Marie Jacquot im Gespräch Wiener Perspektiven Festival mit Robin Ticciati Sir Simon Rattle Zurück am Pult des DSO

DSO-Nachrichten 11/12 2020 2 Inhalt Editorial 3

Liebe Leserin, lieber Leser,

wir freuen uns sehr, Ihnen seit September wieder Konzerte anbieten zu können. Dass diese trotz Einlassregeln, Mas- kenpflicht und kurzfristigen Programmänderungen so gut angenommen werden, spricht für die immense Bedeutung von Live-Musik, von Kunst und Kultur für das Leben vieler Menschen. Darüber freuen wir uns, und für die Treue danken wir Ihnen, unserem Publikum, aufs Herzlichste. 3 Editorial Da große Orchesterbesetzungen weiterhin nicht möglich 4 Marie Jacquot im Gespräch sind, laden wir Sie anstelle des geplanten Wagner-Festivals 11 Kammerkonzert im November zu unseren ›Wiener Perspektiven‹ ein, vier Abenden mit Robin Ticciati rund um Mozart und die Stim- 12 Aktuelles zu November und Dezember me der Moderne – mit kleinerem Orchester, aber promi- 16 ›Wiener Perspektiven‹ – nenter Besetzung → S. 17. Zudem freuen wir uns, Ihnen Sir Festival mit Robin Ticciati Simon Rattle, Leonard Slatkin und Marie Jacquot am Pult des DSO und in Begleitung herausragender Gäste präsentie- 24 rbbKultur-Kinderkonzerte ren zu dürfen. Auch der Jahreswechsel ist, wenn auch ohne 26 Konzertkalender den Circus Roncalli, mit einem zauberhaften Programm im Tempodrom fest eingeplant – Näheres geben wir in Kürze 32 Debüt im Deutschlandfunk Kultur bekannt. Informationen über die neuen Hausregeln der Phil- 34 Sir Simon Rattle und Robin Ticciati harmonie haben wir für Sie ab → S. 12 zusammengestellt. Karten für die Konzerte im November sind bereits erhältlich, 38 Robin Ticciati und Alina Ibragimova der Vorverkauf für Dezember beginnt am 16. November. 42 Leonard Slatkin und Richard Goode Wir wünschen Ihnen viel Vergnügen beim Lesen und hoffen 45 Impressum sehr, Sie möglichst bald wieder in einem unserer Konzerte begrüßen zu dürfen. Bleiben Sie gesund! 46 Berlin braucht Musik! – Was beim Musikhören im Kopf passiert Herzliche Grüße 50 Neue CD mit Martin Helmchen Ihr Deutsches Symphonie-Orchester Berlin Im Gespräch 5

So 6.12. Marie Jacquot Ein richtiges Klangerlebnis

Marie Jacquot studierte zunächst Posaune in Pa- ris, dann Dirigieren in Wien und Weimar. Die Sti- pendiatin des Dirigentenforums des Deutschen Musikrats ist nach drei Jahren am Mainfranken Theater Würzburg seit Herbst 2019 erste Ka- pellmeisterin an der Deutschen Oper am Rhein. Beim DSO gab die Französin 2018 ihren Einstand in der Reihe ›Debüt im Deutschlandfunk Kultur‹, am 6. Dezember ist sie nun erstmals in einem Abonnementskonzert zu erleben.

Madame Jacquot, Sie wären beinahe profes- sionelle Tennisspielerin geworden. Warum ha- ben Sie sich dann für die Musik entschieden? Meiner Familie war es wichtig, dass wir Kinder sowohl ein Instrument lernen als auch Sport ma- chen. Ich habe Klavier und Tennis gespielt, wobei mich das Klavier viel weniger interessierte. Am Tennis habe ich immer den spielerischen Aspekt geliebt und war darin auch sehr gut. Doch als ich dann professionell in Paris trainiert wurde, habe ich die Spielfreude Stück für Stück verlo- ren und mich mit 15 Jahren für einen anderen Weg entschieden. Ich war in der Zwischenzeit vom ungeliebten Klavier zur Posaune gewechselt und habe beim Musizieren im Orchester wieder diese unvergleichliche Spielfreude erlebt, die ich alleine am Klavier vermisst hatte. Als dann ein 6 Im Gespräch 7

Blechbläserquartett aus Paris bei uns in Chartres auftrat, Außerdem begegnet man in der Oper einer Vielzahl von Li- hatte ich ein richtiges »Wow-Erlebnis« und entschied mich, brettisten, Sprachen und Geschichten – das gefällt mir sehr. in Paris Unterricht zu nehmen – und zwar eben nicht mehr Tennis, sondern Posaune. »Ich kann mir ein Leben ohne Oper nicht mehr Das hat sich ganz organisch entwickelt … vorstellen. Hier gibt es keine Routine, es passiert immer etwas Neues, Unvorhergesehenes, man muss Wie kamen Sie dann zum Dirigieren? immer 200 % seiner Energie geben.« Das verdanke ich dem Orchesterleiter an unserem kleinen Konservatorium, Marie Jacquot ein großartiger Mensch, Musiker und Mentor, der die Begeisterung für die Musik gelebt hat und Wie ist es für Sie, als Gast zum ersten Mal vor einem Ihnen mich dazu inspirierte. Ich wollte unbedingt bei ihm studie- unbekannten Klangkörper zu stehen? ren, egal was, und habe deswegen mit dem Dirigieren ange- Es ist für mich immer eine große Freude, neue Leute ken- fangen. Wäre er Bäcker gewesen, wäre ich wahrscheinlich nenzulernen. Und tatsächlich interessieren mich primär Bäckerin geworden ... [lacht] die Menschen in den Orchestern. Wenn Atmosphäre und Chemie stimmen, ist das ganz wunderbar. Dabei ist es wie Konnten Sie vom Tennis etwas zum Dirigieren mitnehmen? im normalen Leben auch – manchmal muss man sich über Ja, unbedingt: die Unabhängigkeit der Arme, Vorausdenken, längere Zeit aneinander gewöhnen, ein andermal ist es Liebe Anpassungsfähigkeit an das, was das Gegenüber einem an- auf den ersten Blick – oder es funktioniert gar nicht. Das ist bietet. Das gilt sicher auch für andere Sportarten, aber für das Spannende an unserem Metier, und dasselbe gilt natür- Tennis ganz besonders. lich auch für Solistinnen und Solisten.

Sie folgen der klassischen Kapellmeisterlaufbahn. Was Wie definieren Sie Ihre Rolle als Dirigentin? ist für Sie das Spannende am Operndirigieren? Mein Wunsch ist es, dem Komponisten und dem Werk zu Ganz klassisch ist meine Laufbahn eigentlich nicht, denn die dienen und dem Orchester zu helfen, sein Bestes zu geben. beginnt normalerweise mit der Korrepetition. Da ich keine Pia- Wenn ich schließlich gar nicht mehr dirigieren müsste, weil nistin bin, hatte ich mich im Studium vor allem auf das sym- das Orchester so weit ist, dass es am Ende meine Hilfe gar phonische Repertoire konzentriert. Doch meine erste Stelle nicht mehr braucht, würde mich das sehr freuen. Die bes- in Würzburg, als Erste Kapellmeisterin ohne Klavierverpflich- ten Konzertmomente sind für mich die, die an die Proben tung, war eine einmalige Chance und ein großes Glück. Seit- erinnern. Wenn in einer Probe eine besondere Verbindung dem kann ich mir ein Leben ohne Oper nicht mehr vorstellen. zwischen uns entstanden ist, etwa bei der Arbeit an Takt 20, Hier gibt es keine Routine, es passiert immer etwas Neues, und im Konzert sehe ich an dieser Stelle in den Augen der Unvorhergesehenes, man muss unglaublich fokussiert sein, Orchestermitglieder, dass sie sich an diesen Moment erin- immer 200 % seiner Energie geben. Ein gut vorgeprobtes nern, dann ist das ein wunderbares Beispiel für die Kom- Symphonieorchester könnte im Notfall auch alleine spie- munikation, für das Geben und Nehmen, die für mich die len, aber eine Oper funktioniert ohne Dirigent einfach nicht. Musik ausmachen. 8 Im Gespräch 9

selbst heute, fast sieben Monate später, leide ich noch an den Spätfolgen, schmecke und rieche sehr wenig. Man darf dieses Virus also keinesfalls auf die leichte Schulter nehmen! Ich habe die Zeit genutzt, um fünf neue Opern zu lernen – von denen dann drei abgesagt wurden. Das einzige Plus war, dass ich ohne die üblichen Termine mehr Zeit für mich hatte, das hat mir sehr gut getan.

Sie begleiten am 6. Dezember mit dem DSO zunächst den Cellisten Kian Soltani bei Schumanns wunderbarem Cel- lokonzert und dirigieren danach tatsächlich eine Rarität, Kian Soltani die f-Moll-Symphonie von Richard Strauss. Was hat Sie daran gereizt? In Ihren Programmen finden sich immer wieder interes- Diese Symphonie ist ein sehr, sehr schönes Stück Musik, sante Entdeckungen, etwa die Sinfonietta von Korngold. vor allem wenn man bedenkt, dass Strauss erst 20 Jahre alt Liegt Ihnen das Seltene und Unbekannte besonders am war, als er sie komponierte – das fasziniert mich. Sie ist noch Herzen? sehr der Tradition verbunden, man hört viel Brahms darin, Auf jeden Fall! Ich bin sehr neugierig und habe große Freude ein Beethoven-Zitat, ein wenig Volksmusik, vielleicht sogar daran, neben Brahms, Tschaikowsky oder Schumann, die etwas Dvořák. Man hört aber auch die Strauss’sche Musik- ich sehr liebe und verehre, auch Musik, die kaum gespielt sprache langsam erblühen, merkt, dass sich hier Türen öff- wird, mit dem Orchester und dem Publikum zu entdecken. nen. Ich fühle mich Strauss sehr verbunden, wage mich aber Wenn ich dann zu Brahms zurückkehre, ist die Freude umso noch nicht an seine Hauptwerke heran, weil ich seine Musik größer, weil ich ihn eben nicht zu oft dirigiere. Ich verbringe systematisch von Anfang an kennenlernen möchte. Dafür viel Zeit damit, neues Repertoire zu suchen, Unbekanntes scheint mir die f-Moll-Symphonie der richtige Weg zu sein. anzuhören, mir Notizen zu Besetzungen und Programmen Und mit dem DSO, das eben auch diesen deutschen Klang zu machen. Es ist allerdings nicht immer einfach, diese Ideen beherrscht, kann das ein richtiges Klangerlebnis werden. umzusetzen: Korngold beispielsweise ist leider nicht unbe- dingt ein Quotenbringer. Umso schöner ist es, wenn man bei Das Gespräch führte MAXIMILIAN RAUSCHER. der Programmgestaltung einmal freie Hand hat.

Lange Zeit gab es keine Aufführungen, und die Covid- 19-Pandemie hat nicht nur das Kulturleben weiterhin fest im Griff. Wie haben Sie die vergangenen Monate erlebt? Ich bin im März selbst an Corona erkrankt, bei einer Opern- produktion in Strasbourg haben sich fast alle Beteiligten angesteckt. Mein Verlauf war nicht sehr dramatisch, aber Konzertkalender S. 29 Kammerkonzert 11

So 29.11. Kammermusik in der Villa Elisabeth

Mit Klaviertrios von Brahms und Schumann setzen Michael Mücke, Mitglied der Ersten Violinen, der Solo-Cellist Dávid Adorján und die Pianistin Annika Treutler am 29. Novem- ber die Kammerkon- zertreihe fort. kompo- nierte seine ersten bei- den Gattungsbeiträge in kurzer Folge 1847. Dabei war das F-Dur- Trio mit dem intimen Konversationsgestus und seiner Liedhaftig- keit »von ganz ande- rem Charakter als das in D und wirkt freund- licher und schneller«, wie der Komponist bekannte. Gut vierzig Jahre später, während Dávid Adorján eines Sommeraufent- halts am Thunersee, entstand das Dritte Klaviertrio von . Von der Schweizer Bergwelt inspiriert, schrieb er eine Komposition, die künstlerische Reife mit jugendlicher Frische und – im Zwiefachen des dritten Sat- zes – auch zärtlicher Volkstümlichkeit zu verbinden weiß. Der Perfekte Ein- oder Ausklang »Welch ein Werk ist das!«, notierte Clara Schumann in ih- ist 3 Minuten von der Philharmonie Entfernt. rem Tagebuch, »genial durch und durch in der Leidenschaft, der Kraft der Gedanken, der Anmut, der Poesie! Noch kein Werk von Johannes hat mich so ganz und gar hingerissen, so sanft auch bewegt der zweite Satz, der ganz wunderbar poetisch ist«.

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Information Corona Ihr Konzertbesuch im November und Dezember

Mit erfolgreichen Konzerten in der Philharmonie und der Vil- la Elisabeth sowie Gastspielen in Düsseldorf und Hamburg konnten wir nach der langen Pause, die die Covid-19-Pan- demie dem Kulturbetrieb auferlegt hat, endlich mit neuem Schwung in die Saison 20/21 starten. Auch in den Monaten November und Dezember können wir Ihnen erfreulicherwei- se wieder zahlreiche Konzerte in Berlin anbieten. Die wich- tigsten Informationen dazu haben wir im Folgenden für Sie zusammengestellt. Konzertkarten für November und Dezember In den vergangenen Wochen wurde das Hygienekonzept der Programme und Gäste Philharmonie noch einmal überarbeitet, und wir freuen uns, Da große Orchesterbesetzungen auf der Bühne der Philhar- dass wir hier ab November wieder 1000 Gäste zu unseren monie weiterhin nicht möglich sind, mussten wir zahlrei- Konzerten begrüßen dürfen – ausführliche Informationen zu che Konzertprogramme anpassen und das geplante Festi- den neuen Regeln für Ihren Besuch finden Sie auf der nächs- val ›Wagner-Perspektiven‹ neu konzipieren. Wir freuen uns ten Seite. Karten für die Konzerte im November sind seit umso mehr, Ihnen unter diesen Vorzeichen wie geplant Sir dem 15. Oktober, Karten für die Dezember-Termine ab dem Simon Rattle, Robin Ticciati, Leonard Slatkin und Marie 16. November erhältlich – diese Staffelung ist notwendig, Jacquot am Pult des DSO präsentieren zu dürfen, zudem damit wir den Saalplan jeweils an die aktuellen Entwick- eine Riege herausragender musikalischer Gäste: Die So- lungen anpassen können. Vorbestellungen nimmt unser Be- pranistinnen Anu Komsi, Dorothea Röschmann und Yeree sucherservice → S. 52 jederzeit gerne schriftlich entgegen. Suh, die Mezzosopranistinnen Julie Boulianne und Magda- lena Kožená, den Bariton Matthias Goerne, den Bass John Abonnements im November und Dezember Relyea, die Violinistinnen Alina Ibragimova und Alina Pogost- Die Abo-Serien in der Philharmonie müssen auch im Novem- kina sowie den Bratscher Timothy Ridout. Alle Programme ber und Dezember pausieren. Unsere Abonnentinnen und finden Sie im Kalender ab→ S. 26 und nähere Informationen Abonnenten erhalten jedoch weiterhin Karten zu exklusiven in den Konzertartikeln dieser Ausgabe. Sonderkonditionen, und das noch vor dem freien Verkauf. 14 Corona 15

Ausführliche Informationen dazu haben Sie bereits per Post • Die Laufwege und Saaleingänge im gesamten Gebäude von uns erhalten – falls nicht, wenden Sie sich bitte an un- sind farblich markiert. seren Besucherservice → S. 52. • Auf der Eintrittskarte findet sich die Angabe zur Farbe des Laufweges, der zum Sitzplatz führt. Hygienekonzept und weitere Regeln • Es gibt keine Garderoben. Auf das Mitbringen größerer Die Gesundheit und Sicherheit von Publikum und Mitwir- Gepäckstücke muss verzichtet werden; Taschen größer kenden haben für uns die höchste Priorität. Deshalb haben als DIN A4 sind nicht zugelassen. Jacken und Mäntel kön- wir für Ihren Besuch in Abstimmung mit den verschiedenen nen auf die Sitzfläche der nicht genutzten Stühle gelegt Spielstätten Vorsichtsmaßnahmen erarbeitet, die der Ein- werden. dämmung der Covid-19-Pandemie dienen. Gerade die Phil- harmonie verfügt über ein ausgezeichnetes Belüftungssys- Weiterhin gilt für alle Veranstaltungssäle: tem, das permanent desinfizierte Zuluft unter den Stühlen in den Saal einbläst und Abluft nach oben absaugt. Vor und • Im gesamten Gebäude gilt die Pflicht zum Tragen eines nach dem Einlass werden unter anderem die Türklinken, Mund-Nasen-Schutzes. Handläufe und Sanitärbereiche gereinigt und desinfiziert. • Der Sicherheitsabstand der Besucher*innen von 1,5 m zu- einander ist einzuhalten. Die Abstände im Saal sind durch Ab dem 1. November gelten in der Philharmonie folgende freie Plätze gewährleistet. neue Regeln: • Die Konzerte dauern maximal 75 bis 90 Minuten und fin- den ohne Pause statt. • Die Plätze werden platzgenau verkauft, somit gelten wie- • Beim Kartenkauf werden die privaten Kontaktdaten er- der die üblichen Kartenpreise und Preisgruppen, die in der fasst. Saisonbroschüre 20/21 abgedruckt sind. • Konzertbesucher*innen müssen einen aktuellen Perso- • Die Anordnung der Plätze folgt dem sogenannten Schach- nalausweis oder ein entsprechendes amtliches Dokument brettmuster. wie einen Reisepass bei sich tragen. • Während des Konzerts muss durchgängig ein Mund- • Konzerteinführungen am Veranstaltungsort können lei- Nasen-Schutz getragen werden. der nicht stattfinden. • Die Abendkassen sind wieder geöffnet. • Programmhefte liegen am Konzertabend kostenlos aus. • Vor und nach dem Konzert gibt es vor dem Eingang an der Potsdamer Straße einen Getränkeausschank. Der Kartenvorverkauf für die November-Konzerte beginnt am 15. Oktober, für die Dezember-Konzerte am 16. November. Für die Philharmonie gilt zudem weiterhin: Ausführliche Informationen finden Sie unter • Um größere Ansammlungen zu vermeiden, erfolgt der → dso-berlin.de/corona Einlass für den linken Saalbereich über die Eingänge ›Gar- ten‹ und ›Osteingang‹, der Einlass für die rechte Saalseite über die Eingänge ›Potsdamer Platz‹ und ›Kassenfoyer‹. Festival 17

Fr 13.11. – Sa 21.11. Robin Ticciati ›Wiener Perspektiven‹ Mozart und die Stimme der Moderne

Der Monat November sollte für das DSO im Zeichen der ›Wagner-Perspektiven‹ stehen. Doch Corona zwang zum Umdenken: Nach geltenden Abstands- regeln ist ein Orchester der nötigen Größe auf der Philharmoniebühne nicht unterzubringen. Das Festival erhielt daher selbst neue Perspektiven. Sie richten sich auf die Stadt, die als die Musikmetropole in der Mitte Europas galt: Wien – zu zwei exponierten Zeiten, die ihren Namen als kulturgeschichtliche Kennung tragen: die Wiener Klas- sik und die Wiener Moderne. Für die Epoche vor 1800 steht ; das frühe 20. Jahrhundert prä- gen Mahler, Zemlinsky und Komponisten aus der Zweiten Wiener Schule.

Die Epochen unterscheiden sich jenseits aller sozialhisto- rischen und stilistischen Differenzen in einer Problemstel- lung fundamental: In der klassischen Ära setzte sich die Instrumentalmusik als bestimmende Kraft der Tonkunst durch. In ihr äußerte sich nicht nur die Eigenart, sondern auch das, was man »die Sprache der Musik« nannte, rein und unverfälscht: »Wenn von der Musik als einer selbstän- digen Kunst die Rede ist, sollte immer nur die Instrumental- musik gemeint sein« (E. T. A. Hoffmann, 1814). In Wien um 1900 schien das fraglos. Zugleich bröckelten die Grundla- gen, auf denen die Wirkung der Musik als Sprache eigener 18 Festival 19

Julie Boulianne – Mezzosopran Yeree Suh – Sopran Matthias Goerne – Bariton

Art beruhte. Die Tonalität verlor ihre ordnende Kraft, das und Mannheim im März 1778 die französische Metropole. »Triebleben der Klänge« (Schönberg) suchte eigene Kanäle – Karrierestrategisch geriet das Unternehmen zum Fiasko, wie konnten sich da kommunikativ überzeugende Formen aber der 22-Jährige brachte drei wichtige Erfahrungen mit bilden? Die Literatur sprang ein; der poetische Text wurde nach Hause: den Esprit, mit dem eine Symphonie ihr Pub- in Struktur und Stimmung zum Rückgrat der musikalischen likum durch gezielte »Surprisen« bei Laune halten konnte, Gestalt. die Praxis der Sinfonia concertante, der Übersetzung des barocken Concerto grosso in die klassische Ton- und For- In Robin Ticciatis vier Konzerten des Festivals greifen die mensprache, und die Kenntnis der französischen Oper, der Epochen auf zweierlei Art ineinander: In den Freitagspro- Tragédie lyrique. grammen bilden Mozarts Instrumentalwerke Rahmen und Stütze, dazwischen setzen Lieder und imaginäre Szenen der In ihre Tradition gehört trotz des italienischen Textes die Wiener Moderne Kontrastfarben und Spannungselemente. Oper ›Idomeneo‹; es fehlt in ihr auch nicht die obligatorische In den Samstagsprogrammen stehen wiederum Liedzyklen Balletteinlage, die das Pariser Publikum unbedingt verlang- von Mahler und Schönberg symphonischen Kompositionen te. Mozart schrieb sie eineinhalb Jahre nach seiner Frank- Mozarts gegenüber. reichtour für den Münchener Hof. Im Anschluss an die ersten Aufführungen reiste er direkt nach Wien, um sich dem Tross Mozart und Wien seines Dienstherrn, des Salzburger Fürsterzbischofs Hiero- Mozarts Weg aus der höfischen Dienstbarkeit in Salzburg nymus von Colloredo, anzuschließen. Der nutzte einen Be- nach Wien in die »freie« Künstlerexistenz führte über Paris – such bei seinem Bruder, um sich und seinen Kultursinn aus- nicht im buchstäblichen Sinn, aber in groben Linien. Auf sei- giebig zu präsentieren. Den Münchener Erfolg im Rücken, ner letzten ausgedehnten Reise von September 1777 bis Ja- empfand Mozart das Funktionieren in einer Diensthierarchie nuar 1779 erreichte er nach Zwischenstationen in München wie ein Gefängnis. Er desertierte, reiste nicht mit zurück 20 Festival 21

Dorothea Röschmann – Sopran John Relyea – Bass Anu Komsi – Sopran nach Salzburg. ›Idomeneo‹ machte die Wiener Perspektiven in der ›Zauberflöte‹ und den letzten Symphonien. Das Klari- für Mozart drängend. nettenkonzert schrieb er für den Logenbruder Anton Stad- ler; dessen besondere Fähigkeiten gingen in die Werkgestalt Während die Sinfonia concertante für Violine, Viola und ein. Das Freimaurertum bedeutete für Mozart Teilhabe am Orchester die kompositorische Brücke zwischen den Vio- Geist der Zeit – durch die sozialen Kontakte, die sich daraus linkonzerten der Salzburger und den ambitionierteren Kla- ergaben, aber auch durch die freiheitlichen, weitblickenden vierkonzerten der Wiener Jahre schlägt, steht die ›Linzer‹ Ideen der Bewegung. Symphonie sinnbildlich für Mozarts Weg nach Wien: Er schrieb sie auf der Rückfahrt vom ersten Besuch seiner Intensive Gegenwart als Tor zur Zukunft alten Heimat nach der »Fahnenflucht« für den Grafen von Die Teilhabe an der eigenen Epoche ist ein Hintergrund- Thun-Hohenstein, auf dessen Einladung er in Linz Station thema dieser ›Wiener Perspektiven‹, denn aus ihr erwächst machte. »Der alte Thun« gehörte zu den ersten Gönnern des das Zukunftsweisende einer Ära. Was war das für eine Li- Wunderkindes Mozart, er übertrug seine Bewunderung für teratur, die der Musik der Moderne beisprang? Bei Mahler das Genie auch auf seinen Sohn in Wien. Der »junge Thun« stammte sie aus dem Volkslied, der Urschicht der Poesie. brachte dem Komponisten die Ideen der Freimaurer nahe; Verse aus ›Des Knaben Wunderhorn‹ waren für ihn Rohdi- auf ihn geht Mozarts Beitritt zur sozial engagierten Loge amanten, die er sprachlich und musikalisch zur Kunst po- ›Zur Wohltätigkeit‹ zurück. lierte. Sie mobilisieren Archetypen menschlichen Erlebens, durchstreifen das Märchen- und Sagenreich, kultivieren Mozarts Freimaurertum lässt sich nicht als biografische die Himmelsgucker-Naivität, nehmen Partei für die Ernied- Randerscheinung abtun. Zu deutlich sind die Spuren, die rigten, wissen um die tröstlich-trotzige Kraft des Spotts. es in seinen Werken hinterließ – nicht nur in maurerischen Mahlers Lieder pflegen wie später diejenigen Zemlinskys, Kompositionen wie der Trauermusik von 1785, sondern auch Schönbergs oder Weberns die Kunst des Suchens. 22 Festival 23

thischem Nebel. Im ›Pierrot lunaire‹ nach Poemen von Al- bert Giraud wird eine Figur aus der Commedia dell’Arte zum Symbol der Künstlersensibilität. Schönberg reduziert das Orchester auf ein Minimum; alle Klanggruppen sind zugleich da und fast verschwunden; Sprache und Stimme gehen eine neue Koalition ein. ›Pierrot‹ wurde zu einem Schlüsselwerk der Moderne.

Die Lieder von Mahler und Zemlinsky sahen wie Schön- bergs ›Gurre-Lieder‹ ursprünglich ein großes Orchester vor. Sie werden nun allesamt von einem Kammerensemble begleitet. Schönberg selbst wies die Richtung, als er 1923 Timothy Ridout – Viola Alina Pogostkina – Violine ›Das Lied der Waldtaube‹ für kleine Besetzung bearbeitete. Das Verfahren wurde in neuerer Zeit häufiger aufgegriffen. Die Gedichte, welche die Jüngeren im Wiener Bunde wähl- Solche Reduktionen bauen auf die suggestive Wirkung, die ten, weckten Ahnungen und Andeutungen wie Schatten- mehr erahnen lässt, als man hört; sie legen das Nervensys- risse von Traum-, Trance- oder Fantasiebildern. Sie mieden tem der Musik frei. Ihre Perspektive weist ins Innere der Eindeutigkeit, beschworen den »alten Duft aus Märchen- Kunsterfahrung. zeit« und das Dunkel eines vorgestellten Mittelalters, das mit den finsteren Seelenwinkeln verfloss. Die Zeichen und HABAKUK TRABER Symbole in Schönbergs ›Lied der Waldtaube‹, dem mysti- schen Zentrum der ›Gurre-Lieder‹, finden ihr musikalisches Pendant in einem Netz von Motivbeziehungen, die sich zu ei- Wiener Paket ner enigmatischen Erzählung jenseits der Worte verweben. Mit dem ›Wiener Paket‹ sichern Sie sich alle vier Konzerte Das feine, transparente Stimmengeflecht zieht in Weberns des Festivals ›Wiener Perspektiven‹ mit Robin Ticciati zum günstigen Paketpreis. Erhältlich beim Besucherservice Ensembleliedern op. 13 die Gedichte in den Sog eines zer- des DSO → S. 52. brechlichen Filigrans. PG 1: 160 € (100 € Ersparnis) PG 4: 112 € (44 € Ersparnis) Bisweilen löst sich Poesie aus der gewohnten Syntax und PG 2: 144 € (80 € Ersparnis) PG 5: 88 € (32 € Ersparnis) bewegt sich auf eine Sprache zu, die, vom Erzählen befreit, PG 3: 128 € (60 € Ersparnis) PG 6: 64 € (16 € Ersparnis) in Musik mündet: So erträumte es der französische Symbo- Ausführliche Informationen finden Sie unter list Stéphane Mallarmé. Kein Zufall, dass frankophone Lite- → dso-berlin.de/wiener-perspektiven ratur die Komponisten des Schönberg-Kreises inspirierte. Die sechs Gedichte, die Alexander Zemlinsky von Maurice Maeterlinck, dem Ahnungsvirtuosen, vertonte, sprechen von Mädchen und Frauen wie von Erscheinungen aus my- Konzertkalender S. 27 / 28 24 Kinderkonzerte 25

So 1.11. / So 13.12. rbbKultur-Kinderkonzerte auf dem Land leben, bedeutet pasto- ral eben auch ländlich.

Was kann man auf dem Land Aufs Land … erleben? Vor allem Na- tur. Und wie hört die sich und mehr an? Macht die Ohren auf! Lauscht auf das Zwit- Endlich Ferien! Endlich Ruhe! Keine Hektik! Raus aufs Land! schern der Vögel, das Plät- Kein Verkehr mehr! Kein Lärm! Nur die grünen Wälder, die schern von Bächen, das sanften Hügel und die Bäche, die plätschern. Rauschen des Windes. Und Die Sonne scheint, die Vögel zwit- dann sind da die Menschen. schern. Ach geht’s uns gut! – Dieses Sie tanzen, feiern und gehen Gefühl können sich bestimmt spazieren. All das hat Beetho- alle gut vorstellen, sogar die, ven in Musik übersetzt. Aber auch die Spazierengehen oder eine Sturm, Regen und Gewitter. Sogar Fahrt aufs Land langweilig einen Regenbogen kann man hier hören. finden. Davon erzählt die Sechste Symphonie von Wir freuen uns ganz besonders, dass wir Euch nach langer . Corona-Pause am 1. November endlich wieder ein Kinder- konzert im Haus des Rundfunks präsentieren dürfen. Der 2020 hört Ihr besonders viel französische Dirigent Aurélien Bello leitet diesmal das DSO. von und über Beethoven. Er Dabei ist einiges ein bisschen anders als sonst: Das Open wurde vor 250 Jahren in Bonn House mit MusikinstrumentenAbgesagt zum Ausprobieren findet A am Rhein geboren. Gelebt hat der diesmal leider nicht statt, und Karten sind nur im Vorver- uré nach Redaktionsschluss lien Bello berühmte Komponist den größten kauf erhältlich. Plätze gibt es auch weniger als sonst, denn Teil seines Lebens aber in Wien. Wien war natürlich werden im Saal alle Abstände eingehalten. Wenn damals Hauptstadt, Kaiserstadt und auch in Sachen Musik Ihr mit Eurer Familie kommt, dürft Ihr aber selbstverständ- das Zentrum Europas. Entsprechend voll war es dort, es war lich zusammensitzen. Beim nächsten Mal, am 13. Dezember, eng, laut und stank. Darum waren die Wiener froh, wenn sie ist dann Gijs Leenaars mit seinem Rundfunkchor Berlin und im Sommer raus konnten, raus aufs Land. dem DSO zu Gast. Das Programm findet Ihr demnächst unter → dso-berlin.de/kinderkonzerte Was Beethoven auf dem Land erlebte, welche Gefühle, wel- che Empfindungen er hatte, das hat er in seiner ›Pastorale‹ CHRISTIAN SCHRUFF dargestellt – so nannte er seine Sechste Symphonie. Pastor ist ein lateinisches Wort und bedeutet Hirte. Und weil Hirten Konzertkalender S. 26 26 Konzertkalender 27 November Festival ›Wiener Perspektiven‹ So 1.11. / 12 Uhr / Haus des Rundfunks 13. – 21. November rbbKultur-Kinderkonzert ›Aufs Land‹ Beethoven Symphonie Nr. 6 F-Dur ›Pastorale‹ Fr 13.11. / 20 Uhr / Philharmonie AURÉLIENAbgesagt BELLO Konzert I Christian Schruff – Moderation Mozart Ouvertüre zur Oper ›Die Zauberflöte‹ Zemlinsky Sechs Gesänge für mittlere Stimme, Fr 6.11., Sa 7.11. / 20 Uhr / Philharmonie bearbeitet für Kammerorchester von Erwin Stein Takemitsu ›Archipelago S.‹ und Andreas N. Tarkmann Mahler ›Das Lied von der Erde‹, für Soli und Mozart ›Maurerische Trauermusik‹ Ensemble bearbeitet von Glen Cortese Schönberg ›Lied der Waldtaube‹ aus ›Gurre-Lieder‹ SIR SIMON RATTLE (Mahler) für Mezzosopran und Orchester, bearbeitet für ROBIN TICCIATI (Takemitsu) Kammerorchester vom Komponisten Magdalena Kožená – Mezzosopran Mozart Symphonie Nr. 36 C-Dur ›Linzer‹ Andrew Staples – Tenor ROBIN TICCIATI Julie Boulianne – Mezzosopran (Zemlinsky) Fr 27.11. / 20 Uhr / Philharmonie Karen Cargill – Mezzosopran (Schönberg) Mozart Klavierkonzert Nr. 20 d-Moll KV 466 Copland Suite ›Appalachian Spring‹ Sa 14.11. / 20 Uhr / Philharmonie LEONARD SLATKIN Konzert II Richard Goode – Klavier Mozart Sinfonia Concertante Es-Dur für Violine, Viola und Orchester So 29.11. / 17 Uhr / Villa Elisabeth Mahler Lieder aus ›Des Knaben Wunderhorn‹, Kammerkonzert für Kammerorchester bearbeitet von Klaus Simon Brahms, Schumann ROBIN TICCIATI ENSEMBLE DES DSO Alina Pogostkina – Violine Timothy Ridout – Viola Dorothea Röschmann – Sopran John Relyea – Bass 28 Konzertkalender 29

Fr 20.11. / 20 Uhr / Philharmonie Konzert III Mozart Ouvertüre zur Oper ›Idomeneo‹ Dezember Mahler ›Rückert-Lieder‹, für tiefe Stimme und Kammerensemble transkribiert von Eberhart Kloke So 6.12. / 20 Uhr / Philharmonie Mozart Klarinettenkonzert A-Dur Schumann Violoncellokonzert a-Moll Webern Vier Lieder für Gesang und Orchester op. 13 Strauss Symphonie f-Moll Mozart Ballettmusik aus ›Idomeneo‹ MARIE JACQUOT ROBIN TICCIATI Kian Soltani – Violoncello Matthias Goerne – Bariton (Mahler) Yeree Suh – Sopran (Webern) Mi 9.12. / 20 Uhr / Philharmonie Stephan Mörth – Klarinette ›Debüt im Deutschlandfunk Kultur‹ Korngold Violinkonzert D-Dur Sa 21.11. / 20 Uhr / Philharmonie Mozart Oboenkonzert C-Dur Konzert IV ›Jupiter lunaire‹ Mendelssohn Symphonie Nr. 1 c-Moll Schönberg ›Herzgewächse‹ für hohen Sopran, ALPESH CHAUHAN Celesta, Harmonium und Harfe Timothy Chooi – Violine Schönberg ›Pierrot lunaire‹ für Sprechstimme Mariano Esteban Barco – Oboe und Kammerensemble Mozart Symphonie Nr. 41 C-Dur ›Jupiter‹ So 13.12. / 12 Uhr / Haus des Rundfunks ROBIN TICCIATI rbbKultur-Kinderkonzert Anu Komsi – Sopran Das Programm wird noch bekannt gegeben GIJS LEENAARS Rundfunkchor Berlin Wiener Paket Christian Schruff – Moderation Mit dem ›Wiener Paket‹ sichern Sie sich alle vier Konzerte des Festivals ›Wiener Perspektiven‹ mit Robin Ticciati zum günstigen Paketpreis. Erhältlich beim Besucherservice des DSO → S. 52

PG 1 : 160 € (100 € Ersparnis) PG 2 : 144 € (80 € Ersparnis) PG 3 : 128 € (60 € Ersparnis) PG 4 : 112 € (44 € Ersparnis) PG 5 : 88 € (32 € Ersparnis) PG 6 : 64 € (16 € Ersparnis) 30 Konzertkalender

So 20.12. / 20 Uhr / Philharmonie Hartmann ›Concerto funebre‹ für Violine und Streichorchester Messiaen ›Et exspecto resurrectionem mortuorum‹ für Bläser und Schlagzeug Beethoven ›Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit‹ – 3. Satz aus dem Streichquartett Nr. 15 a-Moll op. 132, bearbeitet für Streichorchester ROBIN TICCIATI Alina Ibragimova – Violine

Mo 21.12. / 20.30 Uhr / Philharmonie Casual Concert Messiaen ›Et exspecto resurrectionem mortuorum‹ für Bläser und Schlagzeug Beethoven ›Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit‹ – 3. Satz aus dem Streichquartett Nr. 15 a-Moll op. 132, bearbeitet für Streichorchester ROBIN TICCIATI – Dirigent und Moderator

Do 31.12. / 15 + 19 Uhr / Tempodrom Silvesterkonzerte Das Programm wird noch bekannt gegeben FABIEN GABEL Julie Fuchs – Sopran

Fr 1.1. / 18 Uhr / Tempodrom Neujahrskonzert Das Programm wird noch bekannt gegeben FABIEN GABEL Julie Fuchs – Sopran 32 Debüt 33

Mi 9.12. Alpesh Chauhan den Michael-Hill-Wettbewerb, bevor er sich dann im Jahr 2019 beim anspruchsvollen Königin-Elisabeth-Wettbewerb in Brüssel einen Zweiten Preis erspielte. Er kann sich auf seine Virtuosität verlassen, verfügt aber auch über die Fä- Debüt mit Nähe higkeit, auf seinem Instrument weit und Abstand ausgespannte Kan- tilenen zu singen. Seit über 60 Jahren gibt es nun schon die Konzertreihe Beide Qualitäten ›Debüt im Deutschlandfunk Kultur‹. Routine ist in all den benötigt er für das Jahren nicht eingetreten. Doch 2020 war alles anders. Das schwelgerische lang geplante Orchesterdebüt im Juni, ein Abend mit zwei Violinkonzert von Solistinnen und der wunderbaren Dirigentin Ruth Rein- Korngold. hardt, musste Corona-bedingt auf die Saison 2021/2022 verschoben werden. Einige ›Debüt‹-Kammerkonzerte mit Der dritte Debütant internationalen Ensembles, die nicht nach Deutschland im Bunde kommt Mariano Esteban Barco einreisen konnten, haben wir in Spontan-Konzerte umge- aus Großbritanni- wandelt, bei denen Musikstudierende ohne Publikum in der en. Alpesh Chauhan, aufgewachsen in Birmingham, ist heu- Berliner Jesus-Christus-Kirche auftraten. te Künstlerischer Leiter des dortigen Opernhauses. Chau- han wurde zunächst als Cellist ausgebildet und hat dann Das Konzert am 9. Dezember ist also das erste ›Debüt im das Handwerk und die Kunst des Dirigierens bei Stanisław Deutschlandfunk Kultur‹ mit dem DSO nach einer länge- Skrowaczewski gelernt. Alpesh Chauhan beschließt den ren Pause. An dem ursprünglich vorgesehenen Programm Abend mit der Ersten Symphonie von Mendelssohn, einem konnten wir leider nicht festhalten. Zu groß, und damit nicht Jugendwerk, das Frische und Optimismus ausstrahlt. Und pandemietauglich sind die Besetzungen der Konzertouver- davon können wir am Ende dieses ungewöhnlichen, dunklen türe von Szymanowski und der Tondichtung ›Don Juan‹ von Jahres sicher eine Menge gebrauchen. Strauss. Die beiden Solokonzerte werden jedoch wie geplant aufgeführt: Der junge spanische Oboist Mariano Esteban CHRISTINE ANDERSON Barco, der beim ARD-Wettbewerb 2017 durch große Musi- kalität und bezaubernde Tonschönheit auffiel, hätte sein De- Dr. Christine Anderson ist Musikredakteurin bei büt mit dem DSO eigentlich schon im Mai 2019 geben sollen, Deutschlandfunk Kultur und kuratiert die Konzertreihe ein Fahrradunfall kam dazwischen. Mit dem Oboenkonzert ›Debüt im Deutschlandfunk Kultur‹. von Mozart kann er nun die ganze Palette seiner Klang- farben zeigen. Der zweite Solist des Abends ist ebenfalls kein Unbekannter mehr: Der kanadische Geiger Timothy Chooi gewann 2018 den Joseph-Joachim-Wettbewerb und Konzertkalender S. 29 Rattle / Ticciati 35

Fr 6.11. / Sa 7.11. Sir Simon Rattle Melancholie und Schönheit

Am 6. und 7. November steht Sir Simon Rattle, 43 Jahre nach seinem DSO-Debüt im Rahmen der Reihe ›RIAS stellt vor‹, erstmals wieder am Pult des Orchesters – mit Gustav Mahlers ›Lied von der Erde‹. Seit 1977 ist viel passiert: Dem City of Birmingham Symphony Orchestra verschaffte Rattle Weltgeltung, 16 Jahre lang prägte er dann die Geschicke der Berliner Philharmoniker und setzt nun, seit 2017, als Music Director des Lon- don Symphony Orchestra Maßstäbe.

Gemeinsamkeiten Die Bühne teilt sich Sir Simon diesmal nicht nur mit seiner Frau, der Mezzosopranistin Magdalena Kožená, und dem Tenor Andrew Staples, die Mahlers Liedsymphonie auch in der Kammeror- chesterfassung von Glen Cortese hochkarätig besetzen, sondern ebenso mit DSO-Chefdiri- gent Robin Ticciati. Die beiden Briten haben mehr als nur eine Lockenmähne gemeinsam: Sie verbindet die jugendliche Vergangenheit als Orchesterschlagzeuger, frühe dirigentische Ver- antwortung, musikalische Entdeckungsfreude, die Begeisterung und der Einsatz für Education- und Outreach-Projekte. Für Ticciati war Rattle ein Mentor, der ihm – wie er einmal einem Radio- sender verriet –, umfangreiche Lektüre ans Herz legte, darunter »Berlioz’ Instrumentationslehre, 36 Rattle / Ticciati 37 was Mozart über Bogenführung sagte, Briefe zwischen Ro- bert und Clara Schumann«, und ihm dabei vermittelte, dass man als Dirigent ein Leben lang zu lernen hat. Beim DSO bestreiten sie nun erstmals gemeinsam ein Berliner Konzert.

Begegnungen Der Abend sollte eigentlich mit Tōru Takemitsus Sternbild- musik ›Gémeaux‹ beginnen, die nicht nur zwei Orchester, sondern auch zwei Dirigenten verlangt. Doch da Platzbedarf und Ensemblegröße nicht mit den pandemisch bedingten Regularien in Einklang zu bringen waren, schlägt Ticciati den Auftakt nun alleine. Er eröffnet das Konzert mit Takemit- sus ›Archipelago S.‹ für 21 Instrumente, geschrieben 1993 von dem japanischen Komponisten, der wie kein zweiter die Gedanken- und Musikwelten seiner Heimat in diejenigen Europas zu schmiegen wusste – mit einer wundersamen Magdalena Kožená Klangsprache, die sinnlich, warm und impressionistisch ist, und dabei doch immer filigran, präzise und glasklar bleibt. und das Rätselhafte alles Seienden«, schrieb Bethge über den Dichter Lǐ Bái (Li Tai Po). In dessen jahrtausendaltem Schicksalsmusik Werk, gefiltert durch die Wahrnehmung Bethges, fand Einen umgekehrten Blick in asiatische Gedankenwelten, Mahler einen Teil des Textmaterials für eine Vertonung, die wenn auch mehrfach gebrochen durch Sprachwechsel, ungewöhnlich schnell zu jenem Amalgam von Symphonie Nachempfindung und eigenen Eingriff, wagte Gustav Mah- und Liederzyklus verschmolz, das wir als ›Lied von der Erde‹ ler 1907, als er seine individuelle Leidenserfahrung in große, kennen – einem grandiosen Klagegesang über Vergänglich- universelle Kunst verwandelte. Es war sein Schicksalsjahr, keit und Verlust, Einsamkeit und die verflossenen Freuden und das in dreifacher Hinsicht: Ermüdet vom Gegenwind des Lebens. Harter Tobak, das ahnte Mahler selbst, als er einer unheiligen Allianz aus Antisemiten, Bühnenkonservati- den Dirigenten Bruno Walter fragte: »Ist das überhaupt zum ven und persönlichen Gegnern, nahm Mahler im Mai seinen aushalten? Werden sich die Menschen nicht danach umbrin- Abschied als Direktor der Wiener Hofoper. Im Juli musste er gen?« Die Antwort lautet freilich: Nein! Denn Melancholie, den Tod seiner vierjährigen Tochter Maria Anna verkraften, Trauer und Verzweiflung haben ihren Widerklang in Musik und bei ihm selbst wurde kurz darauf eine gravierende Herz- von solcher Eindringlichkeit gefunden, dass man sie immer erkrankung diagnostiziert. In dieser schweren Zeit fiel ihm wieder hören möchte. der Band ›Die chinesische Flöte‹ von Hans Bethge mit Nach- schöpfungen chinesischer Lyrik in die Hände. »Er dichtete MAXIMILIAN RAUSCHER die verschwebende, verwehende, unaussprechliche Schön- heit der Welt, den ewigen Schmerz und die ewige Trauer Konzertkalender S. 26 Ticciati / Ibragimova 39

So 20.12. / Mo 21.12. Robin Ticciati Von Leid und Auferstehung

Ein intensives, dramaturgisch hoch spannendes Programm hat Robin Ticciati für seine Konzerte im Dezember zusammengestellt. Bruckners Neun- te Symphonie, ursprünglich für beide Abende ge- plant, erfordert ein zu großes Orchester, als dass man sie in Zeiten der Pandemie auf die Bühne bringen könnte. Stattdessen rückt nun Musik zweier Zeitgenossen in den Mittelpunkt, die auf die Schreckenserfahrung des Zweiten Weltkriegs reagierten. Olivier Messiaen erlebte ihn als Sol- dat und verbrachte mehrere Monate in deutscher Gefan- genschaft, Karl Amadeus Hartmann zog sich in die innere Emigration zurück und komponierte dort vornehmlich für die Schublade.

Trauermusik Sein ›Concerto funebre‹ für Violine und Streichorchester schrieb Hartmann 1939 aus der Erschütterung, die der Überfall auf Polen und damit der Kriegsbeginn in ihm aus- lösten: »Der damaligen Aussichtslosigkeit für das Geistige sollte in den beiden Chorälen am Anfang und am Ende ein Ausdruck der Zuversicht entgegengestellt werden. Der ers- te Choral wird hauptsächlich von der Solostimme getragen. Das Orchester […] übernimmt nur die Kadenzierung. Der zweite Choral am Schluss hat den Charakter eines langsa- men Schreitens mit einer liedartigen Melodie. Die Klage im Adagio, unterbrochen von trauermarschartigen Episoden, steht im Zeichen der Melodie und des Klanges. Das Allegro 40 Ticciati / Ibragimova 41

– mit hämmernden Achtelnoten – entfesselt rhythmische und dynamische Kräfte.« Es ist ein Meisterwerk, das immer noch viel zu selten zu hören ist.

Auferstehung Als Auftragskomposition zum 20. Jahrestag des Kriegsen- des entstand Messiaens Orchesterwerk ›Et exspecto resur- rectionem mortuorum‹ (Und ich erwarte die Auferstehung der Toten). Gewidmet den Opfern beider Weltkriege, gedieh es aber nicht zum Requiem. »Der Tod?«, bekannte der tief- gläubige Katholik, »Es gibt ihn natürlich. Ich für meinen Teil betone die Auferstehung.« Auf dem klanglichen Fundament von Blas- und Schlaginstrumenten entwarf er ein symbol- reiches Tongebäude, verwurzelt im christlichen Glauben, offen für Einflüsse aus Indien und beseelt vom Gesang der Vögel, genauer: des Uirapuru; das Lied des Orpheus-Zaun- wie Zeitgenössisches mit der gleichen Kraft und Tiefe zu königs erklingt, einer südamerikanischen Legende nach, nur interpretieren weiß, hat sie auch bei ihrem DSO-Debüt im im Angesicht des nahenden Todes. Ein versöhnliches Ende Rahmen des Amtsantritts von Robin Ticciati 2017 bewiesen. findet das aufwühlende Programm dann aber doch – mit der Orchesterfassung des dritten Satzes aus Beethovens Casual Concert am 21.12. Streichquartett op. 132. Überschrieben mit ›Heiliger Dank- Messiaen und Beethoven stehen auch beim Casual Con- gesang eines Genesenen an die Gottheit, in der lydischen cert am 21. Dezember auf dem Spielzettel. Zum vierten Mal Tonart‹, zelebriert er, verhalten, aber optimistisch, das Er- schlüpft Robin Ticciati dabei in die Rolle des Musikvermitt- wachen der Lebensgeister nach durchstandener Krise. Und lers, stellt die Werke kenntnisreich und unterhaltsam vor, auch das vermag Musik aufs Trefflichste auszudrücken. gibt live mit dem Orchester Hörbeispiele und lässt schließ- lich das Programm im Zusammenhang ertklingen. Der ent- Kraft und Tiefe spannte Ausklang des Abends in der Casual Concert Lounge Den Solopart in Hartmanns Klagegesang übernimmt eine muss aufgrund der Corona-Regeln diesmal leider entfallen. der interessantesten Geigerinnen ihrer Generation. Geboren Doch abgesehen davon bleibt das DSO seinem Markenzei- in Russland und aufgewachsen in Großbritannien, studierte chen treu – Karten gibt es zum günstigen Einheitspreis, die Alina Ibragimova an der Gnessin-Musikakademie Moskau, Platzwahl ist frei und der Dresscode ist wie immer »casual«. der Yehudi Menuhin School und später am Royal College of Music in London. Neben zahlreichen Solo-Engagements CHRISTOPH EVERSMEYER sorgt sie mit ihrem Klavierpartner Cédric Tiberghien auch als Duo weltweit für Furore, mit ihrem Chiaroscuro Quar- tet musiziert sie zudem auf Darmsaiten. Dass sie Barockes Konzertkalender S. 28 Slatkin / Goode 43

Fr 27.11. Leonard Slatkin Unverwechselbare Tonsprache

D-Moll ist die Tonart der letzten Symphonien von Beet- hoven, Schumann und Bruckner, des Ersten Klavierkon- zerts von Brahms und des Dritten von Rachmaninoff. Diese Werke sind von leidenschaftlicher Aufgewühlt- heit, von Melancholie und Tragik oder einer Dramaturgie gekennzeichnet, die von der Dunkelheit ins Licht führt. Der Charakter der Tonart wurde wesentlich von Mozart geprägt: Im ›Don Giovanni‹ repräsentiert sie das Toten- reich des Komturs, mit dessen Thematik die Oper in der Ouvertüre eröffnet wird. Auch Mozarts unvollendet ge- bliebenes Requiem beginnt in dieser Tonart. 1785 schrieb der Komponist sein 20. Klavierkonzert, das ebenfalls in d-Moll steht. Die Komposition gilt nicht zuletzt deshalb als Wendepunkt in der Geschichte des Solokonzerts, weil die Rolle des Orchesters gegenüber der des Pianisten deutlich aufgewertet wird.

Wendepunkt Der erste Satz beginnt in geheimnisvoller Stimmung, mit gegen den Takt verschobenem Rhythmus und triolischen Einwürfen der tiefen Streicher und endet – gegen die Re- geln der Tradition – in Moll. Im von Wärme und Innigkeit geprägten Hauptthema des langsamen Satzes, einer der vollkommensten Schöpfungen Mozarts, treten Solist und Orchester abwechselnd auf, spielen einander aber nach den Phrasenenden die Einsätze liebevoll zu. Im dramati- schen Mittelteil wendet sich die Musik von Dur nach Moll. Der Wechsel zwischen den Tongeschlechtern bestimmt 44 Slatkin / Goode 45

auch das Finale, ten für großes Orchester bearbeitete Werk handelt von den das, wie es die Freuden und Nöten einer Gruppe von Pionieren im Penn- Dramaturgie der sylvania des 19. Jahrhunderts. Auch wenn die unregelmä- Wiener Klassik ßigen Rhythmen deutlich auf Strawinsky verweisen, ist in verlangt, in Dur ›Appalachian Spring‹ mit seinen sanft ausgeleuchteten Dis- schließt. sonanzen und der Verwendung einer Melodie der Glaubens- gemeinschaft der Shaker die unverwechselbare Tonsprache Am 27. Novem- eines genuin amerikanischen Komponisten unüberhörbar. ber ist das DSO unter der Lei- BENEDIKT VON BERNSTORFF tung von Leonard Richard Goode Slatkin und mit dem Pianisten Richard Goode zu erleben, der wegen seines feinsinnigen und idiomatischen Spiels seit Jahrzehnten als führender Interpret Impressum Deutsches Symphonie-Orchester Berlin Das Deutsche Symphonie- Mozarts gefeiert wird. Goode und Slatkin repräsentieren heu- Interim-Management Orchester Berlin ist ein te die hohe Professionalität und Vitalität der amerikanischen Moritz Brüggemeier, Benjamin Dries, Ensemble der Rundfunk Klassik-Welt, deren Entwicklung sich seit Beginn des 20. Stephan Popp (V. i. S. d. P.), Thomas Schmidt-Ott Orchester und Chöre Jahrhunderts nach und nach vollzog. Presse- und Öffentlichkeitsarbeit GmbH Berlin. Benjamin Dries, Daniel Knaack Redaktion Maximilian Rauscher, Benjamin Dries Geschäftsführer Amerikanisches Repertoire Redaktionelle Mitarbeit Daniel Knaack Anselm Rose Der mit Leonard Bernstein eng befreundete Aaron Copland Marketing Tim Bartholomäus Gesellschafter kann als erster »seriöser« Komponist gelten, der mit einer Art- und Fotodirektion Stan Hema Deutschlandradio, ureigenen amerikanischen Musiksprache ein großes Pub- Layout und Satz peick kommunikationsdesign Bundesrepublik Redaktionsschluss 16.10.2020, Deutschland, likum erreichte. Copland studierte drei Jahre lang bei der Änderungen vorbehalten Land Berlin, Rundfunk legendären Kompositionslehrerin Nadia Boulanger in Paris © Deutsches Symphonie-Orchester Berlin 2020 Berlin-Brandenburg und wurde durch sie mit den Strömungen der zeitgenös- sischen Musik bekannt gemacht. Frühe Werke wie seine Abbildungen / Fotos Jörg Brüggemann / Ostkreuz (S. 1 + 13 + 16), Christian Jungwirth (S. 4), Orgelsymphonie und seine Klaviervariationen schockierten Holger Hage / Deutsche Grammophon (S. 8), Peter Adamik (S. 11 + 24 + 49), nach seiner Rückkehr nach Amerika das Publikum. In den Andreanne Gauthier (S. 18), Marco Borggreve (S. 19 li), Marie Staggat / 1930er-Jahren vereinfachte Copland dann seinen Stil. Die Deutsche Grammophon (S. 19 re), Harald Hoffmann / Sony Entertainment von der großen Tänzerin und Choreografin Martha Graham (S. 20 li), Shirley Suarez (S. 20 re), Ville Paul Paasimaa (S. 21), Kaupo Kikkas in Auftrag gegebene und 1944 in Washington uraufgeführte (S. 22 li), Nikolaj Lund (S. 22 re), Dorothee Mahnkopf (Grafik S. 25), Christian Alvarez (S. 33), Oliver Helbig (S. 34), Julia Wesely (S. 37), Giorgia Bertazzi Ballettmusik ›Appalachian Spring‹ gehört zu den Paradestü- (S. 38), Kai Bienert (S. 41), Lewel Li (S. 43), Steve Riskind (S. 44), Wikimedia cken des amerikanischen Repertoires. Das ursprünglich für Commons CC BY 2.5 – Quelle: https://doi.org/10.1371/journal.pcbi.1000161 / Kammerensemble geschriebene und später vom Komponis- modifiziert (S. 47), Alpha Classics (S. 50/51) 46 Berlin braucht Musik! 47

1600 Hz Essay Berlin braucht Musik! Basis 800 Hz

Basilar- 400 Hz Membran 200 Hz

Was beim Musik- 100 Hz hören im Kopf 50 Hz passiert 25 Hz

Hörschnecke Musikhören ist immer etwas Besonderes. Musik kann star- (abgewickelt) 0 mm ke Emotionen erzeugen, die unser Nervensystem nachhaltig Spitze beeinflussen. Musikhören führt zur Anlage von Erinnerungs- Trommelfell Gehör- Länge spuren, bereichert unsere Innenwelten, und ermöglicht den knöchelchen Zugang zu Gefühlsbereichen, die nicht in Worten ausge- 30 mm drückt werden können. Wir wollen im Folgenden kurz erläu- tern, was beim Hören von Musik in unserem Kopf, in unseren Wahrnehmungssystemen passiert. werden leicht gebogen. Dies erzeugt in den Sinneszellen einen elektrischen Impuls, ein »Nervenaktionspotential«. Hörsinn und Lernfähigkeit Dabei wird der Schall bereits nach enthaltenen Frequenzen Die Lernfähigkeit des Gehörs, die der Sprachgebrauch mit sortiert: an der Basis der Hörschnecke vibrieren die Basil- Verben wie »einhören«, »überhören«, »heraushören« oder armembran und die auf ihr sitzenden Haarzellen bei hohen »weghören« widerspiegelt, beruht auf den komplizierten Tönen, an der Spitze bei tiefen. Die so kodierte Schallinfor- neuronalen Analysevorgängen, die dem Höreindruck zu- mation gelangt über den Hörnerv und über mindestens fünf grunde liegen. Beginnen wir mit der Physiologie des Hörens: Umschaltstationen der aufsteigenden »Hörbahn« zu den Der Schall trifft auf die Ohrmuscheln, wird gesammelt und Schläfenlappen der Großhirnrinde. an das Mittelohr weitergeleitet. Dort erfolgt über die Mit- telohrknöchelchen die Verstärkung und Weiterleitung der Die Umschaltstationen bestehen aus Nervenzellgruppen, Schallinformation an das mit Flüssigkeit gefüllte Innenohr. in denen die Schallinformation analysiert, gefiltert und Dort befindet sich in der Hörschnecke das eigentliche Hör- mit anderen Sinnesinformationen, zum Beispiel aus dem sinnesorgan. Es besteht aus der schwingenden Basilarmem- Auge, angereichert wird. Das führt zu interessanten Ef- bran, auf der 3500 innere Haarzellen und circa 12000 äuße- fekten: Sehen wir die Solistin im Orchesterkonzert, dann re Haarzellen sitzen, und aus der Deckmembran, die mit den hören wir sie nämlich auch deutlicher. Akustische Objekte, äußeren Haarzellen in Kontakt steht. Trifft nun Schall auf die wir nicht beachten, werden in diesen Schaltstationen die Hörschnecke, dann wird die Basilarmembran in Schwin- unterdrückt und gelangen gar nicht zur Großhirnrinde und gung versetzt und die auf ihr sitzenden inneren Haarzellen zum Bewusstsein. Aber uns interessierende Klänge wer- 48 Berlin braucht Musik! 49 den an die Großhirnrinde weitergegeben. Dabei gibt es flüchtig, typischer- noch einen besonderen Mechanismus: Unser Gehirn kann weise bittersüß und nämlich über die absteigende Hörbahn die äußeren Haar- manchmal mit dem zellen im Innenohr so programmieren, dass sie Klänge ge- Gefühl des Verlus- zielt verstärken. Wenn ich mir also vornehme, im Kopfsatz tes, der Trauer und von Beethovens Siebter Symphonie die punktierten Achtel der Vergänglichkeit von Flöte und Oboe genau herauszuhören, dann wird mein verbunden sind. Sinnesorgan so angesteuert, dass die Klangfarbenspektren Manchmal entste- für Oboe und Flöte selektiv verstärkt werden. Unser Gehör hen sogar so star- funktioniert also nicht wie ein Mikrofon, sondern eher wie ke Gefühle, dass ein intelligenter Computer, der blitzschnell umprogrammiert wir eine Gänsehaut werden kann und zusätzlich noch starke Emotionen erzeugt. empfinden, uns Trä- nen in die Augen kommen und wir »beseelt« von der Musik Das Ohr ist das Tor zur Seele sind. Dabei schütten wir das Belohnungshormon Dopamin Dieses indianische Sprichwort spielt auf die emotionale und das Glückshormon Endorphin in den Emotionszentren Kraft der Klänge, der Stimme und der Musik an. Unbewusst des Gehirns aus. Derartige starke Emotionen speisen sich beurteilen wir jedes akustische Ereignis zunächst auf Ge- aus unserer individuellen Hörbiografie und aus unserer Emp- fährlichkeit oder Ungefährlichkeit. Ein schrilles Tremolo der fänglichkeit zum Zeitpunkt des Hörens. Sie können nicht Geigen wird dabei eher akute Gefahr signalisieren und Ab- mit Worten hinreichend präzise beschrieben werden und wehr erzeugen, wie wir das aus dem Hitchcock-Film ›Psy- gehören zu dem Kern unseres Bedürfnisses nach Musik, von cho‹ kennen. Leiser dunkler Streicherklang, etwa der Beginn dem Victor Hugo so treffend gesagt haben soll: »Die Musik des Adagio für Streicher von Samuel Barber wirkt dagegen drückt das aus, was mit Worten nicht gesagt werden kann beruhigend. Entsprechend werden beim schrillen Tremolo und worüber zu schweigen unmöglich ist.« Stresshormone ausgeschüttet, der Blutdruck steigt an und der Herzschlag wird schneller, bei Barbers Adagio wird der ECKART ALTENMÜLLER Puls niedriger und der Blutdruck sinken. Diese Vorgänge würden sogar im Schlaf funktionieren und benötigen nicht Der Autor ist Professor und Leiter des Instituts für einmal die Aktivität der Großhirnrinde. Musikphysiologie und Musikermedizin der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Er forscht u. a. auf dem Gebiet der Bewegungssteuerung von Instrumentalisten Wenn wir Musik jedoch bewusst hören, entstehen zahlrei- und zur Großhirntätigkeit beim musikalischen Lernen, zu che assoziative Verknüpfungen. Der Streicherklang lässt vor Bewegungsstörungen bei Musikern und hat eine überregionale unserem inneren Auge das Bild der Streichinstrumente er- Spezialambulanz für Musiker-Erkrankungen in Hannover stehen, die Gedächtniszentren werden filmartig Erlebnisse aufgebaut. Eckart Altenmüller hat neben seinem Medizin- beim ersten Hören des Musikstückes in Erinnerung rufen, auch ein Flötenstudium absolviert. und die Emotionszentren komplexe ästhetische Emotionen erzeugen. Es handelt sich hier um Mischemotionen, die 50 Neue CD Auszeichnung 51

Beethovens 3. Klavierkonzert und Tripel-Konzert mit Martin Helmchen und Beethoven Pünktlich zum Abschluss der Geburtstagsfeierlichkeiten für Beethoven wird nun die dritte CD eines Zyklus veröffent- licht, der den Klavierkonzerten des Jubilars gewidmet ist und gemeinsam mit dem Pianisten Martin Helmchen und 250 Award dem Dirigenten Andrew Manze entstand. Zwei von der Kritik hochgelobte CDs mit den Konzerten Nr. 2 und 5 → S. 51 so- Das DSO wurde wie 1 und 4, die teils im Studio, teils live bei Konzerten in der soeben vom briti- Philharmonie aufgenommen wurden, sind bereits bei Alpha schen Musikmaga- Classics erschienen. Am 2. Februar 2020, nur wenige Wo- zin ›Gramophone‹ chen vor dem Corona-bedingten Saisonabbruch, fand der für seine Einspie- konzertante Zyklus lung von Beetho- in der Philharmo- vens Klavierkon- nie mit dem Drit- zerten Nr. 2 und ten Klavierkonzert 5, die im Oktober seinen Abschluss. 2019 gemeinsam Der Mitschnitt er- mit Martin Helm- scheint am 13. No- chen und Andrew vember auf einer Manze beim Label Alpha Classics in Koproduktion mit CD, die zudem eine rbbKultur entstand, mit dem ›Beethoven 250 Award‹ Studioeinspielung ausgezeichnet. Die Verleihung dieses Sonderpreises an- des Tripelkonzerts lässlich des Jubiläums zu Ludwig van Beethovens 250. enthält. Mit der Geburtstag fand am 6. Oktober im Rahmen der ›Gramo- Geigerin Antje phone Classical Music Awards‹ statt, die zu den weltweit Weithaas und der einflussreichsten Auszeichnungen für klassische Musik Cellistin Marie-Elisabeth Hecker hat sich Helmchen dazu auf Tonträgern gehören. zwei hochkarätige Kammermusikpartnerinnen eingela- den. Eine Box, die alle drei CDs umfasst, wird im kom- menden Jahr erscheinen.

Erscheint am 13. November bei Alpha Classics in Koproduktion mit rbbKultur. Mehr unter → dso-berlin.de/neuerscheinungen Tickets Besucherservice des DSO Charlottenstraße 56, 2. OG 10117 Berlin, am Gendarmenmarkt

Mo bis Fr 9–18 Uhr

T 030 20 29 87 11 → [email protected]

→ dso-berlin.de

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