingt durch die Schwierigkeit, den Betrieb am Burgtheater und am Kärntnertortheater zu finan- zieren. Als Last erwies sich dabei vor allem der Unterhalt des französischen Thea- ters, dem das besondere Interesse des Haus-, Hof- und Staatskanzlers Wenzel Anton Graf Kaunitz galt, das man allerdings im März 1772 endgültig aufgeben musste. Bis dahin hatten sich verschiedene Sozietäten, Pächter und Unterpächter an der Führung der Theater versucht, so als Unterpächter Giuseppe Afflisios der Bankier Karl Bender, der gemeinsam mit Franz von Heufeld als Direktor und Christian Gottlob Klemm als dessen Mitarbeiter im Jahr 1769 am Kärntnertortheater einen ersten, nur wenige Monate währenden Versuch mit einem „Nationaltheater“ mach- te.34 Mitte der 1770er Jahre war ein Bankrott des Hoftheaterpächters unausweich- lich. Vier hauptsächliche Aspekte prägten die nun von Joseph II. vorgenommene Reorganisation des Wiener Theaterwesens: sämtliches Theaterpersonal außer den deutschen Komödianten wurde entlassen; die Verwaltung des Kärntnertor- und des Burgtheaters wurde unmittelbar an den Hof gebunden; die deutschen Komödian- ten erhielten als Spielstätte das Burgtheater zugewiesen, das „hinführo das teutsche Nationaltheater heißen solle“,35 und wurden in den Dienst des Hofes übernommen; und das bisherige Prinzip des privilegium privativum wurde zugunsten der Spekta- kelfreiheit aufgegeben.

2. Die Spektakelfreiheit und ihr Ende Sieht man von konkreten Fakten und Einzelereignissen zunächst einmal ab, so liegt die Relevanz der Entwicklungen, die das Wiener Theater in den Jahren zwischen dem Erlass der Spektakelfreiheit (1776) und deren Ende (1794) nahm, vor allem in der Tatsache, dass hier die Vorstellung von Theater als einem für Wien zentra- len identitätsstiftenden Moment gründet: bezogen auf das Burgtheater entstand der Mythos des „Nationaltheaters“, bezogen auf die neu errichteten privaten Theater in den Vorstädten und die vielseitigen Aktivitäten von Schauspieltruppen hingegen der Mythos eines „Volkstheaters“, das im 19. und frühen 20. Jahrhundert zum Gegen- stand immer neuer ideologischer Debatten wurde und noch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in wissenschaftlichen Darstellungen als Inbegriff einer „bo- denständigen Kultur“ aufscheint.36 Was hingegen die Fakten – herrschaftliche Ent- scheide wie künstlerische Initiativen – betrifft, so wurde Wien in jenen Jahren als gegliederter Raum für Theater erschlossen; es entfaltete sich also eine Theatertopo- graphie, die die Bühnenkunst gewissermaßen näher an ihr Publikum heranrückte.

34 Hilde Haider-Pregler: Wien probiert seine National-Schaubühne. Das Theater am Kärnt- nertor in der Spielzeit 1769 / 70. In: Maske und Kothurn 20 (1974), S. 286–349. 35 Zitiert nach Hadamowsky, Wien. Theatergeschichte, S. 266 (Kaiserliches Handbillet an den Fürsten Khevenhüller-Metsch vom 23. März 1776). 36 Für eine detaillierte Auseinandersetzung mit der älteren und neueren Forschung zum Volkstheater vgl. Hein, Das Wiener Volkstheater.

19 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

Auch wenn die jüngere Forschung zurecht infrage gestellt hat, ob Joseph II. bei der „Nationaltheatergründung“ diejenigen Ziele im Auge hatte, die von den zeitgenös- sischen Programmatikern des Nationaltheaters verfochten37 und auch rückblickend dem Burgtheater immer wieder zugeschrieben wurden: mit der durch wirtschaftli- che Erwägungen motivierten Entlassung der französischen Schauspielgesellschaft, der italienischen Operisten und der beiden Ballettensembles und der Übernahme der deutschen Komödianten in den Hofdienst rückte der Kaiser das Wiener Hof- theater jedenfalls in den Kontext der Theaterbewegung, die die aufgeklärten Höfe Norddeutschlands in jenen Jahren erfasste und die mit einem Bedeutungsverlust französischer und italienischer Bühnenkünstler zugunsten der sesshaft werdenden deutschen Truppen einherging. In den Zusammenhang der Propagierung neuer Formen eines ‚aufgeklärten‘ deutschsprachigen musikalischen Theaters (die allerdings ohne das Vorbild etwa der opéra-comique-Tradition kaum zu denken sind) gegen- über der höfisch-elitären Kunst der italienischen Oper gehört dementsprechend die Entscheidung, am Burgtheater neben dem Nationalschauspiel ein Nationalsingspiel zu etablieren, das mit der Uraufführung von Ignaz Umlauffs Original- Die Bergknappen am 17. Februar 1778 seinen Ausgang nahm. Ein Blick auf die insti- tutionelle Verankerung des Nationalsingspiels am Burgtheater bzw. am Kärntner- tortheater scheint von der Kurzlebigkeit des Phänomens zu zeugen; trotz der raschen Wiedereinführung der italienischen Oper gilt es aber die zunehmende Bedeutung des deutschsprachigen musikalischen Theaters zu betonen, das sich in Wien – näm- lich in den neuen Vorstadttheatern – nicht selten in populären Varianten zeigte. Der Hinweis auf Wolfgang Amadeus Mozarts „große Oper“ Die Zauberflöte, ur- aufgeführt im Freihaustheater auf der Wieden im September 1791 und hier im Laufe eines Jahrzehnts mehr als 200 mal wiederholt, kann an dieser Stelle nicht fehlen. Die Entwicklung, die das Kärntnertortheater und das Burgtheater im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert nahmen und die sie zu ‚Medien‘ der Repräsentation nicht mehr der kaiserlichen Macht, sondern einer wenn auch nach wie vor elitären, so doch zunehmend (haupt-)städtischen Kultur mit gesamtnationalem Anspruch werden ließ, ist insofern von der Auffächerung der Wiener Theaterszene nach 1776 nicht zu trennen. Bezugnehmend auf ein Dekret Josephs II. vom 23. März 1776 machte die niederös- terreichische Regierung bekannt, dass „hinfüro kein Privativum mehr ertheilet wer- den würde, sondern einem Jeden frey seyn solle, auf was immer für eine erdenkliche Art, sowohl in- als vor der Stadt das Publicum zu unterhalten und sich einen Nutzen zu verschaffen.“ Verbunden damit war die Übertragung der „gänzliche[n] Oberauf- sicht über alle Schauspiele als ein Polizey-Geschäft“ auf die niederösterreichische Regierung.38 Auf der Grundlage dieser Bestimmung konnten an Wandertruppen und Schausteller unbeschränkt Spielgenehmigungen für die Stadt Wien und ihre

37 So wurde von der Direktion des oben erwähnten „Nationaltheaters“ im Kärntnertortheater im Februar 1769 u. a. darauf hingewiesen, dass ein Nationaltheater „die Nation zu verherr- lichen“ habe. Vgl. Haider-Pregler, Wien probiert seine National-Schaubühne, S. 286–287. 38 Zitiert nach Hadamowsky, Wien. Theatergeschichte, S. 255.

20 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters

Vorstädte vergeben werden; die außerhalb des Linienwalls gelegenen Dörfer waren vom privilegium privativum ohnehin unabhängig gewesen, weshalb sich etwa in Penzing bereits um die Mitte des Jahrhunderts immer wieder Truppen einfanden.39 Kaiserliche Entscheidungen waren zwischen 1776 und 1794 lediglich im Fall der dem Hof unterstellten Theater, also des vorübergehend als Nationaltheater nächst der k. k. Burg geführten Burgtheaters und des K. k. Hoftheaters nächst dem Kärntner- thore, sowie bei der Erteilung offizieller, mit einem Theaterneubau verbundener Pri- vilegien gefordert. Weder für das Spiel in Komödienhütten noch für dasjenige in den unterschiedlichen Typen von Saaltheatern – ob in Privathäusern oder Gasthöfen – benötigte man ein offizielles, kaiserliches Privileg, sondern allein eine Spielgeneh- migung der niederösterreichischen Regierung. Die historischen Forschungen Emil Karl Blümmls und Gustav Gugitz’ haben ergeben, wie vielfältig sich das Angebot an theatralischen Vergnügungen ab 1776 gestaltete. Zumindest einige der Spielstät- ten seien genannt: der Gasthof „Zur Goldenen Sonne“ in der Vorstadt Margareten, „Zum grünen Wasen“ in der Vorstadt Laimgrube, „Zum weißen Fasan“ auf dem Neubau, „Bey St. Peter“ in der Josefstadt, „Zum wilden Mann“ in der Roßau. Die Angaben zu Eintrittspreisen auf Aufführungszetteln jener Jahre belegen für viele Veranstaltungsorte, dass Spektakel hier tatsächlich für nahezu jedermann zugäng- lich waren, mögen die betreffenden Darbietungen auch verschiedene Zeitgenossen zu vernichtenden Urteilen herausgefordert haben. Diese Urteile zielten naturgemäß in erster Linie auf das Theater in den einfachen Marktbuden und Komödienhütten. Einschlägig ist in diesem Zusammenhang der Kommentar, den Johann Pezzl in den 1780er Jahren in seiner Skizze von Wien gab: „Während der Jahrmärkte kommen verschiedene fliegende Truppen und spie- len in mehreren, auf den Hauptplätzen errichteten hölzernen Hütten, wobei auch immer ein Kasperl oder Lustigmacher die Hauptperson ist. Seht im Vor- beigehen hinein, aber nehmt bevor eine Prise Tabak, damit euch nicht der Gestank der Beleuchtung, des verschütteten Bieres, der Knoblauchwürste und der Dunstkreis des hochansehnlichen Publikums zu gäh auf die Lunge fal- le … Könnt ihr bis zum Anfange ausdulden, so seht ihr die possierlichsten Auftritte. Auf den Zettel an der Türe müßt ihr nicht achten! Laßt immer ei- nes unserer ersten Trauerspiele darauf geschrieben sein. – Daraus wird nichts, denn der Held ist besoffen, die Königin findet ihren Purpur nicht und der Meister Schreiner hat die nötigsten Theaterverzierungen wieder mit sich fortge- nommen … Statt des Trauerspiels bekommt ihr nichts als Schläge zu sehen und wenn diese vorbei sind, schimpft der Schauspieler auf den Kreuzerplatz, dieser erwidert die Sticheleien; und so seht ihr das possierlichste aller Schau- spiele, welches von dem Publikum mit den Schauspielern aufgeführt wird. Die gröbsten Schimpfwörter, die unflätigsten Zoten, die Geschichte des Tages aus

39 Vgl. dazu Emil Karl Blümml: Das Penzinger Theater. In: E. K. B und Gustav Gugitz: Alt- Wiener Thespiskarren. Die Frühzeit der Wiener Vorstadtbühnen. Wien: Anton Schroll & Co. 1925, S. 38–102 und S. 351–361.

21 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

der Nachbarschaft würdet ihr hören, wenn euch nicht um eure Kleider und eure Nasen zu bange würde.“40 Hier ist von einer Berührung von Theater und Gesellschaft im ganz unmittelbaren Sinn die Rede. Blickt man vergleichend auf die Aufführungssituation der Hofthea- ter und abstrahiert dabei von der sehr unterschiedlichen Beschaffenheit des Aufge- führten und der Herkunft des jeweiligen Publikums, so lassen sich zwei strukturelle Besonderheiten benennen, die auf die zunehmende Ausdifferenzierung des Theaters nach literaturzentrierten und darstellerzentrierten Formen verweisen: erstens war an den Hoftheatern die räumliche wie performative Trennung von Bühnengesche- hen und Zuschauern, die ein Kennzeichen des reformorientierten Illusionstheaters war, die Regel,41 und zwar unbenommen der immer wieder beschworenen engen Bindung des Burgtheaterpublikums an ‚seine‘ Darsteller;42 zweitens hob die Durch- setzung der Hochsprache auch am Kärntnertortheater, also die Abdrängung des Dialekts in die vorstädtischen, die Markt- und Saaltheater, an den Hoftheatern jene Konstellation auf, für die Gustav Zechmeister den Begriff „soziale Intimsphäre“43 vorgeschlagen hat.44 Wie sich das a-mimetische und antididaktische Theater und das noch über längere Zeit gleichsam ‚verordnete‘ aufgeklärte Illusionstheater in Wien im späten 18. Jahrhundert zueinander verhielten, hat vor allem Beatrix Müller-Kampel ausführlich beschrieben.45 Entscheidend ist, dass sich das „Alt- Wiener Spaßtheater“ – so Müller-Kampels Formel –, das zu Zeiten Stranitzkys, Prehausers und Kurz-Bernardons im Kärntnertortheater beheimatet gewesen war, nach den theresianisch-josephinischen Reformen auf neuem Terrain wiederfand:

40 Johann Pezzl: Skizze von Wien [6 Hefte, 1786–1790]. Neu herausgegeben von Gustav Gugitz und Anton Schlossar. Graz: Leykam 1923, hier S. 324–325. 41 Diese Trennung war nicht nur dem älteren Wandertruppen- und extemporierten Theater fremd, sondern ebenso vielen Formen des im engeren Sinn höfischen Theaters, das der Repräsentation von Herrschaft diente und in dem Mitglieder des Hofes Akteure und Zu- schauer zugleich waren. Paradigmatisch für diese Form höfischer Inszenierung stehen Thea- ter und Hoffeste unter Louis XIV. in Frankreich, die zum Vorbild für die Selbstinszenierun- gen zahlreicher Fürsten des deutschsprachigen Raums wurden. 42 Vgl. hierzu u. a. Heinz Kindermann: Das Publikum und die Schauspielerrepublik. In: Das Burgtheater und sein Publikum. Herausgegeben von Margret Dietrich. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1976. (= Veröffentlichungen des Instituts für Publikumsforschung. 3.) S. 97–121. 43 Zechmeister, Die Wiener Theater, S. 34. 44 Beides gilt übrigens in gleicher Weise für die Theatraljahre, in denen Joseph II. das Burg- theater (1776–1778, neben den Aufführungen des deutschen Nationalschauspiels) und das Kärntnertortheater (1776–1785) für diverse private und Wandertruppen öffnete. 45 Beatrix Müller-Kampel: Hanswurst, Bernardon, Kasperl. Österreichische Gegenentwürfe zum norddeutsch-protestantischen Aufklärungsparadigma. In: Komik in der österreichi- schen Literatur. Herausgegeben von Wendelin Schmidt-Dengler, Johann Sonnleitner und Klaus Zeyringer. Berlin: Erich Schmidt 1996. (= Philologische Studien und Quellen. 142.) S. 33–55, sowie Beatrix Müller-Kampel: Hanswurst, Bernardon, Kasperl. Spaßtheater im 18. Jahrhundert. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2003.

22 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters

„Das Spaßtheater alten Schlages zog sich, wenn auch aufklärerisch-rationa- listisch überformt, in die Vorstädte zurück […]. Nach wie vor enthielt sich das zeitgenössische Wiener Theater freilich der ausschließlich vernünftigen Nach- ahmung der Natur, des moralisierenden Blicks in das bürgerliche Heim. Statt- dessen wurden Burleske, Zauber- und Maschinenspektakel einfach mit aufklä- rerischen Motiven versetzt.“46 Der Vorgang der räumlichen Verlagerung des rampenüberschreitenden, lokal ge- färbten Spaßtheaters vom städtischen bzw. höfischen Kärntnertortheater in neue Theater in den Vorstädten – also die institutionelle und ästhetische Kontrastierung von Hoftheatern und Privattheatern – dürfte wesentlich zur ideellen Aufladung jener Genres, Spielformen und Rezeptionsweisen beigetragen haben, die ab den 1780er Jahren am Theater in der Leopoldstadt, am Theater im Starhembergischen Freihaus auf der Wieden und am Theater in der Josefstadt herausgebildet wurden und die sich zumal in der Rückschau auf das ausgehende 18. und das frühe 19. Jahrhundert zu einem „einheitlichen“, im „Wiener Wesen“ wurzelnden „Volkstheater“ zu fügen scheinen. In welchem Verhältnis die Realität dieses Volkstheaters zu späteren mythi- sierenden Deutungen stand, wird an anderer Stelle darzulegen sein. Was die institu- tionellen bzw. theaterrechtlichen Bedingungen für die Entstehung des Volkstheaters (und damit letztlich seines Mythos’) betrifft, so wurde derselbe Entscheid wirksam, der auch den Betrieb einer Vielzahl von Saaltheatern und Komödienhütten ermög- lichte, nämlich die Suspendierung des privilegium privativum durch Joseph II.: sie erlaubte es verschiedenen Theaterunternehmern, um persönliche Privilegien anzu- suchen, die den Bau und die Bespielung neuer stehender Theater gestatteten. Ein erstes derartiges Ansuchen richtete Karl Marinelli, Kompagnon Johann Matthias Menningers und mit diesem und der gemeinsamen Truppe seit 1777 / 78 im Saal des Czernin’schen Gartenpalais’ in der Leopoldstadt erfolgreich,47 im November 1780 über Vermittlung der niederösterreichischen Regierung an den Kaiser. In den letzten Tagen des Jahres wurde Marinellis Ansuchen bewilligt, am 20. Oktober 1781 fand die Eröffnungsvorstellung des Theaters in der Leopoldstadt in der Jäger- zeile statt, dem Kasperl-La Roche bald einen internationalen Ruf als Lachtheater und bedeutende Sehenswürdigkeit Wiens erwarb.48 Nach Marinelli fasste im Januar 1786 der Burgschauspieler Emanuel Schikaneder den Plan, ein privates Theater zu errichten. Doch nicht er, sondern der Wandertruppenprinzipal Christian Roßbach war es, der dieses Vorhaben realisierte: am 14. Oktober 1787 fand die erste Vorstel- lung im Theater im Starhembergischen Freihaus auf der Wieden statt. Das Theater verblieb nur kurz unter der Leitung Roßbachs und seines unmittelbaren Nachfol-

46 Müller-Kampel, Österreichische Gegenentwürfe, S. 53. 47 Menninger hatte, wie erwähnt, bereits 1769 erstmals in der Leopoldstadt gespielt. 48 Zum Leopoldstädter Theater im 18. Jahrhundert siehe neuerdings Andrea Brandner- Kapfer, Jennyfer Großauer-Zöbinger und Beatrix Müller-Kampel: Kasperl-La Roche. Seine Kunst, seine Komik und das Leopoldstädter Theater. Graz 2010. (= LiTheS. Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie. Sonderbd. 1.): http://lithes.uni-graz.at/lithes/10_sonder- band_1.html [18.4.2011].

23 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

gers, des Prinzipals Johann Friedel; im Sommer 1789 übernahm Schikaneder das Haus, und im Mai 1790 suchte er bei Leopold II. mit Erfolg um die Verleihung ei- nes offiziellen Privilegs an, vergleichbar demjenigen, das Marinelli für die Leopold- stadt erhalten hatte. Dabei konnte Schikaneder sich darauf berufen, dass ihm 1786 von Joseph II. bereits ein Privileg erteilt worden war, welches er allerdings nicht in Anspruch genommen hatte. Wie Marinelli durfte Schikaneder sich nun k. k. privile- gierter Schauspielunternehmer nennen. Ein drittes derartiges Privileg erging im Au- gust 1791 an den Schauspieler Karl Mayer, der mit einer eigenen Gesellschaft in den 1780er Jahren innerhalb und außerhalb Wiens an verschiedenen Orten aufgetreten war und seit Oktober 1788 in einem dem Wirtshaus seines Schwiegervaters Johann Michael Köck angegliederten, neu errichteten Theater in der Josefstadt („Bey dem goldenen Straußen“, Kaisergasse) spielte. Mit der Etablierung von privaten Theatern in den Vorstädten Leopoldstadt, Wie- den bzw. Laimgrube – hier lag das im Juni 1801 eröffnete Nachfolgeinstitut des Freihaustheaters, das – und Josefstadt und der Erteilung der betreffenden Privilegien durch den Kaiser sind zwei Sachverhalte verbunden, die bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein die Beziehung zwischen Theater und Gesellschaft in Wien regelten: es handelt sich um die spezifische stadträumliche Situierung der Theater und um den Einfluss, den die erteilten Privilegien auf die Repertoirebildung hatten. Die Eigenheiten der Wiener Situation erschließen sich dabei vor allem im Vergleich mit den Metropolen Paris und London. In Paris wie in London lässt sich über Jahrhunderte eine Tendenz zur Herausbildung von Theater- und Vergnügungs- vierteln beobachten, in denen eine Vielzahl von Theatern versammelt waren; am bekanntesten waren bzw. sind der Boulevard du Temple in Paris und das West End in London.49 Dem stand in Wien eine Verteilung der Theater im Stadtraum gegen- über, mit der – dies machen historische Quellen unterschiedlichster Art deutlich – die Vorstellung von einer Verknüpfung des jeweiligen Theaters und seines Angebots mit einer lokalen Klientel einherging. Diese Verknüpfung, die vor dem Hintergrund der stark ausgebildeten sozialräumlichen Gliederung Wiens zu sehen ist, lässt sich insbesondere in Zusammenhang mit der Welle von Theaterneugründungen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert (u. a. Deutsches Volkstheater im 7. Bezirk, Raimundtheater im 6. Bezirk, Kaiserjubiläums-Stadttheater im damaligen 18. Be- zirk, Wiener Bürgertheater im 3. Bezirk, Johann-Strauß-Theater im 4. Bezirk) gut nachvollziehen. Für die Zeit der Spektakelfreiheit ist vorderhand festzuhalten, dass hier Theater in städtischen Räumen jenseits der Fortifikationen verankert wurde, in Räumen, die eine gänzlich andere Sozialstruktur aufwiesen als die von der Hofhal- tung und dem zugehörigen Beamtenapparat dominierte Innere Stadt. Die Jägerzeile

49 Ähnliches lässt sich für das Berlin der Kaiserzeit und der Weimarer Republik beobach- ten. Vgl. dazu Marion Linhardt: Residenzstadt und Metropole. Zu einer kulturellen To- pographie des Wiener Unterhaltungstheaters (1858–1918). Tübingen: Niemeyer 2006. (= Theatron. 50.) S. 42–49, sowie Marion Linhardt: Schau-Ereignisse der Großstadt. Theaterwissenschaftliche Überlegungen zur räumlichen Ordnung Berlins in der Kaiserzeit. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 33 (2008), Heft 1, S. 26 – 47.

24 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters als Standort des Theaters in der Leopoldstadt etwa gewann ihr Gepräge im späten 18. Jahrhundert nicht zuletzt aus der Vergnügungs- und Erholungsfunktion des Praters und des Augartens, jener ursprünglich exklusiven Parkanlagen, die durch Joseph II. 1766 bzw. 1775 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden waren.50 Im Schriftverkehr zwischen der Stadt Wien und der niederösterreichischen Statt- halterei bezüglich des Marinelli’schen Privilegsgesuchs ist von der Leopoldstadt als einer „zu den öffentlichen Spaziergängen und Erlustigungen des Publikums gewid- meten Vorstadt“ die Rede.51 Das Starhembergische Freihaus auf der Wieden vor dem Kärntnertor, Standort des zweiten Privattheaters, war mit mehreren Hundert Bewohnern und einer durchaus breiten eigenen Infrastruktur beinahe eine Stadt für sich; in unmittelbarer Umgebung hatten sich Fabrikanten und vermögende Bürger angesiedelt. Zumal die Eintrittspreise des 1801 eröffneten neuen Schikaneder’schen Theaters waren allerdings für die Mehrzahl der in den Vorstädten Laimgrube und Gumpendorf ansässigen Tagelöhner und Kleinhandwerker kaum erschwinglich, ob- wohl sie deutlich unter denjenigen der Hoftheater lagen. In der Josefstadt trafen gut- bürgerliche Quartiere ebenfalls auf Tagelöhner- und Kleinhandwerkersiedlungen, und auch hier galt: das Privattheater war eine Domäne der Mittelschicht, lediglich ein geringer Teil der Plätze kam für ein einfaches Publikum in Frage. Bis ins späte 19. Jahrhundert gingen Theaterdirektoren und Behörden in Wien nun vom Vorherrschen eines lokalen Stammpublikums in den Theatern und dement- sprechend von einer geringen Mobilität der Zuschauer aus. Um und nach 1800 ergaben sich besondere Gewichtungen hinsichtlich der Publikumsstruktur im Fall des Theaters an der Wien – von Zeitgenossen als größtes und schönstes Theater des deutschsprachigen Raums gerühmt – durch die zeitweise spielplanbezogene und administrative Annäherung an die Hoftheater (ab 1804), im Fall des Theaters in der Leopoldstadt, das auf Lokalkomik spezialisiert war, durch die hier betriebene Prostitution als zusätzlichen Besuchsanreiz. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die unvermögenden Schichten der Gesellschaft, die einen beachtlichen Teil jenes den Vorstadttheatern mit verklärendem Blick zugeordneten „Volkes“ ausmachten, in den Theatern einzig in Gestalt des Galerie- sowie des sogenannten Sonntagspublikums aufschienen. Zeitgenössischen Berichten und den Erwägungen der Theaterdirek- tionen bei der Spielplangestaltung lässt sich entnehmen, dass sich dieser Zuschauer- kreis, der aus Mangel an finanziellen Mitteln und an freier Zeit nur selten Theater aufsuchte (Arbeitszeiten von weit mehr als 80 Stunden pro Woche waren für ei- nen hohen Prozentsatz der Berufstätigen die Regel), vorwiegend aus bildungsfernen Schichten rekrutierte, dass er sich allerdings um so bereitwilliger von den gebotenen optischen Attraktionen, von den musikalischen Darbietungen und den vorgeführ- ten Emotionen überwältigen ließ. In seiner Neuen Skizze von Wien (1. Heft: 1805)

50 Zu einer zeitgenössischen theatralen Reflexion auf die Freizeitfunktion des Praters vgl. Matthias Johannes Pernerstorfer: Karl von Marinellis Spaziergang in den Prater. In: Nestroyana 29 (2009), S. 23–32. 51 Zitiert nach Hadamowsky, Wien. Theatergeschichte, S. 485.

25 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

widmete sich Johann Pezzl diesem Publikum im Rahmen einer breiteren Analyse der Aneignung städtischer Räume durch diese oder jene soziale Gruppe: „Vor allem aber haben die Schauspielhäuser ihr Publicum: die Hoftheater ha- ben das ihrige, das Theater an der Wien hat das seinige, der Kasperl hat das seinige, auch das Theater in der Josephstadt hat das seinige. Auch dieses Publicum ist nicht immer das nähmliche: ein anderes an Wochen- tagen, und ganz ein anderes an Sonntagen und Feyertagen. Auffallend ist der Abstand, wenn man an diesen Tagen in die besseren Theater geht. – Da wird gewaltig geräuspert und geschneuzt, da werden noch häufige Thränen aus den Augen gewischt, wenn die Vorstellung rührend oder tragisch ist; da ertönt ein hellschallendes anhaltendes Gelächter, ein betäubendes Bey- fallklatschen, wenn das Schaustück komisch ist. An solchen Tagen gehen nämlich die geringeren Bürgersleute, die kleineren Beamten und Hausofficiere, und mancherley Menschenclassen hinein, für die das Theater nicht bloßer Conversations-Platz oder Asyl gegen die Langeweile ist, wie für das reichere Publicum, sondern wirklicher Genuß und hinreissende Täuschung, ohne viele Bekanntschaft mit dem ästhetischen Werthe der Stücke. Auch benützen die Herren Schauspielunternehmer diesen Umstand: sie geben an solchen Tagen gewöhnlich Sachen, wo recht viel zu schauen ist, oder gräßli- che Ritterstücke, wundersame Zauberstücke, auch Lustspiele mit hoch-derben Späßchen durchspickt. Diese Spielwerke, welche das Publicum der Wochentage mit Achselzucken und Naserümpfen aufnimmt, geben an Sonntagen ein köstliches Schaugericht für das Publicum des Tages.“52 Das Phänomen des von den Sensationen der Schaubühne überwältigten Sonntags- publikums legt einen neuerlichen vergleichenden Blick auf die Pariser und die Lon- doner Situation nahe, und zwar bezogen auf das Repertoire. In Paris, London und Wien standen sich im 18. und 19. Jahrhundert jeweils ‚erste‘ und ‚zweite‘ Theater gegenüber, denen per Gesetz oder Einzelerlass bestimmte theatrale Gattungen zu- geordnet waren und die in der Regel auf nach Bildung und Besitz unterschiedene Bevölkerungsschichten zielten. ‚Erste‘ Häuser waren in Paris im späten 18. Jahr- hundert die Comédie-Française und das Théâtre de l’Opéra, in London die Theater in Covent Garden und Drury Lane, in Wien die beiden Hoftheater, als ‚zweite‘ Häuser sind in Paris u. a. die Theater des bereits erwähnten Boulevard du Temple, in London die sogenannten Minor Theatres und in Wien die privaten Vorstadt- theater aufzufassen. Wenn mittels Privilegien- oder Konzessionsvergabe einzelne Genres allein den ‚ersten‘ Häusern zugestanden wurden – ob aufgrund konkreter kulturpolitischer Intentionen oder aber zur Kanalisierung der Konkurrenz unter

52 Johann Pezzl: Neue Skizze von Wien. 1. Heft. Wien: J. V. Degen 1805, darin: [Kap.] XXVI. Sonntags-Publicum, S. 129–133, hier S. 130–132. Vgl. zum Sonntagspublikum v. a. Hütt- ner, Literarische Parodie.

26 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters den Theatern –, blieben weite Teile der Bevölkerung von ebendiesen Genres ausge- schlossen. Hier fällt nun eine Besonderheit der Wiener Theaterszene auf: während die Theatergesetzgebung in Paris und London auch und gerade hinsichtlich des Re- pertoires äußerst rigide war (so war es etwa in London nur den beiden sogenannten Patent Theatres Drury Lane und Covent Garden erlaubt, das Regular Drama, also Tragedy, Comedy und Farce ohne Musikbegleitung aufzuführen), was zur Heraus- bildung vielfältiger neuer Bühnengenres führte, mit denen man die bestehenden Reglementierungen zu umgehen suchte,53 war die theaterrechtliche Abgrenzung des Repertoires der Hof- von demjenigen der Privattheater in Wien nur eine bedingte.54 Letztlich waren es die ehemals „höfischen“ Genres, die weitgehend den Hoftheatern vorbehalten bleiben sollten, nämlich die italienische Oper und das Ballett. Dies schränkte die ‚zweiten‘ Häuser in Wien in ihrer Spielplangestaltung – verglichen mit der Pariser und der Londoner Praxis – nur wenig ein. Wenn Kaiser Franz II. (I.) im April 1804 resümierend bestätigte: „Die Theater-Entrepreneurs in der Leopold- stadt und an der Wien sind zu allen deutschen zu rezitierenden Stücken, dann zu deutschen Opern jeder Art und musikalischen Akademien zu authorisiren, dagegen zu jedem zu recitirenden Schau- und jedem Singspiel in fremder Sprache, sowie zu Balletts und Bällen nicht berechtigt“, während Karl Mayer in der Josefstadt „bei der bisherigen Erlaubnis und besonderen Begünstigung auf Balletts, Pantomimen und kleinen deklamatorischen Stücken zu verbleiben habe“,55 dann dokumentiert dies, dass den Privattheatern die Präsentation nahezu des gesamten Spektrums theatra- ler Genres offen stand – ließen sich doch fremdsprachige Opern problemlos mit deutschen Texten aufführen und anstelle der am Theater in der Leopoldstadt und am Theater an der Wien verbotenen Ballette alternative Formen eines Bewegungs- theaters wie etwa die überaus beliebte Pantomime kultivieren. Die von den Kaisern seit Joseph II. erteilten bzw. bestätigten Privilegien wirkten also hinsichtlich der den Privattheatern erlaubten Genres kaum einschränkend; so konnte beispielsweise das Theater in der Josefstadt in den frühen 1830er Jahren eine Reihe von Opern aus dem aktuellen internationalen Repertoire als einziges Wiener Theater oder zumindest als Wiener Erstaufführung – das heißt noch vor der Hofoper – herausbringen,56

53 Vgl. hierzu die zusammenfassenden Darstellungen bei Marion Linhardt: Die vermischten Genres des Boulevards und der Vorstadt. In: Souvenirs de Taglioni. Bühnentanz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Herausgegeben von Gunhild Oberzaucher-Schüller. Bd. 2. München: K. Kieser 2007. (= Tanzforschungen. VIII.) S. 49–69, sowie Marion Linhardt: Visualisierungen. Die szenographische Praxis in den europäischen Theater- zentren des frühen 19. Jahrhunderts. In: Nestroyana 29 (2009), S. 48–71. 54 Anders stellte sich die Situation im Fall der im 19. Jahrhundert entstehenden sogenannten Singspielhallen dar. Auf Repertoire und Publikum dieser Etablissements wird gesondert einzugehen sein. 55 Zitiert nach Hadamowsky, Wien. Theatergeschichte, S. 454; vgl. dazu auch Großegger, Das Burgtheater und sein Publikum, S. 304. 56 Darunter waren Gaetano Donizettis Anna Boleyn, Vincenzo Bellinis Die Capulets und Mon- tagues und Die Nachtwandlerin, Ferdinand Hérolds Der Zweikampf sowie Giacomo Meyer- beers aufsehenerregende Schaueroper Robert der Teufel.

27 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

28 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters mithin das Genre Oper seinem Publikum zu erschwinglicheren Preisen bieten als die Hofoper. Anders als die ‚zweiten‘ Theater in Paris und London besaßen die privaten Vor- stadttheater in Wien – so ist festzuhalten – weitgehende Freiheit bei der Gestaltung des Spielplans, soweit sich die betreffenden Stücke und ihre Bühnenpräsentation innerhalb des von der Zensur gesetzten Rahmens hielten. Überschneidungen mit den an den Hoftheatern gepflogenen Genres waren möglich. Ihre Spezifik bildeten die Vorstadttheater aber natürlich mit jenen theatralen Formen aus, die von den Hofbühnen ausgeschlossen blieben, und dies waren in erster Linie die von loka- ler Komik bestimmten Genres, die noch eine Nähe zum darstellerzentrierten ex- temporierten Theater der vorangegangenen Jahrzehnte aufwiesen. Für viele dieser Genres, wie die lokalen Lust- und Singspiele, die Zauber- und Spektakelstücke, die Maschinenkomödien und Parodien, war die Mitwirkung einer stehenden Lustigen Person unabdingbar, die – mit durchaus wechselndem ästhetischem und sozialem Impetus – das Scharnier zwischen Bühnengeschehen und Publikum bildete. Die entsprechenden Typenfiguren stellten die Verbindung zu den Zuschauern teils da- durch her, dass sie durch direkte Publikumsansprache etwa in Gestalt von Couplets die Fiktion einer geschlossenen Handlung durchbrachen, teils dadurch, dass sie als Repräsentanten einer Art von Wiener „Jedermann“ fungierten, wie in den mit Adolf Bäuerles Posse Die Bürger von Wien (1813) etablierten „Staberliaden“. Von einer Tra- dition des Wiener „Volkstheaters“ im 18. und frühen 19. Jahrhundert lässt sich also sinnvoller Weise dann sprechen, wenn man diese Tradition als Gefüge bestimmter Dramaturgien auffasst, die eine Zentralstellung der Lustigen Person – häufig mit dem jeweiligen Darsteller überblendet und nicht selten bereits durch das Kostüm als Typus markiert – vorsahen und das lokale Idiom bedienten; demgegenüber gilt es das Konzept eines „Volkstheaters“, das im „Wesen“ Wiens oder der Wiener gründe, erneut zu relativieren.57 Nicht zufällig haben in Zusammenhang mit der Darstellung der Theaterszene Wiens in den Jahren der Spektakelfreiheit bereits Entwicklungen des 19. Jahrhunderts Er- wähnung gefunden. Tatsächlich blieb die um 1790 (bzw. 1801 mit der Eröffnung des Theaters an der Wien) erreichte theatrale Erschließung des städtischen Raums im Sinn einer Verfügbarkeit von Theater bis in die 1850er Jahre weitestgehend

57 Die Reihe der Wiener Lustigen Personen begann im Kärntnertortheater und setzte sich in den Vorstadttheatern fort: Im Kärntnertortheater gaben, wie bereits mehrfach erwähnt, Josef Anton Stranitzky und, im Anschluss an ihn, Gottfried Prehauser die stehende Figur des Hanswurst und Joseph Felix von Kurz den Bernardon, weiterhin Friedrich Wilhelm Weiskern den Odoardo und Johann Christoph Gottlieb den Jakerl, der später von Philipp Burghuber am Theater in der Leopoldstadt übernommen wurde; dort spielte Johann Joseph La Roche ab 1781 den Kasperl, in den 1790er Jahren dann Anton Hasenhut den Thaddädl, während Emanuel Schikaneder im Freihaustheater auf der Wieden als Anton auftrat. Die populärste komische Figur des frühen 19. Jahrhunderts war der Staberl, zunächst am Leo- poldstädter Theater repräsentiert durch Ignaz Schuster, darauf, in stark modifizierter Form, durch Carl Carl; Ferdinand Raimund war, anfänglich in der Josefstadt, dann auch in der Leopoldstadt, mehrfach als Herr Adam Kratzerl zu sehen.

29 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

Status quo. Ursache dafür, dass es trotz anwachsender Einwohnerzahl über Jahr- zehnte in Wien zu keinen Theaterneubauten und -gründungen kam, war zunächst der Pachtvertrag, den Peter Edler von Braun im Juli 1794 über die beiden Hofthea- ter abschloss und der 1807 auf die Gesellschaft der Kavaliere überging; doch auch nach dem Ende des Hoftheaterpachtvertrags 1817, im „biedermeierlichen“ Polizei- staat, blieb es bei der Fünfzahl der Theater. Seit 1792 hatte es bei Hof und in der Öffentlichkeit kontroverse Debatten über die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit einer Verpachtung der Hoftheater gegeben, de- ren Unterhalt die Staatskasse erheblich belastete, die man aber angesichts der revolu- tionären Ereignisse in Frankreich – im Jahr 1793 wurden in Paris Marie Antoinette, die jüngste Tochter Maria Theresias, und ihr Mann Louis XVI. enthauptet – wei- terhin in sicheren Händen wissen wollte. Der verdiente und loyale, darüber hinaus äußerst vermögende Bankier Peter von Braun besaß die entsprechende Reputation, und so wurden die Hoftheater schließlich 1794 neuerlich verpachtet. Der Vertrag, der zwischen Franz Xaver Wolfgang Graf Orsini-Rosenberg als „oberstem Hof Theatral Direktor“ und Braun als künftigem „Vize Direktor des k. k. Hoftheaters“ geschlossen wurde, griff im Grunde die ältere Idee des alleinigen Privilegs wieder auf, ließ die bei Marinelli, Schikaneder und Mayer liegenden Privilegien allerdings unangetastet. Die einschlägigen Passagen des Pachtvertrags lauten: „Erstens: überläßt die k. k. Theatral Hof Direkzion dem Herrn v(on) Braun un- ter dem obigen Titl eines Vize Direktors auf zwölf nacheinander folgende Jahre vom 1. Augusti dies(es) Jahrs bis letzten July 1806 die Direkzion der sammtli- chen Spektakeln und öffentlichen Ergötzungen überhaupt der TheatralRegie, und was dahin einen Bezug hat […] Siebentens: wird Niemandem für das Künftige weder die Errichtung eines neu- en Theaters in der Stadt oder in den Vorstädten, außer den schon bestehen- den – noch wenn eines der dermal bestehenden eingehen sollte, dessen Über- nehmung durch einen neuen Entrepreneur gestattet werden, auch darf keines der itzt bestehenden von seinem Standorte versetzt werden. Sollte jedoch eines oder das andere der itzt bestehenden Vorstädt Theatern durch Feuer verunglü- cket werden, so steht es dem dermaligen Entrepreneurn frey, in der nämlichen Vorstadt wieder ein neues zu erbauen.“58 Diesem Pachtvertrag entsprechend hatte Braun neben den von ihm betriebenen Hoftheatern lediglich die drei offiziell privilegierten Vorstadttheater zu dulden; nicht-privilegierte vorstädtische Bühnen wie das Fasantheater in der Neustiftgasse verloren ihre Spielgenehmigung.59 (Das Hetzamphitheater, das zum Komplex der

58 Zitiert nach Großegger, Das Burgtheater und sein Publikum, S. 109–110. 59 Ein neuer zwischen dem Hof und Braun geschlossener Vertrag aus dem Jahr 1804 stärkte einerseits die Rechte der mit dem Theater in der Leopoldstadt, dem Theater an der Wien und dem Theater in der Josefstadt verbundenen Privilegien, sicherte Braun aber andererseits zu, dass er allein befugt sei – die Allerhöchste Bewilligung im konkreten Fall vorausge- setzt –, in jenen Vorstädten, die noch kein Theater besaßen, ein solches zu errichten und

30 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters

Hoftheater gehörte und in Brauns Vertrag miteinbezogen war, war zur Zeit des Ver- tragsabschlusses bereits anderweitig verpachtet; Braun wurde daher das Anrecht auf einen Pachtzins gewährt. 1796 brannte das Gebäude nieder und wurde nicht wieder aufgebaut.) Auf die außerhalb der Linie gelegenen Vororte erstreckte Brauns An- spruch auf Veranstaltung von Spektakeln sich allerdings nicht, weshalb dort – der Besiedlungsstruktur folgend naturgemäß in bescheidenem Rahmen – auch in den kommenden Jahrzehnten Theater eingerichtet und betrieben werden konnten. Was die Innere Stadt und die Vorstädte betraf, so versuchte Braun immer wieder, seine Ansprüche gegenüber potenziellen Konkurrenten durchzusetzen. Erfolgreich war er damit gleich zu Beginn seiner Pacht im Herbst 1794: das Gesuch des Kunstreiters Johann Kolter, mit seiner Truppe in der k. k. Reitschule in der Stadt auftreten zu dürfen, wurde auf Brauns Betreiben hin zurückgewiesen. Hingegen konnte Braun weder den Bau des Theaters an der Wien verhindern (1800 / 01) noch die Errichtung eines Amphitheaters im Prater durch den Kunstreiter Christoph de Bach (1806 / 07). Die Zugänge zu Theater waren, so zeigt sich, in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts von unterschiedlicher Art: in der Inneren Stadt und den Vorstäd- ten war die Zahl der offiziellen Bühnen auf fünf beschränkt, in den Vororten galt demgegenüber Theaterfreiheit; zugleich kam es zur Institutionalisierung neuer For- men öffentlichen Vergnügens, die Elemente des Theatralischen bargen.

3. Theater und Vergnügungen zwischen Stadt, Vorstädten und Vororten „Von dem Worte Aufklärung [ist] auf dem Theater eben so wenig Erwähnung zu machen, als von der Freiheit und Gleichheit“ – so formulierte Franz Karl Hägelin in seiner bereits erwähnten Denkschrift zur Theatralzensur aus dem Jahr 1795.60 Die- ses Diktum bezeichnet gleichsam programmatisch wesentliche Tendenzen des Wie- ner Theaters in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: die Jahrzehnte, die als eine der Glanzzeiten der Wiener Bühnenkunst betrachtet wurden und werden, waren Jahrzehnte vielfacher Restriktionen, die das Theater im obrigkeitlichen Sinn funk- tionalisieren sollten und seine künstlerischen Möglichkeiten erheblich beschnitten. Der Überwachung der theatralen Produktion verdankt sich jedoch zugleich die Ent- stehung einer Bühnensprache von großer Subtilität, die als literarische und perfor- mative Technik das Wiener Theater dauerhaft prägen sollte. Das frühe bis mittlere 19. Jahrhundert – in den „Epochen“-Begriffen Biedermeier und Vormärz durchaus unterschiedlich interpretiert – stellt denjenigen Abschnitt der Wiener Theatergeschichte dar, der in der Regel die meiste Beachtung erfährt, hat Wien doch in der betreffenden Zeit ein charakteristisches Theater von bleibendem Rang ausgebildet: es handelt sich dabei um ein populäres / unterhaltendes / kom- merzielles Theater, angesiedelt an den Vorstadtbühnen, in dem sich, strukturell ver- gleichbar dem 18. Jahrhundert, vielfach eine Personalunion von Theaterautor und

zu betreiben. Kontrakt vom 18. Januar 1804, vgl. Großegger, Das Burgtheater und sein Publikum, S. 298–303. 60 Hägelin-Abschrift im Haus-, Hof- und Staatsarchiv. Vgl. Anm. 33.

31 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

Schauspieler findet. Die Schauspieler-Dramatiker, die ihre unmittelbare Zeitgenos- senschaft überdauert haben, in sehr verschiedener Weise zum ästhetischen Bezugs- punkt für dramaturgische Modelle, Sprachkunst, theatrale Bildvorstellungen und darstellerische Praktiken des späteren 19. und des 20. Jahrhunderts wurden und darüber hinaus bis weit in die Zweite Republik als Symbole für die Programmatik diverser Theater und Theaterkonzepte einstanden, waren Ferdinand Raimund und . Mit ersterem verbindet sich hinsichtlich der dramatischen Pro- duktion vor allem eine spezifische Ausprägung des Genres des romantischen Zau- bermärchens, mit letzterem – neben vielem anderen – die zur Satire tendierende Lokalposse und die Parodie.61 Beide, Raimund und Nestroy, gehören zugleich zur langen Reihe herausragender Darstellerpersönlichkeiten, die das Wiener Theater je- ner Jahrzehnte zum Forum der großen Interpreten machten. Genannt seien aus dem Bereich der Burgschauspieler Josef Koberwein, Maximilian Korn, Sophie Schröder und Heinrich Anschütz, aus dem Bereich des Balletts Salvatore und Maria Viganò, Louis Antoine Duport, Jean Pierre Aumer, die Familie Taglioni sowie Fanny und Therese Elßler,62 aus den Ensembles der Vorstadttheater Ignaz Schuster, Carl Carl, , Therese Krones und Louis Grois, weiterhin die Leopoldstädter Pan- tomimendarsteller Karl Schadetzky, Philipp Hasenhut sowie Paolo und Angiolitta Rainoldi. Bezieht man das, was an den fünf Wiener Bühnen in der ersten Hälfte des 19. Jahr- hunderts Alltag war, auf das Wenige, was an dramatischer und kompositorischer Produktion in den Kanon Eingang gefunden hat, so wird greifbar, in welcher Weise die Theatergesetzgebung – in erster Linie in Gestalt der Zensur – die Bühnenkunst und ihre Rezeption beeinflusste oder, mit anderen Worten, inwieweit über die Zu- gänglichkeiten von Theater der Diskurs kontrolliert, d. h. Herrschaft über Wissen und Information im allgemeinsten Verständnis ausgeübt wurde. Hier gilt es zu- nächst auf die gegenüber der josephinischen Ära deutlich veränderte Auffassung von der gesellschaftlichen Funktion des Theaters hinzuweisen, eine Auffassung, die im Sinn einer Ideologie den konkreten Eingriffen in die Tätigkeit der am Theater Beschäftigten und damit in den Theaterkonsum durch das Publikum zugrunde lag: Theater war zum Gegenstand polizeilicher Erwägungen und zum Instrument der Kontrolle über die Bevölkerung geworden. Einschlägig in diesem Zusammenhang ist eine Note, die Joseph Thaddäus Vogt von Sumerau am 27. August 1806 an den Kaiser richtete und deren Hintergrund eine von Peter von Braun, Hoftheaterpäch- ter und seit 1804 darüber hinaus Eigentümer des Theaters an der Wien, in Aus-

61 Die Forschung zum sogenannten „Wiener Volkstheater“ vor allem der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und hier zu Raimund und Nestroy ist überaus breit gefächert. An dieser Stelle kann lediglich auf zwei maßgebliche Foren dieser Forschung hingewiesen werden, nämlich auf die seit 1979 erscheinende Fachzeitschrift Nestroyana sowie auf die historisch- kritische Ausgabe der Werke Johann Nestroys. Eine historisch-kritische Ausgabe der Werke Ferdinand Raimunds ist in Vorbereitung begriffen. 62 Die hier erwähnten Tänzerpersönlichkeiten waren zugleich die führenden Ballettmeister der Zeit.

32 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters sicht gestellte vorübergehende Schließung dieses „besuchtesten aller Theater“63 war. Sumerau gab als Präsident der Polizei-Hofstelle zu bedenken: „Das Volk ist an Schaubühne gewöhnt. Das Theater an der Wien besonders ist die Lieblingsunterhaltung der höheren und der mittleren Stände; selbst die niederen Stände nehmen Antheil. Die Zeiten, wie die gegenwärtigen, wo so nachtheilige Leiden den Charakter der Menschen verstimmen, muß die Polizey mehr als jemals zur Zerstreuung der Staatsbürger auf jedem sittlichen Wege mitwirken. Die gefährlichsten Stunden des Tages sind die Abendstunden. Un- schädlicher werden sie nicht ausgefüllt als im Theater. Die Schließung von zwei Theatern zu gleicher Zeit ist folglich von hoher Wichtigkeit für die Polizei. Aber sie ist von doppelter Wichtigkeit in diesem Momente. Das Patent, welches neue und nachhaltige Auflagen bestimmt, wird künftigen Sonntag abends bekannt gemacht werde [!]. Der Eindruck, welchen es machen wird, läßt sich noch nicht verbürgen. Es hängt selbst von manchen äußeren Umständen ab. Mehr Wachsamkeit als jemals wird in jedem Falle erfordert, und selbst dann, wenn der erste Eindruck auch nicht mit widrigen Empfin- dungen verbunden ist, erfordert die Vorsicht: daß nicht gerade in einem sol- chen Augenblick, wo von jeher Unterhaltung und Zerstreuung des Volkes eine Staatsmaxime war, eine Jahre lang gewohnte Unterhaltung geschlossen und neuer Unmut verbreitet werde.“64 Von der immer wieder geäußerten Einsicht ausgehend, welche Macht der zur le- bendigen Anschauung gebrachte dramatische Text auf seine Zuschauer auszuüben imstande sei, wird Theater hier als ein Ort bestimmt, an dem die Bevölkerung in harmloser Weise unterhalten und zugleich beaufsichtigt werden könne (Theater- kommissäre waren inzwischen obligatorische Erscheinungen vor allem bei den Auf- führungen in den Vorstadttheatern, wo sie nicht zuletzt über die genaue Beachtung der von der Zensur genehmigten Spielfassungen zu wachen hatten). Diese harmlose Unterhaltung hielt man für geeignet, anderweitige abendliche Menschenansamm- lungen zu beschränken, die womöglich weniger leicht zu kontrollieren wären und die der aus Sicht der Obrigkeit offenbar permanent drohenden Gefahr von Unruhe und revolutionären Umtrieben Vorschub leisten könnten. Die Furcht vor entspre- chenden Aktivitäten der Bevölkerung, also vor einer Untergrabung der öffentlichen Ordnung und der Autorität des Staatsapparates, ist in der amtlichen Korrespondenz gerade in Zensurangelegenheiten allgegenwärtig, und aus ihr leitete sich ein ganzes Bündel positiver wie negativer Bestimmungen hinsichtlich dessen ab, was auf der Bühne gezeigt und insbesondere gesprochen werden durfte. Diese Bestimmungen reglementierten gleichermaßen die Tagesproduktion, d. h. die jeweils neu verfassten Stücke, deren Autoren aus Praktikabilitätsgründen in aller Regel bereits eine Vor- und Selbstzensur vornahmen, wie den Umgang mit dem (aus heutiger Perspektive)

63 So in einer weiteren Note vom 28. August 1806, zitiert nach Großegger, Das Burgtheater und sein Publikum, S. 338. 64 Zitiert nach ebenda, S. 337.

33 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

„Klassiker“-Repertoire, das äußerst begrenzt war: mehrere der betreffenden Stü- cke etwa Goethes oder Schillers wurden von einer Präsentation auf den Wiener Bühnen ausgeschlossen, andere erheblich und teils entstellend bearbeitet, die Er- fahrungen Franz Grillparzers mit der Zensur sind einschlägig. Ausgehend von den grundsätzlichen, auf den Staat und seine Verfassung, die Dynastie, die Religion und den Klerus sowie die guten Sitten gerichteten Zensurvorgaben wurden zahl- reiche Details zum Gegenstand von Verboten, zwischen Herbst 1815 und Früh- jahr 1817 unter anderem die Verwendung von k. k. Uniformen als Bühnenkostüm, die Erwähnung der allgemeinen Teuerung auf der Bühne und die Behandlung von biblischen Themen. (Die Zensur richtete sich übrigens nicht nur auf die dramati- sche Produktion und die Bühnenpräsentation, sondern auch auf deren Reflexion in öffentlichen Journalen: dezidierte Kritik an der Arbeit der Hoftheater war den Wiener Theaterzeitungen verboten.) Konsequenz der überaus restriktiv gehandhab- ten Zensur war nun, dass dem Publikum nur in geringem Maß avancierte Dra- matik geboten werden konnte, was immer wieder zu Klagen vor allem der Hof- theaterpächter führte, denen sich für einen anspruchsvollen Spielplan im Bereich des Schauspiels kaum Optionen boten.65 Die diesbezüglichen Debatten machen zugleich deutlich, dass dem Theater, insbesondere natürlich den Hoftheatern, eine wesentliche Rolle für den Status der Haupt- und Residenzstadt Wien als führendes Zentrum innerhalb des deutschsprachigen Raums und der Monarchie zugeschrie- ben wurde. Die Qualität des Theaters, die den (nicht allein) kulturellen Führungs- anspruch Wiens zu rechtfertigen in der Lage gewesen wäre, litt allerdings ebenso unter der Zensur wie unter den fortwährenden Problemen der Finanzierbarkeit. Die einschränkende Kontrolle über das Theater und seine künstlerischen Hervor- bringungen einerseits und der Anspruch, Theater als prestigeträchtiges Medium der Repräsentation kulturellen und politischen Kapitals zu installieren, andererseits: hier liegt eines der Spannungsfelder, die die Entwicklung des Wiener Theaters im Vormärz und den kommentierenden Umgang mit diesem Theater kennzeichneten. Ein zweites solches Spannungsfeld betrifft die sprichwörtliche Theaterbegeiste- rung der Wiener Bevölkerung, die durchaus zu relativieren ist. Johann Hüttner hat anhand vielfältigen historischen Materials zeigen können, dass für Wien und die Wiener keineswegs von einem auffallend verbreiteten und häufigen Theaterbesuch ausgegangen werden kann.66 Die Klagen etwa der Hoftheaterpächter über schlechte Einnahmen – obwohl die Einwohnerzahl Wiens kontinuierlich zunahm und die zur Verfügung stehende Platzzahl in den Theatern ab 1801 für fast fünf Jahrzehnte

65 Eine Aufhebung bzw. Nichtausübung der Zensur gab es in Wien im 19. Jahrhundert vorü- bergehend während der beiden Besetzungen der Stadt durch die französische Armee (1805, 1809) sowie im Kontext der Revolution von 1848. Für eine neuere zusammenfassende Dar- stellung der österreichischen Zensur im 19. Jahrhundert mit Betonung der Theaterzensur vgl. Barbara Tumfart: Wallishaussers Wiener Theater-Repertoir und die österreichische Zensur. Wien, Univ., Diss. 2003. 66 Vgl. Hüttner, Literarische Parodie, sowie Johann Hüttner: Das Burgtheaterpublikum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Das Burgtheater und sein Publikum (Hrsg. Dietrich), S. 123–184.

34 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters unverändert blieb,67 waren die Bühnen keineswegs ausgelastet – und das große Inte- resse an konkurrierenden Unterhaltungsformen sprechen dabei eine deutliche Spra- che. (Die Einwohnerzahl Wiens lag um 1800 bei etwa 250.000, um 1850 bereits bei fast 450.000. Das Platzangebot der Theater variierte entsprechend der Aufteilung nach Platzkategorien, die sich im Laufe der Jahrzehnte immer wieder änderte. Für das Jahr 1828 gab Friedrich Georg Treitschke, seinerzeit Hofsekretär des Burgthea- ters, 1.800 Plätze für das Burgtheater („wenn es gedrängt voll ist“), 2.400 Plätze für das Kärntnertortheater, 2.800 Plätze für das Theater an der Wien und je 1.400 Plätze für das Theater in der Leopoldstadt und das Theater in der Josefstadt an.68) Tatsächlich war der Kreis derjenigen, die die Theater der Stadt und der Vorstädte besuchten, im Verhältnis zur Einwohnerzahl und zur Zahl der in Wien anwesenden Fremden über Jahrzehnte durchaus beschränkt.69 Entscheidend ist in diesem Zu- sammenhang, dass der Bevölkerungszuwachs bereits seit dem späten 18. Jahrhun- dert, verstärkt dann im 19. Jahrhundert mit einer gravierenden Pauperisierung und Verelendung einherging, dass also ein prozentual immer größerer Anteil der Wiener und Wienerinnen dem frühen Industrieproletariat oder den Almosenempfängern angehörte und damit als Theaterpublikum nicht in Betracht kam. Hinsichtlich der Berührung von Theater und Gesellschaft vor 1848 ist festzuhalten: das Theater unterlag erheblichen Restriktionen, die es zu einem Ort bzw. Medium harmlosen Vergnügens machen sollten, und es erreichte in seiner etablierten Form einen zunehmend geringeren Anteil der Wiener Bevölkerung.70 Von hier aus gilt es eine Reihe von Erscheinungen näher in den Blick zu nehmen: auf der Ebene der In- stitutionen das Gefüge der fünf Theater der Stadt und der Vorstädte, die Ent- wicklung des Theaters in den Vororten und die diversen Vergnügungen von semi- theatralem Charakter; auf der Ebene der künstlerischen Produktion die Wiederga- be konkreter städtischer Räume auf der Bühne im Rahmen der sich verändernden szenographischen Praxis und die Thematisierung des „Wiener Lebens“ in Bühnen- stücken. Was die Bindung der innerhalb des Linienwalls gelegenen fünf Theater an bestimm- te Ausschnitte bzw. Schichten der Bevölkerung angeht, so ist als maßgeblicher Fak-

67 1847 wurde an der Stelle des alten Leopoldstädter Theaters das Carltheater mit einer höhe- ren Platzzahl eröffnet. 68 Hoftheaterakt, zitiert in Heinz Kindermann: Josef Schreyvogel und sein Publikum. In: Das Burgtheater und sein Publikum (Hrsg. Dietrich), S. 185–333, hier S. 238. 69 Für eine Detailuntersuchung hierzu vgl. Johann Hüttner: Theater als Geschäft. Vorarbeiten zu einer Sozialgeschichte des kommerziellen Theaters im 19. Jahrhundert aus theaterwis- senschaftlicher Sicht. Mit Betonung Wiens und Berücksichtigung Londons und der USA. Bd. 1–2. Wien, Univ., Habil.-Schr. 1982, Kap. „Theaterbesuche(r)“. 70 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte der Anteil derjenigen, die sich einen Theaterbesuch leisten konnten, in absoluten Zahlen zugenommen, wie die relativ stabile Situation der mittlerweile beachtlichen Anzahl von Privattheatern belegt. Bezogen auf die massiv an- gewachsene Gesamtbevölkerung Wiens waren die regelmäßigen Theatergeher prozentual allerdings nach wie vor in der Minderheit.

35 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

tor die beschriebene starke stadt- / sozialräumliche Verankerung der Bühnen zu berücksichtigen; doch auch eine Reihe von Daten, die die Theateradministration betreffen, bieten Anhaltspunkte dafür, wie sich das Gefüge der Wiener Bühnen im frühen 19. Jahrhundert zum soziotopographischen Gefüge verhalten hat. Ein erstes derartiges Datum betrifft das Theater an der Wien. Dieses in der Vorstadt gelegene, als Geschäftstheater betriebene Theater rückte ab 1804 institutionell an die Hof- theater heran: vom Hoftheaterpächter Braun erworben und später von ihm auf die Gesellschaft der Kavaliere übergehend, wurde diese Bühne, obzwar ökonomisch von den Hoftheatern unabhängig, aufgrund von Überscheidungen in Personal und Repertoire gleichsam zu einem dritten Hoftheater. Erst 1825, mit dem ersten Direk- tionsantritt Carl Carls, vor allem aber ab 1831 mit dem Eintritt Nestroys ins Ensem- ble, gewann das Theater an der Wien wieder einen deutlicher populären, auf lokale Genres fokussierten Charakter, wobei die Stücke Nestroys zugleich ein Publikum mit literarischem Interesse anzuziehen vermochten. Ein zweites für die Zugänglich- keit von Theater wesentliches Datum war die 1810 erfolgte Repertoirespaltung am Burg- und am Kärntnertortheater. Bis dahin hatten die beiden Hofbühnen bei na- hezu identischen Eintrittspreisen einen gemischten Spielplan mit Schauspiel, Oper und Ballett geboten. Anlässlich einer zum wiederholten Mal notwendig gewordenen Erhöhung der Preise wurden die Repertoires von Burgtheater und Kärntnertorthea- ter nun getrennt und die Preise im Kärntnertortheater – in Zukunft das Haus für Oper und Ballett – weit spürbarer angehoben als diejenigen im Burgtheater, das zur reinen Sprechbühne wurde. Burg- und Kärntnertortheater waren ohnehin nach wie vor Institutionen, die vornehmlich von einem wohlhabenden bis exklusiven Publi- kum frequentiert wurden, und diese Tendenz musste sich für die Sparten Oper und Ballett ab 1810 verstärken: ein Platz im 4. Stock etwa verteuerte sich im Burgtheater von 30 auf 40 kr, im Kärntnertortheater von 40 kr auf 1 fl. 30 kr (demgegenüber kostete ein vergleichbarer Platz im ebenfalls keineswegs billigen Theater an der Wien ab Oktober 1810 24 kr); ein Platz im 2. Parterre verteuerte sich im Burgtheater von 40 kr auf 1 fl. 20 kr, im Kärntnertortheater von 40 kr auf 1 fl. 40 kr (Theater an der Wien 1 fl.).71 Das Schreiben, mit dem Ferdinand Graf Pálffy von Erdöd als seinerzeitiger Leiter der vereinigten Theater den Oberstkämmerer Rudolf Graf von Wrbna-Freudenthal über das Vorhaben der Preiserhöhung und Repertoirespaltung in Kenntnis setzte, erweist sich übrigens als aufschlussreich auch im Hinblick auf die kulturpolitische Funktion, die mit den unterschiedlichen Sparten verbunden wurde. Es heißt dort: „Um aber das deutsche Schauspiel als das eigentliche Nazional Spektakel dem Publikum so wohlfeil, wie möglich, zu verschaffen, so hat die Theaterunter- nehmungsgesellschaft beschloßen, die deutschen Schauspiele von den ungleich

71 Zum Vergleich: Ein Taglohn betrug im frühen 19. Jahrhundert etwa 20 Kreuzer, ein unge- lernter Industriearbeiter verdiente um 1830 pro Woche brutto etwa 2,5 Gulden C. M. Siehe dazu Roman Sandgruber: Geld und Geldwert. Vom Wiener Pfennig zum Euro. In: Vom Pfennig zum Euro. Geld aus Wien. Begleitbuch und Katalog zur 281. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien. Wien: Eigenverlag der Museen der Stadt Wien 2002, S. 62–79.

36 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters

kostspieligeren Vorstellungen der Opern und Ballette dergestalt zu trennen, daß vom ersten October d(es) J(ahres) an in dem Nazionaltheater nächst der Burg nur deutsche Schauspiele, in dem Theater nächst dem Kärtnerthor [!] aber Opern und Ballette gegeben, dagegen aber auch im ersteren Theater geringere, und im letzteren höhere Preiße festgesetzt werden“.72 W. Edgar Yates’ Analyse der hier beschriebenen Neuorganisation des Hoftheaterbe- triebes und der Fokussierung des Burgtheaters auf das deutsche Schauspiel verweist auf das identitätsstiftende Potenzial, das diese Bühne ab 1810 verstärkt zu entfalten vermochte: „This change, dictated by practical exigency, was to prove much more significant than Joseph II’s short-lived and opportunistic elevation of it [des Burg- theaters] to the status of a ‚national theatre‘ in 1776. It is in 1810 that the history of the Burgtheater as the true national theatre for spoken drama really began.“73 Ein dritter Sachverhalt aus dem administrativen Bereich schließlich streicht noch einmal die Relevanz eines lokalen, wenig mobilen Stammpublikums in den ver- schiedenen Teilen der Stadt heraus: Der aus München nach Wien gekommene Thea- terdirektor Carl Carl strebte eine auf die Vorstadtbühnen bezogene monopolartige Stellung an und betrieb ab den späten 1820er bis in die Mitte der 1840er Jahre mehrfach mindestens zwei der drei Vorstadttheater gleichzeitig, so ab Ende 1838 bis Sommer 1845 das Theater an der Wien und das Theater in der Leopoldstadt. Letzteres diente in diesen Jahren vor allem als Nachspieltheater des ersteren. Carl konnte also davon ausgehen, mit seinem Repertoire in der Leopoldstadt ein anderes Publikum zu erreichen als an der Wien, d. h. er spielte ein vergleichbares Repertoire für zwei unterschiedliche Segmente der Wiener Bevölkerung.74 Wie bereits erwähnt, erstreckte sich das vor 1776 und nach 1794 gültige restrik- tive Privilegiensystem nicht auf die Dörfer außerhalb des Linienwalls, und auch das Verfahren, eine Spielgenehmigung zu erhalten, nahm hier einen ganz eigenen Weg, nämlich vom Antragsteller über die jeweils zuständige Grundherrschaft und das Kreisamt Viertel unter dem Wienerwald zur niederösterreichischen Regierung. Gültigkeit besaßen demgegenüber das 1770 eingeführte Extemporierverbot sowie die Verpflichtung der Theaterprinzipale und Komödientruppen, ihr „Spielgut“ zur Kontrolle vorzulegen. Es kann nicht überraschen, dass die Durchsetzbarkeit die- ser Vorschriften eine eingeschränkte war. In den Dörfern lassen sich für das späte

72 Zitiert nach Großegger, Das Burgtheater und sein Publikum, S. 490 (Hervorhebung von mir). 73 Yates, Theatre in Vienna, S. 49–50. – Welche Schichten von Bedeutung sich an dem als führendes Sprechtheater des deutschsprachigen Raums und als „Nationaltheater“ aufge- fassten Burgtheater anlagerten, hat Robert Pyrah jüngst für die Jahre der Ersten Republik gezeigt. Robert Pyrah: The Burgtheater and Austrian Identity. Theatre and Cultural Politics in Vienna 1918–38. London: Legenda 2007. 74 Carl kann als eine der prägendsten Gestalten des Wiener Theaters der 1820er bis 1850er Jahre gelten. Vgl. hierzu Yates, Theatre in Vienna, Kap. 4.2., sowie: „Kann man also Hono- riger seyn als ich es bin??“ Briefe des Theaterdirektors Carl Carl und seiner Frau Margaretha Carl an Charlotte Birch-Pfeiffer. Herausgegeben von Birgit Pargner und W. Edgar Yates. Wien: Lehner 2004. (= Quodlibet. 6.)

37 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

18. und das frühe bis mittlere 19. Jahrhundert zwei hauptsächliche Formen eines theatralen Angebots ausmachen: Vorführungen jener Truppen, die noch sehr lan- ge dem traditionellen, vor-literarischen Theaterverständnis verpflichtet blieben und Seiltanz, Affenkomödien, Bänkelgesang u. ä. zum Besten gaben, sodann ein weit- gehend literarisiertes Theater, das gegenüber diesen „Comödie-Spielern“ schon früh seinen Kunstanspruch betonte und sich bezeichnenderweise dort fand, wo sich in den Sommermonaten ein gehobenes bis elitäres Publikum versammelte, nämlich in den Dörfern Penzing, Meidling und Hietzing. Penzing bot sich aufgrund des kai- serlichen Sommeraufenthaltes in Schönbrunn zu Zeiten Maria Theresias für Schau- spielprinzipale als attraktiver, einträglicher Spielort an; in Meidling wurde 1807 ein Saaltheater im Theresienbad eröffnet, einer in einem ehemaligen Jagdschloss Jo- sephs I. eingerichteten Trink- und Kuranstalt, deren Gäste einen erheblichen Teil des Theaterpublikums gestellt haben dürften; in Hietzing, das sich zunehmend zu einem noblen Villenvorort entwickelte, ließ Bartholomäus Malanotti von Joseph Kornhäusel 1816 ein Theater erbauen, das in den folgenden Jahren u. a. vom Josef- städter Ensemble bespielt wurde. Theater stellt sich bezogen auf diese westlichen Vororte als ein Vergnügen dar, auf das man auch während der Sommerfrische nicht verzichten wollte, als Medium gleichsam, das die wohlhabenden Wiener und Wie- nerinnen aus der Stadt hinaus begleitete. (Mit dem sommerlichen Theaterspiel in den Vororten ist ein Phänomen angesprochen, das sich zumal um die Mitte des 19. Jahrhunderts als gewichtiger Faktor der Wiener Theatertopographie etablierte. Für die Betreiber der Wiener Theater war die nachlassende Besucherfrequenz in den warmen Monaten des Jahres durchgehend ein vor allem wirtschaftliches Problem, dem man mit der Einrichtung von Sommerarenen und Sommertheatern begegnen wollte. Auf die betreffenden Initiativen wird gesondert einzugehen sein.) Als ein Hinaustreten des Theaters aus den fünf städtischen bzw. vorstädtischen Büh- nen lassen sich auch eine Reihe von Veranstaltungsformen begreifen, die – obzwar teilweise an ältere Traditionen öffentlicher Unterhaltung anknüpfend – im frühen 19. Jahrhundert eine besondere Konjunktur erlebten und das Wiener Vergnügungs- angebot schichtenübergreifend wesentlich erweiterten; in ihnen gewann die Berüh- rung von Theater und Gesellschaft insofern eine zusätzliche Dimension, als Theater damit Bedeutung auch für Bevölkerungskreise erlangte, die die Institution Theater in der Regel nicht aufsuchten. Gemeint sind solche Unterhaltungen, die eine dem Theater vergleichbare ‚dramatische‘ Komponente aufwiesen und / oder für die man Dekorationsmaler der Wiener Bühnen als Ausstatter heranzog. Hierher gehören zunächst Illuminationen der Stadt, die man bereits im 18. Jahrhundert zu hohen Anlässen etwa im Kaiserhaus veranstaltet hatte und für die Hofarchitekten wie Giuseppe Galli-Bibiena, später Johann Ferdinand von Hohenberg ephemere Ar- chitekturen als ‚Kulissen‘ entwarfen. Derartige Illuminationen, die nicht nur der Repräsentation des Herrscherhauses dienten, sondern auch als festliche Unterhal- tung für die Gesamtbevölkerung begriffen wurden, gab es im 19. Jahrhundert u. a. anlässlich des Einzugs Franz’ I. nach der Rückkehr vom Pariser Friedensschluss

38 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters

39 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

1814 und anlässlich der Hochzeit Franz Josephs mit Elisabeth 1854. Einen neuar- tigen Veranstaltungstyp, der die Grenzen von Ball, Konzert und Spektakel aufhob, stellten die thematischen Parkfeste Johann Strauß’ (Vater) und Joseph Lanners im Augarten („Eine Nacht in Venedig“, 1833 und 1834), im Prater, im Corti’schen Garten und beim „Sperl“ („Sperl in floribus“, 1833) dar, bei denen die theatralen Bild- und Raumarrangements des Theatermalers Michael Mayr und die Beleuch- tungskünste des Lamperl-Hirsch (Carl Friedrich Hirsch) zauberhafte Welten erste- hen ließen. Bei Tanzveranstaltungen in geschlossenen Räumen spielten szenische Elemente ebenfalls eine zunehmende Rolle: Der erwähnte Mayr75 etwa schuf büh- nengemäße Ausstattungen u. a. für den „Sperl“, das „Kasino Zögernitz“ und die „Goldene Birn“ und lieferte Lanner für ein Ballfest in Hietzing eine „Donaureise ‚à la Zauberschleier‘“, während im Theater in der Josefstadt Franz Xaver Tolds sen- sationell erfolgreiches Stück Der Zauberschleier, oder: Maler, Fee und Wirtin (1842) mit der entsprechenden Wandeldekoration von Theodor Jachimovicz gezeigt wur- de. Jachimowicz seinerseits gestaltete die Asien-, Afrika- und Amerika-Säle in Josef Georg Daums „Neuem Elysium“ in der Johannesgasse, einer biedermeierlichen Erlebniswelt, für die auch Johann de Pian und Philipp Räbiger, die Dekorations- maler des Theaters an der Wien, als Ausstatter arbeiteten.76 Der malerischen und plastischen Phantasie von Theaterdekorateuren bediente sich sodann die Feuerwer- kerfamilie Stuwer. Bereits Johann Georg Stuwer hatte für seine Feuerwerksinsze- nierungen des späten 18. Jahrhunderts von Malern und Bildhauern Dekorationen anfertigen lassen, eine Praxis, die seine Nachfolger beibehielten. Quasi-dramati- sche Feuerwerksvorführungen gab es u. a. 1777 mit „Werthers Leiden“, 1794 mit „Dr. Faust’s letzter Tag“ und 1836 mit „Das Mädchen aus der Feenwelt“ nach Rai- munds Zaubermärchen.77 Theatrale Vorführungen ganz eigenen Charakters boten schließlich die in Wien überaus beliebten Kunstreitergesellschaften (Christoph de Bach, Alexander Guerra u. a.), deren Etablierung den Beginn der Wiener Zirkus- geschichte bezeichnet.78 Die Kunstreiter besaßen mit dem 1808 von Kornhäusel

75 Überaus instruktiv für den hier skizzierten Zusammenhang sind die Tagebücher Mayrs, die Karl Michael Kisler auszugsweise veröffentlicht hat. Karl Michael Kisler: Der Theater- Mayr. Aus den Biedermeiertagebüchern des Theatermalers Michael Mayr. Wien; Eisen- stadt: Edition Roetzer 1988. 76 Zur Wandeldekoration zum Zauberschleier und zu den Ausgestaltungen des Apollo-Saals und des „Neuen Elysium“ vgl. neuerdings: Zauber der Ferne. Imaginäre Reisen im 19. Jahr- hundert. Begleitbuch und Katalog zur 352. Ausstellung des Wien Museums. Weitra: Verlag Bibliothek der Provinz 2008, sowie: Die Welt in Reichweite. Imaginäre Reisen im 19. Jahr- hundert. Herausgegeben von Ursula Storch. Wien: Czernin Verlag 2009. (= Bibliothek der Erinnerung. IX.) 77 Vgl. Alexandra Reininghaus: Feuermärchen und Festkondukte. Die k. u. k. Lustfeuerwer- kerei in Wien vom Biedermeier zur Belle Epoque. In: Die schöne Kunst der Verschwen- dung. Fest und Feuerwerk in der europäischen Geschichte. Herausgegeben von Georg Kohler. Zürich; München: Artemis-Verlag 1988, S. 143–160. – In den Daten ist Reining- haus’ Darstellung zum Teil unzuverlässig. 78 Vgl. Margarethe Schrott: Die Pferdekomödie im Alt-Wiener Volkstheater. In: Maske und Kothurn 13 (1967), S. 114–140.

40 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters im Prater vollendeten „Circus gymnasticus“ ein Terrain für sich, wurden aber da- rüber hinaus für Ausstattungsstücke etwa am Theater an der Wien herangezogen. Vergleichbar der Zirkus-Theater-Praxis in London und Paris (Astley’s Amphithea- tre, Royal Circus, Olympic Pavilion; Cirque Olympique) gaben Bach und Guerra in ihrem Prater-Etablissement Spektakel, die Pferdeaufzüge und -kunststücke mit Pantomimen und Lebenden Bildern verbanden. Von den Hoftheaterpächtern wie von der Direktion des Theaters in der Leopoldstadt wurde der Zirkus im Prater als Konkurrenz empfunden, obwohl er zu einer anderen Tageszeit spielte als die Thea- ter, nämlich am Nachmittag. Mit Mayr, Jachimovicz und Pian sind einige Dekorationsmaler jener Generation benannt, mit der sich für das Wiener Theater die zumindest partielle Ablösung der unspezifischen Typendekoration durch individuelle Ausstattungen und eine ent- sprechende Konkretisierung des Szenenbildes verbindet, und dies führt zu einem weiteren Aspekt der Sozialgeschichte des Theaters, nämlich zu der eingangs erwähn- ten Reflexion der Bühnenkunst auf ‚Gesellschaft‘. Nach der weitgehenden Durch- setzung des Systems der Kulissenbühne in Europa seit dem 17. Jahrhundert war es üblich gewesen, an jedem Theater eine begrenzte Anzahl von Typendekorationen vorzuhalten, die über Jahre und Jahrzehnte für sämtliche einzustudierenden Stü- cke verwendet wurden. Eine Dekoration wie „Garten“, „Straße“ oder „Saal“ hatte exemplarischen Charakter, die Dekorationen waren quasi neutral, die Praxis des Ausstattens war standardisiert. Vor allem in Auseinandersetzung mit den neuen op- tischen Medien wie dem Panorama ergaben sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts zunächst in London Innovationen in der Bühnenmalerei. Diese arbeitete immer weniger typisiert und schenkte sowohl dem Pittoresken wie dem topographisch Ge- nauen besondere Aufmerksamkeit.79 Für eine Sozialgeschichte des Theaters ist diese Entwicklung insofern von Belang, als nun konkrete Räume, die das Alltagsleben dieser oder jener Gesellschaftsschicht bestimmten, auf der Bühne repräsentiert wur- den. Die Tendenz, Schauplätze zunehmend zu lokalisieren, also selbst allgemein gehaltene Angaben in den aufzuführenden Stücken in Form konkreter Ansichten der jeweiligen Stadt bzw. ihrer Umgebung zu realisieren, zeigte sich, wenngleich weniger stark ausgeprägt als in London und Paris, bald auch in Wien. Was viele Pa- noramen vorgemacht hatten, nämlich die detailgetreue Wiedergabe ebenjener Stadt, in der das betreffende Panorama stand, griffen die Vorstadttheater auf: man bot auf dem Rückprospekt Ansichten, die der Besucher sofort als Element der eigenen Stadterfahrung wiedererkannte. Berühmte Beispiele für diese Praxis sind die De- korationen zu Paolo Rainoldis Zauberpantomime Der erste May im Prater (Theater in der Leopoldstadt 1826) und zu Johann Nestroys lokalisierter Meyerbeer-Parodie Robert der Teuxel (Theater an der Wien 1833). Der explizite Lokalbezug, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die Deko- rationsmalerei Eingang fand, war für die populäre Stückproduktion auf der Ebene der dramatischen Handlung und des Personals schon im 18. Jahrhundert charak-

79 Vgl. hierzu ausführlich Linhardt, Visualisierungen.

41 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

teristisch gewesen: Wie international üblich, erhielten auch in Wien standardisierte Lustspiel- und Possensujets ihre spezifische Gestalt dadurch, dass sie auf lokale Be- sonderheiten anspielten und typische Figuren in den Mittelpunkt rückten. An den Vorstadttheatern wurde dem Publikum über Jahrzehnte eine unüberschaubare Zahl von lokal ausgelegten Stücken unterschiedlichster Genres – von der Zauberpanto- mime über die Parodie bis zur Posse – angeboten, in denen allerdings vornehmlich die Reproduktion lokaler Stereotypen, weniger die Auseinandersetzung mit der ge- sellschaftlichen Realität vorherrschte. Trotz der in der Regel wenig differenzierten Behandlung dessen, was man die „Lebenswelt des Volkes“ nennen könnte, erwarb sich die unterhaltende Produktion an den Wiener Vorstadttheatern in jener Zeit das Renommee des „Volkstümlichen“, das in späteren Jahrzehnten – zumal angesichts der „Operetten-Invasion“ in der Gründerzeit – von Programmatikern immer wie- der als das von Fremdheiten bedrohte „eigentliche Wienerische“ beschworen wurde. Bezeichnenderweise stammen die wirklich avancierten theatralen Reflexionen auf Wien als soziales Gefüge von einem Dramatiker, der frühzeitig in den Ruf geriet, das „Einheimische“, „Volkstümliche“ zu verraten – sei es aufgrund seines häufig satirischen Zugangs zu den gewählten Stoffen, sei es aufgrund der produktiven An- eignung „ausländischer“ Vorlagen: die Rede ist von Johann Nestroy. In der Lokal- posse Eine Wohnung ist zu vermiethen in der Stadt. Eine Wohnung ist zu verlassen in der Vorstadt. Eine Wohnung mit Garten ist zu haben in Hietzing (1837) und der Posse Das Mädl aus der Vorstadt oder Ehrlich währt am längsten (1841) setzte Nestroy sich dezidiert mit der räumlichen Ordnung Wiens, d. h. mit dem Stadtkörper in seinen sozialen und kulturellen Implikationen auseinander. (Innere) Stadt, Vorstadt und Vorort / Dorf werden dabei jeweils als eigenständige räumlich-soziale Gebilde geschildert, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass nahezu sämtliche zwischen- menschlichen Beziehungen an ökonomischen Kriterien ausgerichtet sind. Das Bild von Wien und den Wienern, das hier gezeichnet wird, steht jeglicher Tendenz zum Lokalpatriotismus und zur Idealisierung entgegen.80 Einige Jahrzehnte später, um und nach 1900, wurde die Idealisierung des Vormärz – nun unter das Schlagwort „Alt-Wien“ gefasst – zu einem zentralen Motiv der populären Wiener Dramatik und vor allem der Operette.

4. Neue Stadt, neue Theater Die Regierungszeit Kaiser Franz Josephs kann im Rahmen einer Sozialgeschichte des Wiener Theaters insofern als relativ geschlossene Einheit aufgefasst werden, als an ihrem Beginn und an ihrem Ende institutionelle bzw. theaterrechtliche Wende- punkte standen, die von erheblichem Einfluss auf die Zugänge zu und die Zugäng- lichkeiten von Theater waren. Im Jahr 1850 wurde eine neue Theaterordnung erlas- sen, die zwar die vor 1848 bestehende Zensurpraxis fortschrieb, zugleich aber die Grundlage für eine bis dahin unbekannte Auffächerung und Ausdifferenzierung der

80 Zu literarischen und theatralen Reflexionen auf die Stadt im frühen und mittleren 19. Jahr- hundert vgl. Marion Linhardt und Arnold Klaffenböck: Stadt – Vorstadt – Land. Wiener und Londoner Perspektiven. In: Nestroyana 29 (2009), S. 185–213.

42 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters

Wiener Theaterszene bot; am Ende des Kaiserreichs hingegen wurde in Wien – eben- so wie in vielen der im Deutschen Reich zusammengeschlossenen Teilstaaten – die Überführung der Hoftheater in Staatstheater vollzogen, ein rechtlich-administrati- ver Akt mit weitreichenden Konsequenzen auch für das Selbstverständnis und für den Status der betreffenden Bühnen. Die beinahe sieben Jahrzehnte der Regierung Franz Josephs I. (1848–1916) waren, was das Theater betrifft, gekennzeichnet von einem Gegenüber von Statik und Veränderung. Als Element des Beharrens wirkte neben der Zensur das noch am Ende des 1. Weltkriegs gültige Konzessionswesen, die Veränderung lag vor allem in der theatertopographischen Verdichtung, die eng mit der stadträumlichen und demographischen Entwicklung verschränkt war. Die Schleifung der Basteien und der Ringstraßenbau, die spätere Eingemeindung der stark angewachsenen Vororte und die Massenzuwanderung wirkten gravierend auf die soziotopographische Struktur der Haupt- und Residenzstadt ein, und den Be- dürfnissen dieser ‚neuen‘ Stadt folgten Theaterinitiativen unterschiedlichster Aus- richtung.

In Zusammenhang mit der März-Revolution 1848 war in Wien eine Konstella- tion entstanden, in der die Theatralzensur vorübergehend nicht ausgeübt wurde.81 Dessen ungeachtet blieb diese besondere Spielart der Zensur in ihrer maßgeblich von Hägelin fixierten Form bis 192682 gültig. Der am 25. November 1850 vom Ministerium des Innern unter Alexander Freiherrn von Bach erlassenen Theater- ordnung war eine Instruction an die Statthalter derjenigen Kronländer, in welchen die Theaterordnung in Wirksamkeit tritt, die Handhabung derselben betreffend beigege- ben, die neuerlich definierte, was von einer Darstellung auf der Bühne unbedingt auszuschließen sei, und das Procedere der Genehmigung bzw. Ablehnung von Stü- cken erläuterte. Zu dem, was der Kontrolle durch die „Staatssicherheitsbehörde“ unterlag, gehörten übrigens nach wie vor nicht nur die Stücktexte, sondern auch „die Inscenesetzungen, Bekleidung, Tänze, Gruppierungen und Musikweisen“, und noch immer waren „anstößige Abweichungen von dem genehmigten Texte eines

81 Für eine differenzierte Erläuterung zur zensurrechtlichen Situation zwischen 1848 und 1850 vgl. den Diskussionsbeitrag von Johann Hüttner: Zensur ist nicht gleich Zensur [Replik auf einen Diskussionsbeitrag von Hans Goldschmidt]. In: Nestroyana 3 (1981), S. 22–24. Dort wird u. a. das Verhältnis von Bücherzensur und Theatralzensur erklärt. Hüttner argumentiert, dass die Theatralzensur mit der Theaterordnung von 1850 nicht wieder eingeführt werden musste, weil sie de facto nie aufgehoben war, was dem Sach- verhalt keineswegs widerspricht, dass in den Frühlingsmonaten 1848 in Wien eine ganze Reihe von Theaterstücken aufgeführt wurden, die eine geregelt arbeitende Zensur niemals passiert hätten. 82 Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs vom 18. März 1926. – Selbstverständlich verschob sich zwischen 1850 und 1926 – bei formal gleichem Vorgehen – das Verständnis davon, was als zensurbedürftig aus Stücken zu streichen sei oder welche Stücke ganz von einer Auffüh- rung ausgeschlossen werden sollten. So konnte Arthur Schnitzlers Reigen 1921 die Zensur passieren, was noch wenige Jahre zuvor undenkbar gewesen wäre. Vgl. dazu ausführlich die Darstellung und Dokumentation bei Alfred Pfoser, Kristina Pfoser-Schewig und Gerhard Renner: Schnitzlers Reigen. 2 Bde. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1993.

43 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

Bühnenwerkes (Extemporationen)“ bei Strafe verboten.83 Mit der Theaterordnung wurde also der auf das Theater bezogene behördliche Kontrollrahmen neuerlich fest- geschrieben. Zugleich hob sie jedoch implizit die bisherige Beschränkung der An- zahl der Theater auf. In § 1 wurde bestimmt: „Theatralische Vorstellungen jeder Art dürfen in der Regel nur in Theatergebäuden oder in hiezu besonders concessionir- ten Räumlichkeiten von, mit persönlicher Befugniß versehenen Unternehmern zur Aufführung gebracht werden.“84 Dies bedeutete in der Praxis, dass jedermann, der sowohl die erforderlichen finanziellen Mittel aufzubringen als auch die Befähigung zur Leitung eines Theaters nachzuweisen imstande war, ein Theater eröffnen konnte. Handelte es sich um einen Theaterneubau, war die Bewilligung des Kaisers einzu- holen, für die Übertragung der Konzession war die Statthalterei zuständig. Was das Repertoire betrifft, wurden die in den Konzessionsansuchen namhaft gemach- ten Gattungen in aller Regel zur Aufführung zugelassen. Dass die „Theaterfreiheit“ nicht umgehend genutzt wurde und beinahe ein Jahrzehnt verging, bevor ein erstes Ansuchen um Genehmigung eines Theaterneubaus an den Kaiser gerichtet wurde – und zwar durch den am Carltheater engagierten Komiker Carl Treumann –, mag nicht zuletzt daran gelegen haben, dass trotz zunehmender Einwohnerzahl (Innere Stadt und Vorstädte 1857: ca. 476.200) schon die bestehenden Wiener Theater im- mer wieder in finanzielle Krisen gerieten. Der 1858 beginnende Stadtumbau und der Finanzboom der Gründerjahre gaben dann jedoch entscheidende Impulse auch für das Theatergeschäft,85 und so wurden bis 1914, als Wien inklusive Eingemein- dungen ca. zwei Millionen Einwohner zählte, etwa ein Dutzend neuer Privattheater, eine ganze Reihe davon auf der Basis von Anteilscheinen, eröffnet: Auf Treumanns Theater am Franz-Josefs-Quai (eröffnet 1860, abgebrannt 1863) folgten das Har- monietheater (Wasagasse; 1866, ab 1868 als Singspielhalle betrieben), das Vaude- villetheater (Tuchlauben; 1870, ab 1875 als Singspielhalle betrieben), das Wiener Stadttheater (Seilerstätte; 1872, ausgebrannt 1884, nach Wiederaufbau seit 1888 als Varieté betrieben), die Komische Oper („Ringtheater“, Schottenring; 1874, abge- brannt 1881), das Deutsche Volkstheater (Weghuberpark; 1889), das Raimundthea- ter (Wallgasse; 1893), das Kaiserjubiläums-Stadttheater (Währingerstraße; 1898), das Wiener Bürgertheater (Vordere Zollamtsstraße; 1905), das Johann-Strauß-Thea- ter (Favoritenstraße; 1908) und das Neue Wiener Stadttheater (Daungasse; 1914). Damit sind nur jene Institutionen benannt, die von vorneherein eine Theaterkonzes- sion erhalten hatten. Theater wurde darüber hinaus auch in Etablissements gespielt, die keinen offiziellen Theaterstatus besaßen, sondern als sogenannteSingspielhallen geführt wurden. Dabei handelte es sich um die institutionalisierte Form eines Dar- bietungstypus’, der in der älteren Tradition der Volkssänger- und Harfenistengesell-

83 Verordnung des Ministeriums des Innern vom 25. November 1850, abgedruckt im Reichs- gesetzblatt Nr. 454 aus 1850, hier zitiert nach Tumfart, Wallishaussers Wiener Theater- Repertoir, S. 334–338. 84 Zitiert nach ebenda, S. 334. 85 Vgl. zur Theatertopographie ab dem mittleren 19. Jahrhundert ausführlich Linhardt, Resi- denzstadt und Metropole.

44 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters schaften gründete, mit der Singspielhallenordnung von 1867 eine rechtliche Basis erhielt und – vereinfacht gefasst – für einige Jahrzehnte in Wien das ‚Theater der kleinen Leute‘ bildete. Die Singspielhallen wurden in den Jahrzehnten des immer weiter ansteigenden Zustroms von Menschen nach Wien zu einer wichtigen Ausprä- gung großstädtischer Massenunterhaltung.

45 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

Schon im Vormärz waren Volkssänger in Gasthäusern und Etablissements wie dem „Sperl“, dem „Grünen Thor“, „Zur Stadt Belgrad“, dem „Universum“ und der „Blau- en Flasche“, „Zum rothen Hahn“, „Zur Bretze“ und dem „Hotel schwarzer Bär“ mit Couplets, Parodien von Opernnummern, Soloszenen und Ensembles aufgetreten. Seit 1851 regelte ein Erlass der Statthalterei die Bedingungen für eine Lizenzverga- be an die betreffenden Gesellschaften: Der Leiter musste mindestens 30 Jahre alt, sämtliche Mitglieder mindestens 20 Jahre alt sein; die Gesellschaften durften nicht mehr als vier Personen umfassen, Frauen waren ausgeschlossen; die Programme wa- ren der Statthalterei zur Zensur vorzulegen; szenische Darstellungen mit Verklei- dung waren verboten.86 Ab den 1860er Jahren ließen sich Volkssängergesellschaften vermehrt in bestimmten Lokalitäten nieder und nahmen volkstümliche Einakter in ihr Programm auf. Zu den ersten gehörten der Schauspieler und Sänger Anton Varry (eigentl. Anton Loger), der 1860 eine Liederspielhalle in „Ungers Casino“ in Hernals eröffnete, und der Volkssänger Johann Fürst, der ab 1863 in der Praterhütte Nr. 45, dem vormaligen Schreyerschen Affentheater, eine Singspielhalle betrieb. Die Singspielhallen wurden anfänglich auf der Grundlage der beschriebenen Volkssän- gerlizenz geführt, was die Verwendung von Dekorationselementen und Kostümen und überhaupt jede Annäherung an theatralische Vorstellungen ausschloss. Da die- se Vorgaben jedoch immer wieder übertreten wurden, sahen sich die damit befass- ten Behörden aufgerufen, den Status der Singspielhallen eigens zu regeln. In einem Bericht der Statthalterei vom 13. November 1867 hieß es: „Die Singspielhalle hält in ihrer jetzigen Ausbildung die Mitte zwischen Thea- ter und Volkssängeraufführungen; sie bietet einaktige Szenenreihen, deren Hauptbestandteil der Vortrag von Liedern und die Beziehung auf lokale Ver- hältnisse und auf Ereignisse des Tages bildet und hat daher längst die Grenzen der zur Regelung des Volkssängerwesens im Jahr 1851 erlassenen Verordnung überschritten. Es mußten daher schon vielerlei Ausnahmen als: die Verwen- dung weiblicher Mitglieder, die größere Zahl der Mitwirkenden, das Vorkom- men von Verkleidungen und dergleichen stillschweigend gestattet werden.“87 Ein Ministerrats-Präsidial-Erlass vom 31. Dezember 1867 legte schließlich fest, zu welchen Darbietungen die Inhaber von Singspielhallenkonzessionen in Zukunft be- rechtigt sein sollten: „Aufführung von einaktigen, dem Volksleben der Gegenwart entnommenen Singspielen, Possen und Burlesken mit Gesang sowie auch von einzelnen Lie- dervorträgen und Soloszenen. Die Verwendung von Dekorationen wird gestat- tet, doch darf während der Dauer ein und desselben Stückes ein Wechsel der Dekoration nicht vorgenommen werden, ebensowenig dürfen Flugwerke, Ver- senkungen und sonstige Theatermaschinerien zur Anwendung kommen, auch

86 Vgl. hierzu genauer Hadamowsky, Wien. Theatergeschichte, S. 592. 87 Zitiert nach ebenda, S. 593.

46 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters

keine anderen Kostüme gewählt werden, als solche, welche der den Hallen ge- statteten Gattung von Vorstellungen entsprechen.“88 Die Genehmigungs- und Spielpraxis der folgenden Jahrzehnte belegt, dass der Rah- men des hier Festgehaltenen durchaus überschritten werden konnte, und zwar über den Weg des Erweiterungsansuchens. Derartige Erweiterungen der Konzession wurden etwa notwendig, um jene Attraktionen zeigen zu können, die aus dem loka- len Format Singspielhalle allmählich das modernere, stärker international orientier- te Varieté entstehen ließen, wie Akrobaten, Tierdressuren oder Grotesktänzer. Doch auch an die regulären Theater rückten die Singspielhallen teilweise immer näher heran. Für Danzers Orpheum, das ehemalige Harmonietheater, das über Jahrzehnte als Singspielhalle geführt und 1900 von Gabor Steiner, dem Betreiber der Prater- Vergnügungsstadt „Venedig in Wien“, übernommen worden war, lässt sich eine ent- sprechende Entwicklung beschreiben: „Am 13. Juli 1900 wurde ihm [Steiner] die Führung eines Varietés zugestanden, am 17. September 1900 erhielt er die Erlaubnis zur Benützung eines Schnürbodens, ab 4. Oktober 1901 durfte er probeweise auch einaktige dramatische Bühnenwerke aufführen und ab 19. September 1903 auch Stücke ohne Gesang mit mehrmaligem Szenenwechsel und mehrere Einakter an einem Abend.“89 Fallweise erhielten vormalige Singspielhallen tatsächlich eine Thea- terkonzession, darunter die Singspielhalle Johann Fürsts, die ab 1870 als „Fürsts Volkstheater im k. k. Prater“ firmieren durfte (ab 1896: Jantsch-Theater, ab 1905: Lustspieltheater), und das Wiener Colosseum in der Nußdorfer Straße, ein 1898 eröffnetes und zunächst auf der Basis einer Singspielhallenkonzession betriebenes Varieté, das 1916 zur Spielstätte der Volksbühne wurde (ab 1918: Wiener Komö- dienhaus). Die Gründer- und Nachgründerzeit brachte Wien also eine Reihe neuer Theater – Neubauten des Hofoperntheaters (1869) und des Hofburgtheaters (1888) fungierten als herausragende Elemente der repräsentativen Ringstraßenzone – und die Etablie- rung der Singspielhalle als Form theatraler bzw. semitheatraler Massenunterhaltung. In jenen Jahren ging das Theater aber auch mit einem weiteren Typus von Freizeit- einrichtung eine Verbindung ein, nämlich mit großangelegten Vergnügungsgärten in den Vororten, die mit ihrem breiten Angebot zwischen Gastronomie, Tanzver- anstaltung, Konzert und Schaustellung nicht nur das ortsansässige Publikum und Sommerfrischler anlockten, sondern auch für die Bewohner der Inneren Stadt und der Vorstädte mit öffentlichen Verkehrsmitteln immer einfacher zu erreichen wa- ren90 und darüber hinaus bis zur Eingemeindung 1890 / 92 den Vorteil genossen,

88 Zitiert nach ebenda, S. 593–594. 89 Norbert Rubey und Peter Schoenwald: Venedig in Wien. Theater- und Vergnügungsstadt der Jahrhundertwende. Wien: Ueberreuter 1996, S. 28. 90 Fragen der Infrastruktur (Beleuchtung der Stadt, Straßenverhältnisse, Torsperre etc.) wirk- ten zumal im 18. und 19. Jahrhundert verstärkend auf die Bindung bestimmter Publikums- schichten an dieses oder jenes Theater ein. Eine genaue Darstellung der betreffenden Zu- sammenhänge würde eine eigene Untersuchung erfordern.

47 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

nicht zum Wiener Verzehrungssteuerrayon zu gehören. Seit den 1840er Jahren hat- ten zunächst zwei der alteingesessenen Vorstadttheater Dependancen in den Voror- ten aufgeschlagen: das Josefstädter Theater spielte von 1848 bis 1854 im Sommer in einer Arena in Hernals und von 1856 bis 1868 im neuerbauten Thalia-Theater in Neulerchenfeld, das Ensemble des Theaters an der Wien von 1849 bis 1861 in einer Arena in Braunhirschen.91 Ab den 1860er Jahren gab es Theater – teils als Freilichtaufführungen im Garten, teils in Sälen der zugehörigen Restauration – in

91 Eine wahre Fundgrube an Informationen zum Wiener Theater des 19. Jahrhunderts und in diesem Zusammenhang auch zur Hernalser Sommertheater ist der Band von Oskar Pausch: Die Pokornys. Ein Beitrag zur mitteleuropäischen Theatergeschichte des 19. Jahrhunderts.

48 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters

„Wendls Vergnügungsetablissement“ in Döbling, in Karl Schwenders Park-Etablis- sement „Neue Welt“ in Hietzing, in „Schwenders Casino“ in Rudolfsheim92 und in „Weigls Dreher-Park“ in Meidling. Zu einer eigenen Szene fügten sich die diversen Praterbühnen, unter ihnen jene, die Anton Ronacher ab den späten 1870er Jahren im Dritten Kaffeehaus an der Prater-Hauptallee betrieb. Geht man den Geschichten der zahlreichen in den letzten Jahrzehnten der Mo- narchie entstandenen Wiener Bühnen – ob Theater oder Singspielhallen – nach, so wird ein Prinzip greifbar, das bereits in Zusammenhang mit der Zuschauerbindung des frühen und mittleren 19. Jahrhunderts beschrieben wurde, nämlich der enge Konnex von Theatertopographie und Soziotopographie. In Wien blieb auch in Zei- ten der verwaltungstechnischen und baulichen Integration von Innenstadt, Vorstäd- ten und Vororten die Zuordnung der immer zahlreicheren Bühnen zu bestimmten städtischen Milieus das Hauptmerkmal der Theaterszene, verfolgten Initiatoren von Theaterneugründungen in der Regel den Gedanken einer Verteilung der Theater auf das Stadtgebiet und ein entsprechendes Konzept im Hinblick auf das zu erwartende Publikum. Die Gliederung der Stadt in mehrere Teilstädte, die bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts gemeindepolitische Realität gewesen war, behielt auch in den Strukturen der Metropole Wien in Gestalt einer ausgeprägten sozialräumlichen Dif- ferenzierung ihre Relevanz und wirkte, wenn auch weniger stark, weiterhin auf die Funktionsmechanismen des Theaters ein. Neben das Prinzip der lokalen Zugehörig- keit zu einem Theater trat allmählich das Prinzip der gesellschaftlichen Zugehörigkeit: das soziale Prestige einzelner Häuser wurde zunehmend zu einem wichtigen Motiv für die Theaterwahl. Die Verdichtung der Theaterszene vor dem Hintergrund der räumlichen und demo- graphischen Veränderung der Stadt, die mit der Massenzuwanderung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts noch einmal erheblich an Dynamik gewann, kann also als die maßgebliche Neuerung im Wiener Theater auf der Ebene der Institutionen gelten. Hinsichtlich der Bedeutung des Theaters für die Stadt Wien als Gemeinwesen und als kulturelle Größe, die für die Identität weiter Bevölkerungsteile grundlegend war, hierfür aber eben selbst einer „Identität“ bedurfte, für die wiederum nicht zu- letzt die Theatertradition konstitutiv wirkte93 – hinsichtlich dieser Bedeutung schei- nen mir zwei Entwicklungen wesentlich: erstens die Etablierung der Operette als „neues“ zentrales Genre des kommerziellen Theaters, das im 20. Jahrhundert zu einem entscheidenden Faktor für das Image Wiens avancierte, an dem sich aber zunächst ein Kampf um das vermeintlich verlorene oder verdrängte „Wiener Volks-

Mit einem Katalog des Nachlasses im Österreichischen Theatermuseum. Wien: Lehner 2011. (Bilder aus einem Theaterleben. 7.) 92 Dieses Theater wurde geführt als Colosseumtheater in Rudolfsheim, als Varieté-Theater in Rudolfsheim bzw. als Volkstheater in Rudolfsheim. 93 Dem Zusammenhang von Identität und kultureller Tradition ist am Beispiel des Topos „Musikstadt Wien“ Martina Nußbaumer nachgegangen. Martina Nußbaumer: Musik- stadt Wien. Die Konstruktion eines Images. Freiburg i. Br.; Berlin; Wien: Rombach 2007. (= Edition Parabasen. 6.)

49 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

theater“ und eine Diskussion um „Eigenes“ und „Fremdes“ entzündete; zweitens die Herausbildung eines neuen Typs von Theaterunternehmung bzw. Theaterinitiative, nämlich das Theater von / für Interessengruppen, ein Phänomen, das für die Thea- terkultur im gesamten deutschsprachigen und mitteleuropäischen Raum ab dem späteren 19. Jahrhundert kennzeichnend war und gewissermaßen ein drittes Modell neben dem Hoftheater (im weitesten Sinn) und dem ausschließlich als Geschäft betriebenen Privattheater darstellte. Gegen Ende der 1850er Jahre hatten Johann Nestroy und Carl Treumann sich ent- schlossen, die modischen Operetten Jacques Offenbachs aus Paris nach Wien – und zwar anfänglich ans Carltheater, die Nachfolgeinstitution des Theaters in der Leo- poldstadt – zu importieren. Das als neu erscheinende Genre wurde unmittelbar zu einer Publikumsattraktion, die sich Treumann auch an seinem Theater am Franz- Josefs-Quai nicht entgehen ließ.94 Bald begannen erste in Wien ansässige Theater- autoren und Kapellmeister Stücke zu verfassen, für die man mit der Bezeichnung „Operette“ warb. Ein Blick auf die Wiener Theaterszene der frühen Gründerzeit zeigt jedoch, dass es die französischen Stücke – und zwar nicht mehr nur diejenigen Offenbachs – waren, die den Erfolg eines Theaters tatsächlich gewährleisteten. Am Theater an der Wien etwa brachte erst die Übernahme Offenbachscher Operetten ins Repertoire im Jahr 1864 das Ende einer längerfristigen Krise, und dem Theater in der Josefstadt, das sich der französischen Operettenmode nicht anschloss, drohte in jenen Jahren mehrfach der Konkurs. Ab den 1870er Jahren zog die einheimische (gleichwohl zunächst weiterhin stark an französischen Vorbildern orientierte) Ope- rettenproduktion95 dann mit der aus Frankreich importierten gleich, die „Wiener Operette“ war ‚erfunden‘: der Status des Theaters an der Wien und des Carltheaters als Operettentheater beruhte nun auch auf den Erfolgen unter anderem Franz von Suppés, Carl Millöckers und Johann Strauß’, die beiden Erstgenannten versierte Volksstückkomponisten, der Letztgenannte seit mehr als zwei Jahrzehnten ein inter- national gefeierter Tanzmusikkomponist und Inbegriff der „Wiener Musik“. Wäh- rend das Publikum dieser zunehmend teureren Bühnen – ein gegenüber dem Vor- märz verändertes, finanzkräftigeres Publikum – mit seinem Faible für das vor allem in seinen Sujets nicht mehr lokal ausgerichtete neue Unterhaltungstheater den be- treffenden Direktoren, Kapellmeistern und Librettisten gewissermaßen Recht gab, formierte sich auf der Ebene der Publizistik ein massiver Widerstand gegen diesen

94 Was den Einfluss der frühen Offenbach-Rezeption auf die Wiener Theaterszene betrifft, sind einschlägig: Walter Obermaier: Offenbach in Wien. Seine Werke auf den Vorstadt- bühnen und ihr Einfluß auf das Volkstheater. In: Jacques Offenbach und die Schauplät- ze seines Musiktheaters. Herausgegeben von Rainer Franke. Laaber: Laaber Verlag 1999. (= Thurnauer Schriften zum Musiktheater. 17.) S. 11–30, sowie Mathias Spohr: Inwieweit haben Offenbachs Operetten die Wiener Operette aus der Taufe gehoben?. In: Ebenda, S. 31–67. 95 Zur Entwicklung der Dramaturgie der „Wiener Operette“ vgl. Marion Linhardt: Insze- nierung der Frau – Frau in der Inszenierung. Operette in Wien zwischen 1865 und 1900. Tutzing: Hans Schneider 1997. (= Publikationen des Instituts für österreichische Musikdo- kumentation. 19.)

50 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters

„Einbruch des Fremden“ in die alteingesessenen Privattheater. Mit ihnen verband sich ein Mythos des Volkstheaters als etwas „im Heimatboden Wurzelndes“, das nun sein angestammtes Terrain zu verlieren drohte. Die entsprechenden Program- matiker ließen unberücksichtigt, dass das „Eigene“, das man gegen das neue Fremde ins Feld führte, oft gar nicht so „eigen“ und „ursprünglich wienerisch“ war: das so- genannte Wiener Volkstheater hatte seit Jahrzehnten einen beachtlichen „fremden“ Anteil aufgewiesen, da zumal das Pariser Theater schon im Vormärz die Vorlagen für zahlreiche Wiener Stücke geliefert hatte.96 Eines der vielen zeitgenössischen Dokumente für die ideologisch begründete Ab- lehnung der Operette sind die Erinnerungen des Volksstückdichters Friedrich Kai- ser, die 1870 unter dem Titel Unter fünfzehn Theater-Direktoren. Bunte Bilder aus der Wiener Bühnenwelt erschienen und in denen Kaiser in Bezug auf die Vorstadt- bühnen diagnostizierte: „die österreichische Volksmuse [war] […] aus den eigentli- chen Volkstheatern hinausgewiesen worden […], damit man deren Räume für den Einzug der fremdländischen Musa vulgivaga so prächtig als möglich einrichten könne“.97 Die weite Verbreitung der operetten-kritischen Haltung mit nationalen bzw. nationalistischen, teils auch antisemitischen Anklängen, die diese Äußerung Kaisers in gewisser Weise paradigmatisch repräsentiert, vermochte nicht zu verhin- dern, dass die Operette bald zum neuen „Volkstheater“ im Sinn eines Theaters für breiteste Schichten wurde: das, was dem Wiener „Volk“ als populäres Theater an- gemessen war, durchlief eine Wandlung, weil und indem dieses „Volk“ selbst sich verwandelte. Um 1910 standen an Wiener Theatern etwa viermal soviel Plätze für ein ausschließliches oder weitgehendes Operettenrepertoire zur Verfügung wie für ein Sprechrepertoire, ja, die Operette wurde zur „Wiener Gattung“ schlechthin, mochte dies auch diversen Kulturkritikern ein Dorn im Auge sein. Die Debatte um das Volkstheater und die Operette, die über Jahrzehnte in Wien geführt wurde, entbehrte einerseits eines tatsächlichen Bezugs zur Theaterrealität und zur gesell- schaftlichen Realität, insofern ihr Vorstellungen von „Volk“ und von „Volkstheater“ zugrunde lagen, die in der Millionenstadt längst obsolet geworden waren (so wie sie überhaupt die zahllosen Entwurzelten, Ausgebeuteten, Verelendeten nicht in ihr Argument einbezog); andererseits gab diese Debatte den Impuls für eine Reihe von Theaterinitiativen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die dem „Volkstheater“ ein

96 Den vielschichtigen Diskurs um das „Eigene“ und das „Fremde“ behandelt am Beispiel des Theaters in der Josefstadt Marion Linhardt: Indigenous and Imported Elements in Late- Nineteenth-Century Viennese Theatre: the Theater in der Josefstadt from Gründerzeit to Jahrhundertwende. In: From Ausgleich to Jahrhundertwende: Literature and Culture, 1867– 1890. Herausgegeben von Judith Beniston und Deborah Holmes. Leeds: Maney Publishing 2009. (= Austrian Studies. 16.) S. 69–86. Vgl. auch W. E. Yates: Internationalization of European Theatre: French Influence in Vienna between 1830 and 1860. In: Austria and France. Herausgegeben von Judith Beniston und Robert Vilain. Leeds: Maney Publishing 2005. (= Austrian Studies. 13.) S. 37–54. 97 Friedrich Kaiser: Unter fünfzehn Theater-Direktoren. Bunte Bilder aus der Wiener Büh- nenwelt. Wien: Waldheim 1870, S. 267.

51 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

neues „Heim“ schaffen wollten. Sie gehören zum Feld dessen, was ich „Theater von / für Interessengruppen“ nennen möchte. Die Wiener Theaterneugründungen des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts las- sen sich grob zu zwei Gruppen ordnen: jene Theater, die in erster Linie als Ge- schäftsunternehmungen aufzufassen sind, wie das Theater am Franz-Josefs-Quai, das Harmonietheater, die Komische Oper oder das Johann-Strauß-Theater, dem- gegenüber jene Theater, mit denen ein bestimmtes, ideologisch fundiertes kultu- relles Programm umgesetzt werden sollte, und zwar über Vermittlung von Thea- tervereinen, von denen die Gründungsinitiativen ausgingen – hierher gehören das Deutsche Volkstheater, das Raimundtheater und das Kaiserjubiläums-Stadttheater, die spätere Volksoper. Quer zu dieser Unterscheidung verläuft eine Neuerung, die die Finanzierung von Theaterbauten betrifft und die sich als wichtiges Moment für eine Sozialgeschichte des Theaters erweist: gemeint ist die Finanzierung über Anteilscheine, die für die genannten „Theater mit Programm“ charakteristisch war, die sich aber auch beim „Theater als Geschäftsunternehmung“, wie beim Wiener Stadttheater98 und bei der Komischen Oper, findet. Hier wie dort, also bei jenen Theatern, die aus wirtschaftlichen Erwägungen mit Hilfe einer Gesellschaft finanz- kräftiger Aktionäre ins Leben gerufen wurden, und bei jenen Theatern, bei denen der Erwerb von Anteilscheinen einen wirklichen „Anteil“ des jeweiligen Interessen- ten an dem Theater und an der von ihm repräsentierten kulturpolitischen Position bedeuten sollte, kann von einer neuen Qualität der Verknüpfung von Gesellschaft und Theater gesprochen werden: bis zu einem gewissen Grad etablierten sich eine neue, bürgerlich ausgerichtete ‚Kulturhoheit‘ neben derjenigen des Hofes und eine Art neues ‚verallgemeinertes‘ Theaterunternehmertum neben dem traditionellen Ty- pus des Theaterdirektors /-pächters. Im Wiener Kontext des späten 19. Jahrhunderts gehörten die betreffenden Unternehmungen verschiedenen Phasen der Wirtschafts- entwicklung und verschiedenen politischen Ideologien an. In den Gründerjahren wurden mit Theaterinitiativen, die hohe Einlagen Einzelner voraussetzten und die auch ihr Publikum in erster Linie in den finanzkräftigen Kreisen fanden (so im Fall des Wiener Stadttheaters), bestehende soziale und kulturelle Hierarchien letztlich befestigt; die Theater der Nachgründerzeit gaben sich mit ihren Programmen und der Möglichkeit der Zeichnung einer großen Anzahl billigerer Anteilscheine den Anstrich, gänzlich im „Volk“ verankert zu sein. Eine in diesem Zusammenhang auf- schlussreiche Analyse findet sich bei Adam Müller-Guttenbrunn, dem zeitweiligen Direktor des Raimundtheaters und des Kaiserjubiläums-Stadttheaters, der durch seine vielfältige, von antisemitisch-nationalkonservativen Anschauungen geprägte Betätigung auf kulturellem und kulturpolitischem Gebiet zu notorischer Berühmt- heit gelangte.

98 Vgl. zur Konzeption des Wiener Stadttheaters und zu seiner Entwicklung zwischen künst- lerischer Programmatik und den Erfordernissen des „Marktes“ W. E. Yates: Continuity and Discontinuity in Viennese Theatrical Life from the 1860s to the Turn of the Century. In: From Ausgleich to Jahrhundertwende, S. 51–68.

52 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters

„Wie sind all diese Bühnen entstanden? Von wem und mit welchen Mitteln wurden sie errichtet? […] ich habe mich davon überzeugt, daß die ausführliche Beantwortung dieser materiellen Fragen ein Stück Wiener Kulturgeschichte gäbe, das nicht minder interessant wäre, als die ästhetische Geschichte des Wie- ner Bühnenwesens. […] Überaus interessant ist es, zu verfolgen, wie einer jeden dieser privaten Theatergründungen [nach 1870] der Charakter der Epoche ihrer Entstehung bis ins kleinste anhaftet, wie geistige oder soziale Strömungen der Zeit solch einem Theaterbau ihr Bild aufprägen. Nach dem Falle der Wiener Basteien und Festungswälle, in dem durch die Bürgerkraft verjüngten Wien, konnte ein neues Schauspielhaus nur Wiener Stadttheater heißen. Ein An- teilschein konnte in jener Zeit des ,volkswirtschaftlichen Aufschwunges‘ nur auf die Summe von Tausenden (2500 Gulden) lauten, denn mit Hunderten rechnete man gar nicht. Das bürgerliche Mäcenatentum dieser Epoche trat ein bißchen protzig auf den Plan. Die nächste Wiener Theatergründung, die in der Blütezeit des Ministeriums Taaffe und des Kampfes zwischen Deutschtum und Tschechentum zustande kam, konnte natürlich nur ,Deutsches‘ Volks- theater heißen. Die tiefere Absicht, dieses Theater deutsch zu führen, war bei niemandem vorhanden, aber der äußerliche Umstand, daß damals im zehnten Wiener Bezirk eine tschechische Schule errichtet wurde, genügte der opposi- tionellen Inneren Stadt, das Selbstverständliche, daß Wien ein neues deutsches und kein anderssprachiges Theater erhalten sollte, ganz besonders zu betonen. Die geänderten finanziellen Verhältnisse der nachkrachlichen Zeit prägten sich darin aus, daß die Anteilscheine des Deutschen Volkstheaters bloß 500 Gulden kosteten […] In der Zeit, da aus Neu-Wien ,Groß-Wien‘ geworden war, wurde das vorortliche Bezirkstheater ohne Logen, das Volkstheater kath’exochen er- funden, die Gründerscheine [des Raimundtheaters] wurden auf 400 Gulden und sogar auf halbe Anteile zu 200 Gulden herabgesetzt, und es beteiligten sich mehr als 600 Familien an der Zeichnung eines Kapitals von 700.000 Gul- den. Und das Kaiserjubiläums-Stadttheater, das gleichzeitig mit dem allgemei- nen Wahlrecht und der Volksherrschaft im Rathause auf der Tagesordnung erschien, es ist bereits dabei angelangt, überhaupt nur Anteilscheine zu 100 Gulden auszugeben, es erhebt sich auf der breitesten volkstümlichen Grundla- ge, die bisher für ein der Kunst gewidmetes Unternehmen geschaffen werden konnte.“ 99 Das „Volk“, zu dem die neuen Theater der Nachgründerzeit in Beziehung treten sollten und auf das Müller-Guttenbrunns Text anspielt, war nun allerdings durch- aus eingegrenzt: es handelte sich dabei um einen nach nationalen und ethnischen Kriterien bestimmten Ausschnitt der Wiener Bevölkerung. Die identitätsstiftende oder identitätsstabilisierende Wirkung, die die Initiatoren der betreffenden Bühnen dem von ihnen propagierten Theater und seinem Repertoire zuschrieben100 und da-

99 Adam Müller-Guttenbrunn: Wiener Theater-Gründungen. In: A. M.-G.: Zwischen zwei Theaterfeldzügen. Neue dramaturgische Gänge. Linz; Wien; Leipzig: Österreichische Ver- lagsanstalt [1902], S. 27–38, hier S. 27–28 und S. 37–38. 100 Für das Deutsche Volkstheater hat Johann Hüttner gezeigt, dass die ursprünglichen ideo- logisch begründeten Erwartungen an dieses Theater insofern nur teilweise erfüllt wurden, als es „sich als Mittelding zwischen Stadt- und Volkstheater begriff“. Johann Hüttner: Das

53 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

mit gewissermaßen einem potenziellen Publikum ‚verordneten‘ – die Geschichte vor allem des Raimundtheaters und des Kaiserjubiläums-Stadttheaters zeigt, dass die Erfordernisse des Marktes auf ganz andere Wege führten101 –, bedurfte der Ausgren- zung des „Anderen“ oder „Fremden“, und dazu zählten in Wien im späten 19. Jahr- hundert nicht zuletzt die Tschechen und die Juden.102 Tschechen wie Juden mussten aus deutschnationaler und / oder christlich-konservativer Perspektive in doppelter Weise als Feindbild erscheinen: in Gestalt der zahllosen Zuwanderer aus Böhmen und Mähren bzw. aus Galizien und Rumänien, die sich in Wien in die Massen der Unterprivilegierten einreihten, aber auch in Gestalt der selbstbewussten Tschechen, die sich organisierten und für ihre Gleichberechtigung eintraten, und der assimi- lierten, wohlhabenden und den kulturellen Diskurs mitbestimmenden Juden, die ihrerseits den „Ostjuden“ durchaus distanziert gegenüber standen. Den Anteil der tschechischen und jüdischen Zuwanderer an der Wiener Bevölkerung reflektierten Ansätze zur Herausbildung von je eigenständigen Theater- bzw. Unterhaltungskul- turen.103 Zu nennen sind hier etwa tschechische Ensemblegastspiele (mehrfach im Theater in der Josefstadt104) und Aufführungen tschechischer kultureller Vereini- gungen, eine Erscheinung wie der Böhmische Prater im Bezirk Favoriten,105 die zu- nehmend breitgefächerte jüdische Kleinkunst als Jargontheater106 und Initiativen für ein literarisches jüdisches Theater.107 Den Hauptangriffspunkt der Verfechter

Theater als Austragungsort kulturpolitischer Konflikte. In: 100 Jahre Volkstheater. Theater. Zeit. Geschichte. Herausgegeben von Evelyn Schreiner. Wien; München: Jugend und Volk 1989, S. 10–15, hier S. 12. Für die ersten 30 Jahre seines Bestehens resümiert Hüttner: „Es ist festzuhalten, daß das Deutsche Volkstheater, als Haus auch für breitere Bevölke- rungsschichten und mit billigen Eintrittspreisen, sehr bald (und vielleicht immer schon) das wohlhabende Bürgertum anzog, sehr bald das Theater der guten Gesellschaft, die se- hen und gesehen werden wollte, wurde“. Johann Hüttner: Die Direktionen Emerich von Bukovics, Adolf Weisse, Karl Wallner. Zwischen Stadttheater und Volkstheater. In: Eben- da, S. 16–31, hier S. 21. 101 Vgl. hierzu Linhardt, Residenzstadt und Metropole, S. 84–89. 102 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Juden und Böhmen im Wiener Volksthea- ter seit Jahrzehnten auf der Ebene der behandelten Stoffe Objekte des Verlachens gewesen waren und dass es eine Reihe von Wiener Bühnendarstellern gab, die sowohl das Typenfach des „Juden“ als auch das Typenfach des „Böhmen“ vertraten, dass also das „Andere“ des Juden und des Böhmen durch denselben Darsteller wiedergegeben werden konnte. 103 Eine sehr knappe Zusammenfassung zum Theater der „Nationalitäten“ in Wien gibt Wolf- gang Sabler: Le théâtre des nationalités non germaniques à Vienne autour de 1900. In: Études germaniques 62 (2007), No. 1, S. 77–88. 104 Tschechische Gastspiele hatte es hier über Jahrzehnte immer wieder gegeben. Im Frühsom- mer 1893 löste eine mehrwöchige Serie tschechischsprachiger Aufführungen deutschnatio- nale Demonstrationen aus. 105 Vgl. hierzu Karl Pufler: Wo der Ziegelböhm tanzte … Der Böhmische Prater – Veranstal- tungsort seit über 100 Jahren. Wien: Milde 1999. 106 Einschlägig für diesen Bereich ist Georg Wacks: Die Budapester Orpheumgesellschaft. Ein Varieté in Wien 1889–1919. Wien: Verlag Holzhausen 2002. 107 Zum jüdischen Theater in Wien vgl. die grundlegenden Arbeiten von Brigitte Dalinger: „Verloschene Sterne“. Geschichte des jüdischen Theaters in Wien. Wien: Picus-Verlag 1998,

54 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters des „Wiener Volkstheaters“ bildete jedoch nicht diese Reihe deutlich klientelbezoge- ner Veranstaltungsformen, sondern vielmehr die „allgemeine Unterwanderung“ des „deutschen“ bzw. des „Wiener“ Theaters durch die „jüdische Literaturclique“, jene Gruppe assimilierter Juden, die zahlreiche Operettenlibrettisten, Lustspielautoren, Übersetzer, darüber hinaus Theaterdirektoren und -agenten und einflussreiche Jour- nalisten stellte. Dem Kampf gegen sie nahm mit besonderer Vehemenz Müller-Gut- tenbrunn auf. Die deutschnationalen und antisemitischen Tendenzen in der Wiener Debatte um Theater und Kultur im späten 19. Jahrhundert finden sich gleichsam in konzentrierter Form in der Programmatik des 1898 eröffneten Kaiserjubiläums- Stadttheaters, jenes sowohl auf der Seite der Produktion wie auf der des Publikums „judenfrei“ geplanten Theaters, mit dem Müller-Guttenbrunn dem „Börsenjobber- tum“ den „gesunden Volksgeist“ entgegenstellen wollte.108 Im Dezember 1902, als längst feststand, dass diese Bühne auf der Grundlage des ursprünglichen politisch- ästhetischen Konzepts nicht rentabel zu führen war, richtete Müller-Guttenbrunn eine Denkschrift an Karl Lueger, den konservativ-antisemitischen Wiener Bürger- meister, in der er die „Bedeutung des Theaters“, das an die Programmatik der christ- lichsozialen Partei geknüpft war, nochmals zusammenfasste: „Durch die Gründung dieses Schauspielhauses [des Kaiserjubiläums-Stadtthea- ters] sollte der Beweis erbracht werden, daß die deutsche Literatur reich genug ist, das deutsche Theater zu versorgen und daß wir der internationalen Mode- Literatur und der zumeist durch jüdische Übersetzer eingeschleppten franzö- sischen Unsitten-Stücke, die das gesunde Gefühl unseres Volkes verpesten, entraten können; durch dieses Theater sollte die vom jüdischen Journalismus vollständig überwucherte und entmutigte heimische Produktion, die seit drei Jahrzehnten fast versiegt schien, wieder geweckt werden; auf dieser Bühne sollte den arischen Talenten auf dem Gebiete der Literatur und der Schauspiel- kunst der Weg geebnet, durch den Bestand dieses Theaters sollte Bresche gelegt werden in den Ring, der das gesamte deutsche Künstlerleben unterjocht und dasselbe zu seiner geschäftlichen Domäne gemacht hat.“109 Wie bereits angedeutet, scheiterten die Pläne Müller-Guttenbrunns und anderer Ideologen, dem Wiener Publikum ein „deutsches / deutschösterreichisches Volksthea- ter“ programmatisch zu verordnen, an den tatsächlichen Bedürfnissen und Interes- sen derjenigen, die die Theater besuchten. Als Station der Wiener Theatergeschichte sind die entsprechenden Initiativen gleichwohl von ganz grundsätzlichem Interesse: sie stehen einerseits (unabhängig von ihrer ideologisch-politischen Ausrichtung) für eine Form des Umgangs mit den neuen städtischen Massen, die sich sozial, na-

sowie Brigitte Dalinger: Quellenedition zur Geschichte des jüdischen Theaters in Wien. Tübingen: Niemeyer 2003. (= Conditio Judaica. 42.) 108 Vgl. zu diesem Zusammenhang ausführlich Richard S. Geehr: Adam Müller-Guttenbrunn and the Aryan Theater of Vienna (1898–1903). The Approach of Cultural Fascism. Göppin- gen: Kümmerle 1973. (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik. 114.) 109 Abgedruckt wurde der Text in Karl Kraus’ Fackel. Adam Müller-Guttenbrunn: Denk- schrift. In: Die Fackel 5 (1903), Nr. 146, S. 12–21, hier S. 18.

55 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

tional und ethnisch immer stärker ausdifferenzierten, und für ein Bemühen, diese Massen mit Kultur (welcher Ausprägung auch immer) zu erreichen; und sie bilden andererseits einen entscheidenden Schritt hin zu der Praxis, die Zuschauerschaft zu organisieren, also die Verknüpfung von Gesellschaft und Theater gezielt zu steuern, wie es für das Theater des 20. Jahrhunderts etwa in Gestalt von Theatergemeinden und Besucherorganisationen charakteristisch geworden ist. Bis in den 1. Weltkrieg hinein blieb das Theater in Wien vorerst allerdings ein Teil der großstädtischen Ereigniskultur, mit dem sich in erster Linie gute Geschäfte ma- chen ließen, und zwar aufgrund seiner zweifellos wichtigsten Funktion, nämlich der Bereitstellung von Unterhaltung. Neben den Massen von Unterprivilegierten gab es in Wien eine ausreichend breite finanzkräftige Schicht, die die zahlreichen Privat- theater, Varietés und Kabaretts füllten und der die von herausragenden Künstler- persönlichkeiten wie Gustav Mahler, Alfred Roller, Josef Kainz und Hugo Thimig getragenen Aufführungen der beiden Hoftheater repräsentative Geselligkeit boten, während die avancierte, zumal auch die politisch engagierte deutschsprachige Pro- duktion aus Zensurgründen von den Wiener Bühnen überwiegend verbannt blieb. Den Schwerpunkt der Produktion und Rezeption bildete die Operette, der sich in der Vorkriegsspielzeit mehr als 15 Theater in sieben Wiener Bezirken ganz oder teilweise widmeten. Wenige historische Zeugnisse reflektieren den Rang, den die Operette im alltäglichen Wiener Diskurs der 1910er Jahre einnahm, so eindrück- lich wie die Eingangsszene des Prologs aus Karl Kraus’ Tragödie Die letzten Tage der Menschheit, die Wiener und Wienerinnen unterschiedlicher sozialer Herkunft weit mehr mit Operettenstars wie Fritz Werner, Louis Treumann, Hubert Marisch- ka, Otto Storm und Franz Glawatsch beschäftigt zeigt als mit den Ereignissen des 28. Juni 1914 und deren möglichen Konsequenzen. Die 1. Szene des „etliche Wochen später“ spielenden I. Aktes von Kraus’ monumentalem Stück nimmt dann mit dem Hinweis auf die Premiere von Gold gab ich für Eisen auf die Flut von militaristischen und patriotischen Stücken Bezug, die im Herbst 1914 die nach und nach wieder- eröffneten Wiener Privattheater beherrschten. Bei Gold gab ich für Eisen handelte es sich um eine dem ‚aktuellen Anlass‘ entsprechende Neufassung des „Theaterstücks für Musik“ Der gute Kamerad (1911) von Emmerich Kálmán und Victor Léon, die am 17. Oktober 1914 im Theater an der Wien herauskam; Vergleichbares boten das Raimundtheater mit dem Zeitbild Komm deutscher Bruder, das Revuetheater Apol- lo mit den „bunten Bildern vom Tage“ Der Kriegsberichterstatter, die Revuebühne Femina mit der „zeitgemäßen Revue“ Hurrah! Wir siegen!, das Intime Theater mit den „vier Marksteinen aus der Geschichte der Monarchie“ O, du mein Oesterreich!, das Theater in der Josefstadt mit dem Zeitbild Das Weib des Reservisten und das Deutsche Volkstheater mit dem Volksstück Einberufung.110 Während des gesamten Krieges ließ die Frequenz der Operettenpremieren in Wien um nichts nach, viel-

110 Für eine detaillierte Analyse des Wiener „Kriegsspielplans“ im Jahr 1914 vgl. Marion Linhardt: Mobilisierung durch Identitätsstiftung. Krieg und Unterhaltungstheater im Jahr 1914. In: Austrian Studies 21 (2013), Druck in Vorb.

56 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters mehr finden sich unter den bald wieder weitestgehend auf genretypische Liebes- verwicklungen konzentrierten Operetten der Kriegsjahre mehrere Sensationserfolge mit einigen Hundert Aufführungen in Serie, die auch langfristig zu den Operet- tenstandards gehörten, wie Kálmáns Die Csárdásfürstin (Johann-Strauß-Theater 1915), Heinrich Bertés Schubert- Das Dreimäderlhaus (Raimundtheater 1916) und Leo Falls Die Rose von Stambul (Theater an der Wien 1916). Betrachtet man das Wiener Theatergeschehen des beginnenden 20. Jahrhunderts insgesamt, so lässt sich die These formulieren, dass die Berührung von Theater und Gesellschaft dem Verhältnis zwischen den Akteuren des Warenmarktes entsprach: es gab reich- lich Abnehmer eines ebenso reichlich vorhandenen Angebots, das einen deutlichen Schwerpunkt im Bereich des leicht Konsumierbaren aufwies. Die Balance, der die- ser Markt bedurfte, ging mit der Niederlage im Krieg, dem Zerfall der Monarchie und der Versorgungskatastrophe der späten 1910er Jahre verloren.

5. Der organisierte Zuschauer und Österreichs kulturelle Identität Es mag gewagt, vielleicht gar zynisch erscheinen, in einer historischen Darstellung die Jahrzehnte zwischen dem Ende der Monarchie und dem Inkrafttreten des Ös- terreichischen Staatsvertrages unter eine gemeinsame Rubrik zu subsumieren – ei- nen Zeitraum, der unterschiedlichste politische Systeme umfasst, darunter auch solche, in denen die Freiheit und das Leben des Einzelnen nichts galten. Die frühen Jahre des „Roten Wien“, die Zeit des Austrofaschismus, die Jahre des ‚Anschlus- ses‘ an Nazi-Deutschland und diejenigen der Besatzung der Stadt durch die Alli- ierten gaben für das Theater gänzlich verschiedene Rahmenbedingungen vor: in Gestalt der das Theater betreffenden Gesetzgebung, die regelte, was von wem für wen gespielt werden durfte, aber auch in Gestalt der jeweiligen wirtschaftlichen Situation, die etwa für die Frage ausschlaggebend war, ob und wie Geschäftsthea- ter rentabel zu führen waren. Im Hinblick auf eine Sozialgeschichte des Theaters, die nach Berührungen von Theater und Gesellschaft bzw. Gesellschaftsausschnit- ten fragt, lassen sich gleichwohl zwei durchgehende Strukturmerkmale benennen, die die hier in Rede stehenden knapp vier Jahrzehnte in besonderer Weise prägten, nämlich die zunehmende Relevanz von lenkenden Eingriffen in den Theaterbesuch und die immense ideelle Aufladung des Theaters im allgemeinen und der ‚ersten‘ Häuser, also des Burgtheaters und der Oper, im besonderen, die zum Objekt und zum Instrument politischer Bemühungen im weitesten Sinn wurden. Beide Phä- nomene, die ‚Organisation‘ des Zuschauers und der politisch-ideologische Zugriff auf das Theater als kulturelles Kapital, waren selbstverständlich in den wechseln- den Systemen von sehr unterschiedlichen Motiven geleitet. Dennoch wirkten sie über die politischen Zäsuren hinweg wie Filter, die die Wahrnehmung von Theater beeinflussten, sei es in Form einer gezielten Hinführung dieses oder jenes Bevölke- rungsausschnitts zu ausgewählten Theaterereignissen oder der Reglementierung der Rezeption durch Verbote, sei es durch die Steuerung des Diskurses darüber, welche Bedeutung dem Theater für den Einzelnen, für Wien oder für Österreich zukomme.

57 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

Was den letztgenannten Aspekt betrifft, so lässt sich etwa für das Burgtheater oder auch für herausragende Repräsentanten der Wiener Dramatik wie Franz Grillparzer und Ferdinand Raimund verfolgen, inwieweit das Theater Möglichkeiten für Mehr- fachcodierungen eröffnete: Das Theater in Wien besaß Potenziale, die die lokale, also die „Wiener“ Identität zu bekräftigen vermochten, ebenso aber – angesichts des Bedeutungsverlustes Österreichs nach 1918 und im Konkurrenzverhältnis zu Nazi- Deutschland ab 1933 – als etwas eigenständig und einzigartig „Österreichisches“ interpretierbar waren, bevor sie schließlich 1938 als zutiefst „deutsch“ „erkannt“ wurden; nach 1945 war der Umgang mit dem Wiener Theater nicht zuletzt von einem Bedürfnis nach Wiedergewinnung einer nationalen Identität getragen.

Der für das späte 19. Jahrhundert eingeführte relativ vage Begriff des „Theaters von / für Interessengruppen“ – bezogen auf Theater, die ein bestimmtes kulturpolitisches Interesse verfolgten und für die quasi ein potenzielles Publikum definiert wurde, dem die jeweiligen Bühnen besonders angemessen seien und auf das in entsprechen- der Weise eingewirkt werden sollte –, dieser Begriff lässt sich für das Wiener Theater des frühen und mittleren 20. Jahrhunderts zunehmend präzisieren: zunächst ent- deckten die politischen Parteien, die sich ab dem späten 19. Jahrhundert als Mas- senparteien konstituiert hatten, Theater als Vehikel für Kulturarbeit, ab 1934 bzw. 1938 wurde Theater zum Instrument staatspolitischer Indoktrination, nach 1945 sollte Theater der „Demokratisierung“ dienen, darüber hinaus aber vor allem der Sympathielenkung im Hinblick auf die von den Alliierten vertretenen konkurrie- renden weltanschaulichen Positionen. Die Entwicklung des Theaters in den 1920er bis 1940er Jahren war dadurch charakterisiert, dass neben der hergebrachten, auf den Gesetzmäßigkeiten des Marktes beruhenden Praxis des Theaterkonsums ein Besucherverhalten immer mehr an Gewicht gewann, dem steuernde Maßnahmen zugrunde lagen. Als wichtige Station kann hier die Gründung des Vereins „Wie- ner Freie Volksbühne“ nach Berliner Vorbild gelten, die 1906 erfolgte und einen wesentlichen Rückhalt in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei hatte. Zwar waren schon die Theaterinitiativen Adam Müller-Guttenbrunns im ideologischen Umfeld einer Partei, nämlich der christlichsozialen Partei angesiedelt gewesen; mit ihnen war aber keine Parteiaktivität im eigentlichen Verständnis verbunden, und sie schlossen auch keine Publikumsmobilisierung in institutionalisierter Form ein. Anders die „Wiener Freie Volksbühne“: die tonangebenden Persönlichkeiten an der Spitze des Vereins waren mit Engelbert Pernerstorfer und Stefan Großmann führen- de Wiener Sozialdemokraten, erklärtes Ziel war die Bildung der Arbeiter und Arbei- terinnen, denen durch niedrige Eintrittspreise der Zugang zum Theater erleichtert oder überhaupt erst ermöglicht werden sollte, und die Aufführungen waren gezielt auf die ‚Versorgung‘ der Vereinsmitglieder – sie hatten 1910 die Zahl von beina- he 15.000 erreicht – mit qualitätvollem Theater ausgerichtet. In einem bekannten Programmtext Pernerstorfers heißt es zum ideellen Hintergrund der Tätigkeit der „Wiener Freien Volksbühne“:

58 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters

„Volk und Theater gehörten einmal enge zusammen. Ganz werden sie erst wie- der zusammenwachsen, wenn die neuen Lebensformen einer großen Zukunft, in denen das Volk auf einer höheren Kulturstufe wieder eine Einheit sein wird, vielleicht eine neue dramatische Kunst schaffen wird, die den größten Erzeug- nissen der alten Kunst nicht nachstehen wird. Einstweilen suchen wir auf dem Wege zur Zukunft die großen künstlerischen Ueberlieferungen der Vergangen- heit zu bewahren und nach neuen Wegen der Kunst und ihrer Auswirkung zu suchen.“111 Die Zusammenführung von Volk / Arbeiterschaft und Kultur / Theater, die hier be- schworen wird, verfolgte nach der „Wiener Freien Volksbühne“, die sich im August 1915 auflöste (an sie knüpfte vorübergehend der „Volksbühnenverein“ an), zunächst ab 1919 die sozialdemokratische Kunststelle, seit der Frühzeit der Zweiten Republik das Bildungsreferat des Österreichischen Gewerkschaftsbundes, ab 1954 – nun auch mit einer tatsächlichen stadträumlichen Implikation – die mit dem Volkstheater im 7. Bezirk verbundene Aktion „Volkstheater in den Außenbezirken“ der Wiener Arbeiterkammer, die auf modifizierter konzeptioneller Basis bis heute erfolgreich ist (inzwischen unter dem Titel „Volkstheater in den Bezirken“). In den 1920er Jahren boten das Wiener Theater und seine Rezeption ein überaus heterogenes Bild, für das zwei Faktoren bestimmend waren: die neue Position der Hauptstadt innerhalb des aus dem 1. Weltkrieg und dem Vertrag von St-Germain hervorgegangenen österreichischen ‚Reststaates‘ und der Kulturkampf zwischen den Institutionen und Programmen des Roten Wien einerseits und denjenigen der anti- sozialistischen Mehrheiten im Staat und in der Staatsregierung andererseits112 – ein Kampf, der im Bereich des Theaters seinen zweifellos spektakulärsten Ausdruck in den Konfrontationen anlässlich der Aufführungen von Arthur Schnitzlers Reigen in den Kammerspielen des Deutschen Volkstheaters im Februar 1921 fand und der sich durchgängig in dem Ringen der sozialdemokratischen Gemeinderegierung und der christlichsozialen Staatsregierung (als der eigentlichen Trägerin) um Einfluss auf die beiden Staatstheater niederschlug. Ersteres, also der veränderte Status der Millionenstadt Wien, die nach dem Zerfall des Habsburgerreiches einem auf ei- nen Bruchteil reduzierten Staatsgebiet gegenüberstand, brachte es mit sich, dass die Verarmung, ja Verelendung der Bevölkerung, die im Krieg um sich gegriffen hatte, auch nach Kriegsende vorerst anhielt, und obwohl bald eine vorübergehende wirt- schaftliche Konsolidierung in Österreich einsetzte, konnten jene breiten mittleren und gehobenen Kreise, die das Wiener Theater bis in den Weltkrieg hinein wirt- schaftlich und intellektuell getragen hatten und für die Theater nun zu einem fast unerschwinglichen Luxus geworden war, nicht durch eine neue stabile Besucher- schicht ersetzt werden. Zeitgenössische Berichte über ein verändertes Publikum, in

111 Engelbert Pernerstorfer: Theater und Demokratie. In: Der Strom 1 (1911), S. 1–3, hier S. 3. 112 Das Verhältnis von Theater und Politik in den Jahren bis 1934 beleuchten mehrere Beiträge in: Culture and Politics in Red Vienna. Herausgegeben von Judith Beniston und Robert Vilain. Leeds: Maney Publishing 2006. (= Austrian Studies. 14.)

59 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

dem Kriegs- und Spekulationsgewinnler dominierten, und über die Tendenz der Privattheater, allerleichteste Ware anzubieten, mit der sich jeweils kurzfristig volle Häuser erzielen ließen, dokumentieren die Entwicklung. Die unvergleichlich gerin- gere Wirtschaftskraft ihres angestammten Publikums stellte eine der Gefährdungen für die Existenz vieler Theater dar. Eine andere Gefährdung war ihnen im Bereich der unterhaltenden Medien selbst erwachsen, nämlich in Gestalt des Kinos, das eine ebenso attraktive wie kostengünstige Alternative zum Theater darstellte. Um die Mit- te der 1920er Jahre gab es in Wien ca. 150 Lichtspielhäuser, und auch einige Theater wurden nun zu Kinos umfunktioniert, so 1925 das Wiener Komödienhaus (ehemals Colosseum), 1927 das Lustspieltheater im Prater, 1929 das Varietétheater Apollo. Diese Umwidmungen gehören zu den vielfältigen Verlagerungen, die sich nach 1918 innerhalb der bis zum 1. Weltkrieg sukzessive angewachsenen Wiener Thea- terszene vollzogen. So gewann das nunmehr als Staatstheater geführte Burgthea- ter im Schlosstheater Schönbrunn und im Akademietheater eine vorübergehende und eine dauerhafte Nebenspielstätte (was keineswegs als Zeichen für eine gesicher- te Finanzbasis dieses Hauses zu werten ist, sondern vielmehr auf die Schwierigkeiten verweist, die seine Unterhaltung mit sich brachte), während mehrere private Theater zeitweise den Spielbetrieb einstellen mussten und das traditionsreiche (allerdings sanierungsbedürftige) Carltheater 1929 zur Gänze geschlossen wurde. Mit einer Reihe von semitheatralen Veranstaltungsformen, die mit der SDAP verbunden wa- ren, etablierte sich eine proletarische Gegenkultur zum bürgerlichen Theaterbetrieb, deren zentrale ästhetische Bezugsgrößen das Kabarett und das Varieté einerseits und das „Altwiener Volkstheater“ andererseits bildeten.113 Im Sinn einer Vertrus- tung wurden mehrfach Bühnenzusammenschlüsse unternommen, ohne dass dies in den meisten Fällen ein erfolgreiches Wirtschaften zumindest mittelfristig ermög- licht hätte. Das kostenintensive musikalische Unterhaltungstheater, das noch im Weltkrieg das Gros der Produktion ausgemacht hatte, war aus diversen Gründen nur mehr eingeschränkt finanzierbar: es litt unter der Krise seines ehemaligen Pu- blikums, ebenso aber unter der für die Operette und für die im Varieté beheimateten Genres114 besonders hoch angesetzten Lustbarkeitsabgabe sowie unter der Tendenz der partei- und der berufsständisch gebundenen Kunststellen, ihre Mitglieder an Theaterereignisse heranzuführen, die dem Anspruch der ‚Volksbildung‘ genügten, wozu Operette und Revue naturgemäß nicht zählten. Mit der Lustbarkeitsabgabe und den Kunststellen sind zwei Phänomene benannt, die für das Theater der Ersten Republik durchgehend von Bedeutung waren, im Rahmen der staatspolitischen Entwicklungen der Jahre 1933 / 34 jedoch eine maß- gebliche Neuausrichtung erfuhren. Die Kunststellen (Kunststelle der sozialistischen Arbeiterzentrale, Kunststelle für Christliche Volksbildung, Deutsche Kunst- und Bildungsstelle, Kunststelle des Zentralrates der geistigen Arbeiter, Kunststelle für

113 Vgl. hierzu grundlegend Jürgen Doll: Theater im Roten Wien. Vom sozialdemokratischen Agitprop zum dialektischen Theater Jura Soyfers. Wien; Köln; Weimar: Böhlau 1997. (= Literatur in der Geschichte – Geschichte in der Literatur. 43.) 114 Zu den am höchsten besteuerten Unterhaltungseinrichtungen gehörten übrigens die Kinos.

60 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters

öffentliche Angestellte), teils mit, teils ohne Parteibindung und schon aufgrund des stark differierenden Umfangs der von ihnen organisierten Publikumskreise von durchaus unterschiedlicher Relevanz, sorgten bis in die frühen 1930er Jahre in großem Stil für die Bereitstellung ermäßigter Theaterkarten und erweiterten damit die Zugänglichkeit auch der nunmehrigen Staatstheater für ein wenig privilegiertes Publikum, wobei zumal das Burgtheater von den Vertretern der gegensätzlichen politischen Lager in vergleichbarer Weise als Hort der österreichischen Kultur und als wichtiger Bezugspunkt für die Bildung des Volkes begriffen wurde.115 Das Ver- hältnis zwischen den Planungen der Wiener Theaterunternehmer und der Arbeit der Kunststellen war trotz der Tatsache, dass die Kunststellen den Bühnen Zuschauer zuführten, keineswegs spannungsfrei: Die Kunststellen waren bestrebt, im Sinne der von ihnen verfochtenen ästhetisch-ideologischen Konzepte auf die Repertoire- bildung der Theater Einfluss zu nehmen, dem diese sich ihrerseits zu entziehen such- ten, sei es, weil sie den interessengeleiteten Direktiven der Kunststellen nicht folgen wollten, sei es, weil gerade Stücke und Stücktypen, die den Zielen der Kunststel- len nicht entsprachen, die größte Publikumswirksamkeit besaßen. Hinsichtlich des Theaterbestands wirkte die Lustbarkeitsabgabe, von der die Programme zur Förde- rung kultureller Teilhabe und somit die Kunststellen-Arbeit nicht zuletzt getragen wurden, entschieden kontraproduktiv. Die Lustbarkeitsabgabe hatten Theater und andere öffentliche Unterhaltungen seit 1916 zu entrichten. In den 1920er Jahren wurde sie als eines jener finanzpolitischen Steuerungselemente begriffen, mit Hilfe derer die grundlegenden sozialreformerischen Aufgaben der Kommune bewältigt werden sollten. Den finanziellen Nutzen, den die Theater – in Form einer besseren Auslastung der Vorstellungen – aus der Arbeit der Kunststellen zogen, machte die nach Sparten gestaffelte Lustbarkeitsabgabe in Teilen wieder zunichte. Sie blieb über Jahre Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen der sozialdemokratischen Ge- meinde Wien und ihren politischen Gegnern. Die Ankündigung einer Suspendierung der Lustbarkeitsabgabe zugunsten der Bühnen, die „für das Kultur- und Bildungsleben besonders förderungswürdig erscheinen“116, die im Januar 1934 durch den Ministerrat beschlossen wurde, be- deutete ohne Zweifel politisches Kapital für die Rechte. Während sich der „neue“, autoritär geführte österreichische Staat dergestalt die „Rettung“ der Wiener Privat- theater auf die Fahnen schrieb, traf er zugleich Maßnahmen, die Optionen für einen unmittelbaren Zugriff des Regimes auf die Produktion und Rezeption von Theater eröffnen sollten. Die sozialdemokratische Kunststelle wurde in Zusammenhang mit dem Verbot der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei aufgelöst, sämtliche anderen Kunststellen wurden einer übergeordneten Österreichischen Kunststelle eingeglie-

115 Ausführungen zu den entsprechenden Konzepten und Aktivitäten der Kunststellen bei Pyrah, The Burgtheater and Austrian Identity. 116 Zitiert nach Edda Fuhrich: „Schauen Sie sich doch in Wien um! Was ist von dieser Theater- stadt übriggeblieben?“ Zur Situation der großen Wiener Privattheater. In: Verspielte Zeit. Österreichisches Theater der dreißiger Jahre. Herausgegeben von Hilde Haider-Pregler und Beate Reiterer. Wien: Picus-Verlag 1997, S. 106–124, hier S. 108.

61 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

dert, die zu einem wesentlichen Instrument des angestrebten staatlichen Kulturmo- nopols im nun nicht mehr pluralistisch verfassten Österreich avancierte. (Eine noch massivere Einwirkung auf den Theaterbesuch wurde mit der Eingliederung der Ös- terreichischen Kunststelle in die 1936 gegründete Freizeitorganisation „Neues Le- ben“ der Vaterländischen Front angestrebt, ohne dass damit allerdings ein dem Vor- bild „Kraft durch Freude“ vergleichbarer Effekt erzielt werden konnte.) An die Stelle des ebenfalls aufgelösten „Deutschösterreichischen Bühnenvereins“ und der „Union des Bühnen- und Kinopersonals“ trat als Pflichtorganisation der „Ring der öster- reichischen Bühnenkünstler“: Ein Engagement an einem konzessionierten Thea- ter war ab 1934 vom Besitz eines Berechtigungsscheines abhängig, den der „Ring“ jenen zuerkannte, die eine Bühnenberechtigungsprüfung abgelegt hatten und ein Unbescholtenheitszeugnis vorweisen konnten. (Eine Vereinbarung zwischen dem „Ring der österreichischen Bühnenkünstler“ und dem Deutschen Reich, demzufol- ge nur solche deutschen Künstler an konzessionierten österreichischen Theatern en- gagiert werden durften, die Mitglied der Reichstheaterkammer, also „Arier“ waren, erschwerte jüdischen BühnenkünstlerInnen die Berufsausübung auch in Österreich bereits vor 1938.) Mit der Mai-Verfassung 1934 wurde die Zensur wieder eingeführt, und zwar in Gestalt einer möglichen gesetzlichen Anordnung der „vorgängige[n] Prüfung der Presse, ferner des Theaters, des Rundfunks, der Lichtspiele und ähn- licher öffentlicher Darbietungen, verbunden mit der Befugnis der Behörde, solche Darbietungen zu untersagen“ „zur Verhütung von Verstößen gegen die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit oder gegen die Strafgesetze“ (Artikel 26, Absatz 2a). Was das Theater betrifft, wurde diese verfassungsrechtliche Vorgabe allerdings nicht in einer speziellen Zensurstelle konkretisiert; die Handhabung der Zensur lag bei der Polizei, ihr Ziel waren in erster Linie jene künstlerischen Äußerungen, die mit der Staatsdoktrin nicht konform gingen.117 Einer Ausübung von Zensur kam da- rüber hinaus die Praxis der Österreichischen Kunststelle gleich, Theatern, die für förderungswürdig erachtet wurden, nur dann eine entsprechende Unterstützung – unter anderem in Form der Abnahme großer Kartenkontingente – zuteil werden zu lassen, wenn sie sich bereit erklärten, die von ihnen ausgewählten Stücke zunächst dem Präsidenten der Kunststelle Hans Brečka zur Prüfung vorzulegen.118

117 Alfred Pfoser und Gerhard Renner fassen zusammen: „Für die Klagen über eine regelrechte und ständige Vorzensur von Theateraufführungen, wie sie vor allem aus dem Umkreis des aufblühenden Kabaretts bekannt sind, hat sich eine gesetzliche Basis nicht finden lassen. Hier bestand aber offenbar die Möglichkeit, über technische Vorschriften entsprechende Disziplinierungsprozesse in Gang zu bringen.“ Alfred Pfoser und Gerhard Renner: „Ein Toter führt uns an!“ Anmerkungen zur kulturellen Situation im Austrofaschismus. In: Aus- trofaschismus. Politik – Ökonomie – Kultur 1933–1938. Herausgegeben von Emmerich Tálos und Wolfgang Neugebauer. 5. Aufl. Wien: Lit-Verlag 2005. (= Politik und Zeitge- schichte. 1.) S. 338–356, hier S. 344. Vgl. zu dieser Fragestellung auch Horst Jarka: Zur Li- teratur- und Theaterpolitik im „Ständestaat“. In: Aufbruch und Untergang. Österreichische Kultur zwischen 1918 und 1938. Herausgegeben von Franz Kadrnoska. Wien; München; Zürich: Europa-Verlag 1981, S. 499–538. 118 Vgl. dazu detailliert Fuhrich, Zur Situation der großen Wiener Privattheater.

62 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters

In der Forschung ist vielfach diskutiert worden, inwieweit tatsächlich von einer Kulturpolitik des „Ständestaats“ gesprochen werden kann. In Bezug auf das Thea- ter ist jedenfalls zu konstatieren, dass durch die Ausschaltung der Linken, durch Kontrollmaßnahmen in den Bereichen Engagement und Spielplan, durch steuernde Eingriffe in Zuschauerflüsse (dies etwa auch im Fall des „Theaters der Jugend“), durch gezielte Erteilung von Konzessionen und Übertragung von Leitungsposi- tionen an systemkonforme Persönlichkeiten und ganz allgemein durch die Politi- sierung des „Systems“ Theater bereits seit 1933 / 34 Strukturen angelegt worden wa- ren, die die Gleichschaltung der Produktion und Rezeption von Theater durch die Institutionen des Dritten Reiches ab 1938 erleichterten.119 Nichtsdestotrotz bot der „Ständestaat“ noch Raum für eine Reihe theatraler Erscheinungen, die jenseits der etablierten Institutionen angesiedelt waren und denen erst die Implementierung der NS-Theaterpolitik in Österreich den Boden entzog: gemeint sind hier vor allem die sogenannten „49er-Bühnen“, Theater, die ohne Konzession spielten, da eine solche erst ab einer Zuschauerzahl von 50 benötigt wurde, die sich also außerhalb des für Theater gesetzten behördlichen Rahmens bewegten,120 sowie die neuen ambitionier- ten Kleinkunstbühnen wie „Der liebe Augustin“, „Literatur am Naschmarkt“, „Die Stachelbeere“ und das „Brettl im Alsergrund“ / „ABC“, die ein Forum für politische Autoren wie Jura Soyfer bildeten und mit der speziellen Gattung des „Mittelstücks“ einen Brückenschlag zum Theater unternahmen. (Die einzige avancierte Klein- kunstbühne, die in der Zeit der „Ostmark“ in Wien spielen konnte, war das „Wiener Werkel“, die „arische“ Fortsetzung der „Literatur am Naschmarkt“, die im Januar 1939 eröffnet wurde. Anita Wolfartsberger hat die Programmatik und das kritische Potenzial des „Wiener Werkel“ vor dem Hintergrund der Kompetenzstreitigkeiten zwischen den übergeordneten Institutionen des Dritten Reiches und den lokalen Funktionären und Behörden wie der Reichsstatthalterei analysiert.121) Der Einschnitt, den der „Anschluss“ Österreichs an das Dritte Reich – oder, in der Diktion ebendieses Regimes, die „Befreiung“ der „Ostmark“ bzw. die Wiederver- einigung Österreichs mit dem Deutschen Reich – im März 1938 für das Theater brachte, war ein grundlegender. Die Theater als Institutionen, die Theaterschaffen- den und das Theaterpublikum wurden in die einschlägigen Organisationsstruktu- ren des Dritten Reiches überführt. Hinsichtlich der Instrumentalisierung der wir- kungsmächtigen Kunstform Theater im Sinne der Herrschaftsideologie des Dritten

119 Dies gilt unbeschadet der Tatsache, dass etwa die in der Zeit des Austrofaschismus geför- derte, auf die Habsburger-Tradition bezogene und im Katholizismus wurzelnde Dramatik anderen Inhalten verpflichtet war als jene theatrale Produktion, mit der nationalsozialisti- sches Gedankengut verbreitet werden sollte. 120 In ihrer Dissertation über das „Theater für 49“ in Wien hat Ulrike Mayer gezeigt, dass mit den 49er-Bühnen keineswegs notwendig eine politische Opposition verbunden war. Vgl. Ulrike Mayer: Theater für 49 in Wien 1934 bis 1938 [von Hilde Haider-Pregler und Beate Reiterer zusammengestellt auf der Grundlage der Dissertation von Ulrike Mayer, 1994]. In: Verspielte Zeit, S. 138–147. 121 Vgl. dazu Anita Wolfartsberger: Das „Mittelstück“ im ‚Wiener Werkel‘. Kleinkunst im Dritten Reich zwischen Anpassung und Widerstand. Wien, Univ., Diplomarb. 2004.

63 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

Reiches erweist sich eine zusammenfassende Stellungnahme Ludwig Körners, des Präsidenten der Reichstheaterkammer122, im Deutschen Bühnenjahrbuch für das Jahr 1939 als aussagekräftig, in jenem Organ also, das die institutionelle und per- sonelle Aufstellung des deutschsprachigen Theaters Jahr für Jahr gleichsam abbilde- te. Ausgangspunkt für Körners Bericht war die 5. Reichstheaterfestwoche, die im Frühsommer 1938 in Wien stattfand. Nach den Reichstheaterfestwochen in Dres- den (1934), Hamburg (1935), München (1936) und an Rhein und Ruhr (1937) sollte diese repräsentative Veranstaltung 1938 eigentlich in Stuttgart abgehalten werden, wurde dann jedoch nach Wien verlegt (übrigens fand auch die 6. Reichstheaterfest- woche 1939 in Wien statt). Die Austragung der 5. Reichstheaterfestwoche in Wien kann als kulturelle Inszenierung eines neugeschaffenen (Macht-)Raums, nämlich des „Großdeutschen Reichs“ begriffen werden. Sie gab Körner sowie dem von ihm im Bühnenjahrbuch zitierten Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda Joseph Goebbels Gelegenheit für eine grundsätzliche Erklärung bezüglich der Posi- tion Wiens als Theaterstadt. „Wien wieder im Reich! Die 5. Reichs-Theaterfestwoche, die kulturelle Machtergreifung in der Ostmark. Die erste Reichs-Theaterfestwoche in der befreiten Ostmark fand vom 12. bis 19. Juni 1938 auf dem Boden der alten Kultur- und Kunststadt Wien statt. […] Die Reichstheaterkammer hatte es übernommen, als Vorposten des geistigen Reiches der Deutschen das Banner der völkischen Kunst aufs neue dort aufzu- pflanzen, wo die erste Verwirklichung des Nationaltheaters schon einmal die Stoßkraft gerade des deutschen Theatergedankens bewiesen hatte. Die 5. Reichs-Theaterfestwoche eroberte die befreite Ostmark nach der poli- tischen Machtergreifung nunmehr auch der deutschen Kultur. Der Stand der deutschen Bühnenschaffenden war der erste, der der neuen politischen Tatsa- che überragende Gestalt gab: Wien – – wieder im Reich! […] Die kulturelle Machtergreifung in der Ostmark: Die Kunststadt Wien darf wieder ihrer Sendung leben! ‚Selbstverständlich war es für die nationalsozialistische Kunst- und Theaterfüh- rung eine Ehrenpflicht, den Ruf Wiens als deutsche Kunst- und Theaterstadt wiederherzustellen und vor aller Welt darzutun, daß nun e i n e n e u e B l ü - tezeit im Wiener Kunstleben mit dem machtvollen Auftakt der Reichs-Theaterfestwoche anheben solle.

122 In den 1920er Jahren war Körner an einer Reihe von Wiener Bühnen in leitenden Posi- tionen tätig gewesen. Präsident der Reichstheaterkammer war er von April 1938 bis April 1942.

64 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters

Wien wieder im Reich! Wien, von nun an wieder eingefügt in den Kreis der deutschen Kunststädte, darf wieder seiner deutschen Sendung leben. Die Rückkehr in ein neues Reich hat sich vollzogen, und damit werden die Kunst und die Künstler des deut- schen Österreichs in der gesamtdeutschen Staatsführung ihre warmherzigen Beschützer und Förderer finden.‘“123 Die „Hinführung“ Wiens zu seiner „eigentlichen Sendung“ als „deutsche Kunst- und Theaterstadt“ brachte es mit sich, dass, so Goebbels, „Hunderte von artfremden jüdischen Künstlern von den Wiener Bühnen verschwanden“, während „sich natur- gemäß auch im gleichen Augenblick das dazugehörige jüdische Publikum von den Wiener Bühnen ab[wandte]“.124 Hinter dem „Verschwinden“ der jüdischen Künstler und der „Abwendung“ des jüdischen Publikums verbarg sich in Wirklichkeit eine „Säuberung“ der Theaterszene im Sinne der nationalsozialistischen Rassengesetze. Die „Arisierung“ des Theaters wurde zunächst auf der Ebene des Theaterpersonals und des Repertoires125 vollzogen, ab November 1938 waren Juden und Jüdinnen auch als Publikum bei „Darbietungen der deutschen Kultur“ nicht mehr gedul- det.126 Wie massiv sich der Ausschluss jüdischer Künstler und Theatermitarbeiter auf die Personalstruktur auswirkte, lässt sich etwa am Beispiel des Theaters in der Josefstadt nachvollziehen: hier wurden u. a. der Regisseur Paul Kalbeck, der Dra- maturg Franz Horch, seine Mitarbeiterin Maria Guttmann, die Souffleuse Lola Falikmann, der Bühnenarchitekt Maximilian Schulz, die Schauspieler Albert Bassermann, Fritz Delius, Hansjoachim Frendt, Hans Jaray, Oskar Karlweis, Karl Paryla und Ludwig Stössel sowie die Schauspielerinnen Mady Christians, Lili Darvas und Adrienne Gessner nicht mehr beschäftigt.127 Das Gewicht, das dem Theater und seinen als „deutsch“ aufgefassten Traditionen128 im Rahmen des Propaganda-Apparats des Dritten Reiches beigemessen wurde, lässt

123 Deutsches Bühnenjahrbuch. Theatergeschichtliches Jahr- und Adressenbuch. 50. Jahrgang 1939. Herausgegeben von der Reichstheaterkammer – Fachschaft Bühne. Berlin: Reichs- theaterkammer – Fachschaft Bühne 1939, S. 2 und S. 5. – Die innerhalb des Gesamtzitats mit einfachen Anführungszeichen markierten Passagen stammen aus der Rede Goebbels’. 124 Ebenda, S. 5. 125 Sowohl auf die diversen „Sonderregelungen“ für jüdische oder „jüdisch versippte“ Künst- lerInnen als auch auf die problematische Spielplansituation nach Aussonderung der von jü- dischen Dramatikern / Librettisten / Komponisten verfassten Werke kann im vorliegenden Rahmen nicht eingegangen werden. 126 Dekret des Präsidenten der Reichskulturkammer Joseph Goebbels vom 12. November 1938. 127 Den Vorgang der „Arisierung“ von Theatern im Bereich der Eigentums- und Besitzverhält- nisse hat Mirjam Langer mit einem Schwerpunkt auf dem Bürgertheater nachgezeichnet. Vgl. Mirjam Langer: Wiener Theater nach dem „Anschluss“ 1938 im Fokus nationalsozia- listischer Arisierungsmaßnahmen dargestellt am Beispiel des Bürgertheaters. Wien, Univ., Diplomarb. 2009. 128 Goebbels formulierte in der besagten Rede, „daß D e u t s c h l a n d d a s M u t t e r l a n d d e s W e l t t h e a t e r s überhaupt ist“. Deutsches Bühnenjahrbuch 1939, S. 2.

65 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

sich an der Wiener Situation auf mehreren Ebenen ablesen. Innerhalb der deut- lich ausgedünnten Theaterszene – von den drei „Alt-Wiener“ Vorstadttheatern etwa wurde lediglich das Theater in der Josefstadt bespielt,129 das Bürgertheater blieb für einige Jahre geschlossen, das vormalige Johann-Strauß-Theater wurde als Kino genutzt – galt das besondere Augenmerk des Regimes den repräsentativen Staats- theatern, die als Aushängeschilder „deutscher Kultur“ hoch subventioniert wurden; das Raimundtheater und das Deutsche Volkstheater befanden sich im Eigentum der Deutschen Arbeitsfront und deren Freizeitorganisation „Kraft durch Freude“ (Amt Feierabend), die die maßgebliche Besucherorganisation auch für weitere Wie- ner Bühnen war und mit ihrer politisch-ideologischen Aufgabe der Schaffung eines „neuen Menschen“ zweifellos ein Extrem an Publikumssteuerung darstellt; zwischen den für das Theater zuständigen übergeordneten Institutionen des Dritten Reiches und den lokalen Funktionären und Behörden wie der Reichsstatthalterei gab es an- haltende Kompetenzstreitigkeiten, wobei das Reichspropagandaministerium in die- sem Kampf um Macht und Einfluss die auf Gau-Ebene angesiedelten Ämter zuneh- mend in den Hintergrund drängen konnte. Was für das Theater im gesamten Reich galt, galt natürlich auch für Wien: die Betonung des Konzepts eines „Theaters für das Volk“ und die Funktionalisierung des Theaters als Durchhaltekunst zumal in den letzten Kriegsjahren. Mit 1. September 1944 wurde unter Bezugnahme auf die von Goebbels bereits im Februar 1943 formulierte Programmatik des „Totalen Krie- ges“ der Spielbetrieb in den Theatern des Reiches eingestellt. Bei Bombenangriffen auf Wien in den letzten Kriegswochen wurden das Burgtheater und die Staatsoper schwer beschädigt, beide Bühnen brannten aus. War das Theater in den Jahren des Anschlusses Österreichs an das Dritte Reich und hier insbesondere in den Kriegsjahren bereits ganz wesentlich als Propaganda- instrument genutzt worden, so lässt sich für die frühe Zeit der Zweiten Republik be- haupten, dass die im weitesten Sinn politische Aufladung des Theaters nun – selbst- verständlich unter völlig veränderten Rahmenbedingungen und mit einer anders gearteten Zielsetzung – noch einmal eine neue Dimension erhielt. Es wird sich in der Geschichte Wiens und Österreichs seit dem frühen 18. Jahrhundert kaum eine Zeitspanne finden, in der dem Theater eine derart herausgehobene Funktion als Medium der Identitätsstiftung und -stabilisierung zugeschrieben wurde wie in den späten 1940er und den 1950er Jahren. Von hier aus gesehen erklärt es sich, dass Lite- ratInnen wie Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek mit ihren das Medium und die Institution Theater reflektierenden kritischen Stellungnahmen zur österreichischen Geschichte und Identität als „Nestbeschmutzer“ erscheinen mussten. Was den auf das Theater bezogenen Diskurs der Nachkriegszeit betrifft, so fällt als Unterschied etwa zur Auseinandersetzung um ein „Volkstheater“ im späten 19. Jahrhundert auf,

129 Das Theater an der Wien diente in den Kriegsjahren u. a. als Drehort für zwei Produktionen der Wien-Film, mit denen dezidiert die Wiener Theatertradition beschworen werden sollte, nämlich Brüderlein fein in der Regie von Hans Thimig und Wiener Blut in der Regie von Willi Forst, letzteres eine freie Adaption der gleichnamigen Operette mit Musik von Johann Strauß, beide ein idyllisches Biedermeier-Wien beschwörend.

66 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters dass die Identität, um die jetzt gerungen wurde, die „österreichische“ und nicht in engerem Verständnis die „wienerische“ war und dass die Akteure in diesem Feld nicht mehr in erster Linie interessierte Publizisten waren, sondern dass die Berufung auf eine österreichische Identität als kulturelle und hier vor allem theaterbezoge- ne Größe zu einem staatspolitischen Argument avancierte, das gleichermaßen von den politischen Entscheidungsträgern wie von einer breiten Öffentlichkeit vertreten wurde. Der Rückbezug auf die österreichische Theater- und Musiktradition, in de- ren Hervorbringungen sich über Jahrhunderte das „österreichische Wesen“ verkör- pert habe und die zwischen 1938 und 1945 „unterdrückt“ oder „missbraucht“ wor- den sei, wurde zu einer der ideellen Grundlagen des neuen österreichischen Staates. Sowohl von alliierter als auch von österreichischer Seite wurde der „Bruch“ gegen- über dem NS-Staat betont, wobei nur in geringem Umfang auf zukunftsorientierte Innovation gesetzt, vielmehr das Wiederanknüpfen an den kulturellen Besitzstand der Zeit vor 1933 / 34 bzw. 1938 propagiert wurde. Peter Stachel hat überzeugend dargelegt, inwieweit gerade in der programmatischen Betonung einer Diskontinuität gegenüber der Nazi-Zeit die Voraussetzung für eine tatsächliche Kontinuität lag,130 insofern die Behauptung eines Bruchs eine Problematisierung von Strukturen und von persönlichen Verstrickungen überflüssig zu machen schien.131 Noch vor Kriegsende wurde in Wien auf Betreiben der sowjetischen Besatzer der Theaterbetrieb wieder aufgenommen. Von nicht nur theaterhistorischer, sondern weitreichender symbolischer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Eröff- nung des Burgtheaters (im Varietétheater Ronacher als Ausweichquartier) am 30. April 1945 mit Franz Grillparzers Sappho in einer Inszenierung aus dem Jahr 1943. Den Protagonisten der musikalischen „Wiener Klassik“ waren die ersten Aufführungen der Staatsoper in ihrem Ausweichquartier in der Volksoper132 am 1. Mai 1945 und in ihrer Hauptspielstätte der Jahre 1945 bis 1955, dem Theater an der Wien, am 6. Oktober 1945 gewidmet, nämlich Mozart mit Die Hochzeit des Figaro (UA: Hofburgtheater 1786) und Beethoven mit Fidelio (Theater an der Wien 1805). Wenn Hilde Haider-Pregler angesichts der am Burgtheater der Nachkriegs- zeit realisierten Programmpolitik konstatiert: „auch in der Folge [kam die Burg] ihrem österreichischen Auftrag vorwiegend im Produzieren von Erinnerungsbildern

130 Peter Stachel: „Das Krönungsjuwel der österreichischen Freiheit.“ Die Wiedereröffnung der Wiener Staatsoper 1955 als Akt österreichischer Identitätspolitik. In: Bühnen der Politik. Die Oper in europäischen Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert. Herausgegeben von Sven Oliver Müller und Jutta Toelle. Wien; München: Oldenbourg Verlag 2008. (= Die Ge- sellschaft der Oper. Musikkultur europäischer Metropolen im 19. und 20. Jahrhundert. 2.) S. 90 –107. 131 Für vielfältiges Daten- und Faktenmaterial u. a. zu Personal- und Spielplanfragen vgl. die Beiträge in: Zeit der Befreiung. Wiener Theater nach 1945. Herausgegeben von Hilde Haider-Pregler und Peter Roessler. Wien: Picus-Verlag 1998. 132 Zu diesem Zeitpunkt noch geführt als „Opernhaus der Stadt Wien“.

67 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

an ein längst versunkenes, imaginäres Österreich nach[…]“,133 dann darf man der Wahl der Pasticcio-Operette Das Dreimäderlhaus (1916) als Eröffnungsstück des Raimundtheaters am 30. April ebensolchen Symbolwert nicht nur für die Wie- ner Populärkultur, sondern für das Österreich-Bewusstsein insgesamt bescheini- gen: hier wurde auf die große k. u. k.-Operettentradition, auf den zum typischen „Wiener Kind“ stilisierten und auf die Überblendung von Operette und Alt-Wien-Idylle Bezug genommen, die das Wien-Bild der letzten Jahrzehnte der Monarchie entscheidend geprägt hatte. (Eine zentrale Stellung innerhalb der Wiener Theaterszene gewann das Genre Operette übrigens nach 1945 nicht mehr. Neben einer Reihe von Strukturproblemen, die bereits in den 1920er Jahren zu be- obachten waren, kam hier die nahezu vollständige Auslöschung jener Künstlerkreise zum Tragen, von der die Operette gelebt hatte und die dem nationalsozialistischen Rassenwahn zum Opfer gefallen waren. An die Stelle der Operette als massenhaft rezipiertes Medium auch eines idealisierenden Wien- und Österreich-Bildes134 trat – anknüpfend an stilbildende Werke der 1930er Jahre – eine breite Filmproduktion, zu der neben zahlreichen Operettenadaptionen u. a. Ernst Marischkas Sissi-Trilogie [1955–1957] gehört.)135 Neben den wirtschaftlichen und infrastrukturellen Rahmenbedingungen – erwähnt seien lediglich die Währungsreform 1947, die zu einem drastischen Rückgang der Zuschauerzahlen und zu einer existentiellen Krise für viele Theater führte, und der Wirtschaftsaufschwung ab den 1950er Jahren, im Zuge dessen das „Theaterfieber“ der ersten Nachkriegszeit nachließ – wirkte in der Vier-Sektoren-Stadt Wien ein komplexes Gefüge von politischen Instanzen auf die Berührung von Theater und Gesellschaft ein. So verschieden die kulturpolitischen Absichten der alliierten Mäch- te und die politisch-ideologischen Zielsetzungen der 1945 neugegründeten Parteien und Verbände im Einzelnen waren136 – die Amerikaner etwa verfolgten im Gegen- satz zu den Sowjets anfänglich einen rigiden Kurs hinsichtlich einer personellen und institutionellen Neuaufstellung in den Theatern, der Widerstreit zwischen SPÖ und ÖVP kam bei äußerlicher Wahrung eines Konsens einem neuerlichen Kulturkampf

133 Hilde Haider-Pregler: „Das Burgtheater ist eine Idee …“ Die Jahre 1945 bis 1955 – eine Zwischenzeit des österreichischen Staatstheaters?. In: Zeit der Befreiung, S. 84–122, hier S. 85. 134 Die Herausbildung einer auf Wien als städtischen Raum und idealisierte soziale Konstella- tion bezogenen Operette etwa ab 1900 ist ausführlich diskutiert in Linhardt, Residenzstadt und Metropole. 135 Zur Funktion von Musik und Theater im Rahmen der österreichischen Identitätspolitik vgl. auch Marion Linhardt: „Ein österreichischer Konsul ruft an und fragt, ob ich am künstlerischen Wiederaufbau Österreichs mitarbeiten wolle.“ – Unterhaltungsmusik und -theater im Kontext der österreichischen Identitätspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Zwischen den Stühlen. Remigration und unterhaltendes Musiktheater. Herausgegeben von Wolfgang Jansen und Nils Grosch, Druck in Vorb. 136 Eine detaillierte Analyse des „Politikfeldes Theater“ in der frühen Zweiten Republik liegt vor mit Evelyn Deutsch-Schreiner: Theater im ‚Wiederaufbau‘. Zur Kulturpolitik im öster- reichischen Parteien- und Verbändestaat. Wien: Sonderzahl 2001.

68 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters gleich –, so massiv die Propaganda der Westalliierten einerseits, der Kommunisten andererseits zumal mit Beginn des Kalten Krieges auch ausfiel und so deutlich die Verwaltung durch die Alliierten von den Österreichern als Unfreiheit empfunden wurde: die Implementierung von Strukturen, die als ‚antifaschistisch‘ gelten konn- ten, und die Idee der Wiedergewinnung eines (wie auch immer zu definierenden) ‚Österreichischen‘ waren übergeordnete Motivationen von großer Wirkmächtigkeit, denen man mit der Rückbesinnung auf die österreichische und Wiener Theatertra- dition Rechnung trug. Die breite Akzeptanz der Bereitstellung erheblicher öffentli- cher Mittel für den Wiederaufbau des Burgtheaters und der Staatsoper sogar in den Zeiten, in denen es in Wien am Allernötigsten fehlte, macht den Rang greifbar, der diesen Institutionen als Repräsentationen der „Kulturnation Österreich“ zugebilligt wurde. (Davon unberührt bleibt die Tatsache, dass die Betreiber verschiedener Thea- ter in jenen Jahren die Erfahrung machen mussten, dass es ein Gros der Besuche- rInnen eher nach gefälliger Unterhaltung denn nach kultureller Bildung verlangte.) Nicht kompatibel mit den im Wunsch nach Vergessen oder Verdrängen vereinten gesellschaftlichen Stimmungen war hingegen jenes Unternehmen, das als künstle- risch avanciertestes Wiener Theaterprojekt der Nachkriegsjahre gelten kann, näm- lich das von zurückgekehrten Exilanten initiierte, im russischen Sektor gelegene und von der KPÖ mitfinanzierte, 1948 eröffnete „Neue Theater in der Scala“ (ehe- mals Johann-Strauß-Theater), das von einer Gruppe von Sozietären unhierarchisch geführt wurde und ein internationales klassisches wie zeitgenössisches Repertoire in Aufführungen von hoher Qualität für breite Publikumskreise – organisiert im Verein „Die Theaterfreunde“ – zugänglich machen wollte. Ungeachtet der Tatsache, dass sich das Theater explizit als „in keiner Weise parteimäßig gebunden“ auswies und dass es „vor allem ein österreichisches Theater sein“ sollte,137 begegnete es von Anfang an erheblichen Widerständen, die sich mit Fortschreiten des Kalten Krie- ges zu anti-kommunistischer Diffamierung verdichteten. Im Juni 1956 musste das Neue Theater in der Scala, das sich als eine von wenigen Wiener Bühnen nicht am Brecht-Boykott138 beteiligte, aufgrund einer Verquickung finanzieller und geneh- migungspolitischer Sachverhalte schließen; letztendlich war es dem herrschenden politisch-kulturellen Klima zum Opfer gefallen.

137 Schreiben von Wolfgang Heinz als Konzessionswerber an Generaloberst Wladimir Kurassow, Vorsitzender des Sowjetsektors des Interalliierten Kontrollrates vom 19. März 1948, zitiert in Carmen-Renate Köper: Ein unheiliges Experiment. Das Neue Theater in der Scala (1948–1956). Wien: Löcker 1995, S. 42. 138 Bertolt Brecht, seit der Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft durch die National- sozialisten offiziell staatenlos, lebte seit 1948 in Ost-Berlin und galt als Sympathisant des kommunistischen Regimes. Im Frühjahr 1950 wurde ihm, befördert u. a. durch Gottfried von Einem, die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen, was bei Bekanntwerden im Herbst 1951 zu massiven öffentlichen Protesten und zu einer Kampagne sowohl gegen die für die Einbürgerung Verantwortlichen als auch gegen Brecht selbst führte. Bis in die frü- hen 1960er Jahre wurde Brecht nun – nicht zuletzt auf Betreiben Friedrich Torbergs und Hans Weigels – an den führenden Bühnen Österreichs nicht gespielt.

69 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

6. Theaterstadt Wien – für wen? Wenn man davon ausgeht, dass sich die Berührung von Theater und Gesellschaft auch und vor allem über die Räume organisiert, in denen beide aufeinandertref- fen – also über die Zugänge zu Theater –, dann wird man aus den Veränderungen

70 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters der Wiener Theatertopographie in der Zweiten Republik entsprechende Schlüsse im Hinblick auf die Position des Theaters innerhalb der Lebenswelt der zunehmend komplexer strukturierten städtischen Bevölkerung ziehen dürfen. Nachdem bereits seit den 1920er Jahren einige Theater in Wien zu Kinos umfunktioniert worden waren, kam es ab den 1950er Jahren zum Abriss einer Reihe von Privattheatern: das Carltheater wurde 1951, das Neue Theater in der Scala 1956, das Bürgertheater 1959 und das (Neue) Wiener Stadttheater 1961 demoliert. (Geplant war darüber hinaus der Abriss des Theaters an der Wien, des Raimundtheaters und des Etablissement Ronacher, jener drei Bühnen, die seit den 1980er Jahren gemeinsam als „Vereinigte Bühnen Wien“ firmieren.) Der Reduktion im Bereich des traditionellen „Spielorts“ Theater steht eine Auffächerung des Theater-Raum-Angebots in Richtung alterna- tiver Spielstätten gegenüber. Erwähnt seien an dieser Stelle nur die diversen Mu- seen, die in den letzten Jahrzehnten zum Schauplatz für Theater wurden, wie das Zwanz’ger-Haus, das Künstlerhaus und neuerdings das MuseumsQuartier,139 sowie jene Räumlichkeiten, die seit den 1950er Jahren für die Aufführungen der Aktion „Volkstheater in den Außenbezirken“ genutzt werden, wie Volksheime oder Häuser der Begegnung. Theater hat sich in Wien – wie in allen Städten mit einer ausdiffe- renzierten Theaterszene – neue räumliche Konstellationen erschlossen, was zu einer erheblichen Veränderung von Wahrnehmungs- und Rezeptionsmustern auf Seiten des Publikums geführt hat.140 Aufführungssituationen, die nicht mehr eindeutig als „theatral / theaterbezogen“ definiert und von anderen Handlungskontexten ab- gegrenzt sind, und die Hervorbringungen einer florierenden Event-Kultur sind cha- rakteristische Phänomene. Die Neuvermessung des städtischen Raums als Raum für Theater ist übrigens nicht zu trennen von der Tatsache, dass der Anteil der Wien-Be- sucherInnen am Theaterpublikum seit einigen Jahrzehnten signifikant zugenommen hat: Theater in Wien profitiert einerseits vom boomenden Städtetourismus und gilt andererseits selbst als zentrale Attraktion der Destination Wien.141

139 Derart alternative Podien hatten um und nach 1900 schon die Protagonistinnen des Freien und des Ausdruckstanzes für sich entdeckt. – Als besonders publikumswirksames semithea- trales Projekt in musealem Rahmen sei aus jüngster Zeit die Inszenierung „Ganymed Boar- ding“ im Kunsthistorischen Museum (2010) erwähnt. Vgl.: Ganymed Boarding. Schrift- steller schreiben über Meisterwerke des KHM. Herausgegeben von Jacqueline Kornmüller und Peter Wolf. Wien: Christian Brandstätter Verlag 2010. 140 Alternative Spielstätten sind zwar in erster Linie ein Kennzeichen der Freien Szene, doch auch die angestammten Wiener Theater haben in den letzten Jahrzehnten vermehrt ihre eigentlichen Theatersäle verlassen und Inszenierungen / Projekte jenseits des traditionellen Guckkastenprinzips realisiert. 141 Für aktuelle Thesen zum Zusammenhang von Theater und Volkswirtschaft vgl. Bernhard Felderer, Ulrich Schuh, Alexander Schnabel, Daniela Grozea-Helmenstein, Sandra Müllba- cher und Sigrid Stix: Prüfung der Bundestheater bezüglich der ökonomischen Wirkungen in Wien und in Gesamtösterreich (Bericht zur Studie des Instituts für Höhere Studien, Wien, im Auftrag der Wirtschaftskammer Wien), 2008: http://www.bmukk.gv.at/medien- pool/16792/bundestheater_oekw.pdf [15.12.2009], sowie Eva Häfele, Andrea Lehner und Veronika Ratzenböck: Die wirtschaftliche Bedeutung von Kultur und Creative Industries: Wien im Städtevergleich mit Barcelona, Berlin, London, Mailand und Paris (Österreichi- sche Kulturdokumentation. Internationales Archiv für Kulturanalysen, im Auftrag der

71 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

Mit der Frage nach Räumen für Theater ist neuerlich die Frage nach dem Selbst- verständnis und der Funktion von Theater aufgeworfen, und dies führt auf zwei gegenläufige Tendenzen, von denen das Theater in Wien in der Zweiten Republik gekennzeichnet war und ist: gemeint sind zum einen die Kumulation von Traditio- nen, zum anderen Bestrebungen, sich dieser Kumulation zu erwehren – zwei Ten- denzen, die selbstredend höchst unterschiedliche Bewertungen in der Öffentlichkeit erfuhren und auch hinsichtlich ihrer Breitenwirkung nicht zu vergleichen sind. In die mittleren 1950er Jahre fallen zwei Erscheinungen, die diese Tendenzen – in ihrer extremen Ausprägung – paradigmatisch vertreten, nämlich die Wiedereröff- nung des Burgtheaters und der Staatsoper in ihren angestammten, unter Aufbrin- gung bedeutender Mittel neu errichteten Gebäuden an der Ringstraße im Jahr des Staatsvertrags und die ersten Aktionen der später so genannten „Wiener Gruppe“, deren Projekte und Performances einen maßgeblichen Beitrag zur internationalen Nachkriegsavantgarde darstellen. Die Entstehung der „Wiener Gruppe“ verdankt sich nicht zuletzt dem progressiven Milieu des 1947 gegründeten Wiener Art-Club, dessen Versammlungsort, der als „Strohkoffer“ bekannte Keller unter der Loos-Bar im Kärntner Durchgang, auch für die Mitglieder der „Wiener Gruppe“ zum Be- zugspunkt wurde. Die Gemeinschaftsproduktionen der „Wiener Gruppe“, als de- ren wichtige Merkmale die Entgrenzung der Künste und eine radikale Abkehr von der Abbildfunktion von Kunst gelten können, bedienten sich verschiedenster Öf- fentlichkeiten: Der „premier acte poétique“ unter dem Titel Une soirée aux amants funèbres (August 1953) etwa bestand in der Inszenierung einer Prozession entlang symbolträchtiger Orte Wiens, machte also den städtischen Raum gleichsam zum Schauplatz und die Passanten zu potenziellen Mitspielern und Zuschauern. Es folg- ten Aktionen und Feste im engen Rahmen von Klubveranstaltungen (u. a. in dem von H. C. Artmann in der Ballgasse betriebenen „franciscan catacombes club“) und die „konstituierende“ Versammlung der Gruppe mit dem Programm dichtung in Gerhard Bronners Intimem Theater in der Liliengasse (Juni 1957). Zwei literari- sche cabarets, die dem Namen nach an ein vertrautes Genre anknüpften, ohne im allergeringsten die damit verbundenen Erwartungen zu erfüllen – legendär ist die Zertrümmerung eines Flügels als Programmnummer des zweiten cabaret –, wur- den in einem Saal des „Clubs bildender Künstler Alte Welt“ in der Windmühlgasse (Dezember 1958) bzw. im gewerkschaftseigenen Porr-Haus in der Treitlgasse (April 1959) realisiert. Die Lesung aus der Dialekt-Anthologie hosn rosn baa (Friedrich Achleitner, H. C. Artmann, Gerhard Rühm) im Mozart-Saal des Wiener Konzert- hauses innerhalb der Reihe „Die berühmte Stimme“ (Dezember 1959) schließlich gewann ihr ästhetisches Potenzial nicht zuletzt aus der Einbeziehung der Erwar- tungshaltung des Publikums, die durch den gewählten räumlichen Kontext, einen Ort hochkultureller Tradition,definiert war. Der Widerspruch von Erwartungs-

Stadt Wien, MA 27, EU-Strategie und Wirtschaftsentwicklung), 2005: http://www.kultur- dokumentation.org/download/ci_vergleich_wien.pdf [15.12.2009].

72 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters haltung und künstlerischem Ereignis löste bei zahlreichen BesucherInnen Empö- rung und massiven Protest aus.142 Begreift man die Produktionen der „Wiener Gruppe“ als ein Beispiel für jene thea- trale / semitheatrale Kunst, die sich in Wien seit den späten 1940er Jahren dezidiert von dem traditionsgesättigten Deutungsmuster der „Theater- und Musikstadt Wien“ und seinen ideologischen wie ästhetischen Implikationen abgrenzte – zu erwähnen sind hier weiterhin so unterschiedliche Initiativen wie das Studio der Hochschulen (ab 1945) und seine Nachfolgeorganisationen, Leon Epps ambitioniertes Unterneh- men „Die Insel in der Komödie“ (Johannesgasse, 1945–1951), die Kleinkunstbühne „Der liebe Augustin“ (ab 1945) und das aus ihm hervorgegangene „Theater der Cou- rage“ (ab 1948) im Souterrain des Café Prückel (Biberstraße),143 die Programme des sogenannten „namenlosen Ensemble“ um Helmut Qualtinger, Gerhard Bronner, Georg Kreisler und Carl Merz sowie jene Projekte und Konzepte, die für gewöhn- lich unter den Begriff „Wiener Aktionismus“ subsumiert werden –, begreift man die Kunst der „Wiener Gruppe“ also in diesem Sinn, dann bildet sie den Gegenpol des (Theater-)Kunstverständnisses, das in der Inszenierung des Topos „Theater- und Musikstadt“ anlässlich der Wiedereröffnung der beiden traditionsreichen Bühnen am Ring (Burgtheater: 14. / 15. Oktober 1955; Staatsoper: 5. November 1955) de- monstriert wurde.144 Der enge zeitliche Zusammenhang zwischen dem Abzug der alliierten Mächte im Oktober 1955 als Konsequenz aus dem Staatsvertrag betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich (Mai 1955) und der Wiedergewinnung der beiden ‚ersten‘ Häuser erzwang geradezu eine sym- bolische Deutung. Die politische „Befreiung“ Österreichs und die „Neubelebung“ zweier exemplarischer Stätten österreichischer Theater- und Musikpflege fügten sich zu einer identitätsstiftenden Ereignisfolge von beinahe mythischer Qualität.145 Un- ter Ausblendung des Austrofaschismus und der Jahre des Nationalsozialismus wur- de nun eine neue Erzählung des „Österreichischen“ als eines Wesenhaften möglich, das über Musik und Theater definiert wurde und dem gleichermaßen eigenständig- charakteristische wie universale Züge eigneten. Verlässt man diese identitätspoliti- sche Perspektive und fragt, welche unmittelbar auf die gesellschaftliche Anbindung von Theater bezogenen Konsequenzen sich aus der beschriebenen Kumulation von Traditionen ergeben haben, so rückt neuerlich der Bereich des Fremdenverkehrs in den Blick. Diejenigen Ausprägungen von Theater, die einen starken Traditionsbezug aufweisen (sei es als Institution wie im Fall des Burgtheaters und der Staatsoper,

142 Eine breit angelegte Auseinandersetzung mit den Auftritten der „Wiener Gruppe“ findet sich neuerdings in: verschiedene sätze treten auf. Die Wiener Gruppe in Aktion. Herausge- geben von Thomas Eder und Juliane Vogel. Wien: Zsolnay 2008. (= Profile. 15.) 143 Sowohl mit der „Insel“ als auch mit dem „Lieben Augustin“ wurde an avancierte Theater- initiativen der Zeit vor 1938 angeknüpft. 144 Als Eröffnungsstücke wurden Grillparzers König Ottokars Glück und Ende resp. Beethovens Fidelio gewählt. 145 Vgl. hierzu die genaue Analyse bei Stachel, „Das Krönungsjuwel der österreichischen Freiheit.“

73 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

sei es in Gestalt eines Genres wie der Operette oder herausgehobener Künstler- persönlichkeiten wie Wolfgang Amadeus Mozart und Johann Strauß), stellen ein konstitutives Element des „kaiserlichen Wien“ dar, dem das Gros der internationa- len BesucherInnen der Hauptstadt der Zweiten Republik Österreich noch immer nachspürt. Die Kumulation von Traditionen ist also eine wesentliche Voraussetzung für die Anziehungskraft der Marke „Theater- und Musikstadt Wien“ und als solche Gegenstand einschlägiger Werbestrategien auch im 21. Jahrhundert.

Die Bedeutungsschichten, die sich am Burgtheater im Laufe von mehr als 200 Jah- ren angelagert hatten und die es – als ganz besondere Kumulation von Traditionen – zu einer Bastion österreichischer Hochkultur, zum Ort der kulturellen Selbstver- gewisserung Österreichs und Wiens hatten werden lassen, sind die Folie, vor der die wohl tiefgreifendste österreichische Theaterkontroverse der Zweiten Republik zu sehen ist, nämlich die Auseinandersetzung mit der Burgtheater-Direktion des Deut- schen Claus Peymann (1986–1999) und hier vor allem mit der Produktion von Tho- mas Bernhards Heldenplatz, einem Auftragswerk, dessen Uraufführung 1988 sich gleichermaßen auf das hundertjährige Bestehen des neuen Burgtheaters am Ring wie auf die 50. Wiederkehr des „Anschlusses“ Österreichs an Nazi-Deutschland beziehen ließ. Peymanns Direktion wird retrospektiv als eine zwar an (kultur-)po- litischen Debatten reiche und von grundsätzlichen hausinternen Unstimmigkeiten geprägte, gleichwohl künstlerisch weitgehend überzeugende Ära bewertet, die dem Wiener und dem internationalen Theater vielfältige Impulse gegeben hat: Peymann verpflichtete herausragende Regisseure, brachte zeitgenössische österreichische Au- torInnen wie Bernhard, Peter Turrini, Elfriede Jelinek und Peter Handke zur Ur- aufführung und machte das Burgtheater in einem bis dahin unbekannten Ausmaß zum Ort gesellschaftlicher Debatten. Diese gemäßigte Sicht entspricht nicht der Wahrnehmung der 1980er und 1990er Jahre. Peymanns Direktion war von großen Skandalen begleitet, als deren erster vielen ÖsterreicherInnen bereits die Tatsache erscheinen musste, dass ein Deutscher an der Spitze dieses „Tempels österreichischer Kultur“ stand – begleitet von einer ganzen Reihe von Mitarbeitern, die Peymann in seinen Stuttgarter und Bochumer Jahren um sich versammelt hatte und mit denen das Stammensemble des Burgtheaters nun konfrontiert war. Zum Skandal wurden zahlreiche von Peymann als Direktor oder Regisseur verantwortete Inszenierungen, die ihm wüste Beschimpfungen und Negativkampagnen in den Medien einbrach- ten. Zum Skandal wurde aber vor allem die Politisierung von Theater, die Peymann als Person und als verantwortlicher Direktor bewusst betrieb. In diesen Kontext gehören die jedes Maß überschreitenden Reaktionen, die die Aufführung von Bern- hards Heldenplatz auslöste. Peymann hatte bereits vor seiner Berufung an das Burg- theater zahlreiche Theaterarbeiten des als „Nestbeschmutzer“ und „Vaterlandsver- räter“ geschmähten Bernhard uraufgeführt (so etwa bei den Salzburger Festspielen und am Bochumer Schauspielhaus). Heldenplatz nun konfrontierte ausgerechnet

74 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters

in jenem Medium, auf das Österreich seine Identität als Kulturnation wesentlich gründete, nämlich im Medium Theater, und an jenem Ort, der die österreichischen kulturellen Traditionen wie kaum ein anderer repräsentiert, nämlich im Burgthea- ter, dieses Österreich mit einer historischen Schuld, mit den Strategien, die der Ver-

75 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

drängung dieser Schuld gedient hatten, und mit den psychischen, sozialen und po- litischen Konsequenzen der Verdrängung. Drei Jahre, nachdem Elfriede Jelineks radikaler Kommentar zur Position der Schauspieler-Dynastie Wessely / Hörbiger im Kulturbetrieb des Dritten Reiches, die „Posse mit Gesang“ Burgtheater, in Bonn uraufgeführt worden war, zwei Jahre, nachdem die Affäre Waldheim offensichtlich gemacht hatte, dass eine Aufarbeitung der Rolle Österreichs im Dritten Reich auf breiterer Basis bislang völlig unterblieben war, brachte Peymann mit Heldenplatz in der Burg ein Stück heraus, dessen Gültigkeit gerade jene unter Beweis stellten, die mit verbalen oder physischen Attacken gegen das Stück und seine Inszenierung vor- gingen. Seit den frühen Jahren der Zweiten Republik existierten in Wien, so wurde deutlich, mit der Berufung auf Traditionen einerseits und der Distanzierung von der kon- servativen Kulturhoheit andererseits zwei Modi eines Zugriffs auf die Kunstform und die Institution Theater nebeneinander, die mit entsprechend unterschiedlichen Auffassungen bezüglich der gesellschaftlichen Funktion von Theater verbunden -wa ren. Was die Publikumsrelevanz betrifft, lassen sich den beiden Positionen vorder- gründig die Befriedigung eines als „bildungsbürgerlich“ zu klassifizierenden Kul- turbedürfnisses und der erwähnte Effekt im Bereich Wien-Tourismus hier und eine vom Ziel der Dezentralisierung von Kultur getragene kleingliedrige Erschließung des sozialräumlichen Gefüges „Stadt“ für szenische Kunst sowie eine Aktivierung von Theater im Hinblick auf gesellschaftliche Prozesse dort zuordnen. Im Wider- streit der Interessen, in dem sich, stark vereinfacht gefasst, auch das Spannungsver- hältnis von institutionellem Kernbestand und Freier Szene abbildet, avancierte die Kategorie (öffentliche) Finanzierung bald zum entscheidenden Gradmesser für die politische Dimension des Theaters.146 Der diskursive Rahmen für die Produktion und Rezeption von Theater – in welchem Ausmaß und auf welchem Weg wird eine Demokratisierung von Theater angestrebt? Worauf bezieht sich der Bildungsauftrag von Theater? Welche Bedeutung besitzt die sogenannte „Hochkultur“? Wer definiert sie? Welchen Rang im „öffentlichen Interesse“ nimmt das Theater ein? Welche -Er scheinungsformen von Theater sind (aus Bundes-, Landes- oder Gemeindeperspek- tive, aber auch von der Warte privater Sponsoren aus) förderungswürdig? Welche Aufgaben hat Theater in einer Großstadt des späten 20. und des 21. Jahrhunderts? In letzter Konsequenz: für wen soll und kann Wien eine Theaterstadt sein? – wird in einer Zeit, in der sich Theater nicht mehr selbst trägt,147 ganz wesentlich dort abgesteckt, wo über die Bereitstellung finanzieller Ressourcen verfügt wird. Finanzhoheit ist,

146 Für Thesen zu diesem Themenkomplex vgl. Gerhard Ruiss: „Bei aller Wertschätzung – aber das da!“ Kulturpolitik in Selbstverwaltung. In: … mit beschränkter Haftung. Theater m. b. H. und Theaterpolitik im Wien der 80er und 90er Jahre. Herausgegeben von Evelyn Deutsch-Schreiner und Gerhard Ruiss. Wien; Bozen: Folio-Verlag 2003, S. 7–13. 147 Dies war den Privattheatern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts durchaus möglich, ins- besondere natürlich aufgrund der ungleich geringeren Personalkosten. Die überaus prekäre wirtschaftliche Situation der BühnenkünstlerInnen, die nicht zu den Stars dieses oder jenes Hauses zählten, ist vielfach dokumentiert.

76 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters was das Theater betrifft, heute mehr denn je auch Deutungshoheit, ein Sachverhalt, den zwei Erscheinungen der jüngsten Zeit in besonderer Weise ins öffentliche Be- wusstsein gerückt haben: die Rede ist von der „Musical-Krise“ und von der von Kul- turstadtrat Andreas Mailath-Pokorny initiierten und 2004 verabschiedeten „Wiener Theaterreform“. Obwohl oder vielleicht gerade weil sich die Wiener Theaterreform ausschließlich auf die Mittel- und Kleinbühnen und die Freie Szene bezieht, ist sie von der aktuellen Entwicklung im Bereich Musical, für das die Vereinigten Bühnen Wien stehen, nicht zu trennen. Ziel der Theaterreform war und ist es, die Wiener Theaterlandschaft über den Weg einer grundlegenden Reform der Prinzi- pien der Subventionsvergabe neu zu strukturieren. Das von der Gemeinde bereit- gestellte Budget wird seither auf eine wesentlich schmalere Auswahl von Theatern / Theatergruppen verteilt als zuvor.148 Ursprünglich von Theaterschaffenden und von sämtlichen im Gemeinderat vertretenen Parteien begrüßt, geriet die Theaterreform sowohl hinsichtlich ihrer inhaltlichen Ausrichtung als auch hinsichtlich verfahrens- technischer Fragen rasch in die Kritik. Die Entscheidungsprozesse im Vorfeld der Mittelvergabe – Wie werden die Gremien besetzt, die entscheiden? Welche sachli- chen Kriterien liegen den Entscheidungen zugrunde? – werden vielfach als zu wenig transparent wahrgenommen, de facto haben seit Inkrafttreten der Theaterreform zahlreiche Wiener Theaterinitiativen und -projekte ihre Existenzgrundlage verlo- ren. Dieser für viele Theaterschaffende prekären Situation stehen die exorbitanten Summen gegenüber, die die Stadtgemeinde Wien mittels der Wien Holding in den Betrieb der Vereinigten Bühnen Wien, in die betreffenden Managergehälter und in Beraterhonorare investiert, eine Praxis, die zumal angesichts des Misserfolgs einer ganzen Reihe neuerer Musical-Produktionen (darunter Wake Up, 2002, und Bar- barella, 2004, vor allem aber The Producers, 2008, und Frühlings Erwachen, 2009) zunehmend problematisiert wird. Während die derzeitigen Verantwortlichen149 der VBW wie der geschäftsführende Direktor Thomas Drozda die Höhe der benötigten Subventionen mit der Erzielung einer erheblichen Umwegrentabilität und mit der Bereitstellung eines Theaters für breite Massen rechtfertigt und darüber hinaus eine internationale Strukturkrise des Entertainment und die wirtschaftlichen Unsicher- heiten gerade in jenen Schichten, aus denen sich das Musical-Publikum rekrutiert, ins Feld führt, deutet das tatsächliche Besucherverhalten in eine andere Richtung: Musicals, die in den 1980er und 1990er Jahren am Theater an der Wien (seit 2006 nicht mehr Musical-Bühne, sondern „Theater an der Wien – das neue Opernhaus“) und am Raimund Theater Blockbuster-Qualitäten bewiesen hatten – wie etwa Cats oder Das Phantom der Oper –, sind in Wien an alternativen Spielstätten wie in der Stadthalle und in Produktionen von eher geringer Qualität nach wie vor Publi- kumserfolge. Die neuere Musical-Ästhetik der Vereinigten Bühnen Wien hingegen,

148 Eine ausführliche Darstellung der Vorgeschichte wie der Wirkung der Theaterreform findet sich bei Isabella Feimer: Die Wiener Theaterreform. Veränderung und Umstrukturierung der Wiener Theaterlandschaft, 2003 bis 2006. Wien, Univ., Diplomarb. 2007. 149 Die hier skizzierten Thesen sind von der Warte des Jahres 2010 aus formuliert.

77 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

hoch subventioniert mit öffentlichen Mitteln, vermag das große Publikum nicht mehr anzusprechen. Der Zusammenhang zwischen der Finanzierung und den Zugänglichkeiten von Thea- ter, wie er an den Beispielen der Theaterreform und der Musical-Krise evident wird, führt noch einmal zurück in die 1950er Jahre und an den Beginn zweier Veranstal- tungskonzepte, die für das Theater in Wien bis in die Gegenwart großes Gewicht haben, nämlich die Wiener Festwochen und das „Volkstheater in den Außenbezir- ken“. Beide Reihen stehen bei genauer Betrachtung gleichsam quer zu geläufigen Oppositionspaaren wie „Tradition vs. Innovation“, „Hochkultur vs. Populärkultur“, „Establishment vs. Gegenkultur“ oder fordern zumindest zu einer Hinterfragung derartiger Etikettierungen heraus. Mit den Wiener Festwochen, 1951 erstmalig nach dem Krieg veranstaltet, wurde unter veränderten Vorzeichen an eine bereits zwi- schen 1927 und 1937 bestehende gleichnamige Reihe angeknüpft. Die programma- tischen Verlautbarungen im Vor- und Umfeld der ersten Nachkriegsfestwochen, für die der weitreichende Titel „Unsterbliches Wien“ gewählt worden war, sind, sofern sie auf die symbolische Aufladung von Musik und Theater bezogen waren, durchaus je- nen vergleichbar, die in Zusammenhang mit der Wiedereröffnung der Staatstheater 1955 getätigt wurden. Österreich suchte sich mit den Festwochen auf internationa- lem Terrain als Kulturnation zu positionieren, Wien wurde als „Welthauptstadt der Musik“ beworben.150 Seither hat sich das Erscheinungsbild der Wiener Festwochen mehrfach und grundlegend gewandelt. Ursprünglich als kulturelles Aushängeschild Österreichs konzipiert, das nicht zuletzt der Selbstvergewisserung diente, bemühten sich die Festwochen im Laufe der Jahrzehnte in ausgeprägtem Maß um Internatio- nalisierung und institutionelle Öffnung und erheben heute den Anspruch, Impul- se für künstlerische Innovationen zu geben und aktuelle gesellschaftliche Prozesse adäquat zu reflektieren, ja im Medium der Kunst selbst dazu Stellung zu beziehen. So unterschiedlichen Einschätzungen die Wiener Festwochen in den Jahrzehnten ihres Bestehens begegnet sind: für den vorliegenden Kontext – also für die Frage, für wen Wien in der Zweiten Republik eine lebendige Theaterstadt war und ist – ist ent- scheidend, dass die Festwochen als Ereignisrahmen, innerhalb dessen der Repräsen- tation von Tradition(en) auch längerfristig ein bedeutender Rang zukam, zugleich Raum für Projekte der Avantgarde boten, die neue Publikumskreise zu erschließen vermochten und zugleich das Potenzial für heftige gesellschaftliche Kontroversen in sich trugen. Prägnante Beispiele hierfür sind die von den Festwochen unter der Intendanz Ulrich Baumgartners ausgehende Arena-Bewegung der 1970er Jahre und Christoph Schlingensiefs Container-Aktion Bitte liebt Österreich! – Erste europäische Koalitionswoche von 2000. Die Initiatoren der ersten Nachkriegsfestwochen hatten den Anspruch formuliert, ein Festival für alle Wienerinnen und Wiener bieten zu wollen, ein Gedanke, der

150 Einen materialreichen Überblick über die Geschichte der Wiener Festwochen gibt der Ju- biläumsband Wiener_Festwochen_1951–2001_Ein Festival zwischen Repräsentation und Irritation. Salzburg; Frankfurt am Main; Wien: Residenz-Verlag 2001.

78 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters wohl in erster Linie in den seit 1955 vom Wiener Volksbildungswerk verantworteten Bezirksfestwochen (seit 2009 unter dem neuen Label „Wir sind Wien – Festival der Bezirke“) Realität geworden ist. Die stadträumliche Implikation dieses Ansatzes, nämlich Theater / Kultur nah an ein Publikum heranzuführen, das den innerstäd- tischen Institutionen aus verkehrstechnischen, finanziellen, soziostrukturellen oder sonstigen Gründen fernbleibt, lag und liegt auch der Aktion „Volkstheater in den Außenbezirken“ zugrunde, die seit 1953 von leitenden Persönlichkeiten der Wiener Arbeiterkammer und des ÖGB konzipiert wurde und im Jänner 1954 im Franz- Novy-Heim in Stadlau mit einer Aufführung von George Bernard Shaws Komödie Helden durch Mitglieder des Volkstheater-Ensembles ihre Tätigkeit aufnahm. Bis heute kann die Aktion (bei gewandelten Finanzierungsmodellen) Theaterkarten zu konkurrenzlos niedrigen Preisen anbieten. Anknüpfend an aufklärerische Positio- nen zur Funktion des Theaters und an Ideen für die kulturelle Bildung der Arbei- terklasse, wie sie bereits im frühen 20. Jahrhundert diskutiert worden waren, umriss Karl Mantler, Präsident der Arbeiterkammer, im Programmheft zur ersten Auffüh- rung die Ziele der Aktion wie folgt: „Eine der bedeutendsten kulturellen Einrichtungen der Gesellschaft – das Theater – soll den arbeitenden Menschen Wiens in einer ihrer Lebensweise ge- mäßen Form näher gebracht werden. Das Theater, uralter Quell der Freude, der Entspannung und der geistigen und sittlichen Erhebung, verlässt seinen festen Bau, in den es eine vergehende Ordnung versperrt hielt, und kommt zum Volk. Die Arbeiterkammer Wien macht einen ersten Schritt auf dem Weg zu einer neuen Theaterkultur; er soll die Kluft überbrücken helfen, die zwischen Kunst und Volk klafft. Es soll ein Anfang sein in dem Bemühen, das Bedürfnis der arbeitenden Menschen nach einer nicht alltäglichen Welt des Schönen, Erhabe- nen und Unvergänglichen zu erfüllen.“151 Angesichts der Charakterisierung des Kulturbedürfnisses des „Volkes“, die hier vor- genommen wird, scheint es mir besonders interessant, dass Felix Hubalek, seinerzeit Kulturredakteur der Arbeiter-Zeitung, seiner Beschreibung des Publikumsverhaltens während der Stadlauer Premiere eine Argumentationsfigur zugrunde gelegt hat, die an Johann Pezzls Beschreibung des Sonntagspublikums aus dem frühen 19. Jahr- hundert erinnert. Pezzl hatte 1805 festgehalten: „An solchen Tagen gehen nämlich die geringeren Bürgersleute, die kleineren Beamten und Hausofficiere, und man- cherley Menschenclassen hinein, für die das Theater nicht bloßer Conversations- Platz oder Asyl gegen die Langeweile ist, wie für das reichere Publicum, sondern wirklicher Genuß und hinreissende Täuschung“.152 Hier werden soziale Klassen und spezifische Rezeptionshaltungen zueinander in Beziehung gesetzt, und zwar der-

151 Zitiert nach Franz Mrkvicka: Ein Theater besucht sein Publikum. In: Lessing siegt am Stadtrand. 50 Jahre Volkstheater in den Außenbezirken. Herausgegeben von Elisabeth Brugger und Frank Michael Weber. Wien: Verband Wiener Volksbildung 2005, S. 23–42, hier S. 28. – Mit Lessing siegt am Stadtrand liegt eine überaus informative Gesamtdarstel- lung zu den ersten 50 Jahren der Aktion vor. 152 Pezzl, Neue Skizze von Wien, S. 131–132 (vgl. oben ausführlicher).

79 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

gestalt, dass gerade die gebildeten / gehobenen Kreise, die das Gros des Publikums ausmachen, vom Theaterereignis weitgehend unberührt bleiben, während sich dem „einfachen“ Publikum im Theater ein wirkliches Erlebnis darbietet. 150 Jahre nach Pezzl konstatierte Hubalek: „Und es war gutes Theater, das da bei der Premiere in Stadlau gespielt wur- de. Bei einer Premiere nicht vor überlegen-übersättigten Premierentigern, sondern vor dem aufnahmsbereitesten, aufgeschlossensten und dankbarsten Publikum, das sich ein Theater nur wünschen kann, vor den arbeitenden Menschen des Volkes von Wien. […] Man ging mit, da unten in Stadlau“.153 Hubaleks Gegenüberstellung des gleichsam „unverdorbenen“ Publikums der Au- ßenbezirke, dem die Erlebnisfähigkeit noch nicht abhanden gekommen ist, mit dem Bild kulturellen Überdrusses, mit dem sich der blasierte Intellektuelle ebenso assoziieren lässt wie der wohlbestallte Bürger, besitzt noch den Anhauch des Klas- senkämpferischen. Tatsächlich jedoch war es die bürgerliche Hochkultur, an die die Bewohner der Arbeiterbezirke mit dem Angebot des Volkstheaters herangeführt werden sollten. In den 55 Jahren des Bestehens der Aktion „Volkstheater in den Außenbezirken“ („Volkstheater in den Bezirken“) – aktuell, also in der Spielzeit 2011 / 12, bespielt das Volkstheater Säle u. a. in Favoriten, Simmering, Meidling, Hietzing, Penzing, Rudolfsheim-Fünfhaus, Ottakring, Döbling, Brigittenau, Floridsdorf, Donaustadt und Liesing – haben sich die Bedingungen dieses Theaters in vieler Hinsicht ge- wandelt. Verbesserte Verkehrsanbindungen und eine verkürzte tägliche Arbeitszeit haben die Bewohner der zentrumsfernen Bezirke den innerstädtischen Theatern ten- denziell nähergerückt, doch im Kontext alternativer Freizeitangebote muss sich der Attraktionswert von Theater immer wieder neu beweisen. Was für das „Volkstheater in den Bezirken“ gilt, gilt in vergleichbarer Weise für sämtliche Erscheinungsfor- men des Theaters: die Entwicklung des Fernsehens zum Leitmedium ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, später eine sich zunehmend ausdifferenzierende Event- Kultur waren und sind gravierende Herausforderungen für Theatermacher.

7. Ein Mythos In seiner 2009 erschienenen Habilitationsschrift Der Geschmack von Wien geht Lutz Musner maßgeblichen konstituierenden Elementen des Selbst- und Fremdbildes der Stadt Wien nach.154 Anhand unterschiedlicher Materialkomplexe, die sich zu visuellen, literarischen, musikalischen bzw. musikkulturellen und alltagskulturel- len Repräsentationen der Stadt fügen, nähert er sich dem „Habitus“ von Wien und der „Geschmackslandschaft“ Wien an. Musners subtile Analysen und theoretische Reflexionen lassen sich auf eine ganz grundsätzliche Frage zurückführen: es ist die

153 [Felix] Hubalek: Die „Helden“ von Stadlau. In: Arbeiter-Zeitung, 8. Jänner 1954, S. 4. 154 Lutz Musner: Der Geschmack von Wien. Kultur und Habitus einer Stadt. Frankfurt am Main; New York: Campus Verlag 2009. (= Interdisziplinäre Stadtforschung. 3.)

80 Marion Linhardt: Sozialgeschichte des Wiener Theaters

Frage nach dem Zusammenhang von „Zuschreibung“ und „Realität“, zweier Kate- gorien, die bekanntermaßen ihrerseits Konstruktcharakter besitzen. Für das Image der Stadt Wien, das sich als Kumulation von Bedeutungszuweisungen aus verschiedenen geschichtlichen Kontexten darstellt, spielt das von Musner nur am Rande thematisierte Theater eine wesentliche Rolle. Die Vorstellung von Wien als „Theaterstadt“, wie sie zu Beginn des vorliegenden Beitrags eingeführt wurde, konkretisiert sich dabei gegenwärtig auf wenigstens zwei Ebenen: nach außen trägt sie zur Attraktivität Wiens als Ziel von Städtereisen bei, nach innen führt sie zu ei- ner ausgeprägten Identifikation der Wiener und Wienerinnen mit dem Theater, die in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Frequenz von Theaterbesuchen steht. Eine Antwort auf die Frage, worauf sich der besondere Rang gründet, den das Theater im Selbstbild Wiens und der Wiener einnimmt – oder anders formuliert, warum sich in Wien ein bis heute fortgeschriebener Mythos „Theaterstadt“ herausgebildet hat, für den es in den übrigen europäischen Theatermetropolen wie Paris oder London kein Pendant gibt –, eine Antwort auf diese Frage lässt sich nur in der Geschichte Wiens und seines Theaters, nicht in seiner Gegenwart finden. Lutz Musner hat u. a. für die „Stadtlandschaft“ Wien und für die „Musikstadt“ Wien die Funktionsmecha- nismen und die Stabilität von Deutungstraditionen beschrieben. Was das Theater betrifft, wäre die These zu formulieren, dass zwar die Begründungszusammenhänge, die zur Entstehung des Mythos „Theaterstadt“ Wien im 18. Jahrhundert wie zu seiner Fortschreibung, Modifikation und Instrumentalisierung im 19. und frühen bis mittleren 20. Jahrhundert geführt haben, für die aktuelle Wahrnehmung von Theater keine Relevanz mehr besitzen; als Teil des Selbstbildes von Wien ist dieser Mythos nach weit mehr als 200 Jahren programmatischer Reflexion über das Thea- ter und seine Bedeutung für die Stadt gleichwohl fest im Diskurs verankert. Dazu dürfte nicht zuletzt beigetragen haben, dass gerade das 20. Jahrhundert, also die jüngere Vergangenheit, von politischen Konstellationen bestimmt war, die für Wien und Österreich eine dezidierte Hinwendung an seine Theatertradition quasi über- lebensnotwendig machten: gemeint sind der Zerfall der Donaumonarchie und der (vorübergehende) Verlust politischer Autonomie ab 1938 bzw. 1945. Insbesondere das Burgtheater als die „erste“ Bühne des deutschsprachigen Raums vermochte der „Kulturstadt“ Wien Gewicht gegenüber Deutschland zu verleihen. Das dramatische und kompositorische Erbe, für das das Burgtheater und die Oper, aber auch das Theater in der Josefstadt einstanden, bot eine Gewähr für die Behauptung des „Ös- terreichischen“ gegenüber den Besatzungsmächten. Theater in Wien wurde in den betreffenden Zeitabschnitten also zu einem entscheidenden Medium der Identitäts- stabilisierung und – wie es das bereits seit langer Zeit gewesen war – Gegenstand der Rede. Diese Rede über Theater findet sich in Wien bis heute, obwohl das Theater für das Leben und das Freizeitverhalten der Bevölkerungsmehrheit tatsächlich von geringer Relevanz ist.

81 Zeitgenössische Berichte: Wiener Vergnügungen des 18. und 19. Jahrhunderts Die hier vorgelegte kleine Auswahl an Berichten und Artikeln aus dem 18. und 19. Jahrhundert bedarf der Begründung. Es handelt sich fast ausnahmslos um Tex- te, die sich öffentlichen Belustigungen und Schaukünsten jenseits des „regulären“ Theaters widmen, also solchen Praktiken, die neuerdings verstärkt in den Blick einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Forschung rücken. Die Art und Weise, wie diese Belustigungen von Zeitgenossen beschrieben wurden, war in der Regel von einem Theater- und Kulturkonzept geprägt, das um Ideale von moralischer, sozialer und ästhetischer Bildung kreiste; dementsprechend kritisch fielen unter Umständen die Kommentare zu Vergnügungspraktiken aus, die einem solchen Konzept nicht folgten. Doch gerade weil die in den ausgewählten Texten beschriebenen Unterhal- tungsformen populäre, auf ein Massenpublikum ausgerichtete Phänomene jenseits eines sprach- oder gesangszentrierten mimetischen Theaters waren, erlauben diese Kommentare Rückschlüsse auf Bedürfnisstrukturen eines breiten großstädtischen Publikums und ansatzweise auch auf das Publikumsverhalten und dessen Verände- rungen.

2

Friedrich Nicolai: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, im Jahre 1781 Nebst Bemerkungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und Sitten, von Fried- rich Nicolai. Vierter Band. Berlin; Stettin: Friedrich Nicolai 1784, S. 619–622 und S. 630–641.

Von den öffentlichen Schauspielen in Wien V. Die Kreuzerkomödie. Die große Begierde des gemeinen Volks in Wien verursacht, daß in verschiede- nen Wirthshäusern in den Vorstädten, in großen Sälen, Possenspiele fürs Volk für ein ganz geringes Geld gespielt werden. Hievon kommt der Namen her.1 Die vornehmste Gesellschaft der Art war vor ein Paar Jahren die Scherzerische, welche auf dem Bauernfeindischen Saale in der Josephstadt spielte. Auf dem Neustift war die Wilhelminische Gesellschaft, welche laut dem Anschlags- zettel, daß es Gott erbarme! auch serieuse Komödien und Tragödien spielte. Damit alle Sinne vergnügt werden, wird während solcher Schauspiele an das hochlöbliche Auditorium Bier und Wein, Würste und Kaiserfleisch (geräuchert

1 Schauspieler, die in solchen Truppen spielen, nennt man Landkomödianten. Vor einiger Zeit ward von einer Oestreichischen Obrigkeit in der Wiener Zeitung auf einen Termin zu erscheinen citirt: „Franz Albenz Landkomödiant und dessen Ehefrau, weil deren Aufenthalt nirgends zu erforschen gewesen.“

82 Marion Linhardt: Berichte: Wiener Vergnügungen

Fleisch) verkauft, und gierig gegessen. Von dem übrigen Betragen der Zuschau- er und der Schauspieler macht der Verfasser der Briefe eines reisenden Franzo- sen eine häßliche Schilderung, die nur allzuwahr seyn mag. Zu eben diesen Volksspielen, die in Wien in großer Menge und von mancherley Art vorhanden sind, gehört auch das Krippelspiel, welches, durch Marionetten, die Geburt Christi vorstellt. Noch im November 1783 stand folgendes in der Wiener Zeitung: „Hoh= und niedern Standes resp. Liebhabern wir hiemit kund gemacht, daß mit Erlaubniß hoher Obrigkeit die Advent= und Weihnachts- zeit hindurch bis Ende des Faschings, die durch verschiedene Jahre bey dem k. k. Hofe producirte Krippe abermal bey dem goldnen Adler im alten Ler- chenfelde ganz lebhaft wird vorgestellet werden. Das ganze Werk besteht aus 31 Maschinen, welche alle auf das vollkommenste verbessert und beleuchtet in Vorschein kommen, und allen geneigten Zusehern vollkommenes Vergnügen verschaffen werden.“ Gleicher Art ist auch die theatralische Maschine, welche während des Faschings in der Renngasse nächst der hohen Brücke zu sehen ist. Laut des Anschlags- zettels, „enthält dieses bekannte künstliche Werk die prächtigsten Vorstellun- gen, mit wohl ausgearbeiteten kleinen Figuren, und fängt mit der Geschichte der Armida, des Ritters Reinaldo von der Armee Gottfrieds von Bouillon an, welche der berühmte italiänische Dichter Torquato Tasso in seinem Helden- gedichte das befreyte Jerusalem, besungen hat. Dabey läßt er“ (nämlich der Unternehmer, nicht Torquato Tasso) „sichs angelegen seyn, durch künstliche Flugwerke, merkwürdige Verwandlungen, abwechselnde, und überraschende Prospekte, die Augen der Zuseher zu begnügen.“ Solcher Puppenspiele, geistli- che und weltliche, sind mehrere in Wien. Herr Anton Mire, Fechtmeister, mag mirs verzeihen, daß ich an diesem Orte ihn anführe, weil ich keinen bequemern für ihn weiß. Er kann es doch nicht übel nehmen, daß er neben Armidens Zauberkunst und des Tasso Heldenge- dicht steht. Zu Vermeidung alles Mißverständnisses muß ich erinnern, daß er nicht wie jene durch Marionetten, sondern er selbst, nicht wie jene für 1 oder 2 Kr., sondern für 20 Kr., seine Kunst, nur zu Bestreitung der Unkosten sehen läßt. Als ich in Wien war, kündigte er an, er werde die Ehre haben, zum Ver- gnügen eines hochansehnlichen Publikum auf dem großen Saale in der Mehl- grube, „Ein Affair General, oder Wetteifer in der Fechtkunst anzustellen, wobey er sich in den schwersten Kämpfen dieser Art auszuzeichnen hoffe. Er halte es vor überflüßig, bey einem so geschmack= und kenntnißvollen Publikum, von der Beschwerde sowohl, als dem Angenehmen dieser Kunst etwas beyzurücken; damit aber der Zuseher jeden Stoß genau erkennen könne, wenn er getroffen ist, so werde der Knopf vom Rapier allzeit schwarz gemacht werden.“

VII. Die Thierhetze, oder wie man in Wien sagt, die Hatz Dieses abscheuliche Schauspiel in Wien zu finden, und so großen Zulauf zu demselben zu finden, muß einen Fremden in Erstaunen setzen. Der allgemeine Charakter des östreichischen Volks ist sanft. Freilich ist es auch zu Wollüsten

83 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

und sinnlichen Genüssen aller Art sehr geneigt; und Ueberfluß sinnlicher Ge- nüsse kann freilich sehr leicht selfish und leichtsinnig und endlich unempfind- lich machen. Aber es ist doch unbegreiflich, wie in Wien sogar Leute, die nicht zum Pöbel gehören,2 mit Wohlgefallen diese Grausamkeit ansehen können; und eben so unbegreiflich ist es, daß in Wien, wo bis noch vor kurzer Zeit be- ständig ein so großer Schein von Andacht öffentlich zur Schau getragen ward, dieses unmenschliche Schauspiel von je her an den Sonn= und Festtagen3 ge- geben worden ist. In England hält man den Sonntag so heilig, daß niemand sich trauet, ein Spiel Karten in die Hand zu nehmen, oder ein musikalisches Instrument zu spielen; und in Wien entheiligt man die Tage der Ruhe und des öffentlichen Gottesdienstes damit, daß man unter dem gräßlichsten Getümmel unschuldige Thiere martern läßt. Schon des Morgens an diesen heiligen Tagen sind an allen Ecken Zettel angeschlagen, welche oben den Kaiserlichen Adler mit der hier sehr anstößigen Umschrift: Sub Umbra Alarum Tuarum führen. Darauf folgt dann die Nachricht, daß das k. k. privilegirte Hetzamphitheater, unter einer wohlbesetzten türkischen Musik, – mit einer sehr großen Hetze, – mit einer durchaus starken Hetze, – mit einer historischen prächtigen Hetze, u. d. gl. in so und so viel Auftritten, wieder werde eröfnet werden. Diese Hetzen haben denn auch, gleich als ob es Komödien wären, meistens besondere Na- men: Z. B. der Esel in der Bataille, die Schlittenfahrt im Sommer, das troja- nische Pferd u. s. w. Die Erklärungen der verschiedenen Auftritte sind voll der plumpsten Abgeschmacktheiten, welche witzig seyn sollen. Z. B. „Ein frischer Bär, der zu allen Dingen den Kopf schüttelte, soll zu einem billigen Jawort gezwungen werden, und sollte er hartnäckig seyn, so wird man ihn beym Ohr ertappen. – Unser Schußbartl die Wildsau schießt wie ein Pfeil aus ihrer Falle heraus. Allemal müssen Schweinereyen dazwischen kommen, (so sprechen un- sere Hunde) das wird uns noch tolle machen. – Ein ungarischer Vollstier wird verschiedene Sprünge, und Solo tout machen,“ u. d. gl. Die gemeinen Leute, so wie sie eben an den Sonn= und Feyertagen aus der Messe kommen, und noch Gebete käuen und an den Rosenkränzen zupfen, bleiben stehen, lachen über den albernen Witz, und freuen sich im voraus des hundischen Vergnügens, wel- ches Nachmittags auf sie wartet. Schon gegen drey Uhr wird in der Gegend des Hetzhauses die Trommel gerührt, und die Hatz ausgerufen. Das Hetzhaus ist

2 Die Eingangspreise bey der Hetze sind so theuer und theurer als auf dem Nationaltheater: Für eine Loge 4 Fl. 20 Kr., die Entrée auf die Gallerie Noble (großer Gott! Bey einem sol- chen Schauspiele eine Gallerie Noble!) 1 Fl. 20 Kr., im ersten Stocke 40 Kr. u. s. w. Aber „die Herren Hetzliebhaber, die gute brauchbare Fanghunde mit sich bringen, genießen freyen Eintritt auf dem für die Hunde und ihre Mitführer angewiesenen Platz.“ Einen würdigeren freyen Platz konnte man freilich den Herren Hetzliebhabern nicht anweisen, als den Hun- deplatz. 3 An den Wochentagen macht sich das Volk zu Wien ein unentgeltliches Schauspiel, bey der Ochsentheilung zwischen dem Stubenthore und Mauththore. Dicht vor dem Hetzhause ist der Ochsenstand, ein durch verschiedene Geländer eingeschlossener Platz, in welchen die ungarischen Ochsen getrieben und zum Verkaufe gestellt werden. Wenn nun die Schlächter mehrere Ochsen kaufen, und einen nach dem andern wegführen wollen, so machen die un- garischen Ochsen allerley Sprünge, werden oft wild und beschädigen die Schlächter. Dahin laufen dann eine große Menge Menschen, gaffen, schreyen und toben, wenn der Ochse sich losreissen will, und die Umstehenden in Gefahr setzt.

84 Marion Linhardt: Berichte: Wiener Vergnügungen

ein hölzernes ziemlich hohes rundes Gebäude, welches einen großen mit Sand beworfenen Platz einschließt. Das Erdgeschoß enthält lauter Kammern, wor- inn die wilden Thiere eingeschlossen sind, und vermittelst einer aufgezogenen Fallthüre auf den Platz gelassen werden können, und neben der Thüre, wo die Zuschauer hinein gehen, sind größere Behältnisse für die Hunde. Ich habe dieses unmenschliche Schauspiel Einmal gesehen. Ich wollte um vieles nicht missen, es gesehen zu haben; denn gewisse Abscheulichkeiten muß man mit Augen sehen, um sie sich vorzustellen. Aber ich möchte es auch um vieles nicht noch einmal sehen. Gleich beym Eintritte ins Haus schlägt ein widriger Gestank von den Ausdünstungen der Thiere und von dem Aase, womit sie gefüttert werden, nebst dem Bellen der Hunde, dem Brüllen der wilden Thiere und dem unbändigen Geschreye der Hatzmeister entgegen. Gleichwohl fand ich die drey Reihen übereinander gebauter Logen und Gallerien voll gepfropft von Zuschauern beiderley Geschlechts. Nicht bloß vom Pöbel; man sah auch Herren wohl frisirt und gepudert, in gestickten Kleidern. Ja was noch bedau- rungswürdiger und beynahe unbegreiflich war, ich sah da Frauenzimmer mit allen Reizen der Natur, mit allem Aufputze der Kunst gezieret, und sah ihre schönen Hände sich wechselsweise bewegen die Riechfläschgen zu öfnen, und unmäßig zu klatschen wenn die Hunde einem Thiere nach dem Ohre schnapp- ten. Man darf nicht glauben, daß die Thiere noch natürlichen Muth und Kraft ihrer Wildheit haben oder zeigen können. Es wäre wenigstens noch auf eine Art sehenswürdig, die wilde Kraft und Behendigkeit eines ungezähmten Thieres zu betrachten. Aber auch dieses siehet man nicht einmal. Die Thiere sind schon durch vorige Kämpfe abgemattet und furchtsam gemacht. Wenn die Fallthüre aufgezogen wird, so pflegen sie nicht immer herauszufahren, sondern sie ziehen sich in den hintersten Theil ihres Lochs zurück. Alsdenn bringen drey oder vier Kerle einen großen Hebebaum, und stoßen so lange auf das Thier zu, bis es aus Schmerz in den Hebebaum beißt, an welchem sie es alsdenn aus dem Loche auf den Platz hinausziehen. Sogleich werden zwey oder mehr große Hunde, welche bis dahin unter beständigem wütenden Bellen von den Hetzmeistern sind ge- halten worden, losgelassen. Gemeiniglich suchen die Thiere zu fliehen, so lange sie können, aber sie werden bald von den Hunden gepackt, gezaust, in die Oh- ren gebissen, oder ihnen gar die Ohren abgerissen. Sonderlich, wenn das letz- tere geschiehet, läßt sich das viehische Gelächter nicht beschreiben, welches die Zuschauer ausstoßen, und das unmäßige Geklatsche mit den Händen, und das Getrampel mit den Füßen. Weil die Thiere zu weitern Kämpfen sollen aufbe- wahret werden, so fallen die Hetzmeister, sobald die Hunde gepackt haben, den Hunden in den Nacken, reissen ihnen das Gebiß auf, und halten sie unter dem abscheulichsten Geheule und Gebelle fest, unterdessen das angefallene Thier ächzend, blutend, und vor Schmerz brüllend nach der geöfneten Fallthüre zuei- let. Es ist ein unbeschreiblich eckelhafter und scheußlicher Anblick, die armen Thiere so quälen zu sehen. Ich sah ein schönes Geschöpf, einen großen ungari- schen Vollstier, der noch nie war gehetzt worden, sich einige Minuten lang mit größtem Muthe und Stoßkraft gegen sechs oder acht bissige Hunde wehren. Aber in kurzem hatten sie ihn hinter den Ohren gefaßt; an jedem Ohre und sogar am Lippenfleische hiengen zwey, die er unter gräßlichstem Brüllen und

85 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

unter eben so gräßlichem Gelächter der Zuschauer herumschlänkerte, ohne daß sie losließen, bis ein Ohr abfiel. Ein Paar andere Hunde hiengen an den Sei- ten; und endlich faßte ihn einer in die Hoden, daß das Thier brüllendheulende Töne des unbeschreiblichsten Schmerzes ausstieß, die keinen der hartherzigen Zuschauer zu einiger Empfindung bewegten. Und sollte auch noch einer oder der andere mit dem schönen Thiere, das erst in seiner vollen Kraft auftrat, und nach wenigen Minuten zerfleischt, entstellt, von Kräften verlassen und mit den unsäglichsten Schmerzen ringend abgeführt wurde, noch einiges Mitleid ge- spürt, und ein so abscheuliches Schauspiel verflucht haben; so hatten die abge- feimten Hetzmeister gleich darauf einen Auftritt angeordnet, wo ein Esel und ein Hirsch, an welche kleine angezündete Feuerwerke angebunden waren, von kleinen Hunden herumgejagt wurden, damit durch die lächerlichen Sprünge jede ernsthafte Empfindung bey dem ohnedieß leichtsinnigen Volke möchte weggescheucht werden. Man ließ alsdenn zwey Bären zugleich heraus, oder vielmehr die unbarmherzigen Knechte mußten sie mit wiederholten Stößen aus ihren Löchern hervorziehen; denn sie waren in vorherigen Hetzen schon so elend zugerichtet und so kraftlos gemacht, daß sie gar nicht heraus wollten. Der eine war schon so gelähmt, daß er kaum fort konnte, und der andere hat- te ein Ohr verlohren. Die Hunde fielen über den ersten her, und würden ihn gleich zerrissen haben, wenn die Hetzmeister sich nicht dazwischen geworfen hätten. Der andere, voll der heftigsten Angst, wollte die Fallthüre seines Loches aufstoßen, und da es nicht möglich war, so scharrte er, als ob er Konvulsionen hätte, in ein Paar Minuten ein Loch wohl zwey Ellen tief vor der Thür, um unter dem Grund herunter zu kriechen, wenn er gekonnt hätte. Endlich folgte der allerscheußlichste unter den scheußlichen Auftritten. Es wurde ein zah- mes Schwein und mit ihm zwey hungrige Wölfe hervorgebracht, welche das Schwein in Gegenwart aller Zuschauer lebendig auffraßen. Da merkte ich end- lich doch, daß ich nicht der einzige war, bey dem das Herz sich umkehrte, da dieses wehrlose Thier unter kreischendem Geschrey, von einem Wolfe bedäch- tig und ohne Mühe am Halse befressen wurde, indessen der andere eben so ruhig dessen Bauch aufgebissen hatte, mit der Schnauze im Leibe wühlte, und die Eingeweide verschluckte. So etwas ganz unnennbar abscheuliches mach- te denn doch, daß verschiedenen Zuschauern, und besonders verschiedenen Zuschauerinnen, die Gesichter lang wurden, und daß sie, so wie ich, aufstan- den und weg eilten. Ich wollte, wenn ich es könnte, die Abscheulichkeit dieses Schauspiels, mit noch lebhaftern Farben schildern, um wo möglich die ganz fühllosen Menschen, die daran noch Gefallen finden können, doch einigerma- ßen zur Empfindung zu bringen. Derjenigen, die mit dem Anfange des letztern scheußlichen Auftritts mit mir hinausgiengen, waren die allerwenigsten; und von der Treppe bis zur letzten Thüre hörten wir noch das wiehernde Gelächter des rohen Haufens, der sich an den Todesqualen des Thieres weidete. Dieser schändliche Auftritt war in dem Anschlagszettel folgendermaßen beschrieben: „Die Raubwölfe werden auf eine lächerliche Art ihren Raub nehmen.“ Man muß wahrhaftig eine Hetzmeisterseele haben, um nur einen solchen Auftritt zu erdenken, geschweige darüber witzeln zu wollen.

86 Marion Linhardt: Berichte: Wiener Vergnügungen

Im Junius 1782 gieng die Pachtzeit des Hetzpächters zu Ende, und es ward da- mals in allen Zeitungen Deutschlands gemeldet, dieses unmenschliche Schau- spiel sollte nun nicht ferner geduldet werden. Aber leider! es bringt Pacht ein, und der Beyfall desselben in Wien ist so groß, daß Leute, von denen so etwas nicht zu vermuthen wäre, es nicht verlieren wolten. Es fand sich also in wenigen Tagen ein neuer Pächter, welcher, da der vorige bey 6000 Fl. nicht hatte beste- hen können, nun 5000 Fl. bot, und die Pacht erhielt. Er kündigte seine neue Unternehmung auf solche Art an, daß ich meinen Augen nicht trauen wolte, als ich die gedruckte Nachricht davon zuerst las. Sie fängt folgendermaßen an: „Fast jede öffentliche Unterhaltung ist unter der Regierung unsers menschen- liebenden Herrschers zu einer der Kaiserstadt würdigen Höhe gestiegen. Die K. K. neue Hetzpachtung wird sich beeifern, auch dieser Gattung von Schau- spiele zur Ehre der Bewohner Wiens eine Gestalt zu geben, die sie unter dem letzten Pächter nie erlangen konnte.“4 Gewisse Wiener Schriftsteller haben es an sich, den Namen ihres mit Recht verehrungswürdigen Monarchen sehr am unrechten Orte anzuführen, wo er das Stichblatt ihrer oft sehr geringfügigen Einfälle und Unternehmungen seyn muß. Aber niemals ist der Namen die- ses Monarchen wohl auf eine so unglaublich unverschämte Art gemißbraucht worden, als da sich ein Hetzpächter untersteht, dessen Menschenliebe zu Emp- fehlung eines so grausamen Schauspiels anzuführen. Entweder Joseph II. weiß überhaupt nichts von der Erlaubniß zur Fortsetzung der Hetze, oder Er läßt sie noch fortdauern, um der Herzenshärtigkeit willen derjenigen seiner Untertha- nen, die er nicht so geschwind bessern kann, als Er wohl gern wollte. Men- schenliebe? – Die Ehre der Bewohner Wiens? – Großer Gott! wie gedankenlos und von allem moralischen Gefühle entblößt muß der Mensch seyn, wie heillos muß er auch alle Ehre und Menschenliebe verkennen, der nicht erröthet, diese ehrwürdigen Worte auf eine so schändliche Sache anzuwenden. Erstaunen muß man, daß jetzt, da in der Morgenröthe die sich über das bisher so dunkele Oestreich zu erheben anfängt, etwas besseres zu hoffen gewesen wäre, ein so abscheuliches Schauspiel noch ferner die Sitten des Volkes verder- ben darf. Man giebt zur Ursache an, weil das Einkommen der Thierhetze dem Armen=Leute=Fond zu gute kommt. Sehr wohl! Wenn einmal dieses scheuß- liche Volksschauspiel vorhanden ist, so mags ganz gut seyn, daß das Pachtgeld davon noch auf diese Art angewendet wird. Aber ich wende mich an jeden Biedermann in Wien! Ich frage: Ist denn in einer so üppigen, jeden Genuß des Lebens so lüstern einschlürfenden Stadt, von den Tafeln so vieler Schwelger ganz und gar kein Brosamen übrig, daß man Qual und Blut unschuldiger Thie- re nothwendig brauchen muß, damit arme Menschen nicht Hungers sterben? Ist denn bey der so großen Menge begüterter Einwohner dieser üppigen Stadt alle Empfindung von dem Elende ihrer armen Nebenmenschen so gänzlich erloschen, daß man Blut und Qual wilder Thiere verpachten muß, um von dem barbarischen Vergnügen des undenkenden Theils der Nation ein Almosen zu er- pressen? Verpachten? Und für welche armselige Summe? Sie würde ja der Buh- lerinn eines reichen Verschwenders jährlich kaum zur Hälfte ihres Uebermuths

4 S. Litteratur und Theaterzeitung 1782, 3t Thl. S. 479.

87 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

zureichen! Ist Wien wirklich so sehr gesunken, daß man es nicht vermeiden kann, das moralische Gefühl eines Theils der Einwohner verderben zu müssen, damit man Fünftausend Gulden aufbringe, um etwan achtzig armen Leuten einen kümmerlichen Unterhalt zuzuwenden? Nein! das kann nicht seyn! Das muß nicht seyn! In dieser so reichen Stadt sind schon so viele reiche Stiftungen für das Armuth gewidmet, und könnten ferner noch gewidmet werden. Das Bürgerspital hatte ja 200.000 Fl. Einkünfte und in den übrigen Stiftungen für das Armuth, wird jährlich vielleicht eben so viel zusammengebracht. Sind denn die Armen in Wien unzählbar, daß man zu einem so niedrigen Mittel ihres Unterhalts greifen müßte, weil so sehr reiche Stiftungen unzureichend wären? Das kann nicht seyn. Aber wenn es wider Vermuthen so wäre: so wende ich mich abermals an jeden Biedermann in Wien, und frage: Sollte in Wien keine Gesellschaft wohldenkender Menschen zusammenzubringen seyn, keine neue Vereinigung aus Liebe des Nächsten, welche aus edler Empfindung von Menschenliebe und von der wahren Ehre der Bewohner Wiens, jährlich von ihrem Ueberflusse die Summe von fünftausend Gulden, zu Auskaufung der schimpflichen Pacht der Thierhetze, zurücklegen möchte, auf daß die Nachwelt im Jahre 2240 nicht sage: Damit achtzig Armen täglich acht Kreuzer bekämen, duldete das große, das reiche, das prächtige Wien, ein die Menschheit enteh- rendes Schauspiel!

2

[Johann Kaspar Riesbeck:] Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland an seinen Bruder zu Paris

Uebersezt von K. R. Erster Band. Zweyte beträchtlich verbesserte Ausgabe. [Zürich] 1784, S. 274–275 und S. 280–283.

Sieben und zwanzigster Brief (Auszug) Ausser dem Nationaltheater treiben jezt in den Vorstädten noch 6 bis 7 be- sondre Schauspielergesellschaften ihre eigne Wirthschaft. Sie sind von der Art, wie ich einige in Schwaben herumziehen sah, deren Glieder wechselweis bald auf dem Theater, bald im Spital und bald bey der Trommel, und meistens ver- laufene Studenten, Schneider und Perükenmachergesellen sind. Sie spielen im Halbdunkel, und scheuen eine starke Beleuchtung, um den ehrlichen Leuten kein Aergerniß zu geben, die bey mehrerm Licht alle Schürzen der Mädchen über die Hände der neben ihnen sitzenden Mannsleuten gebreitet sehen wür- den. Die, welche ihre Bühnen tief hinter den Hintergebäuden und in Gärten aufzuschlagen wissen, wo man nach Beendigung des Schauspieles in der Nacht mit einer Freundin leicht einen Abtritt von der offenen Strasse nehmen kann, haben den meisten Zuspruch. Sie wissen so wohl, daß man nicht wegen ihres

88 Marion Linhardt: Berichte: Wiener Vergnügungen

Spieles zu ihnen kommt, daß oft die halbe Gesellschaft während der Komödie ins Wirthshaus lauft, und einer 3 bis 4 Rollen zugleich spielen muß. Acht und zwanzigster Brief (Auszug) Um die Equipagen von Wien zu sehen, muß man zur Sommerszeit ein Feuer- werk im Prater besuchen. Der Prater ist ein natürlicher Eichen= und Buchen- wald, nahe bey der Stadt, auf einer Insel der Donau, auf deren obern Theil die große Vorstadt Leopoldstadt liegt. Unfern des Einganges liegen unter dem Schatten der Bäume gegen 30 Hütten zerstreut, mit vielen Bänken und Tischen umher, wo man Essen und Trinken in Ueberfluß haben kann. Der Ort wird täglich stark besucht, ist aber bey einem Feuerwerk besonders merkwürdig. Gegen 12000 Menschen versammeln sich da nach und nach, und die nehmen im Walde ihr Abendessen. Auf das gegebene Zeichen, wenn die Nacht einge- brochen ist, strömt die Gesellschaft von den Tischen weg auf die ringsum mit hohen Bäumen umgebene Wiese hin, wo das Schauspiel gegeben wird. Ein schönes großes Amphitheater erhebt sich dem Feuerwerk grade gegenüber, und ist größtentheils von einigen hundert Damen besezt, deren hochgeschmink- te Wangen, kostbarer Schmuk, und leichte Sommerkleidung im Licht des Feuerwerkes eine besonders gute Wirkung thun. Das Parterre zwischen dem Amphitheater und den Maschinen ist dicht mit Mannsleuten angefüllt. Der merkwürdigste Auftritt folget nach dem Beschluß des Feuerwerkes. Ein Zug von 12 bis 15 hundert Kutschen, Pirutschen und allen Gattungen Fuhrwerks geht aus dem Walde in die Stadt in einer so geraden und gedrängten Linie, daß, wenn er sich manchmal unter dem Thore stopft, die Deichseln der hintern Waagen mitten auf die Kasten der vordern stossen, und da man nicht anderst als im stärksten Trott oder Gallopp fährt, so wird mancher Wagen auf diese Art durchstossen, und die darin sitzenden Personen auf das vordere Fenster geworfen. Die meisten sind herrschaftliche Equipagen mit vier bis sechs Pfer- den, deren Anzahl überhaupt sich hier auf ohngefehr 3500 beläuft. Der Fiaker sind gegen 560, und der Stadtlohnwägen gegen 300. Die letztern sind nicht numerirt, haben bessers Geschirre, sind überhaupt schöner, werden meistens von den Wirthen gehalten, und theurer bezahlt als die erstern. Bey all dem starken Fahren der vielen Wagen fällt doch bey einem solchen Anlaß nicht die geringste Unordnung vor. Die Fußgänger haben ihren besondern Weg, den kein Kutscher befahren darf. Die Brücke zwischen der Leopoldstadt und dem Prater, worauf das Gedränge am stärksten, ist in vier Theile getheilt. Die zwey aussern sind für die Fußgänger, und der eine von den innern für die Wagen die hinein, und der andre für die, welche herausfahren. Diese Ordnung wird durch den Wald und auf der Chaussee durch die Vorstadt bis in die Stadt selbst be- obachtet. Einige Kuraßier mit gezogenen Säbeln sorgen dafür. Bey öffentlichen Festen weiß man hier von keinen besondern Unglüksfällen, und alles Unheil, welches hier die Kutschen anrichten, geschieht im alltäglichen Getümmel der Stadt. Man kann sich nicht erinnern, daß in einem Jahr über sieben Personen sind todtgefahren worden, da sich hingegen zu Paris die Zahl der jährlich Todt- gefahrnen im Durchschnitt der leztern zehn Jahre auf zwanzig beläuft.

89 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

Was das Feuerwerk selbst betrift, so ziehe ich es allen hiesigen Schauspielen, und selbst dem Nationaltheater vor. Herr Stuwer, von welchem ich einige sahe, versteht die Kunst. Er stellt mit allem mannichfaltigen Farbenspiel, den Schat- tirungen, und dem gehörigen Perspektiv ganze Gärten, große Palläste und Tempel in fast natürlicher Größe in Feuer dar. Seine Maschinen sind besonders schön und groß, und machen oft sechs bis acht Fronten von 50 bis 60 Schritt in die Länge. Bey Eröfnung des Schauspiels fliegen auf einmal viele hundert Raketen unter einem dem Donner ähnlichen Getöse in die Luft, wovon der ganze Wald erbebt, und wobey die Gegend auf einen Augenblik wie bey Mit- tag erleuchtet ist. Er hatte noch vor einigen Jahren an Herrn Girandolini einen Nebenbuhler, der ihm, nach dem Zeugniß aller Kenner, in der Kunst über- legen war, aber das Opfer der Bigotterie des Publikums werden mußte. Herr Girandolini, welcher ohnehin als ein Fremder mit mehrern Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, als Herr Stuwer, mußte sich auf das Aeusserste anstrengen, um sich einen Fond zu machen, und es seinem Nebenbuhler gleichthun zu können. Er hatte, wie Herr Stuwer, einen großen Schwarm von Arbeitern den ganzen Herbst und Winter und das Frühjahr durch in Sold. Als er im Sommer sein erstes Schauspiel geben, und es, um sich seines Aufwandes zu erhohlen, so prächtig als möglich machen wollte, kam an dem Tag, der zur Ausführung desselben angekündigt war, ein Donnerwetter, und verdarb ihm fast alles. Als er auf seinem Gerüst die Wolken heranziehn, und sein Unglük vor Augen sah, fluchte er mit der einem Italiäner natürlichen Lebhaftigkeit dem Donner ent- gegen, und nun schrieen ihn seine eigne Arbeiter als einen Atheisten aus. Er war in seinen Reden überhaupt zu unbedachtsam, und das Publikum faßte ein Vorurtheil gegen ihn, welches er mit aller seiner Kunst nicht besiegen konnte. Man schalt ihn einen Freygeist und Gotteslästerer. Die Anhänger seines Ne- benbuhlers suchten dieses Vorurtheil auf alle mögliche Art zu verstärken. Die Kaiserin selbst ward durch das große Geschrey und die Intriguen der Leute, die sie umgaben, gegen ihn eingenommen. Wenn ein fremder Großer kam, den sie mit einem Feuerwerk unterhalten wollte, so hatte Herr Stuwer den Vorzug. Dieser hatte gemeiniglich drey und viertausend Gulden Einnahme, da Herr Girandolini froh seyn mußte, wenn er es auf 1500 bis 2000 brachte. Auf diese Art konnte er sich nie aus seinen Schulden ziehn, und kam endlich so weit zurük, daß er wegen den Kosten seinem Nebenbuhler den Preis überlassen und davon gehen mußte. Ich habe dir in einem andern Brief gesagt, daß hier das Verdienst sehr oft ein Opfer der Kabalen ist, und nun hast du auch ein Beyspiel, wie es von den Vorurtheilen des Pöbels mishandelt wird.

2

90 Marion Linhardt: Berichte: Wiener Vergnügungen

Johann Pezzl: Skizze von Wien

Drittes Heft. Wien; Leipzig: Kraussische Buchhandlung 1787, S. 794–804. Der Kasperl Dieß ist der Theater=Name des Mannes, welchen zu sehn, zu hören, zu be- wundern, zu belachen, zu beklatschen, täglich hundert rollende Kutschen, und mehrere hundert schnaubende Fußgänger zum Rothen Thurm hinausjagen, um sich die Grillen des Tages von der Stirne zu scheuchen, und zum frohen Abendmal Stof zum Gespräch zu holen. „Ist der Zettel von Kasperl noch nicht da?“ frägt der Beamte beim Eintritt in die Kanzlei. „Wir sehn uns doch draussen, heute haben wir die Cosa Rara!“ – Versteht sich, hört ihr auf der Gasse … „Der hats wieder getrieben, oder, ges- tern war der Teufel wieder los mit ihm!“ so fangen sich die Gespräche in den Friseurs- und Barbierstuben an. Kurz, es sind keine öffentliche Oerter, keine Amtsstuben und Versammlungen, in welchen nicht das Gespräch wenigstens des Tags einmal auf den Kasperl kommt. Aber, wer ist denn der Kasperl? Dieß ist der Lustigmacher auf dem Marinelli- schen Theater in der Leopoldstadt. – Fast möcht’ ich sagen, ein Original=Genie; der einzige Mann in seiner Art. – Er kennt so den Geschmak des Publikum; weiß mit seinen Geberden, Gesichterschneiden, seinem Stegreifwiz, die Hände der in den Logen anwesenden hohen Adelichen, der auf dem zweiten Parterre versammelten Beamten und Bürger, und des im dritten Stok gepreßten Janha- gels, so zu elektrisiren, daß des Klatschens kein Ende ist. Bei seinem Auftritte, und wenn ihr auch nur seine Fußspitze, oder seinen Rüken sehen könnt, wird schon gelacht; er hat den Mund noch nicht geöffnet, und doch stehen schon die Mäuler der Zuschauer offen und harrend auf seinen ersten Spaß … Mit Einem Wort, der Entrepreneur Marinelli hat alle Ursache, den Schauspieler la Roche (dieß ist der eigentliche Familien=Name des Kasperls) als sein lebendi- ges Kapital zu betrachten, dessen Zinsen ihm das niedlich erbaute Schauspiel- haus und ein hübsches Sümmchen in der Tasche eingetragen haben. Ihm hat er es zu danken, daß er aus dem elenden Theater im Czerninischen Garten in sein auf der Jägerzeil, zum Denkmal des Wienerschen Geschmaks errichtetes Schau- spielhaus übersiedeln konnte; daß er nicht mehr nöthig hat, in den Tagen des Frühlings und Herbstes mit seiner Truppe und dem ganzen Theater=Plunder nach Baden zu ziehn, um dort den Badgästen die Kur gedeihlicher zu machen; daß er selbst nicht mehr die Rolle des ersten Liebhabers herstammeln darf, sondern gemächlich im Lehnstuhle sitzen, Könige und Hausknechte, Prinzes- sinnen und Stubenmädchen erschaffen kann. Ich bin gar nicht des Willens, dem gutlaunigen Wiener Publikum aufzumutzen, daß es sich das Zwergfell fleißig durch la Roche Kasperl erschüttern lasse; da ich es sehr gut und passend finde, daß auch die unterste Volksklasse ihre Bühne habe, weil sie von den Stüken des Nationaltheaters entweder nichts, oder sehr wenig versteht, und dasselbe, wenn nicht besonders schöne Verzierungen sein Aug ergötzen, oder Schlachten und Turniere aufgeführt werden, immer unbe-

91 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

friedigt verläßt … Das alte Sprichwort: Abwechslung behagt5, wird immer, und unter jeder Zone wahr bleiben. Dieß mag auch bei dem besseren Theil unsrer Mitbürger für eine Entschuldigung gelten, wenn sie manchmal die ernstern und schon oft gesehenen Schauspiele des Nationaltheaters verlassen, und vor das Thor hinaus zum Kasperl gehen, um dort über ein neues Possenspiel zu lachen … Auf dem zweiten und dritten Plaz dieses Theaters werden Bier, Brod, und Würste zum Kauf herumgetragen; eine sehr willkommene Bequemlichkeit für das durch Lachen ausgetroknete und ermüdete Publikum! Marinelli ist der einzige Entrepreneur, der sich so lange im Wohlstand erhal- ten wird, als seinen la Roche die Stimme nicht verläßt; so lange als es seinen Theater=Dichtern über Personen handgreiflich zu schimpfen erlaubt seyn wird; und so lange als er wälsche Opern ins Deutsche übersetzen läßt. Er hat einige Schauspieler und Schauspielerinnen, die immer unter die mittlere Klasse gehö- ren; er wählt Stüke, die dem Publikum, seinen Schauspielern, und dem End- zwek seiner Bühne angemessen sind; er hat artige Theater=Verzierungen, ein gut besetztes Orchester, und macht seine Truppe auch durch innere Ruhe und gutes Betragen beliebt. Er bezahlt seine Leute richtig, ist gegen manche dersel- ben wohlthätig, und kann also mit Grunde Ordnung und Pünktlichkeit, Fleiß und Anwendung fordern … Er gibt fast jede Woche eine neue Posse, welche der Dramatiker Hensler und Eberl wie aus dem Ermel zu beuteln scheinen. Einige rührende Dramen ausgenommen, hat er es nie gewagt, mit Stüken ernsthaften Inhalts aufzutreten. Er ist so glüklich, daß er selbst bei der fünf und zwanzigs- ten Vorstellung von manchem Stüke immer sein Haus voll hat. Die Komödi- en mögen noch hingehen; wie aber das Publikum die beliebte Oper, welche troz der hundertfältigen Vorstellung für die Wiener noch immer eine Cosa rara bleibt, sich da draussen mag vorkirren lassen; wie Marinelli dieselbe, da er nur einen einzigen Sänger in seiner Truppe hat, aufzuführen wagen konnte, ist mir unbegreiflich, ist für mich eine Cosa rara. So viel von dem Theater, auf welchem la Roche unter dem Namen des Kasperls glänzt. Es sey fern von mir, daß ich diesem Manne alle Verdienste und Talente absprechen sollte. Er hat wirklich zu seiner Rolle Gaben von der Natur: eine wahre komische Pöbelsphysiognomie; Hans Kaspar Lavater, oder der physi- ognomische Reisende, müßten ihn beim ersten Anblik als den Lustigmacher erkennen. Eine Stimme, die zum Hausknecht, Mandolettikrämer und Nacht- wächter gestimmt ist. Seine Gebärden, wenn das zu Uibertriebene vollends wegbliebe, sind zu der Rolle, die er spielt, immer passend: den schwäzenden Dümmling, den ungeschikten Rekruten, den für seinen Neffen duldenden Oheim, spielt er wirklich mit vieler Natur. Sein Plaz wird nicht leicht ersetzt werden. Der kluge Impressar weiß auch dieses, und fängt an, die zu Kasperli- schen Rollen von seiner Bühne zu verbannen; und la Roche schikt sich in seine gesetztern Rollen ganz gut. Er kann sich auf den Beifall des Publikums verlas- sen, und spielt daher natürlich, weil er mit Zuversicht ohne Furcht und Zwang

5 Varietas delectat.

92 Marion Linhardt: Berichte: Wiener Vergnügungen

jedesmal auftritt. Er thut sich auch auf die Gunst wenigstens der Hälfte des Publikums mit Recht etwas zu Gute. Ich kenne mehrere Leute, welche dieses Theater täglich besuchen. Wenn der Unternehmer ihm die Einnahme überläßt, ist schon um 3 Uhr kein Plaz mehr zu finden. Die Logen werden acht Tage vorher bestellt, und man sieht es fast als eine Pflicht an, dem durch das ganze Jahr so unterhaltenden Manne sein Schärflein darzubringen. La Roche verfertigte meist für diese Tage selbst Komödien, die für seine Person zwar passend, im ganzen aber höchst elend waren. In dem andern Halbbogen des Vorstädter Zirkels spielt seit einigen Wochen die Truppe des als Schriftsteller bekannten H. Johann Friedl. Er hat sich dieses Sitzes der Thalia im fürstl. Stahrembergischen Freihause auf der Wieden ange- nommen, nachdem eine andere Truppe, Schulden halber, aus demselben war vertrieben worden. Diese Bühne wird wegen der Neuheit jezt fleißig besucht. Während der Jahrmärkte kommen verschiedene fliegende Truppen, und spie- len in mehreren auf den Hauptpläzen errichteten hölzernen Hütten, wobei auch immer ein Kasperl oder Lustigmacher die Hauptperson ist. Seht im Vor- beigehn hinein! aber nehmt bevor eine Prise Tobak, damit euch nicht der Ge- stank der Beleuchtung, des verschütteten Biers, der Knoblauchwürste, und der Dunstkreis des hochansehnlichen Publikums, zu gäh auf die Lunge falle … Könnt Ihr bis zum Anfang ausdulden, so seht Ihr die poßierlichsten Auftritte. Auf den Zettel an der Thüre müßt Ihr nicht achten! laßt immer eines unsrer ersten Trauerspiele darauf geschrieben seyn. – Daraus wird nichts; denn der Held ist besoffen, die Königinn findet ihren Purpur nicht; und der Meister Schreiner hat die nöthigsten Theater=Verzierungen wieder mit sich fortgenom- men … Statt des Trauerspiels bekommt Ihr nichts als Schläge zu sehen, und wenn diese vorbei sind, schimpft der Schauspieler auf den Kreuzerplaz; dieser erwiedert die Sticheleien; und so seht Ihr das poßierlichste aller Schauspiele, welches von dem Publikum mit den Schauspielern aufgeführt wird. Die gröbs- ten Schimpfwörter, die unflätigsten Zoten, die Geschichte des Tages aus der Nachbarschaft, würdet ihr hören, wenn Euch nicht um eure Kleider und eure Nasen zu bange würde.

2

Friedrich Schlögl: Der Tingel=Tangel=Narr In: F. Sch.: Wiener Luft. Kleine Culturbilder aus dem Volksleben der alten Kai- serstadt an der Donau. Wien; Pest; Leipzig: A. Hartleben’s Verlag o. J. (= Friedrich Schlögl’s Gesammelte Schriften. 2.) S. 177–189.

Eine neue Epidemie ist sei den letzten Jahren über die vielgeprüfte Kaiserstadt an der Donau hereingebrochen und scheint mehr Unheil anstiften zu wollen

93 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

oder vielmehr bereits angestiftet zu haben, als jene acuten Seuchen, welche im Laufe der Jahrhunderte unter den erschreckendsten Namen die stets unvorbe- reitete Bevölkerung, dieselbe nicht selten sogar decimirend, heimgesucht hat- ten. Ich meine ein s o c i a l e s U e b e l , das sich in gewissen Schichten rapid eingenistet und dessen Fortschrittsconsequenzen dem Beobachter zu denken geben. Der „g e m e i n e M a n n“ will sich auch „u n t e r h a l t e n“! Jawohl, und man wird ihm die Concession nicht verweigern wollen. Erlustigte sich einst die misera plebs im classischen Rom an blutigen Circusschauspielen und grausa- men Christendramen, ergötzte sich der Pöbel dort an Stier= und anderswo an nicht minder empörenden Hahnenkämpfen, riefen unsere Väter und Großväter selbst ein herzinniges „Bravo“, als die Fleischfetzen in den Räumen der alten „H e t z e “ herumflogen, so muß der Humanist die Geschmackswandlungen beinahe segnen, wenn er sieht, daß der Nachwuchs civilisirter geworden und mit minder rohen Gemüthsemotionen sich zufrieden gibt. Und so war’s denn auch in dem zerstreuungsbedürftigen Wien, dessen vorstädtische Elemente den Verlust jener barbarischen Amüsements bald verschmerzten und Neigung und Stimmung für ungefährlichere Productionen in rasch populär gewordenen „Musentempeln“ fanden. Man lachte aus vollem Herzen über H a n s w u r s t ’s (wenn auch nicht immer discrete) Späße, später über C a s p e r l , dann über S t a b e r l , bis die eigentlichen Classiker des Volkshumors R a i m u n d und später das ausgelassene Komikertrifolium C a r l = S c h o l z = N e s t r o y, die Massen für sich eroberte. Nebenbei lief man aber auch in hellen Haufen den neuesten Troubadours, den H a r f e n i s t e n , zu, die sich später für den unge- heuren Beifall dankbar und dem Erfolge angemessen, vermeintlich mobilisiren zu müssen glaubten und sich in ihrer dubiosen „Veredlung“ – „Vo l k s s ä n - g e r “ nannten. Es sind nun fünfzehn Jahre, daß ich dem letzterwähnten Genre eingehende „Studien“ widmete, deren Rundgänge zu meinen bittersten Erinnerungen zählen. Es fällt mir nicht ein, heute nur im Auszuge zu wiederholen, was ich damals schrieb, zumal der geneigte Interessent diese gelehrten Abhandlungen sorgfältig gesammelt in dem freundlichst aufgenommenen Büchlein „Wi e n e r B l u t “ zu finden vermag. Ich will nur in Kürze daran erinnern, daß, da ein Vorwärtsschreiten auf dem Pfade der Z o t e , nachdem man bereits beim Un- erlaubtesten und Unglaublichsten angekommen, nicht mehr möglich war, ein stagnirendes Verharren im unsaubersten Sumpfe gleichfalls nicht zu denken gewesen, ich es getröstet ausgesprochen, daß ein heilsamer R ü c k s c h l a g , eine U m k e h r, eine Richtung nach a n d e r e n Zielen erwartet werden kann – mit anderen Worten: daß das „Vo l k s s ä n g e r t h u m“ in seinem damaligen, geradezu meist entsetzlichen Bestande sich zum ersehntesten Vortheile der All- gemeinheit wohl bald – „ü b e r l e b t “ haben werde. Meine unter den geschilderten Verhältnissen und Zuständen allerdings nahe- liegende Prophezeiung ist in kurzer Frist in Erfüllung gegangen. Das „Vo l k s - s ä n g e r t h u m“ der Sechziger Jahre, mit seinen gesungenen und gejohlten

94 Marion Linhardt: Berichte: Wiener Vergnügungen

Nuditäten, hat sich glücklicherweise wirklich ü b e r l e b t ; die frechsten Inter- pretinnen der textirten Cochonerien haben großentheils abdicirt, die „K ö n i - g i n d e r Z o t e “ ist (vielleicht in Folge ihres excentrischen Metiers) wahnsin- nig geworden und längst verfault und vermodert; ihre minder talentirten, aber desto aufdringlicheren und weitaus ungenirteren Geschäftsgenossinnen stiegen mittlerweile von den imponirenden Tribünen unserer stolzesten Restaurations- etablissements herab und flüchteten kleinlaut in übelduftende Spelunken der entlegensten Bezirke, wo sie mit dem Teller in der Hand ein mildes Almosenho- norar von rüden Süfflingen kreuzerweise einsammeln; der ganze „Stand“ sah sich nach lärmendsten, aber kurzen Triumphen im Niedergange und geht dem Untergange zu, fast das gesammte Helden= und Heldinnenthum des „Bret- tels“ und der „B a w l a t s c h e n“ befindet sich in ä r g s t e n N ö t h e n . Nur mehr Wenigen blieb die Gunst ihres specifischen Publicums treu: dem alten, lieben K a m p f , dem braven Zotenverächter, weiters dem lustigen Z a n g l und vielleicht noch Einem oder dem Andern war es vom Schicksal vergönnt, auch ferner nicht nur tolerirt, sondern sogar gewissenhaft applaudirt zu werden – ansonsten wendete die Majorität des respectiven Stammauditoriums, der Sache und ihrer Ausschreitungen und Auswüchse und namentlich des scandalösen Treibens der bezüglichen Primadonnen ü b e r d r ü s s i g und von dem eklen Spectakel gesättigt, den Productionen ihrer einstens vielverhätschelten Schütz- linge und Lieblinge allmählich den Rücken, es verlor den Geschmack an diesen bedenklichen Genüssen – die Glorie des „Wi e n e r Vo l k s s ä n g e r t h u m s“ war vorüber. Freilich that bei dieser „ethischen Wandlung“ auch die sogenannte „volkswirth- schaftliche Krise“ das Ihre. Die Zeit, wo das Geld, einer allgemein verbreiteten Sage nach, auf der Straße zu finden gewesen, und das man denn auch im Ue- bermaß des „Glücks“ mit vollen Händen flugs wieder zum Fenster hinauswarf, war vorbei, die „dummen Jungens“, welche gewisse effective Schwindel= und Betrugsbanken mit Tausenden salarirten und die den G e n e r a l s t a b , das Elitecorps der M ä c e n e unserer B ä n k e l s ä n g e r i n n e n bildeten und diese für ein intimes Augenzwinkern oder cordiales Lächeln mit Seidenroben und Brillanten regalirten – waren durch den Zusammensturz des papierenen Lü- gengebäudes plötzlich brotlos, fielen ihren Angehörigen zur Fütterungslast und mußten in die Schule zurück, aus der sie die große Epoche vorzeitig gerissen, hatten also jedenfalls nicht mehr die nöthigen Subsidien, um in den diversen Wirthshäusern die Crösusse zu spielen und die anspruchsvollsten Hetären der momentanen Volksmuse zu patronisiren. Das gab den ersten Ausfall. Aber auch der arbeitende Mittelstand und sein subordinirtes Gesellenzugehör fühlte den Umschwung der Verhältnisse. Man hatte im Taumel der allgemei- nen Geldtrunkenheit auch diese sonst so ziemlich bescheidenen und genügsa- men Leute und Leutchen verwöhnt, man hatte sie zu unerhörten Forderungen geradezu animirt und als der universale Rausch verflogen, war der Katzenjam- mer auf beiden Seiten ein intensiver und wurde hüben und drüben zum chro- nischen Leiden. Da fehlte denn auch dem Bürger und Arbeiter die nöthige Sti- mulanz, um höchst unzeitgemäßen Bacchanalien nachzugehen, es verdroß ihn

95 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

vielleicht sogar, wenn inmitten der socialen Misère die Frivolität ihre Orgien feierte und er mied deshalb die Stätten, wo die banalste Lustigkeit floriren woll- te, die mit seinem Sorgenquantum allzu ärgerlich contrastirte. Das war aber der Stock, die Majorität des Volkssängerpublicums; die Flucht, der Abgang dieser Massen gab den Ausschlag, denn der restliche Anhang, der noch ausharrte, war nicht der Rede werth. So vollzog sich denn wirklich, was wohl aus andern Gründen schon vorauszu- sehen, aber bereits in dringendster Weise zu wünschen war. Die gewaltsame Entsittlichung gewisser Schichten und Classen – welchen die allabendliche Einsaugung des Zotengiftes so zum Bedürfniß wurde, wie dem Arsenikesser sein Reizmittel, dessen Dosen, um wirksam zu sein, auch allmählich wach- sen müssen – nahm in schrankenloser Progression überhand. Man watete im Schlamme der Gemeinheit und brachte diesem Cultus die bedauerlichsten Opfer. Man verwilderte und grinste blödsinnig dazu, wenn auch Weib und Kind an dem sittenlosen Trubel ein schmunzelnd Gefallen fand. Da nahm der rohe Spectakel, wie gesagt, plötzlich ein stilles Ende … Was ihm folgte? Nichts Erfreuliches. Als ich einst in der Hamburger Vorstadt S t . P a u l i , dem berüchtigten Matrosenviertel, Abends herumschlenderte und aus den zahllosen Kneipen dieses turbulenten Rayons das heisere Gejohle der volltrunkenen Theerjacken erschallen hörte, trat ich in ein solches schmuck- loses „E s t a m i n e t “, um doch die Wunder kennen zu lernen, die zu solch jubelndem Beifall aufgefordert. Da mußte ich fast staunen über die – Genüg- samkeit solch robuster Charaktere und wetterharter Naturen, welche sich an den albernsten Zweideutigkeiten einer kreischenden Matrone so höchlich ver- gnügten, während Wien bereits die „pikante“ M a n n s f e l d besaß, die in ganz anderen Dingen machte. Wie weit waren die armen Bursche gegen uns zurück! Als ich aber später die Metropole an der S p r e e besuchte, fand ich allerdings schon einen Fortschritt in diesem Fache, wo sehr versirte „P o l k a m ä d c h e n“ bei „H a r f o n e n g e z w i t s c h e r “ und sonstiger artistischer Zugabe halbinva- lider Exkünstler ein gewisses Publicum in gewissen Kellerräumen und anderen äquiparirenden Localitäten die Nachstunden versitzen und – verschlemmen lehrten. Welche Atmosphäre, welche Kunstgenüsse und welches Ragout von schlotterigen Gestalten beiderlei Geschlechts! Eine Maculatur der Gesellschaft! Trotzdem fand die derbe Gattung solcher Vergnügungen in der „Hauptstadt der Intelligenz“ rasch Verbreitung, Ausdehnung und Vervielfältigung. Indus- triöse Entrepreneurs brachten den Bedürftigen ihrer ehrenwerthen Gäste nach jeder Richtung entgegenkommende Abhilfe, man engagirte förmlich ganze Contingents dienstwilliger „Damen“, d. h. Dirnen, errichtete – „Cabinets à part“ und „Cabinets séparés“ und credenzte um theures Geld ein höllisches Ge- söffe. Wer die ersten Vergnügungsfahrten nach P a r i s und L o n d o n Anno 1862 mitgemacht und die Augen groß aufriß, als er derlei Etablissements in der C i t é B e r g è r e , oder das Coalhole, Evans etc. das erste Mal kennen lern- te und schon glaubte, zu diesen eigenthümlichen Productionen mesquinster Talente und ihrer originellen Amateurs Glossen machen zu dürfen, sah diese

96 Marion Linhardt: Berichte: Wiener Vergnügungen

für jene Weltstädte fast primitiv zu nennende Installation in der Berliner Re- sidenz in kürzester Frist in jeglicher Hinsicht weitaus überflügelt. Denn nicht nur das für Aug und Ohr Gebotene war reichhaltiger, auch das Publicum war es, d. h. aus den buntesten und contrastirendsten Elementen gemischt. Wer in einen der „B u m s k e l l e r “ trat, bei „F a l s t a f f “, „’r e i n g e f a l l e n“, oder im „O r p h e u m“, in der „Wa l h a l l a“ etc. seine „culturhistorischen Studien“ machen wollte, traf dort nicht nur übermüthige Studenten und Grisetten, lusti- ge Unterofficiere und Handwerker, abenteuernde Lebemänner und Solche, die es werden wollen, er sah auch den orthodoxesten „We i ß b i e r p h i l i s t e r “ bei seiner legalen „Stange“ sitzen, und den wechselnden Vorträgen mit stupender Andacht lauschen. Ich spreche hiebei nicht von den ominösen, sattsam bekann- ten „N a c h t c o n d i t o r e i e n“, deren exacteste Bestimmung es nach einem einschlägigen „Führer“ von Alterszeiten her nur ist, bei einem „S c h w a r z e n“ den von andersher importirten R a u s c h n i e d e r z u d ä m p f e n ; ich spreche auch nicht von den diversen Sammelpunkten mit Ta n z s ä l e n letzten Ran- ges, und nicht von den J u b e l = und Tr u b e l b ä l l e n in der „Vi l l a n o v a“, „Vi l l a C o l o n n a“, im „O d e o n“, „Va u x h a l l “ und diesem oder jenem inferioren „C a s i n o“ u. s. w., mit ihren gar sonderbaren exotischen Program- men von chinesischen, persischen, andalusischen, spanischen und italienischen „N ä c h t e n“, und wo es Feste gab, wie z. B. bei L a d e n d o r f f , wo im Sep- tember 1876 ein „Ball im Lager der Serben in der Nacht vor d e r S c h l a c h t v o n I s t v o r “ abgehalten wurde, welche schon nahezu an Tollhäuslerei grenzen. Von all diesen Schöpfungen einer üppigen Wirthsphan- tasie sei weiter nichts erwähnt, weil sie eben keine Specialitäten einer einzelnen Stadt waren, vielmehr in geringen Variationen fast allüberall zu finden gewe- sen. Bei meiner jetzigen Rück= und Umschau will ich nur der wirklichen und wahrhaften „T i n g e l =Ta n g e l “ gedenken, als deren vielgeschäftigte Z i e h - m u t t e r unstreitig – B e r l i n zu erklären ist. Was heißt und was ist ein „T i n g e l =Ta n g e l “? Ich sagte oben, daß Paris, London, Hamburg schon längst Etablissements größeren oder kleineren Um- fangs besaßen, in welchen Novizen der Kunst, meist aber deren abgetakelte Größen, havarirte und schiffbrüchige Virtuosen, fettleibige Balleteusen und tuberculose Grotesktänzer, hungerige Feuerfresser und abgezehrte Akrobaten vor einem wenig kritischen und wenig scrupulösen Publicum, das dabei sein Vesperbrot verzehrte und hiezu sein übliches Quantum trank, für ein mäßiges Entrée in den zahmsten oder haarsträubendsten Leistungen sich producirten oder vielmehr abquälten. Aehnliches boten übrigens auch bereits seit Decen- nien die soi-disant „R a u c h t h e a t e r “, an denen Deutschland den leidigsten Ueberfluß hat. Die Gattung, das Genre der billigen „A f t e r k u n s t “, das mit der K n e i p e v e r s c h m o l z e n e Q u a s i t h e a t e r – im Großen und im ausgedehntesten Maße cultivirt zu haben, dieses Verdienst – mit Bedauern muß es gesagt werden – gebührt der nordischen Residenz, die in ihrem M a x M a r c u s mit seinen diesfälligen instructiven Lehrbüchern sogar einen eigenen literarischen Wegweiser und vielbändigen Instructor besaß.

97 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

Das „T i n g e l =Ta n g e l “ ist also ein mixtum compositum von B i e r l o c a - l e und M u s e n t e m p e l , wo beiderlei Gaben nur in bescheidenster Qualität offerirt werden, die Consumenten der beiderlei Genüsse jedoch ebenfalls von genügsamen Anforderungen beseelt sind und weder als Gourmands nach dem Gaumen, noch nach den ästhetischen Grundsätzen zu gelten gewohnt sind. Die Erfindung ist eine beklagenswerthe und in ihrer ungebändigten Ausnüt- zung doppelt verwerflich, weil sie die Massen von b e s s e r e n G e n ü s s e n a b l e n k t , sie beispielsweise vornehmlich auch den T h e a t e r n e n t f r e m - d e t und sie lehrt, mit dem O r d i n ä r s t e n vorlieb zu nehmen und daran Gefallen zu finden. Berlin hat nun oder hatte doch eine Unzahl solcher Re- fugien, in denen der Geschmack für Solideres und Edleres unter grandiosem Spectakel ertödtet wird, complet organisirte Verwilderungsinstitute, die, ob sie nun „To n h a l l e “ oder „B u n d e s h a l l e “ oder „A l c a z a r “ oder „E l d o r a - d o“ sich benamsen, doch keine andere Tendenz verfolgen, als – den „M i t- t e l s t a n d “ und die n a i v e J u g e n d (sammt Zugehör) an der p l a t t e s t e n M i t t e l m ä ß i g k e i t ihr Genügen finden zu lassen, und dieselben zu verlei- ten, als Leckerbissen an einigen zotigen Chansons und erotischen Couplet- strophen sich zu erlaben und zu ergötzen. Mich stimmte der Anblick dieser jubelnden und ungeberdigst klatschenden Tingel=Tangel=Enthusiasten nicht heiter und wenn ich daran dachte, daß W i e n , das sich in Nachahmungen so gerne gefällt und in seiner südlichen Excentricität jede Neuerung bis zum Excesse ausbeutet, sich auch dieser Modegattung bemächtigen sollte, so wurde mir vor der Zukunft fast bange. Und richtig … Wir machen in neuester Zeit Tauschgeschäfte und treiben merkwürdigen Han- del. Wir installiren den Berlinern prächtige B i e r h a l l e n , animiren sie, gleich uns imposante und gemüthliche C a f é s zu errichten, überlassen ihnen sogar unsere geübtesten Garçons und geschultesten Marqueurs – und führen dafür die wüste „T i n g e l =Ta n g e l e i “ bei uns ein. Im Triumph brachten wie sie heim und als wir die saubere Errungenschaften hatten, geriethen die damit Beglückten beinahe aus Rand und Band. Die Sache ist, wie bereits bemerkt, nicht gleichgiltig und keineswegs gering zu schätzen und auf die leichte Achsel zu nehmen. Wir werden die Bescheerung noch nach ihrem genauen Werthe würdigen können und Gewinn und Verlust zu taxiren haben. Die Unfläthereien des Volkssängerthumes hätten wir so ziemlich überstanden, und die b l ö d e S c h a l h e i t d e s T i n g e l =Ta n g e l t h u m s ist uns geworden und zur vollsten Blüthe gereift. Die Theater klagen über Man- gel an Besuch, machen horrende Anstrengungen und laboriren doch mehr oder minder an der Schwindsucht, und die „O r p h e u m s“ etc. sind überfüllt. A n - z e n g r u b e r, der tiefsinnige und edle Reformator der Volksbühne, der sie von ihrem aberwitzigen Possenblödsinn reinigen wollte, erringt nur „Achtungser- folge“, bringt es bei seinen kernigsten Stücken kaum zu einem Dutzend Auf- führungen, mußte sich zeitweise im letzten Theaterchen, wo F ü r s t so lange seine jodelnden Bravouraden hielt, ein Asyl suchen und ein schützend Heim aufschlagen, während Fräulein X., die resolute Tingel=Tangelistin, ein Heer von Bewunderern an sich fesselte, über ihr jeweilig Befinden Bulletins ausgab

98 Marion Linhardt: Berichte: Wiener Vergnügungen

und die Blätter mit Reclamenotizen über ihre allabendlich wechselnde Toilet- tenpracht bombardirte. Man braucht kein griesgrämiger Murrkopf zu sein, um gewisse Dinge nicht allzu lustig zu finden. Wie vorausgesagt und vorausbefürchtet, machte die neue Form in dem ab- wechslungslustigen hitzigen Wien anfänglich nicht nur Glück, auch Furore. Die T i n g e l =Ta n g e l s wuchsen wie Pilze nach einem lauwarmen Som- merregen aus allen Ecken und Enden und – Winkeln hervor. Bankerotte Geschäfte rafften sich neu auf, proclamirten sich unter den tollsten Titeln als „X =T i n g e l =Ta n g e l “ und prosperirten eine Zeitlang. Honorable Etablissements sahen sich plötzlich verwaist und darum genöthigt, bei dem allgemeinen Trubel mitzuthun und uniformirten und adaptirten sich zu glei- chem Zwecke. Wer einen, wenn auch verstimmten „Wi m m e r k a s t e n“ und ein paar, wenn auch allseits expatriirte „Künstler“ ausfindig machen und das dringendste Geld für farbige Annoncen und eine grellrothe Laterne auftrei- ben konnte, kündigte den p. t. Zeitgenossen seine längstverfallene Spelunke als neuestes „Tingel=Tangeleum“ an und sah sich einstweilen als gemachten Mann. Die „T i n g e l =Ta n g e l =Ta r a n t e l “ hatte sie Alle gestochen, die „Tingel=Tangelosis“ ergriff ganze Bezirke, die „Tingel=Tangelei“ machte ganze Schichten und Classen verrückt; der „H a r f e n i s t e n f e x “ ist verschwunden und der „T i n g e l =Ta n g e l n a r r “ ist neu auferstanden. Mit den „C a f é s c h a n t a n t s“ begann der Rummel und die „O r p h e u m s“, „O d e o n s “, „E l y s i u m s “, „O l y m p s “, „W a l h a l l a s “, „C o l o s s e u m s “, „A l h a m b r a s“, „A l c a z a r s“, „H e r c u l a n u m s“, „S a n s = S o u c i s“ und unzählbare pur et simple „T i n g e l =Ta n g e l “ folgten in hastiger Eile. Ganz Wien war plötzlich überschwemmt von derlei Talmikunstinstituten und eine Armee von englischen, spanischen, französischen, amerikanischen und afrika- nischen zigeunernden „Artisten“ und marodirenden Athleten und ähnlichen Virtuosen, eine Legion von singenden, pirouettirenden, balancirenden, musici- renden, kugelwerfenden und schlittschuhlaufenden Künstlerinnen (sämmtlich laut Programm „S t e r n e e r s t e r G r ö ß e “), erschien als jüngste Invasion. Es schwirbelte einem im Kopfe, wenn die Augen auf das Kunterbunt von Af- fichen und Inseraten fielen und die illustrirten Gliederverrenkungen, halsbre- cherischen Gruppirungen, die keck chaussürten Beine und derb decolletirten Monstreformen der respectiven weiblichen Magnete zu schauen bekamen. Die Residenz glich einem riesigen Jahrmarkt, auf welchem die producirenden „K r ä f t e “ sämmtlicher Schaubuden des Erdballs sich ein Rendezvous gege- ben zu haben schienen. Ein verwirrender Anblick, der aber doch der gaffenden Masse ein bewunderndes „A h ! “ entlockte. Denn was gab’s da so plötzlich Alles zu hören, zu sehen und zu bestaunen! … Nun war der „T i n g e l =Ta n g e l n a r r “ in seinem Elemente. Er sprach von nichts Anderem, dachte an nichts Anderes und träumte von nichts Anderem als von „i h r “ und von „i h m“, die ihn Nachts vorher entzückten, ihn zu den begeisterten „B r a v o s“ hingerissen und ihn seine wulstigen Hände wundklat- schen ließen. Er hatte keinen Augenblick mehr Ruhe, versäumte und vergaß

99 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

die wichtigsten Pflichten seines Standes, Geschäftes oder Amtes, und erhitzte sich in den erregtesten und lärmendsten Debatten mit Gleichgesinnten oder störrischen Gegnern, um die Geltendmachung der Vorzüge seiner erklärten Lieblinge. Der „F u r o r T i n g e l =Ta n g e l i c u s“ ergriff alle seine Sinne und Nerven, er war nicht mehr fähig, anderen Dingen, Personen und Ereignissen auch nur die geringste Wichtigkeit und Bedeutung zu gönnen, für ihn gab es nur mehr die Reize und Wunder des „T i n g e l =Ta n g e l “ und ein Abend nicht in solchem Kreise verlebt, war für ihn ein verlorener! Da sitzt er denn dafür schon am folgenden Abende im Paroxismus des Vorent- zückens in knappester Nähe der Tribüne, wirft wüthende Blicke jenen Barba- ren zu, die es etwa wagten, ein nur halbwegs lärmend Geräusch zu machen und spendet dagegen allen denkbaren Schmelz seiner Augen und sein ehrlichstes Herzklopfen der unter schelmischen Knixen erschienenen Debutantin. Sie lä- chelt. „A h , b r a v o ! P s t ! R r r u h i g ! “ Sie hebt und lüftet das bis an das Knie reichende Röckchen, und gibt die von antiquarischen Tricots und einem tüchtigen Wattaquantum umhüllten Beine der allgemeinen prüfenden Begut- achtung preis. „Ah, bravo! Bis! Da capo! fuora! Rruhig! Pst!“ Nun singt sie. Sie singt ein schottisch oder irisch Lied, eine portugiesische Ro- manze, oder eine Pariser Chansonnette. Alleseins! Keiner der Anwesenden ver- steht eine Silbe, Niemand hat von Sinn und Inhalt des kauderwälschen Textes und der barocken Melodie eine Ahnung, aber – je unverständlicher, desto ef- fectvoller; ein Gebrüll und Gestrampfe der fanatisirten Zuhörer durchtobt den Saal, unseres Enthusiasten Augen erglänzen in Freudethränen, seine Wangen erglühen und erzittern vor Wonne, seine Arme arbeiten wie zwei altmodische Feldtelegraphen – er rast Beifall … So geht es bei sämmtlichen Nummern des fast endlosen Programmes. Ob Flö- tensolo oder Trapezproduction, ob japanischer Tanz oder Negerquartett, ob Maultrommel oder Bombardon, ob Ziehharmonika oder chinesisches Messer- spiel – der enragirte „T i n g e l =Ta n g e l n a r r “ ist stets in der Gluthhitze des perennirenden Entzückens. Er hat all diese Dinge und Sachen und Leistungen schon hundert Mal im Leben gesehen und gehört und gewiß oft viel besser und trefflicher, aber er hat sich nie darob verwundert; erst hier hat er die richtige Stimmung, die richtige Te m p e r a t u r gefunden, wo ihn das Geringfügigste, das Allergewöhnlichste in begeisterte Aufregung bringt. Er beklatscht und be- jubelt Alles, auch die Gikser der von Wiederholungen erschöpften Sopranistin. So harrt er denn aus bis zum Schlusse der Vorstellung. Er ist der Letzte im Saale und schleicht der Truppe in die Kaffeeschänke unter unbeachteten Seufzern nach. Mit welcher Wonne würde er hier seine Dankbarkeit für die erlebten Ge- nüsse mittelst einer anständigen Punschbowle zu erkennen geben, aber – er wagt es noch nicht und so begnügt er sich einstweilen mit stillem Schmachten par distance, bis die Zeit und Umstände ihm günstiger werden und ihn den Muth finden lassen, vor aller Welt als „K u n s t f r e u n d “ sich zu zeigen. Nun gelingt es ihm allmählich sogar, intim mit den Leuten zu werden; duzt sich vielleicht in Kürze selbst mit dem bewundertsten japanesischen Jongleur, der zufällig

100 Marion Linhardt: Berichte: Wiener Vergnügungen

deutsch versteht und beinahe lerchenfelderisch spricht. Er wird eingeweiht in die Mysterien der Kunst; er lernt auch die A g e n t e n dieser Branchen kennen, die „Z u t r e i b e r “, welche die Wirthe mit all diesem artistischen Wunderkram versehen; er kennt in wenigen Wochen Namen und Eigenschaften nicht nur aller dermalen in Wien wirkenden Künstler, er informirt sich auch über Jene, welche heute noch in Philadelphia oder Stockholm, in Neapel oder Petersburg „wirken“ und erst mit dem „nächsten Schiffe“ ankommen werden. Man schätzt sein warmes Interesse an der Sache, seine rührende Theilnahme an diesem oder jenem kleinen Mißgeschick und Unfalle einzelner Mitglieder, man beehrt ihn hierauf mit allerlei freundschaftlichen Anliegen und erlaubt ihm schließlich, einer alten Mulattin den Hof zu machen. Unter Tags schwebt der Glückliche selbstverständlich geistig nur in jenen Re- gionen, wo es Balancirstangen, Trapezschnüre und – Coupletsängerinnen gibt. Er hat sämmtliche „T i n g e l =Ta n g e l “, vom „H u n d s t h u r m e r “ bis zum „T h u r y b r ü c k l e r “ kennen gelernt, ist bei K e m p n y und H o r n i c k , bei D a n z e r und B i s c h o f f , bei B a l z e r und P a n t l , bei S i g m u n d und S c h w e n d e r u. s. w. wie „zu Hause“ und weiß die Programme von sämmtli- chen Localen, wo „etwas los ist“, auswendig. Wehe dem Ignoranten, der etwa z. B. vermuthet: die „Tyrolienne“ Mlle. C a z è producire sich im „O l y m p“, oder die Gymnastiker Adolfo M o r r o und George W i n d s o n seien im „E l y s i u m“, die Equilibristin J u l i e t t a im „S a n s = S o u c i “, und die „welt- berühmten Bravourturnerknaben“ G e o r g i o und F r a n c e s c o bei D a n z e r zu sehen. Das wären Mißgriffe, die er als unverzeihlich und wofür er den Frev- ler als „ungebildet“ erklären würde. Mit bewundernswerthem Gedächtnisse ausgestattet und mit seltener Eloquenz begabt, hat der Mann das vollständige Repertoire inclusive Personalstand des gesammten Tingel=Tangelmarktes im Kopfe und wird nie falsch citiren, wenn er den Kautschukmann Bela A l m a - s y, den Komiker S i e g e , den Clown B a r d r a m , die Alpensängerin E b e r- m a n n , den Akrobaten Z s c h o l l y, die Velocipedistin A d a k e r, und die Rollschuhkünstler G o o d r i c h und C u r t i s etc. etc. hier und dort ihre Tri- umphe feiern läßt. Er hat, wie Moltke die Ordre de bataille, den Schlachtplan jedes einzelnen Abends vor seinem inneren Auge und kann, wie Julius Cäsar jeden Soldaten, so jeden Künstler und jede Künstlerin beim Namen, und sei er der verzwickteste und unaussprechbarste, mit Sicherheit nennen. Er wird den Neuling an seinem Tische auf die „N i g g e r s o n g s“ aufmerksam machen, und ihm genau nachweisen, welche Strophen zum „We i d l i n g a u e r l i e d “ neu zugedichtet werden mußten. Er wird zu erzählen wissen, daß die Geschwis- ter L a w r i e l l bereits in „O x f o r d = H a l l “, und die S i s t e r s L e i g h im „P a v i l l o n“ engagirt waren. Er kann die wunderbaren Erlebnisse des Afri- kaners M. B o g e l und des Kopfbalanceurs L i n d zum Besten geben, über die englischen Mynstrels B r o t h e r s M e l l o r die genauesten Familiendaten liefern und auch Enthüllungen bringen, wer der Lehrmeister des musikalischen Negers Y x e y gewesen. Er kennt alle Geheimnisse aller Truppen und vermag auch anzudeuten, wo der französische Charakterkomiker P r o v a n d i e r, die Salonjodlerin M o n t a g und der englische Affendarsteller K o t a k y, sobald deren Engagement hier zu Ende, demnächst debutiren werden. Natürlich ist

101 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

er auch über alle Gagen=, Spielhonorar= und sonstigen Verhältnisse jedes Ein- zelnen auf’s Verläßlichste informirt. Dieser glühende Cultus verzehrt erklärli- cherweise den Mann, er endet vielleicht im Irrenhause, aber – was liegt daran, vorläufig ist er der Glücklichste aller Sterblichen. Nicht alle der zahlreichen „T i n g e l =Ta n g e l f e x e “ sterben eines so – ehr- lichen Todes. Manche gerathen vorerst noch in andere Häuser, als in das be- kannte Hospiz am Bründlfelde, denn die Gesellschaft in solchen Räumen ist mitunter sehr – g e m i s c h t . Auch das Gebotene soll es zeitweise sein. Genug, daß unsere Herren Detectives, wenn sie ein frühreifes Defraudantchen zu su- chen haben, wissen, wo sie es, neunzigmal unter hundert Fällen, mit Sicherheit finden können. – Sind letztere Bemerkungen etwa ungehörig? Nun, als die Väter der Stadt vor ein paar Jahren das Budget beriethen, wurde bei dem Ab- satze „S p e c t a k e l g e l d e r “ auch über jene Unternehmungen Einiges gespro- chen, welche „gewiß nicht zum Vortheile der Sitten und des g u t e n G e s c h m a c k e s d i e n e n und außerdem den schwer belasteten T h e a t e r n fühlbare C o n c u r r e n z machen“. Nun also …

2

Victor Stöger: Das Elysium in Wien. Ein Erinnerungsbild aus halbvergangener Zeit In: Alt-Wien 8 (1899), S. 37–44.

Einem nicht unbeträchtlichen Theile unserer geschätzten Leser dürfte aus ihrer Jugendzeit ein Unterhaltungsort noch in lebhafter Erinnerung sein, der sich allgemeiner Beliebtheit zu erfreuen hatte: „Das Elysium“. Es bildete eine Art Gegenstück zu dem vielgerühmten Apollosaal des alten Wien […]. Da aber seit seinem Blühen und Vergehen auch schon wieder einige Lustra dahin geschwunden sind, und der jüngere Theil unseres Leserkreises die Herrlichkeiten des Elysiums entweder nur vom Hörensagen oder gar nicht kennt, so wollen wir in dem nachfolgenden Artikel eine Schilderung dieses Be- lustigungsortes an der Hand von noch vorhandenen Bildern, Beschreibungen und aus eigener Erinnerung geschöpft, zu geben versuchen. Im IV. Jahrgange von „Alt=Wien“ war in Nr. 6 und 7 der Wiener Patrizier=Familie Daum ein umfangreicher Aufsatz gewidmet und in demselben auch mit weni- gen Worten des E l y s i u m s i m S e i t z e r h o f e gedacht, denn der Name Daum ist mit dem Elysium so innig verknüpft, daß des Einen ohne des Ande- ren nicht erwähnt werden kann. War es ja doch der Kaffeesieder (heute würde man Cafetier sagen) vom Kohl- markt, Joseph Daum, der mit dem Gastwirthe Leopold Grader die Idee faßte, den Wienern für den tief herabgekommenen und daher nicht mehr populären Apollosaal einen Ersatz zu bieten, wenn auch nicht in demselben großen Maß- stabe.

102 Marion Linhardt: Berichte: Wiener Vergnügungen

In den geräumigen Kellergewölben des alten Seitzerhofes (Nr. 427 alt) in der Spänglergasse, an dessen Stelle heute der „Bazar“ (Nr. 6) den Verkehr zwischen Seitzergasse und den Tuchlauben, als sogenanntes „Durchhaus“ vermittelt, er- öffneten die Genannten am 4. Februar 1833 ein phantastisch ausgestattetes Vergnügungs= und Tanz-Local unter dem Namen „Elysium“. In diesem ers- ten Elysium, nicht zu verwechseln mit dem späteren, noch weit berühmteren, in den Kellern des St. Anna=Klosters, wurden Unterhaltungen unter den bi- zarrsten Titeln gegeben, welche nicht ermangelten, zahlreiche Besucher anzu- locken. Der alte Seitzerhof, dessen Bestehen bis in das 14. Jahrhundert zurückreich- te und der damals „Haus bei den Röhren“ oder „Röhrhof“ genannt wurde, gehörte der Karthause Mauerbach, deren Mönche und Prior Herzog Fried- rich III. aus der Karthause Seitz in Untersteiermark berufen hatte, daher ihnen im Volksmunde der Name „Die Seitzer“ blieb und auch auf ihre Besitzungen übergieng. Der gute Wein, welcher in dem Klosterkeller ausgeschenkt wur- de, erlangte große Berühmtheit, insbesondere im 16. Jahrhunderte eine eigene Gattung, „Kräuterwein“ genannt. Nach Aufhebung der Klöster unter Kaiser Josef II. im Jahre 1782 wurde der Seitzerhof mit allen Freiheiten an den Wiener Bürger Reich verkauft, dessen Erben ihn bis zu seinem Umbau im Jahre 1838 besaßen. Schon im Jahre 1823 hatte Daum diese historisch ehrwürdigen Kellergewöl- be im Fasching zu Tanzunterhaltungen eingerichtet, aber so glänzend und geschmackvoll, wie seit der Eröffnung des „Elysiums“ daselbst, hatte man in Wien schon lange keine Localität gesehen; besonderes Aufsehen erregte das sogenannte „rothe Zeltzimmer“ […]. Die abwechslungsreichen Productionen verschiedener Künstler, Gymnastiker und dergleichen befriedigten Jeden nach seinem Geschmack; es war eine Art Vorläufer der heutigen Tingel-Tangel, oder wie es nobler klingt, „Varieté“. Der unsterbliche Josef Lanner hatte die Musik in den beiden Tanzsälen übernom- men und zur Eröffnung eine seiner reizendsten Walzerpartien „Elysiumwalzer“ componirt. Ueber eine mit Statuen und Vasen geschmückte, nicht allzubreite Stiege ge- langten die Besucher an der Garderobe vorüber in den mit Waldbäumen de- corirten Vorsaal, in welchem sie von allerlei abenteuerlich Costumirten begrüßt wurden. Wilde Männer (Cannibalen), ein Drehorgel spielender Löwe, ein Bär, welcher dem Dudelsack quietschende Töne entlockte, ein Fagott blasender Bullenbeißen und ähnliche Gestalten machten mit allen möglichen und un- möglichen Instrumenten einen wahren Höllenspectakel, um die Ankömmlinge gleich in die richtige heitere Stimmung zu versetzen. Durch ein Portal mit den Inschrift „Dem Bachus und dem Jokus geweiht“, gelangte man dann in die eigentlichen Vergnügungsräume. Es gab da einen Productionssaal, in welchem als Vehmrichter, oder als Au- tomaten maskirte Musiker concertirten – einen Tanzsaal mit Spiegelgalleri- en – ein Jagdzelt, in dem Tiroler= und Steirer=Sänger sich hören ließen, einen Dianen=Tempel sammt einer Bildergallerie, einen Wintergarten mit allegori-

103 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

scher Personification der vier Welttheile, Europa, Asien, Amerika und Afrika, den fünften Welttheil Australien scheint man im Elysium noch nicht gekannt zu haben, oder es war keine geeignete Repräsentantin dafür aufzutreiben. Daß es an Speisezimmern, Trinkstuben und allen sonstigen erforderlichen Neben- räumen nicht fehlte, ist selbstverständlich, aber bei den meist ziemlich engen Verbindungsgängen war der Verkehr ein schwieriger und oft staute sich die Menge in beängstigender Weise. Doch der gutmüthige Humor der alten Wiener half über diese Schwierigkeiten immer hinweg, mit liebenswürdiger Geduld ließ man sich drängen und schie- ben, bis man das gewünschte Plätzchen erreicht hatte, um dann mit fröhlichem Behagen sich an dem lauten Treiben zu ergötzen. Daum, schon damals ein Meister der Reclame, sorgte dafür, das Interesse des Publicums an seinem Unternehmen stets wach zu erhalten und frischte es zeit- weilig noch durch zugkräftige Ankündigungen recht wirksam auf, so zum Bei- spiele: „Dianen=Bälle“, „Reunionen im Wasser= und Feuerreiche“, „Damen- spenden=Bälle“, bei welchen jede Besucherin gratis ein Ball=Andenken er- hielt, „Burleske Belustigungen österreichischer Nationen“, dann sogenannte „Cachucha=Bälle“, „Bachus als Ballgeber in der Unterwelt, oder ein Freuden- mahl im Elysium.“ Was konnte man noch mehr verlangen? Die Tanzmusik bei all’ diesen Bällen wurde Anfangs, wie schon gesagt, von der Musikcapelle Josef Lanner’s unter dessen persönlicher Direction, vom Jahre 1835 an von Franz Schauer besorgt; das Eintritts-Billet kostete 30 Kreuzer C. M. […] Im Jahre 1838 war es mit der Herrlichkeit im Seitzerkeller zu Ende, der alte Seitzerhof wurde abgerissen, um einem Neubau, dem schon erwähnten „Bazar“ Platz zu machen. „Zur angenehmen Erinnerung an diesen nun für immer geschlossenen Belusti- gungsort bei Gelegenheit des Abschiedsfestes am 18. März 1838“ widmete der Unternehmer Josef Daum, k. k. Hof=Traiteur, seinen Gönnern ein nun bereits äußerst selten gewordenes Gedenkblatt, von Wolf lithographirt und bei Höfe- lich gedruckt, auf welchem die beliebtesten Räume des alten Elysiums und die Damen, welche die vier Welttheile vorstellten, abgebildet waren. Den altfranzösischen Spruch: „Le roi est mort, vive le roi!“ wendete Daum auch auf seine Schöpfung an; mit dem Fall des Seitzerhofes sollte das Elysium nicht verschwinden, größer, schöner, glanzvoller sollte es neu wiedererstehen, verjüngt, wie der sagenhafte Vogel Phönix aus seiner Asche sich wieder erhebt. Als kluger Geschäftsmann hatte Josef Daum sich schon bei Zeiten umgesehen und bald auch die geeigneten Localitäten in den weitläufigen Kellerräumen des St. Anna=Gebäudes in der Johannesgasse Nr. 980 (alt) gefunden, und während noch im alten Elysium im Seitzerhofe die letzten Feste abgehalten wurden, be- gannen schon Maurer und Zimmerleute, Maler, Bildhauer und Decorateure

104 Marion Linhardt: Berichte: Wiener Vergnügungen

drüben in den Tiefen des St. Anna=Kellers ihre emsige Thätigkeit, um in den finsteren Gewölben des ehemaligen Jesuitenklosters ein neues prächtiges Elysi- um hervorzuzaubern. Die Welttheile wurden hier nicht mehr nur in allegorischer Weise dargestellt, sondern die hiezu bestimmten Räumlichkeiten wurden von den namhaftesten Theatermalern und Decorateuren mit allem Raffinement auf das effectvollste und mit großem Kostenaufwande hergestellt, so daß alle Reize des Orients und Occidents da vereinigt waren. Die Beleuchtungs=Einrichtung wurde von Carl Demuth und das Arrangement des Ganzen nach den Zeichnungen des k. k. Hofmalers Gurk ausgeführt. Bereits am 8. März 1840 fand die solenne Eröffnung des „Neuen Elysiums“ statt, auf welche der rührige Unternehmer die lebensfrohen Wiener durch pom- pöse Maueranschläge größten Formates nicht wenig neugierig gemacht hatte. Um sich in dem Labyrinth von Sälen, Stiegen, Zimmern, Corridors etc. etc. zurechtfinden zu können, veröffentlichte Daum gleichzeitig eine Art Führer und Erklärung für die unterirdische Wanderung, mit Abbildungen der hervor- ragendsten Objecte. Im Nachstehenden wollen wir diese Beschreibung wörtlich citiren, weil sie ein anschauliches Bild dieses berühmten Vergnügungs-Etablissements zur Zeit sei- ner Eröffnung gibt. „Der Eintritt in diese Localitäten wird durch ein Portal im Geschmack der in- dischen Architektur bezeichnet, auf welchem zwei Sphinxe einen transparenten Erdglobus (die Weltkugel) halten. Ueber eine bequeme Treppe, an der Garderobe vorbei, gelangt der Besucher zu- erst nach Asien, und nachdem er schon auf der Stiege mit den fremden Formen der asiatischen Baukunst sich befreundet, gelangt er in die inneren Gemächer eines indischen Nabobs. Die Vorhalle wird hier von acht Elephanten getragen, welche in ihren aufwärts geschwungenen Rüsseln zugleich den Licht=Apparat halten, und hier im beschränkten Raume als Vorbild der indischen Riesenbau- ten dienen sollen. Ein daran stoßender Salon, dessen Decke mit einem goldgelben Netze und flammenden Kugeln bedeckt ist, und auf zarten Säulen zu ruhen scheint, wel- che ringförmig beleuchtete transparente Tulpen tragen, führt durch eine Ab- theilung, in welcher die Credenz befindlich, und an welcher asiatisch gekleidete Mädchen serviren, zum eigentlichen Prunksaale, welcher in der hintersten Ni- sche ein Orchester, dessen Musiker asiatisch costümirt sind, birgt. Die Motive aller hier vorkommenden Ornamente sind entlehnt aus jenen Bau- werken, die noch aus der ältesten Zeit am Ganges in Ostindien aus der Umge- bung vorfindlich sind. Diese vier Locale umfassen Asien und sind zu Speise-Sä- len und Rauch-Localen bestimmt. Die Beleuchtung ist hier absichtlich durch transparente Schalen und Lampen gedämpft, um die Apathie der Asiaten zu bezeichnen, und das folgende Europa desto glanzvoller erscheinen zu machen. Aus der Credenz dieser Abtheilung führt der Verbindungsgang, in welchem sich der Geschmack der Decorirung vom Asiatischen entfernt und zum Eu-

105 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

ropäischen übergeht, in ein Vestibul, aus welchem man in gerader Richtung zuerst in die zweite Abtheilung (das gemüthliche Europa benannt) gelangt. Hier erblickt der Eintretende zuerst das Zeichen der Lust und Fröhlichkeit, einen Maibaum, sein Ohr berühren bekannte, zum Herzen dringende Lieder und Ländler, der Beschauer ist mit Wald von der einen Seite und der Fronte eines Tirolerhauses auf der anderen umgeben, von dessen Gallerie im ersten Stocke bequeme Sitze zum ruhigen Genuß des hier Vorgetragenen einladen. Neben dieser Abtheilung (dem gemüthlichen Europa) führt eine breite Treppe in die dritte Abtheilung: einen im modernsten Geschmacke angelegten und verzierten Tanzsaal, nach der Zeichnung des Herrn Architekten Schaden, des- sen Gallerie von [H]ermen getragen wird. Das Gemälde im Hintergrunde, das Schicksal der Prinzessin Europa darstellend, die flammende, zur Tageshelle ge- steigerte Gasbeleuchtung, Strauß’sche und Lanner’sche Conversations=Musik werden wohl den Aufenthalt im (eleganten) Europa errathen lassen, welchen Welttheil auch die Abtheilung darstellen soll. Die Malereien hier, sowie in Asien sind von Herrn Holzer ausgeführt. Die Erfrischungen, welche das Publicum so gerne in der Nähe hat, findet es sogleich in der daran anstoßenden vierten Abtheilung, einladend auf einer reich besetzten Credenz prangend. Alle unserem Gaumen wohlbekannten und erquickenden Erfrischungen sind hier in Fülle vorhanden, der darnach Verlangende genießt sie jedoch in Afrika, denn er befindet sich in dem Innern eines morgenländischen Militär=Zeltes, welches in Egypten aufgeschlagen und daher am oberen Ende eine Aussicht auf den Tempel von Tenthyra, am unteren Ende die Einsicht in das Innere eines geheimnißvollen Tempels und in der Ferne durch diesen den Anblick der großen Pyramiden von Gizeh und der Sphinx gewährt. Der Raum dieses Tempels ist für die Productionen aus dem Gebiete der scheinbaren Zauberei be- stimmt, worauf auch die aufgestellten Apparate hindeuten. Die an der Credenz beschäftigten Mädchen im afrikanischen Costüme sollen als lebende Bilder diesen Welttheil charakterisiren. Aus diesem Zelte in der geraden Linie seiner Länge weiset ein mit Rohr be- deckter Gang, gleichsam das Innere einer Indianer-Wohnung, nach Amerika. Hier befindet sich der Beschauer in einem tropischen Walde. Ueber seinem Haupte wölben sich Palmen, Mimosen, Araucarien, hier plastisch nachgebil- det, und lassen nur sparsam das blaue Gewölbe durchblicken. Mehr Genuß bietet sich Jenem, welcher auf der hier schlangenförmig angelegten Eisenbahn auf den von Pferden gezogenen Wägen eine Eisenbahnfahrt unternimmt, denn er sieht hier die Gegenden von New=York, den Chimborasso vom Plateau von Tapia, fährt an dem dreifachen Absturze eines Wasserfalles vorbei, bewundert die Geschicklichkeit eines Indianers aus dem Stamme der Caboclos, auf dem Rücken liegend, die Vögel im Fluge zu schießen, die Art und Weise der Boto- cuden, die Unzen zu erlegen, wird mit ihren besonderen Eigenthümlichkeiten im nächsten Tableau bekannt, fährt an der brasilianischen Küste vorbei bei Bahia (oder San Salvador) und gelangt zur Einfahrt in den Hafen von Rio Janeiro, wo sich links der Zuckerhutberg, die Forts Praya=Vermelha, Santa=Cruz,

106 Marion Linhardt: Berichte: Wiener Vergnügungen

im Hintergrund Ilga do Lagem Villegagnon und rechts der Pico präsentiren. Obgenannte Gemälde sind von den Herren Schilcher, Jachimovics, Mayer und Dolliner verfertiget. Hier fährt der Bahnwagen in eine Grotte, durch deren offene Höhlungen man eine vollkommene Ansicht von Rio=Janeiro, abermals einen lebendigen Wasserfall und das kaiserliche Lustschloß San Christofano gewahrt, und so wieder an den Punkt der ersten Ausfahrt gelangt. Die von den Bäumen herabhängenden Wurzelfäden sind eine Nachahmung jener Schling- pflanzen in Brasilien, Vaimbè genannt, welche dort so häufig vorkommen und zur Verfertigung aller Seile und Bogenschnüre dienen. In dieser Abtheilung leuchten Gasflammen aus den Rachen brasilianischer Schlangen, Eidechsen und Vampyre, welche von Bäumen und Felsen sich herabschwingen, sowie auch lebendige Affen, Papageis und andere Vögel diesen Welttheil charakteri- siren. Ueber der genannten Grotte gestaltet sich eine Terrasse mit einer abda- chenden Fläche, von welcher man die ganze Anlage übersehen und durch den mit Rohr gedeckten Pavillon wieder an der Garderobe vorüber an den Eingang nach Asien kommt.“ So sah das „Neue Elysium“ in den ersten Jahren seines Bestandes aus; bald aber stellte sich in Folge des großen Andranges die Nothwendigkeit heraus, das Etab- lissement zu vergrößern, andere weite Räumlichkeiten einzubeziehen und eine zweckmäßigere neue Eintheilung für den Verkehr herzustellen. Die Welttheile wurden durcheinandergerüttelt, Afrika in die Eingangshalle verlegt, Indien anderweitig untergebracht, für China Raum geschaffen, und auch der fünfte Welttheil „Australien“, mit einem feuerspeienden Berge ausge- stattet, fand nunmehr im Elysium seinen gebührenden Platz. […] Die Zahl der Schaustellungen, Productionen, Sehenswürdigkeiten wuchs von Jahr zu Jahr; der unermüdliche Daum leistete Großartiges in marktschreie- rischen Ankündigungen; durch zahllose Riesen=Placate, Transparentkasten, Annoncen, Besprechungen in den Tagesblättern, alljährlich publicirte, reich illustrirte Broschüren mit Aufzählung sämmtlicher Wunder und Novitäten des Elysiums zog er die Aufmerksamkeit der Vergnügungslustigen unwiderstehlich auf sich und sein speculatives Unternehmen. Er benützte die neuesten Erfin- dungen und Fortschritte der Technik zur Verschönerung seines Etablissements; überraschende Beleuchtungseffecte, zweckmäßige Ventilations=Vorrichtungen, hydro= und pyrotechnische Kunststücke, Artisten jeglichen Genres, Taschen- spieler, Jongleurs, Akrobaten, Wahrsager, Improvisatoren, wandernde Trouba- dours, Preisjodler, Zwerge, Riesen, dann Theatervorstellungen, lebende Bilder, Balletts, Pantomimen, Nebelbilder und allerlei optische Darstellungen, der Olymp mit seinen Göttern, die Korallengrotte, der Goldkiosk, der Krystall- palast und Musik an allen Orten und Enden, steigerten die Beliebtheit immer mehr. Es ist geradezu unmöglich bei dem proteusartigen Wechsel eine erschöp- fende Beschreibung all’ der Unterhaltungen und Attractionen zu geben, welche da [……] geboten wurden […]. Aber auch den Freunden des Tanzes gab das Elysium reichlich Gelegenheit, diesem Vergnügen zu huldigen, denn während des Faschings fanden an jedem

107 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

Sonntag „ein Jokus=Ball“, Dienstag „ein Iris=Ball“, Donnerstag „ein Flora=Ball“, Samstag „ein Fortuna=Ball“ statt und die Dirigenten der Tanzmusik waren nacheinander: Philipp Fahr- bach, der beliebte Ballin, Morelly, dann Carl Drahanek, Leitermeier, Weinlich und zuletzt Kovàcs. Die Costumfeste und Elite=Bälle, welche heutzutage die Glanzpunkte des Wiener Carnevals bilden, interessiren einen relativ nicht bedeutenden Theil der Wiener Bevölkerung und es ist meist eine und dieselbe Gesellschaft auf allen diesen Festen und Bällen zu finden. Die breiten Schichten des Mittelstandes stehen diesen glänzenden Abenden eben so ferne, wie den Premièren in den Theatern; hier wie dort steht die Kostspieligkeit des Vergnügens im argen Miß- verhältnisse zu der ökonomischen Lage des Mittelstandes. Im Vormärz aber erschien es jeder Familie als unerläßlich, wenigstens eine Faschingsnacht dem Elysium zu widmen; ja so exclusiv das Leben der Beamten-Hierarchie und des Adels in jener Zeit auch sein mochte, auf dem einfach gedielten Boden der Elysiumsräume fanden sich Vertreter aller Classen und aller Stände zusammen. Der Ruf, den das Elysium genoß, beschränkte sich nicht auf Wien, sondern war auch in den Provinzen verbreitet und man fand es ganz begreiflich, daß trotz aller Unbequemlichkeiten, mit welchen eine Winterreise vor fünfzig Jahren verbunden war, Familien aus der Provinz nach Wien kamen, um sich an den Herrlichkeiten des Elysiums zu ergötzen. Es war kein so fashionabler Unterhal- tungsort, wie seinerzeit der Apollosaal, die hohe Aristokratie und die reichen Fabrikanten, die jenen so gerne frequentirten, waren hier nur sporadisch zu finden, dafür aber war es ein Lieblingsort des Volkes, des Bürgerthums, eine wahre Specialität des alten Wien. Der anfangs nur mit 30 Kreuzer Conventions=Münze, später mit 50 Kreuzer (an der Cassa) fixirte Eintrittspreis, für welchen sämmtliche Vergnügungen des Etablissements ohne Separat=Entree (die Benützung der Eisenbahn ausgenom- men) zugänglich waren, gestattete es auch dem Minderbemittelten, sich einen frohen Abend zu vergönnen. […] Das Sturm= und Drangjahr machte der harmlosen Wiener Fröhlichkeit ein Ende; zwar öffneten sich danach abermals die Pforten des Elysiums unter Franz Daum’s Leitung, wieder füllte eine stattliche Menge die unterirdischen Räume, aber der Höhepunkt der früheren Beliebtheit war doch bereits überschritten, eine neue Zeit mit anderen Wünschen und Bedürfnissen war in ihre Rechte getreten. Aber eine geraume Weile fristete das Elysium doch noch sein Da- sein fort, bis neu erblühende Vergnügungslocale den wetterwendischen Sinn der leichtlebigen Wiener von dem bisherigen Lieblingsorte ablenkten; alle Reclame=Künste Daum’s vermochten den erloschenen Glanz und verblichenen Zauber nicht mehr zu beleben, die Massenbesuche nicht zurückzuführen. Im Jahre 1857 war Daum schon nahe daran, das Elysium zu schließen und in die Leopoldstadt „zum Sperl“ zu übersiedeln. Ein diesbezüglicher Faschingszug […] führte auch diese kritische Phase dem Publicum vor; schließlich blieb es

108 Marion Linhardt: Berichte: Wiener Vergnügungen

aber doch beim Alten, die Schwierigkeiten wurden diesmal wieder beseitigt und nochmals flackerte die erlöschende Flamme der Gunst für kurze Zeit wie- der empor – aber es gieng doch rapid zu Ende mit dem Elysium. Verschiedene Momente, der Ablauf des Pachtvertrages, die Stadterweite- rung und der damit im Zusammenhang stehende beabsichtigte Umbau des St. Anna=Gebäudes, erneuerte Schwierigkeiten bei Verlängerung der Concessi- on, bewogen den Unternehmer, das Elysium im Jahre 1863 endgiltig zu schlie- ßen. Jene aber, die es gesehen, weihen ihm doch ein unvergeßliches Gedenken, an fröhliche, glückliche Stunden und an die mit ihnen dahingeschwundene schö- ne Jugendzeit.

2

109 Literaturverzeichnis Baumbach, Gerda: Kreuzerkomödie. „[…] um einen Kreuzer kann man von reden- den Marionetten nicht viel fordern“. In: Maske und Kothurn 44 (2001), S. 101–131. Baumbach, Gerda: Vorstellung zweier Welten und das Prinzip der Verkehrung. Die Tradition und Nestroy. In: Theater und Gesellschaft im Wien des 19. Jahrhun- derts. Herausgegeben von W. Edgar Yates und Ulrike Tanzer. Wien: Lehner 2006. (= Quodlibet. 8.) S. 71–89. Birbaumer, Ulf: Das Werk des Joseph Felix von Kurz-Bernardon und seine szeni- sche Realisierung. Versuch einer Genealogie und Dramaturgie der Bernardoniade. Wien: Notring 1971. (= Dissertationen der Universität Wien. 47.) Blümml, Emil Karl: Das Penzinger Theater. In: E. K. B. und Gustav Gugitz: Alt- Wiener Thespiskarren. Die Frühzeit der Wiener Vorstadtbühnen. Wien: Anton Schroll & Co. 1925, S. 38–102 und S. 351–361. Brandner-Kapfer, Andrea; Großauer-Zöbinger, Jennyfer; Müller- Kampel, Beatrix: Kasperl-La Roche. Seine Kunst, seine Komik und das Leopold- städter Theater. Graz: Lithes 2010. (= LiTheS. Zeitschrift für Literatur- und Theater- soziologie. Sonderbd. 1.) Online: http://lithes.uni-graz.at/lithes/10_sonderband_1. html [21.5.2012]. Culture and Politics in Red Vienna. Herausgegeben von Judith Beniston und Robert Vilain. Leeds: Maney Publishing 2006. (= Austrian Studies. 14.) Dalinger, Brigitte: „Verloschene Sterne“. Geschichte des jüdischen Theaters in Wien. Wien: Picus-Verlag 1998. Dalinger, Brigitte: Quellenedition zur Geschichte des jüdischen Theaters in Wien. Tübingen: Niemeyer 2003. (= Conditio Judaica. 42.) De Alwis, Lisa: Zensieren des Zensors: Karl Glossys lückenhafte Übertragung (1897) von Franz Karl Hägelins Leitfaden zur Theaterzensur (1795). In: Nestroyana 30 (2010), S. 191–192. Deutsches Bühnenjahrbuch. Theatergeschichtliches Jahr- und Adressenbuch. 50. Jahrgang 1939. Herausgegeben von der Reichstheaterkammer – Fachschaft Bühne. Berlin: Reichstheaterkammer – Fachschaft Bühne 1939. Deutsch-Schreiner, Evelyn: Theater im ‚Wiederaufbau‘. Zur Kulturpolitik im österreichischen Parteien- und Verbändestaat. Wien: Sonderzahl 2001. Die Welt in Reichweite. Imaginäre Reisen im 19. Jahrhundert. Herausgegeben von Ursula Storch. Wien: Czernin Verlag 2009. (= Bibliothek der Erinnerung. IX.) Doll, Jürgen: Theater im Roten Wien. Vom sozialdemokratischen Agitprop zum dialektischen Theater Jura Soyfers. Wien; Köln; Weimar: Böhlau 1997. (= Literatur in der Geschichte – Geschichte in der Literatur. 43.) Feimer, Isabella: Die Wiener Theaterreform. Veränderung und Umstrukturie- rung der Wiener Theaterlandschaft, 2003 bis 2006. Wien, Univ., Diplomarb. 2007.

110 Marion Linhardt: Kontrolle – Prestige – Vergnügen. Literaturverzeichnis

Felderer, Bernhard; Schuh, Ulrich; Schnabel, Alexander; Grozea- Helmenstein, Daniela; Müllbacher, Sandra; Stix, Sigrid: Prüfung der Bundestheater bezüglich der ökonomischen Wirkungen in Wien und in Gesamt- österreich (Bericht zur Studie des Instituts für Höhere Studien, Wien, im Auftrag der Wirtschaftskammer Wien), 2008 . Online: http://www.bmukk.gv.at/medien- pool/16792/bundestheater_oekw.pdf [21.5.2012]. Flechsig, Horst: Opera Pantomima. Sprachloses Nachspiel der Commedia dell’arte. In: Stimmen – Klänge – Töne. Synergien im szenischen Spiel. Herausge- geben von Hans-Peter Bayerdörfer. Tübingen: Gunter Narr Verlag 2002. (= Forum Modernes Theater. 30.) S. 543–556. Fuhrich, Edda: „Schauen Sie sich doch in Wien um! Was ist von dieser Thea- terstadt übriggeblieben?“ Zur Situation der großen Wiener Privattheater. In: Ver- spielte Zeit. Österreichisches Theater der dreißiger Jahre. Herausgegeben von Hilde Haider-Pregler und Beate Reiterer. Wien: Picus-Verlag 1997, S. 106–124. Ganymed Boarding: Schriftsteller schreiben über Meisterwerke des KHM. He- rausgegeben von Jacqueline Kornmüller und Peter Wolf. Wien: Christian Brand- stätter Verlag 2010. Geehr, Richard S.: Adam Müller-Guttenbrunn and the Aryan Theater of Vienna (1898–1903). The Approach of Cultural Fascism. Göppingen: Kümmerle 1973. (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik. 114.) Glossy, Carl: Zur Geschichte der Wiener Theatercensur. In: Jahrbuch der Grill- parzer-Gesellschaft 8 (1897), S. 238–340. Großegger, Elisabeth: Das Burgtheater und sein Publikum, Pächter und Publi- kum 1794–1817. 2 Teilbde. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wis- senschaften 1989. Hadamowsky, Franz: Ein Jahrhundert Literatur- und Theaterzensur in Österreich (1751–1848). In: Die österreichische Literatur. Ihr Profil an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert (1750–1830). Herausgegeben von Herbert Zeman. Graz: Akademi- sche Druck- und Verlagsanstalt 1979. 1. Teilbd., S. 289–305. Hadamowsky, Franz: Wien. Theatergeschichte. Von den Anfängen bis zum Ende des ersten Weltkriegs. Wien; München: Jugend und Volk 1988. (= Geschichte der Stadt Wien. 3.) Häfele, Eva; Lehner, Andrea; Ratzenböck, Veronika: Die wirtschaftliche Bedeutung von Kultur und Creative Industries: Wien im Städtevergleich mit Bar- celona, Berlin, London, Mailand und Paris (Österreichische Kulturdokumentation. Internationales Archiv für Kulturanalysen, im Auftrag der Stadt Wien, MA 27, EU- Strategie und Wirtschaftsentwicklung), 2005. Online: http://www.kulturdoku- mentation.org/download/ci_vergleich_wien.pdf [21.5.2012]. Haider-Pregler, Hilde: Wien probiert seine National-Schaubühne. Das Thea- ter am Kärntnertor in der Spielzeit 1769 / 70. In: Maske und Kothurn 20 (1974), S. 286–349.

111 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

Haider-Pregler, Hilde: Des sittlichen Bürgers Abendschule. Bildungsanspruch und Bildungsauftrag des Berufstheaters im 18. Jahrhundert. Wien; München: Ju- gend und Volk 1980. Haider-Pregler, Hilde: „Das Burgtheater ist eine Idee …“ Die Jahre 1945 bis 1955 – eine Zwischenzeit des österreichischen Staatstheaters?. In: Zeit der Befrei- ung. Wiener Theater nach 1945. Herausgegeben von Hilde Haider-Pregler und Peter Roessler. Wien: Picus-Verlag 1998, S. 84–122. Hein, Jürgen: Das Wiener Volkstheater. 3. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1997. Hubalek, [Felix]: Die „Helden“ von Stadlau. In: Arbeiter-Zeitung, 8. Jänner 1954, S. 4. Hüttner, Johann: Literarische Parodie und Wiener Vorstadtpublikum vor Nestroy. In: Maske und Kothurn 18 (1972), S. 99–139. Hüttner, Johann: Das Burgtheaterpublikum in der ersten Hälfte des 19. Jahr- hunderts. In: Das Burgtheater und sein Publikum. Herausgegeben von Margret Dietrich. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1976. (= Veröffentlichungen des Instituts für Publikumsforschung. 3.) S. 123–184. Hüttner, Johann: Theatre Censorship in Metternich’s Vienna. In: Theatre Quar- terly 10 (1980), No. 37, S. 61–69. Hüttner, Johann: Zensur ist nicht gleich Zensur [Replik auf einen Diskussions- beitrag von Hans Goldschmidt]. In: Nestroyana 3 (1981), S. 22–24. Hüttner, Johann: Theater als Geschäft. Vorarbeiten zu einer Sozialgeschichte des kommerziellen Theaters im 19. Jahrhundert aus theaterwissenschaftlicher Sicht. Mit Betonung Wiens und Berücksichtigung Londons und der USA. Bd. 1–2. Wien, Univ., Habil.-Schr. 1982. Hüttner, Johann: Das Theater als Austragungsort kulturpolitischer Konflikte. In: 100 Jahre Volkstheater. Theater. Zeit. Geschichte. Herausgegeben von Evelyn Schreiner. Wien; München: Jugend und Volk 1989, S. 10–15. Hüttner, Johann: Die Direktionen Emerich von Bukovics, Adolf Weisse, Karl Wallner. Zwischen Stadttheater und Volkstheater. In: 100 Jahre Volkstheater. Theater. Zeit. Geschichte. Herausgegeben von Evelyn Schreiner. Wien; München: Jugend und Volk 1989, S. 16–31. Jarka, Horst: Zur Literatur- und Theaterpolitik im „Ständestaat“. In: Aufbruch und Untergang. Österreichische Kultur zwischen 1918 und 1938. Herausgegeben von Franz Kadrnoska. Wien; München; Zürich: Europa-Verlag 1981, S. 499–538. Kaiser, Friedrich: Unter fünfzehn Theater-Direktoren. Bunte Bilder aus der Wie- ner Bühnenwelt. Wien: Waldheim 1870. „Kann man also Honoriger seyn als ich es bin??“ Briefe des Theaterdirektors Carl Carl und seiner Frau Margaretha Carl an Charlotte Birch-Pfeiffer. Herausgege- ben von Birgit Pargner und W. Edgar Yates. Wien: Lehner 2004. (= Quodlibet. 6.)

112 Marion Linhardt: Kontrolle – Prestige – Vergnügen. Literaturverzeichnis

Kindermann, Heinz: Das Publikum und die Schauspielerrepublik. In: Das Burg- theater und sein Publikum. Herausgegeben von Margret Dietrich. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1976. (= Veröffentlichungen des Instituts für Publikumsforschung. 3.) S. 97–121. Kindermann, Heinz: Josef Schreyvogel und sein Publikum. In: Das Burgtheater und sein Publikum. Herausgegeben von Margret Dietrich. Wien: Verlag der Öster- reichischen Akademie der Wissenschaften 1976. (= Veröffentlichungen des Instituts für Publikumsforschung. 3.) S. 185–333. Kisler, Karl Michael: Der Theater-Mayr. Aus den Biedermeiertagebüchern des Theatermalers Michael Mayr. Wien; Eisenstadt: Edition Roetzer 1988. Köper, Carmen-Renate: Ein unheiliges Experiment. Das Neue Theater in der Scala (1948–1956). Wien: Löcker 1995. Langer, Mirjam: Wiener Theater nach dem „Anschluss“ 1938 im Fokus national- sozialistischer Arisierungsmaßnahmen dargestellt am Beispiel des Bürgertheaters. Wien, Univ., Diplomarb. 2009. Letters from the Right Honourable Lady Mary Wortley Montague 1709 to 1762. Herausgegeben von R. Brimley Johnson. London: Dent [1906]. Linhardt, Marion: Inszenierung der Frau – Frau in der Inszenierung. Operette in Wien zwischen 1865 und 1900. Tutzing: Hans Schneider 1997. (= Publikationen des Instituts für österreichische Musikdokumentation. 19.) Linhardt, Marion: Residenzstadt und Metropole. Zu einer kulturellen Topogra- phie des Wiener Unterhaltungstheaters (1858–1918). Tübingen: Niemeyer 2006. (= Theatron. 50.) Linhardt, Marion: Die vermischten Genres des Boulevards und der Vorstadt. In: Souvenirs de Taglioni. Bühnentanz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. He- rausgegeben von Gunhild Oberzaucher-Schüller. Bd. 2. München: K. Kieser 2007. (= Tanzforschungen. VIII.) S. 49–69. Linhardt, Marion: Schau-Ereignisse der Großstadt. Theaterwissenschaftliche Überlegungen zur räumlichen Ordnung Berlins in der Kaiserzeit. In: Internationa- les Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 33 (2008), Heft 1, S. 26–47. Linhardt, Marion: Indigenous and Imported Elements in Late-Nineteenth-Cen- tury Viennese Theatre: the Theater in der Josefstadt from Gründerzeit to Jahrhun- dertwende. In: From Ausgleich to Jahrhundertwende: Literature and Culture, 1867– 1890. Herausgegeben von Judith Beniston und Deborah Holmes. Leeds: Maney Publishing 2009. (= Austrian Studies. 16.) S. 69–86. Linhardt, Marion: Visualisierungen. Die szenographische Praxis in den euro- päischen Theaterzentren des frühen 19. Jahrhunderts. In: Nestroyana 29 (2009), S. 48–71. Linhardt, Marion; Klaffenböck, Arnold: Stadt – Vorstadt – Land. Wiener und Londoner Perspektiven. In: Nestroyana 29 (2009), S. 185–213.

113 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

Linhardt, Marion: „Ein österreichischer Konsul ruft an und fragt, ob ich am künstlerischen Wiederaufbau Österreichs mitarbeiten wolle.“ – Unterhaltungsmu- sik und -theater im Kontext der österreichischen Identitätspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Zwischen den Stühlen. Remigration und unterhaltendes Musikthea- ter. Herausgegeben von Wolfgang Jansen und Nils Grosch, Druck in Vorb. Linhardt, Marion: Mobilisierung durch Identitätsstiftung. Krieg und Unterhal- tungstheater im Jahr 1914. In: Austrian Studies 21 (2013), Druck in Vorb. Mayer, Ulrike: Theater für 49 in Wien 1934 bis 1938 [von Hilde Haider-Preg- ler und Beate Reiterer zusammengestellt auf der Grundlage der Dissertation von Ulrike Mayer, 1994]. In: Verspielte Zeit. Österreichisches Theater der dreißiger Jah- re. Herausgegeben von Hilde Haider-Pregler und Beate Reiterer. Wien: Picus-Verlag 1997, S. 138–147. Mrkvicka, Franz: Ein Theater besucht sein Publikum. In: Lessing siegt am Stadt- rand. 50 Jahre Volkstheater in den Außenbezirken. Herausgegeben von Elisabeth Brugger und Frank Michael Weber. Wien: Verband Wiener Volksbildung 2005, S. 23–42. Müller-Guttenbrunn, Adam: Wiener Theater-Gründungen. In: A. M.-G.: Zwi- schen zwei Theaterfeldzügen. Neue dramaturgische Gänge. Linz; Wien; Leipzig: Österreichische Verlagsanstalt [1902], S. 27–38. Müller-Guttenbrunn, Adam: Denkschrift. In: Die Fackel 5 (1903), Nr. 146, S. 12–21. Müller-Kampel, Beatrix: Hanswurst, Bernardon, Kasperl. Österreichische Gegenentwürfe zum norddeutsch-protestantischen Aufklärungsparadigma. In: Komik in der österreichischen Literatur. Herausgegeben von Wendelin Schmidt- Dengler, Johann Sonnleitner und Klaus Zeyringer. Berlin: Erich Schmidt 1996. (= Philologische Studien und Quellen. 142.) S. 33–55. Müller-Kampel, Beatrix: Hanswurst, Bernardon, Kasperl. Spaßtheater im 18. Jahrhundert. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2003. Müller-Kampel, Beatrix: Hanswurst-Stranitzky. Zur Revision seiner Bio- graphie. Mit Dokumenten aus Johann Evangelist Schlagers Wiener-Skizzen. In: LiTheS. Literatur- und Theatersoziologie / Kasperl & Co. Theater des Komischen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert / Forschung: http://lithes.uni-graz.at/forschung. html [14.5.2012]. Musner, Lutz: Der Geschmack von Wien. Kultur und Habitus einer Stadt. Frankfurt am Main; New York: Campus Verlag 2009. (= Interdisziplinäre Stadtfor- schung. 3.) Nicolai, Friedrich: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, im Jahre 1781. Nebst Bemerkungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und Sitten. 4. Bd. Berlin; Stettin: Friedrich Nicolai 1784. Nußbaumer, Martina: Musikstadt Wien. Die Konstruktion eines Images. Frei- burg i. Br.; Berlin; Wien: Rombach 2007. (= Edition Parabasen. 6.)

114 Marion Linhardt: Kontrolle – Prestige – Vergnügen. Literaturverzeichnis

Obermaier, Walter: Offenbach in Wien. Seine Werke auf den Vorstadtbüh- nen und ihr Einfluß auf das Volkstheater. In: Jacques Offenbach und die Schau- plätze seines Musiktheaters. Herausgegeben von Rainer Franke. Laaber: Laaber Ver- lag 1999. (= Thurnauer Schriften zum Musiktheater. 17.) S. 11–30. Pausch, Oskar: Die Pokornys. Ein Beitrag zur mitteleuropäischen Theaterge- schichte des 19. Jahrhunderts. Mit einem Katalog des Nachlasses im Österreichi- schen Theatermuseum. Wien: Lehner 2011. (Bilder aus einem Theaterleben. 7.) Pernerstorfer, Engelbert: Theater und Demokratie. In: Der Strom 1 (1911), S. 1–3. Pernerstorfer, Matthias Johannes: Karl von Marinellis Spaziergang in den Prater. In: Nestroyana 29 (2009), S. 23–32. Pezzl, Johann: Skizze von Wien. Drittes Heft. Wien; Leipzig: Kraussische Buch- ha nd lung 1787. Pezzl, Johann: Skizze von Wien [6 Hefte, 1786–1790]. Neu herausgegeben von Gustav Gugitz und Anton Schlossar. Graz: Leykam 1923. Pezzl, Johann: Neue Skizze von Wien. 1. Heft. Wien: J. V. Degen 1805, darin: [Kap.] XXVI. Sonntags-Publicum, S. 129–133. Pfoser, Alfred; Pfoser-Schewig, Kristina; Renner, Gerhard: Schnitzlers Reigen. 2 Bde. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1993. Pfoser, Alfred; Renner, Gerhard: „Ein Toter führt uns an!“ Anmerkungen zur kulturellen Situation im Austrofaschismus. In: Austrofaschismus. Politik – Öko- nomie – Kultur 1933–1938. Herausgegeben von Emmerich Tálos und Wolfgang Neugebauer. 5. Aufl. Wien: Lit-Verlag 2005. (= Politik und Zeitgeschichte. 1.) S. 338–356. Plachta, Bodo: Damnatur – Toleratur – Admittur. Studien und Dokumente zur literarischen Zensur im 18. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer 1994. (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. 43.) Pufler, Karl: Wo der Ziegelböhm tanzte … Der Böhmische Prater – Veranstal- tungsort seit über 100 Jahren. Wien: Milde 1999. Pyrah, Robert: The Burgtheater and Austrian Identity. Theatre and Cultural Poli- tics in Vienna 1918–38. London: Legenda 2007. Reininghaus, Alexandra: Feuermärchen und Festkondukte. Die k. u. k. Lustfeu- erwerkerei in Wien vom Biedermeier zur Belle Epoque. In: Die schöne Kunst der Verschwendung. Fest und Feuerwerk in der europäischen Geschichte. Herausgege- ben von Georg Kohler. Zürich; München: Artemis-Verlag 1988, S. 143–160. [Riesbeck, Johann Kaspar:] Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland an seinen Bruder zu Paris. Uebersezt von K. R. Erster Band. Zweyte beträchtlich verbesserte Ausgabe. [Zürich] 1784. Rubey, Norbert; Schoenwald, Peter: Venedig in Wien. Theater- und Vergnü- gungsstadt der Jahrhundertwende. Wien: Ueberreuter 1996.

115 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

Ruiss, Gerhard: „Bei aller Wertschätzung – aber das da!“ Kulturpolitik in Selbst- verwaltung. In: … mit beschränkter Haftung. Theater m. b. H. und Theaterpolitik im Wien der 80er und 90er Jahre. Herausgegeben von Evelyn Deutsch-Schreiner und Gerhard Ruiss. Wien; Bozen: Folio-Verlag 2003, S. 7–13. Sabler, Wolfgang: Le théâtre des nationalités non germaniques à Vienne autour de 1900. In: Études germaniques 62 (2007), No. 1, S. 77–88. Sandgruber, Roman: Einkommensentwicklung und Einkommensverteilung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – einige Quellen und Anhaltspunkte. In: Österreich im Europa der Aufklärung. Kontinuität und Zäsur in Europa zur Zeit Maria Theresias und Josephs II. Herausgegeben vom Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung und der Österreichischen Akademie der Wissenschaf- ten. 2 Bde. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1985, S. 251–263. Sandgruber, Roman: Geld und Geldwert. Vom Wiener Pfennig zum Euro. In: Vom Pfennig zum Euro. Geld aus Wien. Begleitbuch und Katalog zur 281. Son- derausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien. Wien: Eigenverlag der Museen der Stadt Wien 2002, S. 62–79. Schlögl, Friedrich: Der Tingel=Tangel=Narr. In: F. Sch.: Wiener Luft. Kleine Culturbilder aus dem Volksleben der alten Kaiserstadt an der Donau. Wien; Pest; Leipzig: A. Hartleben’s Verlag o. J. (= Friedrich Schlögl’s Gesammelte Schriften. 2.) S. 177–189. Schrott, Margarethe: Die Pferdekomödie im Alt-Wiener Volkstheater. In: Maske und Kothurn 13 (1967), S. 114–140. Spohr, Mathias: Inwieweit haben Offenbachs Operetten die Wiener Operette aus der Taufe gehoben?. In: Jacques Offenbach und die Schauplätze seines Musikthea- ters. Herausgegeben von Rainer Franke. Laaber: Laaber Verlag 1999. (= Thurnauer Schriften zum Musiktheater. 17.) S. 31–67. Stachel, Peter: „Das Krönungsjuwel der österreichischen Freiheit.“ Die Wieder- eröffnung der Wiener Staatsoper 1955 als Akt österreichischer Identitätspolitik. In: Bühnen der Politik. Die Oper in europäischen Gesellschaften im 19. und 20. Jahr- hundert. Herausgegeben von Sven Oliver Müller und Jutta Toelle. Wien; München: Oldenbourg Verlag 2008. (= Die Gesellschaft der Oper. Musikkultur europäischer Metropolen im 19. und 20. Jahrhundert. 2.) S. 90–107. Stöger, Victor: Das Elysium in Wien. Ein Erinnerungsbild aus halbvergangener Zeit. In: Alt-Wien 8 (1899), S. 37–44. Tanzer, Gerhard: Spectacle müssen seyn. Die Freizeit der Wiener im 18. Jahr- hundert. Wien; Köln; Weimar: Böhlau 1992. (= Kulturstudien. 21.) Theater, Feste und Feiern zur Zeit Maria Theresias 1742–1776. Nach den Tagebucheintragungen des Fürsten Johann Joseph Khevenhüller-Metsch, Oberst- hofmeister der Kaiserin. Eine Dokumentation von Elisabeth Großegger. Wien: Ver- lag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1987. (= Veröffentlichungen des Instituts für Publikumsforschung. 12.)

116 Marion Linhardt: Kontrolle – Prestige – Vergnügen. Literaturverzeichnis

Tumfart, Barbara: Wallishaussers Wiener Theater-Repertoir und die österreichi- sche Zensur. Wien, Univ., Diss. 2003. verschiedene sätze treten auf. Die Wiener Gruppe in Aktion. Herausgegeben von Thomas Eder und Juliane Vogel. Wien: Zsolnay 2008. (= Profile. 15.) Wacks, Georg: Die Budapester Orpheumgesellschaft. Ein Varieté in Wien 1889– 1919. Wien: Verlag Holzhausen 2002. Wiener_Festwochen_1951–2001_Ein Festival zwischen Repräsentation und Irri- tation. Salzburg; Frankfurt am Main; Wien: Residenz-Verlag 2001. Wolfartsberger, Anita: Das „Mittelstück“ im ‚Wiener Werkel‘. Kleinkunst im Dritten Reich zwischen Anpassung und Widerstand. Wien, Univ., Diplomarb. 2004. Yates, W. E.: Theatre in Vienna. A Critical History, 1776–1995. Cambridge: Cam- bridge University Press 1996. Yates, W. E.: Internationalization of European Theatre: French Influence in Vienna between 1830 and 1860. In: Austria and France. Herausgegeben von Judith Beniston und Robert Vilain. Leeds: Maney Publishing 2005. (= Austrian Studies. 13.) S. 37–54. Yates, W. E.: Continuity and Discontinuity in Viennese Theatrical Life from the 1860s to the Turn of the Century. In: From Ausgleich to Jahrhundertwende: Litera- ture and Culture, 1867–1890. Herausgegeben von Judith Beniston und Deborah Holmes. Leeds: Maney Publishing 2009. (= Austrian Studies. 16.) S. 51–68. Zauber der Ferne. Imaginäre Reisen im 19. Jahrhundert. Begleitbuch und Kata- log zur 352. Ausstellung des Wien Museums. Weitra: Verlag Bibliothek der Provinz 2008. Zechmeister, Gustav: Die Wiener Theater nächst der Burg und nächst dem Kärntnerthor von 1747 bis 1776. Wien: Böhlau 1971. (= Theatergeschichte Öster- reichs III: Wien. Heft 2.) Zeit der Befreiung. Wiener Theater nach 1945. Herausgegeben von Hilde Haider-Pregler und Peter Roessler. Wien: Picus-Verlag 1998.

117 LiTheS Sonderband Nr. 3 (Juli 2012) http://lithes.uni-graz.at/lithes/12_sonderband_3.html

Abbildungen

(Alle Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Wienbibliothek im Rathaus.) Seite 8: Theaterzettel des Stadttheaters nächst dem Kärntnertor vom 22. Mai 1760 Das Theater nächst dem Kärntnertor, im frühen und mittleren 18. Jahrhundert – also vor der Entfaltung einer Theaterszene in den Vorstädten – jene Bühne, auf der Kasperl und Hanswurst in vielen Variationen anzutreffen waren, brachte nicht zuletzt Bearbeitungen des französischen Repertoires, hier eine Bearbeitung von Mo- lières Le Médecin malgré lui. Seite 28: Theaterzettel des Theaters an der Wien vom 13. Juni 1801 Mit der „großen heroischen Oper“ Alexander wurde im Juni 1801 das Theater an der Wien eröffnet. Diese Bühne unter der Leitung Emanuel Schikaneders löste das Theater im Starhembergischen Freihaus auf der Wieden ab. Seite 39: Theaterzettel des Theaters in Hietzing vom 26. Mai 1827 Adolf Bäuerles Stück, uraufgeführt 1822 als Aline, oder Wien in einem anderen Weltteile, gehört zu den zahlreichen Stücken des frühen 19. Jahrhunderts, die das unmittelbare lokale Umfeld des Publikums in die Inszenierung miteinbezogen; in der für das Hietzinger Theater adaptierten Aline wird im Bühnenbild auf Schloss Schönbrunn mit Garten Bezug genommen. Seite 45: Theaterzettel des Theaters am Franz-Josefs-Quai vom Dezember 1861 Das Theater am Franz-Josefs-Quai, eröffnet 1860, war der erste Wiener Theaterneu- bau nach Erlass der neuen Theaterordnung im Jahr 1850. Das Haus brannte bereits 1863 ab. Ab Dezember 1861 gab Johann Nestroy hier ein letztes Gastspiel. Seite 48: Theaterzettel des Sommer-Theaters in Braunhirschen vom 1. Juli 1849 Die Arena in Braunhirschen diente dem Theater an der Wien ab 1849 für etwas mehr als ein Jahrzehnt als Dependance für die Sommermonate, in denen der Thea- terbesuch in der Stadt stark zurückging. Seite 70: Theaterzettel des Neuen Theaters in der Scala von 1948 Das Neue Theater in der Scala, initiiert von zurückgekehrten Emigranten, gehörte zu den ambitioniertesten Wiener Theaterneugründungen nach dem Zweiten Welt- krieg. Es wurde im September 1948 mit Johann Nestroys nachrevolutionärer Posse Höllenangst eröffnet. Seite 75: Theaterzettel des Burgtheaters vom 4. November 1988 Die Uraufführung von Thomas Bernhards Heldenplatz im November 1988 geriet zum größten Theaterskandal der Zweiten Republik.

118