308 ¾sthetik/ästhetisch

¾sthetik/ästhetisch Einleitung: Zur Aktualität des ¾sthetischen (engl. , aesthetic, aesthetical; frz. esthØtique; ital. estetica, estetico; span. estØtica, Der Begriff ­¾sthetik¬, im zweiten Drittel des estØtico; russ. 1stetika, 1stetiheskoe) 18. Jh. von Alexander Gottlieb Baumgarten ge- prägt, um die als niedere Erkenntnisvermögen dis- Einleitung: Zur Aktualität des ¾sthetischen; kriminierten Sinne philosophisch zu legitimieren, 1. Wandel der ¾sthetik; 2. Selbstreflexion der ¾sthetik; hat in Deutschland Karriere gemacht. Bevor er a) Erfahrung contra Wahrnehmung; b) Ethik und ¾sthe- sich auch auûerhalb seines Ursprungslandes durch- tik; 3. ¾sthetisierung; I. Der europäische Kontext setzen konnte, hat es fast anderthalb Jahrhunderte einer deutschen Gründung; II. Die Institutiona- lisierung der ¾sthetik; 1. Der Weg zu Baumgartens gebraucht. Nach weiteren hundert Jahren ist nun ­Aesthetica¬; 2. ¾sthetik als Lebenskunst: Der felix der Begriff ¾sthetik weltweit ebenso allgemein aestheticus bei Baumgarten; 3. ­¾sthetik¬ und die ­Theo- wie von seinem ursprünglichen Bedeutungsum- rien der schönen Wissenschaften und Künste¬; 4. ¾stheti- fang entfernt. Daran muûte erinnert werden. sche Pathologie; 5. Der Streit um die neue Wissenschaft; »Pourquois appeler esthØtique un jugement de goßt? III. Kant: Transzendentale ¾sthetik und Kritik des Geschmacks; IV.¾sthetik als Philosophie der schö- [¼] Le jugement de goßt n'est pas un jugement de nen Kunst; 1. Die romantische Kritik der ¾sthetik; connaissance, il n'est pas ­logique¬ mais subjectif et 2. Hegels ¾sthetikbegriff; V.Der europäische Be- donc esthØtique: rapport à l'affect (aisthesis).«1 Man griffstransfer; 1. Frankreich; a) EsthØtique ± ­cette hat von einer »aesthetic world-view« gesprochen science d'importation¬. Von der ­thØorie des sensations¬ zur ­science du beau¬ und ­philosophie des beaux-¬; und ¾sthetik sogar eine »guiding science in a gene- b) Zwischen Künstlerästhetik und wissenschaftlicher ral epistemology of the modern age« genannt, die ¾sthetik; 2. England; a) Barrieren der Rezeption; notwendig sei als »response to the growing com- b) Aesthetics zwischen ­Aesthetic Movement¬ und ­Phy- plexity of the systems of knowledge in the last fifty siological Aesthetics¬; c) Englischsprachige ¾sthetik years«2. In Debatten und Diskursen erscheint ­¾s- zwischen 1900 und 1960: Semiotic Aesthetics, New Criticism und Analytical Aesthetics; VI. ¾sthetik des thetik¬ in verschiedenen Theorie-Kontexten in je- Schönen/¾sthetik des Häûlichen. Akademisierung weils unterschiedlicher Bedeutung und Akzentuie- und Neuansätze im 19. Jahrhundert; 1. Schleier- rung. Pluralität des Begriffs und seines Umfangs machers Produktionsästhetik; 2. Mit Hegel über Hegel wurde sogar zum Kern der Debatte erklärt.3 Ein hinaus; a) Politisierung und Kritik der ¾sthetik im Vor- märz; b) ¾sthetiken des Häûlichen und Komischen; Trend zu Pan-¾sthetik oder Pan-¾sthetisierung ist 3. ¾sthetik und das Paradigma der exakten Wissenschaf- an die Stelle eines philosophischen Alleinvertre- ten; a) ¾sthetik von unten; b) Einfühlungsästhetik als tungsanspruchs getreten. Gibt es überhaupt noch psychologische ¾sthetik; c) Die Differenzierung von einen hinreichend eindeutigen Begriff von ¾sthe- ¾sthetik und allgemeiner Kunstwissenschaft; d) Kritik tik? Oder entzieht sie sich vielleicht gerade jeder der psychologischen ¾sthetik; 4. ¾sthetiken der Existenz: Schopenhauer, Kierkegaard und Nietzsche; VII. Diffe- begrifflichen Bestimmung, wäre ein strenger Begriff renzierungen im ¾sthetikbegriff (Transformatio- von ¾sthetik in gewisser Hinsicht eine contradictio nen idealistischer ¾sthetik); 1. Der ­ästhetische in adiecto? Die Diffundierung und die Pluralität Mensch¬; 2. ­Lebenskunst¬ und ­physiologische ¾sthetik¬ dessen, was man auch ­ästhetisches Denken¬ ge- bei Nietzsche; 3. ¾sthetik versus Kunstwissenschaft; 4. ¾sthesiologie; 5. EsthØsique/Aisthesis ± Umschalten nannt hat, hat den Begriff gespalten und zur Erör- auf Wahrnehmung; 6. Spuren der Diffusion eines Begriffs terung von ¾sthetik als einem offenen Konzept ge- führt. Mindestens zwei gegensätzliche Begriffe von ¾sthetik und ¾sthetischem stehen einander gegen- über. »There are actually two enormously different 1 jacques derrida, La vØritØ en peinture (Paris 1978), notions of the aesthetic: a rational, compartmental- 52. ized, and disciplined domain embodying com- 2 virgil nemoianu, A Theory of the Secondary: Lite- municative reason for the pleasures of order (the rature, Progress, and Reaction (Baltimore/London classic aesthetic of ), and a wildly antira- 1989), 76. tional aesthetic, embodying the ideals of radical 3 Vgl. wolfgang welsch, Zur Aktualität ästhetischen Denkens (1989), in: Welsch, ¾sthetisches Denken freedom, transgression, and lawless orginality, (Stuttgart 1990), 68±71. which is more characteristically postmodern. The Einleitung: Zur Aktualität des ¾sthetischen 309 significance and threatening challenge of the post- meint sein könnte.«6 Die Neuformierung der Se- modern turn toward the aesthetic relates to this mantik des Begriffs ¾sthetik ist eine Folge und ein second sense of aesthetic which Nietzsche intro- Indiz einschneidender sozialer, ökonomischer, po- duced to oppose reason.«4 litischer und kultureller Veränderungen. Die geschichtliche Entwicklung des Begriffs ¾s- thetik verlief im 18. Jh. von der aistheÅsis zur ¾sthe- 1. Wandel der ¾sthetik tik, führte »von der Sinneswahrnehmung im all- Der bis in die 70er Jahre relativ unangefochten gel- gemeinen zur Kunst im besonderen«7. Im 19. Jh. tenden Standardbestimmung von ¾sthetik als einer dominieren die systematischen Fixierungen ästhe- ­wissenschaftlichen Disziplin¬ zufolge hat sich das tischer Theorie als allgemeiner Kunsttheorie, auf »Wort ­¾sthetik¬ als Titel des Zweiges der Philoso- die die Künstler mit eigenen ästhetischen Refle- phie eingebürgert, in dem sie sich den Künsten xionen in Form von Künstlerästhetiken reagieren. und dem Schönen in der Allgemeinheit zuwendet, Die Spannung zwischen kunstästhetischem Sy- daû die Künste in der gegenwärtigen Gestalt und stemdenken und ästhetischer Selbstbestimmung in ihrer europäischen und auûereuropäischen Ge- wird zur Unruhe ästhetischen Denkens. »Die Ent- schichte gleicherweise als ästhetischer Gegenstand wicklung der ¾sthetik im 19. Jahrhundert hat die und die sie begleitenden Theorien Platons und Sterilität einer derartigen (systematisierenden) Vor- Plotins, des Mittelalters oder Kants, Schellings und gangsweise zur Genüge erwiesen; eine der Konse- Hegels als ästhetische Theorien gelten«5. Diese in quenzen war der Exodus der Kunst-, Musik- und Handbüchern, Lexika und Enzyklopädien noch Literaturwissenschaften aus der Philosophie, eine immer kursierende Auffassung wurde inzwischen andere die Verarmung der ¾sthetik, die im Nicht- der Kritik und Revision unterzogen, wobei die verstehen fortschrittlicher Kunstproduktionen und Begriffsgeschichte von Baumgartens Begründung im Rückgang auf akademisches Denken ihren der ¾sthetik an selbst zum Medium von Debatten Ausdruck fand.«8 wurde. Die Ausrichtung der um eine Neubewer- Im kritischen Blick auf eine überalterte Tradi- tung von ¾sthetik bemühten Revisionen wird da- tion philosophischer ¾sthetik hatte Adorno in sei- bei von einer doppelten Perspektive der Entgren- ner ¾sthetischen Theorie (1970) ein Dilemma dia- zung traditioneller Bestimmungen motiviert: gnostiziert: »¾sthetik präsentiert der Philosophie durch die an der Etymologie des Terminus ¾sthe- die Rechnung dafür, daû der akademische Betrieb tik orientierte Erinnerung an die ursprüngliche griechische Bedeutung von ai42svhsiû (aistheÅsis, sinnlich vermittelte Wahrnehmung) und durch eine mit dem Begriff ­¾sthetisierung¬ angezeigte 4 richard shusterman, and the Aes- Öffnung des Geltungsbereichs der ¾sthetik über thetic Turn, in: Poetics Today 10 (1989), 611. Kunst und Künste hinaus für andere Bereiche von 5 joachim ritter, ­¾sthetik, ästhetisch¬, in: ritter, Wissen, Alltag, Politik, Ökonomie und Natur. Aus Bd. 1 (1971), 555. 6 ludwig wittgenstein, Lectures on Aesthetics (ge- dieser Perspektive beschreibt die Begriffsgeschichte halten 1938), in: Wittgenstein, Lectures & Conversa- von ¾sthetik zwischen Schlieûung und Öffnung, tions on Aesthetics, Psychology and Religious Belief, Engführung und Erweiterung eine diskursive Be- hg. v. C. Barrett (Oxford 1966); dt.: Vorlesungen über wegung, in deren Verlauf die Arbeit am Begriff zu ¾sthetik, in: Wittgenstein, Vorlesungen und Gespräche einer Selbstbesinnung, zur Selbstreflexion und zur über ¾sthetik, Psychoanalyse und religiösen Glauben, hg. v. C. Barrett, übers. v. R. Funke (Düsseldorf/Bonn Transformation des begrifflichen Instrumentariums 1994), 23. von ¾sthetik geführt hat. Ob ¾sthetik sich als Dis- 7 rudolf arnheim, Visual Thinking (Berkeley, Cal. ziplin mit streng definierbarem Gegenstand be- u.a. 1969); dt.: Anschauliches Denken, übers. v. Arn- stimmen läût, steht heute in Frage. »Eine interes- heim (Köln 1985), 9. 8 thomas h. macho/manfred moser/christof sante Sache ist die Vorstellung, die die Menschen „ubik, Zur Einführung, in: Macho/Moser/ƒubik von einer Wissenschaft der ¾sthetik haben. Ich (Hg.), Arbeitstexte für den Unterricht. ¾sthetik (Stutt- würde lieber davon reden, was mit ¾sthetik ge- gart 1986), 9. 310 ¾sthetik/ästhetisch sie zur Branche degradierte. Sie verlangt von Phi- tion, des Geschmacks und des Urteils: »the aesthe- losophie, was sie versäumt: daû sie die Phänomene tic, like the historical, cannot be taken for gran- aus ihrem puren Dasein herausnimmt und zur ted«12. Man beobachtet, wie der französische Selbstbesinnung verhält, Reflexion des in den Wis- Soziologe und Indologe Louis Dumont, eine senschaften Versteinerten, nicht eine eigene Wis- »croissance considØrable de la catØgorie esthØti- senschaft jenseits von jenem.«9 Adornos Fazit war que«13. die Öffnung der ¾sthetik und ihrer Kategorien für Man kann die verschiedenen Bemühungen um die Bewegung der Geschichte: »Geschichte ist der eine Neubestimmung der ¾sthetik (und ihres Be- ästhetischen Theorie inhärent. Ihre Kategorien griffs) als Bestandteil einer epistemologischen Epo- sind radikal geschichtlich«10. Es ist ein Merkmal chenkonstellation verstehen, an deren Horizont solcher Diagnosen und Prognosen, daû der Begriff evolutionäre Erkenntnistheorie und konstruktivi- ¾sthetik als ein transversaler, verschiedene Berei- stische Wissenschaftstheorien sich mit experimen- che des Wissens und der (nicht nur künstlerischen) tellen Künsten in der Suche nach Korresponden- Praxis prägender, thematisiert und als ­neues ästhe- zen zwischen Denken/Erkennen und Fühlen/ tisches Paradigma¬ ± ­Le nouveau paradigme esthØ- Handeln begegnen und das Objektivitätsideal des tique¬ heiût das 6. Kapitel von FØlix Guattaris positivistischen Zeitalters als nicht länger zeitge- Buch Chaosmose11 ± perspektiviert wird. ¾sthetik mäû verabschieden. »The twentieth century has ­betrifft¬ diese Bereiche und ihre Gegenstände shown this belief to be illusory. Whatever the stuff grundsätzlich reflexiv, durch ein besonderes Ver- is that we call knowledge, it can no longer be con- hältnis der Reflexion. Ihr Modus ist einer des sub- sidered a picture or representation of an experien- jektiven Verhaltens, der Einstellung und der Op- cer-independent world. [¼] It was Kant [¼] who made the analysis of reason a major objective. He methodically and logically dissociated the activity of knowing from the notion of discovering a pre- existing reality.«14 Die Promotion des Adjektivs ­äs- 9 theodor w. adorno, ¾sthetische Theorie (1970), thetisch¬ zum Substantiv ­das ¾sthetische¬ signali- in: adorno, Bd. 7 (1972), 391. siert in solcher Transgression der ¾sthetik hin zum 10 Ebd., 532. ¾sthetischen eine ­¾sthetik des Wandels¬.15 11 Vgl. fØlix guattari, Chaosmose (Paris 1992), 137± 163. Diese semantische Verschiebung legt begriffsge- 12 david carroll, Introduction: The States of schichtlich einen Wandel der ¾sthetik nahe, den ­Theory¬ and the Future of History and Art, in: Car- Heinz von Foerster, der Erfinder der ­Second Or- roll (Hg.), The States of ­Theory¬: History, Art, and der Cybernetics¬, als einen reflexiven Denkstil und Critical Discourse (NewYork/Oxford 1990), 14. 13 louis dumont, Homo aequalis, Bd. 1 (1977; Paris Modus der Wahrnehmung beschrieben hat. »¾s- 1985), 247; vgl. dumont, Homo aequalis, Bd. 2 (Pa- thetik« ist in dieser Sicht ein Faktor der »neuesten ris 1991). Ideen über selbstbezügliche Logik, zirkuläre Kau- 14 ernst von glasersfeld, Farewell to Objectivity, salität, rekursive Funktionstheorie und andere in: Systems Research 13 (1996), 279, 281. wichtige Bestandteile der heutigen Version einer 15 Vgl. bradford p. keeney, Aesthetics of Change (NewYork 1983); dt.: ¾sthetik des Wandels, übers. v. Kybernetik, die auf sich selbst angewandt werden H. Eckert (Hamburg 1987). kann: einer Kybernetik der Kybernetik«16. Diese 16 heinz von foerster, Vorwort, in: keeney (s. Anm. Transformation und Erweiterung des Begriffs ¾s- 15), 7; vgl. foerster, On Constructing a Reality, in: thetik gibt im begriffsgeschichtlichen Rückblick W. F. E. Preiser (Hg.), Environmental Design Re- search, Bd. 2 (Stroudsburg 1973), 35±46; dt.: Über auch einen Bedeutungsaspekt frei, der infolge der das Konstruieren von Wirklichkeiten, in: Foerster, Engführung im Rahmen philosophischer Theorie Sicht und Einsicht. Versuche zu einer operativen der Kunst verdrängt worden ist: den Zusammen- Erkenntnistheorie, übers. v. W. K. Köck (Braun- hang von ¾sthetik und Therapeutik, an den der schweig/Wiesbaden 1985), 25±41; foerster, Wahr- Philosoph Odo Marquard 1963 erinnert hat und nehmen wahrnehmen, in: K. Barck u.a. (Hg.), Ais- thesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer den er als den Vollzug eines Wachwechsels »inner- anderen ¾sthetik (Leipzig 1990), 434±443. halb der Philosophie des neunzehnten Jahrhun- Einleitung: Zur Aktualität des ¾sthetischen 311 derts« auf dem »Weg von Schelling zu Freud«17 be- writings on aesthetics, politics, and history. On the schrieb: »der Wachwechsel zwischen ¾sthetik und Continent much of this interest has centered on Therapeutik setzt ihre Funktionsverwandtschaft the debate between modernism and postmodern- voraus«18. ism. Both sides of the debate are in agreement that Die aus kybernetischer Sicht prognostizierten Kant's differentiation of cognitive, practical, and Perspektiven einer ­¾sthetik des Wandels¬ haben aesthetic domains of rationality anticipated the die Geschichte des Begriffs in ein neues Licht ge- fragmentation of modern society into competing if rückt. Das gilt z.B. für die Hinwendung zur An- not, as Weber assumed, opposed lifestyles, activi- tike in verschiedenen Wissenschaften. »Heute ist ties, and value spheres, and this has generated a cri- gerade im Bereich innovativen Denkens eine ver- sis of judgment.«22 stärkte Zuwendung zur Antike festzustellen. Kor- Vermittelt wurde die Aufmerksamkeit für die rekturpotentiale ± in einem prospektiven, nicht ­Krise des Urteils¬ durch die Annahme (oder Ver- retrograden ± Sinn werden dort vermutet und ge- mutung), daû vorurteilsloses Urteilen nach dem sucht.«19 Aus solcher aktuellen Perspektive wird Zerfall teleologischer und geschichtsphilosophi- die moderne Geschichte des Begriffs ¾sthetik seit scher Universalkonzepte zu einem Maûstab der dem 18. Jh. gewissermaûen einer archäologischen Orientierung in der ­Krise der Kultur¬ werden Tiefenperspektive unterworfen. So läût sich for- könnte. Jean-François Lyotard hat diese Annahme mulieren, »daû an den Rändern einer neuen ¾s- seiner Analyse von Paradoxien zugrunde gelegt, thetik etwas wie eine Vision, wenn auch nur die den ­Widerstreit¬ von inkommensurablen bruchstückhaft, erscheint, die den Beginn des sprachlichen und diskursiven ­Zeichen-Regimes¬ nächsten Jahrtausends vorwegnimmt«20. Der Be- prägen.23 ¾sthetisch wäre das vorurteilslose Urteil griff hat sich verschoben vom Reflexionshorizont in diesem Verständnis Lyotards insofern, als es das einer ¾sthetik genannten philosophischen Teildis- prinzipiell Inkommensurable ± Geschmack/Ge- ziplin zum Horizont von Interrelationen zwischen fühl/Wahrnehmung ±, d.h. die Nicht-Übertrag- verschiedenen Wissens- und Lebensbereichen. barkeit ins Moralische, Politische, Rechtliche, als In den unterschiedlichen Diagnosen von Zu- solches markiert. »On dØtermine le critique en gØ- sammenhängen zwischen technischen Entwick- nØral comme rØflexif. Il ne rel›ve pas d'une facultØ, lungen und den Modi unserer Empfindungen, Er- mais d'une quasi-facultØ ou ­comme si¬ facultØ (la fahrungen, Wahrnehmungen vermittelt ¾sthetik in facultØ de juger, le sentiment) pour autant que sa bestimmter Hinsicht. ¾sthetik wird seit den 80er r›gle de dØtermination des univers pertinents pour Jahren deutlich als Theorie von Wahrnehmungs- weisen ± als aistheÅsis ± aktualisiert. Sie wird selbst- reflexiv: ¾sthetik der ¾sthetik. 17 odo marquard, Über einige Beziehungen zwi- schen ¾sthetik und Therapeutik in der Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts (1963), in: Marquard, 2. Selbstreflexion der ¾sthetik Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie Die seit den 80er Jahren virulente Debatte über die (Frankfurt a.M. 1973), 103. 18 Ebd., 104. sog. Postmoderne und eine neue ­Krise der Kul- 19 welsch, Aisthesis. Grundzüge und Perspektiven der tur¬21 stiftete auch einen Rahmen für die Diskus- aristotelischen Sinneslehre (Stuttgart 1987), 455. sion über den Ort und den Status von ¾sthetik. 20 jürgen claus, Das elektronische Bauhaus. Gestal- Die Thematisierung von ¾sthetik und dem ¾sthe- tung mit Umwelt (Zürich 1987), 100. 21 Vgl. hannah arendt, The Crisis in Culture: Its So- tischen stand von Anfang an theorie- und begriffs- cial and Its Political Significance (1961), in: Arendt, geschichtlich im Zeichen einer Kant-Rezeption, Between Past and Future (New York 1961), 197±226. in der eine Neu-Lektüre der Kritik der Urteilskraft 22 david ingram, The Postmodern Kantianism of (1790) mit dem besonderen Interesse an der von Arendt and Lyotard, in: The Reviewof Metaphysics 42 (1988), 51; vgl. derrida u.a., La FacultØ de juger Kant entwickelten ästhetischen Form kritischer Urteile (Paris 1985). verbunden wird. »The past decade has witnessed 23 Vgl. jean-françois lyotard, Le diffØrend (Paris an extraordinary resurgence of interest in Kant's 1983). 312 ¾sthetik/ästhetisch elle comporte de l'indØterminØ (libre jeu des facul- zuholenden ­Aktualität des ¾sthetischen¬26 ± denn tØs entre elles).«24 »la saisie esthØtique de formes n'est possible que si In der von Lyotard beschriebenen Form ästhe- l'on renonce à toute prØtention de maîtriser le tisch reflexiver Urteile als einem Paradigma jeder temps par une synth›se conceptuelle«27 ± werden nicht-präskriptiven Kritik zeigt sich die auto-refle- wesentliche Differenzen in der jüngeren Ge- xive Transformation des ¾sthetikbegriffs. Sie wird schichte des Begriffs ¾sthetik markiert. auch terminologisch unterstrichen durch die Er- Zwei Gesichtspunkte lassen sich aus der aktuel- setzung des Substantivs als des Namens einer len ¾sthetikdebatte für eine Konturierung der Be- bestimmten ­eigenständigen¬ Disziplin durch das griffsgeschichte entnehmen. Zum einen die Un- substantivierte Adjektiv ­das ¾sthetische¬ als Be- terscheidung von Wahrnehmung und Erfahrung zeichnung für ein unbestimmtes Feld, einen Be- und zum anderen das Verhältnis von Ethik und reich oder ein Ereignis ­begriffsloser Reflexion¬. ¾sthetik. »The ­aesthetic¬ could be said to be privileged in Lyotard for the same reasons it is in Kant: because a) Erfahrung contra Wahrnehmung the problem of judgment is most radically articula- Mit der im Begriff der ¾sthetik von Anfang an na- ted in terms of it, because it demands a form of hegelegten Unterscheidung von Wahrnehmung judgment that judges without knowing or presu- und Erfahrung wurden Regellosigkeit und Ereig- ming to knowits objects and in the absence of nisorientiertheit als spezifischer Modus der Refle- determined rules. [¼] The aesthetic is not, howe- xion im Unterschied zu Denkmodellen betont, die ver, for Lyotard (and not for Kant) a privileged do- auf Rationalität und normierte Ordnung setzen.28 main or territory unto itself that has no relation to In der Unbestimmtheit ästhetischen Denkens und political or ethical questions, as it seems to be for Handelns wird eine Alternative zu der »grossi›re many so-called kantian and neo-kantian formalists; sØparation des sciences et des arts que proscrit la it is rather an unchartable, open field where a par- culture occidentale«29 erkannt und eröffnet. Vom ticular kind of critical judgment is necessary, given real Ereignishaften und von der Wahrnehmungsab- that is not a of the object itself, and hängigkeit ästhetischer Reflexion, die heute von cannot therefore be determined.«25 Mit der von den elektronischen Medientechniken geprägt ist Lyotard u.a. vorgetragenen, begrifflich nicht ein- und vorgeformt wird, fällt im Rückblick auf die Geschichte der ¾sthetik auch auf die Unterschei- dung zwischen Wahrnehmung und Erfahrung ein 24 lyotard, L'enthousiasme. La critique kantienne de helleres Licht. Erfahrung als ästhetische, in den 70er l'histoire (Paris 1986), 12. Jahren Thema und Modell einer hermeneutischen 25 carroll, Rephrasing the Political with Kant and Lyotard: From Aesthetic to Political Judgments, in: Neuprofilierung in den Geisteswissenschaften, Diacritics 14 (Herbst 1984), 81; vgl. bill readings, blieb wesentlich an die Bedingung gebunden, daû Introducing Lyotard: Art and Politics (London/New sie erst durch Interpretation und Auslegung York 1991). sprachlich und begrifflich eingeholt und zu sich 26 Vgl. welsch, Das ¾sthetische ± eine Schlüsselkate- selbst gebracht werden kann.30 Die Übersetzbarkeit gorie unserer Zeit?, in: Welsch (Hg.), Die Aktualität des ¾sthetischen (München 1993), 13±47. von Erfahrung in die Sprache der Begriffe unter- 27 lyotard, L'inhumain. Causeries sur le temps (Paris liegt immer der Gefahr einer Subreptio, einer 1989), 41. Erschleichung. Denn sie bleibt dem Ursache-Wir- 28 Vgl. jürgen link, Versuch über den Normalismus. kung-Prinzip und damit einer teleologischen Be- Wie Normalität produziert wird (Opladen 1997). 29 lyotard (s. Anm. 27), 85. ziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart 30 Vgl. hans ulrich gumbrecht, Wahrnehmung ver- verhaftet. So hat etwa Jürgen Habermas den »Ei- sus Erfahrung, in: B. Recki/L. Wiesing (Hg.), Bild gensinn des ¾sthetischen« am Beispiel von Peter und Reflexion. Paradigmen und Perspektiven gegen- Weiss' ¾sthetik des Widerstands (1975±1981) als er- wärtiger ¾sthetik (München 1997), 160±179. füllt und sich erfüllend in einer »Aneignung der 31 jürgen habermas, Die Moderne ± ein unvollende- tes Projekt (1981), in: Habermas, Kleine politische Expertenkultur aus dem Blickwinkel der Lebens- Schriften (I-IV) (Frankfurt a.M. 1981), 462. welt«31 beschrieben. In der deutschen Tradition Einleitung: Zur Aktualität des ¾sthetischen 313 der Hermeneutik galt ein Begriff des ­ästhetischen und des Anderen zu sensibilisieren.«38 Hinter sol- Bewuûtseins¬32 und die Tendenz zur ­Absolutheit chen Formulierungen steht weniger ein vorder- des ¾sthetischen¬ als geschichtsphilosophischer gründig technik- und zivilisationskritischer Affekt Rahmen ästhetischer Erfahrung, die Hans-Georg (den es auch gibt) als die Bemühung um Sicherung Gadamer zufolge als »ästhetische Kritik« gegenüber von Spuren eines alternativen Modells zur Ausdif- der »Erfahrung der Kunst« immer »sekundär«33 ist. ferenzierung des Wissens. Denn die unter der Prä- Die von Hans Robert Jauû in kritischer Korre- misse ästhetischer Reflexion vorgenommene Un- spondenz zu Gadamer seit den 70er Jahren entwik- terscheidung von Wahrnehmung und Erfahrung kelte Theorie ästhetischer Erfahrung als breit ange- wird unter explizit ethischen Prämissen durch eine legte Historik ästhetischer Erfahrung hatte zwar kritische Prüfung der als irreversibel (und darum die vormoderne Tradition von Aisthesis erinnert, immer bedrohlich) angenommenen Mensch-Ma- diese aber nicht zu einer Perspektive erweitern schine-Modelle und der fortschreitenden ­Exterio- können, in der Kunst als privilegiertes Modell äs- risierung¬ biologischer und kognitiver Funktionen thetischer Erfahrung mit anderen Modi von All- in Maschinen ergänzt.39 Scheint die Evolution der tagserfahrungen konfrontiert und relativiert würde. Techno-Logiken den cartesianischen Dualismus Ob solche Konfrontation nur um den Preis der von Körper und Geist nicht nur vollzogen, son- Konfusion ästhetischer Beziehungen in Gestalt ei- dern auf die Spitze getrieben zu haben und mit der ner universalen ¾sthetisierung, wie man sie der völligen »Formalisierung der symbolischen Dar- sog. Postmoderne unterstellt hat, zu haben ist und stellung, d.h. daû nichts jenseits der Sprache als damit die ästhetische Kompensation destruktiver existent gedacht werden kann«, auch die »formale Modernisierung im Zentrum steht, ist eine um- ¾quivalenz von Begriff und Sinnlichkeit, von Er- strittene Frage.34 kenntnis und Imagination«40 zu stiften, so werden Das ereignisorientierte Modell ästhetischer Wahr- nehmung scheint demgegenüber riskanter (risiko- 32 Vgl. hans-georg gadamer, Wahrheit und Me- orientierter) und weniger elitär und determini- thode (1960), in: gadamer, Bd. 1 (1986), 91±94. stisch zu sein. Es geht davon aus, daû sich sinnliche 33 gadamer, Zur Fragwürdigkeit des ästhetischen Be- (durch die Körpersinne wie auch durch deren wuûtseins (1958), in: gadamer, Bd. 8 (1993), 17. 34 Vgl. marquard, Kompensationstheorien des ¾sthe- technische ­Exteriorisierungen¬35 vermittelte) tischen, in: D. Grathoff (Hg.), Studien zur ¾sthetik Wahrnehmungen als kontingent beobachten und und Literaturgeschichte der Kunstperiode (Frankfurt beschreiben, aber nicht in eine begriffliche Wis- a.M./Bern/NewYork 1985), 103±120; hauke senschaftssprache übersetzen lassen. »Un ØvØne- brunkhorst, Ansichten des Intellektuellen. Vom ment ne peut, par dØfinition, †tre dØduit d'une loi deutschen Mandarin zur ¾sthetik der Existenz, in: J. Huber/A. M. Müller (Hg.), Raum und Verfahren dØterministe: il implique, d'une mani›re ou d'une (Basel/Zürich 1993), 43±64. autre, que ce qui s'est produit ­aurait pu¬ ne pas se 35 Vgl. marshall mcluhan, Understanding Media: produire.«36 The Extensions of Man (NewYork 1964); pavel florenskij, Organprojektion (1922), in: Florenskij, b) Ethik und ¾sthetik An den Wasserscheiden des Denkens, hg. u. übers. v. S. u. F. Mierau (Berlin 1994), 183±186. Dieser Gesichtspunkt konvergiert mit dem wahr- 36 ilya prigogine/isabelle stengers, Entre le temps nehmungsorientierten in einer ­Logik der Un- et l'ØternitØ (Paris 1988), 46. schärfe¬ (Michel Serres), in der Sensibilisierung 37 Vgl. paul virilio, Guerre et cinØma, Bd. 1: Logisti- 2 unserer Wahrnehmung für Formen der Wahrneh- que de la (1984; Paris 1991). 38 christoph wulf/dietmar kamper/hans ulrich mungskontrolle und für Entäuûerungen von gumbrecht, Einleitung, in: Wulf/Kamper/Gum- Wahrnehmungsfähigkeiten in Maschinen mit in- brecht (Hg.), Ethik der ¾sthetik (Berlin 1994), XI. telligenten Sensorien, die zuerst in der Waffen- 39 Vgl. andrØ leroi-gourhan, Le geste et la parole technik erprobt worden sind.37 »Die Ethik der ¾s- (Paris 1964/1965); leroi-gourhan, Milieu et tech- thetik liegt nicht in der moralischen Kontrolle von niques (Paris 1945). 40 marie-anne berr, Technologie und Imagination. Kunst und Literatur, sondern in der Möglichkeit Zur Rematerialisierung des Immateriellen, in: Wulf/ des ¾sthetischen, für die Rätselhaftigkeit der Welt Kamper/Gumbrecht (s. Anm. 38), 174. 314 ¾sthetik/ästhetisch gegen solche apokalyptischen Aussichten doch ximen mit ästhetischen Wahrnehmungsmustern als Einwände vorgebracht und Einsprüche geltend ge- ein Problem der Herstellung souveräner und de- macht. mokratisch organisierter Entscheidungskompetenz In ihrem Kern handelt es sich bei den Bemü- verstanden wird. In diesem Sinne lautet Foerster hungen, ¾sthetik und Ethik miteinander zu ver- zufolge der »ethische Imperativ: Handle stets so, daû mitteln und beide Konzepte von der Bindung an die Anzahl der Wahlmöglichkeiten gröûer wird«, universal gültige Maûstäbe zu lösen, um ein Pro- und der »ästhetische Imperativ: Willst du sehen, so blem von Entscheidungen und der Behauptung in- lerne zu handeln«44. In einer erläuternden Bemer- dividueller Souveränität. Es wurde als ästhetisches kung Foersters kann man begriffsgeschichtlich die Verhalten umschrieben und von dem französischen Spur des ­sensus communis aestheticus¬ der dritten Paläontologen AndrØ Leroi-Gourhan als eine an- Kantschen Kritik erkennen, an der sich noch ein- thropologische Konstante der Kulturgeschichte der mal die Diffusion des ¾sthetischen als bestim- Menschheit aufgefaût41 oder von dem Kunstkriti- mende Signatur seiner Aktualität erweist: »In je- ker Jean-Marie Schaeffer als Weg zur Überwin- dem Augenblick unseres Lebens sind wir frei, auf dung eines kunstzentrierten ­mythe de l'attitude die Zukunft hin zu handeln, die wir uns wünschen. esthØtique¬ vorgeschlagen: »comme la grammaire / Mit anderen Worten, die Zukunft wird so sein, d'une langue, la conduite esthØtique n'a pas besoin wie wir sie sehen und erstreben. Dies kann nur für d'†tre explicitØe par une thØorie pour exister: si on diejenigen ein Schock sein, die ihr Denken von tient à parler d'illusion ethnocentrique, l'expres- dem Prinzip leiten lassen, daû für die Zukunft nur sion devrait plutôt s'appliquer à l'idØe selon la- die Regeln gelten sollen, die in der Vergangenheit quelle une activitØ humaine n'existe que d›s lors befolgt wurden. Für diese Menschen ist die Vor- qu'elle donne lieu à une reconnaissance rØfle- stellung einer ­Veränderung¬ unbegreiflich, denn xive.«42 Ob das »Interesse für die individuelle Form Veränderung ist der Prozeû, der die Regeln der des Lebensstils, die die allgemeine Norm des Le- Vergangenheit auslöscht.«45 bensstandards abzulösen verspricht«43, lediglich In- Das Problem ist nicht ohne politischen Zünd- diz einer Lifestyle-¾sthetik neoliberaler Marktge- stoff, seit man in Faschismus und Stalinismus die sellschaften und ihrer Technokultur ist, bleibt zu Erfahrung machen muûte, daû gerade der Bereich prüfen. der ¾sthetik unter politische und moralische Gewichtiger scheint der politische Akzent zu Wahrheitsansprüche gestellt wurde. Darauf reagiert sein, den z.B. Heinz von Foerster geltend gemacht eine wache Kritik mit der Betonung einer un- hat, wenn die Verbindung ethischer Verhaltensma- überbrückbaren Kluft zwischen ¾sthetik und Pflichtmoral, wie sie durch Kants Unterscheidung zwischen bestimmenden (kognitiven) und reflek- tierenden (ästhetischen) Urteilen etabliert worden 41 Vgl. leroi-gourhan, Le geste et la parole, Bd. 2 war. Die ästhetische Idee im Sinne Kants bürge (Paris 1965), 82±89. insofern auch einen ethischen Anspruch, als sie 42 jean-marie schaeffer, Les cØlibataires de l'art. unsere Aufmerksamkeit für kurzschlüssige Vermitt- Pour une esthØtique sans mythes (Paris 1996), 138. 43 wilhelm schmid, ­Alle Widersprüche finden sich in lungen von ¾sthetik und Ethik schärft.46 mir¬. Lebenskunst als ­Ethik¬ der Selbsterfindung bei Montaigne, in: Dt. Ztschr. f. Philos. 40 (1992), 1023. 44 foerster, Über das Konstruieren von Wirklichkeiten 3. ¾sthetisierung (s. Anm. 16), 41. 45 foerster, Perception of the Future and the Future of ­¾sthetisierung¬ ist kein reflexiver, sondern ein de- Perception, in: Instructional Science 1 (1972), 31±43; skriptiver Begriff, der gebraucht wird, um Wirk- dt.: Zukunft der Wahrnehmung: Wahrnehmung der lichkeiten nach Kriterien jeweils unterschiedlicher Zukunft, in: Foerster, Sicht und Einsicht (s. Anm. Konzepte von ¾sthetik und ¾sthetischem zu cha- 16), 10. rakterisieren oder auch präskriptiv Wege und For- 46 Vgl. avital ronell, Formen des Widerstreits, in: E. Weber/C. Tholen (Hg.), Das Vergessen(e). Anamne- men der Realisierung dieser Konzepte anzugeben. sen des Undarstellbaren (Wien 1997), 51±70. Man spricht dann z.B. von ­¾sthetisierung der Le- Einleitung: Zur Aktualität des ¾sthetischen 315 benswelt¬.47 Der Begriff ist im 19. Jh. im Kontext Grundbegriff einer »entstehenden neuen ¾sthe- der L'art-pour-l'art-¾sthetik als Umschreibung der tik«55 und das bestimmende Merkmal einer ubi- emblematischen Figur des Elfenbeinturms (tour quitären ¾sthetisierung. Eine »¾sthetik der At- d'ivoire) entstanden und wurde von Nietzsche in mosphären« (39) habe ihr Zentrum nicht mehr Die Geburt der Tragödie dahingehend verallgemei- vorrangig und ausschlieûlich in der Kunst und im nert, »dass nur als ästhetisches Phänomen das Da- Kunstwerk, sondern in einem ökologischen Ver- sein der Welt gerechtfertigt ist«48. Nietzsche wurde hältnis zur Natur. Diese ökologische ¾sthetik ant- mit dieser Position als Stichwortgeber eines elitä- wortet auf »die progressive ¾sthetisierung der Rea- ren ¾sthetizismus und Pate »ideologischer Verblen- lität, d.h. des Alltags, der Politik, der Ökonomie, dung im Epochenbewuûtsein der ästhetischen und [¼] die durch das Umweltproblem erzwun- Avantgarden«49 kritisiert. Die politische Grundle- gene Frage nach einem anderen Verhältnis zur Na- gung des Begriffs stammt von Carl Schmitt, der in tur, dem sie zu entsprechen versucht«. Statt sich Politische Romantik im Rahmen eines Freund- wie Adorno auf Kunstästhetik oder wie Kant auf Feind-Gegensatzes die von der Romantik ausge- »Beurteilungsästhetik« zu beschränken, würde sich hende »allgemeine ¾sthetisierung« der »Gebiete eine »neue ¾sthetik« »die gezielte Ausarbeitung ei- des geistigen Lebens«50 als geschichtliches Übel der nes begrifflichen Instrumentariums für eine Kritik ­Entpolitisierung¬ beschrieb, die durch ­Totalität der ästhetischen Ökonomie und eine ästhetische des Politischen¬ überwunden werden müsse. In Theorie der Natur« (7) zum Ziel setzen, von der es den 30er Jahren kennzeichnete Walter Benjamin heiût, daû sie »zuallererst das ist, was ihr Name die faschistische suggestive Massenindoktrination sagt, nämlich eine allgemeine Theorie der Wahr- als »¾sthetisierung der Politik« und setzte ihr eine nehmung«56. ­Aisthesis¬ wird auch hier als der refle- »Politisierung der Kunst«51 entgegen. Die Implika- xive Rahmen einer ökologisch orientierten Diffe- tionen und Folgen solcher als ideologische Ver- renzierung im Begriff ¾sthetik aufgerufen. blendung oder als Manipulation und Maskierung ­¾sthetisierung¬ als prozeûorientierter Begriff von politischen Interessen bezeichneten ¾sthetisie- rung wurden in der neueren ¾sthetikdebatte diffe- renziert. ­¾sthetisierung¬ wird nicht nur gebraucht 47 Vgl. rüdiger bubner, ¾sthetisierung der Lebens- zur Kennzeichnung von Phänomenen der ­Waren- welt, in: W. Haug/R. Warning, Das Fest (München 1989), 651±662. ästhetik¬52 als einer neuen Qualität der »Ausstat- 48 , Die Geburt der Tragödie tung der Wirklichkeit mit ästhetischen Elemen- (1872), in: nietzsche (kga), Abt. 3, Bd. 1 (1972), ten«53, sondern auch als Gegenbegriff zu ­¾stheti- 11. zismus¬ und ein Weg zu dessen populärer und 49 hans robert jauss, Die Epochenschwelle von 1912. Guillaume Apollinaire: ­Zone¬ und ­Lundi Rue populistischer Verallgemeinerung. Der französische Christine¬ (Heidelberg 1986), 42. Soziologe Jean Baudrillard hat in seinen Analysen 50 carl schmitt, Politische Romantik (1919; Berlin der durch die elektronischen Massenmedien pro- 1998), 17. duzierten sog. ­hyperrØalitØ de l'image¬ sogar von 51 enjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner techni- ­obszöner¬ ¾sthetisierung der Kultur gesprochen, schen Reproduzierbarkeit (2. Fassung, entst. 1935/ 1936), in: benjamin, Bd. 7/1 (1989), 384. die er als ­transästhetisch¬ bezeichnet. In diesem 52 Vgl. wolfgang f. haug, Kritik der Warenästhetik Sog habe die zeitgenössische Kunst ihre in den (Frankfurt a.M. 1971). Epochen der Moderne noch wirksame »illusion es- 53 welsch, ¾sthetisierungsprozesse. Phänomene, Un- thØtique« gänzlich aufgegeben. »Ainsi de l'art, qui terscheidungen, Perspektiven, in: Dt. Ztschr. f. Phi- los. 41 (1993), 8. lui aussi a perdu le dØsir de l'illusion, au profit 54 jean baudrillard, Le complot de l'art (Paris 1997), d'une ØlØvation de toutes choses à la banalitØ esthØ- 9; vgl. baudrillard, Agonie des Realen, übers. v. tique, et qui donc est devenu transesthØtique.«54 L. Kurzawa/V. Schäfer (Berlin 1978). Ein anderer, eher positiv konnotierter Begriff 55 gernot böhme, Atmosphäre (Frankfurt a.M. 1995), von ­¾sthetisierung¬ wurde im Rahmen einer öko- 7. 56 böhme, Atmosphäre als Grundbegriff einer neuen logischen ¾sthetik begründet. Der Germanist Ger- ¾sthetik, in: Kunstforum international 120 (1992), not Böhme sieht im Begriff ­Atmosphäre¬ den 255. 316 ¾sthetik/ästhetisch und als Indikator von Anwendungsbereichen des zen« als »Realbedingung von Toleranz« (28). »¾s- ¾sthetischen und Faktor in darauf beziehbaren thetische Reflexion wird sich nicht zum Agenten Diskursen wurde im Interesse der Kennzeichnung einer ¾sthetisierung machen lassen, die in Wahr- unterschiedlicher Formen von ¾sthetisierung in heit auf Anästhetisierung hinausläuft ± auf die Er- dem tautologischen Begriff ­¾sthetisierungspro- zeugung von Unempfindlichkeit, auf Betäubung zesse¬ ausgedrückt. Der Philosoph Wolfgang durch ständige ästhetische Überdrehtheit. ¾stheti- Welsch zog aus seiner Beobachtung einer von sches Denken opponiert dem ¾sthetisierungstrend Kant vorbereiteten und von Nietzsche fortgeführ- und der Pseudo-Sensibilität der Erlebnisgesell- ten »epistemologischen ¾sthetisierung«, deren schaft.« (27) Freilich ist vor einer Überschätzung Nenner die Kritik der konventionellen Gleichset- der ¾sthetisierung, vor dem »ästhetischen Funda- zung von ¾sthetik und Kunst gewesen sei, weitrei- mentalismus«58 einer »Entgrenzung der ¾sthetik«, chende Konsequenzen. »Wahrheit, Wissen und einer »Aufhebung der Grenze zur Aisthetik«59 auch Wirklichkeit haben in den letzten zweihundert gewarnt worden. Jahren zunehmend ästhetische Konturen ange- Wurde der ¾sthetik seit Kierkegaard immer nommen. Erstens zeigte sich, daû ästhetische An- wieder der Vorwurf gemacht, einer Entfremdung teile für unser Erkennen und unsere Wirklichkeit zwischen der Politik und den wirklichen Proble- grundlegend sind. Das begann mit Kants transzen- men der Menschheit Vorschub zu leisten, einen im dentaler ¾sthetik und reicht bis zur Selbstreflexion Kern affirmativen Bezirk der Kompensation zu be- der gegenwärtigen Naturwissenschaften. Zweitens dienen, so ist die aktuelle Debatte eher von der Su- setzte sich zunehmend die Einsicht durch, daû Er- che nach einem anderen Begriff von ¾sthetik und kennen und Wirklichkeit ihrer Seinsart nach ästhe- von der Einsicht bestimmt, daû die ästhetisch legi- tisch sind. Das war Nietzsches Entdeckung, die timierte »Selbstbefriedigung«60 des Geistes ana- seither auch von anderen unter Rückgriff vor- chronistisch geworden ist. Insofern ist diese offene wiegend auf nautische Metaphern zum Ausdruck Debatte auch Indiz einer Grundlagenkrise der gebracht wurde und bis zum Konstruktivismus un- Geisteswissenschaften, die im tendenziellen ­Ent- serer Tage reicht. Wirklichkeit ist keine erkennt- zug der Gefühlsgemeinschaft¬ eine ihrer Ursachen nisunabhängige, fest vorgegebene Gröûe, sondern hat. Darauf hat Lyotard mit seiner kritischen Hy- Gegenstand einer Konstruktion. / Hatte man frü- pothese über die sog. Postmoderne aufmerksam her gemeint, ¾sthetik habe es mit sekundären, gemacht. »Meine Hypothese über die Postmo- nachträglichen Realitäten zu tun, so erkennen wir derne ist, daû die ¾sthetik, d.h. die Empfänglich- heute, daû das ¾sthetische schon zur Grundschicht keit für die Gebung des Anderen nach räumlichen von Erkenntnis und Wirklichkeit gehört.«57 Aus und zeitlichen Formen, die die Grundlage für die der Unterscheidung einer »Tiefenästhetisierung« kritische und romantische Moderne abgibt, sich von einer »Oberflächenästhetisierung« (7) in den zurückgedrängt, geschwächt und zum Widerstand Formen von »Verhübschung, Animation, Erlebnis« gegen die tatsächliche Vorherrschaft der wissen- (8) ergibt sich als das zeitgemäûe Gebot praxis- schaftlich-technischen und pragmatischen Verein- orientierter ¾sthetik eine »Sensibilität für Differen- nahmung des Zeit-Raums gezwungen sieht.« Die entscheidende Frage wäre dann die »nach der Grundlage der ­Postmoderne¬ als dem Mangel an 57 welsch (s. Anm. 53), 25. ästhetischer Grundlage oder als ­Unempfindsam- 58 martin seel, ¾sthetik und Aisthetik. Über einige keit¬. Die ­neue Technologie¬ ist bekanntlich, we- Besonderheiten ästhetischer Wahrnehmung ± mit ei- nem Anhang über den Zeitraum der Landschaft, in: nigstens was die ­Grundlagenkrise¬ anbetrifft, nicht Seel, Ethisch-ästhetische Studien (Frankfurt a.M. diejenige, die sich mit dem Namen der Atomphy- 1996), 37. sik erfassen lieûe und die die empirische Herrschaft 59 Ebd., 39. durch die Bedrohung ihrer Zerstörung belastete. 60 Vgl. georg wilhelm friedrich hegel, Phänome- Sie ist die der Logizismen, deren Wirkung auf die nologie des Geistes (1807), in: hegel (twa), Bd. 3 (1970), 134; , Kritik der reinen Ver- Vermögen, den Verstand, die spekulative und prak- nunft (1781), in: kant (aa), Bd. 3 (1904), 407. tische Vernunft, die Empfindsamkeit und die Ein- I. Der europäische Kontext einer deutschen Gründung 317 bildungskraft, von transzendentaler Reichweite ist. stoteles zurückgehende rhetorisch argumentie- Es ist nicht die Vernichtung der Spezies, die in die- rende ¾sthetik. Hier stehen Dichtung und Musik ser Hinsicht in Betracht kommt, sondern die Vor- im Zentrum, und es geht, wie in der Rhetorik, herrschaft des Kalküls und der verallgemeinerten um die Verwaltung der Affekte, z.B. um die Ka- Simulation in den Geistestätigkeiten.«61 tharsis und das Erhabene. Die Suggestionskraft der Dichtung wird dort gegen ihre Schönheit aus- Karlheinz Barck gespielt. Diese beiden Tendenzen prägen die eu- ropäische Vorgeschichte der Gründung der Insti- tution ¾sthetik nachhaltig. ¾hnliches beobachtet Alfred Baeumler, wenn er seine Darstellung der I. Der europäische Kontext ¾sthetik in zwei groûe Abschnitte gliedert und einer deutschen Gründung den einen (­Die Idee des Schönen¬) mit Platon be- ginnen läût, den anderen (­Der Begriff der Kunst¬) Die deutsche Gründung der ¾sthetik stellt den dagegen mit Aristoteles.65 Versuch einer Systematisierung im Kontinuum des Gesamteuropäisch betrachtet, hat die ästhetische europäischen Selbstbewuûtseins im Zeitalter der Reflexion seit dem Ende des 17. Jh. ihren Schwer- Aufklärung dar. So ist es aufschluûreich, die zwei punkt zunächst in Frankreich66, dann in England67 Jahrzehnte um das Jahr 1750 (das Erscheinungsjahr und ab 1750 zunehmend in Deutschland. Die auf des 1. Bandes von Baumgartens Aesthetica) hin- der Geschmacksträgerschaft von ­la cour et la ville¬ sichtlich der Veröffentlichung der für die Begriffs- (Erich Auerbach) basierende doctrine classique bildung der ¾sthetik zentralen Schriften zu re- wurde vom Regelkanon des Schönen beherrscht, kapitulieren: Im Todesjahr von Giambattista Vico den man aus den als Vorbild aufgefaûten Meister- erschien 1744 die 2. Ausgabe von La Scienza werken der Vergangenheit ableitete. Jede einzelne Nuova, mit der Vico, nach dem Urteil Benedetto Dichtung hatte in diesem Sinne die Aufgabe, das Croces62, zu den Begründern der modernen ¾s- Schöne zu repräsentieren. Die ­Querelle des an- thetik gehört. 1739/40 erschien Humes A Treatise ciens et des modernes¬ am Ausgang des 17. Jh. pro- of Human Nature, 1748 sein An Enquiry Concerning Human Understanding63, 1746 Charles Batteux' Les 61 lyotard, Grundlagenkrise, übers. v. J. Wagner, in: beaux Arts rØduits à un m†me Principe, 1751 Diderots Neue Hefte für Philosophie, H. 26 (1986), 24, 31; die Relativität des Schönheitsbegriffs betonender vgl. lyotard, Essays zu einer affirmativen ¾sthetik, EncyclopØdie-Artikel Beau, 1753 Hogarth' The Ana- übers. v. E. Kienle/J. Kranz (Berlin 1982). lysis of Beauty, 1754 Condillacs TraitØ des sensations, 62 Vgl. benedetto croce, Estetica come scienza del- l'espressione e linguistica generale. Teoria e storia 1757 Burkes A Philosophical Enquiry into the Origins (1902; Bari 1950), 242. of Our Ideas of the and Beautiful, 1759 der 63 Vgl. peter jones, Hume and the Beginnings of Mo- stark von Burke beeinfluûte 1. Band von Diderots dern Aesthetics, in: Jones (Hg.), The ­Science of Salons. Am Ausgang der Gründungsepoche steht Man¬ in the Scottish Enlightenment (Edinburgh schlieûlich die ­¾sthetik¬ von Henry Home, die 1989), 54±67. 64 Vgl. hermann schmitz, Herkunft und Schicksal Elements of Criticism (1762). der ¾sthetik, in: H. Lützeler (Hg.), Kulturwissen- Für den europäischen Kontext der deutschen schaften. Festgabe für Wilhelm Perpeet zum 65. Ge- Gründung kann mit Hermann Schmitz64 festgehal- burtstag (Bonn 1980), 388±413. ten werden, daû es zwei Proto-¾sthetiken gibt, de- 65 Vgl. alfred baeumler, ¾sthetik (1934; Darmstadt 1972), 3±43, 43±84. ren Wurzeln bis in die Antike zurückreichen: Zum 66 Vgl. peter-eckhard knabe, Schlüsselbegriffe des einen eine kallistische ¾sthetik, die sich seit Platon kunsttheoretischen Denkens in Frankreich von der am Kernbegriff des Schönen orientierte, wobei die Spätklassik bis zum Ende der Aufklärung (Düsseldorf Verbindung zwischen Schönheit und Kunstwerk 1972); carsten zelle, Die doppelte ¾sthetik der erst ein relativ spätes historisches Produkt ist. In Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche (Stuttgart/Weimar 1995). dieser Tradition stehen bildende Kunst und Natur- 67 Vgl. bernard bosanquet, A History of Aesthetic schönheit im Zentrum. Zum anderen eine auf Ari- (1892; NewYork 1957), 202±210. 318 ¾sthetik/ästhetisch blematisierte diesen repräsentativen Schönheitsbe- lungen, die zur Entstehung der modernen ¾sthetik griff, was mit der Unterscheidung von ­beau ab- beitragen: solu¬ und ­beau relatif¬ begriffsgeschichtlich ange- Durch die spezifisch moderne Erfahrung des Er- zeigt wird.68 Die Kritik der Modernen richtet sich habenen (sublime), das nach der Wiederentdek- gegen die Zeitlosigkeit und ewige Gültigkeit des kung durch Boileau in Frankreich und England ins antiken Schönheitsbegriffs. In diesem Zusammen- Zentrum der ästhetischen Reflexionen rückte, hang erhält der Geschmack (goßt, ) als subjek- wurde der alte ontologische Schönheitsbegriff der tives Beurteilungsvermögen des individuellen doctrine classique grundlegend problematisiert. Menschen eine immer gröûere Bedeutung. Man Damit baute sich zwischen ­schön¬ und ­erhaben¬ kann in der Durchsetzung des subjektiven und in- ein Spannungsverhältnis auf, das ein Bedürfnis dividuellen Urteilskriteriums ­Geschmack¬ sogar nach einer neuen, differenzierteren Theorie der den entscheidenden Antrieb für die Ausbildung menschlichen Erfahrung weckte. Hier lag der An- des »ästhetischen Subjekts«69 und der ¾sthetik se- satzpunkt einer ­doppelten ¾sthetik¬ der Moderne, hen. In diesem Zusammenhang erfährt auch der die sich paradigmatisch im gleichzeitigen Erschei- Naturbegriff eine grundlegende Veränderung: Na- nen von Boileaus Art poØtique und TraitØ du sublime tur wird einerseits Gegenstand der Naturwissen- im Jahre 1674 ankündigte. Die Schriften stehen als schaften und dabei in ihren meû- und klassifizier- Ikone des Klassizismus und als deren Subversion baren Elementen betrachtet. Andererseits bleibt sie unvermittelt nebeneinander.70 Die mit Boileau be- unmeûbarer, maûloser und unendlicher, nicht ginnende »­Querelle du Sublime¬ verändert die klassifizierbarer Bereich des Groûen, Gewaltigen, Einrichtung im Haus der normativen ¾sthetik so Nicht-Rationalen. Diese wirkungsästhetische Dif- sehr, daû es am Ende völlig umgebaut erscheinen ferenzierung deutet auf die beiden zentralen Kate- muûte«71. Burke beschreibt den Gegensatz von gorien des Schönen und des Erhabenen hin. Der Schönem und Erhabenem auf der Grundlage sen- Beitrag der englischen und schottischen Philoso- sualistischer und empirischer (oder, wie Kant in phen von John Locke bis zu Henry Home, Ale- der Kritik der Urteilskraft sagen wird: ­physiologi- xander Gerard und Archibald Alison zur ästheti- scher¬) Beobachtung: »Sublime objects are vast in schen Diskussion des 18. Jh. liegt vorzugsweise in their dimensions, beautiful ones comparatively der empirisch orientierten Analyse der psycho- small; beauty should be smooth, and polished; the physiologischen Grundlagen ästhetischer Erfah- great, rugged and negligent«72. rung. Mit der Nobilitierung und neuen Relevanz der Der ­vor-ästhetische¬ Dualismus zwischen Rhe- Affekte erfuhren Anschauung, Einbildungskraft, torik und Kallistik, die Aufwertung des Ge- Sinne, Sinnlichkeit und sinnliche Wahrnehmung schmacksbegriffs und die psycho-physiologische im Rahmen der Begründung bürgerlicher Da- Aufklärung ästhetischer Erfahrung kreuzen sich seinsordnung und im Fahrwasser des Sensualismus mit anderen europaweit debattierten Problemstel- und Empirismus eine immense Aufwertung. Den erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt bildete Locke, der gegen den Cartesianismus betonte, daû alle Vorstellungen und Materialien des Denkens 68 Vgl. herbert dieckmann, Die Wandlung des dem Menschen nicht eingeboren, keine ideae in- Nachahmungsbegriffes in der französischen ¾sthetik natae sind, wie dies noch Leibniz vertrat, sondern des 18. Jahrhunderts, in: H. R. Jauû (Hg.), Nachah- aus der Erfahrung stammen, die wiederum aus der mung und Illusion (München 1964), 28±59. 69 baeumler, Das Irrationalitätsproblem in der ¾sthetik sinnlichen Wahrnehmung gespeist wird. Der Er- und Logik des 18. Jahrhunderts (1923; Darmstadt kenntnisvorgang bestand für Locke in der Wahr- 1967), 2. nehmung entweder von Übereinstimmung und 70 Vgl. zelle (s. Anm. 66), 112. Verbindung oder von Trennung und Widerstreit winfried wehle, Vom Erhabenen oder über die 71 der Vorstellungen, wobei unmerkliche, nahezu un- Kreativität des Kreatürlichen, in: S. Neumeister (Hg.), Frühaufklärung (München 1994), 200. bewuûte Urteile als Dispositive der Wahrnehmung 72 burke, 124. mitwirken. Aus der Perspektive einer empirischen I. Der europäische Kontext einer deutschen Gründung 319

Psychologie betonte er die primäre erkenntnis- kenntnistheorie und die psycho-physiologische theoretische Bedeutung der Sinne ± im Geiste der Analyse ästhetischer Erfahrung bereits lange vor älteren These: Nihil est in intellectu, quod non an- der Gründung dieses Wissenschaftszweiges ­¾sthe- tea fuerit in sensu. Für die ästhetische Erfahrung tik¬ thematisiert. Es bestand für die französische folgte daraus die Verabschiedung des metaphysisch und englische Wissenschaft deshalb zunächst kein und ontologisch bestimmten Schönheitsbegriffs Grund, den Weg der eigenen nationalen Reflexi- der platonischen Tradition. onstraditionen zu verlassen. In Frankreich wirkte Lockes Sensualismus v. a. Die einzelnen Künste treten als System auch auf Jean-Baptiste Du Bos und Étienne Bonnot de erstmals theoretisch in Erscheinung, wobei die Condillac und gewann über beide entscheidenden Vergleichbarkeit der Einzelkünste in den Vorder- Einfluû auf die Ausbildung der französischen Auf- grund rückt. Maûgebend dafür ist vor allem die klärungsästhetik. Du Bos distanzierte sich von der Begriffsbildung der ­schönen Künste¬ (beaux arts) rationalistisch-klassizistischen Literaturkritik und in Frankreich geworden. Die Grenze, an der dies verlagerte die Fähigkeit zur angemessenen Beurtei- geschieht, läût sich ziemlich genau zwischen Du lung eines Kunstwerks vom Kunstrichter auf das Bos und Voltaire markieren. Unter der Überschrift mit dem Geschmack als angeborenem sechsten ­arts et sciences¬ faûte Voltaire zusammen: Philoso- Sinn ausgestattete Publikum. Damit war die Mün- phie, Beredsamkeit, Poesie, Kritik; weiterhin Ma- digkeit des Publikums als ästhetisches Subjekt lerei, Bildhauerei, Musik, Goldschmiedekunst, theoretisch beglaubigt. Für das künstlerische Schaf- Teppichwirkerei, Spiegelschleiferei, Goldbrokat- fen ist die Erregung künstlicher Leidenschaften weberei und Uhrmacherkunst.77 Hier sind noch und Gefühle eine der Haupttriebkräfte. In der Re- sowohl der alte Kunstbegriff (im Sinne von zeption kann sie wirkliche Leiden und Affekte ­techneŬ) als auch die Klassifikation der artes libera- kompensieren.73 Dieser psychophysische Grund- les (Arithmetik, Astronomie, Musik, Geometrie: ansatz wird (wie auch schon bei Shaftesbury74)mit das ­Quadrivium¬; Grammatik, Rhetorik, Dialek- dem Geniebegriff verbunden. Genie ist eine göttli- tik: das ­Trivium¬) gegenwärtig.78 Die einzelnen che Gabe und Besessenheit, die ihre physiologische Künste, die Voltaire nennt, bilden noch keinen ei- Begründung in einer bestimmten Anordnung der genen systematischen Zusammenhang. Anders bei Hirnorgane und ihre mental-soziale Begründung Du Bos, der nicht nur den englischen Sensualismus in den Bedingungen eines bestimmten Milieus in die französische Diskussion einbringt. »He did oder einer bestimmten Epoche findet.75 Condillac not invent the term beaux-arts, nor was he the first entwickelte die sensualistische Erkenntnistheorie to apply it to other than the , but he cer- weiter, indem er die sinnliche Wahrnehmung zur tainly popularized the notion that was one einzigen Quelle aller Erkenntnis auf dem Wege der Umbildung der Sinneswahrnehmungen in Vorstel- 73 Vgl. du bos, Bd. 1, 25±44; klaus dirscherl,­Von lungen erklärte. Er betonte den Werkzeugcharak- der Herrschaft der Schönheit über unsere Gefühle¬ ± ter der sinnlichen Wahrnehmung. Durch die Ver- Elemente einer sich formierenden ¾sthetik der ­sensi- arbeitung der Wahrnehmung verändere der bilitج (FØnelon, Crousaz, Dubos), in: Neumeister (s. Anm. 71), 400±411. Mensch fortwährend seinen inneren Zustand. Sein 74 Vgl. shaftesbury, A Letter Concerning Enthusiasm Ich bestehe geradezu aus dieser dauernden Integra- (1708), in: Shaftesbury, Characteristics of Men, Man- tion sinnlicher Erfahrung in Gedächtnis und Erin- ners, Opinions, Times, etc., hg. v. J. M. Robertson, nerung.76 Bd. 1 (London 1900), 37±39. 75 Vgl. du bos, Bd. 2, 14±24, 320±335. Wegen des starken Einflusses der sensualistischen 76 Vgl. Øtienne bonnot de condillac, TraitØ des Erkenntnistheorie in England und Frankreich war sensations (1754), in: condillac, Bd. 1 (1947), 219± nach Ausbildung der ¾sthetik als Disziplin die Be- 319. reitschaft zur Rezeption und zur Übernahme des 77 Vgl. voltaire an Du Bos (30. 10. 1738), in: Voltaire, Wissenschaftsnamens gering. Was die deutsche ¾s- Les êuvres compl›tes, hg. v. T. Besterman u.a., Bd. 89 (Toronto/Buffalo 1969), 345. thetik seit der Mitte des 18. Jh. unter diesem 78 Vgl. georg picht, Kunst und Mythos (Stuttgart Lemma verhandelte, hatten die sensualistische Er- 1986), 81±84. 320 ¾sthetik/ästhetisch of the beaux-arts. [¼] he repeatedly has occasion to 60 Jahre vor Batteux' Schrift erschienene Cours speak also of the other visual arts as linked with d' (1675±1683) von François Blondel. «79. Architektur, Bildhauerkunst und Malerei werden Schlieûlich war es Batteux' auch in Deutschland hier mit Rhetorik, Poesie, Musik und Tanz zu ei- auûerordentlich einfluûreiche Schrift Les beaux nem System zusammengebracht. Der aus diesen Arts rØduits à un m†me Principe (1746; die erste deut- und anderen Gattungen gezogene Genuû (plaisir) sche Übersetzung erschien schon 1751), die fast »est partout fondØ sur le m†me principe«. Obwohl zeitgleich mit Baumgarten die Grundlagen zu ei- Blondel der Begriff ­schöne Künste¬ (beaux arts) ner Theorie des ¾sthetischen legte. Batteux noch nicht zur Verfügung stand, nannte er als ein- trennte die ­nützlichen¬ mechanischen Künste (v. a. heitliche Prinzipien seiner Zusammenfassung: hat er Rhetorik und Architektur im Auge) von je- »unitØ d'harmonie« und »plaisir«82. nen ab, die dem ­Genuû¬ dienen: Musik, Dich- Bernard Bosanquet hielt 1892 fest: »The beauti- tung, Malerei und Tanz. Diese schönen Künste ful is of interest to metaphysic as the tangible meet- gründen sich, so Batteux, auf das gemeinsame ing point of reason and feeling, and to criticism as Prinzip der Naturnachahmung: »Les RØgles de la the expression of human life in its changing phases Posie, de la Peinture, de la Musique & de la and conditions. The combination of these two in- Danse, sont renfermØes dans l'imitation de la belle terests, after a protracted separate development, is Nature.«80 Nicht dieses Prinzip aber ist traditions- the true genesis of modern aesthetic.«83 In England stiftend geworden ± es wurde ja im Gegenteil bald entwickelte sich seit Beginn des 18. Jh. critic/criti- durch die ¾sthetik desavouiert und durch andere cism als Kunst- und Kulturkritik im Zusammen- Zentralkategorien ersetzt ±, sondern die Zusam- hang mit der Institutionalisierung bürgerlicher Öf- menführung der bislang getrennt konzeptualisier- fentlichkeit in einer solchen Richtung, daû man ten Einzelkünste unter dem Oberbegriff der schö- von einer parallelen Institutionalisierung zu derje- nen Künste: »Il y a le beau, le parfait idØal de la nigen der ¾sthetik sprechen kann. Posie, de la Peinture, de tous les autres Arts.«81 ­Critic¬ und ­criticism¬ werden als kulturelles Batteux näherte sich damit dem Singular ­die Wissen und Vermögen bestimmt. Seit Alexander Kunst¬. Erst dieser Kollektivsingular forderte die Popes Essay on Criticism (1711) läût sich criticism ± ästhetische Reflexion heraus, weil es hier um die vor dem Hintergrund einer im Vergleich zu ande- Bestimmung eines den einzelnen Künsten gemein- ren europäischen Staaten frühen Institutionalisie- samen und übergeordneten Prinzips ging: ­Les rung von bürgerlicher Öffentlichkeit ± als eine beaux Arts rØduits à un m†me Principe¬. Wie sehr kommunikative ¾sthetik beschreiben. Verwies der die Zusammenfassung der einzelnen Künste und Terminus am Anfang seiner Entwicklung v. a. auf ihre Reflexion unter zentralen, vereinheitlichen- die Dichtkunst, so wurde er, mit Shaftesbury be- den ­ästhetischen¬ Gesichtspunkten bereits seit der ginnend, zu einem Begriff, der sich, rezeptionsäs- Mitte des 17. Jh. in der Luft lag, belegt der schon thetisch orientiert und an ­taste¬ bzw. ­Standard of Taste¬ gebunden, auf die Natur, die Künste und das weite Feld der sinnlichen Wahrnehmung bezog. 79 paul oskar kristeller, The Modern System of the Arts, in: Journal of the History of Ideas 13 (1952), Indem Shaftesbury das Schöne vom Seienden 18f. trennte und das Urteil über das Schöne aus einem 80 batteux (1746), 133f. dialogischen Prozeû hervorgehen lieû, wurde auch 81 Ebd., 110. die Rolle des ­criticism¬ stark aufgewertet: »A le- 82 Zit. nach wèadysèaw tatarkiewicz, A Note on the Modern System of the Arts, in: Journal of the gitimate and just taste can neither be begotten, History of Ideas 24 (1963), 422. made, conceived, or produced without the antece- 83 bosanquet (s. Anm. 67), 166. dent labour and pains of criticism.«84 Bei Hume 84 shaftesbury, Miscellaneous Reflections (1711), in: wurde criticism ein fester Bestandteil derjenigen Shaftesbury, Characteristics (s. Anm. 74), Bd. 2 (Lon- Wissenschaften, die Gegenstände der Reflexion don 1900), 257. 85 Vgl. , A Treatise of Human Nature und soziale Tätigkeitsbereiche beschreiben.85 Die (1739±1740), in: hume, Bd. 1 (1874), 307. Elements of Criticism (1762) von Henry Home bil- II. Die Institutionalisierung der ¾sthetik 321 den die Zusammenfassung der bis dahin vorliegen- dung der ¾sthetik als wissenschaftliche Disziplin ist den englischen Geschmacksästhetik. Home ord- Teil eines kulturellen Wandels in der Mitte des nete seine ¾sthetik in den Kontext der zeitgenössi- 18. Jh., »a reorganization of the culture, a transfor- schen Gesellschaftstheorien ein und begriff sie als mation of its patterns of sign production and einen die Theorie ergänzenden Beitrag. »The sci- use«91. Als Versuch, die menschliche Natur ein- ence of criticism tends to improve the heart not schlieûlich ihrer bekannten oder neuentdeckten less than the understanding.«86 Der Gegenstand dunklen Seiten in ein rationales Verstehensmuster dieser Wissenschaft ist das mit dem Prozeû der zu bringen, stellt die ¾sthetik einen Gegendiskurs Wahrnehmung verbundene Gefühlsleben des Pu- zum neuzeitlichen Rationalismus und eine Ver- blikums. Der Kritiker begreift sich als Sprecher der mehrung anthropologischen Wissens dar. So be- Rezipienten, der den empirisch gegebenen Stan- schreibt Herder die Rolle des ¾sthetikers Baum- dard of Taste theoretisch verankert und die Öffent- garten als die des Spezialisten für die menschlichen lichkeit dazu befähigt, sachkundig über Kunst zu Gefühle, Affekte und Empfindungen.92 urteilen. Home beklagt einen egoistischen Zug der Die theoretischen Anstrengungen der europä- Zeit: »A flourishing commerce begets opulence; ischen Aufklärung im Hinblick auf Geschmack, and opulence, inflaming our appetite for pleasure, Genie, Einbildungskraft/Imagination, die Konzep- is commonly vented on luxury and on every sen- tualisierungen des ­criticism of taste¬, des Erhabe- sual gratification: Selfishness rears its head; be- nen sowie die fortgesetzte Reflexion der alten For- comes fashionable«. Die Beschäftigung mit den mel des ­je ne sais quoi¬93 bilden das Hinterland der »fine arts«87 könne dem entgegenwirken. Denn die ¾sthetik-Gründung, sind jedoch noch nicht diese Künste besitzen für Home eine spezifische, durch selbst. Die Gründung der ¾sthetik stellt eine »Son- den Kritiker vermittelte sozialisierende Wirkung. derentwicklung der deutschen Aufklärung«94 dar, Sie sind ein Gegenstand sozialer Selbstverständi- deren Ursprung in der Entwicklung der Erkennt- gung auf der Ebene der Ausbildung und Erziehung nistheorie in der Schule von Leibniz und Wolff zu der Gefühle. Homes monumentales Werk wurde suchen ist. unmittelbar nach dem Erscheinen auch ins Deut- sche übertragen.88 Sowohl Friedrich Justus Riedels Theorie der schönen Künste und Wissenschaften (1767) als auch Johann Georg Sulzers Allgemeine Theorie der schönen Künste (1771±1774) entstanden unter dem Einfluû der Homeschen Elements, und auch 86 home, Bd. 1, 11. Kant hat sich mit Home mehrfach auseinanderge- 87 Ebd., V. 88 Vgl. heinrich home, Grundsätze der Critik, übers. 89 setzt. v. J. N. Meinhard (Leipzig 1763). 89 Vgl. wilhelm neumann, Die Bedeutung Home's für die Aesthetik und sein Einfluss auf die deutschen Aesthetiker (Diss. Halle 1894). 90 hermann lotze, Geschichte der Aesthetik in II. Die Institutionalisierung der ¾sthetik Deutschland (München 1868), 3. 91 david e. wellbery, Lessing's ­Laocoon¬: Semiotics Hermann Lotze schrieb 1868: »Es ist niemals ein and Aesthetics in the Age of Reason (Cambridge u.a. bedeutungsloses Ereigniû in der Geschichte der 1984), 6. Wissenschaft, wenn Fragen, welche einzeln längst 92 Vgl. johann gottfried herder, Von Baumgartens Denkart in seinen Schriften (1767), in: herder, die Aufmerksamkeit beschäftigt hatten, zum ersten Bd. 32 (1899), 186. Mal unter gemeinsamem Namen vereinigt und als 93 Vgl. erich köhler, ­Je ne sais quoi¬. Ein Kapitel aus bestimmtes Glied in den Zusammenhang mensch- der Begriffsgeschichte des Unbegreiflichen, in: Ro- licher Untersuchungen eingereiht werden.« Das manistisches Jahrbuch 6 (1953/54), 21±59. 94 manfred frank/vØronique zanetti, Kommen- ­Ereignis¬ der ¾sthetik bestehe darin, daû »das tar, in: I. Kant, Schriften zur ¾sthetik und Naturphi- noch dunkle Gebiet unverlierbar in den Gesichts- losophie, hg. v. Frank/Zanetti (Frankfurt a.M. 1996), kreis der Wissenschaft gerückt«90 sei. Die Ausbil- 921. 322 ¾sthetik/ästhetisch

1. Der Weg zu Baumgartens ­Aesthetica¬ sich Wissenschaft und Erkenntnis radikal über den Verstand definierten, entstand überhaupt das Be- Der im 17. Jh. ausgebildete neuzeitliche Erkennt- dürfnis nach einer eigenen Wissenschaft, die sich nis- und Wissenschaftsbegriff, wie er am nachhal- mit sinnlichen Wahrnehmungsproblemen befaût. tigsten von Descartes vertreten wurde, hob sich Während in England und Schottland die sensuali- von allen ästhetisch werthaften Phänomenen strikt stische Erkenntnislehre, mit Locke beginnend, ab, indem er der sinnlichen Wahrnehmung mit äu- Probleme der sinnlichen Wahrnehmung auf empi- ûerstem Miûtrauen begegnete und allein auf das rischer Grundlage systematisch ausarbeitete, bil- denkende Ich setzte.95 Dies bedeutete zwar den dete sich die ¾sthetik in Deutschland über eine strikten Bruch mit der scholastischen Denktradi- kritische Anknüpfung an den Cartesianismus her- tion, indem die Frage, wie der Mensch zu Er- aus. Die Schlüsselfigur war Leibniz, der auf die kenntnissen und zu sicherem Wissen gelangt, in Überwindung der cartesianischen Zwei-Substan- den Mittelpunkt rückte. Die Kehrseite dieses Ra- zen-Theorie drängte.99 Die Aufwertung der sinnli- tionalismus aber war, daû die sinnliche Erkenntnis chen Erkenntnis erfolgte dadurch, daû nun nicht entschieden abgewertet wurde. Aus der Unter- mehr ein kategorialer Unterschied zwischen Ver- scheidung von denkender und ausgedehnter Sub- stand und Sinnlichkeit, sondern ein stufenweiser stanz (res cogitans und res extensa)96 entstand eine Unterschied verschiedener Erkenntnisformen ge- Zwei-Substanzen-Lehre, in der sich Verstand und setzt wurde. Ernst Bloch hat diesen Leibnizschen Sinnlichkeit, rationale und sinnlich-emotionale Ansatz auf interessante Weise mit dessen mathema- Seite des Menschen als zwei verschiedene Welten tischen Erkenntnissen in Zusammenhang gebracht. gegenüberstanden. Man kann deshalb mit gutem Der epochemachende Fortschritt der Leibnizschen Recht vom »anaisthetischen Charakter des Carte- Psychologie über die Descartessche hinaus bestehe sianismus«97 sprechen. Während mit den Ver- darin, daû, wie in der Infinitesimalrechnung, nach standesurteilen etwas »klar und deutlich« (clare & dem Prinzip der Kontinuität verfahren werde, distincte) erkannt wird, ist das »sinnliche Wahrneh- »wonach sich alle Zustände der Welt, also auch die men in vielen Fällen recht dunkel und verworren« seelischen, stetig zunehmend aus den kleinsten, (sensuum comprehensio in multis valde obscura est schwächsten, dunkelsten ohne Sprung entwik- & confusa)98. keln«100. Dies bedeute die »Unterkellerung des Der cartesianische Logozentrismus hatte nun Verstands mit unbewuûten Vorstellungen« und die aber auch zur Folge, daû Schönheit und sinnliche Anerkennung der »Gewalt intuitiver Sinnlichkeit Wahrnehmung des Schönen aus der traditionellen (­diffusa conceptio¬) in den Ursprüngen und orga- ontologischen Verankerung herausfielen. Erst als nischen Tiefen des Lebens« (96). Leibniz habe da- mit zugleich auf völlig neue Weise die »Aristoteli- 95 Vgl. renØ descartes, Meditationes de Prima Phi- sche Lehre von der leidenden Vernunft verwendet, losophia (1641), in: descartes, Bd. 7 (1904), 24. diese erste Andeutung eines relativ Unbewuûten 96 Vgl. ebd., 27, 78f. unterhalb des vorhandenen Bewuûtseins« (91). 97 brigitte scheer, Einführung in die philosophische Leibniz unterscheidet 1. ein dunkles und un- ¾sthetik (Darmstadt 1997), 44. 98 descartes (s. Anm. 95), 80; dt.: Meditationen über deutliches Perzipieren, in dem sich keine Ein- die Grundlagen der Philosophie, hg. u. übers. v. A. drücke differenzieren lassen, 2. eine Perzeption, Buchenau (Leipzig 1915), 68. die klar, aber undeutlich/verworren ist (cognitio 99 Vgl. gottfried wilhelm leibniz, [ohne Titel] clara et confusa). Klar ist diese Erkenntnis, weil sie (1702), in: Leibniz, Die philosophischen Schriften, hg. v. C. J. Gerhardt, Bd. 4 (Berlin 1880), 393±400; es möglich macht, eine Sache wiederzuerkennen, dt.: Gegen Descartes, in: Leibniz, Hauptschriften sie ist aber ­konfus¬, weil es unmöglich ist, die zur Grundlegung der Philosophie, hg. v. E. Cassirer, Merkmale einzeln aufzuzählen, um die Sache von übers. v. A. Buchenau, Bd. 1 (Leipzig 1904), 329± anderen zu unterscheiden. Es gibt 3. die wissen- 334. schaftliche Perzeption, die klares und deutliches 100 ernst bloch, Aus der Begriffsgeschichte des (dop- pelsinnig) ­Unbewuûten¬, in: bloch, Bd. 10 (1969), (clara et distincta) Wissen liefert. ¾sthetische 91. Wahrnehmung und Erfahrung ist auf Stufe 2 zu su- II. Die Institutionalisierung der ¾sthetik 323 chen, also der klaren, aber ­verworrenen¬, ­konfu- ger einen neuen Aristoteles für das Gebiet des sen¬ Erkenntnis: »ita colores, odores, sapores alia- ­Fühlens¬ herbeigewünscht.104 que peculiaria sensuum objecta satis clare quidem Von Descartes' Spätwerk Les Passions de l'Ame agnoscimus et a se invicem discernimus, sed sim- (1649) gingen für die Herausbildung der ¾sthetik plici sensuum testimonio, non vero notis enuntia- Impulse aus, die den anästhetischen Charakter sei- bilibus; ideo nec caeco explicare possumus, quid sit ner Erkenntnistheorie relativierten. In diesem rubrum, nec aliis declarare talia possumus, nisi eos Werk brach Descartes mit der Aristotelischen See- in rem praesentem ducendo, atque ut idem vi- lenlehre der Entelechie, indem er einräumte, daû deant, olfaciant aut gustent efficiendo« (So vermö- sich das denkende Subjekt nicht nur durch Akte gen wir Farben, Gerüche, Geschmäcke und andere des Zweifelns, sondern auch im Modus des Füh- besondere Sinnesobjekte zwar mit hinlänglicher lens sowie über Vorstellungen und Imaginationen Klarheit zu erkennen und voneinander zu unter- konstituiert. Dieser Ansatz wurde in Christian scheiden, doch geschieht dies auf das einfache Wolffs Psychologia empirica (1732) aufgenommen Zeugnis der Sinne hin, nicht aber durch angebbare und ist über Wolff und Bilfinger dann auch Baum- Merkmale. Darum können wir auch einem Blin- garten vermittelt worden.105 den nicht erklären, was ­rot¬ ist, und auch andere Baumgarten selbst spricht zum ersten Mal in sei- derartige Inhalte nur dadurch bezeichnen, daû wir ner Dissertation von 1735 von einer ­¾sthetik¬. Am sie zu der Sache selbst hinführen, sie den Gegen- Ende dieser Schrift gibt er eine kurze Skizze der stand selbst wirklich sehen, riechen oder schmek- auszuarbeitenden Wissenschaft. Der Begriff wird ken lassen)101. durch die Unterscheidung von ai4svhta2 (aistheÅta) Der Schritt, den Baumgarten nun seinerseits und nohta2 (noeÅta) definiert: »Schon die griechi- über Leibniz hinaus ging, wird durch die Aufwer- schen Philosophen und die Kirchenväter haben tung des Begriffes der cognitio sensitiva deutlich, immer sorgfältig unterschieden zwischen den die einen systematisch eigenen Platz gegenüber der ai4svhta2 und den nohta2. Und ganz offensichtlich logischen Erkenntnis zugesprochen bekam. Die ra- ist, daû sie die ai4svhta2 nicht allein mit den Sin- tionalistische Metaphysik mit ihren logisch-onto- neswahrnehmungen gleichsetzen, da auch das in logischen Prinzipien in Christian Wolffs Deutscher Abwesenheit sinnlich Erkannte, nämlich die Ein- Metaphysik (1720), die bis zu Baumgarten verbind- bildung, mit diesem Namen beehrt wird. Es seien lich war und dem traditionellen Kunstbegriff (te2xnh [techneÅ], ars) verpflichtet blieb, lieferte den Rahmen für die Würdigung des ­unteren Erkennt- 101 leibniz, Meditationes de Cognitione, Veritate et nisvermögens¬. Die cognitio sensitiva funktioniert Ideis (1684), in: Leibniz, Die philosophischen Schriften, Bd. 4 (s. Anm. 99), 422; dt.: Betrachtun- analog zu den oberen begrifflichen Erkenntnisver- gen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die mögen (­analogon rationis¬). Im Zentrum stand der Ideen, in: Leibniz, Hauptschriften (s. Anm. 99), 23. Begriff der rationalistisch interpretierten Vollkom- 102 Vgl. christian wolff, Vernünfftige Gedancken menheit, der seinerseits vom Ordnungsbegriff ab- von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (1720; Halle 111741), geleitet wurde.102 449. War die sinnliche Erkenntnis soweit in ihrer Ei- 103 Vgl. alexander gottlieb baumgarten, Kolle- genständigkeit begriffen und als eine ­andere¬ Lo- gium über die ¾sthetik [Kollegnachschrift] (1749), gik anerkannt, lag die Forderung nach einer eigen- in: bernhard poppe, Alexander Gottlieb Baumgar- ständigen disziplinären Behandlung der Formen ten [¼]. Nebst Veröffentlichung einer bisher unbe- kannten Handschrift der ¾sthetik Baumgartens und Arten der cognitio sensitiva nahe. Nach (Borna/Leipzig 1907), 70. Baumgartens eigenem Urteil war der Wolffianer 104 Vgl. georg bernhard bilfinger, Dilucidationes Georg Bernhard Bilfinger der erste, der der Sache philosophicae de Deo, anima humana, mundo, et nach eine ¾sthetik als eigenständige Wissenschaft generalibus rerum affectionibus (Tübingen 1725), 255. gefordert habe, und zwar bereits 1725.103 In seinem 105 Vgl. friedhelm solms, Disciplina aesthetica. Zur Lehrbuch der Wolffschen Metaphysik hatte Bilfin- Frühgeschichte der ästhetischen Theorie bei Baum- garten und Herder (Stuttgart 1990), 97. 324 ¾sthetik/ästhetisch also die nohta2 ± das, was durch das höhere Vermö- Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis und Dar- gen erkannt werden kann ± Gegenstand der Logik, stellung ist die ¾sthetik, und zwar, wenn es um die die ai4svhta2 dagegen seien Gegenstand der geringere Vollendung der sinnlichen Vorübung e4pisth2mh ai4svhtikh7 (= der ästhetischen Wissen- und Redekunst geht, die Rhetorik, oder, wenn es schaft) oder der ¾sthetik.« (Graeci iam philosophi um höhere Vollendung geht, die Allgemeine Poetik.) et patres inter ai4svhta2 et nohta2 sedulo semper Er verstand die ¾sthetik mithin als Wissenschaft distinxerunt, satisque apparet ai4svhta2 iis non der sinnlichen Erkenntnis und ganz in der Tradi- solis aequipollere sensualibus, quum absentia etiam tion der Poetik und Rhetorik, in der Tradition des sensa [ergo phantasmata] hoc nomine honorentur. antiken Kunstbegriffes einer Einheit von Einsicht Sint ergo nohta2 cognoscenda facultate superiore und Anwendung: techneÅ und ars als Darstellung obiectum Logices; ai4svhta2, e4pisth2mh# ai4s- dieser sinnlichen Erkenntnis. Weiterhin bildete vhtikh7# sive Aestheticae.)106 Baumgarten vom selben Stamm des griechischen Die Schrift hatte eine relativ breite Wirkung. In aistheÅsis den Begriff der Aestheteria, der Sinnesor- einer Rezension aus Greifswald wurde angemerkt, gane: »Partes corporis, quorum conuenienti motui daû Baumgarten die Dichtkunst mit der Philoso- sensatio externa sunt Aestheteria (organa sensuum). phie verbunden habe. »Die philosophische Dichtkunst Per ea habeo facultatem sentiendi 1) quoduis cor- ist die Wissenschaft von den Regeln, nach welchen pus contingens meum, Tactum 2) lucem, Visum 3) ein Gedicht, oder eine vollkommene sinnliche sonum, Auditum 4) effluuia corporum in nasum Rede einzurichten ist.«107 Verwunderung zeigt der adscendentia, Olfactum 5) resoluta per internas oris Rezensent aber über den neu eingeführten Namen partes salia, Gustum.« (Diejenigen Teile des Kör- ­¾sthetik¬ für die von der philosophischen Dicht- pers, mit deren passender Bewegung zusammen kunst vorausgesetzte Wissenschaft: Diejenige Wis- die äuûere Empfindung auftritt, sind die Sinnesor- senschaft, »welche unsere Fürstellungskraft in Ord- gane. Durch sie habe ich die Fähigkeit zu empfin- nung hält« (600), nenne Baumgarten »die ästheti- den, und zwar 1) jeden Körper, der den meinigen sche«. »Dieses ist die erste neue Wissenschaft, deren berührt: diese Fähigkeit nennen wir Tastsinn, 2) Erfindung uns von dem Herrn Verfasser anbefohlen das Licht: also den Gesichtssinn, 3) den Schall: also wird.« (601) das Gehör, 4) die Ausdünstungen der Körper, die Auch in seiner Metaphysica von 1739 kam Baum- in die Nase steigen: also den Geruchsinn, 5) die garten mehrfach auf ­¾sthetik¬ als eine neue, noch Salze, die durch die innern Teile des Mundes auf- auszuarbeitende Wissenschaft zu sprechen. Er de- gelöst werden: also den Geschmacksinn.)109 So er- finierte: »Scientia sensitiue cognoscendi et pro- schien 1739 die neue Wissenschaft, die noch gar ponendi est Aesthetica, meditationis et orationis nicht ausgearbeitet war, auch schon untergliedert, sensitiue vel minorem intendens perfectionem, indem verschiedene Bezirke der ¾sthetik benannt Rhetorica, vel maiorem Poetica vniuersalis.«108 (Die wurden: u.a. die »ars mnemonica« als »pars aesthe- ticae« (141) (Gedächtniskunst als Teil der ¾sthetik) oder die »Pathologia aesthetica«, die im Verein mit baumgarten, Meditationes philosophicae de non- 106 der psychologischen und praktischen Pathologie nullis ad poema pertinentibus (1735), lat.-dt., hg. u. übers. v. H. Paetzold (Hamburg 1983), 85±87/84± die Affekte zum Gegenstand hat und die Grund- 86. sätze der Erweckung, Bändigung und Bezeichnung 107 [anonymus], [Rez.] M. Alexandri Gottliebii der Affekte umfaût (»eorum excitandorum, com- Baumgarten Meditationes philosophicae de nonnul- pescendorum, significandorumque regulas conti- lis ad poema pertinentibus (Halle 1735), in: [Anony- mus], Critischer Versuch zur Aufnahme der Deut- nens« [178]). In den späteren, nach Erscheinen der schen Sprache, 6. Stück (Greifswald 1742), 599. Aesthetica gedruckten Auflagen der Metaphysica 108 baumgarten, Metaphysica (Halle 1739), 124. wurde die ¾sthetik weiter untergliedert, u.a. in 109 Ebd., 125; dt. in: baumgarten, Texte zur Grundle- »Aesthetica [¼] empirica«, »Aesthetica mythica« gung der ¾sthetik, lat.-dt., hg. u. übers. v. H. R. und »Aesthetica characteristica«110.DieMetaphy- Schweizer (Hamburg 1983), 17±19. 110 baumgarten, Metaphysica (Halle 71779), 192, 213, sica, weitverbreitetes Lehrbuch an deutschen Uni- 227. versitäten (die 4. Auflage von 1757 diente Kant als II. Die Institutionalisierung der ¾sthetik 325

Grundlage für seine Metaphysik-Vorlesungen), der Philosophie an die Viadrina nach Frankfurt/ konnte an den Gebrauch des Begriffs ­¾sthetik¬ ge- Oder berufen wurde, kündigte er in seiner An- wöhnen. trittsvorlesung an, er werde die »Historie der Phi- 1741 veröffentlichte Baumgarten unter dem losophie, eine Einleitung in ihre Theile, und allge- Pseudonym Aletheophilus eine Art moralische meine Gesetze der Aesthetik, Rhetorik, Poetik, Wochenschrift in deutscher Sprache zur Verbrei- und Hermenevtik«114 lesen. Diese Vorlesung hat tung der Wolffschen Philosophie. Im 2. Schreiben Baumgarten 1742 zum ersten Mal und 1749 zum betrieb er Eigenwerbung, indem er neuerlich eine zweiten Mal115 gehalten. 1745 empfing sein in Lanze für die Erweiterung der Logik und den ¾s- Halle verbliebener Schüler Georg Friedrich Meier thetikbegriff brach, u.a. mit der Behauptung, daû das Kollegheft von Baumgarten (es muû sich dem- dieser Begriff »schon in einigen gedrukten akade- nach um die Vorlesung von 1742 handeln) und mischen Schrifften«111 aufgetaucht sei. Das betraf hielt auf dieser Grundlage seinerseits 1745/46 zum aber nur ihn selbst, nämlich die Meditationes und ersten Mal an der Hallenser Universität eine Vorle- die Metaphysica. Baumgarten spricht vom »Schat- sung über ¾sthetik. Von 1748 bis 1750 veröffent- ten-Riû« einer »philosophischen Encyclopädie«, lichte er seine Anfangsgründe aller schönen Wissen- die Johann Heinrich Alsteds Encyclopaedia (1630) schaften ± die erste breit angelegte Darstellung der verbessern und ergänzen müûte, und unterschied neuen Wissenschaft, die zur Etablierung des Diszi- in diesem Rahmen wiederum die Logik (»die Wis- plinennamens ­¾sthetik¬ entscheidend beigetragen senschaft der Verbeûerung des Erkenntniûes«), die hat. Auf Drängen Meiers veröffentlichte Baumgar- »zur deutlichen Einsicht in die Warheiten« (6) ten schlieûlich seine Aesthetica, und zwar in lateini- führt, von der besonderen, neuen Wissenschaft der scher Sprache, den 1. Teil 1750, den 2., ebenfalls ¾sthetik, deren Gegenstand die »Gesetze der sinn- bereits 1750 entstandenen Teil 1758. Baumgarten lichen und lebhafften Erkenntnis« sind. Die Wis- erkrankte 1751 und hat sich bis zu seinem Tode senschaft von der Verbesserung der bloû sinnlichen 1762 nicht mehr mit ¾sthetik befaût. Erfahrung nannte er die »Aesthetische Empirik« (7). In einem 36. Schreiben, das nur in einer bisher 2. ¾sthetik als Lebenskunst: nicht nachzuweisenden Hallenser Druckfassung zu Der felix aestheticus bei Baumgarten finden ist, erläutert Baumgarten, warum er diese Wissenschaft »Aesthetik« nennen will, wonach die Die systematische Intervention, die Baumgartens Adressaten des Schreibens wohl gefragt hatten: Entwurf der ¾sthetik in der Epistemologie der »Ein jeder, der der griechischen Sprache auch nur mäûig kundig ist, siehet leicht, daû sie ihren Na- 111 [aletheophilus, d. i.] baumgarten, Philosophi- men von dem bekannten Worte der Griechen ent- sche Brieffe (Frankfurt a. d. O./Leipzig 1741), 7. liehen, welches sowohl das, so durch die Sinnen 112 [aletheophilus, d. i.] baumgarten, Philosophi- und überhaupt sinnlich erkannt wird, als auch den, sche Brieffe, 109f., zit. nach der maschinenschriftli- der dergleichen Erkenntnis hat, zu bezeichnen chen Abschrift: 27. Stück, 36. Schreiben. Von der pflegte. Wie also die Wissenschaft von dem Er- Aesthetik nach Hamburg [Werner-Krauss-Archiv, Forschungszentrum Europäische Aufklärung, Pots- kenntnis des Verstandes und der Vernunft von die- dam], 1. ser letztern schon vor vielen tausend Jahren die 113 Vgl. carl günther ludovici, Neueste Merck- Logik genannt worden, so wird wohl die Wissen- würdigkeiten der Leibnitz-Wolffischen Weltweisheit schaft von dem sinnlichen Erkenntnis nicht gänz- (Frankfurt a. d. O./Leipzig 1738), 360. 114 baumgarten, Gedancken vom vernünfftigen Bey- lich unbequem Aesthetik benamt werden kön- fall auf Academien (1740; Halle 21741), 36. nen.«112 115 Vgl. ernst bergmann, Die Begründung der deut- Die Pläne zu einer wissenschaftlichen ¾sthetik schen ¾sthetik durch Alex. Gottlieb Baumgarten werden ab 1737 in die akademische Lehre umge- und Georg Friedrich Meier (Leipzig 1911), 20, 23; vgl. louis de beausobre an Jean-Henri-Samuel setzt. Vermutlich in diesem Jahr hielt Baumgarten Formey (26. 8. 1749) [unveröff. Brief im Nachlaû an der Universität Halle die erste Vorlesung über Formey der Deutschen Staatsbibliothek Preuûischer ¾sthetik.113 Als er 1740 als ordentlicher Professor Kulturbesitz, Berlin]. 326 ¾sthetik/ästhetisch deutschen Aufklärung Mitte des 18. Jh. bedeutete, noch auftauchen, gibt Baumgarten wohl nur, um läût sich am deutlichsten im Zusammenhang von seinen Zuhörern die neue Wissenschaft durch As- Rhetorik/Poetik und Anthropologie fassen. Es ist soziationen zu Vertrautem näherzubringen. Die die Figur des in die Tradition der ­Verhaltenskunst¬ Bezeichnung ars analogi rationis dagegen zeigt des 16. und 17. Jh.116 gehörenden felix aestheticus, Baumgarten in der Tradition der Leibniz-Wolff- der im Kreuzungspunkt von (alter) Rhetorik/Poe- schen Schule, was aber sofort auch relativiert wird, tik und (neuer) ¾sthetik spezielle Aufmerksamkeit wenn in der deutschen Kollegnachschrift die sinn- verdient, weil Baumgarten in diese Figur eine Syn- liche Erkenntnis nicht als analogon rationis aufge- these von Kultur der Vernunft und Kultur der faût wird, sondern sogar als Verbesserung der Logik. Sinne projiziert. Darüber geben die ­Prolegomena¬ Die ¾sthetik sei aus folgendem Grunde als Wissen- der Aesthetica Auskunft, in denen die leitende Defi- schaft notwendig: »Wir wissen jetzt, daû die sinnli- nition geboten wird: »Die ¾sthetik [¼] ist die che Erkenntnis der Grund der deutlichen ist; soll Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis« (Aesthe- also der ganze Verstand gebessert werden, so muû tica [¼] est scientia cognitionis sensitiuae). In die ¾sthetik der Logik zu Hilfe kommen.«119 Es Klammern fügt Baumgarten andere Bezeichnun- bleiben also die Kernbestimmungen: Die ¾sthetik gen ein: »Theorie der freien Künste« (theoria libe- ist die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis und ralium artium), »untere Erkenntnislehre« (gnoseo- die Kunst, schön zu denken (ars pulcre cogitandi). logia inferior), »Kunst des schönen Denkens« (ars Zusammen ergeben beide Bestimmungen die Ein- pulcre cogitandi) und »Kunst des der Vernunft ana- heit von Erkenntnis, Ausdruck und Darstellung. logen Denkens« (ars analogi rationis)117. Die deut- Auch die ständige Präsenz der rhetorischen Spra- sche Vorlesungsnachschrift fügt hinzu: »Metaphy- che verweist darauf, daû für Baumgarten diese Ein- sik des Schönen« oder mit Dominique Bouhours heit im Zentrum steht.120 »la logique sans Øpines«118. Vor diesem Hintergrund erhält das Leitbild des Ein Teil der Miûverständnisse, die in der Lek- felix aestheticus im Abschnitt über die ­natürliche türe der Baumgartenschen ¾sthetik auftreten, be- ¾sthetik¬ (aesthetica naturalis) seine Konturen. Es ruht auf der Annahme, es gehe hier um Begriffs- ist der mit guten natürlichen Anlagen, mit Wahr- äquivalenzen. Der Baumgartensche ¾sthetikbegriff nehmungs- und Empfindungsfähigkeit, mit Talen- erscheint damit als hybride oder widersprüchlich. ten ausgestattete Mensch, der in Rezeption und Er läût sich jedoch wohl adäquater erfassen, wenn Produktion seine Sinnlichkeit und Wahrneh- man seine Strukturierung beachtet, die sich aus mungsfähigkeit im Sinne kultivierter Gesellschaft- dem Gesamtzusammenhang der Aesthetica er- lichkeit und Kommunikation übt und zum schö- schlieût. Dann fallen aus den scheinbar paratak- nen Geist (ingenium venustum) weiter ausbildet.121 tisch-synonymen Bestimmungen zunächst ­Theo- Dabei ist die sinnliche Wahrnehmung und der da- rie der freien Künste¬ und ­untere Erkenntnislehre¬ von abgeleitete sensitive Erkenntnisbegriff so weit heraus. Diese Bezeichnungen, die später kaum gefaût, daû das ¾sthetische in keiner Weise isoliert erscheint. Alle ästhetischen Möglichkeiten sind als Erkenntnis in gleichem Maûe ernst zu nehmen, 116 Vgl. ursula gleitner, Die Sprache der Verstel- lung. Studien zum rhetorischen und anthropologi- auch der Traum und die flüchtige Impression, de- schen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert (Tübingen rer wir uns kaum bewuût werden. Und nicht erst 1992), 51f. in der Kunst beginnt die ästhetische Aktivität. 117 baumgarten, Aesthetica, Bd. 1 (Frankfurt a. d. O. Jeder Akt des Sehens und Hörens vermittelt Er- 1750), 1; dt. in: baumgarten (dt),2. 118 baumgarten (s. Anm. 103), 66. kenntnis und hat einen bestimmten Ausdrucksge- 119 Ebd. halt. »Daher ist der ­felix aestheticus¬, der im gan- 120 Vgl. hans rudolf schweizer, ¾sthetik als Philo- zen Werk ständig belehrt und angeregt wird, der sophie der sinnlichen Erkenntnis (Basel/Stuttgart Mensch überhaupt.«122 1973), 73f. Neben dem Begriff der ­aesthetica naturalis¬ ver- 121 Vgl. baumgarten (s. Anm. 117), 11±19; dt. 17±29. 122 schweizer (s. Anm. 120), 95. wendete Baumgarten den komplementären Begriff 123 Vgl. baumgarten (s. Anm. 117), 1. der ­aesthetica artificialis¬.123 Die deutsche Überset- II. Die Institutionalisierung der ¾sthetik 327 zung ­Kunstlehre¬ darf allerdings nicht davon ab- heit gemeint.« (Aesthetices finis est perfectio cog- strahieren, daû Baumgartens Kunstbegriff noch nitionis sensitiuae, qua talis [¼]. Haec autem est ganz den traditionellen Bedeutungen von ars und pulcritudo.)127 Schönheit ist Zielvorstellung und techneÅ verbunden ist und mit dem modernen, ­äs- Bildungsideal für den mit guten sinnlichen und thetischen¬ Begriff ­die Kunst¬ noch wenig zu tun verstandesmäûigen Anlagen ausgestatteten, gut hat.124 Die breiten Ausführungen Baumgartens, ausgebildeten felix aestheticus. Die ¾sthetik stellt die sich der traditionellen rhetorischen Sprache die Instrumentalwissenschaft dafür dar. bedienen, sind ­Kunstlehre¬ in diesem überkom- Diese Funktionalisierung für den felix aesthe- menen Sinn. In den ­Prolegomena¬, in denen ticus impliziert, daû die ¾sthetik als lehr- und lern- Baumgarten auch die Einwände gegen die neue bares Vermögen die diätetische Führung und Wissenschaft prüfte, stellte er sich dem Vorwurf, Lenkung der sinnlichen Wahrnehmung und Er- ¾sthetiker könne man nicht werden, sondern dazu kenntnis übernimmt. So bestimmt Johann August werde man wie die Dichter geboren, und vertrat Eberhard, ganz in der Tradition Baumgartens und vehement die Lern- und Lehrbarkeit der ¾sthe- nahezu zeitgleich mit Kants diametral entgegenge- tik.125 Und auf den Vorwurf, die ¾sthetik sei eine setzt angelegter Kritik der Urteilskraft, den »Nutzen Kunst (ars) und keine Wissenschaft (scientia), ant- der Aesthetik« folgendermaûen: »Da 1. die Aesthe- wortete er, Kunst und Wissenschaft seien »nicht tik die Grundsätze zur Verbesserung der untern entgegengesetzte Fertigkeiten« (oppositi habi- Erkenntniûvermögen enthält: so ist sie zur Bildung tus)126. So ist auch der felix aestheticus noch mehr des Geistes nützlich; und weil 2. die Erkenntniû- homo faber als homo ludens. Gerade wenn man vermögen auf den Willen einfliessen, zur Verbesse- Baumgarten nicht zu modern nimmt, ihn nicht rung des Willens und zur Beförderung der Tu- aus der Tradition der Rhetorik herauslöst und sei- gend. Diese letztere Nützlichkeit giebt ihr auch 3. nen noch vormodernen Kunstbegriff nicht eska- die Bildung des Genies und Geschmackes, wo- motiert, zeigt sich sein moderner Ansatz um so durch das Begehrungsvermögen empfindlicher, prägnanter. Indem Baumgarten die sinnlichen Ap- feiner und richtiger für das sittliche Schöne wird, perzeptionsmodi als wesentliche Voraussetzung ei- 4. die Besänftigung der Leidenschaften, und 5. die nes ausgeglichenen, auf der Höhe der Zeit stehen- Vermehrung unserer edlern Vergnügen, wozu sie den Menschenbildes ansieht, bleibt er nicht mehr beiträgt. Um dieser Ursach willen ist sie auch der im Rahmen der Rhetorik oder im Schema der Psychologie, Sittenlehre und Religion nützlich.«128 ­Theorie der schönen Wissenschaften¬, sondern überschreitet die Schwelle zu einer neuen Wissen- 3. ­¾sthetik¬ und die ­Theorien der schönen schaft vom Menschen, deren Namen und Gegen- Wissenschaften und Künste¬ stände er auf den vollen Bedeutungsumfang der griechischen aistheÅsis gründet. Trotz Baumgartens Aesthetica steht der Disziplinen- Auch der Schönheitsbegriff, der, wie der Begriff name noch lange in Konkurrenz zu dem einer der Kunst, nicht im Mittelpunkt seiner ¾sthetik Theorie/Philosophie der schönen Künste und steht, läût sich funktional auf den felix aestheticus Wissenschaften. Meier nannte seine Fortschrei- beziehen: Die Kunst des schönen Denkens (ars bung der Baumgartenschen ¾sthetik Anfangsgründe pulcre cogitandi) aus der Kernbestimmung der ¾s- aller schönen Wissenschaften. Der Göttinger Philoso- thetik in § 1 ist unter der Voraussetzung, daû es sich nicht um den modernen ­ästhetischen¬ Kunst- 124 Vgl. horst-michael schmidt, Sinnlichkeit und begriff handelt, als Fertigkeit zu verstehen, zu der Verstand. Zur philosophischen Begründung von Er- man zwar natürliche Anlagen mitbringen muû, die fahrung und Urteil in der deutschen Aufklärung aber in Richtung auf ihre Vervollkommnung aus- (München 1982), 181. bildbar ist. So auch läût sich der dunkle § 14 der 125 Vgl. baumgarten (s. Anm. 117), 4 f. Aesthetica lesen: »Das Ziel der ¾sthetik ist die Voll- 126 Ebd., 4; dt. 7. 127 Ebd., 6; dt. 11. kommenheit (Vervollkommnung) der sinnlichen 128 johann august eberhard, Theorie der schönen Erkenntnis als solcher. Damit aber ist die Schön- Wissenschaften (Halle 1783), 33f. 328 ¾sthetik/ästhetisch phie-Ordinarius Christoph Meiners definierte Hybrid ist die Zusammenfassung ­schöne Kün- noch 1787: »Ich verstehe unter Aesthetik, eine ste und Wissenschaften¬ auch deshalb, weil Poesie Theorie der schönen Wissenschafften, nämlich der und Beredsamkeit einerseits zu den schönen Kün- Dicht-Kunst, und der Wohlredenheit, mit einer sten gezählt werden, andererseits allein oder im kurzen kritischen Geschichte dieser Wissenschaff- Zirkel der Humaniora (studia humaniora) den Be- ten verbunden.«129 zirk der ­schönen Wissenschaften¬ ausmachen. Die hybride, weitverbreitete Zusammenfassung Diese Spannung bzw. Konkurrenz zwischen ­¾s- ­schöne Wissenschaften und Künste¬130 hat für die thetik¬ und ­schönen Wissenschaften¬ hat ihre Vor- Begriffsentwicklung des ¾sthetischen hohen sym- geschichte in den Klassifikationen der beaux arts ptomatischen Wert. Sie steht bis ins 19. Jh. hinein und der belles lettres beispielsweise in der Encyclo- in Konkurrenz zu ­¾sthetik¬ bzw. subordiniert sie pØdie. Auch dort zeigt sich die starke Tradition der sich, so wenn Johann Joachim Eschenburgs Entwurf Spitzenstellung der redenden Künste Poesie und einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften Beredsamkeit. So rechneten die Enzyklopädisten (1783) aus drei Teilen (¾sthetik, Poetik, Rhetorik) Poesie (im späteren Sinn von Literatur) einmal besteht und die ¾sthetik als der allgemeine, theore- dem Kernbereich der belles lettres zu, zum ande- tische TeilPoetik und Rhetorik vorangestellt wird. ren auch den beaux arts. Im ­Syst†me figurØ des In der Konkurrenz des Begriffs ­schöne Wissen- connoissances humaines¬ der EncyclopØdie ist denn schaften und Künste¬ zum Begriff ­¾sthetik¬ auch die Poesie durch einen auffälligen senkrech- kommt zum einen die zählebige Tradition der ten Strich von den anderen beaux arts (Musik, Ma- Spitzenstellung der ­redenden Künste¬ (Poesie und lerei, Skulptur, Architektur, Graphik) getrennt, Beredsamkeit) auch im neuen System der schönen was ihre herausgehobene Stellung deutlich mar- Künste zum Ausdruck. Sie zeigt sich u.a. darin, kiert.131 daû die Poesie auch noch in den avanciertesten ¾s- In Frankreich behält der Begriff belles lettres thetiken des 18. und 19. Jh., so bei Kant (vgl. die ohne die Konkurrenz von ­¾sthetik¬ noch lange ­ästhetische Idee¬ in der Kritik der Urteilskraft) und Gültigkeit. Davon zeugen Charles Nodiers Cours bei Hegel, im Zentrum ästhetischer Theoriebil- de belles lettres von 1808/09, aber auch die Bezeich- dung steht. Zum anderen wirkt in dieser Zusam- nung der AcadØmie des Sciences, Belles-Lettres et Arts menfassung der ­schönen Künste und Wissenschaf- (1802) und, ein Jh. später, der Name der Akademie ten¬ auch die noch ungebrochene Mächtigkeit der von Toulouse: AcadØmie des Sciences, Inscriptions et Verallgemeinerung ­beaux arts¬, die ja eine Zwi- Belles-Lettres (1912). Selbst heute noch werden an schenstufe zwischen ­den schönen Künsten¬ und den französischen Universitäten die Gebiete Lite- der ästhetischen Verallgemeinerung ­die Kunst¬ mit ratur, Philosophie und Geschichte in der FacultØ des dem Kriterium der Schönheit besetzte. Erst die Lettres zusammengefaût. Man kann deshalb fol- Verallgemeinerung ­die schöne Kunst¬ aber for- gern: »die Resistenzkraft der ­Schönen Wissen- derte die ästhetische Reflexion im Sinne eines schaften¬ in Frankreich ist nur ein anderer Aus- neuen epistemologischen Paradigmas heraus. druck für den Sachverhalt, daû die Franzosen lange Zeit keine Neigung verspürten, sich des längst vor- handenen und auch bekannten Begriffs ­¾sthetik¬ 129 christoph meiners, Grundriû der Theorie und zu bedienen«132. Geschichte der schönen Wissenschafften (Lemgo Eine andere Funktion hatte die Verteidigung des 1787), 2. Paradigmas ­Schöne Wissenschaften¬ bei Herder. 130 Vgl. werner strube, Die Geschichte des Begriffs ­Schöne Wissenschaften¬, in: Archiv für Begriffsge- In seiner weit ausholenden Polemik gegen Kants schichte 23 (1990), 136±216. Kritik der Urteilskraft führte er in der Kalligone den 131 Vgl. diderot (encyclopØdie), Bd. 1 (1751), [Ta- anthropologischen Ansatz des Baumgartenschen fel nach S. LII]. felix aestheticus weiter, indem er das Paradigma 132 martin fontius, Ein begriffsgeschichtlicher ­schöne Künste und Wissenschaften¬ verteidigte Rückblick, in: Fontius/W. Schneiders (Hg.), Die Philosophie und die Belles-Lettres (Berlin 1997), und mit dem Bildungsbegriff verband. »Da unsre 172. Seelenkräfte nur durch lehrhafte Muster und II. Die Institutionalisierung der ¾sthetik 329

Uebungen cultivirt werden können: so sind der Leidenschaften entstehen, so sind sie pathetisch (co- Einbildungskraft sowohl, als dem Verstande, ja der gitatio pathetica). Die Aesthetik, oder der Theil Vernunft selbst schöne, d.i. bildende Wissenschaf- derselben, welcher von dem Pathetischen der Er- ten und Künste unentbehrlich.«133 Dahinter stand, kenntnis handelt, heiût die ästhetische Pathologie (pa- mit Blick auf die Ereignisse der Französischen Re- thologia aesthetica).«138 Bereits 1744 führte Meier volution, die anthropologisch orientierte Frage: den Baumgartenschen Ansatz einer ­ästhetischen »wie bildet und miûbildet sich eine menschliche Pathologie¬ aus139 und gab dazu auch Vorlesungen Gesellschaft?«134 an der Halleschen Universität. Diese ästhetisch motivierte Beschäftigung mit den Körper-Affekten veranlaûte wiederum den gleichfalls in Halle leh- 4. ¾sthetische Pathologie renden Mediziner Johann Christian Bolten, der in Eine interessante begriffliche Kombination im die Tradition der philosophischen ¾rzte140 zu stel- Umkreis der sich herausbildenden Begrifflichkeit len ist, zu seinem Buch über ­psychologische Cu- von ¾sthetik/ästhetisch leitet sich aus der bereits ren¬. Mit direktem Bezug auf Meier heiût es dort: erwähnten Pathologia aesthetica ab, die sich in »Die Aesthetick, nach der Erklärung, welche der Baumgartens Metaphysica als Versuch der Unter- berühmte Herr Prof. Meier in seinen Anfangsgründen al- gliederung des ästhetischen Gesamtgebietes fin- ler schönen Wissenschaften, davon gegeben, ist eine det.135 ­Pathologia¬, die traditionelle Bezeichnung Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis und für die Lehre von den starken Affekten in der me- der Bezeichnung derselben überhaupt. Etwas nach dizinischen Pathologie und in der Rhetorik136, be- den untern Erkenntniskräften einsehen ist einerlei zeichnete dort in einer Reformulierung der rheto- mit dem, etwas sinnlich erkennen. Die Aesthetick rischen Lehre vom Pathos die Wissenschaft von wird uns also die Gesezze und Regeln der untern »Gemütsbewegungen, Beunruhigungen, Leiden- oder sinnlichen Erkenntniskräfte genauer und schaften«: »(Stärkere) Strebungen und Abneigun- weitläuftiger anführen und erklären, als es in der gen aus unklarer Erkenntnis sind Affekte (Leiden- Psychologie geschehen kan. Man mus also die Aes- schaften, Gemütsbewegungen, Verwirrungen des thetick inne haben, um psychologische Curen ver- Geistes), und die Wissenschaft von ihnen ist die richten zu lernen.«141 Pathologie« (Appetitiones auersationesque [fortiores] Am Ende des Jh. gab es dann von Heinrich ex confusa cognitione sunt Affectus [passiones, af- Zschokke eine weitere Wortmeldung zur ­ästheti- fectiones, perturbationes animi], eorumque scien- schen Pathologie¬, vielleicht nicht zufällig aus tia Pathologia137). Baumgarten unterschied dann Frankfurt/Oder, wo er von 1789±1792 Theologie, zwischen Pathologia psychologica als Theorie der Gemütsbewegungen, Pathologia aesthetica, in der 133 herder, Kalligone (1800), in: herder, Bd. 22 die Regeln beschrieben werden, nach denen Ge- (1880), 311. mütsbewegungen in der Rede hervorgerufen, rhe- 134 Ebd., 315. torisch gelenkt und poetisch verwendet werden 135 Vgl. baumgarten (s. Anm. 108), 178. 136 Vgl. valentin thilo, Pathologia oratoria [¼] (»Pathologia [¼] aesthetica, eorum excitandorum, (1647; Magdeburg 1665), 15ff.; johann heinrich compescendorum, significandorumque regulas alsted, ­Pathologia¬, in: Alsted, Encyclopaedia, continens, quo pertinet pathologia oratoria, rheto- Bd. 7 (Herborn 1630), 2360±2371. rica, potica« [258f.]), und Pathologia practica, in 137 baumgarten (s. Anm. 110), 258. der es um die Verpflichtungen des Menschen in 138 meier, Bd. 1 (1754), 421. 139 Vgl. georg friedrich meier, Theoretische Lehre Rücksicht auf die Affekte geht (»obligationes ho- von den Gemüthsbewegungen überhaupt (Halle minis respectu affectuum exhibens« [259]). 1744). Meiers Ableitung der ­ästhetischen Pathologie¬ 140 Vgl. hans-jürgen schings, Melancholie und knüpft daran an: »Diejenigen schönen Gedanken, Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Er- welche in einem höhern Grade rühren, sind bewe- fahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhun- derts (Stuttgart 1977), 11±40. gende oder bewegliche Gedanken (cogitatio movens) 141 johann christian bolten, Gedancken von psy- und wenn sie in dem Grade bewegen, daû dadurch chologischen Curen (Halle 1751), 59f. 330 ¾sthetik/ästhetisch

Philosophie und Geschichte studierte. Gegen tung, die die englische und schottische Schule der Kants transzendentale ¾sthetik gerichtet, wollte er ¾sthetik mit ihren psycho-physiologischen Ansät- Beiträge zu einer ¾sthetik liefern, die sich wieder zen ± etwa in Burkes Analyse des Erhabenen ±, für die psychologische Seite oder für das Ange- aber auch die französische ¾sthetik ± beispielsweise nehme öffnet142 ± Bereiche also, die Kant ausge- in der bei Diderot zu beobachtenden Zirkulation schlossen hatte. Zschokke versuchte auch eine zwischen ästhetischem und medizinischem Wissen neue Ableitung des Namens der Disziplin. Er be- ± von Haus aus hatten, die aber im Zuge der Ein- rief sich auf einen Hinweis aus Ernst Platners Philo- grenzung der ¾sthetik auf eine Metaphysik des sophischen Aphorismen (1776/1782): »Was wir in der Schönen bzw. eine Philosophie der schönen Kün- Sprache der modernen Philosophie Empfindung ste zurückgedrängt wurde oder ganz verlorenging. nennen, das heiût bei den Alten nicht ai4svhsiû, Dies beginnt bei Kant und seinem Begriff ­patho- sondern pavoû, wie denn auch selbst Cartes und logisch¬ (d.h. auf Sinnlichkeit beruhend), der zum andre vor Leibnitzen das Wort Passio noch in dieser Gegenbegriff von ­moralisch¬ oder ­praktisch¬ wird: weitern Bedeutung nehmen. Aisvhsiû heiût auch »Diejenige Lust (oder Unlust), die nothwendig vor eigentlich nicht einmal die sinnliche Vorstellung, dem Gesetz vorhergehen muû, damit die That sondern nur die körperliche Rührung der Orga- geschehe, ist pathologisch; diejenige aber, vor welcher, nen.«143 Demzufolge machte Zschokke aus der ¾s- damit diese geschehe, das Gesetz nothwendig vor- thetik eine Theorie der Empfindungen, die er hergehen muû, ist moralisch. Jene hat empirische (pleonastisch) ­ästhetische Pathologie¬ nannte.144 Principien [¼], diese ein reines Princip a priori Bemerkenswert sind diese Verbindungen von zum Grunde«146. Darauf beruht auch Kants Unter- ­ästhetisch¬ und ­pathologisch¬, weil sie den rheto- scheidung zwischen dem »eigentlichen, selbständi- rischen Grundsatz der Erregung und Mäûigung gen Schönen« und dem Angenehmen, »das ledig- der Affekte in die neue, anthropologisch moti- lich in der Empfindung durch Reiz oder Rührung vierte ¾sthetik der Baumgartenschen Provenienz gefällt, und um deswillen auch nur der Grund ei- mitnehmen und dabei auch die enge Verbindung nes bloûen Privat-Wohlgefallens sein kann«. Das von rhetorischer und medizinischer Pathologie145 Reizende und das Rührende beziehen sich nur auf erhalten bleibt bzw. neu geknüpft wird. Hier die »Materie der Sinnlichkeit«147. ­Empfindung¬ ist kommt eine anthropologische Perspektive zur Gel- in diesem Zusammenhang für Kant eine rein em- pirische Sinneserfahrung und insofern ­patholo- gisch¬. Hier setzt der schleifende Doppelsinn des 142 Vgl. heinrich zschokke, Ideen zur psychologi- Begriffs ­pathologisch¬ im Rahmen der ästheti- schen Aesthetik (Berlin/Frankfurt a. d. O. 1793), schen Diskussionen des deutschen Idealismus ein. IX-XXIII. 143 Ebd., 229. So wird in der klassizistischen Kunstkritik ­patho- 144 Vgl. ebd.,229-396. logisch¬ dann zu einem Verdikt-Wort der Autono- 145 Vgl. rüdiger campe, Affekt und Ausdruck. Zur mie-¾sthetik, bei dessen Gebrauch die rhetorisch- Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. anthropologische Seite des Begriffs völlig verblaût Jahrhundert (Tübingen 1990), 129. ist. Über Caspar David Friedrichs Altarbild Das 146 kant, Von einem neuerdings erhobenen vorneh- men Ton in der Philosophie (1796), in: kant (aa), Kreuz im Gebirge (1808) urteilte Friedrich Wilhelm Bd. 8 (1912), 395. Basilius von Ramdohr 1809: »Es kann zweifelhaft 147 kant, Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen (1800), seyn, ob der nachbildende Künstler losarbeiten in: kant (aa), Bd. 9 (1923), 37. solle auf pathologische Rührung, das heiût, auf die 148 friedrich wilhelm basilius von ramdohr, Ueber ein zum Altarblatte bestimmtes Landschafts- Erregung eines affektvollen Zustandes in dem Be- gemälde von Herrn Friedrich in Dresden, und über schauer [¼]. Aesthetische Rührung ist von der pa- Landschaftsmalerei, Allegorie und Mysticismus thologischen ganz verschieden. Diese treibt nur überhaupt, in: Zeitung für die elegante Welt (21. 1. ein Spiel mit unsern Affekten«148. 1809), 113; vgl. hilmar frank, Der Ramdohrstreit. Auch griff die Kantsche Ent- Caspar David Friedrichs ­Kreuz im Gebirge¬, in: K. Möseneder (Hg.), Streit um Bilder. Von Byzanz bis gegensetzung von ­pathologisch¬ und ­moralisch¬ Duchamp (Berlin 1997), 143f. auf und transformierte sie in seinem Begriff des Pa- II. Die Institutionalisierung der ¾sthetik 331 thetischen. »Das Pathetische ist nur ästhetisch, in Schönaich kritisierte den Neologismus wegen der so fern es erhaben ist.«149 Das von Vernunft und religiösen und sprachlichen Heterodoxie, die er bei Moral geleitete Erhaben-Pathetische steht im Ge- Bodmer, Haller und Klopstock zu erkennen gensatz zum »Gemeinen« (201), das alles das um- glaubte. ­¾sthetik¬ ist hier wie bei Gottsched faût, »was bloû die sinnliche Natur« angeht: die Schimpfwort für den lyrischen Ausdruck des Indi- »schmelzenden Affekte, die bloû zärtlichen Rüh- viduums. ­¾sthetik¬ steht unter Kritik, weil sie als rungen« und das weite »Gebiet des Angenehmen« neue Wissenschaft eine neue Gefühls- und Emp- (199). findungskultur theoretisch sanktioniert.155 Gegen die ¾sthetik wird das alte Kunstprinzip der Nachahmung der Natur mobilisiert und Bat- 5. Der Streit um die neue Wissenschaft teux als Streitgenosse aktiviert. So veröffentlichte Bereits unmittelbar nach dem Erscheinen von Gottsched 1754 eine Übersetzung von Auszügen Meiers Anfangsgründen aller schönen Wissenschaften aus Batteux' Les beaux Arts rØduits à un m†me Prin- und Baumgartens Aesthetica begann der »ästheti- cipe und nannte in der Selbstanzeige die Motive sche Krieg«150 als Auseinandersetzung um die neue dieser Übersetzung: Batteux, der »auf der richtigen Wissenschaft und ihre theoretischen Grundlagen. Spur der Alten einhergeht, und den vom Aristote- Auf dem Kampfplatz ¾sthetik stieûen dabei jeweils les [¼] festgesetzten Grundsatz der Nachahmung unterschiedliche epistemologische Konzepte auf- der schönen Natur, durchgehends einschärfet«, einander. könne helfen, »den Strom irriger Lehren zu hem- Obwohl seine Metaphysik mit zum Hintergrund men, welche die Natur der Dichtkunst nicht in der der ¾sthetik-Gründung gehörte, distanzierte sich Nachahmung, sondern bloû in einem wilden Aus- Christian Wolff sofort von der wissenschaftlichen drucke einer regellosen Einbildungskraft, den sie Neugründung. 1750 bereits erklärte er einem sei- ästhetisch nennen, suchen wollen«156. Meier, der zu ner Besucher in Halle: »die Baumgartensche Aes- den herabsetzenden Umtrieben der Gottschedia- thetick sowol als die Meiersche sey elendes Zeug«; ner lange geschwiegen hatte, antwortete 1754 mit »man verderbe die Jugend«, und »es gehe mit den einer Verteidigung der ¾sthetik. Zwar würden ästhetischen Sachen jetzo so weit, daû der Adjunkt »manche Freunde der Aesthetic das Wort aesthe- Nicolai sogar die Bibel ästhetisch erklären wolle«151. Wolffs Kritik richtete sich gegen den 149 friedrich schiller, Ueber das Pathetische (1793), Neologismus überhaupt und gegen die schnell aus- in: schiller, Bd. 20 (1962), 200. ufernde Verwendung des Wortes. 150 bergmann (s. Anm. 115), 200. In der Kritik Gottscheds und seiner Schule lau- 151 j. c. c. oelrich, Tagebuch einer gelehrten Reise 1750, durch einen Theil von Ober- und Nieder- tete der Vorwurf, daû sich die neue Wissenschaft, Sachsen, in: J. Bernoulli (Hg.), Sammlung kurzer im engen Bündnis mit den Schweizern Bodmer Reisebeschreibungen, Bd. 5 (Berlin/Dessau 1782), und Breitinger und der Empfindungspoesie Al- 62f. brecht von Hallers und Klopstocks, auf die ­dunk- 152 gottsched (dichtkunst), 93. 153 gottsched, 50. len¬ Elemente ­Ausdruck¬, ­Sinnlichkeit¬ und 154 theodor johann quistorp, Gespräch im ­Einbildungskraft¬ einlasse. Gottsched warnte vor Traume, mit dem Hrn. v. Canitz (*), über die neu- »einigen Neueren«, die »ihre düstre ästhetische modische hieroglyphische Schreibart, in: Neuer Bü- Schreibart [¼] auf den Thron zu erheben gesu- chersaal der schönen Wissenschaften und freyen chet«152. 1760 heiût es in seinem Handlexicon unter Künste 9 (1750), 318. 155 Vgl. [anonymus, d.i.] christoph otto von dem Stichwort ­Aesthetisch¬: »Ist ein neumodisches schönaich, Die ganze Aesthetik in einer Nuû, Kunstwort, womit man den schwülstigen, oder oder Neologisches Wörterbuch (o. O. 1754), 76, wie die Liebhaber der hochtrabenden Schreibart 154, 170, 352, 376. reden, den sinnlichen Ausdruck, anzeigen will.«153 156 johann christoph gottsched, [Selbstanzeige] Der Gottschedianer Theodor Johann Quistorp Auszug aus des Herrn Batteux [¼] schönen Kün- sten, aus einem einzigen Grundsatze der Nachah- verfaûte 1750 eine Schrift, in der er die ¾sthetik als mung hergeleitet (Leipzig 1754), in: Das Neueste »Galimatias«154 persiflierte. Christoph Otto von aus der anmuthigen Gelehrsamkeit (Juni 1754), 464. 332 ¾sthetik/ästhetisch tisch, so ofte und so seltsam im Munde führen, daû ist. Im Vierten Wäldchen, das eigentlich der kriti- ein solcher Gebrauch dieses Worts lächerlich und schen Exekution von Friedrich Justus Riedels pedantisch ist«157. Das aber stelle nicht die ¾sthetik Theorie der schönen Künste und Wissenschaften (1767) als Wissenschaft in Frage. Der wahre Grund von dienen sollte, setzte sich Herder, die anthropolo- Gottscheds Diatriben sei, daû das Prinzip der Na- gischen Ansätze Baumgartens verstärkend, von turnachahmung in der ¾sthetik aufgehoben werde. dessen Begriff der ¾sthetik ab, obwohl er Baum- Dieses Prinzip sei aber als Fundament einer Theo- garten selbst als einen neuen Aristoteles würdigte, rie der ¾sthetik ungeeignet.158 dessen »Psychologie eine reiche Schatzkammer Anthropologisch motiviert war Hamanns und der Menschlichen Seele«160 sei. Dennoch bleibe Herders Kritik der jungen Wissenschaft. Hamann Baumgarten noch zu nahe an der traditionellen spielte im Titel einer Schrift von 1762 zwar auf Rhetorik und Poetik. ¾sthetik als »ein schwerer Schönaich an, wendete den Begriff der ¾sthetik Theil der Anthropologie, der Menschenkänntniû« (obwohl er im weiteren Text nicht einmal genannt (25) umfaût dagegen nach Herders Begriff weit wird) aber sofort ins Positive, indem er einen wei- mehr: »Man setze die Kräfte unsrer Seele, das ten Umkreis der Themen aufmachte, von denen Schöne zu empfinden, und die Produkte der ¾sthetik zu sprechen hätte: über die Poesie, die Schönheit, die sie hervor gebracht, als Gegenstand Sprache, die Kommunikation bis zur Natur und der Untersuchung: siehe da eine groûe Philoso- zum Menschen, seinen Sinnen, seiner Sinnlichkeit phie, eine Theorie des Gefühls der Sinne, eine Lo- und seinen Leidenschaften.159 Hamann ging von gik der Einbildungskraft und Dichtung, eine Er- einem anderen Erkenntnismodell aus als die ¾sthe- forscherin des Witzes und Scharfsinns, des sinnli- tik der Zeit und betonte, auf Sturm und Drang chen Urtheils und des Gedächtniûes; eine sowie Romantik vorausweisend, die Intuition ge- Zergliederin des Schönen, wo es sich findet, in genüber der ratio. Seine Metakritik über den Puris- Kunst und Wiûenschaft, in Körpern und Seelen, mus (1784) machte ihn dann auch zum Gegner der das ist Aesthetik« (22f.). kritisch-analytischen Methode Kants, was auch auf In der Streitschrift gegen Kants ¾sthetik ging Herder seine Wirkungen hatte. dann Herders Ablehnung eines ästhetischen (d.h. Im ersten der Kritischen Wälder (1769) wird autonomen) Schönheitsbegriffs und die rigorose deutlich, wie sehr Herder bei der weiterführenden Ablehnung der Kantschen Kritik der Urteilskraft mit Erörterung von Lessings Laokoon und bei der Be- der Reformulierung des Begriffs ­schöne Wissen- trachtung des Häûlichen und Schrecklichen, des schaften und Künste¬ einher. Auch hier spielte der Widrigen und des Ekels an der sensuellen, ja sin- anthropologisch eingefärbte Begriff der Bildung nesphysiologischen Seite der ¾sthetik interessiert (des Menschengeschlechts) die entscheidende Rolle.161 Auch dort, wo Herder Kants Grenzzie- hung zwischen dem Schönen und Angenehmen kritisierte und ­Reiz¬, ­Rührung¬, ­Anmut¬ sowie die ­niederen Sinne¬ Geruch, Geschmack und Tast- 157 meier, Vorstellung der Ursachen, warum es unmög- sinn in ihrer ästhetischen Relevanz verteidigte162, lich zu seyn scheint, mit Herrn Profeûor Gottsched eine nützliche und vernünftige Streitigkeit zu führen waren seine anthropologischen Gesichtspunkte im (Halle 1754), 11. Spiel. 158 Vgl. ebd., 26±28. Kritik an der Vorrangstellung von Poetik und 159 Vgl. johann georg hamann, Aesthetica in nuce. Rhetorik in der ¾sthetik Baumgartens kam auch Eine Rhapsodie in Kabbalistischer Prose (1762), in: Hamann, Sämtl. Werke, hg. v. J. Nadler, Bd. 2 von Sulzers Allgemeiner Theorie der Schönen Künste (Wien 1950), 195±217. (1771±1774). Dort wurde an der Aesthetica mo- 160 herder, Kritische Wälder. Oder Betrachtungen niert, daû Baumgarten wegen seiner »einge- über die Wiûenschaft und Kunst des Schönen. Vier- schränkten Kenntnis der Künste [¼] bey weitem tes Wäldchen (entst. 1769, ersch. 1846), in: herder, nicht alle Gestalten des Schönen beschrieben« Bd. 4 (1878), 15. 161 Vgl. herder (s. Anm. 133), 308f. habe. Die ¾sthetik müsse man deswegen »unter 162 Vgl. ebd., 96±101. die noch wenig ausgearbeiteten philosophischen III. Kant: Transzendentale ¾sthetik und Kritik des Geschmacks 333

Wissenschaften zählen«163. Sulzer versteht unter rathsam, diese Benennung wiederum eingehen zu ¾sthetik eine »Wissenschaft, welche dem Künstler lassen und sie derjenigen Lehre aufzubehalten, die in der Erfindung, Anordnung und Ausführung sei- wahre Wissenschaft ist, wodurch man auch der nes Werks nützlich zu Hülfe kommen, den Lieb- Sprache und dem Sinne der Alten näher treten haber in seiner Beurtheilung leiten, und zugleich würde, bei denen die Einteilung der Erkenntniû in fähiger machen kann, allen Nutzen, auf den die aisvhta kai nohta sehr berühmt war.«166 Die Werke der Kunst abzielen, aus ihrem Genuû zu ­transzendentale ¾sthetik¬ als Teil der Erkenntnis- ziehen. Ein Nutzen, der die Absichten der Welt- theorie beschäftigt sich dann in hochgradiger Ab- weisheit und der Sittenlehre vollendet.«164 straktion nur mit den beiden apriorischen Grund- Nachdem ¾sthetik am Ausgang des 18. Jh. zum bedingungen aller Wahrnehmung: Raum und festen Bestandteil des Lehrbetriebs aller deutschen Zeit. Hochschulen geworden war, begann bereits in Die Kritik der Urteilskraft (1790) dagegen enthält dieser Gründungsepoche der Wissenschaft die bis sich des Gebrauchs des Substantivs ­¾sthetik¬ und zur Gegenwart nicht mehr abreiûende Kritik an macht dafür vom Adjektiv ­ästhetisch¬ regen ihrer akademischen Ausprägung. So beklagte Gebrauch. Wie Kant das Adjektiv in diesen Zu- schon 1789 der Leipziger ¾sthetiker Karl Heinrich sammenhang einführt, dazu gibt es ausführliche Heydenreich »das Schicksal der Aesthetik, die Hinweise in der Ersten Einleitung in die Kritik der schon verachtet genug in den Hörsälen herum- Urteilskraft, die im Vergleich mit der gedruckten schleicht«165. Diese Wendung gegen die zur Kathe- Einleitung noch Züge der begrifflichen Selbstver- derwissenschaft erstarrende ¾sthetik wird zum ständigung Kants über seinen Gegenstand enthält. Topos und zugleich zum Impuls für die immer Im zentralen 8. Abschnitt der Ersten Einleitung, den erneuten Anläufe zur Revitalisierung ihrer aisthe- Kant ­Von der ¾sthetik des Beurtheilungsvermö- tischen Ansätze. gens¬ überschreibt, kommt er auf die ­transzenden- tale ¾sthetik¬ der Kritik der reinen Vernunft zurück und bekräftigt die Exaktheit dieses Begriffs. »Seit geraumer Zeit aber ist es Gewohnheit geworden, III. Kant: Transzendentale ¾sthetik und eine Vorstellungsart ästhetisch, d.i. sinnlich, auch Kritik des Geschmacks in der Bedeutung zu heiûen, daû darunter die Be- ziehung einer Vorstellung nicht aufs Erkenntniû- vermögen, sondern aufs Gefühl der Lust und Un- Anfang der 80er Jahre versuchte Kant den schon lust gemeynet wird.«167 Wegen der subjektiven gängigen Gebrauch von ­¾sthetik¬ zurückzudrän- Orientiertheit dieser Gefühle kann das für Kant gen. In einer Fuûnote der Kritik der reinen Vernunft gar nichts mit der ­transzendentalen ¾sthetik¬ zu (1781) heiût es: »Die Deutschen sind die einzige, tun haben. Um die ¾quivokation zu vermeiden, welche sich jetzt des Worts ¾sthetik bedienen, um bindet Kant das Adjektiv ästhetisch an die »Ur- dadurch das zu bezeichnen, was andre Kritik des theilskraft« (222). Der Bestimmungsgrund der ­äs- Geschmacks heiûen. Es liegt hier eine verfehlte thetischen Urtheilskraft¬ ist die ­Empfindung¬, aber Hoffnung zum Grunde, die der vortreffliche Ana- lyst Baumgarten faûte, die kritische Beurtheilung des Schönen unter Vernunftprincipien zu bringen 163 sulzer, Bd. 1 (1792), 48. und die Regeln derselben zur Wissenschaft zu er- 164 Ebd., 49. 165 karl heinrich heydenreich, Ueber die Princi- heben. Allein diese Bemühung ist vergeblich. pien der Aesthetik, oder über den Ursprung und die Denn gedachte Regeln oder Kriterien sind ihren Allgemeingültigkeit der Vollkommenheitsgesetze für Quellen nach blos empirisch und können also nie- Werke der Empfindung und Phantasie, in: Amalthea mals zu Gesetzen a priori dienen, wornach sich 1 (1789), 2. Stück, 9f. 166 kant, Kritik der reinen Vernunft (1781), in: kant unser Geschmacksurteil richten müûte; vielmehr (aa), Bd. 4 (1903), 30. macht das letztere den eigentlichen Probirstein der 167 kant, Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, Richtigkeit der ersteren aus. Um deswillen ist es in: kant (aa), Bd. 20 (1942), 222. 334 ¾sthetik/ästhetisch nur jene, die das Gefühl der Lust bzw. der Unlust nicht oktroyiert, sondern nur angesonnen und sei- betrifft. Hierauf gründet sich wiederum die Unter- ner Beistimmung anheimgestellt wird. scheidung von »ästhetischem Sinnesurtheil« und Die Trennung von (erkenntnistheoretischer) »ästhetischem Reflexionsurtheil« (224), worin die transzendentaler ¾sthetik und (ästhetischer) Kritik rigide Abgrenzung des Angenehmen vom Schö- des Geschmacks, die im Verlauf der Entwicklung nen impliziert ist. von der ersten zur dritten Kritik vollzogen wird, ist Kant versuchte als erster die ästhetische Diffe- bedeutsam und folgenreich. Indem Kant das Theo- renz zu denken und auf ein einheitliches Prinzip riemodell des Leibniz-Wolffschen Rationalismus, zu beziehen. Er verstand diese Rückführung als das Baumgartens Aesthetica zugrunde lag, grund- Bedingung einer wissenschaftlichen (nicht physio- sätzlich aufgibt, sind Sinnlichkeit und Verstand logischen bzw. psychologischen oder empirischen) keine kontinuierlichen Vermögen mehr, sondern Behandlung der Urteilskraft. Was diesen Begriff wachsen auf je anderem Holze, während die Leib- des ¾sthetischen in seinem Kern ausmacht, läût niz-Wolffsche Theorie ja implizierte, daû Schön- sich an seinem Konzept der ­ästhetischen Idee¬ heit prinzipiell begrifflich-theoretisch kommensu- ablesen, unter der er »diejenige Vorstellung der rabel gemacht werden könne. Dieser durch Kant Einbildungskraft« verstand, »die viel zu denken verkörperte epistemologische Umbruch kann als veranlaût, ohne daû ihr doch irgend ein bestimm- der eigentliche Durchbruch der ¾sthetik als Wis- ter Gedanke, d.i. Begriff, adäquat sein kann, die senschaft gelesen werden: »Erst ein radikaler Bruch folglich keine Sprache völlig erreicht und verständ- mit dem zugrundeliegenden Modell der Re-prä- lich machen kann. ± Man sieht leicht, daû sie das sentation einer ursprünglichen und idealen Präsenz Gegenstück (Pendant) von einer Vernunftidee sei, sowie des zugehörigen Wahrheitsmodells [¼] hat welche umgekehrt ein Begriff ist, dem keine An- den ästhetischen Ausdruck aus der philosophischen schauung (Vorstellung der Einbildungskraft) adäquat Bevormundung befreit.«169 Kants transzendental- sein kann.«168 In der Verbindung der ­ästhetischen philosophische Wende hat aber auch zur Folge, Idee¬ mit der ­reflektierenden Urteilskraft¬ wird der daû auf dem Hauptweg der Entwicklung der ¾s- Bezug auf die Vernunft hergestellt, und hierin liegt thetik als Disziplin ± der dann zur (identitätsphilo- das Unendliche und Unabschlieûbare des ¾stheti- sophischen) Philosophie der Kunst hinführt ± der schen. Die reflektierende Urteilskraft tendiert von in der Wolff-Schule eingeführte Begriff einer qua der Anschauung zurück auf den Begriff, der ihre aistheÅsis begründeten ¾sthetik durchweg abgelehnt Deutung leisten würde, aber nicht zu finden ist. wird.170 Mit der Methode der transzendentalen Die Sinnsuche wird tendenziell unendlich, denn Kritik wird die komplexe aistheÅsis in ­Empfindung¬ der Sinnreichtum des Schönen ist unausschöpflich. und ­Gefühl¬ aufgespalten, womit die Trennung Die Kommunizierbarkeit ästhetischer Erfahrung ist von sinnlicher Wahrnehmung als äuûerer Wahr- durch ein demokratisch legitimiertes Prinzip mög- nehmung, äuûerer Empfindung (sensualis) und in- lich, bei dem das ästhetische Urteil dem anderen nerer Empfindung, Gefühl (sensitivus) eingeleitet wird, die Kant bei Johann Nicolaus Tetens vorge- bildet fand.171 168 kant, Kritik der Urtheilskraft (1790), in: kant (aa), Bd. 5 (1908), 314. Die Trennung von empirisch-psychologisch zu 169 frank/zanetti (s. Anm. 94), 922. betrachtender Empfindung und reflexivem Gefühl, 170 Vgl. ferdinand fellmann, Der Geltungsanspruch die zwar die erkenntnistheoretische Naivität des des ästhetischen Urteils, in: Ztschr. f. ¾sthetik u. Rationalismus und der Popularphilosophie durch- allg. Kunstwiss. 34 (1989), 155±173; schweizer, Einführung, in: baumgarten (dt), VII; welsch, brach, hatte freilich, auf die weitere Geschichte der ¾sthet/hik. Ethische Implikationen und Konse- ¾sthetik hin gesehen, ihren Preis. Die Gestehungs- quenzen der ¾sthetik, in: Wulf/Kamper/Gumbrecht kosten zeigen sich deutlich z.B. in Kants Trennung (Hg.) (s. Anm. 38), 12. des Schönen vom Angenehmen: »Angenehm ist 171 Vgl. johann nicolaus tetens, Philosophische das, was den Sinnen in der Empfindung gefällt.«172 Versuche über die menschliche Natur und ihre Ent- wickelung, Bd. 1 (Leipzig 1777), 166±169. Somit fällt die Empfindung des Angenehmen (da- 172 kant (s. Anm. 168), 205. hinter verbirgt sich ein groûer Teil der alltäglichen III. Kant: Transzendentale ¾sthetik und Kritik des Geschmacks 335 aisthetischen Erlebnisse des Menschen bis hin zum 18. Jh. in dem Maûe an Bedeutung, in dem die Essen und Trinken) zwar nicht aus dem Bereich Kunst und der Begriff des Genies ins Zentrum der des ¾sthetischen heraus, ist aber im Sinne ästheti- ¾sthetik treten. Auch dieser Wandel des ästheti- scher Differenz strikt kategorial unterschieden schen Menschenbildes vom felix aestheticus zum vom interesselosen Wohlgefallen am Schönen, weil Genie ist im Kontrast Baumgarten/Kant auf- es ein unreines Geschmacksurteil ist und somit schluûreich zu beobachten. War der felix aesthe- auch im Range unter dem eigentlichen ¾stheti- ticus bei Baumgarten das mit guten natürlichen schen steht. Dies führt zur tendenziellen Trennung Anlagen ausgestattete Individuum, das im Prozeû von ¾sthetik und Anthropologie. Die sinnliche ästhetischer Erziehung und der Bildung und und affektive Seite des Menschen leugnet Kant Übung seiner Sinne zum ingenium venustum, nicht. Doch weil sie nur psychologisch und em- zum schönen Geist/Schöngeist werden kann, so pirisch zu behandeln sei, wird sie aus dem systema- wird das Genie als absoluter und unbewuûter Ur- tischen Gebäude der kritischen Philosophie ver- sprung der ästhetischen Regel zum exorbitanten bannt und der Anthropologie, die empirische Ausnahmefall des Künstlers: »Genie ist die ange- Wissenschaft ist, zugewiesen.173 In den vorkriti- borne Gemüthsanlage (ingenium), durch welche die schen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Natur der Kunst die Regel giebt.« Und »die Erhabenen (1764), die ganz in der Tradition des schöne Kunst ist nur als Product des Genies mög- englischen Empirismus (Burke) standen, war dieser lich«176. Zusammenhang noch in einem Argumentations- Im Jahrzehnt bis zur Jahrhundertwende entfal- strang verbunden. tete die Kritik der Urteilskraft eine immense Wir- Auch an anderen Kernbegriffen ist der Sprung kung und wurde, gegen die Intention Kants, bald von Baumgarten zu Kant nachzuvollziehen. So zu einer ­¾sthetik¬. Während Georg Samuel Albert wird, um die Intersubjektivität des Geschmacks zu Mellin im ersten Kantwörterbuch (1797±1804) sichern, die ästhetische Lust auf das Wohlgefallen noch ganz im Sinne Kants genau zwischen der an der Form reduziert: »Im Geschmack (der Aus- transzendentalen ¾sthetik und der Kritik des Ge- wahl) aber, d.i. in der ästhetischen Urtheilskraft, schmacks unterschied177, wurde die Kantsche ist es nicht unmittelbar die Empfindung (das Mate- Schrift von den Kant-Nachfolgern und -Interpre- riale der Vorstellung des Gegenstandes), sondern ten in einer Fülle von Werken bald ganz selbstver- wie es die freie (productive) Einbildungskraft ständlich als ­¾sthetik¬ bezeichnet.178 Wilhelm durch Dichtung zusammenpaart, d.i. die Form, Traugott Krug, einer der Nachfolger Kants auf was das Wohlgefallen an demselben hervorbringt: dem Königsberger Philosophie-Lehrstuhl, hob die denn nur die Form ist es, was des Anspruchs auf eine allgemeine Regel für das Gefühl der Lust fä- 173 Vgl. reinhard brandt, Ausgewählte Probleme hig ist. Von der Sinnenempfindung, die nach Ver- der Kantischen Anthropologie, in: H.-J. Schings schiedenheit der Sinnesfähigkeit der Subjecte sehr (Hg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Lite- verschieden sein kann, darf man eine solche allge- ratur im 18. Jahrhundert (Stuttgart/Weimar 1994), 14±32. meine Regel nicht erwarten.«174 Hier wird der Ge- 174 kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht schmack zugleich zum reinen Geschmack, zum (1798), in: kant (aa), Bd 7 (1907), 240 f. Geschmack a priori, der wiederum weite Bereiche 175 kant (s. Anm. 168), 213. ästhetischer Lust ausschlieût: »So sagt man von je- 176 Ebd., 307. manden, der seine Gäste mit Annehmlichkeiten 177 Vgl. georg samuel albert mellin, ­Aesthetik¬, in: Mellin, Encyclopädisches Wörterbuch der kriti- (des Genusses durch alle Sinne) so zu unterhalten schen Philosophie, Bd. 1 (Züllichau/Leipzig 1797), weiû, daû es ihnen insgesammt gefällt: er habe 77±85. Geschmack.«175 Aber diesem auf die ­Geselligkeit¬ 178 Vgl. christian friedrich michaelis, Entwurf bezogenen Geschmack fehle die apriorische Allge- der Aesthetik als Leitfaden bei akademischen Vorle- meinheit, weil die Allgemeinheit hier nur kompa- sungen über Kant's Kritik der aesthetischen Ur- theilskraft (Augsburg 1796); johann heinrich rativ hergestellt werde. gottlieb heusinger, Handbuch der Aesthetik Der (gesellige) Geschmack verliert im Laufe des (Gotha 1797). 336 ¾sthetik/ästhetisch strikte Kantsche Trennung von transzendentaler werden« müsse. Es gebe kein Wort in der deut- ¾sthetik und Kritik des Geschmacks auf und schen Sprache, »welches die Beziehung eines Ge- kehrte die Kantsche Terminologie um, als er die genstandes auf das feinere Empfindungs Vermögen, ¾sthetik als philosophische Disziplin dem allge- bezeichnet, da schön, erhaben angenehm u.s.f. meinen Sprachgebrauch folgend bestimmte: »Es ist bloûe Arten davon sind. Da nun die Ausdrücke [¼] nicht die Wahrnehmung oder Empfindung als moralisch und physisch ohne Bedenken von der Erkenntniselement, sondern die Wahrnehmung Erziehung gebraucht werden, und durch diese oder Empfindung des Schönen und Erhabnen an beyden Begriffe diejenige Erziehungsart, die sich den Erkenntnisobjekten, wodurch sie Ge- mit der Ausbildung eines feineren Gefühlsvermö- schmacksobjekte werden, und die darauf gegrün- gens beschäftiget, noch keineswegs ausgedrückt ist, dete Beurtheilung derselben, wovon in dieser Wis- so hielt ich für erlaubt, ja, für nöthig, einer aestheti- senschaft die Rede seyn wird«179. Man kann daraus schen Erziehung zu erwähnen.«182 folgern, daû nach dem Erscheinen der Kritik der Es geht Schiller mithin nicht um eine systemati- Urteilskraft das Wort und die Vorstellung von der sche Wissenschaft vom Schönen oder von der ¾sthetik als einer etablierten Wissenschaft in der Kunst. Angesichts der terreur in der Französischen deutschen Sprache fest verankert sind. Kant selbst Revolution und auf der Grundlage der utopischen hat diesem lässigeren Gebrauch des Begriffs offen- Anthropologie eines ganzheitlichen Menschen fa- sichtlich vorgearbeitet, indem er in der Ausgabe vorisiert er als Remedium eine bestimmte Art von der Kritik der reinen Vernunft von 1787 an das Ende Erziehung, die über die Sensibilisierung des Ge- der zitierten Fuûnote den Zusatz stellte: »oder sich schmacks und des Schönheitssinns Sinnlichkeit in die Benennung mit der speculativen Philosophie und Vernunft, Natur und Freiheit miteinander ver- zu theilen und die ¾sthetik teils im transscendenta- söhnt: »es giebt keinen andern Weg, den sinnlichen len Sinne, theils in psychologischer Bedeutung zu Menschen vernünftig zu machen, als daû man den- nehmen«180. selben zuvor ästhetisch macht«183. Schiller dagegen bleibt dem Kantschen Ge- brauch der ästhetischen Begrifflichkeit eng ver- bunden. Wenngleich er das Substantiv ­¾sthetik¬ gelegentlich benutzt, liegt das Schwergewicht, wie IV. ¾sthetik als Philosophie der bei Kant, in der attributiven Qualifizierung eines schönen Kunst umfassenderen Begriffs durch den Zusatz ­ästhe- tisch¬. Als Christian Garve dieses Epitheton in Fü- 1. Die romantische Kritik der ¾sthetik gungen wie dem »aesthetischen Umgange«181 als künstlich und miûverständlich monierte, erwiderte Kants ¾sthetik hatte ihr Zentrum in der Erfahrung Schiller, er halte dieses »Kunstwort« für geeignet, des Naturschönen. Die schöne Kunst war zwar et- in Umlauf gebracht zu werden, »weil dadurch die was, das »zugleich Natur zu sein scheint«184, stand Bestimmtheit im Denken nothwendig befördert aber als etwas vom Menschen Gemachtes an Di- gnität hinter der Naturschönheit zurück. Dies än- derte sich in der auf Kant folgenden ¾sthetik 179 wilhelm traugott krug, System der theoreti- grundsätzlich. Es bildete sich eine philosophisch- schen Philosophie, Bd. 3: Geschmackslehre oder ¾s- historisch argumentierende ¾sthetik heraus, in de- thetik (Königsberg 1810), 9. ren Zentrum der Kunst die Aufgabe zuwuchs, die 180 kant, Kritik der reinen Vernunft (21787), in: kant (aa), Bd. 3 (1904), 51. Idee der Einheit von Natur und sittlicher Welt in 181 christian garve an Schiller (17. 10. 1794), in: anschaulicher und utopischer Gestalt bewuût zu schiller, Bd. 35 (1964), 72. halten. Der locus classicus für diese Verbindung ist 182 schiller an Garve (25. 1. 1795), in: schiller, das aus dem Freundeskreis Hölderlin-Schelling- Bd. 27 (1958), 126. Hegel stammende ¾lteste Systemprogramm des deut- 183 schiller, Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen (1795), in: schiller, Bd. 20 (1962), 383. schen Idealismus, in dem es heiût: »Ich bin nun 184 kant (s. Anm. 168), 306. überzeugt, daû der höchste Akt der Vernunft, der, IV. ¾sthetik als Philosophie der schönen Kunst 337 indem sie alle Ideen umfast, ein ästhetischer Akt Kunst das einzige wahre und ewige Organon zu- ist, und daû Wahrheit und Güte, nur in der Schönheit gleich und Document der Philosophie sey, welches verschwistert sind ± Der Philosoph muû eben so immer und fortwährend aufs neue beurkundet, viel ästhetische Kraft besizen, als der Dichter. die was die Philosophie äuûerlich nicht darstellen kann Menschen ohne ästhetischen Sinn sind unsre [¼]. Die Kunst ist eben deûwegen dem Philoso- BuchstabenPhilosophen. Die Philosophie des Gei- phen das Höchste, weil sie ihm das Allerheiligste stes ist eine ästhetische Philos[ophie][.] Man kan in gleichsam öffnet, wo in ewiger und ursprünglicher nichts geistreich sein selbst über Geschichte kan Vereinigung gleichsam in Einer Flamme brennt, man nicht geistreich raisonnieren ± ohne ästheti- was in der Natur und Geschichte gesondert ist«191. schen Sinn.«185 Eine ähnliche philosophische Auf- Bei Schelling wird weiterhin offensichtlich, daû wertung erfuhr die ¾sthetik/das ¾sthetische bei sich der Kollektivsingular ­die Kunst¬ als zentraler Isaak von Sinclair, der in den 90er Jahren dem Tü- Reflexionspunkt der ¾sthetik bzw. der Philosophie binger und Jenenser Hölderlin-Kreis zugehörte. der Kunst endgültig durchgesetzt hat: »Ich con- An Fichtesche Gedankengänge anknüpfend, setzte struire demnach in der Philosophie der Kunst Sinclair den Terminus ­Aesthetik¬, den er bei einer zunächst nicht die Kunst als Kunst, als dieses Beson- späteren Korrektur in ­Athesis¬ umwandelte, in dere, sondern ich construire das Universum in der Ge- Gegensatz zu ­Theorie¬. Unter dem Gesichtspunkt stalt der Kunst«192. Dem entspricht, daû sich im von ­Praxis¬ gehören Theorie und ¾sthetik zusam- Rahmen dieser Kunstphilosophie auch die Einzel- men und bilden eine Einheit: »Man kann nur künste/Gattungen nicht mehr denken lassen. Weil durch die Theorie und Aesthetik ((Athesis)) auf die Verbindung zwischen Natur und Geist eigent- Praxis kommen und Theorie und Aesthetik ((Athe- lich abstrakt und pure Deklaration blieb, suchte sis)) sind nur da, insofern Praxis da ist.«186 Schelling nach einem Zeugnis dieser Einheit, die In der deutschen Romantik erfuhr die von Kant er im Kunstwerk und seiner Verbindung von Ab- herkommende transzendentale Einbildungskraft eine ästhetische Formbestimmung und wurde ein 185 [anonymus], Das ­älteste Systemprogramm des Modus der Erkenntnis. Auch dabei wird der Kunst deutschen Idealismus¬ (entst. 1796±1797), in: C. höchster integraler Charakter zugesprochen, und Jamme/H. Schneider (Hg.), Mythologie der Ver- ¾sthetik wird, in Verengung ihrer ursprünglichen nunft (Frankfurt a.M. 1984), 12f. 186 isaak von sinclair, Philosophische Raisonne- breiten Reflexionsansätze, zur Philosophie der ments (entst. 1795±1796), in: hannelore hegel, schönen Kunst. Als solche erhebt sie aber zugleich Isaak von Sinclair zwischen Fichte, Hölderlin und Totalitätsanspruch: ¾sthetik ist nicht mehr eine Hegel (Frankfurt a.M. 1971), 251. philosophische Teildisziplin, sondern wird als Phi- 187 steffen dietzsch, Das Kunstwerk als Werkzeug: Schellings Aufhebung des Systems des transzenden- losophie der Kunst das zentrale Medium einer talen Idealismus, in: F. W. J. Schelling, System des neuartigen Weltbetrachtung, sie wird die Philoso- transzendentalen Idealismus, hg. v. Dietzsch (Leipzig phie selbst. So ist Schelling, zentrale Figur der 1979), 363. »transzendental-philosophisch organisierten Wende 188 Vgl. odo marquard, Kant und die Wende zur ¾s- thetik, in: Ztschr. f. philos. Forschung 16 (1962), zur ¾sthetik«187, der Kant in der Kritik der Urteils- 231±243, 363±374. kraft vorgearbeitet hat188, der »merkwürdige Fall ei- 189 marquard, Über einige Beziehungen zwischen nes Denkers mit maximaler ¾sthetik-Intention ¾sthetik und Therapeutik in der Philosophie des und minimaler ¾sthetik-Durchführung«189. Schel- neunzehnten Jahrhunderts, in: H. J. Schrimpf (Hg.), ling betrachtend, kann man verallgemeinern: »je Literatur und Gesellschaft vom neunzehnten ins zwanzigste Jahrhundert (Bonn 1963), 40. mehr Geschichtsphilosophie, um so weniger ästhe- 190 karl heinz bohrer, Die ¾sthetik am Ausgang ih- tische Theorie«190. Schelling bestimmte die Wirk- rer Unmündigkeit, in: Merkur 44 (1990), 852. lichkeit des Menschen exemplarisch von der Kunst 191 friedrich wilhelm joseph schelling, System und vom Künstler aus. Im System des transscendenta- des transscendentalen Idealismus (1800), in: schel- ling (sw), Abt. 1, Bd. 3 (1858), 627 f. len Idealismus heiût es: »Wenn die ästhetische An- 192 schelling, Philosophie der Kunst (entst. 1802± schauung nur die objektiv gewordene transscen- 1803), in: schelling (sw), Abt. 1, Bd. 5 (1859), dentale ist, so versteht sich von selbst, daû die 368. 338 ¾sthetik/ästhetisch sicht und Absichtslosigkeit zu finden glaubte: »so sie verbindet sich im ¾ltesten Systemprogramm mit gibt es eigentlich auch nur Ein absolutes Kunst- dem Begriff einer ­neuen Mythologie¬ und ersetzt werk, welches zwar in ganz verschiedenen Exem- die Begriffe ­ästhetisch¬ und ­¾sthetisches¬. Diese plaren existiren kann, aber doch nur Eines ist«193. Bedeutungserweiterung der Poesie/des Poetischen Mit dieser Hyperkategorie des absoluten Kunst- in der Romantik erhält auch durch Fichtes in der werks und des absoluten Schönen wird auch die Wissenschaftslehre versteckte ­transzendentale Poesis¬ Spannung zwischen Schönem und Erhabenem weitere Schubkraft. Poesie wird dort zum »Sonder- hinfällig: »wo Schönheit ist«, ist »der unendliche fall einer transzendentalen Poesis«199, womit ein al- Widerspruch im Objekt selbst aufgehoben«194. len Kunstarten gemeinsames Element gemeint ist, Gleichfalls im ¾ltesten Systemprogramm treffen das auch in den politischen und gesellschaftlichen wir auf die Hypostasierung der Poesie als höchste Bereich ausstrahlt. der Künste, die für die romantische, bei Hegel sich Somit ergibt sich der paradoxe Befund, daû die fortsetzende Kritik der ¾sthetik die Grundlage bil- identitätsphilosophische ¾sthetik, die beide Proto- dete: »Die Posie bekömmt [¼] [ein]e höhere ¾sthetiken, die kallistische und die rhetorische, Würde, sie wird am Ende wieder, was sie am An- verschmilzt und damit als die »Eingangspforte zur fang war ± Lehrerin der Menschheit; denn es gibt ¾sthetik als einheitlicher Wissenschaft vom Schö- keine Philosophie, keine Geschichte mehr, die nen«200 im deutschen Idealismus gelten kann, sich dichtkunst allein wird alle übrigen Wissenschaften zugleich des Wissenschaftsnamens ­¾sthetik¬ ent- u[nd] Künste überleben.«195 Ganz ähnlich erhob hält. Schelling lehnte diesen Namen ab, weil er Hölderlin für die Poesie den Anspruch, im Bunde bereits von seiner Etymologie her zu nahe an der mit Religion und Philosophie die dem unendli- empirisch-psychologischen Betrachtung des eng- chen Leben einzig gemäûe Bewuûtseins- und Dar- lischen und französischen Sensualismus und der stellungsform zu sein.196 ­Poesie¬ wird zur Trägerin Wolff-Baumgartenschen Schule liege. »Man suchte einer Totalitätsidee pantheistischer All-Einheit, das Schöne aus der empirischen Psychologie zu er- zum »lebendigen tausendfach gegliederten innigen klären, und behandelte überhaupt die Wunder der Ganzen«197. Insofern läût sich in Hölderlins ­tran- Kunst ohngefähr ebenso aufklärend und wegerklä- szendentaler Poiesis¬ der Übergang von der aistheÅ- rend wie zu derselben Zeit die Gespensterge- sis zur poieÅsis beobachten.198 Die Utopie der Poe- schichten und andern Aberglauben.« Es sei rohes und unkultiviertes Herangehen an Kunst, »die bloû sinnlichen Rührungen, sinnlichen Affekter, 193 schelling (s. Anm. 191), 627. oder sinnliches Wohlgefallen, welche Kunstwerke 194 Ebd., 621. erwecken, für Wirkungen der Kunst als solche zu 195 Das ­älteste Systemprogramm¬ (s. Anm. 185), 13. 201 196 Vgl. friedrich hölderlin, Hyperion (1797/ halten« . August Wilhelm Schlegel monierte mit 1799), in: hölderlin (gsa), Bd. 3 (1957), 81; höl- Blick auf Baumgartens Aesthetica, ¾sthetik könne derlin, Über Religion (1796±1797?), in: ebd., nach Ableitung und Bedeutung des Wortes (»Lehre Bd. 4/1 (1961), 281. von den sinnlichen Wahrnehmungen«) »also bloû 197 hölderlin an Karl Gok (1. 1. 1799), in: ebd., physiologisch seyn, in so fern sie auf die Werk- Bd. 6/1 (1954), 306. 198 Vgl. gert hofmann, Dionysos Archemythos. Höl- zeuge der Sinne gienge, und physikalisch, in so derlins transzendentale Poiesis (Tübingen/Basel fern sie die Phänomene der verschiednen Sinne 1996), 40±87. aus Naturgesetzen erklärte«. Solche Wissenschaften 199 hans freier, ¾sthetik und Autonomie. Ein Beitrag gebe es ja, beispielsweise Akustik und Optik, aber zur idealistischen Entfremdungskritik, in: Bernd Lutz (Hg.), Literaturwissenschaft und Sozialwissen- Baumgarten habe darunter etwas ganz anderes ver- schaften 3 (Stuttgart 1974), 345. standen: »eine Analyse des untern (sinnlichen) Er- 200 schmitz (s. Anm. 64), 390. kenntniûvermögens, als Gegenstück zu der des 201 schelling (s. Anm. 192), 362, 358. oberen oder der Logik«202. Das aber beruhe auf august wilhelm schlegel, Vorlesungen über 202 dem Miûverständnis der Sinnlichkeit im Wolff- schöne Literatur und Kunst (1801±1804), in: Schle- gel, Kritische Ausgabe der Vorlesungen, hg. v. E. schen System. Daraus folgert Schlegel: »Es wäre Behler/F. Jolles, Bd. 1 (Paderborn u.a. 1989), 182. Zeit diesen unschicklichen Ausdruck ganz abzu- IV. ¾sthetik als Philosophie der schönen Kunst 339 schaffen, der nach Kant auch in den Schriften phi- (bzw. im Kunstwerk) eine geschichtsphilosophisch losophischer Selbstdenker immer noch wieder untersetzte philosophische Utopie suchte, substan- vorkommt, wiewohl man häufig seine Widersin- tialisierte sich das Poetische/¾sthetische in der Ge- nigkeit anerkannt hat. Unstreitig hat er groûen stalt der Kunst schlechthin bzw. in der des absolu- Schaden gestiftet: das Aesthetische ist eine wahre ten Kunstwerks. Dagegen: »Schlegels Übergang qualitas occulta geworden, und hinter dem unver- von einer ­Philosophie der Kunst¬ zu einer ­¾sthe- ständlichen Wort hat sich so manche nichtssagende tischen Theorie¬ lag nun gerade darin, daû er die Behauptung, so mancher Zirkel im Beweisen ver- ästhetische Reduktion auf den Gegenstandsbe- stecken können, der sonst in seiner Blöûe aufgefal- reich, auf das Besondere, wagte«207 ±soimGe- len seyn würde.«203 Friedrich Schlegel schlieûlich, spräch über die Poesie (1800). Ein ähnlicher Konkre- der in seinem 1794 begonnenen Studium-Aufsatz tisierungswunsch, vielleicht mit einem Seitenblick noch den Begriff »ästhetische Revolution« prägte, auf die Frühromantik, deutet sich in einem Brief »durch welche das Objektive in der ästhetischen Schillers an Goethe an: »Ueberhaupt frage ich Sie Bildung der Modernen herrschend werden bei dieser Gelegenheit ob die Neigung so vieler ta- könnte«204, äuûerte wenig später den Verdacht, daû lentvoller Künstler neuerer Zeiten zum Poetisieren die Verwendung des Wortes ästhetisch »eine gleich in der Kunst nicht daraus zu erklären ist, daû in ei- vollendete Unkenntnis der bezeichneten Sache ner Zeit wie die unsrige es keinen Durchgang zum und der bezeichnenden Sprache verrät«205. Aesthetischen giebt als durch das Poetische«208. Das Paradox, daû bei der eigentlichen (identi- Freilich wirkte auch in Friedrich Schlegels Gene- tätsphilosophischen) Begründung der ¾sthetik der ralisierung der Poesie/des Poetischen der utopische Name der von Baumgarten inaugurierten Diszi- Wunsch, durch den Philosophie, Poesie und Reli- plin für unwesentlich erachtet wird, löst sich, gion analogisiert werden: »Doch gesteht und er- wenn man sieht, was die identitätsphilosophische kennet die Philosophie schon, daû sie nur mit Re- und die romantische ¾sthetik unter dem Lemma ligion anfangen und sich selbst vollenden könne, ­das Poetische¬ verhandeln. So setzt August Wil- und die Poesie will nur nach dem Unendlichen helm Schlegel an Stelle von ­¾sthetik¬ den Begriff streben und verachtet weltliche Nützlichkeit und »philosophische Theorie der schönen Künste« Kultur, welches die eigentlichen Gegensätze der gleich »Kunstlehre« gleich »Poetik«, »da man ein- Religion sind.« »Jede Beziehung des Menschen verstanden ist, daû es in allen schönen Künsten aufs Unendliche ist Religion, nämlich des Men- [¼] einen poetischen Theil gebe; d.h. es wird schen in der ganzen Fülle seiner Menschheit.«209 eine freye schaffende Wirksamkeit der Fantasie Im Programm romantischer ­Universalpoesie¬ (poihsiû) in ihnen erkannt. Poesie heiût dann im verschmolz die Poesie mit der Philosophie zu einer allgemeineren Sinne das allen Künsten gemein- ­neuen Mythologie¬. »Das ­Universum¬ gewinnt same, was sich nur nach der besondern Sphäre ih- poetische Analogiestruktur«210. In diesem Poesie- rer Darstellungen modifizirt.«206 Indem die Poesie konzept ist jedoch insofern moderne ästhetische als allgemeinste unter den Künsten gilt, wird deut- lich, wie die Begriffe ­das Poetische¬ und ­die 203 Ebd., 182f. Kunst¬ tendenziell identisch werden und den Be- 204 friedrich schlegel, Über das Studium der Grie- griff des ¾sthetischen substituieren. Der Begriff chischen Poesie (1797), in: schlegel (kfsa), Bd. 1 des Poetischen wird dabei zum einen von einer (1979), 269. hochgradigen Substantialisierung im Sinne eines 205 friedrich schlegel, Kritische Fragmente (1797), in: ebd., Bd. 2 (1967), 151. ästhetischen Wesens bestimmt, zum anderen zeigt 206 august wilhelm schlegel (s. Anm. 202), 186. sich in der Begriffsbildung aber auch der Versuch, 207 bohrer (s. Anm. 190), 856. zu einer Konkretion ästhetischer Theorie zu kom- 208 schiller an Goethe (14. 9. 1797), in: schiller, men. Die Grenze zwischen Substantialisierung und Bd. 29 (1977), 130. 209 friedrich schlegel, Ideen (1800), in: schlegel Konkretion im Begriff des Poetischen/¾stheti- (kfsa), Bd. 2 (1967), 260, 263. schen ist zwischen Schelling und Friedrich Schle- 210 wolfgang heise, Hölderlin (Berlin/Weimar gel zu beobachten. Indem Schelling in der Kunst 1988), 492. 340 ¾sthetik/ästhetisch

Erfahrung aufgehoben, als die klassische Einheit mit der diätetischen Funktion der Baumgarten- des Werks zugunsten des Fragmentarischen aufge- schen ¾sthetik. geben wird. Jean Pauls Kritik der ¾sthetik richtete sich ge- 2. Hegels ¾sthetikbegriff gen den Systemgeist der Philosophen wie gegen die künstlerischen Prinzipien der Weimarer Klas- Für die Begriffsgeschichte der ¾sthetik sind an He- sik. Er warnte vor zwei Wegen, in der ¾sthetik gels Philosophie der schönen Kunst zwei Zusam- nichts zu sagen: Der erste ist der des »Parallelis- menhänge von Interesse: Wie expliziert Hegel sei- mus«211, wo durch induktive Verallgemeinerungen nen Begriff der ¾sthetik, und welche Geschichte Aussagen über ästhetische Gesetze versucht wer- gibt er seiner Auffassung von ¾sthetik? den. Schärfer kritisierte er aber eine von Höhen Wie schon bei Schelling wird ¾sthetik rigide der Abstraktion herabsteigende spekulative ¾sthe- auf eine ­Philosophie der Kunst¬ eingegrenzt. tik, die dem Dichter/Künstler Vorschriften ma- Darin liegt das philosophische Programm Hegels: chen will. Die »rechte ¾sthetik« sei nur von dem Von der Kunst nicht abgedeckte ästhetische Phä- zu erwarten, der »Dichter und Philosoph zugleich« nomene werden der philosophischen Betrachtung (24) zu sein vermag. Seine Kritik der zeitgenössi- nicht für würdig erachtet. »Diese Vorlesungen sind schen, akademisch werdenden ¾sthetik verbirgt der ¾sthetik gewidmet; ihr Gegenstand ist das weite sich auch im Titel Vorschule der ¾sthetik. Auf die Reich des Schönen, und näher ist die Kunst, und Vorhaltungen seiner Kritiker, seine ¾sthetik sei gar zwar die schöne Kunst ihr Gebiet.«212 Die Eingren- keine, sondern allenfalls eine Poetik, replizierte er zung liegt im systematischen Ansatz von Hegels in der Vorrede der 2. Auflage (1813) unter Rück- gesamter Philosophie begründet, indem die Reali- bezug auf die mittelalterliche Bedeutung von ­Vor- sierung der Idee im Sinnlichen und Wirklichen schule¬: Das Proscholium war »ein Platz, welchen nur durch die Schönheit möglich ist, und Schön- ein Vorhang von dem eigentlichen Hörsaale ab- heit wiederum realisiert sich historisch im Verlaufe schied, und wo der Vorschulmeister (Proscholus) der Kunstgeschichte und der Entwicklung der ein- die Zöglinge in Anstand, Anzug und Antritt für zelnen Kunstgattungen. Es ist deshalb nicht zu- den verhangnen Lehrer zuschnitt und vorbereitete. fällig, daû sich in Deutschland innerhalb der He- [¼] Daher glaubt' ich aber auch meiner Kondui- gel-Schule die Disziplinen Kunstgeschichte und tenmeister-Pflicht genug getan zu haben, wenn ich Literaturgeschichte herausbilden.213 Hegels ¾sthe- als Proscholus die Kunst-Zöglinge durch Anregen, tik ist durch ihre Orientierung auf die Kunst und Schönziehen, Geradehalten und andere Kallipädie die Kunstgattungen auch eine Kunstgeschichte so weit brächte, daû sie alle mit Augen und Ohren und in dieser Eigenschaft eine ­Inhaltsästhetik¬ ± fertig daständen, wenn der Vorhang in die Höhe im Unterschied etwa zur ­Formästhetik¬ Kants und ginge und sich ihnen nun die vielen eigentlichen Johann Friedrich Herbarts, der sich in der Tradi- verhangenen Lehrer auf einem einzigen Lehr- tion Kants sah und der ¾sthetik die Aufgabe der stuhle, nämlich dem ästhetischen, beisammen leh- »Aufstellung ästhetischer Principien« zuwies, die, wie rend zeigten«. (15f.) Diese ironische Intervention etwa der Generalbaû in der Musik, »einfache Ver- geht hinter Kant zurück und sucht die Berührung hältnisse« beinhalten, »die beym vollendeten Vor- stellen Beyfall und Misfallen erzeugen«214. Ausgegrenzt aus der Philosophie der schönen 211 jean paul, Vorschule der ¾sthetik (1804), in: jean Kunst sind das Naturschöne und das Erhabene ± paul (miller), Abt. 1, Bd.5(1963), 22. 212 hegel (ästh), 49. das Naturschöne deshalb, weil ihm Subjektivität als 213 Vgl. carl schnaase, Geschichte der bildenden Träger von Geist und damit Teilhabe an den Figu- Künste (Düsseldorf 1843±1864); georg gottfried ren des absoluten Geistes abgeht. Gerade weil das gervinus, Geschichte der poetischen National-Li- Naturschöne sinnlich begrenzt ist, stellte Hegel ja teratur der Deutschen (Leipzig 1835±1842). die Kunst (als begeistete Form) ins Zentrum seiner 214 johann friedrich herbart, Allgemeine practi- sche Philosophie (Göttingen 1808), 42f. ¾sthetik.215 Das Erhabene wird aus der ¾sthetik 215 Vgl. hegel (ästh), 49±51. ausgeschlossen, weil in ihm die Gefahr religiöser IV. ¾sthetik als Philosophie der schönen Kunst 341

Transzendenz lauert: »Das Erhabene überhaupt ist Ende der Kunst ist der Anfang der ¾sthetik, indem der Versuch, das Unendliche auszudrücken, ohne der »Gedanke und die Reflexion [¼] die schöne in dem Bereich der Erscheinungen einen Gegen- Kunst überflügelt« (57). »Die Wissenschaft der stand zu finden, welcher sich für diese Darstellung Kunst ist darum in unserer Zeit noch viel mehr passend erwiese.« (363) Es wird der vorklassischen Bedürfnis als zu den Zeiten, in welchen die Kunst symbolischen Kunstform zugeordnet. für sich als Kunst schon volle Befriedigung ge- Hegel ist sich der Eingrenzung, welche die währte. Die Kunst ladet uns zur denkenden Be- Konzentration der ¾sthetik auf die Philosophie der trachtung ein, und zwar nicht zu dem Zwecke, schönen Kunst bedeutet, natürlich voll bewuût. Er Kunst wieder hervorzurufen, sondern, was die weist deshalb auch den Namen ­¾sthetik¬ als nicht Kunst sei, wissenschaftlich zu erkennen.« (58) passend ab, weil ¾sthetik ja eigentlich Wissenschaft Einen zentralen Abschnitt seiner Einleitung in der Sinne und des Empfindens bedeute. Der Name die ¾sthetik nannte Hegel ­Historische Deduktion stamme aus der Wolffschen Schule, »als man in des wahren Begriffs der Kunst¬. Dieser ­wahre Be- Deutschland die Kunstwerke mit Rücksicht auf griff der Kunst¬ hat zur Grundlage, »daû das Kunst- die Empfindungen betrachtete, welche sie hervor- schöne als eine der Mitten erkannt worden ist, bringen sollten, wie z.B. die Empfindungen des welche jenen Gegensatz und Widerspruch des in Angenehmen, der Bewunderung, der Furcht, des sich abstrakt beruhenden Geistes und der Natur ± Mitleidens usf.« (49) Wie kritisch dieser Verweis sowohl der äuûerlich erscheinenden als auch der auf die im Etymon von ¾sthetik versteckten ­Emp- innerlichen des subjektiven Gefühls und Gemüts ± findungen¬ zu nehmen ist, zeigt das geharnischte auflösen und zur Einheit zurückführen«. Wie die- Verdikt, das Hegel unter der Überschrift ­Das ser Standpunkt sich durchsetzte, das mache die Kunstwerk als für den Sinn des Menschen dem »Wiedererweckung der Wissenschaft der Kunst« Sinnlichen entnommen¬ über die »leere Form der aus, »ja dieser Wiedererweckung verdankt eigent- subjektiven Affektion« (77) ausspricht. Die Emp- lich die ¾sthetik als Wissenschaft erst ihre wahr- findung »ist die unbestimmte dumpfe Region des hafte Entstehung und die Kunst ihre höhere Wür- Geistes« (76). Statt »sich in die Sache, das Kunst- digung« (97). Interessant sind die Positionen, die werk zu versenken und zu vertiefen und darüber Hegel in seiner kurzen Geschichte der ¾sthetik die bloûe Subjektivität und deren Zustände fah- umreiût: Erstens habe Kant zwar den Begriff der renzulassen«, »fühlen die Menschen so gern« (77). Autonomie eingeführt, aber nur in der Form des Mit dieser massiven Kritik der Empfindung wird ± Subjektiven. Diese Mängel seien zweitens durch unbeschadet dessen, daû Hegel hier durchaus Züge Schiller, Winckelmann und Schelling überwunden des Sentimentalismus und des modernen - worden, und Schiller komme das Verdienst zu, Genusses trifft ± die ¾sthetik nicht nur der Baum- über die Kantsche Subjektivität und Abstraktion gartenschen Art, sondern die gesamte sensuali- hinausgedacht zu haben. Schelling mache die »Idee stische ¾sthetik der europäischen Aufklärung in selbst zum Prinzip der Erkenntnis und des Daseins« ihrem Kern, der aistheÅsis, getroffen. Daû es über- (102). Mit der »Wiedererweckung der philosophi- haupt bei dem Namen ­¾sthetik¬ bleibt, ist für He- schen Idee« (103) erringe die Wissenschaft der ¾s- gel nunmehr rein usuell: »Wir wollen es deshalb thetik bei Schelling ihren absoluten Standpunkt. bei dem Namen ¾sthetik bewenden lassen, weil er Dem sei bei Winckelmann durch »die Anschauung als bloûer Name für uns gleichgültig und auûer- der Ideale der Alten« (102) vorgearbeitet worden. dem einstweilen so in die gemeine Sprache über- Drittens schlieûlich geht Hegel unter der zunächst gegangen ist, daû er als Name kann beibehalten befremdlichen Überschrift ­Die Ironie¬ auf die Ro- werden.« (49) mantiker August Wilhelm und Friedrich Schlegel Für den Status, den Hegel der ¾sthetik als Wis- ein. War mit Kant die Wissenschaft der ¾sthetik senschaft und Philosophie der schönen Kunst bei- noch nicht auf ihrem absoluten Standpunkt, so ist miût, ist sein Theorem vom Ende der Kunst maû- sie es mit den Schlegels, die von der philosophi- gebend. Als zeitgemäûer Reflexionsmodus der schen Idee des Kunstschönen so viel annahmen, Kunst ist ¾sthetik ein Spätling der Moderne. Das »als ihre sonst eben nicht philosophischen, sondern 342 ¾sthetik/ästhetisch wesentlich kritischen Naturen aufzunehmen fähig und Hegel bestimmte Richtung betrifft. Bis Mitte waren« (103), nicht mehr. Der Grund lag in der Iro- des 19. Jh. wird ¾sthetik als Schönheitslehre unter nie, in der das sich selbst absolut setzende Ich dem Dach von Philosophie diskutiert. keinen Ernst mehr kennt. Wie also die ­romanti- Von Nikolaj M. Karamzin, der 1789 Deutsch- sche Kunstform¬ das Ende der Kunst (nach ihrer land bereist, stammt der russische Erstbeleg des höchsten Bestimmung) ist, so bedeutet auch die Terminus. Karamzin berichtet in seinen zuerst im romantische Ironie die Auflösung der ¾sthetik Moskovskij urnal gedruckten Reisenotizen von ei- nach ihrer höchsten Bestimmung als Wissenschaft nem Besuch der ¾sthetikvorlesungen Ernst Plat- von der philosophischen Idee der Kunst. ¾sthetik ners und stellt lediglich Baumgarten vor, dessen geht, so Hegels Diagnose, in die (subjektive) Kritik Aesthetica er so zusammenfaût: »die ¾sthetik lehrt über. das Schöne erfühlen und genieûen« (Œstetika uhit huvstvovatö izq+noe i naslaädatösq Dieter Kliche im)216. In sehr verschwommener Weise wird ¾s- thetik in Ruûland dann 1841 von Vissarion G. Be- linskij und danach von Nikolaj G. CÏ erny„evskij als Erfahrung des »Schönen in der Wirklichkeit« (pre- krasnoe v dejstvitelönosti)217 bestimmt. In V. Der europäische Begriffstransfer einer Anmerkung zu seiner Bestimmung der Kunst als »unmittelbare Schau der Wahrheit oder Denken Deutschland bleibt im 19. Jh. Zentrum und Be- in Bildern«(neposredstvennoe sozercanie zugspunkt des europäischen ästhetischen Denkens. istiny,ili mywlenie v obrazax) nennt Be- Dabei wird der Begriff in den verschiedenen natio- linskij ¾sthetik in einem Atemzug mit Poetik und nalen Diskursen zögernd aufgegriffen. Man kann Literaturtheorie: »Diese Definition wird hier zum sogar von einer Blockade gegenüber der deutschen erstenmal in russischer Sprache ausgesprochen, Tradition sprechen, vor allem was ihre durch Kant und sie ist in keiner russischen ¾sthetik, Poetik oder einer sogenannten Theorie der Literatur zu finden« (Œto opredelenie e+e v pervyj raz proiznositsq na russkom qzyke,i ego nel özq 216 nikolaj karamzin, Pis'ma russkogo pute„estven- najti ni v odnoj russkoj ‹stetike,piitike, nika (1791±1792; Leningrad 1984), 63; vgl. ebd., ili tak nazyvaemoj teorii slovesnosti)218. 416; dt.: Briefe eines russischen Reisenden, übers. v. CÏ erny„evskijs Dissertation, eine Quelle marxisti- J. Richter (Berlin 1959), 107 [in der Übers. steht scher Widerspiegelungstheorien, ist kritisch an versehentlich »erfüllen« statt »erfühlen«]. 217 nikolaj g. cÏerny„evskij,EÇsteticÏeskie otno„enija Hegels und Friedrich Theodor Vischers ¾sthetik iskusstva k dejstvitel'nosti (1855), in: CÏ erny„evskij, orientiert und »ein Versuch, die Ideen Feuerbachs Polnoe sobranie socÏinenij v pjatnadcati tomach, auf die Beantwortung der Grundfragen der ¾sthe- Bd. 2 (Moskau 1949), 31; dt.: Die ästhetischen Be- tik anzuwenden« (popytka primenitö idei Ï ziehungen der Kunst zur Wirklichkeit, in: Cerny- Fejerbaxa k razreweniü osnovnyx vopro- „evskij, Ausgewählte philosophische Schriften, 219 Ï übers. v. A. Kurella (Moskau 1953), 403. sov ‹stetiki) .Cerny„evskij stellt das Natur- 218 vissarion g. belinskij, Ideja iskusstva (entst. schöne materialistisch über das Kunstschöne. Er 1841), in: Belinskij, Polnoe sobranie socÏinenij, Bd. 4 schreibt, »daû die wahre, höchste Schönheit eben (Moskau 1954), 585; dt.: Die Idee der Kunst, in: Be- gerade die Schönheit ist, die der Mensch in der linskij, Ausgewählte philosophische Schriften, übers. v. A. Kurella (Moskau 1950), 191. Welt der Wirklichkeit antrifft, und nicht die 219 cÏerny„evskij,EÇsteticÏeskie otno„enija iskusstva k Schönheit, die durch die Kunst geschaffen wird« dejstvitel'nosti (Predislovie k tret'emu izdaniju) (hto istinnaq,vysohajwaq krasota est ö (entst. 1888), in: CÏ erny„evskij (s. Anm. 217), 121; imenno krasota,vstrehaemaq helovekom v dt.: Die ästhetischen Beziehungen der Kunst zur mire dejstvitelönosti,a ne krasota,sozda- Wirklichkeit (Vorwort zur dritten Auflage), in: CÏ er- ny„evskij (s. Anm. 217), 537. vaemaq iskusstvom)220. In einem Aufsatz aus 220 cÏerny„evskij (s. Anm. 217), 14; dt. 376. dem Jahre 1854 definiert er ¾sthetik als »Wissen- V. Der europäische Begriffstransfer 343 schaft vom Schönen« (nauka o prekrasnom)221. namens Gaudenzio Jagemann; dieser veröffent- Aufgrund seiner Nähe zur französischen L'art- lichte 1771 in Florenz einen Essai über den guten pour-l'art-Doktrin verfällt der Begriff ¾sthetik Geschmack in den schönen Künsten, in dem die Grund- 1865 dem Verdikt Dmitrij I. Pisarevs und bleibt lagen der ¾sthetik erklärt werden). Als »Disciplina del auch noch für Lev N. Tolstoj negativ besetzt. Pisa- sentir la Bellezza negli oggetti delle Arti Belle« rev bindet im Namen des Realismus ¾sthetik an (Disziplin des Empfindens der Schönheit in den die Nachahmungstheorie zurück.222 Den Bruch Gegenständen der schönen Künste) bestimmte mit dieser Tradition vollbringen erst die russischen Giovanni Battista Talia den Begriff durch eine auf- Formalisten und Bachtins formgeschichtliches fällige Unterscheidung zwischen höheren und nie- Konzept einer ­¾sthetik des Wortes¬223. deren Sinnen: »L'Estetica fa de' sensi una separa- Auch in Spanien als einem anderen Land an der zione. Perch› il Gusto, l'Odorato, ed il Tatto gli Peripherie der deutschen ¾sthetik kann bis zum tiene apportatori d'ignobil diletto. Ristringesi krausismo224 von einer eigenständigen Entwicklung quindi a' due della vista, e dell'udito, i quali scorge ästhetischen Denkens keine Rede sein. Das gilt recare all'animo una dilettazione pura, franca da auch für die monumentale geschichtliche Darstel- materia, ed esser degni ministri de sì alto si- lung der Poetiken unter dem Namen ¾sthetik gnore.«228 (Die ¾sthetik unterteilt die Sinne. Denn durch den Traditionalisten Marcelino MenØndez y den Geschmacks-, den Geruchs- und den Tastsinn Pelayo. Dessen Historia de las ideas estØticas en Espaæa hält sie für Überbringer gemeiner Vergnügung. Sie (1883) ist eher Chronologie als Historik und ver- beschränkt sich mithin auf die beiden Sinne Ge- fügt über keine tragende Idee: »si bien se mira, sólo sicht und Gehör, von denen sie meint, daû sie dem el nombre de EstØtica es moderno: la ciencia ha Geist ein reines, vom Stofflichen freies Vergnügen existido (aunque a la verdad en estado rudimenta- bescheren und würdige Diener eines so hohen rio) desde que hay arte en el mundo«225. (Genau- Herrn sind.) genommen ist nur der Name ¾sthetik modern; die Das Gewicht einer langen Tradition der Kunst- Wissenschaft [freilich in rudimentärem Zustand] theorie in Italien seit der Renaissance bildete bis gibt es, seit es Kunst in der Welt gibt.) ins 19. Jh. eine feste diskursive Formation, in die Bis zu Benedetto Croce ist die italienische Be- griffsgeschichte wesentlich Kompilation vorkan- 221 cÏerny„evskij, KriticÏeskij vzgljad na sovremennye tianischer Bestimmungen. Croce erneuert im eÇsteticÏeskie ponjatija (1854), in: CÏ erny„evskij (s. Anschluû an Hegel noch einmal den Begriff der Anm. 217), 128. ¾sthetik als normative klassizistische Ausdrucks- 222 Vgl. dmitrij i. pisarev, Razru„enie eÇstetiki (1865), lehre und bestimmt als Zweck einer modernen ¾s- in: Pisarev, SocÏinenija v cÏetyrech tomach, Bd. 3 (Moskau 1956), 418±435. thetik »la restaurazione e difesa della classicità contro 223 Vgl. rainer grübel, Zur ¾sthetik des Wortes bei il romanticismo, del momento sintetico e formale e Michail M. Bachtin, in: M. Bachtin, Die ¾sthetik teoretico, in cui › il proprio dell'arte, contro quello des Wortes, hg. v. Grübel, übers. v. Grübel/ affettivo, che l'arte ha per istituto di risolvere in S. Reese, (Frankfurt a.M. 1979), 21±88. 224 Vgl. werner krauss, Spaniens Weg am Abgrund. sØ«226 (die Wiederherstellung und Verteidigung der Über die geistigen Grundlagen des modernen Spa- Klassik gegen die Romantik, des sowohl formalen niens (entst. 1947), in: Krauss, Das wissenschaftliche als auch theoretischen synthetischen Moments, das Werk, Bd. 4 (Berlin/NewYork 1997), 446±462. die Eigenart der Kunst ausmacht, gegen das Ge- 225 marcelino menØndez y pelayo, Historia de las fühlsmoment, welches in sich aufzulösen der Kunst ideas estØticas en Espaæa (1883±1891), Bd. 1 (Madrid 1974), 4. aufgegeben ist). Croce hat einen italienischen Erst- 226 benedetto croce, Estetica in nuce (1928), in: beleg des Terminus identifiziert »nel libercolo di Croce, Ultimi saggi (Bari 1935), 28. un tedesco italianizzato, di un frate Gaudenzio Ja- 227 croce, Estetici italiani della seconda metà del Sette- gemann, agostiniano; il quale, nel 1771, pubblicò a cento (entst. 1902), in: Croce, Problemi di estetica e Firenze un Saggio sul buon gusto nelle belle arti ove si contributi alla storia dell'estetica italiana (Bari 1910), 387f. spiegano gli elementi dell'Estetica«227 (in dem Büchlein 228 giovanni battista talia, Saggio di Estetica (Ve- eines italianisierten Deutschen, eines Augustiners nedig 1822), XIV, XII. 344 ¾sthetik/ästhetisch

¾sthetik als ein neuer Begriff umstandslos inte- d'expressions Øquivalentes), elles pouvaient aussi griert wurde. Den Tenor gab Vincenzo Gioberti in †tre dictØes par le refus du contenu auquel corre- einem Essay über das Schöne: »La scienza che tratta spondait vØritablement l'urgence d'user de ce nou- del Bello, detta da alcuni Callologia, meno propria- veau terme.«230 mente, ma piœ comunemente, per usanza intro- Die erwähnte zentrale Stellung Lockes im engli- dotta dagli Alemanni, chiamasi Estetica.«229 (Die schen Denken seit 1700 lieû hier für eine Rezep- Wissenschaft, die vom Schönen handelt und von tion des in Deutschland aufgebrachten Begriffs of- einigen Kallologie genannt wird, bezeichnet man fenbar keinen Freiraum. In Frankreich, wo Du Bos weniger treffend, aber aufgrund des durch die 1719 avant la lettre eine ­Wendung zur sensuali- Deutschen eingeführten Gebrauchs häufiger als stischen ¾sthetik¬ einleitete, die er mit der Kom- ¾sthetik.) petenz und Souveränität des Publikumsurteils Für die Problematik des europäischen Begriffs- begründete, die das humanistische Bildungsideal transfers ist die französische und die englische Be- immer bestritten hatte231, bestand kein Bedarf für griffsgeschichte symptomatisch, weil sie erklären einen Begriff, den die Deutschen unterschiedlich kann, warum dann im 20. Jh. gerade von diesen bald als ­Wissenschaft der Empfindungen¬ (Sulzer), Ländern eine grundsätzliche Erneuerung und Re- bald als ­Theorie der sinnlichen Erkenntnis¬ valorisierung der ¾sthetik und ihres Begriffs ausge- (Baumgarten) definiert hatten. Bis 1789 bildete hen wird. aber vor allem der vorherrschende Klassizismus der französischen Aufklärung eine Rezeptionssperre gegenüber der deutschen ¾sthetikdebatte. »L'es- 1. Frankreich thØtique, m†me si le mot n'existe pas avant 1750, Die in Frankreich wie in England gegenüber est un des domaines oœ la distinction entre culture Deutschland verspätete Rezeption des Begriffs ¾s- française et culture allemande se marque le plus thetik erklärt sich vor allem aus der Wirkung und nettement, m†me si les mod›les de rØfØrence et les Verankerung des Sensualismus in der Philosophie concepts mis en úuvre pouvaient suggØrer, au dØ- und Kunsttheorie beider Länder. »Du côtØ français, part, d'assez fortes analogies, qu'il s'agisse de la les rØsistances à son adoption ont ØtØ grandes et, s'il fonction morale de l'art ou du prestige de l'anti- est vrai qu'elles ont pu correspondre au sentiment quitØ.« Und: »l'esthØtique française du XVIIIe si›- de son inutilitØ (les critiques pensaient disposer cle se voudra rationaliste et essentialiste, dans une philosophie oœ le Beau correspond à l'ordre nØces- saire des essences«232. 229 vincenzo gioberti, Del Bello (1841), in: Gioberti, Noch in den von den germanophilen Charles de Opere, Bd. 7 (Lausanne 1846), 7. 230 annie becq, Gen›se de l'esthØtique française mo- Villers und Louis-SØbastien Mercier angeregten derne. De la Raison classique à l'Imagination crØa- Debatten über die Philosophie Kants im Institut trice, 1680±1814, Bd. 1 (Pisa 1984), 5. National zwischen 1799 und 1802 wird die ­clartØ 231 Vgl. krauss, Cartaud de La Villatte und die Entste- française¬ gegen die metaphysische ­obscuritØ ger- hung des geschichtlichen Weltbildes in der Frühauf- manique¬ mit Berufung auf diese Tradition mobili- klärung (1960), in: Krauss, Das wissenschaftliche Werk, Bd. 5 (Berlin/Weimar 1991), 100±103. siert. In der DØcade philosophique, littØraire et politique 232 roland mortier, EsthØtique française et esthØti- polemisierte Amaury Duval am 17. 9. 1801 gegen que allemande au XVIIIe si›cle, in: W. Schneiders die Kantsche ¾sthetik, die Villers in seinem Buch (Hg.), Aufklärung als Mission. Akzeptanzprobleme Philosophie de Kant, ou principes fondamentaux de la und Kommunikationsdefizite/La mission des Lu- mi›res. Accueil rØciproque et difficultØs de commu- philosophie transcendentale (1801) referiert hatte: nication (Marburg 1993), 251, 253. »Plaignons ce pauvre abbØ Dubos qui a fait trois 233 amaury duval, DØcouverte du vrai principe du gros volumes pour enseigner un syst›me que la Beau dans les arts, in: La dØcade philosophique, littØ- massue de Kant vient de rØduire en poussi›re.«233 raire et politique (17. 9. 1801), zit. nach françois Während Mercier als einziger in seinen MØmoires azouvi/dominique bourel, De Königsberg à Paris. La RØception de Kant en France (1788±1804) über die Philosophie Kants (wohl ohne Kenntnis (Paris 1991), 157. der Kritik der Urteilskraft und auch ohne explizit V. Der europäische Begriffstransfer 345 den Begriff ¾sthetik zu thematisieren) deren ziert in verengender Weise den Baumgartenschen Überwindung des Sensualismus betonte ± »que la Begriff im Sinne der Wolffschen Schulphilosophie loi de la causalitØ n'est pas dans les choses obser- als »MØtaphysique du beau« und bezieht ihn auf vØes, qu'elle est dans l'observateur«234 ±, sah An- den theoretischen Status der Künste als Wissen- toine Destutt de Tracy, der ­Erfinder¬ des Begriffs schaften: »Cette science en gØnØral pourroit †tre ­IdØologue¬, in einer ausführlichen MØmoire keine appellØe MØtaphysique du beau, & le mot d'ásthØ- mögliche Brücke zwischen der ­thØorie de la sensi- tique me semble bien expliquer cette idØe. Elle bilitج der Ideologen und der Kants.235 Mit dieser peut se subdiviser en posie, en Øloquence, en impliziten und durch die frühe rudimentäre fran- peinture, en , en gravure, &c. qui ne sont zösische Kant-Rezeption vermittelten Reaktion des arts que par rapport à l'exØcution, mais qui auf die deutsche ¾sthetikdebatte in der Phase nach sont de vØritables sciences par rapport à la thØorie. Baumgarten, deren Kennzeichen der Widerstreit Un Pote sans Philosophie n'est qu'un versifica- und die Verständnisblockade zwischen zwei unter- teur; un Peintre sans principes, n'est jamais certain si schiedlichen philosophischen Traditionen war, ce qu'il fait est vraiment beau.«238 Beausobre hatte kontrastiert die seit den 20er Jahren in der Epoche an der Viadrina in Frankfurt/Oder Baumgartens der Restauration bis zur Julirevolution 1830 einset- ¾sthetikvorlesungen gehört. »Depuis 7 jusqu'à 8 zende eigentliche Rezeption deutscher ¾sthetik du matin il [Baumgarten] lit à prØsent l'esthØtique (und deren Begriffsrepertoires) als einer »science ou les r›gles sur les beaux-arts [¼]. Quant à d'importation«236. Victor Basch, der erste Inhaber l'esthØtique, il est lui-m†me auteur d'un petit livre des 1921 an der Sorbonne eingerichteten Lehr- qui va paraître incessament par feuilles, sur lequel il stuhls für ¾sthetik, hat 1896 in der Einleitung zu lit.«239 Beausobre gliederte die so verstandene ¾s- seiner Dissertation den europäischen Transfer zwi- thetik als neues Teilgebiet der »sciences, qui regar- schen England, Frankreich und Deutschland als die dent l'esprit en particulier«240, in sein System der Grundkonstellation einer Geschichte ästhetischen Denkens erkannt, an der sich auch die Darstellung der französischen Begriffsentwicklung orientieren 234 louis-sØbastien mercier, Sur la philosophie de muû, und damit am Ende des Jh. die französische Kant, referiert in: p.-c. levesque, Notice des tra- Reflexion an die Kantsche Revolution der Denk- vaux de la classe des sciences morales et politiques pendant le premier trimestre de l'an 10, in: Magasin art angeschlossen: »l'Allemagne [¼] constitue encyclopØdique 41 (1801), 250±252, zit. nach comme un immense rØservoir vers lequel con- azouvi/bourel (s. Anm. 233), 178; vgl. mercier, fluent tous les courants de la pensØe anglaise et De l'acte du moi, referiert in: p.-l. ginguenØ, No- française, comme un Ønorme entrepôt, oœ s'em- tice des travaux de la classe des sciences morales et politiques pendant le troisi›me trimestre de l'an 10, magasinent toutes les idØes esthØtiques de l'Europe. in: Magasin encyclopØdique 44 (1802), 79±83, abge- [¼] A partir de Kant, c'est l'Allemagne qui prend druckt in: azouvi/bourel (s. Anm. 233), 181±183. la direction de tout le mouvement et qui le garde, 235 Vgl. antoine destutt de tracy, De la mØtaphy- d'une façon incontestØe, jusqu'au premier tiers de sique de Kant, ou Observations sur un ouvrage inti- ce si›cle, oœ s'Øcroule le vaste Ødifice hØgØlien et tulØ ­Essai d'une exposition succincte de la critique de la raison pure¬, par J. Kinker [¼], à Amsterdam, oœ commence un travail de dØsagrØgation des 1801, in: MØmoires de l'Institut national des Sci- thØories esthØtiques, au milieu duquel nous vivons ences et des Arts. Sciences morales et politiques (Pa- encore.«237 ris 1802), in Auszügen abgedruckt in: azouvi/ bourel (s. Anm. 233), 185±208. 236 henri tronchon, Romantisme et prØromantisme a) EsthØtique ± ­cette science d'importation¬. Von (Paris 1930), 116. der ­thØorie des sensations¬ zur ­science du beau¬ 237 victor basch, Essai critique sur l'esthØtique de und ­philosophie des beaux-arts¬ Kant (Paris 1896), XIV. Der französische Erstbeleg des Terminus esthØtique 238 louis de beausobre, Dissertation sur les diffØren- als Substantiv in einem Kapitel der Dissertations phi- tes parties de la philosophie, in: Beausobre, Disserta- tions philosophiques (Berlin 1753), 163 f. losophiques des franco-berlinischen Hugenotten- 239 beausobre (s. Anm. 115). spröûlings Louis de Beausobre von 1753 reprodu- 240 beausobre (s. Anm. 238), 164. 346 ¾sthetik/ästhetisch

­diffØrentes parties de la philosophie¬ ein. Diese art. Il paroît que c'est Alexandre Baumgarten [¼] dem deutschen Kontext zugehörige Stellung- qui a mis en vogue ce mot vers l'an 1750«244.De- nahme blieb in Frankreich ohne Wirkung. nina ergänzt: »Le mot ñsthØtique tirØ du grec Auch der nächste Beleg, die Übersetzung des ai4sWanesWai, sentir, signifie à peu pr›s sentimen- einschlägigen Artikels von 1771 aus Johann Georg tal.«245 Er beobachtet Anzeichen eines Diskurs- Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste wechsels vom Verstand zum Gefühl, als deren Trä- (1771±1774) in der Schweizer EncyclopØdie d'Yver- ger er eine neue »Klasse ästhetischer Philosophen« don und in der Diderotschen EncyclopØdie241, über- nennt, die eine auf die Minderung des Unglücks nimmt mit dem Verweis auf die beaux arts die im Leben der Menschen gerichtete Tendenz mo- Bestimmung als Philosophie (oder Theorie) der derner (aufgeklärter) Philosophie verkörpern. »On schönen Künste, bezieht aber deren sensualistische a de plus renchØri sur la mØtaphysique de Locke. Wende durch Du Bos ein: »AesthØtique, [¼] philo- On avoit d'abord parlØ beaucoup de l'entende- sophie des beaux arts, ou science qui tire, tant la ment; les mØtaphysiciens plus modernes ne parlent thØorie gØnØrale que les regles des beaux-arts, de la depuis quelques annØes que de sentiment: la classe nature du goßt. Cette dØnomination a ØtØ nouvel- des philosophes ñsthØtiques s'est formØe de nos lement introduite par les philosophes d'Allemagne; jours.«246 Allerdings kann Denina die Konfusion elle signifie, suivant son Øtymologie, la science des zwischen ¾sthetik und klassischer Poetik nicht auf- sentimens, du grec Ai4svhsiû. Le but principal des lösen, wenn er an anderer Stelle mit Blick auf die beaux arts est d'exciter le sentiment vif du vrai & deutsche Literatur ¾sthetik als ein Hindernis bei du bon: ainsi il faut que sa thØorie soit fondØe sur der Reform des Bildungswesens kritisiert. Denina celle des notions confuses & des sentimens.«242 unterstellt ¾sthetik als schon seit der Antike be- In seinem Repertorium über La Prusse littØraire kannt und betont Imagination als ihren Gegenbe- sous FrØdØric II zitiert Carlo Denina 1790 zum »mot griff, weil kreativ und produktivitätsfördernd: ñsthØtique, qui est tr›s en vogue prØsentement dans »L'ñsthØtique connue des philosophes anciens a fait la littØrature allemande«243, aus einer französischen de grands progr›s depuis le milieu du si›cle. A-t- Übersetzung von Johann Joachim Eschenburgs elle contribuØ à former des potes & des orateurs, Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wis- des historiens? Les Wieland, les Gúthe, les Schiller, senschaften von 1783: »ásthØtique, dit-il, dans son les Ifland, les Babo, j'ajouterai volontiers les Her- sens le plus gØnØral, est la parfaite connoissance mes, les Muller, les Nicolaï, ont-ils appris à faire thØorique des belles lettres & des beaux arts, qui des drames qui soutiennent la reprØsentation, & embrasse non-seulement leurs fondemens com- des romans qui soutiennent la lecture par des thØo- muns, mais aussi les prØceptes particuliers de cha- ries ñsthØtiques? J'ose dire que cette science, si que science ou genre de littØrature, & de chaque c'en est une, est pour les Allemands plus nuisible qu'utile, puisqu'elle est contraire à l'essor de l'ima- gination qui chez eux ne passe pas pour †tre trans- 241 Vgl. ­Aesthetique¬, in: EncyclopØdie, ou Diction- cendante.«247 naire universel raisonnØ des connoissances humaines, Die Stelle markiert eine Spaltung des Begriffs, hg. v. F. B. de Felice, SupplØment, Bd. 1 (Yverdon 1775), 128±131; johann georg sulzer, ­EsthØti- die auf romantische Positionen vorausweist. De- que¬, in: diderot (encyclopØdie), SupplØment, nina versteht ¾sthetik als normative Poetik, die er Bd. 2 (1776), 872f. als geschichtlich überholt kennzeichnet, ohne frei- 242 ­AesthØtique¬ (s. Anm. 241), 128. lich den Kantschen Begriff der ¾sthetik als einen 243 carlo denina, La Prusse littØraire sous FrØdØric II, Bd. 2 (Berlin 1790), 186. Faktor der Ab- und Auflösung der Regelpoetik zu 244 Ebd.; vgl. johann joachim eschenburg, Ent- begreifen: »Nous ne saurions oublier à l'Øgard de wurf einer Theorie und Literatur der schönen Wis- ces thØories que les grands potes, les artistes les senschaften (Berlin/Stettin 1783), 3. plus cØl›bres ont partout prØcØdØ la thØorie de l'art. 245 denina (s. Anm. 243), 186. Je dirais plus, conformØment à l'observation que je 246 denina (s. Anm. 243), Bd. 1 (Berlin 1790), 105. 247 denina (s. Anm. 243), Bd. 3 (Berlin 1791), 29f. viens de faire: jamais les livres ñsthØtiques n'anime- [SupplØment]. ront ni pote, ni peintre, ni sculpteur autant que la V. Der europäische Begriffstransfer 347 lecture de l'histoire du vieux & du nouveau Testa- phiques«249. Wilhelm von Humboldt, der in der ment, les vies des saints & des hØros du christianisme Pariser Szene zu Hause war, hatte wohl bewuût du vieux temps. Et cela est si vrai, que les potes les auch seine französische Kurzfassung der Abhand- moins crØdules ont dß emprunter du christianisme, lung Ueber Goethe's Herrmann und Dorothea, die im m†me du catholicisme tout ce qu'on lit de plus tou- Herbst 1799 im Magasin EncyclopØdique erschien, chant dans leurs Øcrits: tØmoins Shakespeare, Mil- unter den Titel Essais ñsthØtiques gestellt. Im Text ton, Pope, Voltaire, Gesner, Klopstock.«248 Die hier kommt der Terminus sonst nicht vor. Für Wilhelm erkennbare Konfusion in der Auslegung des Be- von Humboldt, der darüber an Goethe schrieb, griffs bestimmte auch die nachfolgende Diskussion »wie man laviren muû, wenn man in deutscher in Frankreich. Richtung mit französischem Winde segeln will«250, Seit den 90er Jahren bemühten sich die Reprä- ist ¾sthetik mit »imagination poØtique«251 iden- sentanten der sog. ­Øcole allemande¬ und des um tisch. Als »die erste Formulierung der kantischen Mme de Stal gruppierten Coppet-Kreises (Char- Lehre vom interesselosen Wohlgefallen am Schö- les de Villers, Albert Stapfer, Charles de Vander- nen sowie der mit ihr verbundenen Auffassung bourg), ¾sthetik in Frankreich einzubürgern. Der von der Autonomie der Kunst in französischer Begriff wurde zunächst als mögliche Ergänzung Sprache«252 wurde der Essay kaum wahrgenom- des Sensualismus, als Kritik und Theorie der Ge- men. fühle verstanden, d.h. als ein Weg zur Überwin- Villers klagte: »il est Øvident que nous n'avons dung der Fundierung der Künste im Prinzip der point encore d'EsthØtique, et que le mot ne pouvait Nachahmung, wie es von Batteux noch einmal be- rester là oœ la chose manquoit«253. Die ¾sthetik gründet worden war. Um den Begriff den Franzo- Kants verstand er als ­Critique du goßt¬: »la partie sen verständlich zu machen, prägte die DØcade phi- rationnelle de la critique littØraire est devenue for- losophique, littØraire et politique den Neologismus mellement une science sous le nom d'EsthØtique«254. sentimentaire und wollte ¾sthetik damit von senti- An wieder anderer Stelle schreibt er: »il signifie qui mental und der sensualistischen Tradition unter- appartient au sentiment ou à la sensibilitØ. L'EsthØti- scheiden. Dieser Neologismus setzte sich jedoch que est chez les Allemands la science des r›gles, ou nicht durch. Nach Sulzers EncyclopØdie-Artikel und la thØorie qui doit servir de base aux arts dont le vor dem Erscheinen von Anton Keils Aufsatz No- but est de toucher. C'est la Critique du Goßt. tice sur la philosophie et les ouvrages de M. Kant (1796) und Charles de Villers' für die französische Rezep- tion einfluûreichem Kant-Buch Philosophie de 248 Ebd., 30 [SupplØment]. Kant, ou principes fondamentaux de la philosophie 249 [Anm. des nicht genannten Übers. eines Textes von Johann Jakob Engel], in: Recueil des pi›ces intØres- transcendentale (1801) ± den beiden Texten, die zum santes concernant les AntiquitØs, les Beaux-arts, les ersten Mal auch Gedanken der Kritik der Urteilskraft Belles-lettres, & la philosophie, Bd. 5 (Paris/Straû- in die französische ¾sthetikdebatte einbrachten ±, burg/Den Haag 1789), 184, 185. wurde der ¾sthetikbegriff auf semantisch diffuse 250 wilhelm von humboldt an Goethe (30. 5. 1800), und schillernde Weise als Theorie der Gefühle in: Goethes Briefwechsel mit Wilhelm und Alexan- der von Humboldt, hg. v. L. Geiger (Berlin 1909), und/oder der schönen Künste diskutiert und in die 125. entsprechenden anglo-französischen Traditionen 251 humboldt, Selbstanzeige der Schrift über ­Her- des Sensualismus, aber auch der Rhetorik und mann und Dorothea¬ (1899), in: humboldt, Bd. 3 Poetik eingefügt. Die Sammlung Recueil des pi›ces (1904), 4. 252 kurt müller-vollmer, Poesie und Einbildungs- intØressantes definierte 1789 »ce terme, reçu par kraft. Zur Dichtungstheorie Wilhelm von Hum- tous les savans d'Allemagne«, in diesem Sinne: »A boldts (Stuttgart 1967), 223. proprement parler, esthØtique signifie la thØorie des 253 [anonymus,d.i.] charles de villers, ConsidØ- sensations, lesquelles sont nommØes ai42sWhsiû en rations sur l'Øtat actuel de la littØrature allemande, grec«. Baumgarten war »le premier qui enseigna la par un Français, in: Le Spectateur du Nord 12 (1799), 42. philosophie des beaux-arts, qu'il appella EsthØtique, 254 villers, Essai sur l'esprit et l'influence de la RØfor- d'apr›s un syst›me fondØ sur des principes philoso- mation de Luther (1802; Paris 31808), 266. 348 ¾sthetik/ästhetisch

Quand on dit d'un produit de l'art qu'il est esthØ- auf Kunst begrenzter) ästhetischer Kritik (bzw. Ur- tique [dies ist einer der ersten adjektivischen Ein- teilskraft) und Metaphysik des Schönen und der träge ± d.Verf.], cela veut dire qu'il est conforme Kunst wahrgenommen werden konnte. Das zeigt aux r›gles de la thØorie la plus parfaite de cet art. ein aufschluûreiches Beispiel. Als Charles Vander- Une bonne EsthØtique bien systØmatique et bien bourg, der zur Øcole allemande gehörte, 1804 in ei- compl›te est encore un ouvrage à faire en fran- ner Übersetzeranmerkung zu einem Text von çais.«255 Schiller in den von ihm herausgegebenen Archives Zwischen diesen beiden Polen ± ­Kritik des Ge- littØraires de l'Europe die Schwierigkeit notierte, den schmacks¬ und ­Philosophie der schönen Künste¬ ± deutschen Begriff jugement esthØtique dem fran- oszilliert der Begriff im Verständnis verschiedener zösischen Publikum verständlich zu machen, zog Autoren, ohne daû die Konsequenz des jugement er den Schluû: »Si je me suis fait entendre sans le esthØtique aus der Kritik der Urteilskraft,d.h.die secours de ce mot, et si je n'ai pas trop dØlayØ mon von Kant begründete Unmöglichkeit einer Wis- original, ce sera une nouvelle preuve que le nØolo- senschaft des Schönen, als die eigentliche ­Wende gisme n'est pas aussi nØcessaire qu'il le paraît à zur ¾sthetik¬ verstanden worden wäre. Man muû quelques littØrateurs.«256 Dieselbe Zeitschrift gab freilich in Rechnung stellen, daû der Text der Kri- dafür an anderer Stelle diese Erklärung: »L'ásthØti- tik der Urteilskraft vor dem Erscheinen der französi- que est une science fort peu connue parmi nous, schen Übersetzung durch Jules-Romain Barni im du moins sous le nom qu'elle porte en Allemagne; Jahre 1846 kaum bekannt war. car nous possØdons d'ailleurs assez de poØtiques, de Der kunsttheoretische Klassizismus war im fran- rhØtoriques, de thØories des arts et d'essais sur le zösischen Gedächtnis (wie auch in der nach-revo- goßt, sur le beau et sur le sublime.«257 lutionären Praxis) so fest verankert, daû der Begriff Dieser Bruch zwischen jugement esthØtique ¾sthetik nicht im Sinne Kants als Fundierung der und mØtaphysique de l'art ist auch das Merkmal Unterscheidung zwischen allgemeiner (nicht nur der Vorlesungen Du vrai, du beau et du bien, die der Philosoph des Eklektizismus Victor Cousin 1818 an der Sorbonne hielt, dessen Ideen auch der Cours 255 [anonymus,d.i.] villers, [Anm. zu einem ins d'esthØtique seines Schülers ThØodore Jouffroy po- Frz. übers. Fragment Humboldts], in: Le Spectateur pularisierte, den dieser 1826 für ein privates Publi- du Nord 13 (1800), 382; vgl. tronchon (s. Anm. 236), 120f. kum in Paris hielt.258 Cousin konstatierte zwar 256 [anonymus, d.i.] charles de vanderbourg, nach seiner Deutschlandreise: »C'est le dix-hui- [Anm. d. Übers. zu einem Text von Friedrich Schil- ti›me si›cle qui a mis au monde la haute critique, ler], in: Archives littØraires de l'Europe 2 (1804), l'ñsthØtique, comme dit l'Allemagne, qui, apr›s 255; vgl. tronchon (s. Anm. 236), 121 f. 259 257 [anonymus], Gazette littØraire, in: Archives littØrai- l'avoir inventØe, l'a portØe si loin.« Doch ver- res de l'Europe 7 (1805), LXIX. stand er diese ­haute critique¬ nur als Ergänzung 258 Vgl. victor cousin, Cours de philosophie professØ der Philosophie und Moral durch eine ­science du à la FacultØ des Lettres pendant l'annØe 1818 [¼] sur beau¬.260 ¾sthetik blieb in Frankreich noch immer le fondement des idØes absolues du vrai, du beau et ein Fremdwort, ein Importartikel aus Deutschland du bien, hg. v. A. Garnier (Paris 1836); thØodore jouffroy, Cours d'esthØtique [¼] suivi de la th›se ohne präzisen begrifflichen Status. Man verwandte [¼] sur le sentiment du beau et de deux fragments den Terminus im allgemeinen lediglich zur Unter- inØdits (Paris 1843). scheidung zwischen französischer und deutscher 259 cousin, Cours de l'histoire de la philosophie Literatur und Kunst. Die Biblioth›que Germanique (Cours de 1829), Bd. 1 (Paris 1829), 28. 260 Vgl. charles lØv†que, Études sur la science du etwa nannte 1792 das »nouveau mot ñsthØtique« ei- beau (Paris 1861). nen Terminus, mit dem »on dØsigne aujourd'hui 261 [anonymus], [Rez.] Johann Christoph Schwabe, en Allemagne« »le beau idØal et sensible«261, einen Abhandlung über die Preisfrage von dem Einfluû Terminus, mit dem Werke charakterisiert würden, der Nachahmung fremder Werke auf den vaterländi- »que ne nous eßt jamais donnØs l'imitation, et que schen Geschmack (Berlin 1789), in: Biblioth›que germanique, Bd. 1 (Paris 1800), 227. la nouveautØ de leur genre nous fait dØsigner par le 262 Ebd., 248. nouveau mot ásthØtique«262. Ironisch fügte der- V. Der europäische Begriffstransfer 349 selbe anonyme Autor in einer anderen Bespre- esthØtique sei von den »faits contingents« zu unter- chung hinzu, die französische Sprache sei offenbar scheiden, mit denen sich die Poetiken als ­Anwei- »Øtrang›re encore aux beautØs ñsthØtiques«263.Die sungspoetiken¬ (Preisendanz) befassen. Die Do- Konjunktion ­beautØs ñsthØtiques¬ in dem Text ist mäne der esthØtique seien demgegenüber die »faits ein Indiz dafür, daû das Adjektiv esthØtique im we- nØcessaires et naturels«267. Mit dieser Unterschei- sentlichen (wie oft) synonym mit poØtique/poe- dung zwischen Poetik und ¾sthetik war es mög- tisch verwendet wurde.264 Allerdings wird diese lich, die Tradition des Sensualismus mit der Kant- Normierung früh relativiert durch eine Übertra- schen Kritik zu vermitteln. Alfred Michiels, Autor gung der Geschmackstheorien auf die Produktion einer Histoire des idØes littØraires en France au XIXe und Zirkulation der Waren im Übergang von der si›cle (1842), plädierte 1840 für ein Verständnis von Manufaktur- zur Industrieperiode. Die Probleme ¾sthetik als Kritik des Geschmacks, um »appuyer der »influence de la consommation et du goßt sur la critique sur une base solide«268. Die schon da- la production, et rØciproquement«, weist der Autor mals science littØraire genannte Literaturwissen- eines Plan de technonomie (1819) dem Aufgabenbe- schaft, die er vor allem im Auge hatte, könne nur reich einer esthØtique industrielle als einer am Ge- mit Hilfe einer ¾sthetik aus dem »bavardage im- schmack der Konsumenten orientierten und ihn pertinent«269 herauskommen: »Il faut cependant le regulierenden ­Warenästhetik¬ zu: »il y a d'autant crier sans relâche: on ne tirera la science littØraire plus d'instabilitØ dans les goßts que l'industrie est du banc de sable oœ elle git engravØe depuis si moins perfectionnØe; et ce n'est que lorsqu'elle est longtemps, qu'au moyen de l'esthØtique.«270 Aller- arrivØe à un assez haut degrØ d'avancement, qu'elle dings blieben diese Präzisierungen des Begriffs rØagit puissamment sur la consommation, et qu'elle durch seine Unterscheidung von der traditionellen s'exerce à rØgler le goßt sans l'asservir, en mettant Poetik immer mit dem Anspruch gekoppelt, ¾s- de l'ordre et une sage rØserve dans l'art de varier les thetik als eine selbständige Wissensdisziplin im formes de ses produits. Ceci est le principal objet Sinne von science du beau in der Ordnung des de ce qu'on peut appeler l'esthØtique industrielle.«265 Wissens und der Wissenschaften zu verankern. Das Einen neuen begriffsgeschichtlichen Akzent ist um 1840 kein reines ­Miûverständnis¬ ihres in brachte der germanophile und utopisch-sozialisti- Deutschland etablierten (auch dort nicht einheitli- sche Globe seit seinem Erscheinen 1825 in die an chen) Begriffs, sondern entspricht ziemlich genau der deutsch-französischen Differenz der Literatur- der post-kantianischen Konstellation, in der die und Kunstkritik orientierte und interessierte De- Analyse des jugement esthØtique oder der facultØ batte. Ende der 20er Jahre wird esthØtique damit auch im Zusammenhang der französischen querelle 263 [anonymus], [Rez.] Zeichnungen auf einer Reise romantique als ein Kriterium zur Erklärung der Be- von Wien über Triest nach Venedig (Berlin 1800), griffe classique und romantique gebraucht, wie ein in: ebd., 253. anonymer Autor in einer Studie über Victor Hugo 264 Vgl. karlheinz barck, Poesie und Imagination. 1833 im Europe littØraire anmerkte. Anders als in Studien zu ihrer Reflexionsgeschichte zwischen Frankreich hätten die Begriffe ­klassisch¬ und ­ro- Aufklärung und Moderne (Stuttgart/Weimar 1993). 265 gØrard-joseph christian, Vues sur le syst›me mantisch¬ in Deutschland eine präzise Konnota- gØnØral des opØrations industrielles, ou Plan de tech- tion, »parce que c'est en Allemagne que la dis- nonomie (Paris 1819), 142, 146. cussion entre l'esthØtique ancienne et l'esthØtique 266 [anonymus], Traveaux littØraires de M. Victor moderne a commencØ sous son vØritable point de Hugo, in: L'Europe littØraire. Journal de la littØrature nationale et Øtrang›re 2 (1833), 67. 266 vue« . Charles Magnin, der mit Heine befreun- 267 charles magnin, [Rez.] Emmanuel Nicolas Viol- dete Kritiker des Globe, hatte 1829 mit der Forde- let-Leduc, PrØcis d'un traitØ de poØthique et de ver- rung, Poetik und ¾sthetik endlich einmal klar und sification (1), in: Le Globe 7 (1829), 637. streng zu unterscheiden (»Øtablir une prompte et 268 alfred michiels, Études sur l'Allemagne, refer- compl›te sØparation«), neue Perspektiven für ein mant une histoire de la peinture allemande, Bd. 1 (Paris 1840), VI. den Begriff esthØtique eröffnendes Fazit aus den 269 Ebd., Bd. 2 (Paris 21850), 192. bisherigen französischen Debatten gezogen. Die 270 Ebd., Bd. 1, VI. 350 ¾sthetik/ästhetisch de juger zugunsten der systematisch orientierten nicht mehr in der Tradition von Batteux) zu be- Kunstphilosophie verdrängt worden war. Schopen- gründen und mit wahrnehmungspsychologischen hauer repräsentiert diese Wende zur Metaphysik Phänomenen zu vermitteln: »La sensation est l'ñs- des Schönen durch seine Überwindung ihres thesis des Grecs. L'esthØtique sera le nom de la Kantschen Begriffs. Kant »geht immer nur von science de la sensibilitØ«. »Les Allemands donnent den Aussagen Anderer aus, vom Urtheil über das aussi ce nom d'esthØtique à la science du beau, à la Schöne, nicht vom Schönen selbst.«271 thØorie des arts. Ce nom vient de la maxime le EsthØtique bleibt bis etwa Mitte des Jh. in beau se sent; il signifie la science du sentiment du Frankreich eher Name als Begriff für eine neue beau; et sous cette signification il est presque admis (anti-rhetorische) Kritik, die dann später unter der en français. Kant l'a repris dans le sens pur et gØnØ- Bezeichnung wissenschaftliche ¾sthetik einen ei- ral que lui donne l'Øtymologie.«273 Eine andere genständigen begrifflichen Status bekommen wird. Autorin, Amable Tastu, identifizierte in einem Ta - Was ein Schweizer Autor, Adolphe Peschier, 1836 bleau über die deutsche Literatur ¾sthetik als »criti- in seiner Histoire de la littØrature allemande schrieb, que gØnØrale appelØe esthØtique (science du beau), war eher Wunschdenken aus deutscher Sicht als c'est-à-dire celle qui, au lieu de se borner à l'exa- französische Realität: »la science de l'esthØtique ac- men des úuvres d'art, en Øtablit la thØorie et en quiert chaque jour en France plus d'Øtendue et de pose les r›gles d'apr›s les lois des convenances gØ- profondeur«. Gleichwohl: »Le mot m†me d'esthØ- nØrales. Cette critique est à l'autre ce que l'alg›bre, tique Øtait à peine connu en France, que l'Allema- qui op›re sur des quantitØs abstraites, est à l'arith- gne citait avec orgueil les thØories de Kant, de mØtique, qui proc›de avec des nombres positifs.«274 Herder, de Schiller, de Goethe, de Jean Paul, [¼] RØmusats Urteil ist auch insofern aufschluûreich, une vocation toute spØciale pour discuter, com- als die französische Akademie 1852 Charles BØnards menter, analyser ce que crØa le gØnie«272. Übersetzung von Hegels ¾sthetik (Cours d'esthØti- Man sieht, daû die Kantschen Bestimmungen que, 1840±1852) prämiert hatte, nicht ohne Zweifel des ästhetischen Urteils als ­regellos¬ nicht rezipiert anzumelden, wie der Berichterstatter Abel-Fran- (oder nicht begriffen) werden, weil sie besonders çois Villemain bemerkte: »On doutait qu'il fßt für den Unterricht als zu schwierig gelten. Selbst sØant et exemplaire d'admettre, m†me à discussion, ein dem Globe und dem socialisme romantique so une thØorie des arts inaugurØe sous les auspices eng verbundener Kritiker wie Charles de RØmusat d'une philosophie qui passait pour avoir inquiØtØ la hielt noch 1842 an dem Anspruch fest, ¾sthetik als morale et mØconnu la DivinitØ.«275 BØnard hatte Wissenschaft der schönen Künste (wenn auch seinen Kommentar der Hegelschen ¾sthetik in ei- nem eigenen Buch von 500 Seiten als Band 5 sei- 271 , Die Welt als Wille und ner Übersetzung folgen lassen. Es war die bis dahin Vorstellung (1819), in: schopenhauer, Bd. 2 gründlichste Darstellung der ¾sthetik als Philoso- (21949), 629; vgl. schopenhauer, Parerga und phie der Kunst in Frankreich, deren Text noch für Paralipomena (1851), in: ebd., Bd. 6 (21947), 442± die Hegelrezeption der Surrealisten maûgebend 481. war. BØnards Beschluû, der die Konfusion im Ver- 272 adolphe peschier, Histoire de la littØrature alle- mande, Bd. 1 (Paris/Genf 1836), 18, 21. ständnis von ¾sthetik nun in Hegels Bahnen kana- 273 charles de rØmusat, De la philosophie de Kant, lisierte, lautete: »L'ouvrage de Hegel [¼] nous in: RØmusat, Essais de philosophie, Bd. 1 (Paris paraît le mieux reprØsenter jusqu'ici cette branche 1842), 280. intØressante du savoir humain qui s'appelle l'esthØ- 274 amable tastu, Tableau de la littØrature allemande depuis l'Øtablissement du christianisme jusqu'à nos tique, ou la philosophie de l'art. On lui a reprochØ jours (Tours 1843), 94f. d'†tre presque enti›rement conçu en dehors de la 275 abel-françois villemain, Rapports sur les con- mØtaphysique de l'auteur. C'est probablement ce cours [de l'AcadØmie française] de 1852 (19 aoßt qui le fera vivre plus longtemps que le syst›me.«276 1852), in: Villemain, Choix d'Øtudes sur la littØrature Um 1850 war in Frankreich der Terminus esthØ- contemporaine (Paris 1857), 103. 276 charles bØnard, Hegel, Philosophie de l'art. Essai tique als Bezeichnung für eine Theorie des Schö- analytique et critique (Paris 1852), 506. nen nahezu inflationär geworden. Das von dem V. Der europäische Begriffstransfer 351

AbbØ Esprit-Gustave Jouve im Rahmen der Troi- de l'idØe du beau; 2 du beau dans la nature; 3 du si›me et derni›re EncyclopØdie thØologique (1855±1866) beau dans l'art; 4 de la nature de l'art; 5 du but von Jacques-Paul Migne 1856 veröffentlichte Dic- de l'art. On peut les rØduire à deux grandes thØo- tionnaire d'esthØtique chrØtienne präsentierte sich z.B. ries: thØorie du beau considØrØ d'une mani›re gØ- dem Publikum als eine Enzyklopädie »de l'esthØti- nØrale, et thØorie de l'art.«282 que sacrØe«, die das Konzept der ­poØtique chrØ- tienne¬ (Chateaubriand) unter dem neuen Namen b) Zwischen Künstlerästhetik und als Kriterium der Unterscheidung von »beau idØal wissenschaftlicher ¾sthetik divin« und »beau idØal humain«277 applizierte. Seit der Romantik verliert die traditionelle Verbin- Zwischen 1790 und 1850/60 signalisiert esthØtique dung von Theorie des Schönen und normativer in einer diffusen begrifflichen Verwendung das all- Kunstdoktrin gewissermaûen unterschwellig (d.h. gemeine Bestreben, »à rajeunir la critique gØnØ- auûerhalb der kanonisierten akademischen Philo- rale«278. Wie Alfred Maury 1864 rückblickend fest- sophie) an Geltung. Sie bleibt als eine Sparte der stellte, schärften die deutschen Ideen zur ¾sthetik Philosophie im akademischen Betrieb zwar weiter »notre critique, sans pourtant se naturaliser beau- bestehen, doch gewinnt der Gebrauch des Termi- coup parmi nous«279. nus esthØtique unter Künstlern der Moderne nach EsthØtique im Sinne des Kantschen Begriffs der und nach den Status eines Gegenbegriffs zur nor- ¾sthetik, dem zufolge das ästhetische Urteil eine mativen klassizistischen Poetik, womit sich die von Funktion der Auflösung der alten Ordnung des Charles Magnin im Globe geforderte Trennung Wissens wahrnehmen könnte, blieb in Frankreich von Poetik und ¾sthetik durchsetzt. Derselbe Ter- zunächst Utopie. Charles LØv†que, renommierter minus esthØtique bezeichnet dabei mindestens Repräsentant der akademischen ¾sthetik in Paris zwei gegensätzliche Begriffe, die sich durch gegen- um die Jahrhundertmitte, hat diese für Frankreich sätzliche Bestimmungen des Schönen unterschei- unüberschreitbare Grenze im Kant-Kapitel seiner den, was eine Folge seiner Vereinnahmung durch Études sur la science du beau deutlich benannt, indem die akademische Philosophie ist. er den Grundsatz der Kritik der Urteilskraft als unan- Baudelaire historisierte (wie zuvor schon Edgar nehmbar zurückwies: »La conclusion de la Criti- Allan Poe, den ThØophile Gautier mit dem neuen que du jugement esthØtique, c'est qu'il ne peut y Personalsubstantiv »un esthØticien de premi›re avoir de science du beau.«280 Flaubert hat das Buch force«283 bedachte) 1863 den Begriff des Schönen sarkastisch als akademisches Geschwätz kommen- im Sinne des beau relatif »en opposition avec la tiert: »Je lis maintenant l'esthØtique du sieur LØves- thØorie du beau unique et absolu«284. Kontext die- que, professeur au Coll›ge de France! Quel crØtin! ses Kontrastes war seine Reflexion über die Mode Brave homme du reste, et plein des meilleures in- und über das »plaisir que nous retirons de la reprØ- tentions. Mais qu'ils sont drôles, les universitaires, du moment qu'ils se m†lent de l'Art!«281 In den Wörterbüchern und Enzyklopädien des 277 esprit-gustave jouve, Dictionnaire d'esthØtique 19. Jh. ist die unterschiedliche Begriffsentwicklung chrØtienne, ou ThØorie du beau dans l'art chrØtien, l'architecture, la musique, la peinture, la sculture et in gleichsam versteinerter Form eingetragen. So leurs dØrivØs (Paris 1856), 3. etwa im repräsentativen Grand dictionnaire universel 278 tronchon (s. Anm. 236), 164. du XIXe si›cle (1866±1888) von Pierre Larousse, 279 alfred maury, L'ancienne AcadØmie des inscrip- das esthØtique als neuen Zweig der Philosophie fi- tions et belles-lettres (Paris 1864), 379. 280 lØv†que (s. Anm. 260), 519. xiert, deren Gegenstandsbereich das Schöne sei: 281 gustave flaubert an Edma Roger des Genettes »L'esthØtique est cette branche des sciences philoso- (18. 6. 1873), in: Flaubert, Correspondance, hg. v. J. phiques qui a pour objet le vaste empire du beau; Bruneau, Bd. 4 (Paris 1998), 677. c'est tout à la fois la science du beau et la philoso- 282 ­EsthØtique¬, in: larousse, Bd. 7 (1870), 967. thØophile gautier, Charles Baudelaire (1867), in: phie de l'art ou des beaux-arts. Les questions gØnØ- 283 Gautier, Portraits contemporains (Paris 1881), 161. rales dont s'occupe l'esthØtique sont ordinairement 284 charles baudelaire, Le Peintre de la vie mo- rangØes sous les chefs suivants: 1 du sentiment et derne (1863), in: baudelaire, Bd. 2 (1976), 685. 352 ¾sthetik/ästhetisch sentation du prØsent«, worin die Moral aus einer ein Grundprinzip (s)einer ¾sthetik der Modernität zeitgebundenen ¾sthetik hervorgehe: »c'est la mo- als eine »Formel echter ¾sthetik« charakterisiert, rale et l'esthØtique du temps«285. Mit dem Schritt dann kann man diese Selbstreflexion auf die eigene zu einer ­¾sthetik der Zeit¬ bekommt der »Zeitbe- künstlerische Praxis (und auf die kongeniale ande- zug [¼] seine eigene ¾sthetik, die freilich nicht rer Künstler) als semantisches Indiz einer indivi- eine ¾sthetik des Schönen, sondern eine ¾sthetik duellen Künstlerästhetik verstehen, die nun einlöst, des Interessanten ist, mit der Baudelaire an die was Denina prognostiziert hatte: die Fundierung anti-klassizistische ¾sthetik des Interessanten in der der ¾sthetik im Begriff der Imagination: »la for- Spätaufklärung anknüpft«286. Im Essay über Gau- mule principale, oœ est [¼] contenu tout le for- tier (1859) attestierte Baudelaire diesem im Gegen- mulaire de la vØritable esthØtique, et qui peut †tre satz zu dem auf der Pariser Industrieausstellung exprimØ ainsi: Tout l'univers visible n'est qu'un von 1855 versammelten »concile esthØtique«, daû magasin d'images et de signes auxquels l'imagina- er einer der ersten gewesen sei, der in seinen Sa- tion donnera une place et une valeur relative; c'est lons und Reiseberichten die Relativität verschie- une esp›ce de pâture que l'imagination doit digØ- dener nationaler Schönheitskonzepte erkannt und rer et transformer.«290 unterschieden habe: »le beau asiatique, le beau Solche Konnotationen des Begriffs esthØtique grec, le beau romain, le beau espagnol, le beau fla- bleiben auch im êuvre Baudelaires noch verein- mand, le beau hollandais et le beau anglais«287. zelt. Sie sind jedoch auf einen theoriegeschichtli- E.T.A. Hoffmanns Erzählung Prinzessin Brambilla chen Kontext zu beziehen, der seit den 40er Jahren erschien Baudelaire 1855 »comme un catØchisme durch die Publikation mehrerer Standardwerke zur de haute esthØtique«288. Die Tradition einer mo- ¾sthetik und durch die Übersetzung deutscher ¾s- dernen ¾sthetik, die seit Walter Benjamin mit dem thetiken gekennzeichnet ist: 1843 erschien ThØo- Namen Baudelaire auch begriffsgeschichtlich ver- dore Jouffroys Cours d'esthØtique; 1842 Schellings knüpft ist und die mit der »fameuse doctrine de Syst›me de l'idØalisme transcendental in der Überset- l'indissolubilitØ du Beau, du Vrai et du Bien« als ei- zung von Paul Grimblot; 1846 Jules-Romain Bar- ner »invention de la philosophaillerie moderne« nis Übersetzung von Kants Critique du jugement; gebrochen hat, sah Baudelaire verkörpert durch 1847 Charles BØnards Übersetzung von Schellings drei Instanzen: Rousseau und die Romantik, Poe Ecrits philosophiques; 1840±1852 von demselben die und den Satanismus, denen es gelungen war, die Übersetzung von Hegels Cours d'esthØtique in 5 »schönen Strahlen der ästhetischen Sonne« aufzu- Bänden; 1856 Adolphe Pictets Du beau dans la na- fangen: »Des hØrØsies Øtranges se sont glissØes dans ture, l'art et la poØsie. Études esthØtiques. Heines De la critique littØraire. Je ne sais quelle lourde nuØe, l'Allemagne, 1835 in 1. und 1855 in 2. Auflage er- venue de Gen›ve, de Boston ou de l'enfer, a inter- schienen, war in Pariser Künstler- und Kritiker- ceptØ les beaux rayons du soleil de l'esthØtique.«289 kreisen bekannt und spielte in den Debatten über Wenn Baudelaire schlieûlich im Salon de 1859 ¾sthetik eine Rolle. In einem 1823 erstmals ge- druckten Gedicht aus dem Buch der Lieder (»Sie sa- ûen und tranken am Theetisch, / Und sprachen 285 Ebd., 684. von Liebe viel. / Die Herren, die waren ästhetisch, 286 karlheinz stierle, Der Mythos von Paris. Zei- / Die Damen von zartem Gefühl.«) gebrauchte chen und Bewuûtsein der Stadt (München/Wien Heine das Adjektiv ästhetisch als Persiflage auf das 1993), 719. deutsche ästhetische Geschwätz. GØrard de Nerval 287 baudelaire, ThØophile Gautier [I] (1859), in: baudelaire, Bd. 2, 123. schuf eine holprige französische Prosaversion, in 288 baudelaire, De l'essence du rire (1855), in: ebd., der durch die Übertragung des Adjektivs ins Sub- 542. stantiv der Pfiff verlorenging: »Assis autour d'une 289 baudelaire (s. Anm. 287), 111. table de thØ, ils parlaient beaucoup de l'amour. Les baudelaire, Salon de 1859, in: ebd., 627. 290 hommes faisaient de l'esthØtique, les dames fai- 291 heinrich heine, Buch der Lieder (1827), in: heine (hsa), Bd. 1 (1979), 83; frz. v. G. de Nerval, in: saient du sentiment.«291 ebd., Bd. 13 (1978), 86. Wie Baudelaire hat auch Flaubert die meisten V. Der europäische Begriffstransfer 353 dieser Schriften zur Kenntnis genommen, wie wir sont plus variØs que deux yeux droits et produisent aus den Carnets de travail wissen. Marcel Proust be- moins bon effet, ordinairement. suchte in den 80er/90er Jahren Gabriel SØailles von Ils abord›rent la question du Sublime. [¼] Schelling inspirierte ¾sthetikvorlesungen im priva- Ils se perdaient ainsi dans les raisonnements. ten Kreise. Zwischen 1810 und 1870 wurden in Bouvard, de moins en moins, croyait à l'esthØti- Frankreich etwa 30 Th›ses zu ästhetischen The- que.«294 men (vor allem über die deutsche Tradition) veröf- War in den Künstlerästhetiken die Historisie- fentlicht.292 Man kann also davon ausgehen, daû in rung der Schönheitskonzepte das Ergebnis einer der 2. Hälfte des 19. Jh. ¾sthetik als Thema und als Kritik an normativer Poetik und Rhetorik, die diffuser Begriff in Frankreich verbreitet war. sich mit Argumenten der deutschen ¾sthetikde- Das kann man Flauberts Fragment gebliebenem batte ausrüstete und begrifflich diffus blieb, so kam Roman Bouvard et PØcuchet entnehmen, an dem der es in der 2. Jahrhunderthälfte zu einer Profilierung Autor seit Mitte der 70er Jahre arbeitete. Die Dis- der ¾sthetik (und ihres Begriffs) im Rahmen einer kussion der beiden Protagonisten über ¾sthetik neuen epistemologischen Konstellation. Diese belegt jene Verbreitung wie auch Flauberts eigene Konstellation stand im Zeichen einer interdiszipli- reserviert-ironisierende Haltung gegenüber der nären Orientierung in den Wissenschaften, die ­qualitØ occulte¬ der neuen Wissenschaft in ihren von der jungen Experimentalpsychologie ausging, akademischen Formen. Die Stelle im Roman zeigt wie sie in Deutschland Gustav Theodor Fechner aber auch (wie schon Baudelaire), daû mit der Plu- begründet hatte und die als Psychophysik einen ralisierung von Schönheitskonzepten die von der »psychophysical turn of events in the 1860s and akademischen Philosophie traktierten ästhetischen 1870s«295 einleitete. Die Psychophysik wurde ver- Allgemeinbegriffe obsolet geworden waren. Un- standen als »a science whose object of study is the entschieden über die Form des von den Protagoni- nature of sense experience«296. Als solche befaûte sten geplanten Romans ± »PØcuchet Øtait pour le sie sich unter wahrnehmungspsychologischen Ge- sentiment et l'idØe, Bouvard pour l'image et la sichtspunkten mit den Künsten und ihrer aistheti- couleur«293 ± befragen sie die ¾sthetik: schen Funktion. Lessings Laokoon weiterführend, »La science qu'on nomme esthØtique trancherait wurden die Künste nicht nur nach ihren Mitteln peut-†tre leurs diffØrends. Un ami de Dumouchel, voneinander unterschieden, sondern auch nach professeur de philosophie, leur envoya une liste Kriterien psychischer und sinnesphysiologischer d'ouvrages sur la mati›re. [¼] Reaktionen auf seiten der Individuen. Der Begriff, D'abord, qu'est-ce que le Beau? so könnte man sagen, wurde aisthetisch bestimmt, Pour Schelling, c'est l'infini s'exprimant par le und die Künste wurden medial differenziert. Mit fini; pour Reid, une qualitØ occulte; pour Jouffroy, der sinnesphysiologischen Fundierung der ¾sthetik un fait indØcomposable; pour De Maistre, ce qui wird deren Begriff auch nach den einzelnen Kün- plaît à la vertu; pour le P. AndrØ, ce qui convient à sten unterschieden. In einer musiktheoretischen la raison. Schrift, die er EsthØtique musicale nannte, hatte Ca- Et il existe plusieurs sortes de Beau: un beau dans les sciences, la gØomØtrie est belle; un beau dans les múurs, on ne peut nier que la mort de Socrate ne soit belle; un beau dans le r›gne animal; la beautØ du chien consiste dans son odorat. Un 292 Vgl. anne henry, Marcel Proust. ThØories pour une esthØtique (Paris 1983), 83. cochon ne saurait †tre beau, vu ses habitudes im- 293 flaubert, Bouvard et PØcuchet (1881), in: Flau- mondes; un serpent non plus, car il Øveille en nous bert, êuvres, hg. v. A. Thibaudet/R. Dumesnil, des idØes de bassesse. Bd. 2 (Paris 1952), 839. Les fleurs, les papillons, les oiseaux peuvent †tre 294 Ebd., 840f. 295 josØ a. argüelles, Charles Henry and the Forma- beaux. Enfin la condition premi›re du Beau, c'est tion of a Psychophysical Aesthetic (Chicago/Lon- l'unitØ dans la variØtØ, voilà le principe. don 1972), 20. ± Cependant, dit Bouvard, deux yeux louches 296 Ebd., 28. 354 ¾sthetik/ästhetisch mille Durutte 1855 als erster den Begriff ¾sthetik »En somme, ce qui a fatalement retardØ l'av›ne- auf eine partikulare Kunst bezogen.297 ment de la mØthode scientifique est la complexitØ Mit dem Entwurf einer wissenschaftlichen ¾s- m†me du probl›me. On ne pouvait Øtudier l'im- thetik, die der englische Mathematiker und Phy- pression subjective des mouvements, des couleurs, siologe Charles Henry 1885 in Frankreich in der des sons musicaux et articulØs lorsque la philoso- Revue contemporaine skizziert und begründet hat, phie naturelle n'avait encore distinguØ, classØ, for- sollte ¾sthetik als Gegenbegriff zur philosophi- mulØ ces objets« (444f.). Henry, der sich fürs Rad- schen ¾sthetik auf naturwissenschaftliche Grundla- fahren begeisterte und eine Artikelserie zum gen gestellt werden. Die in 26 Punkten erläuterten ­cyclisme¬ verfaûte299, war nicht nur der wichtigste »Principes d'EsthØtique mathØmatique et expØri- Theoretiker des Impressionismus und des Symbo- mentale«298 modellieren die Wahrnehmung im lismus, er hat mit dem Gesetz des geringsten Auf- ­Konzert der Sinne¬ ± z.B. synästhetische Phäno- wandes als einer auch ästhetischen Einstellung mene wie die audition colorØe, das Farbklavier, ebenfalls den Weg für Entwicklungen geebnet, die rhythmische Frequenzen. Die »EsthØtique des cho- dann unter dem Namen und dem Begriff einer es- ses« (466) genannten dynamisch-energetischen Ei- thØtique industrielle im 20. Jh. eine Rolle spielen genschaften sinnlicher Kontaktzonen beschreibt werden. In einem Interview mit Jules Huret erläu- Henry als je eigene Reaktionsformen, die er »es- terte er diese Perspektiven in einem auch politi- thØtique des couleurs«, »esthØtique des lignes« schen Zusammenhang wie folgt: »Je ne crois pas à (454) oder generell »EsthØtique des formes« (445) l'avenir du psychologisme ou du naturalisme, ni, nannte. Wissenschaftliche ¾sthetik ist keine ­sci- en gØnØral, de toute Øcole rØaliste. Je crois au con- ence du beau¬, weil sie keine Kriterien zur Unter- traire à l'av›nement plus ou moins prochain d'un scheidung des Schönen in verschiedenen Realisie- art tr›s idØaliste, mystique m†me, fondØ sur des rungen an die Hand gibt. »Le sentiment de la techniques absolument nouvelles. Je le crois parce beautØ se rØsout dans la perception d'un nombre que nous assistons à un dØveloppement et à une infini de rhythmes avec le moindre effort possible, diffusion de plus en plus grandes des mØthodes c'est-à-dire dans l'infiniment petit de temps.« (467) scientifiques et des efforts industriels; l'avenir Øco- Henrys Begriff wissenschaftlicher ¾sthetik als »Es- nomique des nations y est engagØ et les questions thØtique des formes« (445) ± »autre chose est la sociales nous y forcent, car, en somme, le probl›me vØritØ mØtaphysique et autre chose la vØritØ scienti- de la vie progressive des peuples se rØsume ainsi: fique« (442) ± vermittelt zwischen der künstleri- ­fabriquer beaucoup, à bon marchØ et en tr›s peu de schen Moderne ± »combien l'art d'Edgar PoØ et de temps.¬«300 Charles Baudelaire a exaltØ la Science« (444) ± und Die Konfusion über den Begriff der ¾sthetik in den Forschungen über die Sinnesempfindungen: Frankreich löst sich am Ende des Jh. auf in der Un- terscheidung einer normativen philosophischen ¾sthetik ± »on peut et doit entendre sous ce mot 297 Vgl. camille durutte, EsthØtique musicale, ou toute rØflexion plus ou moins philosophique sur lois gØnØrales du syst›me harmonique (Paris 1855). l'art«301 ± von einer jede Bindung an einen norma- 298 charles henry, Introduction à une EsthØtique scientifique, in: La Revue contemporaine littØraire, tiven Schönheitsbegriff unterlaufenden Künstleräs- politique et philosophique 2 (1885), 453. thetik. Benjamin Fondane hat in einem Faux TraitØ 299 Vgl. argüelles (s. Anm. 295), 92. d'esthØtique (1938) »la contemplation«, »le beau« 300 henry, [Interview], in: jules huret, Enqu†te sur und die ¾sthetik als Wissenschaft vom Schönen als l'Øvolution littØraire (Paris 1891), 414. 301 charles lalo/Øtienne souriau/raymond »choses absolument pØrimØes« bezeichnet, welche bayer, Que sera la ­Revue d'EsthØtique¬?, in: Re- »l'humanitØ, assoiffØe de justice, ne peut plus se vue d'EsthØtique 1 (1948), 1. permettre«302. Das war auch ein Nekrolog auf ein 302 benjamin fondane, Faux TraitØ d'esthØtique ­projet d'esthØtique spiritualiste¬303, das nach dem (1938; Paris 1998), 123. Deutsch-Französischen Krieg ¾sthetik als gallo- 303 Vgl. georges simon, Pour un Projet d'EsthØtique Spiritualiste, in: La RØnovation esthØtique 1 (1905), zentrische Kunstreligion instrumentalisierte, als 314±321. »partie formidable entre le gØnie du Nord et celui V. Der europäische Begriffstransfer 355 du Midi. L'enjeu n'est rien moins que l'hØgØmonie schiedenen »formes esthØtiques« oder »catØgories intellectuelle de l'Occident.« »Il faut donc repous- esthØtiques«309 geäuûert und daraus später die Idee ser la mØthode allemande comme une contradic- entwickelt, die europäischen geschichtlichen Zu- tion de nos facultØs.«304 Die ­suprØmatie du goßt sammenhänge der ¾sthetik seit der Aufklärung français¬305 war auch das Programm der von Émile »dans le vocabulaire international de l'esthØti- Bernard redigierten Kunst- und Literaturzeitschrift que«310 darzustellen. Damit war Basch der erste, La RØnovation esthØtique. Revue de l'Art le meilleur, der eine Geschichte der ¾sthetik als Geschichte äs- die 1905±1910 in 10 Bänden erschien: »Il est donc thetischer Begriffe in internationalem epochenge- exact que l'úuvre d'art est un acte de foi et que schichtlichem Vergleich konzipierte. Die Ge- l'esthØtique est la foi m†me qui le dicte.«306 Und schichte ästhetischer Kategorien wurde für ihn wie RØmy de Gourmont forderte im Namen von ¾s- für seine Mitarbeiter und Nachfolger bei der Erar- thetik als einer kosmetischen Schönheitslehre ei- beitung eines ästhetischen Wörterbuchs311, Charles nen radikalen Sprachpurismus des Französischen: Lalo, Étienne Souriau, Raymond Bayer und Anne »EsthØtique de la langue française, cela veut dire: Souriau, ein anti-normativistisches Unternehmen, examen des conditions dans lesquelles la langue für das sich sagen läût: »Chaque catØgorie se situe française doit Øvoluer pour maintenir sa beautØ, [¼] dans un rØseau d'interrelations complexes et c'est-à-dire sa puretØ originelle.«307 toujours extensibles, qui offre un champ d'action Die Überwindung solcher nationalistischer In- infini à l'invention de l'artiste et à la rØflexion de strumentalisierungen wurde erst möglich durch l'esthØticien.«312 eine Wendung der ästhetischen Reflexion von der Karlheinz Barck Spekulation über das Schöne zu Analysen von Modi der Anschauung und Wahrnehmung, in de- 2. England nen Urteile über Schönheit als geschichtlich rela- tive thematisiert werden. Dieser Übergang vollzog a) Barrieren der Rezeption sich in Frankreich am Ende des Jh. im Rahmen Aesthetics, die heute mehrheitlich verwendete der Kant-Rezeption, die Positionen der ­Querelle Schreibweise, bezog sich am Anfang der Begriffs- des anciens et des modernes¬ aktualisierte. Zwei entwicklung in England als ein Kollektivsingular Beispiele sollen das abschlieûend illustrieren. in der Tradition des Empirismus und Sensualismus Der Physiologe Charles FØrØ veröffentlichte 1887 eine Schrift über Zusammenhänge zwischen Sinnesempfindung und Bewegung, die das Kon- 304 josØphin pØladan, Introduction à l'esthØtique (Pa- zept eines (von Nietzsche mit Interesse registrier- ris 1907), 31, 60. 305 Vgl. pierre hautefeuille, De la SuprØmatie du ten) ­ästhetischen Dynamometers¬ als Klarifi- Goßt Français, in: La RØnovation esthØtique 1 zierung der Kantschen ¾sthetik vorstellte: »Les (1905), 290±302. sensations agrØables s'accompagnent d'une aug- 306 Ømile bernard, L'EsthØtique et les EsthØtiques, in: mentation de l'Ønergie, tandis que les dØsagrØables La RØnovation esthØtique 2 (1905/06), 146. 307 rØmy de gourmont, EsthØtique de la langue fran- s'accompagnent d'une diminuation. La sensation çaise (Paris 1899), 7. de plaisir est rØsout donc dans une sensation de 308 charles fØrØ, Sensation et mouvement. Études ex- puissance; la sensation de dØplaisir dans une sensa- pØrimentales de psycho-mØcanique (Paris 1887), 61; tion d'impuissance. Nous en sommes donc arrivØs vgl. hans erich lampl, Vivre et mourir ± debout. à la dØmonstration matØrielle des idØes thØoriques Texte zu Friedrich Nietzsche (Cuxhaven 1993), 63. 309 basch (s. Anm. 237), 593; vgl. ebd., 557, 603f. Ømises avec plus ou moins de clartØ par Kant, par 310 anne souriau, Les catØgories esthØtiques (1968), Bain, par Darwin, par Dumont, sur le plaisir et la in: Encyclopaedia universalis, Bd. 6 (Paris 81975), douleur«308. 567; vgl. Øtienne souriau, [Vorbemerkung], in: Victor Basch, den die Gestapo 1944 als 82-jähri- Vocabulaire d'esthØtique, in: Revue d'esthØtique 16 gen in Lyon ermordete, hatte sich bereits in seiner (1963), 167 f. 311 Vgl. Øtienne souriau/anne souriau (Hg.), Vo- Dissertation Essai critique sur l'esthØtique de Kant cabulaire d'EsthØtique (Paris 1990). (1896) gelegentlich zum Zusammenhang der ver- 312 anne souriau (s. Anm. 310), 569. 356 ¾sthetik/ästhetisch auf ­senses¬, ­sentiments¬ und ­emotions¬. Aesthetic wort¬ vor dem Hintergrund der eigenen Tradition: (oder auch ­esthetic¬) hat grundsätzlich keine davon zum einen derjenigen der kunstkritischen Öffent- abweichende Bedeutung. Der Singular, dies ver- lichkeit mit den zentralen Begriffen critic/criti- weist auf die Anfänge des Begriffstransfers, ist ent- cism und taste, zum anderen der des Sensualismus. standen aus der ­engen¬ Übertragung von ¾sthetik Es ergibt aus Sicht dieser Tradition wenig Sinn, ei- und esthØtique. Im Unterschied zur Entwicklung nen Namen zu erfinden, hinter dem sich offenbar in Frankreich wird der Terminus aesthetics (bzw. nicht mehr verbirgt als das, was man seit langem in die Ableitungen aesthetic und aesthetical) weder in Praxis und Theorie bietet: die an konkreten Pro- der philosophischen oder kunsttheoretischen Re- zessen und Werken geschulte Kunstkritik sowie flexion des 18. Jh. zur Kenntnis genommen, noch die Reflexion der Grundlagen sinnlicher Erkennt- findet er in den ersten Jahrzehnten des 19. Jh. Ein- nis seit Locke. Verunklart wird das Problem für gang in Debatten zur Kunst- oder Wahrneh- den englischen Rezipienten zusätzlich dadurch, mungstheorie. Die Einführung des Terminus er- daû der Begriff auf beiden Ebenen auftaucht, ein folgt zögerlich um und nach 1800 im Zuge der Phänomen, das nicht nur in England, sondern Kant-Rezeption, die anfänglich sowohl auf direk- auch in Deutschland durch die nachkantsche Eng- ter Vermittlung als auch auf französischen Quellen führung des ¾sthetischen für Verwirrung sorgt; beruht. Von einem Begriffstransfer im engeren d.h., die zögerliche Aufnahme des Begriffs in Eng- Sinne kann in der 1. Hälfte des 19. Jh. noch nicht land ist auch bedingt durch die unscharfe Begriffs- gesprochen werden, eher von einem allmählichen entwicklung in Deutschland selbst. »Tasty,asMr Einsickern des Terminus in den Sprachgebrauch, Coleridge has observed, is a word which milliners da auf diesen für den englischen Kontext neuen only can venture upon; and yet, as right and wrong Terminus mit einem bloûen Zur-Kenntnis-Neh- depend upon moral principles, so beautiful and men, Unverständnis, Ablehnung oder auch in ugly depend on principles of taste, which it would Form des ironischen Verweises reagiert wird. be very convenient to designate by an adjective. Die Rezeption des Terminus ist in den ersten Baumgarten, and since him many German and Jahrzehnten des 19. Jh. geprägt von dem Behar- some English writers, have adopted the term esthet- rungsvermögen eigenständiger Tradition. Dabei ical. This has not however yet become an estab- lassen sich entsprechend der Begriffsbildung in lished English word; and we may express a doubt Deutschland zwei Ebenen unterscheiden: 1. Aes- whether it deserves to be so. There are considera- thetics als ein eher unscharfer Begriff der Kunst- ble objections to it on the ground of its etymologi- theorie. Der Begriff wird als eine Art Name für cal signification. Perception in general is something eine vor allem in Deutschland gebräuchliche Me- very different from that peculiar and complex tasprache der Kunsttheorie, die Lehre vom Schö- modification of it which takes cognizance of the nen, begriffen. »Aesthetics (Aesthetik) is the desig- beauties of poetry and art. Esthetics would naturally nation given by German writers to a branch of designate the doctrine of perception in general, philosophical inquiry, the object of which is a phi- and might be wanted as a technical term for that losophical theory of the beautiful, or, more defini- purpose. By the Kantian school, indeed, esthetic is tely expressed, a philosophy of poetry and the fine thus used to denote that branch of metaphysics arts, which has by them been raised to the rank of which contains the laws of perception: their trans- a separate science.«313 2. Daneben wird auf den cendental esthetic is the doctrine of the regulative Kantschen Begriff im Sinne der ­transzendentalen laws of time and space to which all are ¾sthetik¬ als einen Terminus verwiesen, der die subject. Usage no doubt might restrict esthetic to a Bedingungen sinnlicher Erkenntnis beschreibt. particular class of perceptions, as the same autho- Beide Ebenen betonen den deutschen Ursprung rity has transferred taste from bodily to mental im- und ein gewisses Unverständnis für dieses ­Kunst- pressions. But it appears to be both unphilosophi- cal and presumptuous for an individual author, writing systematically, and bound to guide himself 313 The Penny Cyclopaedia, Bd. 1 (London 1833), 156. by the best and simplest analogies, to introduce a V. Der europäische Begriffstransfer 357 word in a sense so arbitrary. [¼] As an additional to the Beautiful and the Sublime«318. Anders als in reason for hesitating before we adopt esthetic,it Frankreich bleibt die Vorstellung der kritischen may be noticed that even in Germanny it is not yet Philosophie ohne Folgen. Es kommt zu keiner established beyond contest.«314 weiterführenden Auseinandersetzung mit dem von Dem englischen Kontext erscheint das ­Kunst- aesthetic bezeichneten Problemfeld, die den Ter- wort¬ aesthetic abstrakt und für das Verständnis von minus in einen produktiven Umlauf hätte bringen Prozessen der Kunstrezeption bzw. der sinnlichen können. Im Gegenteil, eine Besprechung des Erkenntnis wenig hilfreich. Der Begriff verunklare Kant-Buches von Charles de Villers konstatiert mit mehr, als daû er ein wirksames Instrument im ironischem Unterton die französischen Anstren- Rahmen dieser Prozesse sein könnte. Spürbar ist in gungen, die Abstraktionen der reinen Vernunft in der Polemik auch eine deutliche Ablehnung der Frankreich heimisch werden zu lassen: »and deutschen philosophischen Spekulation. Dieser though we will not say with the commentator of »silly pedantic term«, so Joseph Gwilt, ist »one of Kant, that it is as difficult for any good book, as for the metaphysical and useless additions to nomen- the whole Austrian army, to effect the passage of clature in the arts, in which the German writers the Rhine, a system of metaphysics, we will readily abound«315. Bis zur Mitte des Jh. bleibt die Über- allow, is of almost as difficult transportation: nor zeugung bestimmend, daû aesthetic/aesthetics in would it have surprised us more, had the head- England ein Fremdkörper sei, der weder zur quarters of the Archduke Charles been fixed at Kunsttheorie noch zu einer Theorie der Wahrneh- Paris, than if, in persevering attendance on the mung einen wesentlichen Beitrag geleistet habe.316 sage of Königsberg, the experimentalists of the In- Charakteristisch für diese Phase ist die punktuelle stitute had abandoned their physics, and the gayer Erwähnung oder auch der vereinzelte Versuch, das literary assemblies their romances and their epi- Problemfeld näher zu beschreiben, der aber die grams, for the study of transcendental aesthetics, and vom bestimmten Interesse des jeweiligen Autors all the refinements and abstractions of pure rea- gesetzten Grenzen in Richtung einer breiteren Öf- son.«319 fentlichkeit nicht überschreitet. Obgleich mit Ausnahme der Kritik der Urteils- Die englischen Erstbelege von aesthetics finden kraft die Übersetzung der Hauptwerke Kants be- sich 1798 in einer Rezension der französischen reits in den 30er Jahren einsetzt, ist die Tonlage der Übersetzung von Kants Beobachtungen über das Rezension typisch für die weitverbreitete Haltung Schöne und Erhabene (»Of the author we cannot but der englischen Öffentlichkeit gegenüber der Kant- suspect that his empirical acquaintance with works schen Philosophie bis weit ins 19. Jh. hinein. Cole- of taste is not comprehensive; his receptivity for ridge, einer der wenigen, der Kant im Original aesthetic gratification not delicate«317) und den Ele- ments of the Critical Philosophy des Philosophen An- thony Florian Madinger Willich. Willich stellt 314 w. [anonymus], On English Adjectives, in: The dem englischen Leser im Rahmen eines Gesamt- Philological Museum 1 (1832), 369. 315 joseph gwilt, An Encyclopaedia of Architecture, überblicks über die kritische Philosophie erstmalig Historical, Theoretical, and Practical (London nicht nur die Kritik der Urteilskraft vor, sondern be- 1842), 673f. nennt auch die Doppeldeutigkeit des Begriffs ¾s- 316 Vgl. ­Aesthetics¬, in: encyclopaedia britannica, thetik innerhalb der kritischen Philosophie bzw. Bd. 2 (81853), 188. der deutschen ¾sthetik allgemein, ohne allerdings 317 [anonymus, d. i.] william taylor, [Rez.] Imma- nuel Kant, Observations sur le sentiment du beau et diese Ambiguität näher zu erklären. Im Glossar du sublime, übers. v. H. Peyer-Imhoff (Paris 1796), heiût es, bezogen auf den deutschen Kontext: in: The Monthly Review, Enlarged 25 (1798), 585. »Aesthetic commonly signifies the Critique of Taste, 318 anthony florian madinger willich, Elements but with Kant, the science containing the rules of of the Critical Philosophy (London 1798), 139, 104. 319 [anonymus], [Rez.] Charles Villers, Philosophie sensation«. Im Abschnitt zur Kritik der Urteilskraft de Kant, ou Principes fondamentaux de la philoso- bezeichnet Willich als Geschmacksurteile »those phie transcendentale (Metz 1801), in: The Edin- judgments, which are called aesthetical, which relate burgh Review, H. 2 (Januar 1803), 253. 358 ¾sthetik/ästhetisch kannte und sich in seinen Reflexionen auf dessen cher auf den Terminus aesthetic, und zwar im drit- Methode und Begriffswelt berief, stieû in dieser ten Brief seiner Literary Correspondence (1821), und Frage wiederholt auf Unverständnis und Ableh- vereinzelt in seinen fragmentarischen Reflexionen nung. Kant wurde im besten Fall als ein Nachfol- zur Kunst- und Wahrnehmungstheorie im Zusam- ger des Skeptizismus Humes gesehen; verbreiteter menhang mit Kant und Schelling. Der Bezugs- war ­Kantism¬ ein Gegenstand des Spottes, Kant punkt sind hier in erster Linie die Schönen Künste: galt als mystisch, atheistisch, absurd.320 Selbst »Art (sc. aesthetic)«323; »aesthetic = fine Arts«324. Henry Crabb Robinson nannte Kants System Kunst repräsentiert die Wahrnehmung des Schö- »mystical in its fundamental principles«321. Crabb nen in der Natur. Daneben läût der genannte Brief Robinson, neben Coleridge und Carlyle der be- eine darüber hinausgehende Bedeutung als eine deutendste Kenner und Vermittler deutscher litera- spezifische Form allgemeinerer Wahrnehmung er- rischer und philosophischer Entwicklungen in der kennen, die von ethischen Interessen geleitet wird. 1. Hälfte des 19. Jh., veranschaulicht auch, wie ge- Er charakterisiert die Zeitschrift Edinburgh Maga- ring das Interesse an der Kritik der Urteilskraft und zine »as a Philosophical, Philological, and Aesthetic dem neuen Terminus in England war. In Artikeln Miscellany«. »Aesthetic« ist dabei mit einer Anmer- und einer umfangreichen Korrespondenz charak- kung versehen, die mit der Feststellung beginnt: »I terisiert Crabb Robinson an mehreren Stellen die wish I could find a more familiar word than aes- Kantsche Verwendung von ästhetisch: »It is not my thetic, for works of taste and criticism. It is, how- intention nowto weary you by a statement of ever, in all respects better, and of more reputable Kant's Aestheti[k] or Philosophy of Taste. The origin, than belletristic. To be sure, there is tasty; ­Criticism of the ¬ in which this theory but that has been long ago emasculated for all un- together with another which has a reference to the worthy uses by milliners, tailors, and the androgy- natural world, is developed, is considered as the nous correlatives of both, formerly called its, and most profound of Kant's ­Criticism's¬. [¼] 1. The nowyclept dandies.« Coleridge bezieht aesthetic judgement of taste is ästhetisch aesthetical. You al- zurück auf die beiden griechischen Wörter ready knowthe import of the wordaesthetical in filokali2a (philokalia) und ai4svhtiko2n (aistheÅti- K.'s general Philosophy which is not changed in kon), ersteres im Sinne von Wahrnehmung, Liebe this position, which introduces the work and gives des Schönen, das zweite im Sinne von Wahrneh- title to one half of the volume ­Criticism of aes- mung allgemein, und erklärt aufgrund des griechi- thetical judgement¬«322. Aber die Vermittlungsver- schen Rückbezugs, daû aesthetic prägnanter als die suche Crabb Robinsons in bezug auf Kants 3. Kri- gebräuchlichen englischen Begriffe die Struktur tik werden so gut wie überhaupt nicht zur Kennt- des Wahrnehmungsprozesses, die Relationen zwi- nis genommen. schen Wahrnehmungsgegenstand, äuûerer und in- Coleridge verweist lediglich einmal ausführli- nerer Wahrnehmung sowie der damit verbundenen intellektuellen Anstrengung beschreibt: »As our language, therefore, contains no other useable ad- rosemary ashton, The German Idea: Four 320 Vgl. jective, to express that coincidence of form, fee- English Writers and the Reception of German Thought, 1800±1860 (Cambridge u.a. 1980), 36ff. ling, and intellect, that something, which, confir- 321 henry crabb robinson an Thomas Crabb Ro- ming the inner and the outward senses, becomes a binson (4. 1. 1801), in: E. J. Morley (Hg.), Crabb new sense in itself, to be tried by laws of its own, Robinson in Germany, 1800±1805: Extracts from and acknowledging the laws of the understanding His Correspondence (London 1929), 48. 322 crabb robinson, Letters on German Literature: so far only as not to contradict them; that faculty Kant's Analysis of Beauty (1803) [unveröff. Ms. in which, when possessed in a high degree, the der Dr. Williams Library, London, Gordon Square]. Greeks termed filokalia, but when spoken of 323 samuel taylor coleridge, On Aesthetic Prob- generally, or in kind only, to aisvhtikon; and for coleridge, Bd. 11 lems (entst. um 1813±1815), in: which even our substantive, Taste, is a ± not inap- (1995), 347. 324 coleridge, Contributions to a Course of Lectures propriate ± but very inadequate metaphor; there is Given by J. H. Green (entst. 1828), in: ebd., 1402. reason to hope, that the term aesthetic, will be V. Der europäische Begriffstransfer 359 brought into common use as soon as distinct acute fragmentary criticism, we must go back to thoughts and definite expressions shall once more Germany and obtain some idea of it as a sci- become the requisite accomplishment of a gentle- ence«329. Dieser erste Versuch einer Hegel-Rezep- man.«325 tion und der Etablierung einer ­wissenschaftlichen Anfang der 40er Jahre unternahm George ¾sthetik¬ ist zu dieser Zeit weder von Lewes noch Henry Lewes einen erneuten Anlauf, deutsche ¾s- von anderen weiter verfolgt worden. Erst in Ver- thetik in England einzuführen. Auch Lewes' Hal- bindung mit dem in den 60er Jahren entstehenden tung gegenüber dem ­deutschen Gegenstand¬ ist ei- Hegelianism werden auch die Vorlesungen über die nerseits gekennzeichnet durch ein Verspotten ¾sthetik und damit die System-¾sthetik verstärkt deutscher Tiefsinnigkeit, des deutschen Hangs zu zur Kenntnis genommen. »symbols of the infinite«, der deutschen »Aesthetic spectacles«326, durch die Überzeugung, daû Kants b) Aesthetics zwischen ­Aesthetic Movement¬ und transzendentaler Idealismus nicht zu begreifen ­Physiological Aesthetics¬ sei327, und andererseits durch den Versuch, deut- Wenn William Hamilton in den postum erschiene- sche Philosophie und ¾sthetik dem englischen Pu- nen Lectures on Metaphysics feststellt, daû der Begriff blikum zu vermitteln. In seiner Sammelbespre- aesthetic nunmehr nicht nur in Deutschland, son- chung von Hegels und Solgers Vorlesungen zur dern auch in den anderen Ländern Europas als Aesthetik, von Jean Pauls Vorschule der ¾sthetik so- eine Bezeichnung für das Feld akzeptiert wird, wie zweier Schriften von Quatrem›re de Quincey »which we vaguely and periphrastically denomi- konzentriert er sich fast ausschlieûlich auf Hegel, nate the Philosophy of Taste, the theory of the dessen Bestimmung des Poesiebegriffs, und stellt Fine Arts, the science of the Beautiful and Sub- Hegel damit in den Kontext einer englischen De- lime, &c.«330, so beschreibt er damit die gängige batte, die mit Wordsworth und Coleridge beginnt Praxis vor allem in Deutschland und Frankreich, und bis zu John Stuart Mill (What is Poetry?, 1833) ¾sthetik als eine systematisierte Theorie des Schö- führt. Die einleitende Passage benennt den für Le- nen aufzufassen, und vermerkt zugleich mit eini- wes übergreifenden Zusammenhang, in dem deut- gem Bedauern, daû sich die international übliche sche kunsttheoretische Reflexion für den engli- Bezeichnung in England bislang nicht durchsetzen schen Leser interessant sein könnte: »Art may not konnte. Diese Situation ändert sich in den 60er with us be a ­revelation of the Infinite,¬ but it is a und 70er Jahren. Aesthetic erscheint englischen very positive branch of trade, and subject to all the ¾sthetikern zunehmend als eine griffige Formel, fluctuations of market and fashion, in common die vor dem Hintergrund der empfundenen Kri- with every other produce of refined civilization. senphänome in bezug auf das eigene traditionelle [¼] Howfar this commercial theory may be true we know not; at the same time we are happy in the 325 coleridge, Selection from Mr Coleridge's Literary knowledge that such is not the universal belief, Correspondence (1821), in: ebd., 938. that other nations regard Art as something far 326 george henry lewes, Aesthetical Considerations transcending any commerce yet invented, and that on the World-Drama, Revealed in the Popular Poem of ­The Milkmaid's Courtship¬, in: The Bri- many even here in Britain share the same opinion; tish Miscellany 1 (1841), 185, 188; vgl. lewes,Pro- to these then we address ourselves in the hope of spectus of an Intended Course of Lectures on the calling their attention to the aesthetical systems of Philosophy of Humbug, in: Bentley's Miscellany 6 German philosophers«328. Der Begriff ¾sthetik (1839), 599±612. 327 Vgl. ashton (s. Anm. 320), 126±128. spielt im Text, abgesehen von seiner Funktion als 328 lewes, [Rez.] G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Name für deutsche Kunsttheorie, keine Rolle: ¾s- ¾sthetik (Berlin 1835±1838) [u.a.], in: The British thetik ist die Lehre vom Schönen in der Kunst, die and Foreign Review13 (1842), 1 f. im Sinne des Positivismus von Comte als Wissen- 329 Ebd., 4. 330 william hamilton, Lectures on Metaphysics, in: schaft den praktizierten criticism auf eine höhere Hamilton, Lectures on Metaphysics and Logic, hg. Stufe heben soll: »to attain some more complete v. H. L. Mansel/J. Veitch, Bd. 1 (Edinburgh/Lon- insight into Art, to produce something higher than don 1859), 124. 360 ¾sthetik/ästhetisch

Konzept des criticism Kunst und Kunstrezeption Daneben etabliert sich auch in England einer- neu verkoppelt. So wird auch in England, z.T. be- seits eine Schule physiologischer und experimen- einfluût durch die amerikanische Rezeption euro- tell-psychologischer ¾sthetik, andererseits eine päischer ¾sthetik, die von der System-¾sthetik nachromantische Moderne, für die ähnlich wie in und Versatzstücken des Comteschen Positivismus Frankreich aesthetic zu einem Gegenbegriff zur geprägte Vorstellung, ¾sthetik als eine Wissen- etablierten Kunstkritik und -theorie wird. schaft zu bestimmen, populär und zu einem Instru- Theoretiker wie Alexander Bain, James Sully, ment in der Auseinandersetzung mit der entste- Herbert Spencer oder Grant Allen333 vermittelten henden ästhetischen Moderne. Mit aesthetics ist den durch John Stuart Mill vorgegebenen Ansatz hier die zumeist quasireligiös verankerte Lehre einer empirisch-psychologischen Orientierung in vom Schönen gemeint.331 Weiterhin trägt zur Eta- der Philosophie mit einer Physiologie der Sinne blierung des Begriffs der in den 60er Jahren entste- und Empfindungen.334 Eine zusammenfassende hende englische Hegelianismus bei, der mit Dar- Darstellung dieser Entwicklungslinie bietet ein in stellungen und Übersetzungen die Hegelsche London erschienenes Buch des Amerikaners Kunstphilosophie in England einführt332 und mit Henry Rutgers Marshall, in dem es heiût: »aesthet- Bernard Bosanquets A History of Aesthetic (1892) ei- ics may with propriety be considered as a branch nen ersten Höhepunkt erlebt. of hedonics; as being dependent directly upon pleasure laws and indirectly therefore upon the laws of pain«335. In diesem Sinne beschreibt der 331 Vgl. john bascom, Aesthetics; or the Science of Beauty (Boston 1867); [j. b. selkirk, d.i.] james Text die physischen bzw. psychologischen Grund- brown, Ethics and Aesthetics of Modern Poetry lagen der Gefühlskomplexe pleasure und pain und (London 1878). deren Wechselspiel. »That object is to be consi- 332 Vgl. james hutchison stirling, The Secret of dered beautiful which produces a psychosis that is Hegel: Being the Hegelian System in Origin, Prin- ciple, Form, and Matter (London 1865); edward permanently pleasurable in revival. Each pleasure caird, Hegel (Edinburgh/London 1883);william may form an element of impression in an aesthetic hastie, Preface: Introductory to the Translation, in: complex; but only those pleasures are judged to be G. W. F. Hegel/C. L. Michelet, The Philosophy of aesthetic which (relatively speaking) are perma- Art: An Introduction to the Scientific Study of Aes- nently pleasurable in memory: the non-aesthetic, thetics, übers. v. Hastie (Edinburgh/London 1886), I-XV; bernard bosanquet, Prefatory Essay by so-called, pleasures of memory being merely plea- the Translator: On the True Conception of Another sures in name, psychoses non-pleasurable in them- World, in: Hegel, The Introduction to Hegel's Phi- selves in revival, but to which, for one reason or losophy of Fine Art, übers. v. Bosanquet (London another, the word ­pleasure¬ still clings.«336 Das 1886), XIII-XXXIII. 333 Vgl. alexander bain, The Senses and the Intellect ¾sthetische bezeichnet innerhalb dieser Entwick- (London 1855); bain, The Emotions and the Will lungslinie vor allem eine herausgehobene, ent- (London 1859); james sully, Sensation and Intui- wicklungsgeschichtlich bestimmte Form der tion: Studies in Psychology and Aesthetics (London Wahrnehmung und ihrer gefühlsmäûigen Verar- 1874); herbert spencer, The Principles of Psy- beitung. Diese Wahrnehmungsform, gekennzeich- chology (London 1855/1872); grant allen, Phys- iological Aesthetics (London 1877). net mit ­¬, ­aesthetic sensations¬, 334 Vgl. christian g. allesch, Geschichte der psy- ­aesthetic feelings¬, ist an sog. höhere Sinne, insbe- chologischen ¾sthetik (Göttingen/Toronto/Zürich sondere den des Sehens, gebunden. Das ¾sthe- 1987), 279±281. tische ist eine Art Spielwiese überschüssiger Ener- 335 henry rutgers marshall, Pain, Pleasure, and Aesthetics (London/NewYork 1894), 299; vgl. gien. »The aesthetically beautiful is that which af- marshall, Aesthetic Principles (NewYork/Lon- fords the Maximum of Stimulation with the don 1895); marshall, The Relation of Aesthetics Minimum of Fatigue or Waste, in processes not di- to Psychology and Philosophy, in: H. J. Rogers rectly connected with vital functions.«337 (Hg.), Congress of Arts and Science, Bd. 1 (Boston/ Das Modell für diese Bestimmung des ¾stheti- NewYork 1905), 417±433. 336 marshall, Pain (s. Anm. 335), 110. schen hatte Spencer vorgegeben, der erklärte, daû 337 allen (s. Anm. 333), 39. geistige wie körperliche Organe, die nicht aus- V. Der europäische Begriffstransfer 361 schlieûlich durch ihre lebenserhaltende Funktion impression as it really is, to discriminate it, to real- belegt sind, stellvertretende Aktivitäten entfalten, ise it distinctly.«341 Im Mittelpunkt ästhetischer Re- die zum ästhetischen Vergnügen führen. Diese flexion steht das aus der eigenen Tradition her- Vergnügen sind gleichsam das Resultat optimaler, kommende genaue Sehen, Hinsehen, Beobachten, weder über- noch untertriebener Anforderungen Beschreiben, ein Umstand, der bei aller Verschie- an den Wahrnehmungsapparat. Dem entspricht ein denheit des ästhetischen Konzepts sowohl für Pater optimaler Grad inneren ästhetischen Erlebens. als auch für John Ruskin gilt: »the more I think of Emotionale Kräfte werden angeregt, ohne daû die it I find this conclusion more impressed upon me, Grenze des Erträglichen überschritten wird: »the that the greatest thing a human soul ever does in highest aesthetic feeling is one having the greatest this world is to see something, and tell what it saw volume, produced by due exercise of the greatest in a plain way. Hundreds of people can talk for one number of powers without undue exercise of any. who can think, but thousands can think for one [¼] the highest aesthetic feeling is one resulting who can see. To see clearly is poetry, prophecy, from the full but not excessive exercise of the most and religion ± all in one.«342 Den aesthetic critic complex emotional faculty«338. interessiert an seinen Gegenständen ± Musik, Poe- Bei Kritikern der etablierten englischen Tradi- sie, künstlerische und als vollkommen wahrge- tion des criticism wie Walter Pater oder Oscar nommene Formen des menschlichen Lebens ± Wilde wird aesthetic u.a. als Adjektiv in der Kom- nicht das Schöne an sich, sondern die vielfältige bination mit critic oder poetry oder auch in Form Ausformung des Schönen in konkreten einzelnen des von aesthetic abgeleiteten Terminus aesthete zu Gegenständen, abgehoben von der Frage nach einer Bezeichnung, die als Provokation und Un- Wahrheit, moralischer oder metaphysischer Be- terscheidungsmerkmal in der englischen L'art- deutung. »The aesthetic critic, then, regards all the pour-l'art-Bewegung (art for art's sake) eingesetzt objects with which he has to do, all works of art, wird. So bemerkt Walter Pater: »The ­aesthetic¬ and the fairer forms of nature and human life, as poetry is neither a mere reproduction of Greek or powers or forces producing pleasurable sensations, medieval poetry, nor only an idealisation of mod- each of a more or less peculiar or unique kind.«343 ern life and sentiment.«339 Mit aesthetic poetry ist Deutlicher noch als Pater hat Wilde die Auf- eine Poesie gemeint, deren Ziel darin besteht, auf kündigung der traditionellen Verbindung von seiten des Lesers eine zwischen Mittelalter, Antike Ethik und ¾sthetik auf den Begriff gebracht. Für und modernem Leben changierende Atmosphäre ihn beschreibt aesthetics eine spezifische Wahrneh- zu erzeugen, ohne auf objektivierende Weise die- mungsweise, die eine spezifische Lebensform her- ser bestimmten Gegenständlichkeit verpflichtet zu vorbringt. Sein Credo in The Critic as Artist lautet: sein. Sie ist ein impressionistisches Spiel von Licht, »Aesthetics are higher than ethics. They belong to Farben, Eindrücken. Dieser Anspruch, das Atmo- a more spiritual sphere. To discern the beauty of a sphärische einer Epoche oder eines konkreten thing is the finest point to which we can arrive. Kunstwerks zu beschreiben, bestimmt Paters Defi- nition von aesthetics: »To define beauty, not in the 338 herbert spencer, The Principles of Psychology most abstract but in the most concrete terms possi- (1855/1872), Bd. 2 (London/Edinburgh 1890), ble, to find, not a universal formula for it, but the 643f. formula which expresses most adequately this or 339 walter pater, Aesthetic Poetry (1868), in: Pater, that special manifestation of it, is the aim of the Appreciations (London/Edinburgh 1889), 213; vgl. wolfgang iser, Walter Pater. Die Autonomie des 340 true student of aesthetics.« Abgelehnt wird jegli- ¾sthetischen (Tübingen 1960), 38±94. che Form einer vom konkreten Gegenstand abstra- 340 pater, The Renaissance: Studies in Art and Poetry hierenden Philosophie oder System-¾sthetik »­To (1873; London 21877), VII f. see the object as in itself it really is,¬ has been justly 341 Ebd., VIII. 342 john ruskin, Modern Painters (1843±1860), in: said to be the aim of all true criticism whatever; Ruskin, The Works, hg. v. E. T. Cook/A. Wedder- and in aesthetic criticism the first step towards see- burn, Bd. 5 (London/NewYork 1904), 333. ing one's object as it really is, is to knowone's own 343 pater (s. Anm. 340), IX. 362 ¾sthetik/ästhetisch

Even a colour sense is more important, in the de- ihren Verzweigungen und z.T. mit ihren europä- velopment of the individual, than a sense of right ischen, vor allem französischen Bezugspunkten zu and wrong. Aesthetics, in fact, are to Ethics, in the beschreiben. Hamilton verteidigt die Vertreter des sphere of conscious civilisation, what, in the sphere aesthetic movement gegen die satirische Verspot- of the external world, sexual is to natural selection. tung als ästhetisierende Schöngeister ohne tiefere Ethics, like natural selection, make existence possi- Gedanken, wie sie u.a. in William S. Gilberts und ble. Aesthetics, like sexual selection, make life Arthur Sullivans Operette Patience oder den Car- lovely and wonderful, fill it with new forms, and toons von George Du Maurier aus den 70er und give it progress, and variety and change.«344 80er Jahren im Punch begegnet. »But let it be borne Wilde verwendet aesthetics/aesthetic im Sinne in mind that that higher has nothing Paters als einen Kampfbegriff gegen die mit dem in common with the affected and superficial Aes- Namen Ruskin verbundene Ausrichtung ästheti- theticism which has been forced into a hot house scher Reflexion sowie gegen die gängige Kunst- existence by caricaturists, and fostered by those kritik, die sich als Vermittler zwischen Kunstpubli- who mistake artistic slang, and stained-glass atti- kum und Kunstpraxis verstand und im Namen der tudes, for culture and high art.«347 Der Text wür- Wertvorstellungen dieses Publikums Kunst beur- digt die Leistungen der frühen Avantgarde in De- teilte und wertete. Für Wilde ist Kritik der Aus- sign, Literatur, Poesie und Malerei und hebt die druck einer individuellen Haltung, die der ein- Anregungen dieser Bewegung für die Ge- zelne Kritiker zu verantworten hat und die sich schmacksbildung im Kunsthandwerk bzw. in den mit der Betrachtungsebene und dem Gegenstand angewandten Künsten wie auch in der Kunstkritik verändert. »Not that I agree with everything that I und Poesie hervor. Die Stichworte sind ­aesthetic have said in this essay. There is much with which I culture¬, ­aesthetic school¬, ­aesthete¬, ­persons of entirely disagree. The essay simply represents an ar- aesthetic¬, ­aesthetic art¬ und ­aestheticism¬. tistic standpoint, and in aesthetic criticism attitude Der Erstbeleg von aestheticism findet sich in ei- is everything.«345 Kritik als aesthetic criticism ist nem Essay George Brimleys, der damit einen Kult selbst eine Kunst, die weder an die Kunstpraxis be- der Schönheit, der poetischen Sprache um ihrer treffenden allgemeinen Normen noch an allge- selbst willen jenseits aller moralischen oder sozialen mein akzeptierten moralischen Wertungen interes- Bezüge charakterisierte: »The Lotos Eaters carries siert ist. »The critic occupies the same relation to Tennyson's tendency to pure aestheticism to an ex- the that he criticises as the artist does treme point. It is picture and music, nothing to the visible world of form and colour, or the un- more.«348 Bei Hamilton fungiert aestheticism als seen world of passion and of thought.«346 Ober- oder Leitbegriff. Sein Gewährsmann ist Walter Hamiltons Aesthetic Movement bildet den Ruskin, wenn er die Wende zur Moderne in Ma- ersten Versuch, Beginn, Entwicklung und Resul- lerei und Poesie im »Pre-Raphaelism« als »pure tate der englischen Moderne seit den 40er Jahren Aestheticism« bezeichnet: »It was through the von den Pre-Raphaelites über Ruskin bis Wilde in writings of Ruskin that thousands became ac- quainted with the works of those, who, seceding from the dreary routine of the conventional art 344 oscar wilde, The Critic as Artist (1890), in: schools, determined henceforth to followNature Wilde, The Works, Bd. 10 (NewYork 1972), 234f. alone«349. Davon unterscheidet er eine Art ange- 345 wilde, The Truth of Masks (1891), in: ebd., Bd. 9 wandten ¾sthetizismus, »higher Aestheticism«, der (NewYork 1972), 238. 346 wilde (s. Anm. 344), 152. nicht mit einem »pseudo-Aestheticism« zu ver- 347 walter hamilton, The Aesthetic Movement in wechseln sei, sondern seit seinen Anfängen und in England (1882; London 31882), 142. enger Berührung mit dem »pure Aestheticism«350 348 george brimley, Tennyson's Poems (1855), in: in nahezu allen Bereichen des gesellschaftlichen Brimley, Essays, hg. v. W. G. Clark (Cambridge/ Lebens zu einer Hebung des Geschmacks beigetra- London 1858), 25. 349 hamilton (s. Anm. 347), 142. gen habe. Diese Wertschätzung des aestheticism 350 Ebd. zieht hinsichtlich der praktischen Implikationen V. Der europäische Begriffstransfer 363 die positive Bilanz einer Entwicklung, die in das movement, zum anderen in der strikten Beschrän- Jahr der Londoner Weltausstellung von 1851 zu- kung der Bedeutung des Terminus auf sinnliche rückführt. Die Weltausstellung hatte die indu- Wahrnehmung und die dabei ins Spiel kommen- strielle Vormachtstellung Englands gegenüber dem den physischen Voraussetzungen. In diesem Sinne Kontinent eindrucksvoll demonstriert und zu- bedeutet aesthetic für Ruskin ± ausgehend vom gleich gezeigt, daû England auf dem Gebiet des griechischen Ursprungswort ± nichts anderes als Designs, der Warenästhetik, der Mode den konti- sensation. Um sich von der zeitgenössischen Ver- nentalen Konkurrenten hinterherhinkte. Vor die- wendung des Terminus abzugrenzen, ersetzte er sem Hintergrund enstand ein staatlich organisiertes aesthetic in Modern Painters durch den Platonisch- Netz von Schools of Art und Schools of Design. Aristotelischen Begriff veuri2a (theoÅria) und »Kunstpädagogik wird zur nationalen Schicksals- führte den Begriff aesthesis ein, der der Kantschen frage erhoben«351. Neben Henry Cole waren Rus- Bestimmung von ¾sthetik in der Kritik der reinen kin und William Morris die zentralen Vertreter Vernunft in seiner Begrenzung auf die sinnliche dieser kunstpädagogischen Bewegung. Wahrnehmung nahekommt. Theorie bezeichnet Ruskins relativ frühe Bestimmung von aesthetic für Ruskin die Fähigkeit des Menschen zur geisti- im zweiten Band der Modern Painters (1846) als gen Wahrnehmung des Schönen, die dessen mora- »aesthesis« versus »theoretic faculty«352 nimmt die lische Wertung einschlieût. In einer Bemerkung späteren Differenzpunkte seiner Polemik gegen die um 1880, die sich offensichtlich auf Entwicklun- »aesthetic cliques«353 vorweg und skizziert die gen in der experimentellen Psychologie bezieht356 Grundlagen einer ¾sthetik, die den Terminus kon- und seine Begriffsbestimmung noch einmal präg- sequent an das Problemfeld der sinnlichen Wahr- nant zusammenfaût, heiût es: »The reader should nehmung bindet und sich zugleich an einem reli- know, preparatorily, that for what is now called giös begründeten, platonischen Schönheitsbegriff ­aesthesis,¬ I always used, and still use, the English und einer damit verbundenen spezifischen gesamt- word ­sensation¬ ± as, for instance, the sensation of sozialen Funktion der Kunst orientiert. »Nowthe cold or heat, and of their differences; ± of the fla- mere animal consciousness of the pleasantness I call vour of mutton and beef, and their differences; ± Aesthesis; but the exulting, reverent, and grateful of a peacock's and a lark's cry, and their differen- perception of it I call Theoria. For this, and this ces; ± of the redness in a blush, and in rouge, and only, is the full comprehension and contemplation their differences; ± of the whiteness in snow, and in of the Beautiful as a gift of God; a gift not neces- almond-paste, and their differences; ± of the black- sary to our being, but added to, and elevating it, ness and brightness of night and day, or of smoke and twofold: first of the desire, and secondly of the and gaslight, and their differences, etc., etc. But for thing desired.«354 the Perception of Beauty, I always used Plato's Mit ­aesthetic cliques¬ meint Ruskin die Akteure word, which is the proper word in Greek, and the des ­aesthetic movement¬, der ihm als eine ästheti- only possible single word that can be used in any sierende Bewegung in der Kunst und den ange- other language by any man who understands the wandten Künsten ohne ernsthaften Hintergrund erscheint. Ruskin wendet sich gegen das ästheti- sche Konzept von Pater u.a., weil es ihm auf der 351 wolfgang kemp, John Ruskin (München/Wien Grundlage einer Kritik der kulturellen und sozia- 1983), 205; vgl. ebd., 204ff. len Folgen der industriellen Revolution um eine 352 ruskin, Modern Painters, in: Ruskin (s. Anm. 342), Bd. 4 (London/NewYork 1903), 42. Form praktischer Lebensgestaltung geht, um eine 353 ruskin, Preface to the Re-Arranged Edition [von sozial engagierte, auf die ästhetische Erziehung zie- Bd. 2 der ­Modern Painters¬] (1883), in: ebd., 8. lende Aisthesis. Nach den Modern Painters wird der 354 ruskin (s. Anm. 352), 47. Terminus von Ruskin kaum noch verwendet, und 355 Vgl. ruskin an E. D. Girdlestone (21. 7. 1879), in: wenn, dann abwertend oder im Verweis auf die Ruskin (s. Anm. 342), Bd. 37 (London/NewYork 1909), 293; ruskin (s. Anm. 352), 35f. Begriffsbestimmung von 1846.355 Der Grund dafür 356 Vgl. lewes, The Study of Psychology (London liegt zum einen in seiner Ablehnung des aesthetic 1879), 87. 364 ¾sthetik/ästhetisch subject, ± ­Theoria,¬ ± the Germans only having a ditioneller philosophischer Kunsttheorie. So faûte term parallel to it, ­Anschauung¬«357. er das Kunstwerk als organische Einheit, die durch Vollständigkeit und Kohärenz charakterisiert sei, c) Englischsprachige ¾sthetik zwischen 1900 und und bestimmte das Verhältnis des Ganzen eines 1960: Semiotic Aesthetics, NewCriticism und Kunstwerks zu seinen Teilen als das zentrale Feld Analytical Aesthetics ästhetisch beschreibender Reflexion. Beardsleys Drei Konzepte prägten die Entwicklung des Be- Ansatz ist eine spezifische Form der Rezeptionsäs- griffs ¾sthetik in der englischsprachigen ¾sthetik thetik, die dem kritischen Rezipienten objektive nach 1930: die Formulierung einer semiotischen Kriterien zur Bewertung von Kunstwerken zur ¾sthetik (auch symbolic theory in aesthetics) bzw. Verfügung stellen will. »The question, What makes einer pragmatisch orientierten semiotischen ¾sthe- the artist create? is a psychological question, in my tik als ein Ausgangspunkt gegenwärtiger Zeichen- view, not a philosophical one. And it is, I think, theorie bei Charles S. Peirce und Charles W. Mor- useful to make a distinction between psychological ris, der NewCriticism sowienach 1945 die aesthetics, which deals with questions about the sprachanalytische ¾sthetik. »Since at least the 1950s causes and effects of works of art, and philosophical analytic aesthetics has been and remains the domi- aesthetics, which deals with questions about the nant form of aesthetic inquiry for professional phi- meaning and truth of critical statements. ­Aesthet- losophers in the English-speaking world.«358 ics¬ in this book is an abbreviation for ­philosophi- Der NewCriticism, die in den 30er bis 50er cal aesthetics.¬«360 Jahren in den USA vorherrschende Theorie in Li- Vor und neben jenen drei schulbildenden Strö- teratur und Literaturkritik, erhielt durch Monroe mungen lassen sich zahlreiche ¾sthetiker nennen, C. Beardsley eine allgemeinere Grundlegung und die weder der analytischen oder pragmatischen ¾s- wurde zu einer über die Literatur hinausgehenden thetik noch dem NewCriticism zuzuordnen sind, Kunsttheorie ausgebaut. »Aesthetics can be z.T. kontinentaleuropäische Bewegungsrichtungen thought of, then, as the philosophy of criticism, or und Problemstellungen ästhetischen Denkens des metacriticism.«359 Bei seiner Grundlegung orien- 19. und 20. Jh. fortführten und mit ihren Arbeiten tierte sich Beardsley an strukturellen Vorgaben tra- nach 1900 eine Art akademische Ebene des Be- griffs ¾sthetik in England und den USA etablier- 357 ruskin, Love's Meinie (1873±1881), in: Ruskin (s. ten. Dies betrifft z.B. die verschiedenen Konzepte Anm. 342), Bd. 25 (London/NewYork 1906), 123. einer ­wissenschaftlichen¬ ¾sthetik mit ihrem Zen- 358 richard shusterman, On Analysing Analytic tralbegriff der ­aesthetic attitude¬ bei Edward Bul- Aesthetics, in: The British Journal of Aesthetics 34 lough, Herbert S. Langfeld oder David Prall, die (1994), 389. 359 monroe c. beardsley, Aesthetics: Problems in the an die Orientierungen der physiologischen Psy- Philosophy of Criticism (NewYork 1958), 4. chologie anknüpften.361 Aber auch Bernard Bosan- 360 Ebd., 6f. quet verwendete den Begriff ­aesthetic attitude¬ in 361 Vgl. , ­Psychical Distance¬ as a seinen Three Lectures on Aesthetic (1915), die die Factor in Art and an Aesthetic Principle, in: The akademische Tradition der Hegelschen philosophi- British Journal of Psychology 5 (1912/13), 87±118; herbert s. langfeld, The Aesthetic Attitude schen ¾sthetik fortschrieben. Gemeinsam ist die- (NewYork 1920); david prall, Aesthetic Judg- sen Ansätzen, daû sie an den überkommenen euro- ment (NewYork 1929). päischen Fragestellungen festhielten, ¾sthetik als 362 Vgl. john grant, On Reading Collingwood's die Lehre vom Schönen und Häûlichen, als die ­Principles of Art¬, in: The Journal of Aesthetics and 46 (1987/88), 239±248; douglas r. Lehre von der Wahrnehmung des Schönen und anderson/carl r. hausman, The Role of Aes- Häûlichen bestimmten und daû der Begriff ­aes- thetic Emotion in R. G. Collingwood's Conception thetic attitude¬ eine Haltung der Distanznahme of Creative Activity, in: The Journal of Aesthetics von praktischen und sozialen Zwecken beschreibt. and Art Criticism 50 (1992), 299±305; aaron rid- Auch Robin G. Collingwood griff mit seinen bis ley, Not Ideal: Collingwood's Expression Theory, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 55 in die Gegenwart rezipierten Principles of Art (1997), 263±272. (1938)362 auf kontinentaleuropäische Traditionen V. Der europäische Begriffstransfer 365 zurück. Er berief sich in seiner Kunst als Gefühls- ausgehend von William James' empirisch-experi- ausdruck interpretierenden ­Theory of Expression¬ menteller Psychologie Themen pragmatischer ¾s- auf Croces Idealtheorie der Kunst (Croce-Colling- thetik vorbereitet. Ausgehend von der Dominanz wood-Theorie) und suchte vor diesem Hinter- der äuûeren Erfahrung, sind Santayanas Themen grund mit seiner Kunst-¾sthetik ± »The business das Verhältnis von ­schönen¬ und ­nützlichen¬ Kün- of this book is to answer the question: What is sten, die Aufhebung ihrer strikten Trennung, äs- art?«363 ± zwischen philosophischer ¾sthetik und thetische Wahrnehmung als eine besondere Form Künstlerästhetik zu vermitteln. universeller Wahrnehmung, ¾sthetik als eine Von besonderer Bedeutung für die Etablierung Theorie der Werte, das Wechselspiel von physiolo- der ¾sthetik als einer eigenständigen Disziplin in gischen und psychologischen Wahrnehmungspro- den USA bis in die 40er Jahre war Max Dessoirs zessen. ¾sthetik wird von ihm methodisch als eine Programmatik einer nichtspekulativen, auf die Kritik der Wahrnehmung des Schönen bestimmt. Künste gerichteten praktischen ¾sthetik364, die um Er kombiniert den traditionellen Begriff criticism 1900 Kunsttheorie, experimentelle und psycholo- mit dem Begriff aesthetics. Wenn criticism zu stark gische ¾sthetik zu vermitteln suchte. Diese Orien- »the element of deliberate judgment and of com- tierung wurde von Thomas Munro (Scientific Meth- parison with standards« betont ± damit verweist od in Aesthetics, 1928) aufgegriffen, der wesentlich Santayana auf ein Problemfeld der englischen ¾s- zur Popularisierung und Institutionalisierung der thetik im 19. Jh. ±, so ist aesthetics die Bezeich- ¾sthetik als einer wissenschaftlichen Disziplin in nung einer zu allgemeinen Wahrnehmungstheorie. den USA beitrug und 1941 das Journal of Aesthetics »If criticism is too narrowa word, pointing exclu- and Art Criticism nach dem Vorbild der Zeitschrift sively to our more artificial judgments, aesthetics für ¾sthetik und allgemeine Kunstwissenschaft begrün- seems to be too broad and to include within its dete.365 Für weite Teile der Öffentlichkeit artiku- sphere all pleasures and pains, if not all perceptions lierte das Journal das Selbstverständnis der neuen whatsoever. [¼] If we combine, however, the ety- wissenschaftlichen Disziplin aesthetics. Munros in- mological meaning of criticism with that of aes- haltliche Bestimmung des ¾sthetikbegriffs bietet thetics, we shall unite two essential qualities of the einen empirischen Nachvollzug des thematischen theory of beauty. Criticism implies judgment, and Spektrums, das den Hauptstrom der europäischen aesthetics perception.«367 Das Schöne als zentraler Debatte in den 20er und 30er Jahren kennzeich- Begriff ästhetischer Reflexion wird aber von nete: »Recent aesthetics has become, on the Santayana nicht im Sinne metaphysischer System- whole, a rather highly generalized kind of art criti- ¾sthetik des 19. Jh. verwendet, sondern als ein plu- cism [¼]. Its methods have been literary, along ralistischer, individueller Wertungsbegriff. »Every- lines of informal exposition and argument, rather than attempts at quantitative or even strictly logical demonstration. [¼] It deals with questions of val- 363 robin g. collingwood, The Principles of Art ue, sometimes to analyze the philosophical or psy- (Oxford 1938), 1. 364 Vgl. max dessoir, The Fundamental Questions of chological nature of aesthetic value; sometimes to Contemporary Aesthetics, übers. v. E. D. Puffer, in: discuss alleged ­art principles¬ or laws and standards H. J. Rogers (Hg.), Congress of Arts and Science, of value in art. [¼] Another main element in re- Bd. 1 (Boston/NewYork 1905), 434±447; dessoir, cent aesthetics has been the psychology of creation Aesthetics and the Philosophy of Art in Contempo- and appreciation; of the artist's processes and of rary Germany, in: The Monist 36 (1926), 299±310. 365 Vgl. thomas munro, Aesthetics as Science: Its De- aesthetic experience. [¼] It is the study of art as an velopment in America, in: The Journal of Aesthetics activity, and also of the contemplation, use and en- and Art Criticism 9 (1950/51), 161±207. joyment of works of art.«366 366 munro, Knowledge and Control in the Field of Eine gewisse Sonderstellung in der amerikani- Aesthetics, in: The Journal of Aesthetics and Art schen Debatte nimmt (Reason in Criticism 1 (1941/42), 6f. 367 george santayana, The Sense of Beauty: Being Art, 1905±1906, und The Sense of Beauty, 1896) ein, the Outlines of Aesthetic Theory (1896; NewYork der nicht dem Pragmatismus zuzurechnen ist, aber 1936), 14. 366 ¾sthetik/ästhetisch thing is beautiful because everything is capable in gungen fragt. ¾sthetik, vor allem begriffen als äs- some degree of interesting and charming our at- thetische Erfahrung, ist »a part of the attempt to tention; but things differ immensely in this capac- interpret complex social life in terms of the goals ity to please us in the contemplation of them, and toward which our efforts run«369. therefore they differ immensely in beauty.« (98) Mit Deweys Art as Experience (1934) ± und auch Santayana entwirft im Kern auf spezifische Weise mit Stephen C. Peppers Aesthetic Quality (1937) ± eine demokratische ¾sthetik, eine ¾sthetik der erhielt der Pragmatismus eine auf die moderne Ge- Liberalität und Toleranz, der Betonung des Indivi- sellschaft zugeschnittene ästhetische Fundierung, duellen in Erscheinung und Wahrnehmung gegen- die im Zuge der analytischen Wende kaum noch über dem abstrakt Allgmeinen. »In the leading rezipiert wurde und erst neuerdings wieder als eine political and moral idea of our time, in the idea of Beschreibungsmöglichkeit kultureller Phänomene democracy, I think there is a strong aesthetic ingre- ins Blickfeld gerät.370 ¾sthetik basiert für Dewey dient, and the power of the idea of democracy over auf den elementaren physischen Voraussetzungen, the imagination is an illustration of that effect of den »basic vital functions«, den »biological com- multiplicity in uniformity« (84). »Such aesthetic monplaces«371, die jegliche ästhetische Erfahrung love of uniformity, however, is usually disguised erst ermöglichen, und der Kantschen Charakteri- under some moral label: we call it the love of jus- sierung des ästhetischen Urteils, wonach es auf Er- tice, perhaps because we have not considered that fahrung beruhe und im Unterschied zur rationalen the value of justice also, in so far as it is not deriva- Erkenntnis ein Urteilen ohne Begriff sei. ¾stheti- tive and utilitarian, must be intrinsic, or, what is sche Erfahrung ist für Dewey eine spezifische practically the same thing, aesthetic.« (85) nicht-spezifische Erfahrung von Ganzheitlichkeit, Ausgehend von John Deweys Experience and Na- von das Ganze betreffenden Zusammenhängen; ture (1925), skizzierte George Herbert Mead in darin liege ein wesentlicher Unterschied zur Wis- dem Aufsatz The Nature of Aesthetic Experience senschaft, zur eingeschränkten und einschränken- (1925) erstmalig explizit Umrisse eines pragmati- den rationalen Erfahrung, und daraus ergibt sich schen, handlungsorientierten Begriffs des ¾stheti- für Dewey die dienende Funktion wissenschaftli- schen, indem er die rationalisierte, zweckgebunden cher Erkenntnis: »It would [¼] be seen that sci- segmentierende Wahrnehmungsweise und Praxis ence is an art, that art is practice, and that the only der Wissenschaften zum komplexen sozialen Leben distinction worth drawing is not between practice in seiner politischen oder auch religiösen Verfaût- and theory, but between those modes of practice heit ins Verhältnis setzte; bei Mead wird »aesthetic that are not intelligent, not inherently and imme- attitude«368 zu einem kommunikativen Prozeû, zu diately enjoyable, and those which are full of en- einer sozialkritischen Haltung, die nach der Ange- joyed meanings. When this perception dawns, it messenheit politischer und sozialer Rahmenbedin- will be a commonplace that art ± the mode of activity that is charged with meanings capable of immediately enjoyed possession ± is the complete george herbert mead, The Nature of Aesthetic 368 culmination of nature, and that ­science¬ is properly Experience, in: The International Journal of Ethics 36 (1925/26), 386. a handmaiden that conducts natural events to this 369 Ebd., 384f. happy issue. Thus would disappear the separations 370 Vgl. thomas m. alexander, 's that trouble present thinking: division of every- , Experience and Nature: The Hori- thing into nature and experience, of experience zons of Feeling (Albany, N. Y. 1987); shusterman, Pragmatist Aesthetics: Living Beauty, Rethinking into practice and theory, art and science, of art into Art (Oxford/Cambridge, Mass. 1992). useful and fine, menial and free.«372 371 john dewey, Art as Experience (1934), in: Dewey, Für Dewey stellt ¾sthetik eine Art Sozialwissen- The Later Works, Bd. 10 (Carbondale/Edwardsville schaft dar, deren Erfahrungsbereich und Gegen- 1987), 19, 20. stand neben der Kunst vor allem die in sich diffe- 372 dewey, Experience and Nature (1925), in: Dewey, The Later Works, Bd. 1 (Carbondale/Edwardsville renzierte Gesamtheit der sozialen Lebenswelt ist. 1981), 268f. In Art as Experience erhält ¾sthetik eine ethische V. Der europäische Begriffstransfer 367 und demokratische Fundierung im praktischen Le- proach to art, and can be understood without ref- ben. Jede Erfahrung, auch die theoretisch-wissen- erence to any metaphysical theory.«376 schaftliche Reflexion, beinhalte eine ästhetische Während Langer insbesondere an Ernst Cassi- Dimension. Der fundamentale Trugschluû westli- rers Philosophie der symbolischen Formen (1923±1929) cher Philosophie bestehe in der Annahme, daû und Sprache und Mythos (1925) sowie Ludwig Witt- Erfahrung früher oder später auf eine Form ratio- gensteins Sprachphilosophie anknüpfte und das ¾s- naler, begrifflicher Erkenntnis hinauslaufe. Die thetische als eine Sprache von Symbolen, als ein Absicht, diesen Trugschluû aufzulösen, seine Un- Netzwerk symbolischer Zeichen beschrieb, ging es haltbarkeit aufzuzeigen, dieser bereits in Experience Morris um eine Zusammenführung des Logischen and Nature entwickelte Ansatz bestimmt Deweys Empirismus des Wiener Kreises, des Pragmatismus Konzept ästhetischer Erfahrung und seinen Begriff ± insbesondere der von Dewey und Mead formu- von ¾sthetik. Das Ziel der auf Erfahrung bezoge- lierten ­Theory of Value¬ ±, und amerikanisch- nen Reflexion ist die Freilegung ihrer ästhetischen englischer Semiotik ± zum einen in der Tradition Dimension als einer Art Brennpunktes menschli- von Peirce377, zum anderen im Anschluû an die cher Vermögen, der diese unter dem Aspekt prak- frühen Basistexte semiotischer Theorie von Char- tischer Lebensgestaltung versammelt. ¾sthetik les K. Ogden und Ivor A. Richards.378 In dem wird so zum Zweck, zum Orientierungsrahmen Aufsatz Esthetics and the Theory of Signs umreiût theoretisch-philosophischer Anstrengung.373 Die Morris unter dem Zeichen einer ­semiotischen ¾s- so bestimmte ¾sthetik artikuliert keinen utopi- thetik¬379 die metatheoretische Programmatik einer schen Anspruch, sondern verweist darauf, daû al- ­unity of science¬, die die verschiedenen und in lein die ¾sthetik als eine besondere und zugleich sich differenzierten Diskurse, den ästhetischen, allgemeine Form der Erfahrung den vielfältigen wissenschaftlichen und technologischen, auf eine Aspekten des Erfahrungsgegenstandes und den dif- gemeinsame semiotische Grundlage stellt. Mit ferenzierten Ebenen subjektiver Erfahrung gerecht diesem übergreifenden, kommunikativen, die ein- werden kann. »To esthetic experience, then, the zelnen Diskurse vermittelnden Ansatz formulierte philosopher must go to understand what expe- Morris die Grundlagen moderner Zeichentheorie, rience is. / For this reason, [¼] the theory of es- thetics put forth by a philosopher [¼] is a test of 373 Vgl. alexander (s. Anm. 370); shusterman (s. the capacity of the system he puts forth to grasp Anm. 370). the nature of experience itself. There is no test that 374 dewey (s. Anm. 371), 278. so surely reveals the one-sidedness of a philosophy 375 Vgl. charles w. morris, Science, Art and Tech- as its treatment of art and esthetic experience.«374 nology, in: The Kenyon Review1 (1939), 409±423; morris, Signs, Language and Behavior (NewYork Die semiotische Begründung ästhetischer Theo- 1946); susanne k. langer, An Introduction to rie, die auf diese Weise vorgenommene konzeptu- Symbolic Logic (Boston/NewYork 1937); langer, elle Beschreibung des ¾sthetischen, vollzieht sich Feeling and Form: A Theory of Art (NewYork in den USA fast zeitgleich auf zwei verschiedenen 1953). 376 max rieser, The Semantic Theory of Art in Ebenen: zum einen bei Charles W. Morris (Esthet- America, in: The Journal of Aesthetics and Art Crit- ics and the Theory of Signs, 1939), zum anderen bei icism 15 (1956/57), 12. Susanne K. Langer (Philosophy in a New Key, 377 Vgl. vincent m. colapietro/thomas m. ol- 1942).375 »There are sufficient reasons for dealing shewsky (Hg.), Peirce's Doctrine of Signs: Theory, with the semantic theory of art in America. In the Applications, and Connections (Berlin/NewYork 1996), 237±325. first place, it is perhaps more deeply rooted in 378 Vgl. charles k. ogden/ivor a. richards, The American intellectual soil than other theory of art Meaning of Meaning (NewYork u.a. 1923); current in this country. [¼] Second, it is in its pre- richards, Principles of Literary Criticism (1924; sent form an American product ± almost com- London 1959). 379 Vgl. achim eschbach, Charles W. Morris' dreidi- pletely unknown in Europe. Third, it is a genuine mensionale Semiotik und die Texttheorie, in: Mor- contribution to aesthetic theory. [¼] it is ± which ris, Zeichen, Wert, ¾sthetik, hg. u. übers. v. Esch- is rare in aesthetics ± an empirical and scientific ap- bach (Frankfurt a.M. 1975), 58±68. 368 ¾sthetik/ästhetisch die u.a. von Roland Barthes, Umberto Eco oder the relation between the employment of certain Pierre Bourdieu aufgegriffen wurden. »Neverthe- kinds of concepts and the conditions under which less, esthetics, as the theory of esthetic discourse, they can be correctly applied.«382 Eine Grund- falls within the same field as the theory of scientific orientierung der analytischen ¾sthetik lag darin, or technological discourse; that is, esthetics, as part ästhetische Begriffe nicht in ihrem theoretischen, of the theory of signs, is one field of science, and spekulativen Gebrauch zu beschreiben, sondern, has whatever place in the system of science which gleichsam als eine diesen Gebrauch unterlaufende is ascribed to semiotic itself. The approach to es- Gegenbewegung, in ihrer alltäglichen, situations- thetics in terms of the theory of signs, is thus not gebundenen, unscharfen Verwendung. Nachhaltig merely significant for art, esthetics, and semiotic, geprägt wurde die sprachanalytische ¾sthetik dabei but for the whole program of unified science.«380 durch Frank N. Sibleys Unterscheidung von ästhe- Die analytische ¾sthetik, die methodisch-analy- tischen und nicht-ästhetischen Begriffen und Ter- tische Verfahren George E. Moores (Principia ethica, mini, die Bestimmung ihrer jeweiligen Geltungs- 1903) und Bertrand Russells oder Wittgensteins bereiche und deren Vermittlung.383 aufgriff, wurde nach dem 2. Weltkrieg in den USA Mit der analytischen ¾sthetik vollzog die ameri- zur dominierenden Form ästhetischer Refle- kanische ¾sthetik vor dem Hintergrund der xion.381 Sie begriff sich als eine Art metathoreti- Kunstmoderne nach 1945 in den USA in Methode schen Ansatz, der die Hierarchie und Gültigkeit und Gegenstand einen Bruch mit der kontinental- überkommener Begrifflichkeit in ¾sthetik und europäischen Tradition.384 Sie verstand sich als eine Kunstkritik in Frage stellte. »Aesthetic theory ± all grundlegende Kritik an der ­traditionellen ¾sthe- of it ± is wrong in principle in thinking that a cor- tik¬ ± gemeint waren damit vor allem Harald Os- rect theory is possible because it radically miscon- borne (Aesthetics and Criticism, 1955) und Monroe strues the logic of the concept of art.« »The prob- C. Beardsley ±, insbesondere an deren »­Generali- lem with which we must begin is not ­What is sierungen¬ bezüglich der Eigenschaften und Quali- art?,¬ but ­What sort of concept is ­art¬?¬ Indeed, täten von Kunstwerken«385, an der traditionellen the root problem of philosophy itself is to explain Unterscheidung zwischen Kunst und Nicht-Kunst, der Bestimmung, was ein Kunstwerk sei und was nicht386, der bislang gültigen Besonderheit von 380 morris, Esthetics and the Theory of Signs (1939), in: Morris, Writings on the General Theory of Signs Kunstwerken gegenüber anderen Dingen. Faktisch (Den Haag/Paris 1971), 433. könnten diese Fragen auf einer generalisierenden 381 Vgl. shusterman, Introduction: Analysing Ana- Ebene nicht beanwortet werden, sondern es seien lytic Aesthetics, in: Shusterman (Hg.), Analytic Aes- eher Probleme des jeweils gewählten Beschrei- thetics (Oxford 1989), 1±19. 382 , The Role of Theory in Aesthetics, bungsmodus, des jeweiligen Kontexts. »I have tried in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 15 to show[¼] that the search for essences in aesthet- (1956/57), 27f., 30. ics is a mistake, arising from the failure to appre- 383 Vgl. frank n. sibley, Aesthetic Concepts, in: The ciate the complex but not mysterious logic of such Philosophical Review68 (1959), 421±450; sibley, words and phrases as ­art¬, ­beauty¬, ­the aesthetic Aesthetic and Non-Aesthetic, in: The Philosophical Review74 (1965), 135±159. experience¬, and so on. [¼] Traditional aesthetics 384 Vgl. william elton (Hg.), Aesthetics and Lan- mistakenly supposes that responsible criticism is guage (Oxford 1954); cyril barrett (Hg.), Col- impossible without a set of rules, canons, or stand- lected Papers on Aesthetics (Oxford 1965); joseph ards applicable to all works of art.«387 margolis (Hg.), Philosophy Looks at the Arts (NewYork 1962); rüdiger bittner/peter pfaff (Hg.), Das ästhetische Urteil (Köln 1977). Jörg Heininger 385 karlheinz lüdeking, Der Kunstbegriff in der analytischen Philosophie (Diss. FU Berlin 1985), 57. 386 Vgl. paul ziff, The Task of Defining a Work of Art, in: The Philosophical Review62 (1953), 58±78. 387 william e. kennick, Does Traditional Aesthetics Rest on a Mistake?, in: Mind 67 (1958), 334. VI. ¾sthetik des Schönen/¾sthetik des Häûlichen 369

VI. ¾sthetik des Schönen/¾sthetik des 1. Schleiermachers Produktionsästhetik Häûlichen. Akademisierung und Neuansätze im 19. Jahrhundert 1819/1820 halten Hegel und Schleiermacher, par- allel und beide zum ersten Mal, an der Berliner Friedrich Theodor Vischers Aesthetik oder Wissen- Universität Vorlesungen zur ¾sthetik. Der Gegen- schaft des Schönen (1846±1858) ist der monumen- satz der Ansätze könnte gröûer nicht sein. In der tale, im 19. Jh. einfluûreichste ¾sthetikentwurf im späten ¾sthetikvorlesung von 1832/33 kommt Geiste Hegels, der die Vorstellung und den Begriff Schleiermacher dann auch ausdrücklich und kri- ­akademischer ¾sthetik¬ prägte. Daneben muû die tisch auf Hegel zu sprechen.391 Schleiermacher läût Masse popularisierter, trivialisierter und seichter das Hegelsche (und Schellingsche) System hinter ¾sthetiken gesehen werden, in denen quer durch sich, indem er sich als Philosoph und Künstler ver- das ganze Jh. mit sozialpädagogischer Verve ein steht und der sinnlichen Wahrnehmung einen be- kitschiger Kult des Schönen und der Kunst getrie- deutenden Platz einräumt: »Denn in der Kunst soll ben wurde. Auch dieser Typus prägte den allge- überhaupt der Unterschied zwischen Vernunft und meinen Begriff der ¾sthetik des 19. Jh. nachhaltig. Sinnlichkeit ganz verschwinden, und alles nur Gottlob Benjamin Gerlach, preuûischer Feldpredi- sinnlich gewordene Vernunft sein«392. ger im Regiment von Katte, stellte am Beginn des Daû Schleiermacher diese Aussage auf die Kunst 19. Jh. die Frage: »inwiefern erleichtert und be- bezieht, bedeutet nicht, daû er ¾sthetik wie Schel- günstigt der gegenwärtige Zustand der schönen ling und Hegel als Philosophie der Kunst versteht. Künste das Streben unserer Zeitgenossen, vorzüg- Er geht vielmehr von einem sich an der Tradition lich der mindergebildeten Stände, zu einer hö- von ars und techneÅ orientierenden Kunstbegriff heren sittlichen und ästhetischen Kultur?«388 Seine aus, der zum Paradigma von Arbeit und schöpferi- ¾sthetik kann als Prototyp jener Spezies gelten, auf scher Tätigkeit wird und den Gegenstand der ¾s- die Joseph Anton Koch in einer Satire reagierte: thetik aus Produktion und Rezeption, aus poieÅsis So »tun die Hülfsvereine alles, was sie tun können, und aistheÅsis konstruiert. Schleiermacher reduziert um neues, der siechen ¾sthetik geweihtes Volk zu das Wohlgefallen am Schönen nicht auf das kon- erzeugen«389. templative Empfinden, das er auch mit dem grie- Im Hauptstrang der Entwicklung der deutschen chischen pa2vhma (patheÅma) (die überwältigenden, ¾sthetik des 19. Jh. wird ¾sthetik eingegrenzt auf Affekte auslösenden Wirkungen einer Rede bei- Philosophie der Kunst, die von den Systematikern spielsweise) bezeichnet, sondern will es zugleich als des Faches Philosophie bis in die Gegenwart hin- aktiven Vorgang verstanden wissen, für den der ein damit begründet wird, daû dies den Versuch Kunstbegriff im Sinne von poieÅsis steht: »Ist [¼] darstelle, den Gegenstandsbereich der ¾sthetik zu das Schöne freie menschliche Production, so muû objektivieren. Hier sind die der akademischen, als man es nicht in der Form des pa2vhma, sondern idealistische Kunstphilosophie verstandenen ¾sthe- tik widerstrebenden Ansätze zu verfolgen, die auf gottlob benjamin gerlach, Philosophie, Ge- den ursprünglichen Sinn von ¾sthetik zurückge- 388 setzgebung und Aesthetik in ihren jetzigen Verhält- hen und sich eines aisthetischen Ausgangspunktes ver- nissen zur sittlichen und ästhetischen Bildung der sichern. Dieser Fokus trägt der Tatsache Rech- Deutschen (Posen/Leipzig 1804), XIV. nung, daû die aisthetischen Argumentationen quer 389 joseph anton koch, Moderne Kunstchronik durch das 19. Jh. nicht abreiûen, ja sich sogar fort- (1834), hg. v. H. Frank (Leipzig/Weimar 1984),66. 390 Vgl. friedrich theodor vischer, Kritik meiner laufend verstärken. Auch Vischer muûte dieser Aesthetik, in: Vischer, Kritische Gänge, Neue Folge, Entwicklung seinen Tribut zollen und sah sich Heft 5 (Stuttgart 1866), 135f., 148±156. knapp ein Jahrzehnt nach Abschluû seiner Aesthetik 391 Vgl. friedrich schleiermacher, Vorlesungen genötigt, selbstkritisch auf sein opus magnum zu- über die Aesthetik (gehalten 1832/33), hg. v. C. rückzukommen: Dessen wesentliches Defizit sei Lommatzsch, in: Schleiermacher, Sämmtl. Werke, Abt. 3, Bd. 7 (Berlin 1842), 16f. die unzureichende Behandlung der Probleme sinn- 392 schleiermacher, ¾sthetik (gehalten 1819, 1825), licher Wahrnehmung.390 hg. v. R. Odebrecht (Berlin/Leipzig 1931), 148. 370 ¾sthetik/ästhetisch der Handlung aufsuchen, und also nach der Theo- modernen ¾sthetik gesehen wird, habe, so räumt rie der Kunst fragen.«393 ¾hnlich leitet er auch in Schleiermacher ein, »dieses Schwanken der Herlei- den späten Vorlesungen den Disziplinnamen ¾s- tung des pathematischen Zustandes aus der Natur thetik ab: »Die Aesthetik gehört zu denjenigen und Kunst« aufgehört, weil Hegel einen absoluten, Disciplinen, die man gewöhnlich durch den Aus- nicht auf techneÅ gehenden Begriff von Kunst habe. drukk Theorie zu bezeichnen pflegt, die Griechen Der Preis dessen sei jedoch, daû die Kunst (wie te2xnh, die Römer nach ihnen übersezend ars Religion und Philosophie) von Hegel »nur als ein nannten; sie verstehen darunter eine mit Gründen Product der Thätigkeit des menschlichen Geistes belegte Anweisung, wie etwas auf die richtige Art aufgestellt ist, und dafür die Natur bei Seite gesezt hervorzubringen sei. Daraus geht hervor, daû die wird, also auch der Eindrukk, der von ihr her- Praxis immer etwas früheres gewesen ist, als die kommt, und somit der pathematische Zustand«. Theorie«394. (17) Folglich genügen weder Kant noch Hegel Diese sich an dem alten, weiten Kunstbegriff Schleiermachers ¾sthetik-Ansatz, weil sie beide orientierende ¾sthetik stellt nur scheinbar einen den pathematischen Zustand (d. h. das sinnliche Rückgang auf Poetik/Rhetorik bzw. auf das Mu- Wahrnehmen, Empfinden: die aistheÅsis) nicht rich- ster der ­schönen Wissenschaften¬ dar, in denen ja tig situieren. Während Kant auf die Empfindung auch gelehrt wurde, ­wie etwas auf die richtige Art setze und die Produktion darüber vernachlässige, hervorzubringen sei¬. Hier öffnet der nicht-auto- berücksichtige Hegel zwar die durch Fichte einge- nome Kunstbegriff den Weg für eine Produktions- führte »thätige Seite« (11) in der ¾sthetik, lasse da- ästhetik, in der die wirkende Seite einbegriffen ist. bei aber die Natur auûer acht und schlieûe somit So wird das Schöne ein Relatives, und Schleierma- den pathematischen Zustand ganz aus. Schleierma- cher beginnt auch nicht mit dem Begriff des Schö- cher folgert aus diesem Widerspruch von Natur nen, sondern versteht die Schönheit als etwas, das und Kunst: »Es bleibt also nur übrig, daû wir dar- erst hervorgebracht wird. Dies läût sich am deut- auf ausgehen, die beiden Standpunkte, den pathe- lichsten an seiner Kritik Kants und Hegels nach- matischen und productiven, [¼] in eins zusam- vollziehen. Darüber, ob man die Schönheit aus der menzufassen, um zu einem allgemeinen Begriffe Natur oder aus der Kunst ableiten soll, sei in der zu gelangen« (30). neueren ¾sthetik ein grundlegender Streit ent- Der Zusammenhang von Produktion und Re- brannt: »Geht man von dem Gedanken aus, und zeption, von aistheÅsis und poieÅsis, von Wahrneh- behandelt die Aesthetik als Anweisung der Kunst- mung und Erkennen, von Anschauung und Phan- thätigkeit, so faût man den Menschen in einer ur- tasie organisiert sich bei Schleiermacher über den sprünglichen Thätigkeit; geht man dagegen von Begriff des Gefühls, der in seiner ¾sthetik, wie in der Empfindung aus, und behandelt sie als Theorie seiner Religionsphilosophie, eine zentrale Stelle der Empfindung, so faût man den Menschen in ei- besetzt. »Das Affiziertwerden beruht [¼] auf ei- nem leidenden Zustande auf.« (8) Für Kant nun nem freien Sich-Hingeben und Affiziert-sein- »existirt die Antwort auf diese Frage nicht, wie Wollen. Das freie Öffnen des Sinnes ist immer die kommt der Mensch dazu, daû er das Schöne nicht innere Tätigkeit [¼]. Es ist ein Affiziertwerden nur empfinde, sondern auch Gegenstände hervor- notwendig, und dieses ist das Gefühl. Indem es bringe, wovon Andre es empfinden. Darum theilt aber ein Sich-Hingeben ist, ist es auch freie Tätig- also die Kantische Philosophie den Mangel des nur keit, die aber zugleich das Eigentümliche des ein- pathematisch Betrachtenden, und so bleibt Kant zelnen Lebens in sich schlieût. Dort wollen wir af- bei dem Eindrukk stehen, d.i. dem Geschmakk, fiziert werden, wie die Welt ist; hier, wie wir sind. nicht aber bei dem, was wir Kunst nennen.« (10) Wir wollen den Abdruck unseres eigentümlichen Für Hegel, der als Schluûpunkt der Geschichte der Daseins haben.«395 Auch dies kann als eine Formulierung des Kunstbegriffs Schleiermachers gelten, aus der zu- 393 Ebd., 5. 394 schleiermacher (s. Anm. 391), 1. gleich die Bedeutung seiner ¾sthetik für das 19. Jh. 395 schleiermacher (s. Anm. 392), 51. deutlich wird, die Benedetto Croce am Beginn des VI. ¾sthetik des Schönen/¾sthetik des Häûlichen 371

20. Jh. als erster erkannte und gegen abschätzige phischen Systems mitgeschleppt zu werden.«401 Bei Charakterisierungen in der deutschen ¾sthetikge- Robert Prutz wurde ­¾sthetik¬ zum durchgehen- schichtsschreibung (vor allem bei Robert Zimmer- den Schimpfwort für die ­oligarchische, ästhetisch- mann und Eduard von Hartmann) verteidigte396: aristokratische¬ Literaturgeschichtsschreibung und Sie gehört zum neuen Typus der Künstlerästheti- für die klassisch-romantische ¾sthetik. Die ­¾sthe- ken, in denen die ästhetischen Belange von poieÅsis tiker¬ wurden verdächtigt, im Bunde mit Staat und und aistheÅsis den Metaphysikern und Systemtheo- Polizei zu sein, wenn es um die Unterdrückung retikern aus der Hand genommen werden und die demokratischer Bestrebungen und deren politi- Kunst im umfassenden Sinne die Gesetze der ¾s- scher Poesie gehe.402 Seine Vorlesungen über die deut- thetik bestimmt. Dies durchzusetzen, bedarf es sche Literatur der Gegenwart eröffnete er mit der Be- aber der Symbiose von Philosoph und Künstler.397 fürchtung, daû sich »Aesthetik und Kritik und [¼] die Polizei« gegen ihn verbünden werden, weil er sich der Gegenwartsliteratur nähere. »Wohlan 2. Mit Hegel über Hegel hinaus denn: so wollen wir die Systeme ganz beiseite las- a) Politisierung und Kritik der ¾sthetik sen! so wollen wir absehen von der Aesthetik über- im Vormärz haupt«403. Für Heine ± und ganz ähnlich für Karl Wie unmittelbar nach der Gründung durch Baum- Marx404 ± wurde die Abgehobenheit der ¾sthetik garten wurde die ¾sthetik in den 30er und 40er vom Leben und von der alltäglichen Sinnlichkeit Jahren des 19. Jh. erneut zu einer vielgeschmähten zum Kritikpunkt, was sich bei Heine im Topos der Disziplin. Die Kritik kam diesmal von den Libera- ­ästhetischen Teegesellschaft¬ verdichtete.405 len und Sozialisten des Vormärz, die in der ¾sthe- Im Zeichen der Bemühungen um eine neue po- tik eine Form verknöcherten, antiquierten Wis- litische Wirklichkeit und nicht zuletzt unter dem sens, eine vom Leben, von der Realität wie von Einfluû des Saint-Simonismus ging es hier um eine der modernen Kunst abgeschirmte Kathederwis- sinnliche, auf das Leben bezogene Regeneration senschaft sahen. Ludolf Wienbarg nannte seine der ¾sthetik. Unter dem Banner einer Tat- und Vorlesungen in Abgrenzung von aller akademi- Aktivitätsphilosophie wurden die Kunst und das schen ¾sthetik Aesthetische Feldzüge und widmete Schöne als Verheiûung künftiger demokratischer sie enthusiastisch dem ­Jungen Deutschland¬.398 Ei- ner der Rezensenten hat deren Gestus genau ge- 396 Vgl. benedetto croce, Estetica come scienza dell' troffen: »Wienbarg ist gar nicht der Mann dazu, espressione e linguistica generale. Teoria e storia eine wissenschaftliche Theorie schreiben zu wol- (1902; Bari 91950), 347±360. len, er schreibt seine Aesthetik offenbar auf der 397 Vgl. schleiermacher, Ueber den Umfang des Be- griffs der Kunst in Bezug auf die Theorie derselben Flucht vor aller Aesthetik als Wissenschaftslehre, er (entst. 1831/1832), in: Schleiermacher, Sämmtl. begehrt keine Theorie, er begehrt die Praxis, statt Werke, Abt. 3, Bd. 3, (Berlin 1835), 182. der Kunstlehre das Kunstwerk selbst, überhaupt 398 Vgl. ludolf wienbarg, Aesthetische Feldzüge die schöne That«399. Theodor Mundt stellte gleich (Hamburg 1834), V-VII. 399 hermann marggraff, Deutschland's jüngste Lite- zu Beginn seiner Aesthetik die Frage, »ob es dem ratur- und Culturepoche (Leipzig 1839), 307. Genius unserer Zeit entsprechen kann, sich in un- 400 theodor mundt, Aesthetik. Die Idee der Schön- sern Tagen noch mit Aesthetik abzugeben«400.Das heit und des Kunstwerks im Lichte unserer Zeit Dasein der ¾sthetik als Fakultätswissenschaft sei (Berlin 1845), 1. »ohnehin dürftig und zweifelhaft. Sie lebte [¼] bis 401 Ebd., 9f. 402 Vgl. robert eduard prutz, Die politische Poesie jetzt von den Brosamen, welche ihr von dem Ti- der Deutschen (1843), in: Prutz, Zur Theorie und sche der systematischen Philosophie mitleidig zu- Geschichte der Literatur, hg. v. I. Pepperle (Berlin geworfen wurden, und sie hat, schon halbtodt ge- 1981), 61±76. boren aus der Wolfischen Philosophie, mit der 403 prutz, Vorlesungen über die deutsche Literatur der Nothtaufe eines wunderlichen Namens belegt, bis Gegenwart (1847), in: ebd., 239, 246. 404 Vgl. jörg heininger, ­¾sthetische Theorie¬, in: auf Hegel nur den Vorzug genossen, als eine bloûe haug, Bd. 1 (1994), 676f. Consequenz des jedesmal herrschenden philoso- 405 Vgl. heine (s. Anm. 291). 372 ¾sthetik/ästhetisch und republikanischer Verhältnisse und einer ent- setzung der Sinnlichkeit in ihre Rechte verteidigt. wickelten Kultur und Bildung des Individuums Das nannte Karl Biedermann 1838 eine »ästheti- verstanden. Theodor Mundt verwies auf die 20er sche Lebensanschauung«408: ¾sthetik als Verfeine- Jahre des Jh., die eine »faule nichtsnutzige ästheti- rung der Sinnlichkeit und Beitrag zur Kultur, oder sche Zeit«406 gewesen seien. Wir »laufen Gefahr, wie es einer der Verteidiger Karl Gutzkows gegen wenn unser öffentliches Leben nicht durch einen den Vorwurf der Unsittlichkeit dem Verteidigten neuen groûen Wellenschlag wieder gehoben wird, in den Mund legte: »Ich wollte nur gerne andeu- in diese Aesthetik der Restaurationszeiten wieder ten, wie durch Aesthetik oder durch das in der ver- zurückzuversinken« (27f.). Als Prinzip einer feinerten Sinnlichkeit erweckte Schönheitsgefühl neuen, von Hegel sich abgrenzenden ¾sthetik ver- Cultur, und durch Cultur die Sitte sich vor unserer teidigte er eine »Weltansicht« der »Immanenz« ge- neueren Zeit verbessert zeigte.«409 gen das »transcendente Ideal der frühern Zeiten« Im Unterschied zu den meisten Protagonisten (16), wobei immanente Weltsicht die Verbindung des Vormärz hat Marx keine ¾sthetik geschrieben. bzw. Versöhnung von Geist und Tat, Kunst und Auch der Artikel Aesthetics in der von George Rip- Leben, Idee und Sinnlichkeit, Volk und Staat, Ge- ley und Charles A. Dana herausgegebenen New sinnung und Tat, Kunst und Philosphie usw. be- American Cyclopaedia (1858), der ihm oft zuge- deutete. Im Sinne der liberalen jungdeutschen schrieben wurde, stammt der neueren Marx-For- Doktrin ist Schönheit nicht etwas, was man schon schung zufolge410 mit groûer Wahrscheinlichkeit hat, sondern etwas, was erst durch Nationwerdung nicht aus seiner Feder. Ein ästhetisches Konzept ist und politische Bildung errungen werden muû: aber seinen sozialpolitischen und ökonomischen »Nationalgefühl, muû dem Gefühl fürs Schöne, Schriften, so vor allem den Ökonomisch-philosophi- politische Bildung der ästhetischen vorausge- schen Manuskripten, eingeschrieben. Gegen den hen.«407 Darin zeigt sich die Umkehrung der Spiritualismus der ¾sthetiker des Vormärz brachte Schillerschen ästhetischen Utopie in die politische Marx ein Konzept des ¾sthetischen ein, das sich in Utopie des jungen Liberalismus. Kunst und einer strikten materialistischen Wendung auf die Schönheit sind ein Vorgriff auf eine bessere Zu- Rolle der menschlichen Arbeit gründet. Die Bil- kunft, sie sind (religiös gedacht) eine Verheiûung. dungsgeschichte der Sinne müsse als »eine Arbeit ¾sthetik hat diese Verheiûung bewuût zu halten. der ganzen bisherigen Weltgeschichte«411 verstan- Trotz dieses eschatologischen Spiritualismus wird den werden. Damit verbindet sich eine avancierte mit der jungdeutschen ­Emanzipation des Flei- Wahrnehmungs- und Sinnlichkeitstheorie, die im sches¬ in der ¾sthetik der Anspruch auf Wiederein- Verlaufe des 20. Jh. zum Anknüpfungspunkt jener modernen ¾sthetik-Entwürfe wurde, die den For- 406 mundt (s. Anm. 400), 27. schungsansatz einer Kulturgeschichte der Sinne 407 wienbarg (s. Anm. 398), 9. weiter verfolgten. 408 karl biedermann, Die junge Literatur und ihr In der Marxschen Sozialphilosophie finden sich Princip in der Reform des Geschlechtsverhältnisses auch ästhetische Utopie-Elemente, so im Entfrem- (1838), in: A. Estermann (Hg.), Politische Avant- dungs- und Aneignungskonzept, in der Auffassung garde 1830±1840, Bd. 1 (Frankfurt a.M. 1972), 283. 409 heinrich eberhard gottlob paulus, Rechtfer- des Proletariats als geschichtliches Subjekt oder in tigungsrede, welche von Dr. Karl Gutzkow [¼] ge- der Emphase, mit der eine nachrevolutionäre halten werden könnte. Entworfen von Einem Un- kommmunistische Gesellschaft als eine Gemein- partheyischen, in: Paulus (Hg.), Des Groûherzogl. schaft gleichrangiger, nicht von Arbeitsteilung be- Badischen Hofgerichts zu Mannheim vollständig motivirtes Urtheil über die in dem Roman: ­Wally, troffener Individuen verstanden wird. Insofern ist die Zweiflerin¬, angeklagten Preûvergehen [¼] auch Marx in den »German quest for an aesthetic (Heidelberg 1836), 76. state« einzuordnen. Entscheidend für sein ästheti- 410 Vgl. dirk külow, Wer war der Verfasser des Beitra- sches Konzept ist aber der Realismus des Grundan- ges ­Aesthetics¬? [Typoskript] (1988). satzes: »Marx reminds us both that the aesthetic 411 karl marx, Ökonomisch-philosophische Manu- skripte (1844), in: mew, Ergänzungsbd. 1 (1968), dimension cannot do without the daily labor re- 541f. producing the human as bodily being, and that the VI. ¾sthetik des Schönen/¾sthetik des Häûlichen 373 aesthetic is the sole category that encompasses the Revitalisierung aisthetischer Ansätze zu beobach- mundane life of humans without loss of their spir- ten. itual aspirations. Thanks to Marx's thought, the Zum wichtigen Bezugspunkt für die Behand- two aspects of human existence have since found a lung des Komischen wird Jean Paul, in dessen ¾s- potentially common home in the category of daily thetik Humor und Witz im Zentrum standen und productive activity.«412 Dieser ­Realismus¬ rückte der am Komischen die »Allmacht und Schnelle der Heines und Marx' ¾sthetik eng zusammen und sinnlichen Anschauung« oder die »Gewalt sinnli- durchbrach den Horizont der Hegelschen und der cher Anschaulichkeit«416 hervorhob. Die Sinnlich- junghegelianischen ¾sthetik wie auch den des keit ist konstitutives Merkmal des Komischen: Das Feuerbachschen kontemplativen Sensualismus. Komische ist »Exponent der angewandten End- lichkeit«. »Die überflieûende Darstellung, sowohl b) ¾sthetiken des Häûlichen und Komischen durch die Bilder und Kontraste des Witzes als der In der identitätsphilosophischen ¾sthetik wurde Phantasie, d.h. durch Gruppen und durch Farben, die Negativität des Erhabenen entschärft, und das soll mit der Sinnlichkeit die Seele füllen und mit Erhabene wurde zu einer Subkategorie des Schö- jenem Dithyrambus sie entflammen, welcher die nen. Gleichzeitig büûte auch das Komische die im Hohlspiegel eckig und lang auseinanderge- Schärfe der Negation ein. Hegel setzte es an den hende Sinnenwelt gegen die Idee aufrichtet und Ausgang der ­romantischen Kunstform¬ und lieû es sie ihr entgegenhält.«417 An Jean Paul knüpfte z.B. als »freie Heiterkeit«, »unendliche Wohlgemutheit Ruge an und nannte seine ¾sthetik Neue Vorschule und Zuversicht«, als »Seligkeit und Wohligkeit der der Aesthetik (1836). Subjektivität«413 in den Humor hinüberspielen, Der Einbau des Häûlichen in die ¾sthetik wird dem er »vertieftere Fülle und Innerlichkeit«414 zu- ± nach dem Vorspiel, das Friedrich Schlegel in sei- sprach. Diese ­Verschönung¬ des Erhabenen und ner »Theorie des Häûlichen« als »ästhetischen Kri- des Komischen ging mit einem Verlust der wir- minalkodexes«418 gegeben hatte ± 1830 von dem kungsästhetischen und aisthetischen Grundele- Hegelianer Christian Hermann Weisse im System mente der ¾sthetik einher. Angesichts ihrer Wirk- der Aesthetik als Wissenschaft von der Idee der Schönheit lichkeitserfahrungen muûten sich die Hegel-Nach- vorgenommen. Weisses Standpunkt ist strikt anti- folger aber, wenn sie Hegels Theorem vom ­Ende empirisch und antipsychologisch. Der wissen- der Kunst nach ihrer höchsten Bestimmung¬ nicht schaftsgeschichtliche Hintergrund, die Frage, wes- teilten, mit den Negationskategorien des Schönen halb ¾sthetik als Disziplin ins Leben gerufen erneut befassen. Während das Erhabene seine ne- wurde, ist nicht mehr von Interesse. Es erfolgt gative Kraft (vorerst) nicht zurückerlangte und eine auch keinerlei Reflexion mehr auf den Namen der Subspezies des Schönen blieb, rückten im Zirkel der zentralen Begrifflichkeit der ¾sthetik das Häû- liche und das Komische eng zusammen, so daû 412 josef chytry, The Aesthetic State: A Quest in man für die Mitte des 19. Jh. von einer Verände- Modern German Thought (Berkeley/Los Angeles/ rung des ästhetischen Basis-Paradigmas Schön- London 1989), 232, 267. 413 hegel (ästh), 1075. Erhaben zur Konstellation Schön-Häûlich/Ko- 414 Ebd., 1104. misch sprechen kann. Es ist aufschluûreich, daû 415 Vgl. arnold ruge, Neue Vorschule der Aesthetik. von den Hegel-Schülern zwar ¾sthetiken des Ko- Das Komische mit einem komischen Anhange mischen und des Häûlichen geschrieben wer- (Halle 1836); wilhelm august bohtz, Über das Komische und die Komödie (Göttingen 1844); 415 den , aber keine ¾sthetik des Erhabenen. Ob- karl rosenkranz, ¾sthetik des Häûlichen (1853), wohl in diesen ¾sthetiken über weite Strecken die hg. v. D. Kliche (Leipzig 21996). Begriffsdialektik aufwendig, doch relativ unfrucht- 416 jean paul, Vorschule der ¾sthetik (1804), in: jean bar mit der Zielstellung bewegt wird, das Häûliche paul (miller), Abt. 1, Bd.5(1963), 111. durch das Komische objektivierend zu überwin- 417 Ebd., 139. 418 friedrich schlegel, Über das Studium der grie- den, ist in der empirischen Bestandsaufnahme des chischen Poesie (1797), in: schlegel (kfsa), Bd. 1 Häûlichen und Komischen eine bemerkenswerte (1979), 315. 374 ¾sthetik/ästhetisch

Disziplin: Der aisthetische Gesichtspunkt ist im Vehikel. Das eigentliche Motiv für die Entstehung Gefolge Hegels völlig ausgeblendet. Bei der Be- einer eigenen ¾sthetik des Häûlichen Mitte des handlung des Häûlichen aber reiût dieser strikte 19. Jh. ergibt sich aus den ästhetischen Erfahrun- Antiempirismus auf. Der systematische Grund liegt gen von Urbanisierung, beginnender Industriali- darin, daû das Erhabene als Teil des Schönen und sierung, Proletarisierung und Pauperisierung sowie das Häûliche als Negation des Erhaben-Schönen aus der Rezeption von Realismus und Naturalis- aufgefaût wird. Als Negation des Schönen und Er- mus. habenen ist das Häûliche gleichsam doppelte Ne- Wird auch die empirische Existenz des Häûli- gation: Es hat dadurch nicht mehr teil an der Idee chen anerkannt, so mühen sich die Hegelianer und muû in der empirischen Endlichkeit aufge- doch gleichzeitig um die ästhetische Heilung des sucht werden. Ruge, der in diesem Punkt getreu Häûlichen im Komischen. Weisse sieht im Komi- an Weisse anknüpfte, erklärte, die Erhabenheit sei schen ein Häûliches, »welchem die bösartigen Ei- »nicht in der Natur und unvermittelten Erschei- genschaften oder der Stachel der Häûlichkeit fehlt, nung zu suchen und zu finden, sondern in den Er- also in Wahrheit ein Häûliches, das nicht häûlich scheinungen des Geistes selbst«419. Beim Häûlichen mehr ist«. Über den »Begriff der Häûlichkeit« dagegen verliert die Idee sich selbst, fällt sie von schreibt er, »daû seine Wahrheit die Komik ist«423. sich selbst ab in Bosheit und Häûlichkeit. Es hat Jenseits dieser begriffsdialektischen Umwertungen demzufolge im Gegensatz zum Erhabenen empiri- aber setzten sich auch bei der empirischen Be- sches und sinnliches Dasein.420 Hat das Häûliche trachtung des Komischen aisthetische Momente aber nur empirische Existenz, so kann es auch nur durch. In dem Maûe, in dem Weisse sich der Wir- dort aufgesucht und beschrieben werden. Auf die- kung des Komischen, dem Lachen nähert, kom- ses Postulat stützte Karl Rosenkranz seine ¾sthetik men physiologische, psychologische und soma- des Häûlichen, eine kenntnisreiche Phänomenologie tische Sachverhalte ins Spiel. Das Lachen ist »ein des Häûlichen, die im offensichtlichen Gegensatz allgemeines Erzittern und Wechselthätigkeit aller zur strengen Systematik der Hegelschen Begriffslo- organischen Systeme, in welcher das Individuum gik steht. Hier zeigt sich die Faszination des Häûli- sich seiner sinnlichen Lebendigkeit empfindend chen, seine »sirenenartig anziehende und fesselnde und genieûend bewuût wird«424. Kraft«, angesichts derer die ¾sthetiker sich Re- chenschaft geben müssen, warum es »auf einen be- 3. ¾sthetik und das Paradigma der trächtlichen Theil unserer Zeitgenossen eine exakten Wissenschaften mächtigere Zauberkraft ausübt, als die göttliche Harmonie und Wahrheit der Schönheit selbst«421. Auf dem internationalen Congress of Arts and Sci- Rosenkranz begriff sich als Pathologe im Reich ence (1905) resümierte der amerikanische Archi- der ¾sthetik, der es mehr aus Pflicht denn aus Nei- tekt und Autor des Buches Aesthetic Principles, gung auf sich nahm, in die »Hölle des Schönen«422 Henry Rutgers Marshall, die Entwicklung der ¾s- hinabzusteigen. thetik im 19. Jh.: »If conventional divisions of time Die Öffnung der Hegelschen Begriffsdialektik are to serve as means by which we mark the move- für das Häûliche war aber nur das philosophische ment of thought as it develops, we may well say that the nineteenth century sawa real awakening in relation to aesthetics among those who concern 419 ruge, 77. themselves with accurate thinking, ± a coming to 420 Vgl. ebd., 98. 421 cristian hermann weisse, System der Aesthetik consciousness, as it were, of the importance to the als Wissenschaft von der Idee der Schönheit, Bd. 1 philosophy of life of the existence of beauty in the (Leipzig 1830), 180, 182. world, and of the sense of beauty in man.«425 In 422 rosenkranz (s. Anm. 415), 11. Abgrenzung von der spekulativen und metaphysi- weisse (s. Anm. 421), 209, 210. 423 schen ¾sthetik des deutschen Idealismus entstehen 424 Ebd., 221. 425 marshall, The Relation of Aesthetics (s. Anm. in der 2. Hälfte des 19. Jh. eine ganze Reihe von 335), 417. Konzepten des ¾sthetischen, die sich am Muster VI. ¾sthetik des Schönen/¾sthetik des Häûlichen 375 der exakten Wissenschaften orientierten, um die griffs des ¾sthetischen (die »ganzen Verhältnisse ¾sthetik in den Rang der Wissenschaftlichkeit zu der sinnlichen Wahrnehmung mit der kaum davon erheben. So kam es am Beginn des 20. Jh. dann abtrennbaren Beziehung derselben zu physiologi- auch zu dem Versuch, eine strenge ­Wissenschafts- schen und physikalischen Verhältnissen« [33]) ver- lehre der ¾sthetik¬ aufzustellen.426 Anders als die lange aber nach Eingrenzung, die Baumgarten philosophische ¾sthetik des deutschen Idealismus, durch Konzentration auf ­das Schöne¬, Kant durch die in den anderen europäischen Hauptländern nur den Bezug auf Gefallen und Miûfallen bzw. durch widerstrebend aufgenommen worden war, wurden den Ausschluû des Angenehmen vorgenommen viele dieser Ansätze auch international rezipiert habe.429 Diesen Begrenzungen folgt Fechner aus- oder standen bereits bei ihrer Ausarbeitung in ei- drücklich nicht, sondern er versucht auf der nem internationalen wissenschaftlichen Bezugs- Grundlage des nun einmal eingeführten und ge- feld. läufigen Gebrauchs von ästhetisch und ¾sthetik eine nicht beschränkende, sondern öffnende Defi- a) ¾sthetik von unten nition: Unter ästhetisch sei das zu verstehen, »was Gustav Theodor Fechners »Aesthetik von Unten«, sich auf Verhältnisse unmittelbaren Gefallens und die sich gegen die metaphysische ¾sthetik des Missfallens an dem bezieht, was durch die Sinne in deutschen Idealismus (»Aesthetik von Oben«427) uns eintritt, ohne aber blos die rein sinnliche Seite wendet, verstand sich keineswegs als Ersatz philo- davon im Auge zu haben«. Die rein sinnliche sophischer ¾sthetik. Wohl aber wandte sich Fech- Wahrnehmung wird über die »Associationsvorstel- ner gegen die Einseitigkeit und Überbetonung der lungen« (33) erweitert. Der Hedonismus der un- philosophischen ¾sthetik. Ihm schienen »alle unsre mittelbaren sinnlichen Wahrnehmung verbindet Systeme philosophischer Aesthetik Riesen mit sich so mit der Ethik.430 thönernen Füssen«. Er wollte eine empirisch-psy- Durch sechs Prinzipien, die das ästhetische chologisch arbeitende ¾sthetik als Pendant und Er- Empfinden bestimmen, modelliert Fechner gänzung einer »philosophischen Aesthetik höheren schlieûlich seinen Begriff der ästhetischen Wahr- Stils« (4) und erstrebte die »Erklärung der ästheti- nehmung: Grundlage ist das »Princip der ästheti- schen Thatsachen aus Gesetzen«, während die ­¾s- schen Schwelle«, die objektiv (Reizstärke) wie thetik von oben¬ vorzugsweise eine »Klarstellung subjektiv (Reizempfindlichkeit) überschritten wer- der Begriffe, welchen sich die ästhetischen Thatsa- den muû, damit eine Einwirkung überhaupt »für chen und Verhältnisse unterordnen« (5), im Auge unser Bewuûtsein spürbar wird« (49). Das 2. Prin- gehabt habe. Unter Gesetz versteht er eine bei al- zip ist das der »ästhetischen Hülfe oder Steigerung« len Menschen weitgehend gleichartige Reaktion (50) durch das Zusammenstimmen mehrerer Ele- auf eine sinnliche Konfrontation mit formal be- mente des ästhetischen Gegenstands. Es folgen als stimmbaren Reizen. die »drei obersten Formalprincipe« (46) das der Fechner bestimmt seinen Begriff des ¾stheti- »einheitlichen Verknüpfung des Mannichfaltigen« schen und der ¾sthetik, indem er strikt von der (53), das der »Widerspruchslosigkeit, Einheitlich- Etymologie ausgeht und als ästhetisch alles »sinn- keit oder Wahrheit« (80) sowie das der »Klarheit« lich Wahrnehmbare oder Formen der sinnlichen (84). Das 6. Prinzip, das »ästhetische Associations- Wahrnehmung überhaupt ohne Rücksicht auf princip« (86), nimmt eine Sonderstellung ein, weil Wohlgefälligkeit und Missfälligkeit« bezeichnet. Fechner zwischen einem »directen« (94) und ei- ¾sthetik ist demzufolge die »Lehre von der sinnli- nem indirekten Faktor der Schönheitsempfindung chen Wahrnehmung« (32). Fechner resümiert, daû ¾sthetik in dieser weiten Bedeutung bislang nie 426 Vgl. kasimir filip wize, Abriss einer Wissen- ausgeführt worden sei. Er verweist auf Kant, bei schaftslehre der ¾sthetik (Berlin 1909). dem der breite Ansatz in der transzendentalen ¾s- 427 gustav theodor fechner, Vorschule der Aesthe- 3 thetik der Kritik der reinen Vernunft vorhanden ge- tik (1876), Bd. 1 (Leipzig 1925), 3. 428 Vgl. ebd., 32. wesen, dann in der Kritik der Urteilskraft aber ver- 429 Vgl. ebd., 33f. engt worden sei.428 Diese weite Fassung des Be- 430 Vgl. ebd., 38f. 376 ¾sthetik/ästhetisch unterscheidet. Die direkte Empfindung des Schö- in den 80er Jahren gegründete Zeitschrift für Psycho- nen ist Wirkung der einfachen Formverhältnisse logie und Physiologie der Sinnesorgane), wobei man des ästhetischen Gegenstands. In der assoziativen sich der Beobachtung und dem Experiment zu- Schönheitsempfindung dagegen bestimmt Funk- wandte.432 Darauf baute die ­experimentelle ¾sthe- tionalität rückwirkend disponierend die Wahrneh- tik¬ auf, die vor allem von Oswald Külpe und Karl mung. ¾sthetische Wirkung ist nun die kompli- Groos weiter verfolgt worden ist.433 Über den For- zierte Mischung dieser direkten und assoziativen schungsstand der experimentellen ¾sthetik und Faktoren. Damit lag ein avanciertes Modell ästheti- über die Untersuchung der ästhetischen Wirkun- scher Wahrnehmung vor, in dem die subjektiv- gen von Rhythmus und Reim, Konsonanz und objektiven somatischen Dispositionen sich mit den Dissonanz, Figuren und Farben, die seit Fechner Formqualitäten des ästhetischen Gegenstands ver- besonders in den USA einen beträchtlichen Auf- banden. schwung genommen habe, referierte Külpe 1906 Bereits 1871 hatte Fechner eine »exacte Unter- auf dem 2. Kongreû für experimentelle Psycho- suchung« der ¾sthetik in Aussicht gestellt, die, als logie unter dem Motto, daû »Fechners Saat auf- Teil der Psychophysik, sich »mit den Massbe- gegangen«434 sei. Fechners anti-spekulative Be- ziehungen zwischen Reiz und Empfindung oder stimmung der Funktion der ¾sthetik gab dem allgemeiner zwischen äusseren körperlichen An- ästhetischen Diskurs in Deutschland eine Rich- regungen und innern psychischen Folgen zu be- tung, die auch in Frankreich oder in England ver- schäftigen hat«431. Auch die physiologische For- folgt wurde435 und der Ablösung ästhetischen Den- schung entwickelte sich im 19. Jh. rapide (vgl. die kens vom deutschen Idealismus entscheidende Impulse vermittelte. Einig sind sich die Vertreter der ­¾sthetik von 431 fechner, Zur experimentalen Aesthetik, in: Abh. unten¬, zu denen auch Wilhelm Wundt mit seiner d. Kgl. Sächs. Gesellsch. d. Wiss. 14 (1871), 557. 432 Vgl. karl eduard rotschuh, Ursprünge und den weiten, komplexen Sinn von aistheÅsis beto- Wandlungen der physiologischen Denkweisen im nenden Theorie der ­ästhetischen Elementarge- 19. Jahrhundert, in: W. Treue/K. Mauel (Hg.), Na- fühle¬ zu rechnen ist436, darin, daû die ¾sthetik als turwissenschaft, Technik und Wirtschaft im 19. Jahr- Wissenschaft vom ästhetischen Verhalten entwik- hundert (Göttingen 1976), 135±160. kelt werden muû. Daraus folgt, daû der Bereich 433 Vgl. oswald külpe, Über den associativen Faktor des ästhetischen Eindrucks, in: Vierteljahrsschrift für des ¾sthetischen zu erweitern ist. So macht Külpe wissenschaftliche Philosophie 23 (1899), 145±183; gegen Kant geltend, daû die als auûerästhetisch de- karl groos, Das ästhetische Miterleben und die klarierten Reizungen und Rührungen des Ange- Empfindungen aus dem Körperinnern, in: Ztschr. f. nehmen in den Bereich ästhetischen Verhaltens ¾sthetik u. allg. Kunstwiss. 4 (1909), 161±182. 437 434 külpe, Der gegenwärtige Stand der experimentel- einbezogen werden müssen. Wie in diesem Zu- len ¾sthetik, in: F. Schumann (Hg.), Bericht über sammenhang die sensualistischen Komponenten den II. Kongreû für experimentelle Psychologie in des ästhetischen Verhaltens nun wieder stark be- Würzburg vom 18. bis 21. April 1906 (Leipzig tont werden, zeigen die Arbeiten von Carl Lange 1907), 55. und Karl Groos. »Die Aesthetik der Zukunft wird 435 Vgl. christian g. allesch, Geschichte der psy- chologischen ¾sthetik (Göttingen/Toronto/Zürich sensualistisch sein, wie die Langes, oder sie wird so 1987), 274±282. unwissenschaftlich und nebelhaft bleiben, wie bis- 436 Vgl. wilhelm wundt, Grundzüge der physiologi- her.«438 Unter der Überschrift ­Die Physiologie des 6 schen Psychologie (1874), Bd. 3 (Leipzig 1911), Genusses und der Kunstgenuû¬ spricht Lange aus- 115±187. 437 Vgl. külpe, Immanuel Kant (1907; Leipzig 31912), führlich von den Affekten (Freude, Zorn, Angst, 129f. Spannung, Trauer, Ekstase, Bewunderung, Enttäu- 438 hans kurella, Vorwort des Herausgebers, in: schung) als »Genussmitteln«439. Die starken Af- carl lange, Sinnesgenüsse und Kunstgenuss. Bei- fekte/Emotionen führen zur Ekstase. Sie ist »der träge zu einer sensualistischen Kunstlehre (Wiesba- reinste, uncomplicirteste Zustand des Genusses an den 1903), VIII. 439 lange (s. Anm. 438), 8. sich«. Die »Innervation der Blutgefässe« bildet ihre 440 Ebd., 19. »vasomotorische Grundlage«440. Auf dieser psy- VI. ¾sthetik des Schönen/¾sthetik des Häûlichen 377 cho-physiologischen Grundlage wird auch die dung der ästhetischen Wahrnehmung von der Kunstwirkung erklärt. Sie basiert auf dem Selbst- ­Wahrnehmung überhaupt¬ vor: »Unter der inne- genuû der Affekte des Lachens, der Freude, des ren Nachahmung ist keine bloû zentrale ­Tätigkeit¬ Mitleids usw.441 Von den Vertretern der Schuläs- zu verstehen, sondern eine Tätigkeit im gewöhnlichen thetik sind Langes sensualistische Positionen mit Sinne, bei der es sich um wirkliche motorische Vor- dem Vorwurf der Inkompetenz aufs schärfste kriti- gänge handelt, nämlich um sehr mannigfaltige Be- siert worden. Ein neukantianischer Berichterstatter wegungen unseres Körpers, deren imitatorischer stellte die ganze Borniertheit der Fächerabschot- Charakter nur für andere nicht wahrnehmbar tung unter Beweis, die ja durch eine ­¾sthetik von ist.«446 Diese ­Bewegungen¬ hält Groos für das unten¬ im Sinne der Verwissenschaftlichung des Zentrum des ästhetischen, inneren Miterlebens, Faches gerade aufgebrochen werden sollte: Bei mit dem einerseits die Nachwirkung vergangener Lange zeige sich die »rein sensualistische Auffas- Erfahrungen, andererseits die sinnlich gegebene sung des Schönen in ihrer derbsten Gestalt. [¼] Es Wahrnehmung des Augenblicks verschmelze. gereicht der jüngsten ¾sthetik nicht zur Ehre, daû Männer wie Lange und Kurella in ihr eine solche b) Einfühlungsästhetik als psychologische ¾sthetik Sprache führen dürfen, ja daû sie sich überhaupt Groos' ­innere Nachahmung¬ steht in enger Nach- hervorwagen.«442 barschaft zur Einfühlungsästhetik, zu der Theodor Eine biologisch-sensualistische Grundauffassung Lipps und Johannes Volkelt447, aber auch die vertritt auch Karl Groos, der das ¾sthetische mit Kunsthistoriker Wilhelm Worringer, August dem Kernbegriff des Sinnlich-Angenehmen defi- Schmarsowund Heinrich Wölfflin zu rechnen niert.443 In Fühlung mit der zeitgenössischen sind. Von der ­¾sthetik von unten¬ ist die Einfüh- Kunstentwicklung des Naturalismus ist Groos der- lungsästhetik insofern abzugrenzen, als sie sich an jenige, der die Gleichung ­ästhetisch gleich schön¬ einem anderen Modell der ­Verwissenschaftli- energisch aufbricht, wenn er schreibt, »dass der chung¬ der ¾sthetik orientierte. Ging es bei der Begriff des Schönen nicht den gleichen Umfang ­¾sthetik von unten¬ vor allem um den experimen- wie der des aesthetisch Wirksamen überhaupt tell-empirischen Ansatz, so handelte es sich bei der habe, sondern nur eine genau zu umgrenzende Einfühlungsästhetik um eine psychologische ¾s- Provinz ± allerdings die wichtigste ± in dem unge- thetik im engeren Sinne. Hier war das Paradigma heueren Gebiete des aesthetisch Wirksamen ein- der Psychologie als Wissenschaft maûgebend, die nehme«444. Diese wichtige, gegen die philosophi- sich in der 2. Hälfte des 19. Jh. zu einer selbständi- sche ¾sthetik des Idealismus neu errungene Diffe- gen Wissenschaft ± als »geistige Naturwissen- renzierung, die den späteren Differenzierungen der ­allgemeinen Kunstwissenschaft¬ vorarbeitet, ist überhaupt ein Kennzeichen der ­¾sthetik von un- ten¬ (wie aller sensualistischen ¾sthetik), weil ja die primäre Orientierung auf die verschiedenen For- men der sinnlichen Wahrnehmung die kontempla- 441 Vgl. ebd., 21±47. 442 paul moos, Die deutsche ¾sthetik der Gegenwart tive bzw. somatisch ruhige Reaktion auf das (Berlin o.J. [1919]), 85. Schöne zu einer ästhetischen Affektion unter ande- 443 Vgl. groos, Einleitung in die Aesthetik (Gieûen ren macht. Groos plädiert deshalb dafür, den fal- 1892), 7. schen Weg der ¾sthetik nach Kant nicht weiter zu 444 groos, Aesthetisch und schön, in: Philosophische Monatshefte 29 (1893), 531. beschreiten, auf dem bei der Suche nach einer äs- 445 Vgl. ebd., 580f. thetischen Zentralkategorie das Schöne begrifflich 446 groos, Die Spiele der Menschen (Jena 1899), 423. immer weiter ausgedehnt worden sei. Es komme 447 Vgl. , ¾sthetik (Hamburg/Leipzig dagegen darauf an, den Begriff des Schönen eng zu 1903/1906); lipps, ¾sthetik, in: P. Hinneberg (Hg.), Die Kultur der Gegenwart, Teil 1, Abt. 6: Systemati- halten.445 Mit dem Begriff der ­inneren Nachah- sche Philosophie (Leipzig 1907), 349±388; johan- mung¬ nimmt Groos dann für das nunmehr ent- nes volkelt, System der ¾sthetik (1905±1914; grenzte Gebiet des ¾sthetischen eine Unterschei- München 21925±1927). 378 ¾sthetik/ästhetisch schaft«448, wie das kritisch referiert wurde ± ent- dem anderen als seine Bestrebungen zugerechnet wickelte. Die Einfühlungsästhetik nahm Grund- werden könnten.451 Die ästhetische Einfühlung be- satzprobleme der psychologischen Wahrneh- ruhe darauf, daû sich in der Apperzeption, die im mungslehre auf, und auch ihre Protagonisten ver- Unterschied zur einfachen Perzeption ein aktiver, standen sich in erster Linie als Psychologen. Lipps bewuûter Vorgang sei, der wahrzunehmende Ge- z.B. gründete in den 90er Jahren in München ein genstand und das wahrnehmende Subjekt entge- psychologisches Institut. genkämen und füreinander ­offen¬ seien.452 Auch Volkelt betonte die »psychologische Natur Volkelt, der sich 1920 veranlaût sah, die Einfüh- der ästhetischen Werte«449. »Der ästhetische Ge- lungsästhetik gegen die verschiedensten Kritiken genstand, mag er der Natur oder Kunst angehören, (vor allem aus neukantianisch-werttheoretischer kommt in seiner ästhetischen Eigentümlichkeit erst und aus phänomenologischer Richtung) zu vertei- durch Wahrnehmung, Gefühl, Phantasie des auf- digen, stellte sich zwar dem Anspruch, ¾sthetik als nehmenden Subjektes zustande. Das Auûending »Kulturwissenschaft«453 zu fassen und der ästheti- als solches ist niemals schon ein ästhetischer Ge- schen Gegenständlichkeit des Kunstwerkes gröûere genstand. Das Transsubjektive in seinem transsub- Bedeutung einzuräumen. Er beharrte jedoch: »Die jektiven Sein ist in allen Fällen ästhetisch eine Untersuchung der ästhetischen Gegenständlichkeit Null.« (5) »Die ästhetischen Gegenstände fallen fällt in den Bereich der psychologisch-ästhetischen [¼] nicht bloû nach ihrer Wahrnehmungsgrund- Methode. Freilich muû nun diese Methode eine lage in das Gebiet der Psychologie, sondern sind wesentliche Ergänzung erfahren: sie muû durch vermöge ihres Zusammenhanges mit der Tätigkeit normative, werttheoretische und schlieûlich durch des Beziehens, Unterscheidens, Verknüpfens in metaphysische Erwägungen über sich hinausge- noch viel tieferer und feinerer Weise in das seeli- führt werden.«454 Damit war aber das Paradigma sche Getriebe hineingerückt.« (7) der psychologischen ¾sthetik im engeren Sinne Robert Vischer wurde von seinem Vater Fried- verlassen und die Einfühlung, in kritischer Ab- rich Theodor Vischer dazu angeregt, auf den Be- grenzung von Lipps455, als ein ästhetischer Faktor griff der ­Einfühlung¬ zurückzugreifen, dessen Vor- unter anderen relativiert. geschichte ins 18. Jh. zurückreicht (vgl. z.B. den englischen Begriff ­sympathy¬).450 Für Lipps ist die c) Die Differenzierung von ¾sthetik und Einfühlung Quelle des Wissens über andere. allgemeiner Kunstwissenschaft Durch motorischen Mitvollzug fremder Aus- Um die Jahrhundertwende hatte sich das methodi- drucksbewegungen würden im Wahrnehmenden sche und theoretische Selbstbewuûtsein der einzel- Gefühlsbewegungen erzeugt, die dann objektiviert nen Kunstwissenschaften (Poetik, Musikwissen- schaft, Kunstgeschichte/Kunstwissenschaft) so weit entwickelt, daû der Gebietsanspruch der philoso- 448 wilhelm windelband, Geschichte und Naturwis- phischen ¾sthetik, auch Philosophie der Kunst zu senschaft (1894), in: Windelband, Präludien, Bd. 2 sein, auf Widerstand stieû und der Singular-Begriff (Tübingen 1921), 143. der allgemeinen Kunstwissenschaft bzw. Kunst- 449 volkelt (s. Anm. 447), Bd. 1 (München 21927), 7. 450 Vgl. robert vischer, Über das optische Formge- theorie oder Kunstphilosophie gebildet werden fühl. Ein Beitrag zur ¾sthetik (1872), in: R. Vischer, konnte. Mit dieser Absetzung der allgemeinen Drei Schriften zum ästhetischen Formproblem Kunstwissenschaft von der ¾sthetik, vertreten vor (Halle 1927), 1f. allem von Max Dessoir, Richard Hamann und 451 Vgl. lipps, Leitfaden der Psychologie (1903; Leipzig 21906), 36. Emil Utitz, verbindet sich ein weiteres Modell der 452 Vgl. lipps, Zur Einfühlung, in: Lipps (Hg.), Psycho- Verwissenschaftlichung von ¾sthetik. Die Unter- logische Untersuchungen, Bd. 2, H. 2/3 (Leipzig scheidung zwischen ¾sthetik und (allgemeiner) 1913), 174. Kunstwissenschaft war dabei nicht als ausschlieûen- 453 Vgl. volkelt, Das ästhetische Bewuûtsein (Mün- des Konkurrenzverhältnis gedacht, sondern als ein chen 1920), 1. 454 Ebd., 42. Differenzierungsversuch, in dem jede der beteilig- 455 Vgl. ebd., 60±63. ten Wissenschaften aufgefordert ist, ihr Arbeitsfeld VI. ¾sthetik des Schönen/¾sthetik des Häûlichen 379 genau zu bestimmen, was wiederum wissenschafts- Wesen der Kunst verfehlen. Phänomene wie Ten- methodische Voraussetzung für die arbeitsteilige denzkunst, primitive Kunst, religiöse Kunst zeigen, Kooperation der Wissenschaften sein soll. Der »all- daû die Gestaltungen der Kunst nicht immer durch gemeinen Kunstwissenschaft« wird die Aufgabe die Prinzipien der ¾sthetik abgedeckt sind. Ande- zugewiesen, die »Voraussetzungen, Methoden und rerseits sind aber auch das Kunstwerk und der Zu- Ziele« der »besonderen systematischen Wissen- sammenhang der Kunstwerke auf verschiedenen schaften, die man Poetik, Musiktheorie und Ebenen stets mehr als der ästhetische Gegen- Kunstwissenschaft zu nennen pflegt«, »erkenntnis- stand.460 theoretisch zu prüfen« und sich mit den Problemen zu beschäftigen, »die das künstlerische Schaffen d) Kritik der psychologischen ¾sthetik und der Ursprung der Kunst, die Einteilung und Mit der scharfen Kritik der psychologischen ¾s- die Funktion der Künste dem Nachdenken stellen, thetik, worunter jetzt alle Spielarten sensualisti- Gebiete, die sonst keine Stätte finden könnten. scher, empirischer ¾sthetik zusammengefaût wer- Und vorläufig wenigstens ist der Philosoph beru- den, vollzog sich nach der Jahrhundertwende ein fen, sie zu verwalten.«456 Die allgemeine Kunstwis- Paradigmenwechsel, der ebenfalls der Tendenz zur senschaft soll dabei keineswegs unphilosophisch ­Verwissenschaftlichung¬ der ¾sthetik zugehört. oder empirisch verfahren. So grenzt sich Dessoir Wie gravierend dieser Wechsel war, läût sich an strikt von der ­¾sthetik von unten¬ ab und mokiert den Urteilen über Kants Beitrag zur ¾sthetik an- sich: »wenn es so weit gekommen ist, dass Zoolo- schaulich demonstrieren. Robert Sommers Ge- gen und Physiker als die berufensten Forscher in schichte der ¾sthetik von 1892 war noch ganz Sachen der Aesthetik erscheinen, so heisst das doch selbstverständlich als Geschichte der psychologi- den Hauptpunkt: unser künstlerisches Schaffen und schen ¾sthetik geschrieben worden. Kant wurde Verstehen ausser Augen lassen«457. Utitz, der nach hier als verkappter Cartesianer kritisiert: »Kant ver- den Hindernissen fragt, die dem Ausbau einer all- läût also das Princip der von Leibniz angeregten gemeinen Kunstwissenschaft im Wege stehen, Aesthetik, dass die Kunst Ausdruck der von Ge- kommt zu dem Schluû: »Es ist der im Laufe des fühlen bewegten menschlichen Seele ist und schal- neunzehnten Jahrhunderts geradezu dogmatisch tet Reiz und Rührung als erdigen Bodensatz aus erstarrte Glaube, die Kunst könne in ihrer Gesamt- der Wahrnehmung des Schönen aus.«461 In der 1. heit unter ästhetischem Gesichtspunkt verstanden und gewürdigt werden, oder wenigstens: was an der Kunst wahrhaft Kunst sei, erschlieûe sich der 456 dessoir, ¾sthetik und allgemeine Kunstwissenschaft 2 ästhetischen Forschung. Dadurch wurden alle (1906; Stuttgart 1923), 4. 457 dessoir, Beiträge zur Aesthetik III: Vom Zusam- Kunstprobleme rein ästhetische Probleme. Dabei menhang zwischen Wissenschaft und Kunst, in: Ar- ist es nun eigentlich gleichgültig, ob man vom all- chiv für systematische Philosophie 5 (1899), 69. gemein ¾sthetischen ausgehend ± und dies ist der 458 emil utitz, Grundlegung der allgemeinen Kunst- ungleich häufigere Fall ± die Kunst als einen Son- wissenschaft, Bd. 1 (Stuttgart 1914), 2. 459 Vgl. richard hamann, ¾sthetik (Leipzig 1911); derfall des ¾sthetischen betrachtet und sich damit hamann, Allgemeine Kunstwissenschaft und ¾sthe- den Weg zum wahrhaften Verständnis der Kunst tik, in: Kongreû für ¾sthetik und allgemeine Kunst- verschlieût, oder ob man die Kunst an die Spitze wissenschaft, Berlin 7.±9. Oktober 1913 (Stuttgart stellt und auf diese Weise das ¾sthetische zersetzt 1914), 107±113. und auflöst.«458 460 Vgl. stephan nachtsheim, Kunstphilosophie und empirische Kunstforschung 1870±1920 (Berlin Hinsichtlich des Verhältnisses von ¾sthetik und 1984), 44f.; rudolf heinz, Zum Begriff der philo- Kunstwissenschaft kann man also die Positionen sophischen Kunstwissenschaft im 19. Jahrhundert, von Dessoir, Utitz und auch Hamann459 so zusam- in: A. Diemer (Hg.), Der Wissenschaftsbegriff (Mei- menfassen: ¾sthetik und Kunsttheorie fallen nicht senheim am Glan 1970), 202±237. 461 robert sommer, Grundzüge einer Geschichte der zusammen. Der Bereich der ¾sthetik ist weiter als deutschen Psychologie und Aesthetik von Wolff- der der Kunst. Die Kunst bildet keinen Teilbestand Baumgarten bis Kant-Schiller (Würzburg 1892), des ¾sthetischen. Deshalb muû die ¾sthetik das 348. 380 ¾sthetik/ästhetisch und 2. Auflage des Bandes Systematische Philosophie sich strikt von der psychologischen ¾sthetik ab, in- (1907 und 1908) aus Paul Hinnebergs Sammelwerk dem sie vom ästhetischen Objekt ausgehe und Die Kultur der Gegenwart stammte der Aufsatz zur nicht von den ausgelösten Empfindungen.465 Zwi- ¾sthetik vom Hauptvertreter der psychologischen schen der philosophischen ¾sthetik (¾sthetik von ¾sthetik, Theodor Lipps. Für die 3. Auflage von oben) und der psychologischen ¾sthetik (¾sthetik 1921 schrieb diesen Aufsatz dann der Begründer von unten) suche sich die phänomenologische ¾s- der phänomenologischen ¾sthetik, Moritz Geiger. thetik ihren Weg, indem sie das ästhetische Objekt Kants Beitrag zur ¾sthetik erfuhr nun eine Neube- durch Intuition »heraussehen« (37) lerne und »am wertung: »Erst wenn ± wie für die psychologische einzelnen Beispiel das allgemeine Wesen, die allge- ¾sthetik seit dem 18. Jahrhundert ± die Schönheit meine Gesetzmäûigkeit erschaut« (34). eines Objekts in seiner Fähigkeit besteht, Leiden- Das Pendant zum Postulat der allgemeinen schaften zu erregen (Dubos), zu ergötzen, zu gefal- Kunstwissenschaft bildet die Forderung nach einer len, dann ist jegliche Spur von Erkenntnisfunktion wissenschaftlichen ¾sthetik als Wertwissenschaft, aus dem ¾sthetischen verbannt.« Dagegen setzte die von den Neukantianern erhoben wird. Jonas Geiger das Verdienst der Kantschen Kritik der Ur- Cohn fordert von der ¾sthetik, »die besondere Art teilskraft, »die Autonomie des ästhetischen Gebietes von Werten zu untersuchen [¼], die im Schönen [¼] philosophisch begründet und sichergestellt zu und der Kunst herrschen«466. In diesem Sinne seien haben«462. das ästhetische, das ethische und das logische Wert- Geiger, der selbst aus der Lipps-Schule kam und gebiet zu unterscheiden. Die psychologische ¾s- noch ganz der Psychologie verpflichtet war463, de- thetik (Fechner) und die soziologische ¾sthetik finierte die ¾sthetik als »autonome Einzelwissen- (Ernst Grosse) würden den zentralen Wertgesichts- schaft«464. Die phänomenologische Methode hebe punkt der ¾sthetik verkennen.467 Friedrich Kreis plädiert unter Rückgriff auf Kant für eine »wissen- 462 moritz geiger, ¾sthetik, in: P. Hinneberg (Hg.), schaftliche Theorie des ¾sthetischen«, deren Auf- Die Kultur der Gegenwart, Teil 1, Abt. 6: Systemati- gabe es sei, »das, was wir bereits unvermittelt ver- sche Philosophie (Berlin/Leipzig 31921), 317. standen haben, in das Medium begrifflich-theore- 463 Vgl. geiger, Beiträge zur Phänomenologie des äs- tischer Vermittlung überzuleiten«468. thetischen Genusses (1913), in: Jahrbuch für Philoso- Helmuth Plessners am Beginn der 20er Jahre phie und phänomenologische Forschung, hg. v. E. Husserl, Bd. 1 (Halle 1913), 567±684; georg ausformuliertes Konzept einer ­¾sthesiologie des bensch, Vom Kunstwerk zum ästhetischen Objekt. Geistes¬ als ­Kritik der Sinne¬469 versucht die Ge- Zur Geschichte der phänomenologischen ¾sthetik gensätze im Verhältnis von ästhetischer Werttheo- (München 1994), 13±35. rie und psychologischer ¾sthetik durch eine Radi- 464 geiger, Phänomenologische ¾sthetik, in: Zeit- schrift für ¾sthetik und allgemeine Kunstwissen- kalisierung der phänomenologischen Fragestellung schaft 19 (1925), 30. zu vermitteln.470 Der zentrale kritische Ansatz sei- 465 Vgl. ebd., 32. ner ¾sthesiologie richtet sich gegen eine Erkennt- 466 jonas cohn, Allgemeine ¾sthetik (Leipzig 1901), nistheorie, die unter dem »herrschenden Formalis- 7. mus Kants zu einer Verarmung der Philosophie an 467 Vgl. ebd., 9±12. 468 friedrich kreis, Über die Möglichkeiten einer ¾s- Inhalten des unmittelbaren Lebens führen muûte thetik vom Standpunkt der Wertphilosophie, in: und tatsächlich auch zu einer ungeheuren Mutlo- Zeitschrift für ¾sthetik und allgemeine Kunstwis- sigkeit der Philosophie vor der Wirklichkeit ge- senschaft 19 (1925), 44. führt hat«471. 469 Vgl. helmuth plessner, Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer ¾sthesiologie des Geistes (1923), in: Plessner, Ges. Schriften, Bd. 3 (Frankfurt a.M. 4. ¾sthetiken der Existenz: 1980), 7±315. 470 Vgl. plessner, [Mitbericht auf dem 2. Kongreû für Schopenhauer, Kierkegaard und Nietzsche ¾sthetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Berlin Die Cholera, der Hegel 1831 erlag, vertrieb auch 1924], in: Zeitschrift für ¾sthetik und allgemeine Kunstwissenschaft 19 (1925), 53±56. Schopenhauer aus Berlin. Damit begann »der Aus- 471 plessner (s. Anm. 469), 14. zug des originären, noch heute unmittelbar wirk- VI. ¾sthetik des Schönen/¾sthetik des Häûlichen 381 samen philosophischen Denkens jener Zeit aus der das ­Leben¬ und seine als primär zu setzenden Be- Universität. Ludwig Feuerbach, Marx, Engels, lange.477 Kierkegaard, Nietzsche ± sie waren keine Philoso- Schopenhauers Konzept des ­ästhetischen Ge- phieprofessoren mehr wie Kant, Fichte, Schelling nusses¬ leitet sich ab aus dem Grundgefühl des Pes- und Hegel.«472 Dieser Gesichtspunkt ist zu beto- simismus: Alle Schmerzen, alles Leid, alle Qualen nen, weil die ästhetischen Positionen der ­Veräch- der menschlichen Existenz haben ihre Ursache ter Hegels¬ Schopenhauer, Kierkegaard und Nietz- darin, daû der Mensch vor allem Leib und damit sche zwar im einzelnen stark differieren, doch dem Natur ist. Alles in der Natur wiederum ist seinem gemeinsamen Typus ¾sthetik der Existenz zugehö- Wesen nach Wille, rastloses Begehren, d.h. das ren. Von einem entschieden nachmetaphysischen Geistfremde. Das Schöne und die ästhetische Kon- Denken aus, das von der Anerkennung der Plurali- templation können für Augenblicke von diesem tät der Vernunftformen, der Kategorien ­Differen- ewigen Leiden erlösen: »Da nun alles Leiden aus ziertheit¬ oder ­Sensibilität¬ und dem Beharren auf dem Willen, der das eigentliche Selbst ausmacht, dem Sinnlichen gegenüber dem Spirituellen ge- hervorgeht; so ist, mit dem Zurücktreten dieser prägt ist, erfolgt die Kritik der Philosophie, wobei Seite des Bewuûtseyns, zugleich alle Möglichkeit sich ­Philosophie¬ zugleich neu als Kritik oder als des Leidens aufgehoben, wodurch der Zustand der existentielles Denken unter Verstärkung ästheti- reinen Objektivität der Anschauung ein durchaus scher Komponenten etabliert.473 Auch dies zeigt beglückender wird; daher ich in ihm den einen der den veränderten Status der ¾sthetik an: Das Ziel zwei Bestandtheile des ästhetischen Genusses nach- sind nicht mehr systematische ¾sthetiken, sondern gewiesen habe. Sobald hingegen das Bewuûtseyn das Philosophieren selbst ± in oft fragmentarischer des eigenen Selbst, also die Subjektivität, d.i. der Form ± wird in ästhetischer Hinsicht belangvoll. Wille, wieder das Uebergewicht erhält, tritt auch Das Verhältnis von Philosophie und ¾sthetik kehrt ein demselben angemessener Grad von Unbehagen sich gegenüber der Hegelschule um: Es geht nicht oder Unruhe ein: von Unbehagen, sofern die mehr um philosophische ¾sthetik, sondern um äs- Leiblichkeit (der Organismus, welcher an sich thetische Philosophie, d.h. Philosophie, die mit Wille ist) wieder fühlbar wird; von Unruhe, sofern ästhetischen Mitteln verallgemeinert, mithin »äs- der Wille, auf geistigem Wege, durch Wünsche, thetisches Denken«474. Hier rücken anthropologi- Affekte, Leidenschaften, Sorgen, das Bewuûtseyn sche Gesichtspunkte in den Vordergrund. »Wenn wieder erfüllt.«478 Schopenhauer strebt über Kants die Welt nicht mehr als sinnhafter Prozeû er- Schönheitsbegriff hinaus, indem er ihm »Objekti- scheint, dann fällt es nach diesen Denkern [Scho- vität« geben will: Kant gehe nicht »vom Schönen penhauer und Nietzsche ± d.Verf.] der Kunst zu, Möglichkeiten zu finden, mit der negativ gesehe- 472 herbert schnädelbach, Philosophie in Deutsch- nen Welt ­zu Rande zu kommen¬ und sich von ih- land 1831±1933 (Frankfurt a.M. 1983), 15. rem Druck zu entlasten.«475 Damit öffnet sich die 473 Vgl. josef früchtl, ¾sthetische Erfahrung und ¾sthetik der ­Lebenswelt¬, womit auch ihre Ein- moralisches Urteil. Eine Rehabilitierung (Frankfurt grenzung auf eine Philosophie der Kunst hinfällig a.M. 1996), 17. 474 Vgl. welsch, ¾sthetisches Denken (Stuttgart 1990). wird. Gleichwohl spielt ­Kunst¬ als Paradigma des 475 walter schulz, Metaphysik des Schwebens. Un- Handelns und Vergegenständlichens (poieÅsis) eine tersuchungen zur Geschichte der ¾sthetik (Pfullin- zentrale Rolle. Diese ¾sthetikentwürfe stellen gen 1985), 35. Selbsttechniken dar: Lebensbewältigung durch Be- 476 Vgl. michel foucault, Histoire de la sexualitØ, Bd. 2 (Paris 1984), 16f.; werner jung, Von der tonung und ¾sthetisierung der Existenz, der Kon- zur Simulation. Eine Einführung in die Ge- templation oder des Willens.476 Gemeinsam ist schichte der ¾sthetik (Hamburg 1995), 109. Schopenhauer und Nietzsche auch die Kritik von 477 Vgl. schopenhauer, Die Welt als Wille und Vor- Geschichte und Geschichtsphilosophie, die bei stellung (1819), in: schopenhauer, Bd. 3 (21949), nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil Schopenhauer aus Gründen der Bewahrung der 501±510; der Historie für das Leben (1874), in: nietzsche Individualität im Namen der Philosophie und der (kga), Abt. 3, Bd. 1 (1972), 239±330. Kunst erfolgt, bei Nietzsche unter Berufung auf 478 schopenhauer (s. Anm. 477), 420f. 382 ¾sthetik/ästhetisch selbst, vom anschaulichen, unmittelbaren Schönen ein Kunstwerk (vgl. den Untertitel Ein Lebensfrag- aus, sondern vom Urtheil über das Schöne, dem ment), in dem der Autor hinter einem fiktiven sehr häûlich sogenannten Geschmacksurtheil. Die- Herausgeber verschwindet und seine Identität in ses ist ihm sein Problem. Besonders erregt seine drei Figurationen (den ¾sthetiker, den Ethiker, Aufmerksamkeit der Umstand, daû ein solches Ur- den Ironiker) auflöst, zwischen denen eine Art theil offenbar die Aussage eines Vorgangs im Sub- Rollenspiel stattfindet, in dessen Verlauf der exi- jekt ist, dabei aber doch so allgemein gültig, als be- stenzphilosophisch gefaûte Konflikt zwischen träfe es eine Eigenschaft des Objekts. Dies hat ihn Ethik und ¾sthetik ausgetragen wird. Primär ist frappirt, nicht das Schöne selbst. Er geht immer die ästhetische Existenz: »Das ¾sthetische in einem nur von den Aussagen Anderer aus, vom Urtheil Menschen ist das, dadurch er unmittelbar das ist, über das Schöne, nicht vom Schönen selbst. Es ist was er ist.«481 Durch sein biologisches Erbe wird daher, als ob er es ganz und gar nur von Hörensa- der Mensch in dieses ästhetische Stadium hinein- gen, nicht unmittelbar kennte.«479 Schopenhauers geboren. Hier macht das Individuum seine Wahr- »Lösung« ist der Rückzug auf die platonische Idee: nehmungen, reagiert auf seine Umgebung und Das »willensreine Subjekt des Erkennens«, die folgt seinen Trieben und Affekten. Das Kind lebt »reine Intelligenz ohne Absichten und Zwecke« ausschlieûlich in diesem ästhetischen Dasein. Mit schaut »im Schönen allemal die wesentlichen und dem Phänomen der ­Wahl¬ aber öffnet sich das Ge- ursprünglichen Gestalten der belebten und unbe- biet des Ethischen: »Indem die Persönlichkeit sich lebten Natur«480. Das Schöne verkörpert die plato- selbst wählt, wählt sie sich selbst ethisch und nische Idee: »Deshalb giebt jedes Gemälde, schon schlieût in absoluter Rücksicht das Aesthetische dadurch, daû es den flüchtigen Augenblick für aus; da aber der Mensch sich selbst wählt, und immer fixirt und so aus der Zeit herausreiût, nicht durch die Wahl seiner selbst nicht etwa ein andres das Individuelle, sondern die Idee, das Dauernde in Wesen wird, sondern er selbst wird, so kehrt das allem Wechsel.« (444) Aus dieser platonischen gesamte Aesthetische wieder in seiner Relativi- Schönheitsauffassung folgt die Radikalität des tät.«482 Diese Aporie ist zugleich die groûe Frage Formbegriffs: »Es ist also dem Kunstwerke wesent- von Entweder/Oder: Wie ist die ästhetische Exi- lich, die Form allein, ohne die Materie, zu geben, stenz mit einem Ethos zu verbinden? Dabei spielt und zwar Dies offenbar und augenfällig zu thun.« die ­Grenzexistenz¬ des Ironikers483 eine vermit- (449) Aus diesem Formbegriff wiederum leitet sich telnde Rolle. Der duale Aufbau A (ästhetischer die Spitzenstellung der Musik ab: Sie ist »die wahre Diskurs) und B (ethischer Diskurs) von Entweder/ allgemeine Sprache, die man überall versteht« Oder ist nicht so zu verstehen, als ob hier Lebens- (457). Die »Musik überhaupt ist die Melodie, zu entwürfe in parataktischer Anordnung gegeben der die Welt der Text ist« (458). würden. Vielmehr handelt es sich um die Analytik Sùren Kierkegaards ¾sthetik ist implizit in sei- der Möglichkeiten existentiellen Verhaltens in den nem Hauptwerk Entweder/Oder angelegt, das in drei Sphären des ¾sthetischen, des Ethischen und seinem verschachtelten und verästelten Aufbau die des Religiösen in einem Zusammenhang, in dem es Reaktionsweise Kierkegaards auf den modernen freilich die problemreichen Grenzdialektiken zwi- Kontingenzschock klar erkennen läût. Es ist selbst schen ¾sthetik/Ethik, Ethik und Religiosität gibt. Zu solcher Grenzdialektik gehört auch, daû in der Sphäre B, dem Ethik-Diskurs von Entweder/Oder, 2 479 schopenhauer (s. Anm. 477), Bd. 2 ( 1949), 629. ästhetische Figuren und Kategorien zu entdecken 480 schopenhauer, Parerga und Paralipomena (1851), in: schopenhauer, Bd. 6 (21947), 442. sind (­Genuû¬, ­Stimmung¬, ­Augenblick¬, ­Ver- 481 sùren kierkegaard, Entweder/Oder (1843), zweiflung¬, ­Angst¬ u.a.), die dazu beitrugen, daû übers. v. E. Hirsch, in: kierkegaard, Abt. 2/3 Kierkegaards Ethik sich von einer Sollens-Ethik (1957), 190. (die Frage, was soll ich tun) zu einer Wollens-Ethik 482 Ebd., 189. (wer, was für ein Mensch will ich sein) wandelte. 483 Vgl. kierkegaard, Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates (1841), übers. v. E. An dieser Wollensethik arbeitet dann auch die Iro- u. R. Hirsch, in: kierkegaard, Abt. 31 (1961). nie wieder kräftig mit. Ironie (als ­Witz¬, intellek- VII. Differenzierungen im ¾sthetikbegriff (Transformationen idealistischer ¾sthetik) 383 tuelle Schärfe und kritisches [Selbst-]Bewuûtsein, VII. Differenzierungen im ¾sthetikbegriff im Gegensatz zum Humor) wird gewissermaûen (Transformationen idealistischer ¾sthetik) zu einer Methode indirekter Kommunikation, mit der die Verdinglichungstendenzen der abstrakten Vergesellschaftung so aufgebrochen werden, daû 1. Der ­ästhetische Mensch¬ sie weiterhin eine ihnen nicht vollkommen ausge- Hegels Bestimmung der ¾sthetik als philosophi- lieferte Individualität zulassen. Ironie ermöglicht sche Reflexionstheorie der Kunst auf der Grund- die Negation abstrakter Intersubjektivität, das Gel- lage der Normativität der griechischen Antike tenlassen des Anderen und die Selbstbehauptung wurde im 19. Jh. in Deutschland im Zuge der In- des Sprechenden und Mitteilenden.484 stitutionalisierung von ¾sthetik als einem der Phi- Auch Nietzsches physiologische ¾sthetik kann losophie zu- und untergeordneten Fach selbst zu in diesem Zusammenhang als Philosophie der Le- einer Norm akademischer Lehre.487 Eine Folge bensbewältigung bezeichnet werden. Zum Typus war, daû die Doppelbedeutung im Namen der ¾s- seiner ¾sthetik der Existenz gehört neben dem thetik, bei Baumgarten und bei Kant noch gegen- physiologischen, wirkungsästhetischen Gesichts- wärtig als eine Lehre vom Schönen und eine Lehre punkt auch der poietische der Kunst. Über diesen vom Sinnlichen, verlorenging bzw. daû das »Sinn- vermittelt sich die aisthetische Sensibilität mit der liche der Kunst« von Hegel auf die »beiden theoreti- lebensphilosophischen Betonung von gestaltender schen Sinne des Gesichts und Gehörs« begrenzt Kraft und Lebensorganisation als Selbstbehauptung wurde, »während Geruch, Geschmack und Gefühl des Individuums. So heiût es: »Eins ist Noth. ± Sei- vom Kunstgenuû ausgeschlossen bleiben. Denn nem Charakter ­Stil geben¬ ± eine grosse und sel- Geruch, Geschmack und Gefühl haben es mit dem tene Kunst! Sie übt Der, welcher Alles übersieht, Materiellen als solchem und den unmittelbar sinn- was seine Natur an Kräften und Schwächen bietet, lichen Qualitäten desselben zu tun«488. ¾sthetik als und es dann einem künstlerischen Plane einfügt, Begriff der Reflexion über Kunst grenzte diese bis ein Jedes als Kunst und Vernunft erscheint und nicht nur von Einflüssen sinnlicher Materialität ab, auch die Schwäche noch das Auge entzückt. Hier wie Hegel in der ¾sthetik schrieb: »In dieser for- ist eine grosse Masse zweiter Natur hinzugetragen mellen Idealität nun aber der Kunst ist es nicht der worden, dort ein Stück erster Natur abgetragen: ± Inhalt selbst, was uns vornehmlich in Anspruch beidemal mit langer Uebung und täglicher Arbeit nimmt, sondern die Satisfaktion des geistigen Her- daran. Hier ist das Hässliche, welches sich nicht ab- vorbringens. Die Darstellung muû hier natürlich tragen liess, versteckt, dort ist es in's Erhabene um- erscheinen, doch nicht das Natürliche daran als gedeutet.«485 Im Zentrum steht hier die These: solches, sondern jenes Machen, das Vertilgtwerden Kunst ist jedes Werk, das sein eigenes Gesetz aus- gerade der sinnlichen Materialität und der äuûeren bildet.486 Analog wird für das autonome Indivi- Bedingungen ist das Poetische und Ideale im for- duum gefordert, aus seiner Individualität und sei- mellen Sinne.«489 Durch solche Idealisierung nem Leben ein ­Werk¬ zu machen. konnte der Begriff auf eine gleichsam religiöse

Dieter Kliche 484 Vgl. markus lilienthal, Entweder-Oder? Zur Dialektik von Ethik und ¾sthetik bei Kierkegaard, in: G. Gamm/G. Kimmerle (Hg.), Ethik und ¾sthe- tik. Nachmetaphysische Perspektiven (Tübingen 1990), 161ff. 485 nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (1882), in: nietzsche (kga), Abt. 5, Bd. 2 (1973), 210. 486 Vgl. früchtl (s. Anm. 473), 160. 487 Vgl. klaus weimar, Geschichte der deutschen Li- teraturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhun- derts (München 1989). 488 hegel (ästh), 82. 489 Ebd., 190. 384 ¾sthetik/ästhetisch

Weise aufgeladen und (wie bei Schiller in den Brie- (1884) oder Thomas Manns bilanzierende Be- fen über die ästhetische Erziehung des Menschen) zum schreibung des »ästhetizistischen Renaissance- Modell ­ästhetischer Kultur¬490 werden. Paul de Nietzscheanismus«494 um 1900. In den Betrachtun- Man hat darin Kerngedanken einer folgenreichen gen eines Unpolitischen (1918) ist der ¾sthet der per- und spezifisch deutschen ­ästhetischen Ideologie¬ sonifizierte Inbegriff eines ungenau bestimmten gesehen, die im 19. Jh. einen Oberton des ästheti- ¾sthetischen, das in dieser Form die romantischen schen Diskurses ausmachte. »Out of a text like Vorstellungen einer Kunstreligion ablöst. Das ¾s- Schiller's Letters on Aesthetic Education [¼] a whole thetische wird zum Begriff von Lebenskunst. tradition in Germany ± in Germany and elsewhere Der von Kierkegaard zuerst in seinem Verdikt ± has been born: a way of emphasizing, of revalor- gegen den Immobilismus des ¾sthetischen ausge- izing the aesthetic, a way of setting up the aesthet- sprochene Verdacht, ein ­ästhetisches Leben¬ sei ic as exemplary, as an exemplary category, as a uni- amoralisch und irreligiös, wurde in den Fin-de- fying category, or as a model for education, as a si›cle-Auseinandersetzungen um die Formen eines model even for the state.«491 künstlerischen ¾sthetizismus verstärkt. ¾sthetik als Als Epochensignatur der Kunstperiode in Lebensmaxime wurde zum Inbegriff politischer Deutschland wurde ¾sthetik zum Merkmal eines Verantwortungslosigkeit und zu einem Kampfbe- ­ästhetischen Menschen¬ stilisiert, eine Prägung griff. Die im Begriff des ­ästhetischen Menschen¬ Wilhelm Diltheys, der diesen Begriff als emblema- ausgedrückte Verallgemeinerung hat dann der tischen Typ der deutschen Klassik in seinem Nach- Leipziger Literaturwissenschaftler Karl Justus ruf auf den Literarhistoriker Julian Schmidt cha- Obenauer in seinem Buch Die Problematik des äs- rakterisierte: »Der ästhetische Mensch sucht in sich thetischen Menschen in der deutschen Literatur (1933) und andern Gleichgewicht und Harmonie der Ge- als einer Untersuchung über den »historischen Ge- fühle zu verwirklichen; von diesem Bedürfnis aus staltwandel des ästhetischen Typus« und über die gestaltet er sein Gefühl des Lebens und seine An- »möglichen Formen ästhetischer Weltschau über- schauungen der Welt, und seine Schätzung der haupt«495 analysiert. Das im Geiste überzeugten Wirklichkeit ist davon abhängig, wiefern dieselbe Bekenntnisses zur »Erhebung des Frühjahrs 1933« die Bedingungen für ein solches Dasein ge- (V) geschriebene Buch verabschiedet die ­ästheti- währe.«492 Der ­ästhetische Mensch¬ (oder der ­¾s- sche Lebensidee¬ als gefahrvolle Tendenz, in der thet¬), zu dessen Genealogie Kierkegaards kritische eine von der Autonomie der Kunst getragene indi- Darstellung der Verkörperung einer »aesthetischen vidualistische Vergangenheit verlängert sei. »Nie- Lebensanschauung«, einer »aesthetischen Existenz« mand wünscht im unklaren darüber gelassen zu im dem Selbstgenuû ausgelieferten »aesthetischen werden, wo die Grenzen der ästhetischen Lebensidee Individuum«493 ebenso gehört wie Oscar Wildes liegen. Diese ins Bewuûtsein zu erheben, ist heute The Picture of Dorian Gray (1891), der Marquis des die Aufgabe. Wir haben nur noch geringe Sympa- Esseintes in Joris-Karl Huysmans' Roman À rebours thien für diesen Typus, wir können selbst Kierke- gaard zustimmen, der den ästhetisch Lebenden in nihilistischer Schwermut enden läût. Zugleich 490 Vgl. georg lukµcs, EsztØtikai kult‚ra (Budapest schlieût all dies nicht aus, daû selbst unsere, dem 1912). Künstlichen scheinbar so abgeneigte Welt des 491 paul de man, Kant and Schiller, in: de Man, Aes- Sports, der Technik, der alles verschlingenden So- thetic Ideology (Minneapolis/London 1996), 130. zial- und Wirtschaftssorgen von den Nachwirkun- 492 wilhelm dilthey, Julian Schmidt (1887), in: dil- they, Bd. 11 (1936), 232. gen sehr problematischer ästhetischer Tendenzen 493 kierkegaard (s. Anm. 481), 203, 245, 277. in Weltschau und Lebensform keineswegs frei ist, 494 thomas mann, Betrachtungen eines Unpolitischen und daû wir uns von diesen nur dann wirklich völ- (1918), in: Mann, Aufsätze, Reden, Essays, hg. v. H. lig loslösen, wenn wir sie ganz durchschauen.« Matter, Bd. 2 (Berlin 1983), 706. (2f.) Die »Epoche des neu-romantischen ¾stheti- 495 karl justus obenauer, Die Problematik des äs- thetischen Menschen in der deutschen Literatur zismus« (404) markiert Obenauer zufolge das Ende (München 1933), 1. des »ästhetischen Typus« (1), dem der Autor in ei- VII. Differenzierungen im ¾sthetikbegriff (Transformationen idealistischer ¾sthetik) 385 ner von Max Nordaus Buch Entartung (1892) be- dierten »aesthetischen Willen« (405). »Es ist be- einfluûten sozialdarwinistischen Wendung patho- schämend und doch Tatsache, daû, während es logische Züge bescheinigt. »Die politische, d.i. die unzählige ­Aesthetiken¬ gibt, die unerläûliche Vor- national-soziale, nicht die ästhetische Erziehung aussetzung einer Aesthetik überhaupt: die Darstel- steht heute im Vordergrund; ihr kommt der Primat lung der Entwicklung der rassischen Schönheits- zu, und indem sie das Hauptgewicht auf sittliche ideale, bis auf heute nicht geschrieben ist.« (293) Werte, auf das neue Ethos der Arbeit, auf Charak- Gegen Kants Bestimmung des sensus communis als terbildung und intelligente Willensschulung legt, des Ortes freiheitlicher und unvoreingenommener die allein ein härteres, zu heroischen Opfern berei- Verständigung setzte Rosenberg dessen totalitäre tes Geschlecht ermöglichen, wird auch die Patho- Pervertierung durch einen jedes reflektierende Ur- logie der ästhetischen Typen mehr und mehr ver- teil ausschaltenden Absolutheitsanspruch faschisti- schwinden, diese Kulturkrankheit, die aus einer scher Ideologie. Mit dem ästhetischen Gemeinsinn Überbildung entwurzelt-subjektiver Phantasie, habe »Kant das Suchen am kritischen Punkt in ver- passiven Einfühlungsvermögens und verfeinerter hängnisvoller Richtung abgebogen. Unbewuût Sinnlichkeit entstand.« (404) zweckmäûig wirkt auf uns die Schönheit der Venus Was das Wesensideal eines ­ästhetischen Men- von Giorgione; so wirkt aber auch jede andere schen¬ zu einem Stein des Anstoûes werden lieû, echte rassisch, d.h. organisch-seelisch bedingte war ein Begriff von Souveränität des Individuums Schönheit. Aus der Kantschen ersten Erkenntnis und Willensfreiheit. Als Bedrohung der ­Gemein- ergibt sich für uns heute als Schluûfolgerung: der schaft¬ im Faschismus oder des ­Kollektivs¬ im Stali- Anspruch auf ­Allgemeingültigkeit¬ eines Geschmacksur- nismus wurde ¾sthetik in diesem idealistischen teils folgt nur aus einem rassisch-völkischen Schönheits- Sinn immer auch zu einem Gegenbegriff von Poli- ideal und erstreckt sich auch nur auf jene Kreise, die, be- tik. Carl Schmitt hatte in seiner Schrift Politische wuût oder unbewuût, die gleiche Idee von Schönheit im Romantik (1919) dafür den Bewegungsbegriff ­¾s- Herzen tragen.« (303) thetisierung¬ geprägt und eine »anspruchsvolle Ex- Standen diese Transformationen idealistischer pansion des ¾sthetischen« als das Merkmal einer ¾sthetik ins Totalitäre im Zeichen der Zerstörung Privatisierung aller Bereiche der Gesellschaft seit von Subjektivität, so wurden zu Beginn der 90er der Romantik diagnostiziert. »Die allgemeine ¾s- Jahre Idee und Begriff des ­ästhetischen Menschen¬ thetisierung diente, soziologisch betrachtet, nur als einer Leitfigur der Moderne zur Verteidigung dazu, auf dem Wege über das ¾sthetische auch die von Subjektivität gegen die pathologischen und fa- andern Gebiete des geistigen Lebens zu privatisie- schistischen Bestimmungen revalorisiert. Als Sinn- ren.«496 ¾sthetisierung als Bewegung der Privatisie- bild einer Geschichte der Subjektivität ± »L'hi- rung erzeugt Carl Schmitt zufolge Politisierung als stoire de l'esthØtique comme histoire de la subjec- Gegenbewegung, eine diskursive Opposition, die, tivitØ« ± begriff der französische Philosoph Luc im Kontext der deutschen konservativen Revolu- Ferry ¾sthetik im Sinne ihres aufklärerischen Be- tion entstanden, den ¾sthetikbegriff des deutschen griffs geradezu als »prototype de la culture mo- Idealismus pejorativ besetzte. Noch Walter Benja- mins Kontrastformel von faschistischer »¾sthetisie- rung der Politik« versus kommunistischer »Politi- sierung der Kunst«497 steht ganz im Bann dieser begriffsgeschichtlichen Konstellation, die die mili- 496 carl schmitt, Politische Romantik (1919; Berlin 1998), 166, 17. tante Maschinen- und Kriegsästhetik des italieni- 497 walter benjamin (s. Anm. 51), 384. schen Futurismus498 ebenso bestimmte wie die 498 Vgl. filippo tommaso marinetti, Nascita di Ideologie des deutschen Faschismus. un'estetica futurista (1921), in: Marinetti, Teoria e Alfred Rosenberg forderte dann in seinem My- invenzione futurista, hg. v. L. De Maria (Mailand 1983), 314±318; marinetti, Il paesaggio e l'estetica thus des 20. Jahrhunderts (1930) die Überwindung futurista della macchina (1931), in: ebd., 625±636. der »abendländischen ­Aesthetik¬ einer ­mensch- 499 alfred rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhun- heitlichen¬ Spätzeit«499 durch einen rassistisch - derts (1930; München 1936), 289. 386 ¾sthetik/ästhetisch derne«500. Der ­Homo Aestheticus¬ repräsentiere entsprechende Ethik ökologischen Zuschnitts: »un das ästhetische Urbild einer anderen Geschichte, Øthos qui vient d'en bas. Morale versus Øthique.« »le nØgatif d'une autre histoire« (16), die den Pro- (25) Die Beobachtung einer »esthØtisation galo- zeû der Subjektwerdung des modernen Indivi- pante« (14) unter dem Postulat einer Lebenskunst duums als eine »histoire de l'individualisme dØmo- (»C'est toute la vie quotidienne qui peut †tre con- cratique ou de la subjectivitØ moderne« (9) be- sidØrØe comme une úuvre d'art.« [26]) und die ei- schreibe: »l'esthØtique est, par excellence, le champ nes »zerbrochenen Subjekts« als Ausgangspunkte au sein duquel les probl›mes soulevØs par la subjec- einer neuen ¾sthetik (»le sujet brisØ et l'av›nement tivisation du monde caractØristique des Temps mo- de l'esthØtique contemporaine«504) stellen die Neu- dernes peuvent †tre observØs pour ainsi dire à l'Øtat bestimmung des ­ästhetischen Menschen¬ zu chimiquement pur.« (14) Nietzsches Konzeption der ¾sthetik in Beziehung, 1990 publizierte auch der französische Soziologe die das Problematische und Fragwürdige dieser Michel Maffesoli ein Buch, das die Problemstel- Idee und dieses subjektzentrierten Begriffs von ¾s- lung Kierkegaards, die Vermittlung von Ethik und thetik erklärt und in einer anderen Perspektive ¾sthetik, aktualisiert. Den Begriff einer den Be- zeigt. Das tat auch schon Joseph Brodsky, als er in reich der Künste in »la vie quotidienne«501 über- seiner Nobelpreisrede (1987) ± wie schon Witt- schreitenden ­esthØtique gØnØralisØe¬502 gründet genstein in seinen Lectures on Aesthetics von 1938 ± Maffesoli auf eine Unterscheidung zwischen Ethik ¾sthetik als Quelle von Ethik thematisierte: »Jede und Moral. »Je montrerai que l'esthØtique s'est dif- neue ästhetische Realität präzisiert die ethische. fractØe dans l'ensemble de l'existence. Plus rien Denn die ¾sthetik ist die Mutter der Ethik. Die n'en est indemne. Elle a contaminØ le politique, la Begriffe ­Schön¬ und ­Nicht-Schön¬ sind zunächst vie de l'entreprise, la communication, la publicitØ, ästhetische Begriffe, welche den Kategorien ­Gut¬ la consommation, et bien sßr la vie quoti- und ­Böse¬ vorausgehen.«505 dienne.«503 Dem Zerfall universeller und verbindli- cher Moralprinzipien antwortet eine partikulare, 2. ­Lebenskunst¬ und ­physiologische ¾sthetik¬ bei dem konkreten und lokalen Leben der Menschen Nietzsche Nietzsche hat zuerst die in der Idee eines ­ästheti- 500 luc ferry, Homo Aestheticus. L'invention du goßt schen Menschen¬ ausgedrückte Tendenz, Kunst à l'âge dØmocratique (Paris 1990), 42, 37. und Leben zu verbinden, auf einen neuen ästheti- 501 michel maffesoli, Aux creux des apparences. schen Begriff gebracht, der dieses »Gewächs des Pour une Øthique de l'esthØtique (Paris 1990), 26. 19. Jahrhunderts«506 dekonstruiert. Die Geburt der 502 Vgl. roger caillois, EsthØtique gØnØralisØe (Paris 1962). Tragödie (1872) begründet »die Duplizität des Apol- 503 maffesoli (s. Anm. 501), 13f. linischen und des Dionysischen« als Leitdifferenz »aes- 504 ferry (s. Anm. 500), 209. thetischer Wissenschaft«507. Der leitmotivische und 505 joseph brodsky, Der Staat, die Sprache und der »anzügliche Satz«, wie Nietzsche im Bewuûtsein Dichter (1987) in: T. Gut (Hg.), Das sichtbar Un- des Provokativen seiner Aussage schreibt, »dass nur sichtbare. Kunst zwischen Tradition und Freiheit. Texte zur Philosophie der Kunst (Ostfildern 1994), als ästhetisches Phänomen das Dasein der Welt ge- 56; vgl. wittgenstein, Lectures on Aesthetics rechtfertigt ist«508, visiert einen »ästhetischen Zu- (gehalten 1938), in: Wittgenstein, Lectures & Con- stand« (43) an, in dem die Beziehungen von Kunst versations on Aesthetics, Psychology and Religious und Moral, Wissenschaft und Kunst, Subjektivem Belief, hg. v. C. Barrett (Oxford 1966); dt.: Vorle- sungen über ¾sthetik, in: Wittgenstein, Vorlesungen und Objektivem neu geordnet werden. Gegen den und Gespräche über ¾sthetik, Psychoanalyse und re- »ästhetischen Sokratismus« (81) und den »Typus des ligiösen Glauben, hg. v. C. Barrett, übers. v. R. theoretischen Menschen« (94) setzt Nietzsche als Prin- Funke (Düsseldorf/Bonn 1994), 9±62. zip seiner ¾sthetik, »die Wissenschaft unter der 506 , Nietzsche, Bd. 1 (Pfullingen Optik des Künstlers zu sehn, die Kunst aber unter 1961), 107. 507 nietzsche (s. Anm. 48), 21. der des Lebens« (8). Ist Die Geburt der Tragödie hi- 508 Ebd., 11; vgl. ebd., 43, 148. storisch eine »ästhetische Theorie am Paradigma VII. Differenzierungen im ¾sthetikbegriff (Transformationen idealistischer ¾sthetik) 387 der Tragödie«509, so markiert sie doch »über die Kunstfeindes, den Europa bisher hervorgebracht Phraseologie unserer üblichen Aesthetik hinaus«510 hat«517. »Meine Philosophie umgedrehter Platonis- eine deutliche Grenze zur Idee des künstlerischen mus: je weiter ab vom wahrhaft Seienden, um so Subjekts als dem Ursprung der Kunst und als In- reiner schöner besser ist es. Das Leben im Schein stanz der Moral, jenen Grundbegriffen idealisti- als Ziel.«518) wurde in ihrer Radikalität von Hei- schen ästhetischen Denkens im 19. Jh. »Wir be- degger nicht geteilt, weil für ihn ¾sthetik letzten haupten vielmehr, dass der ganze Gegensatz, nach Endes (und im Unterschied zu Nietzsche) Kunstäs- dem wie nach einem Werthmesser auch noch thetik blieb.519 »Die Kunst der Physiologie auslie- Schopenhauer die Künste eintheilt, der des Subjec- fern, das sieht so aus wie: die Kunst auf die Ebene tiven und des Objectiven, überhaupt in der Aes- des Funktionierens der Magensäfte herabsetzen. thetik ungehörig ist, da das Subject, das wollende [¼] Die Kunst als Gegenbewegung zum Nihilis- und seine egoistischen Zwecke fördernde Indivi- mus und die Kunst als Gegenstand der Physiologie, duum nur als Gegner, nicht als Ursprung der Kunst dies heiût: Feuer und Wasser mischen wollen.«520 gedacht werden kann.«511 Nietzsche kündigte an, auf die »Probleme der Nietzsches Einführung des Dionysischen in die bisher so unberührten, so unaufgeschlossenen Phy- Kunsttheorie hat ihr Zentrum im Rausch als ei- siologie der ¾sthetik«521 zurückzukommen. Er no- nem Inbegriff des ­ästhetischen Zustands¬. Im Be- tierte: »Aesthetik hat nur Sinn als Naturwissen- griff des Rauschs bringt Nietzsche die aisthetische schaft«522. Und an anderer Stelle heiût es: »¾sthetik Dimension als Steigerung des »gesammten Affekt- ist ja nichts als eine angewandte Physiologie.«523 In Systems«512 zum Tragen. Dessen »physiologische seiner Wagner-Kritik hat Nietzsche seinen Begriff Vorbedingung« (110) läût die Grenze der ästheti- einer physiologischen ¾sthetik an den ­physiologi- schen Psychologie und ihrer Verkörperung durch schen Notständen¬ in Wagners Musik auf eine den ­ästhetischen Menschen¬ erkennen, wie Hei- degger in seinem Nietzsche-Buch dargestellt hat. 509 heinrich niehues-pröbsting, ¾sthetik und Rhe- Nietzsches Frage »Was bedeutet der von mir in die torik in der ­Geburt der Tragödie¬, in: J. Kopper- Aesthetik eingeführte Gegensatz-Begriff apollinisch schmidt/H. Schanze (Hg.), Nietzsche oder ­Die und dionysisch, beide als Arten des Rausches begrif- Sprache ist Rhetorik¬ (München 1994), 99. 510 nietzsche (s. Anm. 48), 100. fen?« (111) wurde von Heidegger als dessen »­ex- 511 Ebd., 43. tremste¬ ¾sthetik« charakterisiert, »weil sie auf den 512 nietzsche, Götzen-Dämmerung (1889), in: nietz- Zustand des Schaffens und Genieûens blickt«513. sche (kga), Abt. 6, Bd. 3 (1969), 111. Von der Musik und Wagners ­Gesamtkunstwerk¬ 513 heidegger (s. Anm. 506), 152. her denkend, schreibt Nietzsche: »Damit es Kunst 514 nietzsche (s. Anm. 512), 110. 515 peter sloterdijk, Der Denker auf der Bühne. giebt, damit es irgend ein ästhetisches Thun und Nietzsches Materialismus (Frankfurt a.M. 1986), Schauen giebt, dazu ist eine physiologische Vorbe- 158. dingung unumgänglich: der Rausch. Der Rausch 516 friedrich a. kittler, Nietzsche (1844±1900), in: muss erst die Erregbarkeit der ganzen Maschine H. Turk (Hg.), Klassiker der Literaturtheorie (Mün- gesteigert haben: eher kommt es zu keiner chen 1979), 194. 517 nietzsche, Zur Genealogie der Moral (1887), in: Kunst.«514 Man hat darin eine »dionysische Polito- nietzsche (kga), Abt. 6, Bd. 2 (1968), 420. logie der Passionen«515 sehen wollen, auch eine 518 nietzsche, Nachgelassene Fragmente. Herbst 1869 Rehabilitierung rhetorischer Körpertechniken, die bis Herbst 1872, in: nietzsche (kga), Abt. 3, Bd. 3 die Sinne dem traditionellen Diktat durch das auf (1978), 207; vgl. , Renverser le pla- tonisme (les simulacres), in: Revue de mØtaphysique Schrift fixierte Sehen/Gesicht als den theoreti- et de morale 71 (1966), 426±428. schen Führungssinn par exellence entzieht und an 519 Vgl. derrida (s. Anm. 1), 299. dessen Stelle eine Konzeption setzt, die »am Leitfa- 520 heidegger (s. Anm. 506), 110f. den des Leibes«516 die Philosophie in Physiologie 521 nietzsche (s. Anm. 517), 374. nietzsche (s. Anm. 518), 421. transformiert. 522 523 nietzsche, Nietzsche contra Wagner (entst. 1888± Nietzsches anti-platonistische ­physiologische 1889), in: nietzsche (kga), Abt. 6, Bd. 3 (1969), ¾sthetik¬ (»der Instinkt Plato's, dieses grössten 416. 388 ¾sthetik/ästhetisch

Weise entfaltet, die physiologische ¾sthetik nicht esse gefällt« (365). Aus der Perspektive des Künst- als ein Ideal oder als eine Anweisung zur Kunst- lers, bei dem Nietzsche in diesem Zusammenhang übung ausweist, sondern als ein diagnostisches und Stendhal vor Augen hat, und aus seiner eigenen ei- analytisches Prinzip. »Die schädliche Wirkung der nes Denkers am Abgrund ist das Interesse am W Kunst beweist deren tiefe organi- Schönen das »des Torturirten, der von seiner Tor- sche Gebrechlichkeit, deren Corruption. Das Voll- tur« (367) loskommen will, ist es eine promesse de kommene macht gesund; das Kranke macht krank. bonheur, eine Hoffnung und ein Glücksverspre- Die physiologischen Nothstände, in die Wagner chen. Und in jedem Fall führt diese an der Erfah- seine Hörer versetzt (unregelmäûiges Athmen, rung des Künstlers orientierte physiologisch-ästhe- Störung des Blutumlaufs, extreme Irritabilität mit tische Perspektive nicht zurück auf eine Werkäs- plötzlichem Coma) enthalten eine Widerlegung sei- thetik, sondern sie weist in ihrer Begrifflichkeit auf ner Kunst / Mit diesen zwei Formeln ist nur die eine zeitgemäûe Affektenlehre voraus. Folgerung jenes allgemeinen Satzes gezogen, der Nietzsche hat damit eine Tradition fortgeführt für mich das Fundament aller Aesthetik abgibt: und aufgehoben, die im 19. Jh. durch die Spaltung daû die aesthetischen Werthe auf biologischen der ¾sthetik in »naturwissenschaftlich arbeitende Werthen ruhen, daû die aesthetischen Wohlgefühle Psychologie«527 und in die Metaphysik der Schön- biologische Wohlgefühle sind.«524 heitslehren gekennzeichnet war. Dieser ¾sthetik- Schon Heidegger hat zu Recht davor gewarnt, begriff Nietzsches ist einer Tradition verpflichtet, Nietzsches ¾sthetik wegen solcher Sätze biologi- an deren Anfang noch bewuût war, was später ver- stisch oder sozialdarwinistisch miûzuverstehen.525 drängt wurde: »Aesthetik als die Lehre von der Die von Nietzsche vollzogene Umwendung der sinnlichen Vorstellung zerfällt ihrem Inhalte nach Begrifflichkeit philosophischer ¾sthetik, die Ein- in die physiologische und die transzendentale.«528 führung neuer Begriffe überhaupt, ergibt sich aus In dem zu Lebzeiten nicht publizierten Essay einem Wechsel der Perspektive von einer Zu- Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne schauer- oder Betrachterästhetik zu einer Künstler- (entst. 1873) hat Nietzsche dann ¾sthetik mit je- ästhetik, der Nietzsche als erster im 19. Jh. begriff- nem Begriff definiert, den man einen ökologischen liche Konturen gegeben hat: »dass Kant, gleich nennen könnte, weil er keinen Begriff für Deter- allen Philosophen, statt von den Erfahrungen des minationszusammenhänge darstellt, »sondern eine Künstlers (des Schaffenden) aus das ästhetische Art Suche nach Abhängigkeiten (­codependence¬ Problem zu visiren, allein vom ­Zuschauer¬ aus ist der buddhistische Fachterminus dafür), auf die über die Kunst und das Schöne nachgedacht und man sich verlassen können muû, um sich in einer dabei unvermerkt den ­Zuschauer¬ selber in den Situation halten zu können«529. ¾sthetik als Such- Begriff ­schön¬ hinein bekommen hat«526, war ihm begriff in diesem Sinne nennt Nietzsche ­ästheti- ein Fehlgriff. Kant habe nicht verstanden, daû es sches Verhalten¬: »Ueberhaupt aber scheint mir die für den Künstler kein Schönes gibt, »was ohne Inter- richtige Perception ± das würde heissen der adä- quate Ausdruck eines Objekts im Subjekt ± ein wi- derspruchsvolles Unding: denn zwischen zwei ab- 524 nietzsche, Nachgelassene Fragmente. Anfang 1888 bis Anfang Januar 1889, in: nietzsche (kga), Abt. solut verschiedenen Sphären wie zwischen Subjekt 8, Bd. 3 (1972), 307. und Objekt giebt es keine Causalität, keine Rich- 525 heidegger (s. Anm. 506), 149. tigkeit, keinen Ausdruck, sondern höchstens ein 526 nietzsche (s. Anm. 517), 364. ästhetisches Verhalten, ich meine eine andeutende 527 heidegger (s. Anm. 506), 107. 528 caspar theobald tourtual, Die Sinne des Uebertragung, eine nachstammelnde Ueberset- Menschen in den wechselseitigen Beziehungen ihres zung in eine ganz fremde Sprache. Wozu es aber psychischen und organischen Lebens. Ein Beitrag jedenfalls einer frei dichtenden und frei erfinden- zur physiologischen Aesthetik (Münster 1827), V. den Mittel-Sphäre und Mittelkraft bedarf.«530 529 dirk baecker, Der Mensch als Barbar [Ms. 1999]. 530 nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge im ausser- moralischen Sinne (entst. 1873), in: nietzsche (kga), Abt. 3, Bd. 2 (1973), 387. VII. Differenzierungen im ¾sthetikbegriff (Transformationen idealistischer ¾sthetik) 389

3. ¾sthetik versus Kunstwissenschaft Menschen (1833±1840) zusammenhängend darge- stellt worden waren.533 Müllers zum ersten Mal in Am Anfang des 20. Jh. bilanzierte dagegen Theo- der Arbeit Zur vergleichenden Physiologie des Gesichts- dor Lipps als ein fait accompli: »Die ¾sthetik ist sinns der Menschen und der Thiere (1826) vorgestelltes also eine psychologische Disziplin.«531 Erinnerte Prinzip der ­Reizspezifität¬, der ­spezifischen Sin- die Betonung des Psychologischen auch an eine nesenergie¬, basierte auf der Entdeckung, »daû die vergessene Dimension im Begriff der ¾sthetik, so Nerven verschiedener Sinnesorgane physiologisch waren es vor allem die Ergebnisse sinnesphysiolo- verschieden sind, d.h. daû spezifische Nerven nur gischer Experimente und Forschungen, die dazu für eine bestimmte Art von Sinneswahrnehmung beitrugen, ¾sthetik und ihren Begriff von iden- geeignet sind und sich auf die Art der Sinneswahr- titätsphilosophischen Spekulationen abzulösen. nehmung anderer Organe nicht übertragen las- Hermann von Helmholtz hatte diese Differenz sen«534. Die Untersuchung und Beschreibung einer zwischen der »Identitätshypothese«532 und einer »zutiefst arbiträren Beziehung zwischen Reiz und »Physiologie der Sinnesorgane« (107) noch vor Empfindung«535 durch Johannes Müller wurde Fechner in ihrer Bedeutung für die ¾sthetik er- durch Helmholtz' eigene Entdeckung einer nicht kannt. Die durch Hegel klassisch repräsentierte wahrnehmbaren (aber meûbaren) Zeitverschie- »Identitätsphilosophie [¼] ging von der Hypo- bung zwischen Nervenreizung und Wahrnehmung these aus, daû auch die wirkliche Welt, die Natur bestätigt.536 und das Menschenleben das Resultat des Denkens Diese durch Messung und Instrumentenwahr- eines schöpferischen Geistes sei, welcher Geist sei- nehmung ermöglichten Einblicke in neurophysio- nem Wesen nach als dem menschlichen gleichartig logische Strukturen und Funktionen der Wahr- betrachtet wurde« (83). Die durch ein gewisses Miûtrauen gegen den sinnlichen Schein motivier- 531 lipps, ¾sthetik, Bd. 1 (Hamburg/Leipzig 1903), 1. ten sinnesphysiologischen Erkenntnisse wiesen 532 hermann von helmholtz, Über das Verhältnis Helmholtz zufolge die ¾sthetik als Fach auf einen der Naturwissenschaften zur Gesamtheit der Wis- anderen Weg. »Ist es mir erlaubt, eigener neuester senschaften (entst. 1862), in: Helmholtz, Philosophi- Arbeiten hier zu gedenken, so will ich noch er- sche Vorträge und Aufsätze, hg. v. H. Hörz/S. Woll- wähnen, daû es möglich ist, durch die Physik des gast (Berlin 1971), 84. 533 Vgl. gottfried köller, Das Leben des Biologen Schalles und die Physiologie der Tonempfindun- Johannes Müller (Stuttgart 1958); edwin clarke/ gen die Elemente der Konstruktion unseres musi- charles donald o'malley, The Human Brain kalischen Systems zu begründen, eine Aufgabe, die and Spinal Cord (Berkeley, Cal. 1968); jonathan wesentlich in das Fach der ¾sthetik hineingehört. crary, Techniques of the Observer: On Vision and Modernity in the Nineteenth Century (Cambridge, Die Physiologie der Sinnesorgane überhaupt tritt Mass. 1990); dt.: Techniken des Betrachters. Sehen in engste Verbindung mit der Psychologie. Sie und Moderne im 19. Jahrhundert, übers. v. A. Von- weist in den Sinneswahrnehmungen die Resultate derstein (Dresden 1996), 75±102; francisco va- psychischer Prozesse nach, welche nicht in den rela, Living Ways of Sense-Making: A Middle Path Bereich des auf sich selbst reflektierenden Bewuût- of Neuroscience, in: P. Livingstone (Hg.), Disorder and Order: Proceedings of the Stanford Internatio- seins fallen und welche deshalb notwendig der psy- nal Symposion, September 14±16, 1981 (Stanford chologischen Selbstbeobachtung verborgen blei- 1984), 208±224. ben muûten.« (107) 534 crary (s. Anm. 533), 94. Diese sinnesphysiologische Perspektive auf die 535 Ebd., 96. 536 Vgl. helmholtz, Ueber die Fortpflanzungsge- ¾sthetik markiert die erste eigentlich moderne ais- schwindigkeit der Nervenreizung, in: Monatsbe- thetische Transformation ihres Begriffs. Helmholtz richte der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, bilanzierte (wie dann auch Fechner und Charles 21. 1. 1850 (Berlin 1850), 14f.; vgl. otto-joachim Henry) die durch den Biologen Johannes Müller grüsser, Hermann von Helmholtz und die Physio- in den 30er Jahren publizierten Ergebnisse seiner logie des Sehvorganges, in: W. U. Eckart/K. Volkert (Hg.), Hermann von Helmholtz. Vorträge eines Forschungen zur physiologischen Optik, die in Heidelberger Symposiums anläûlich des einhundert- dem mehrbändigen Handbuch der Physiologie des sten Todestages (Pfaffenweiler 1996), 119±176. 390 ¾sthetik/ästhetisch nehmung erschütterten nicht nur den Status der Maturana sagt: ­Wir sehen mit unseren Beinen.¬ Wahrnehmung ± konzipiert als bestimmt durch Man braucht nur unserer Sprache zuhören: ­wahr- »die zentrirende Kraft« der »Aufmercksamkeit«537 ± nehmen¬, ­be-greifen¬, ­ver-stehen¬! Das Sensorische durch das, was man ­kaleidoskopische Aufmerk- der Alltagsbedeutung verschmilzt mit dem Moto- samkeit¬ nennen könnte. Im davon beeinfluûten rischen des Wortursprungs.«540 ästhetischen Diskurs des 19. Jh. steht dafür Name Das im Begriff der Synästhesie ausgedrückte und Begriff der ­Synästhesie¬ als Reflexion der Problem physiologischer ¾sthetik war nicht zuletzt Möglichkeiten, wie verschiedene Sinnesmodalitä- eine Folge der Ausschaltung der Kontrolle des ten ineinander übersetzbar oder übertragbar sind. Subjekts über seine Handlungen und Empfindun- Was Poeten wie Baudelaire (in dem berühmten gen. Synästhesie und Hypnose korrespondieren Sonnett Correspondances von 1861) oder Rimbaud einander. Wie wären die einzelnen Sinne als Or- (im Gedicht Voyelles von 1871) als den Beginn ei- gane der Wahrnehmung voneinander zu unter- ner »esthØtique nouvelle«538 ahnten, wurde dann scheiden bzw. aufeinander zu beziehen? Den un- von Künstlern, die mit neuen technischen Mitteln terschiedlichen Antworten auf diese Frage ist wie Photographie und Phonographie experimen- gemeinsam, daû ¾sthetik nicht länger und vorran- tierten, erprobt und bewiesen. So etwa durch den gig als »Reflexionstheorie des Kunstsystems«541 Erfinder der Chronophotographie Étienne-Jules thematisiert, nicht mehr in erster Linie als Be- Marey, der als französischer Helmholtz-Schüler schreibung von Urteilen über Kunstwerke begrif- galt und ein Pionier des frühen Films war. Sein fen wird, sondern als Kriterium der Unterschei- Buch La machine animale. Locomotion terrestre et dung von Kunst und Alltag. aØrienne (1873), eine Analyse von Bewegungsabläu- Auf dem 1904 von Hugo Münsterberg im Rah- fen, zeigte am Beispiel der Illusion bewegter Bil- men der Weltausstellung in St. Louis konzipierten der, daû Synästhesie (wie unsere Wahrnehmung und organisierten Congress of Arts and Science stellte überhaupt) kein statischer Vorgang ist, sondern Max Dessoir zum ersten Mal sein Programm einer mobil und bewegungsabhängig.539 Die synästheti- von allgemeiner Kunsttheorie strikt zu unterschei- sche Frage »wie ist denn das Erlebnis einer bunten, denden ­ästhetischen Wissenschaft¬ vor. ­¾stheti- klingenden, duftenden Welt möglich, wenn die sches Leben¬ als deren Gegenstandsbereich sei von ­Signale¬ von dieser Welt für alle Sinne ein einför- den Aufgaben der Kunstwissenschaft deswegen zu miges, ununterscheidbares ­Grau¬ liefern?« lieû sich unterscheiden, weil Schönheit, ¾sthetisches und nur hinreichend beantworten, wenn man das Pro- Kunst nicht länger als miteinander identisch und blem der Wahrnehmung in eine neue Perspektive kommensurabel gelten könnten, weil der Bereich rückte: »es sind die durch Bewegung hervorge- des ¾sthetischen umfassender sei als der der Kün- brachten Veränderungen des Wahrgenommenen, die ste. »The critical thought of the present day is, wir wahrnehmen. Wie der Biologe Humberto however, beginning to question whether the beau- tiful, the aesthetic, and art stand to one another in a relation that can be termed almost an identity.«542 novalis, Logologische Fragmente (entst. 1798), in: 537 Und er betont: »it is [¼] clear that the circle of the novalis, Bd. 2 (31981), 522. 538 guillaume apollinaire, MØditations esthØtiques aesthetic is wider than the field of art« (435). Das (1913), in: Apollinaire, êuvres compl›tes, hg. v. M. »aesthetic life« (437) erklärte Dessoir zum Inbegriff DØcaudin, Bd. 4 (Paris 1966), 23. einer ästhetischen Dimension des Alltags, die sich 539 Vgl. thomas schestag, Piedestal/Souterrain, in: in rythmischen Strukturen körperabhängiger »aes- HonorØ de Balzac, Theorie des Gehens (Lana/ Wien/Zürich 1997), 7±67. thetic experience« (438) ausdrücke als »a cooÈpera- 540 foerster, Wahrnehmen (s. Anm. 16), 439f., 440. tion of general bodily feelings« (442). 541 niklas luhmann, Die Kunst der Gesellschaft Dessoir war einer der ersten, der aus der körper- (Frankfurt a.M. 1995), 389. betonten Sinnlichkeit von »aesthetic complication- 542 dessoir, The Fundamental Questions of Contem- feelings« die Forderung nach einer Historisierung porary Aesthetics, in: H. J. Rogers (Hg.), Congress of Arts and Science, Bd. 1 (Boston/NewYork ästhetischer Begriffe und ihrer Vermittlung mit ei- 1905), 434. ner je aktuellen Konstellation ableitete. »This en- VII. Differenzierungen im ¾sthetikbegriff (Transformationen idealistischer ¾sthetik) 391 tire fabric of experience [¼] can nowtake on vari- sich dabei durchaus nicht um die objektiven oder ous shadings. These we refer to as the aesthetic auch normativen Bedingungen des ästhetischen moods, or by a less psychological name, as the aes- ­Gefallens¬, das die unwichtigste Sache von der thetic categories. The ideally beautiful and the Welt ist, sofern allein schon der Begriff ­Aisthesis¬ sublime, the tragic and the ugly, the comic and the nicht gefühlsbetonte Empfindung, sondern durch- graceful, are the best known among them. Modern aus dasselbe wie Wahrnehmung, adäquate Erfül- science has shown most interest in the study of the lung bedeutet.« (182) Die expressionistische ¾sthe- comic and the tragic. [¼] The tragic mood is un- tik des Buches Geist der Utopie war in Deutschland derstood no longer as arising in fear and pity, but der erste Versuch, die von Nietzsche, Bergson und in pathos and wonder. Its objective correlate Freud ausgehenden Impulse der Befreiung von should not be forced to the standard of a narrow den »alten Konfektionskleidern der Begriffe und ethics. The demand for guilt and expiation is being Symbole« (249) zu integrieren, »völlig erfüllt vom given up by progressive thinkers in aesthetics; but Kampf gegen den kalten, undionysischen, unmy- the constituents of remain fast bound to stischen Menschen, gegen das Daseinsrecht und the realm of harshness, cruelty, and dissonance.« die Wahrheit der wissenschaftlichen Wahrheit (443) überhaupt, ohne Subjekt und ohne Traum« (269). Etwa zur selben Zeit betonten Naturwissen- schaftler und Mathematiker, die an einem neuen 4. ¾sthesiologie Weltbild arbeiteten, Intuition als einen Modus der Erkenntnis. So z.B. der Mathematiker Henri Poin- ¾sthetische Begriffe als Stimmungsbarometer (aes- carØ, der »ästhetischer Sensibilität« eine wichtige thetic moods) einer geschichtlichen und kulturel- Vermittlungsrolle im Akt der Wahrnehmung zu- len Konfiguration haben in solcher Sicht eine Ver- schrieb: »Aesthetic Sensibility plays the part of the mittlungsfunktion erhalten. Sie bringen, wie Hugo delicate sieve.«543 Diese Überlegungen wurden je- Münsterberg in seiner Adresse an den Kongress in doch kaum wahrgenommen. Ebensowenig eine St. Louis formulierte, die zwischen Künsten, Wis- Position, wie sie Ernst Bloch auûerhalb des akade- senschaften und Lebensformen wirkenden »ener- mischen Bereichs entwickelte, die im Zusammen- gies of our time into inner relations«545. Die The- hang mit den Künstlerästhetiken des deutschen matisierung von ¾sthetik als einer solchen Instanz Expressionismus zu sehen ist. Die expressionisti- der Vermittlung löst ihren Begriff definitiv vom schen Entwürfe eines ­neuen Menschen¬ waren Stereotyp einer Theorie des zeitlos Schönen. Der auch ein ästhetisches Programm, das Nietzsches Terminus ­das ¾sthetische¬ bekommt seine begriff- Impulse und die Dimension des Alltäglichen auf- lichen Konturen durch die Betonung der Sinnes- griff und miteinander verband. Blochs früher Ent- funktionen als anthropologischer Grundlagen äs- wurf eines ausdrücklich an ­Aisthesis¬ orientierten thetischer Erfahrung. Programms in seinem Buch Geist der Utopie (1918) Helmuth Plessner hat diesen Begriffswandel in ist dafür repräsentativ. Es reagiert auf die Ausdiffe- seiner Schrift Die Einheit der Sinne (1923) durch renzierung der ¾sthetik im Kontext der Kunstwis- den Neologismus ­¾sthesiologie¬ repräsentiert und senschaften mit einem Angebot zur Entdifferenzie- dargestellt. Mit der ­¾sthesiologie des Geistes¬ rung. Die »Grundlage der ¾sthetik überhaupt«544, wollte Plessner für Gesicht und Gehör eine herme- schrieb Bloch, ist ihre Fundierung auf Wahr- neutische »Brücke zwischen Psychischem und nehmung und deren »adäquate Erfüllung« in den Physischem«546 bauen. Er betonte die ­Einheit der Künsten, besonders in der Musik: »wie in der schweigenden Muschel die Perle ringt, so haben 543 henri poincarØ, The Value of Science (1905; New das primitive und auch gotische Kunstwollen und York 1958), 19. die gesamte Musik mit dem Wollen der Kunst als 544 ernst bloch, Geist der Utopie (München/Leipzig eines beabsichtigten Wirkungsbegriffs, als des klei- 1918), 178. 545 hugo münsterberg, The Scientific Plan of the nen, wesenlosen Ausschnitts einer Welt ohne Ent- Congress, in: Rogers (s. Anm. 542), 91. täuschung nicht das Geringste gemein. Es handelt 546 plessner (s. Anm. 469), 301. 392 ¾sthetik/ästhetisch

Sinne¬ als in der Einheit des Sinns begründet. »¾s- tiert sein, sondern ihrem Ziel gemäû, die Arten thesiologie nennen wir jene Disziplin, Wahrneh- der Versinnlichung geistigen Wesensgehaltes zu mungs- oder Empfindungslehre, doch ausdrück- verstehen, muû sie da haltmachen, wo es keine lich mit dem eben gerechtfertigten Zusatz: des Versinnlichung des Geistes mehr gibt. Dabei hat Geistes, die scharfe Trennungslinie zwischen der sie in Kauf zu nehmen, daû eine ganze Anzahl be- neuen und der psychophysiologischen Fragestel- sonderer sinnlicher Funktionen, Geschmack und lung betonend« (32). Als »Wissenschaft von den Geruch, Getast und Schmerz, Temperatursinn, Arten der Versinnlichung der geistigen Gehalte Gleichgewichtssinn und Wollust ihr unzugänglich und ihren Gründen« (278) hielt Plessner die ¾sthe- bleibt. Sie muû auf ihre Deutung verzichten, da siologie des Geistes im Rahmen von Körper- eine spezifische Sinngebung sich mit ihnen nicht Geist-Beziehungen ± »Sinne als Modi der Verbin- verbindet. Denn wo kein Sinn erscheint, ist die dung von Körper und Geist« (293) ± für ein Hilfs- ¾sthesiologie des Geistes zu Ende.« (267 f.) Diese mittel zur »Differenzierung der Sinnlichkeit« (275). selektive Auffassung ist sogleich von Erich M. von Musik und Geometrie sind ihm zufolge paradig- Hornbostel kritisiert worden.547 matische Versinnlichungen des Gehörs und des Gesichts, umgreifen diese als verhaltensbestim- 5. EsthØsique/Aisthesis ± mende ­ästhetische Wertgebiete¬: »Musikalischer Umschalten auf Wahrnehmung Ausdruck wendet sich, wie man sagt, an das Ge- fühl, geometrischer Ausdruck an den Verstand. Deutlich wird an dem von Plessner eingeführten Beiden Gestaltungen entsprechen also verschie- anthropologischen Begriff ¾sthesiologie die Profi- dene Werte verschiedener Verhaltensweisen. Das lierung des ¾sthetischen zu einem Begriff operati- ästhetische Wertgebiet wendet sich an eine andere ver Kopplung und Verschaltung. (Plessner verwen- Art des Verhaltens der Person als das theoretische det selbst häufig Begriffe der Elektrotechnik, so Wertgebiet, um seinen spezifischen Geltungssinn »Hintereinanderschaltung« [300], »Zwischenschal- verständlich zu machen.« (296) tung« [301] in Diskursen verschiedener Bereiche.) In einer kulturanthropologischen Perspektive Paul ValØry, in dessen Werk sich künstlerische Pra- hat Plessner eine der ersten Funktionsbestimmun- xis und theoretische Reflexion auf hohem Niveau gen des Begriffs aistheÅsis gegeben; allerdings um die Waage halten, hat eine solche Kopplungsfunk- den Preis der Ausgrenzung der Kontaktsinne: tion des ¾sthetischen prägnant begründet und »Eine ¾sthesiologie des Geistes darf nicht aus- durch einen eigenen Namen, »EsthØsique«548, be- schlieûlich wie Physiologie, Biologie und Psycho- zeichnet, der eine Station in der Geschichte der logie an der physischen Sinnesorganisation orien- Begriffe ¾sthetik und ästhetisch markiert. Bereits Proudhon hatte den aus der Medizin in die ¾sthetik übertragenen Begriff »esthØsie«549, eine Analogiebildung zu anesthØsie (Anästhesie)550, 547 Vgl. erich m. von hornbostel, Die Einheit der geprägt, der in der Halluzinationsforschung der Sinne, in: Melos. Zeitschrift für Musik 4 (1925), 80er Jahre in Frankreich eine Rolle spielte und 290±297. 548 paul valØry, Discours sur l'esthØtique (1937), in: z.B. als ­hyperesthØsie¬ noch gesteigert wurde. valØry, Bd. 1 (1957), 1311. In dem Essay über Leonardo da Vinci als emble- 549 pierre-joseph proudhon, Du principe de l'art et matische Figur eines ganz modernen Künstlerphi- de sa destination sociale (Paris 1865), 166. losophen, LØonard et les philosophes (1929), verab- 550 Vgl. klaus herding, Einführung in Proudhons Kunsttheorie, in: Proudhon, Von den Grundlagen schiedet ValØry die Positionen der klassischen und der sozialen Bestimmung der Kunst, hg. u. philosophischen ¾sthetik als kunstfremd und übers. v. Herding (Berlin 1988), 40. kunstfeindlich.551 Allen Versuchungen einer »Es- 551 Vgl. jauss, ¾sthetische Erfahrung und literarische thØtique dogmatique«552 entzieht sich die den »va- Hermeneutik (Frankfurt a.M. 1982), 505±533. leurs de choc«553 verpflichtete Reflexion und Pra- 552 valØry (s. Anm. 548), 1308. 553 valØry, LØonard et les philosophes (1929), in: va- xis des modernen Künstlers. »Ce qui sØpare le plus lØry, Bd. 1 (1957), 1240. manifestement l'esthØtique philosophique de la rØ- VII. Differenzierungen im ¾sthetikbegriff (Transformationen idealistischer ¾sthetik) 393 flexion de l'artiste, c'est qu'elle proc›de d'une pen- fangs ± noch immer undefinierbar! Obwohl ValØry sØe qui se croit Øtrang›re aux arts et qui se sent der esthØsique den Status einer Wissenschaft mit d'une autre essence qu'une pensØe de po›te ou de der Aufgabe einer »Øtude de la sensation« (1313) musicien« (1243). ValØry schreibt weiter: »si l'es- zuschrieb, ist damit doch keine Sonderstellung thØtique [als philosophische ± d.Verf.] pouvait †tre, emotiver sinnlicher Zustände (plaisir, douleur les arts s'Øvanouiraient devant elle, c'est-à-dire ± usw.) im Rahmen eines begrenzten Gegenstands- devant leur essence« (1245). ValØrys Unterscheidung bereichs gemeint, der mit Hilfe eines Begriffssy- zweier Traditionen im Begriff ¾sthetik ist als eine stems zu erschlieûen wäre. EsthØsique als ­Øtude de deutliche Kritik an Importen der deutschen Tradi- la sensation¬ versteht ValØry als Opposition zu allen tion zu lesen, etwa durch den latenten Hegelianis- Hoffnungen, ¾sthetik doch noch irgendwie zu ei- mus im französischen Surrealismus. ner Wissenschaft des Schönen zu promovieren. »La In seiner berühmten Rede auf dem Deuxi›me BeautØ est une sorte de morte«557, heiût es unmiû- Congr›s International d'EsthØtique et de Science verständlich, womit ValØry Grundpositionen der de l'Art in Paris am 8. August 1937, während der historischen Avantgarden ratifiziert. Mit esthØsique Pariser Weltausstellung, hat ValØry sein ­esthØsique¬ ist daher bei ValØry ± ganz in Übereinstimmung genanntes Konzept einer »Øtude de la sensation«554 mit dem ursprünglichen (aristotelischen) Wortsinn als Überwindung jeder ­Science du Beau¬ erläutert. von aistheÅsis ± eine Lehre (aber keine Wissen- Die »IdØe du Beau« (1300) als Grundbegriff aller schaft) von der sinnlichen Wahrnehmung gemeint. »EsthØtique MØtaphysique« (1302) »portait en elle Ein neues, aisthetisches Verständnis von ¾sthetik le vice originel et inØvitable« (1301), weil sie sich hatte sich auch schon bei Henri Bergson angekün- dem »myst›re du plaisir« (1300) als dem Bereich digt, als er die Gleichsetzung von »Ømotion esthØti- der Erfahrung und Wahrnehmung, der sich nicht que« mit einem allgemeingültigen ­sentiment du in Normen und Standards übermitteln und über- beau¬ kritisierte: »Il rØsulte de cette analyse que le setzen läût, versagt hat. »Le plaisir, enfin, n'existe sentiment du beau n'est pas un sentiment spØcial, que dans l'instant, et rien de plus individuel, de mais que tout sentiment ØprouvØ par nous rev†tira plus incertain, de plus incommunicable.« (1301) un caract›re esthØtique, pourvu qu'il ait ØtØ sug- Mit deutlichem Bezug auf die durch das damals gØrØ, et non pas causØ.«558 neue physikalische Weltbild der Relativitätstheorie Die begriffliche Differenzierung der ¾sthetik in und der Quantenmechanik erschütterten Positio- eine Lehre von der Wahrnehmung nach dem Vor- nen der Erkenntnistheorie des Positivismus pro- gang der Physiologie und Psychophysik des 19. Jh. gnostizierte ValØry eine interdiskursive, transver- und in eine philosophische ¾sthetik hatte vor al- sale555 Funktion für die »naissante EsthØtique«: »Le lem zwei Folgen. Sie ermöglichte eine Historisie- plaisir, comme la douleur [¼] ce sont des ØlØments rung der ¾sthetik und ihrer Begriffe und eröffnete toujours bien g†nants dans une construction intel- neue Perspektiven der Verbindung zwischen un- lectuelle. Ils sont indØfinissables, incommensura- terschiedlichen Bereichen der gesellschaftlichen bles, incomparables de toute façon. Ils offrent le Kultur. Neben den philosophischen tritt ein natur- type m†me de cette confusion ou de cette dØpen- wissenschaftlich fundierter Begriff von ¾sthetik, dance rØciproque de l'observateur et de la chose dem in Deutschland später Max Benses Konzept observØe, qui est en train de faire le dØsespoir de la physique thØorique.«556 Die Philosophie müûte sich der Physik versichern wie diese der ­esthØsi- que¬ als Aisthesis. »La Physique devrait revenir à 554 valØry (s. Anm. 548), 1313. l'Øtude de la sensation et de ses organes. / Mais 555 Vgl. guattari, Psychanalyse et transversalitØ (Paris tout ceci, n'est-ce point de l'EsthØsique? Et si dans 1972). l'EsthØsique nous introduisons enfin certaines inØga- 556 valØry (s. Anm. 548), 1298. valØry (s. Anm. 553), 1240. litØs et certaines relations, ne serons-nous pas tr›s 557 558 henri bergson, Essai sur les donnØes immØdiates voisins de notre indØfinissable EsthØtique?« (1313f.) de la conscience (1889), in: Bergson, êuvres, hg. v. ¾sthetik bleibt in Frankreich ± wie schon an- A. Robinet (Paris 1959), 15. 394 ¾sthetik/ästhetisch einer zeichentheoretischen Informationsästhetik spät begriffen. Ein seit dem positivistischen Zeit- Gestalt verlieh.559 alter fest verankertes hierarchisches Kulturver- Zeitgleich mit ValØry, dem er wesentliche Im- ständnis und ein spezialistisches wissenschaftliches pulse verdankte, hatte Walter Benjamin seinen Es- Ordnungsdenken hat die meisten sogenannten say über eine materialistische Kunsttheorie im Geisteswissenschaften mit einem ­feudalen¬ Denk- Rahmen einer Theorie und Geschichte von Wahr- stil ausgerüstet, der erst überwunden werden nehmungsweisen konzipiert. Am Beispiel des muûte, um einem zeitgemäûen ¾sthetikverständnis Films als eines »Symptoms von tiefgreifenden Ver- Geltung zu verschaffen. »J'ai toujours ØtØ surpris änderungen der Apperzeption« notierte er expres- par ce caract›re ­fØodal¬ de la majeure partie des sis verbis diesen Begriffswandel. »So erweist er sich sciences humaines«562, bemerkte der französische auch von hier aus als der derzeitig wichtigste Ge- Mathematiker und Philosoph RenØ Thom. Die genstand jener Lehre von der Wahrnehmung, die ressorthafte Aufspaltung gesellschaftlicher Praxis in bei den Griechen ¾sthetik hieû.«560 Jan Muka- unverbundene Abteilungen hat in einer Welt elek- rÏovskyÂ, Mitbegründer des Prager Strukturalismus, tronischer Vernetzungen ausgespielt. In der Be- entwickelte ebenfalls zur selben Zeit einen funk- griffsgeschichte der nach-idealistischen Zeit sind tionalen Begriff von ¾sthetik, der die Grenze zwi- Schlüsselbegriffe wie Korrelation, Assoziation und schen Kunst und alltagsästhetischen Bereichen als Wahrnehmung ausgebildet worden, die nicht geschichtlich bewegliche analysierte: »Da [¼] die mehr die von Klassik und Romantik geprägten sta- Grenzen, die den ganzen Bereich der Kunst von tischen sind, sondern kaleidoskopische Bewe- den auûerkünstlerischen ästhetischen Erscheinun- gungsbegriffe. Die Reflexionen über eine Histori- gen trennen, entwicklungsbedingt veränderlich sierung der 250-jährigen Geschichte ästhetischen sind, war es weiterhin unerläûlich, sich mit dem Denkens, in die sich dieses Wörterbuch ästheti- Verhältnis zu den auûerkünstlerischen ästhetischen scher Grundbegriffe einschreibt, haben zu der Erscheinungen zu befassen.« »Die Grenzen des äs- Frage geführt, ob das durch Hegels ¾sthetik be- thetischen Bereichs sind also nicht durch die Rea- gründete Paradigma, dessen Strahlungen bis zu lität selbst gegeben und sehr veränderlich.«561 Adorno und Lukµcs reichen, sich erschöpft hat und durch ein anderes abgelöst werden kann. Nach der eher skeptischen Meinung von Marc 6. Spuren der Diffusion eines Begriffs Sherringham, der Anfang der 90er Jahre drei Mo- Die in den 20er und 30er Jahren von verschiede- delle in der Geschichte der ¾sthetik unterschieden nen Seiten und in unterschiedlichen Kontexten hat ± ein mod›le classique, ein mod›le critique prognostizierte und erprobte Transformation der und ein mod›le romantique ±, steht diese Aufgabe ¾sthetik und ihres Begriffs wurde in ihrer kultur- noch vor uns: »Il semble bien qu'on puisse consi- und wissenschaftsgeschichtlichen Tragweite erst dØrer la situation actuelle de l'esthØtique philoso- phique comme une pØriode de crise et d'affaiblis- sement d'un paradigme dominant, sans qu'y appa- max bense, Zusammenfassende Grundlegung 559 Vgl. raissent pour autant les prØmices d'un nouveau moderner ¾sthetik (1965), in: H. Kreuzer/R. Gun- zenhäuser (Hg.), Mathematik und Dichtung. Versu- mod›le. [¼] L'alternative pourrait se rØsumer che zur Frage einer exakten Literaturwissenschaft ainsi: assiste-t-on à la fin de la philosophie esthØti- (1965; München 31969), 313±332. que ou à la fin d'un paradigme de l'esthØtique?«563 560 benjamin (s. Anm. 51), 381. Die Aufmerksamkeit richtet sich zunehmend 561 jan mukarÏovskyÂ, Estetickµ funkce, norma a hod- nota jako sociµlní fakty (Prag 1936); dt.: ¾sthetische auf die Aufklärung der Beziehungen zwischen Funktion, Norm und ästhetischer Wert als soziale physiologischen und bewuûten Prozessen. Wenn Fakten, in: MukarÃovskyÂ, Kapitel aus der ¾sthetik dabei ¾sthetik als ein Modus der Erkenntnis eine (Frankfurt a.M. 1970), 9, 14. vermittelnde und verbindende Rolle spielt, dann 562 renØ thom, Paraboles et catastrophes (Paris 1980), zeigt das im Rückblick auf die Geschichte den Ab- 136. 563 marc sherringham, Introduction à la philosophie stand zur Lage um 1800. Es geht um »die Selbst- esthØtique (Paris 1992), 271. überschreitung einer spezifisch modernen Diszi- VII. Differenzierungen im ¾sthetikbegriff (Transformationen idealistischer ¾sthetik) 395 plin, die ihren eigenen Begriff verengt hatte«564, nalitätskonzepte der Moderne und die Zweck- bzw. um den disziplinären Status von ¾sthetik Mittel-Relation als ihre spezifische Grundgestalt. überhaupt. »In den Zeiten um 1800 meinten die Von seiten der sog. evolutionären Erkenntnistheo- Philosophen, die Natur links liegen lassen zu kön- rie und des radikalen Konstruktivismus wurde nen, wenn sie sich mit Fragen der ¾sthetik befas- diese Logik als eine Form von Herrschaftsdenken sen, wobei die Verwendung dieses Wortes sich im- prinzipiell in Frage gestellt. Die chilenischen Bio- mer mehr von der griechischen Wurzel aisthesis logen Humberto Maturana und Francisco Varela, (­Wahrnehmung¬) entfernt.«565 Die kaum noch die die Funktionsweise lebender Systeme als ­auto- ernsthaft in Frage gestellte Auffassung, daû »¾sthe- poietische¬, selbstregulierende beschrieben haben, tik die Theorie der Wahrnehmung ist«566, schlieût als eine im Sozialen durch mitweltliche und mit- ein, daû es wenig Sinn hat, ¾sthetik als Wissen- menschliche Koexistenz bestimmte, eröffnen eine schaft (oder als System) nach einem traditionellen Perspektive, »einen Existenzbereich, in dem beide (objektivistischen) Verständnis ihres Begriffs zu Parteien in der Hervorbringung einer gemeinsa- entfalten. Insofern ist die Rede von einem Begriff men Welt zusammenfinden«572. Maturana hat diese der ¾sthetik bzw. von ästhetischen Grundbegriffen Perspektive als eine auch ästhetische, als ­biology of eigentlich widersinnig und muû als paradoxe ver- the aesthetic experience¬, beschrieben, die nun standen werden. Als Theorie der Vermittlung, die im Rückblick auf die Geschichte den Dualismus einer wilhelm miklenitsch, Die Sinne denken, in: doppelten Logik (oder einer ­doppelten ¾sthe- 564 Merkur 46 (1992), 69. tik¬567) durchschaut, hätte ¾sthetik eine konstitu- 565 ernst peter fischer, Das Schöne und das Biest. tive Funktion für alle Handlungsbereiche. Darin ¾sthetische Momente in der Wissenschaft (Mün- hat ihr der Philosoph und Kunsthistoriker Bazon chen/Zürich 1997), 73. Brock die Rolle einer »Avantgarde jeder Wissen- 566 olaf breidbach, Neuronale ¾sthetik. Skizze eines Programms (Wien/NewYork 1997), 4. schaft« zuerkannt. »¾sthetik ist keine eigenständige 567 Vgl. zelle (s. Anm. 66). wissenschaftliche Fachdisziplin, sondern Praxis der 568 bazon brock, ¾sthetik als Vermittlung. Arbeits- Vermittlung oder Praxis der Aneignung.«568 biographie eines Generalisten, hg. v. K. Fohrbeck Stand die Debatte über Funktionen der ¾sthetik (Köln 1977), 6; vgl. brock, Die Re-Dekade. Kunst und Kultur der 80er Jahre (München 1990); martin und des ¾sthetischen zwischen 1900 und 1930 im heller/hans ulrich reck (Hg.), ­¾sthetik¬ nach Zeichen einer arbeitsteiligen Differenzierung, so der Aktualität des ¾sthetischen (Zürich 1997). wird sie seit den 60er Jahren von Entdifferenzie- 569 stephen g. brush, Irreversibility and Indetermin- rungen bestimmt. In den 50er und 60er Jahren ism: Fourier to Heisenberg, in: Journal of the wird ¾sthetik an verschiedenen Orten und von History of Ideas 37 (1976), 605; vgl. ilya prigo- gine/isabelle stengers, La nouvelle alliance. verschiedenen Seiten als ein Indikator und ein MØtamorphose de la science (1979; Paris 21986); Faktor des »breakdown of determinism in sci- francisco varela/evan thompson/eleanor ence«569 diskutiert. Die seit Mitte der 50er Jahre rosch, The Embodied Mind: Cognitive Science vom Vergleich (und Gegensatz) zweier Kulturen570 and Human Experience (Cambridge, Mass. 1991). 570 Vgl. helmut kreuzer (Hg.), Die zwei Kulturen. und von der Entwicklung der Informations- und Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. Neurowissenschaften nach dem 2. Weltkrieg be- C. P. Snows These in der Diskussion (München wegte internationale Diskussion über eine neue 1987); wolf lepenies, Die drei Kulturen. Soziolo- Ordnung des Wissens und der Wissenschaften gie zwischen Literatur und Wissenschaft (München stand, wie Jürgen Rüsch und Gregory Bateson im 1985). 571 jürgen ruesch/gregory bateson, Communica- ­Vorwort zur Ausgabe 1968¬ ihres Buches Commu- tion: The Social Matrix of Psychiatry (1951; New nication (1951) rückblickend feststellten, unter der York 1987); dt: Kommunikation. Die soziale Matrix Prämisse, »daû das Zeitalter des Individuums der der Psychiatrie, übers. v. C. Rech-Simon (Heidel- Vergangenheit angehörte. [¼] Der psychologische berg 1995), 11. 572 humberto maturana/francisco varela,El Mensch war tot, und der soziale Mensch hatte sei- µrbol del conocimiento (1985); dt.: Der Baum der nen Platz eingenommen.«571 In Frage standen die Erkenntnis, übers. v. K. Ludewig (Bern/München/ vom Subjekt-Objekt-Gegensatz geprägten Ratio- Wien 1987), 264. 396 ¾sthetik/ästhetisch

Schönheit, befreit von aller Metaphysik, wieder physiologique, fonctionelle et figurative«, einer einführt: »I consider that the natural biological »esthØtique fonctionelle soumise à la tendance manner of living is constitutively aesthetic and ef- technique«575, kontrastiert im ästhetischen Diskurs fortless, and that we have become culturally blind der Zeit mit einer anderen anthropologischen Po- to this condition. In this blindness we have made sition, der Arnold Gehlens, der das ­Folgenlose¬ als of beauty a commodity, creating ugliness in all di- Merkmal des ¾sthetischen bestimmte und damit mensions of our living, and through that ugliness, auch die Perspektive Nietzsches zurücknahm. more blindness in the loss of our capacity to see, to »Eine ­Physiologie der Kunst¬ würde ein kurzes, hear, to smell, to touch and to understand the in- aber wichtiges Kapitel der Anthropologie abgeben terconnectedness of the biosphere to which we be- und nur die instinktnahen Schichten im ästheti- long. We have transformed aesthetics into art, schen Erscheinungsbereich angehen.« »Der ästheti- health into medicine, science into technology, hu- sche Genuû, die Freude an Farben und Gestalten man beings into public ¼ and in this way we have hat diesen eigenartigen Zug des Kontemplativen, lost the poetic look that permitted us to live our er ist handlungslos, und man könnte in Abände- daily life as an aesthetic experience. Finally, in that rung eines Wortes von Kant sagen: ­schön ist, was loss, wisdom is lost. Which is the cure? The crea- folgenlos gefällt¬.« »Aus demselben Grunde übri- tion of the desire to live again, as a natural feature gens, aus dem das ästhetische Verhalten handlungs- of our biosphere, the effortlessness of a multidi- los und verpflichtungslos ist, kommt ihm auch mensional human living in a daily life of aesthetic keine soziale Gestaltungskraft zu.«576 experience.«573 Die Verabschiedung von allen Konzepten einer Diese Nietzsches Konzept ästhetischen Verhal- metaphysischen ¾sthetik führte auch zu einer tens aktualisierende Vision korrespondiert in ihrer Neulektüre der Kantschen Kritik der Urteilskraft,an ökologischen Zuspitzung mit einer anderen, die deren Unterscheidung bestimmender von reflek- AndrØ Leroi-Gourhan in den 60er Jahren im Rah- tierenden Urteilen Wissenschaftler verschiedener men einer historischen Anthropologie vorgetragen Disziplinen anknüpften, die an der Überwindung hatte: ­ästhetisches Verhalten¬ als eine dritte Di- der Abspaltung rationaler von intuitiven Erkennt- mension der Kulturgeschichte der Menschheit. Er nisweisen arbeiteten. Kant hatte der »realistischen vertrat die These, »que technique et langage Weltanschauung sozusagen den Rest des Bodens n'Øtant que deux aspects du m†me phØnom›ne, weggenommen, indem er darlegte, dass Raum und l'esthØtique pourrait en †tre un troisi›me«574. Le- Zeit, so wie wir sie begreifen, nicht der Welt als roi-Gourhans Konzept einer »triple esthØtique: solcher angehören, sondern unserem ­Erkenntnis- apparat¬. Beide Begriffe sind Eigenschaften unseres 573 maturana, Biology of the Aesthetic Experience Erlebens, etwa so, wie die optischen Eigenschaften [Vortrag auf dem Internationalen Kongreû ­Die Ak- einer Kamera der Linse angehören und nicht der tualität des ¾sthetischen¬, Hannover, 2.±5. 9. 1992, Landschaft, die fotografiert wird.«577 Ernst von Typoskript], 14f. Glasersfeld, einer der Begründer der von ihm ­radi- 574 leroi-gourhan, Le geste et la parole, Bd. 2 (Paris kaler Konstruktivismus¬ benannten Erkenntnis- 1965), 88. 575 bernard stiegler, La technique et le temps, theorie, hat mit Bezug auf Giambattista Vico als ei- Bd. 2: La dØsorientation (Paris 1996), 88, 102. nen ihrer Vorläufer betont: »The aesthetic notion 576 arnold gehlen, Über instinktives Ansprechen auf of constructing pleasing relations among experien- Wahrnehmungen (1961), in: Gehlen, Gesamtaus- tal elements and compositions did not and does gabe, Bd. 4 (Frankfurt a.M. 1983), 196, 197, 199; 578 vgl. gehlen, Urmensch und Spätkultur (Bonn not seem to provide sufficient motivation.« In 1956). diesem Sinne wäre ¾sthetik als ein eigentlich para- 577 glasersfeld, Zuerst muss man zu zweit sein. Ra- doxer ­Begriff¬ des Intuitiven, als ein Suchbegriff tionale Gedanken zur Liebe, in: Glasersfeld, Über auf dem Wege durch unbekanntes und unge- Grenzen des Begreifens (Bern 1996), 39. schütztes Gelände zu verstehen. 578 glasersfeld, Reconstructing the Concept of Knowledge, in: Archives de Psychologie 53 (1985), In einem in den 70er Jahren am Massachusetts 94. Institute of Technology begründeten Forschungs- VII. Differenzierungen im ¾sthetikbegriff (Transformationen idealistischer ¾sthetik) 397 projekt über Aesthetics in Science and Technology selbst eigen sind. »Welches Muster verbindet den spielte ¾sthetik in solchem Verständnis gewisser- Krebs mit dem Hummer und die Orchidee mit maûen die Rolle des Störenfrieds, eines Indikators der Primel und alle diese vier mit mir? Und mich von »substantial links between the arts and human- mit Ihnen? Und uns alle sechs mit den Amöben in ities and the sciences«579. Der vor allem von Natur- einer Richtung und mit dem eingeschüchterten wissenschaftlern angeregte »focus [¼] on aesthetics Schizophrenen in einer anderen?« (15) Die offene in the processes of doing science«580 orientierte Frage, von der eine Theorie der ¾sthetik (keine sich ganz kantianisch an der Urteilsbildung und Wissenschaft) auszugehen hätte, wäre, »auf welche der Unterscheidung von Wahrnehmungsbildern. Oberfläche man eine Theorie der ¾sthetik abbilden »Aesthetic is discussed [¼] not as a systematic dis- sollte« (258). »Ich meine etwa folgendes: Sowohl cipline in philosophy, but as a mode of discrimina- ­Bewuûtsein¬ als auch ­¾sthetik¬ (was immer diese tion and response ± a guideline for the appropriate- Worte bedeuten mögen) sind entweder Charakte- ness of a scientific expression. [¼] The question is ristika, die sich in jedem Geist (wie in diesem Buch raised, Howdo aesthetic considerations affect the definiert) finden, oder sie sind Ausgeburten ± späte form, development, and efficacy of models?«581 Phantasieprodukte dieses Geistes. Jedenfalls ist es Hinter dieser Frage nach Möglichkeiten, ¾sthetik die primäre Definition des Geistes, die sich den als ­guide¬, sogar als ­an aesthetic worldview¬ zu Theorien der ¾sthetik und des Bewuûtseins an- verstehen und zu begründen, erscheinen sowohl gleichen muû.« (259) Kant als auch Nietzsche als Figuren eines neuen ¾s- Auf diese alternative Frage läût sich eine be- thetikbegriffs: »we discover a Kantian (even Schil- griffsgeschichtliche Antwort geben. ¾sthetik ver- lerian) vision of the aesthetic force as a great me- handelt seit dem 18. Jh. die von ihr entdeckten diating, unifying, centralizing social function«582. Probleme mit einem universalen, allgemeingülti- Hier erweist sich die Produktivität des von gen ­natürlichen¬ Anspruch. Ihre eigene Ge- Gaston Bachelard analysierten »nouvel esprit scien- schichtlichkeit als ­spätes Phantasieprodukt¬, ihre tifique«, dessen psychoanalytisch fundierter Wis- relative Geltung in Abhängigkeit von unterschied- senschaftsbegriff ästhetisch orientiert ist: »la science lichen kulturellen Bedingungen und Kontexten ist est l'esthØtique de l'intelligence«583. die Unruhe eines Diskurses, die erst als solche in Am konsequentesten wurde ein solcher Suchbe- die Bestimmung des Begriffs eingegangen ist. Indiz griff des ¾sthetischen von dem anglo-amerikani- dafür sind die mit den Termini ¾sthetik und ästhe- schen Verhaltensbiologen und Anthropologen tisch im Alltagsbewuûtsein verknüpften Vorstellun- Gregory Bateson erörtert und als ein Programm gen, deren Merkmal Unbestimmtheit und Vagheit skizziert. In seinem klassischen Buch Steps to an Ecology of Mind (1972), das eine erste Theorie der 579 judith wechsler, Preface, in: Wechsler (Hg.), On Differenz begründete584, prognostizierte Bateson Aesthetics in Science (Cambridge, Mass./London für die ¾sthetik eine Überprüfung ihrer ganzen 1978), IX. bisherigen Grundlagen, weil in der idealistischen 580 Ebd., X. 581 wechsler, Introduction, in: ebd., 3. Bestimmung ihres Begriffs ein entscheidendes Pro- 582 nemoianu (s. Anm. 2), 75. blem ausgeblendet worden sei: das Problem der 583 gaston bachelard, La formation de l'esprit pattern recognition, der Mustererkennung.585 Als scientifique. Contribution à une psychanalyse de la »Aufmerksamkeit für das Muster, das verbindet«586, connaissance objective (1938; Paris 1975), 7, 10. spielt es eine zentrale Rolle in einem weiteren 584 Vgl. baecker, Die Freiheit des Gegenstandes: Von der Identität zur Differenz. Perspektivenwechsel in Buch, das nach den Verbindungen zwischen einer den Wissenschaften, in: Delfin 5 (1985), 76±88. von Unterscheidungen bestimmten ­Welt des Le- 585 Vgl. gregory bateson, Form, Substance, and Dif- bendigen¬ und einer von Kräften und Wirkungen ference (1970), in: Bateson, Steps to an Ecology of bewegten unbelebten Welt fragt. ­¾sthetisch¬ ist Mind (1972; Northvale, N. J./London 1987), 455f. 586 bateson, Mind and Nature: A Nessecary Unity Bateson zufolge die Fähigkeit eines Systems, in an- (NewYork 1979); dt.: Geist und Natur. Eine not- deren Systemen Muster (oder Charakteristika) wendige Einheit, übers. v. H. G. Holl (Frankfurt wahrzunehmen und zu erkennen, die auch ihm a.M. 1987), 16. 398 ¾sthetik/ästhetisch sind. ­¾sthetisch¬ konnotiert im euro-amerikani- sion zum Vorschein, wie sie auch Michel Foucaults schen (westlichen) Kulturbewuûtsein auf dem Konzept einer ­esthØtique de l'existence¬ aufweist, Hintergrund von ­unästhetisch¬ als seinem Gegen- die den kulturgeschichtlichen Einschnitt durch das satz eine Wahrnehmung von Harmonie, Wohlge- Christentum als ­le probl›me de la purification¬, als formtheit, Stimmigkeit bis hin zur kosmetischen folgenreiche und verheerende sinnenfeindliche Körperpflege und Präsentation eines individuellen Disziplinierung, beschreibt. Die ­esthØtique de Outfits, dem sich Schönheitssalons, Fitneû- und l'existence¬ widerstreitet in Foucaults Analyse jeder ¾sthetikstudios widmen. Vielleicht tradiert aber christlichen (oder fundamentalistischen) Hörig- gerade die diffuse Unbestimmtheit solcher Alltags- keitsmoral: »si je me suis intØressØ à l'AntiquitØ, ästhetik in gesunkener Gestalt ein wesentliches c'est que, pour toute une sØrie de raisons, l'idØe Merkmal des Begriffs. Die Tatsache nämlich, »daû d'une morale comme obØissance à un code de r›- der Begriff des ¾sthetischen (historisch oder evo- gles est en train, maintenant, de disparaître, a dØjà lutionär) eine Leerstelle besetzt, die der Aufklä- disparu. Et à cette absence de morale, doit rØpon- rungsdiskurs einem Subjekt hinterlassen hat, das dre une recherche qui est celle d'une esthØtique de im Aufklärungswissen nicht aufgeht. Im ästheti- l'existence.«588 schen Urteil, so Kant, bestimmt das Subjekt sich Der Begriff ¾sthetik, so läût sich zusammenfas- selbst. Es bestimmt sich, so muû man wohl hinzu- sen, verändert sich in solcher Perspektive und wird fügen, als unbestimmbar, als nur dem eigenen Ge- selbst Faktor und Medium gewandelter kultureller fühl und Geschmack verpflichtet. ¾sthetik ist der und wissenschaftlicher Perspektiven. ¾sthetik »als Versuch, die Unbestimmbarkeit des nur durch sich gesellschaftliche Erfahrung vom Umgang mit den selbst bestimmbaren Subjekts festzuhalten. Insofern Künsten«589 wird als kompensatorische Engfüh- tritt sie an die Stelle der Theologie, denn sie substi- rung ihres Begriffs kritisiert. Neben diesem Ver- tuiert einen unplausibel gewordenen Gott durch ständnis von ¾sthetik tritt seit den 90er Jahren ein ein Subjekt, das die kulturell wie sozial nach wie ­neues ästhetisches Paradigma¬ in den Vordergrund, vor gebrauchte Stelle der Paradoxie bestimmbarer das, wie bei dem französischen Psychiater FØlix Unbestimmtheit besetzt und gleichzeitig als Aus- Guattari, eine ­transversale¬ Konzeption der Pro- gangspunkt einer Individualisierung dienen kann, duktion von Subjektivität ins Auge faût, um »faire die für eine hochdifferenzierte Moderne unver- transiter les sciences humaines et les sciences socia- zichtbar ist. ¾sthetik als Philosophie (oder als les des paradigmes scientistes vers des paradigmes Theorie) war und ist die Ausbeutung der Parado- Øthico-esthØtiques«590. Deren Leitbegriff ist ­De- xie der bestimmbaren Unbestimmtheit des Sub- naturalisierung¬, d.h. Historisierung von Subjek- jekts.«587 tivitäten. »On crØe de nouvelles modalitØs de sub- Hier kommt eine gesellschaftspolitische Dimen- jectivation au m†me titre qu'un plasticien crØe de nouvelles formes à partir de la palette dont il dis- pose.«591 587 baecker, Das Programm der Kultur, die Richtig- Die Diffusion eines Begriffs, für den sich sagen keit der Gesellschaft, in: Heller/Reck (s. Anm. 568), läût: »ce qui Øtait enjeu philosophique est Øgale- 122. 588 foucault, Une esthØtique de l'existence [Inter- ment devenu enjeu scientifique«592, hat in solchem view] (1984) in: Foucault, Dits et Ecrits, Bd. 4 (Paris Übergang jene analytische und diagnostische 1994), 732; vgl. wilhelm schmid, Philosophie der ­Kraft¬ erneuert, die Kant im Begriff des sensus Lebenskunst. Eine Grundlegung (Frankfurt a.M. communis aestheticus ausdrückte, nicht als ein Pro- 1998). 589 jauss, Das kritische Potential ästhetischer Bildung, gramm der Verständigung, sondern als eine unab- in: J. Rüsen/E. Lämmert/P. Glotz (Hg.), Die Zu- schlieûbare Aufgabe. Wahrnehmung (aistheÅsis) ist de- kunft der Aufklärung (Frankfurt a.M. 1988), 221. ren eine, Freiheit des Urteilens und der Wahl/der 590 guattari (s. Anm. 11), 24. Entscheidung deren ethische andere. Es ist darum 591 Ebd., 19. nur konsequent, wenn im Zuge solchen Bedeu- 592 mony elkaïm/isabelle stengers, Du mariage des hØtØrog›nes, in: Chim›res, H. 21 (Winter 1994), tungswandels auch der Bewegungsbegriff ­¾stheti- 148. sierung¬ neu bestimmt wird. »¾sthetisieren heiût: VII. Differenzierungen im ¾sthetikbegriff (Transformationen idealistischer ¾sthetik) 399 wahrnehmbar und fühlbar machen. ¾sthetisieren tik (Frankfurt a.M. 1982); kamper, dietmar, After Mo- heiût auch: Erfindung eines Gefühlstrainings, das dernism: Outlines of an Aesthetics of Posthistory, in: eine deutliche Antistreûrichtung hat, in dem das, Theory, Culture & Society 7 (1990), H. 1, 107±118; kelly, michael (Hg.), Encyclopedia of Aesthetics was die Griechen ­pathos¬ nannten, ersetzt wird (NewYork/Oxford 1998); knodt, reinhard, ¾stheti- durch das, was die Griechen ­ethos¬, moderiertes sche Korrespondenzen. Denken im technischen Raum Gefühl nannten.«593 (Stuttgart 1994); koppe, franz, Grundbegriffe der ¾s- Karlheinz Barck thetik (Frankfurt a.M. 1983); levine, george (Hg.), Aesthetics and Ideology (NewBrunswick1994); mer- rill, robert (Hg.), Ethics/Aesthetics: Post-Modern Po- sitions (Washington 1988); mollenhauer, klaus/ wulf, christoph (Hg.), Aisthesis/¾sthetik. 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