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KIRCHE „Gefangener seines Körpers“ Der Gesundheitszustand des Papstes heizt die Spekulationen über einen möglichen Rücktritt Johannes Paul II. und seine Nachfolge an. Beste Chancen räumen Vatikan-Auguren einem Italiener ein – nicht zu liberal, nicht zu reaktionär und vor allem nicht zu jung.

as helfen Dementis gegen den Augenschein? „Ich bin nicht alt“, Wversichert Johannes Paul II. Be- suchern nur halb im Scherz. Doch via TV sieht es jeder, lebensgroß und in Zeitlupe: „Il Papa“, der Pontifex maximus von über einer Milliarde Katho- liken, hat Schwierigkeiten beim Gehen und beim Reden, oft zittert eine Hand und manchmal auch der ganze Körper. Parkinson-Krankheit, so die inoffizielle Diagnose. Zudem leidet der Oberhirte an den Folgen des Attentats von 1981, bei dem er durch einen Bauchschuss schwer ver- letzt wurde. Nicht zuletzt macht ihm ein sehr schmerzhaftes Hüftleiden zu schaffen. Eine Hüftoperation ist missglückt, Johan- nes Paul müsste erneut unters Messer, wei- gert sich aber, mit dem schlichten Argu- ment, Christus habe noch viel mehr aus- halten müssen. An diesem Donnerstag wird der erste Slawe auf dem römischem Bischofsthron 80. Keiner im Vatikan wagt eine Prognose, wie lange Karol Wojtyla die Strapazen sei- nes Amts noch aushält. Doch der Greis an der Kirchenspitze ist mindestens so zäh wie weiland Konrad Adenauer. Ein Papst könne nicht in Pen- sion gehen, nicht einfach zurücktreten, als sei er Chef eines multinationalen Kon- zerns, verkündet er. „Der Papst fragt nicht, ob ihm kalt ist, ob er müde ist“, beteuert sein Sprecher Joaquín Navarro-Valls, „er denkt nicht an seine Gesundheit.“ Andere umso mehr. Anfang Januar hat- te der Vorsitzende der Deutschen Bischofs- konferenz, der Mainzer Diözesan-Vorste- her Karl Lehmann, die Debatte über einen möglichen Amtsverzicht des schwer kran-

AP ken Papstes eröffnet. Andere legten nach. Papst Johannes Paul II.*: „Der Papst fragt nicht, ob er müde ist“ Ende April sogar der enge Papst-Vertraute Jean-Marie Lustiger, Erzbischof von Paris. „Einen fortschreitenden körperlichen Verfall“ prognostizierte der Kardinal in ei- nem Zeitungsinterview seinem polnischen Freund in Rom. Obwohl geistig auf der Höhe, werde der Papst „zunehmend zum Gefangenen seines Körpers“. Wenn er wollte, könnte Johannes Paul jederzeit von seinem Amt zurücktreten. Dank seiner unumschränkten Autorität müsste er niemanden um Erlaubnis fra- AP KNA * Bei einem Gottesdienst am 9. Januar in der Sixtinischen Nachfolge-Kandidaten Martini, Tettamanzi: Favoriten im „Totopapa“ Kapelle.

60 der spiegel 20/2000 Deutschland gen. Regeln für einen Rücktritt des Kir- nächsten Pontifex wählen werden, stellen gehört, hätte vermutlich als einziger Deut- chenoberhaupts gibt es nicht. Im Codex sie die mit Abstand größte Truppe. Einen scher eine Chance. Doch der 73-Jährige, so iuris canonici, dem Gesetzbuch der römi- der Ihren wünscht vor allem die noch im- verbreiten Ratzinger-Kenner, mache in sei- schen Kirche, ist dazu lediglich vermerkt: mer vom italienischen Klerus dominierte nen Kreisen kein Hehl daraus, dass er für „Falls der Papst auf sein Amt verzichten Vatikan-Verwaltung, die Kurie. das Amt aus Altersgründen nicht zur Ver- sollte, ist zur Gültigkeit verlangt, dass der Die nächstgrößten nationalen Kardi- fügung stehe, sich vielmehr nach dem Ru- Verzicht frei geschieht und hinreichend nal-Teams kommen aus den USA und hestand sehne. kundgemacht, nicht jedoch, dass er von ir- Brasilien. Die 27 Millionen deutschen Wenig Chancen im Papst-Toto hat ein gendwem angenommen wird.“ Katholiken kommen auf fünf Kardinäle – Drittwelt-Kandidat. Der Präsident des Ein anderer Fall ist im Kirchenrecht die Bischöfe Joachim Meisner (Köln), Päpstlichen Rates für den interreligiösen überhaupt nicht vorgesehen: Selbst ein sei- Friedrich Wetter (München), Georg Ster- Dialog, der Nigerianer , ner Sinne nicht mehr mächti- 67, wird zwar seit Jahren ge- ger Papst bliebe im Amt, da nannt. Er wäre ein idealer er von niemandem abgesetzt Kandidat für ein immer wich- werden kann. Die vatikani- tiger werdendes Zukunfts- sche Maschinerie liefe weiter, thema der katholischen Kir- wichtige Entscheidungen, wie che: die Auseinandersetzung die Ernennung von Bischöfen, mit dem Islam. Doch für ei- blieben einfach liegen. nen Schwarzafrikaner, glau- Früher löste die Kirche der- ben Insider, ist die nach wie lei knifflige Fragen pragma- vor von europäischem Den- tisch. „In der guten alten ken dominierte Papst-Kirche Zeit“, schreibt der amerikani- noch nicht reif. sche Jesuit und langjährige Va- Bessere Aussichten werden tikan-Mitarbeiter Thomas J. von den Vatikan-Auguren Reese in seinem Buch „Im In- gleich drei Südamerikanern neren des Vatikan“*, „hätte ihn eingeräumt, obwohl ganz La- sein Stab in seine Gemächer teinamerika nur 19 Wahlmän- eingesperrt und die Kirche bis ner im Konklave stellt: Alle zu seinem Tod weitergeführt. drei könnten auf die Unter-

In der schlechten alten Zeit KNA stützung konservativer Kir- hätte ihn einfach jemand ver- Kardinal Ratzinger: Entscheidende Rolle als Papst-Macher? chenmänner aus Italien und giftet. Heute wäre angesichts Spanien zählen. der Wachsamkeit der Medien wohl beides zinsky (Berlin) sowie Joseph Ratzinger, Lucas Moreira Neves, 74, Dominikaner nur schwer zu bewerkstelligen.“ oberster Glaubenswächter der Kirche, und ein Mann des rechten katholischen Reese ist überzeugt, dass die „Möglich- und der emeritierte Vatikan-Funktionär Geheimordens Opus Dei, ist im Appa- keiten der modernen Medizin, den Körper Augustin Mayer. Der 88-jährige Mayer rat beliebt, wegen charakterlicher Ecken am Leben zu erhalten, während der Geist ist bei der Papst-Kür nicht mehr jedoch nicht bei vielen Bischöfen. Seit schwindet“, die katholische Kirche früher wahlberechtigt. zwei Jahren leitet der Brasilianer die oder später „mit einer konstitutionellen Seit 15 Jahren hat der Papst keinen neu- Bischofskongregation in Rom. Sein weite- Krise konfrontieren“ wird. en Kardinal aus Deutschland benannt. Der res Handicap: Er ist angeblich zucker- Nicht nur die innerkirchliche Öffent- Mainzer Lehmann soll zweimal auf der krank. lichkeit interessiert eine andere Frage indes Vorschlagsliste platziert gewesen sein, doch aus dem Erz- derzeit weit mehr: Welcher katholische die Kurie oder der Papst haben seinen Na- bistum Mexiko-Stadt, der mit 20 Millionen Amtsträger hat die besten Aussichten, Ka- men am Ende gestrichen. Und nach sei- Gläubigen größten Diözese der Welt, gilt rol Wojtylas Nachfolger zu werden? nem freimütigen Diskussionsbeitrag zum daheim beim Kirchenvolk als außerordent- Die Namen der Kandidaten sind kaum Pensionsanspruch eines Papstes sind seine lich populär. Hinter ihm scharen sich auch noch zu überblicken. Die Chancen der Chancen gewiss nicht gestiegen, beim die einflussreichen „Legionäre Christi“, Favoriten hängen von den kirchenpoliti- nächsten Mal dabei zu sein. eine kirchliche Hilfs- und Bildungsorgani- schen Gruppen ab, die hinter ihnen ste- Der streng orthodoxe Ratzinger, der zu sation. Doch Rivera Carrera ist – in den hen, von ihrem Image als „Konservativer“ den engsten Beratern des jetzigen Papstes Kategorien der Kirchenhierarchie – für den oder „Reformer“, als „Seelsorger“ oder Chefsessel in Rom noch sehr jung: 57. „Verwalter“ – und von ihrem Alter. Das wäre an sich kein Hindernis. Auch Soll dem Polen wieder ein Italiener Kollegium der alten Männer Wojtyla war erst 58, als er gewählt wurde. nachfolgen wie in den 455 Jahren vor Woj- Altersstruktur der Kardinäle Doch unter dessen nunmehr 21-jähriger tyla? Ist nach dem kranken 80-Jährigen Amtszeit stöhnt vor allem die römische wieder ein gesunder „Jüngerer“, im Vati- jünger als Kurie. Zumindest jene Kardinäle, die aus kan nennt man so die 60-Jährigen, oppor- 70 Jahre 32 der päpstlichen Verwaltung kommen, plä- tun? Braucht die Kirche nach dem reise- dieren daher eher für einen älteren Über- freudigen Prediger ein Organisationstalent gangspapst als Nachfolger – in der Hoff- 70 bis 75 für die dringend notwendige Reform der Jahre 40 nung, der sei nicht so anstrengend. verstaubten Kurienbürokratie? Von den Lebensjahren wäre der 70-jähri- Klar vorn im „Totopapa“, wie die italie- ge Darío Castrillón Hoyos gerade richtig. nischen Zeitungen das zurzeit sehr belieb- 76 bis 79 29 Der Kolumbianer aus der Drogenstadt Me- te Ratespiel nennen: die Italiener. Mit 17 je- Jahre dellin hat überall Freunde und Gefolgsleu- ner derzeit 101 Kardinäle unter 80, die den te. Er ist Präfekt der Vatikan-Kongregation 80 Jahre für den Klerus und archaischer Doktrinär: und älter 48 * Thomas J. Reese: „Im Inneren des Vatikan“. S. Fischer, Rousseau, Kant, Marx und Freud ver- Frankfurt am Main; 464 Seiten; 49,80 Mark. dammt er gleichermaßen. Vorwürfe einer

der spiegel 20/2000 63 Deutschland französischen Zeitung, er habe Geld für wird von italienischen Blättern schon als die Drogenbarone gewaschen, wurden nie „Papst im Wartestand“ hochgejubelt, hat stichhaltig belegt und von ihm heftig demen- aber einen „Makel“, der ihn für viele kon- tiert – aber das Gerücht kursiert seither servative Kardinäle suspekt macht: Er gilt und könnte die Schwachstelle des starken als liberaler Flügelmann in den Reihen Kandidaten der Kirchenrechten sein. italienischer Bischöfe. Ob er über die Rol- Auf der anderen Seite des katholischen le der Frau in Kirche und Gesellschaft oder Spektrums stehen die eher liberalen Papa- die innerkirchliche Demokratie redet, Mar- bili aus dem nicht italienischen Europa, die tini präsentiert sich als moderner Gegenpol Franzosen Pierre Eyt, 65, Erzbischof von zum dogmatischen Amtsinhaber. Bordeaux, und Jean-Marie Lustiger, 73, Mit 40 Stimmen könne Martini schon im der Brüsseler Oberhirte Godfried Dan- ersten Wahlgang rechnen, will ein römi- neels, 66, und der Wiener Dominikaner scher Vatikan-Kenner ausgezählt haben. Christoph Schönborn, 55, gegen den eben- Doch solche Rechnungen führen nicht falls schon seine Jugend spricht. Auch weit: Im Juni will Johannes Paul II. eine wenn die vergleichsweise progressiven Eu- Reihe neuer Kardinäle ernennen. ropäer mit Stimmen aus Nordamerika Das Kardinalskollegium hat derzeit 149 rechnen dürfen – eine Mehrheit für einen Mitglieder. 48 von ihnen dürfen bei der Mann vom transalpinen Reformflügel wäre nächsten Papst-Wahl allerdings nicht mehr schon eine faustdicke Überraschung. mitstimmen, weil sie 80 Jahre und älter Wahrscheinlich ist, sofern der Heilige sind. Weitere drei überschreiten in den Geist nicht wider Erwarten anders weht, nächsten Monaten diese Grenze. So dass sich die alten Herren beim Konklave schrumpft die Gruppe der Papst-Wähler auf unter 100 – maximal dürfen es 120 sein. Diese Lücke möchte Wojtyla nun mit ihm genehmen Kirchenmännern aufstocken. Ob Johannes Paul II. damit eine Vor- entscheidung über seine Nachfolge her- beiführt, ist indes höchst zweifelhaft. Nicht einmal der Papst selbst, so ein langjähriger Vatikan-Kenner, könne heute „irgend etwas halbwegs Zuverlässiges dar- über sagen“, auf wen sich die Purpurträger am Ende einigen, wenn sie zur Klausur in der Sixtinischen Kapelle zusammenkom- men. Denn Gruppenbildung vor dem Kon- klave ist im Kardinalskollegium strikt ver-

KNA boten. Und oft genug haben sich die Nachfolge-Kandidat Arinze Kardinäle im Konklave überraschend auf Zu früh für einen Schwarzafrikaner einen Kandidaten geeinigt, den niemand auf der Rechnung hatte – wie 1978 den in der Sixtinischen Kapelle, wo seit Jahr- Polen Wojtyla. hunderten traditionell der Nachfolger Petri Eine entscheidende Rolle als Papst-Ma- gewählt wird, wieder auf einen Italiener cher trauen Insider dem Präfekten der verständigen – nicht zu liberal, nicht zu re- Glaubenskongregation, Ratzinger, zu: Ihn aktionär und vor allem nicht zu jung. würden viele schwankende Kardinäle um Da überbieten sich gleich zwei in enger Rat fragen, wen sie wählen sollen. römischer Nachbarschaft mit publikums- Gemütlicher als ihre Vorgänger werden wirksamen Auftritten: Der pragmatische es die Wahlmänner auf jeden Fall haben – Diplomat , 72, der „Außen- das wenigstens steht fest. Sie müssen nicht minister“ des Papstes, agiert als eine Art mehr in den kahlen, alten Zellen über- Vize-Missionar auf seinen zahlreichen nachten, die von den Fluren gleich neben Weltreisen, während , 69, Ge- der weltberühmten Michelangelo-Kapelle neralvikar von Rom und Chef der italieni- abgehen. Johannes Paul II. hat ein altes schen Bischofskonferenz, sich bei den Pilgerheim direkt neben dem Petersdom, Papst-Auftritten zum Heiligen Jahr 2000 die Casa di Santa Marta, komfortabel um- konsequent neben den Polen vor die Ka- bauen lassen. mera schiebt. Und er hat die Regeln aus dem Jahre Konservativ wie Ruini, aber beliebter 1179 geändert: Wenn, auch nach 33 Wahl- beim Volk ist der Erzbischof von Genua, gängen, die bislang nötige Zweidrittel- Dionigi Tettamanzi, 66. Beste Verbindun- mehrheit nicht zusammenkommt, kann gen zur katholischen Finanzwelt, Vertrau- künftig schon die absolute Mehrheit ensmann des Opus Dei, einer der gegen genügen, um den neuen Pontifex maximus den „exzessiven Pessimismus“ in der Welt zu bestimmen. Beim Konklave dürfte es wieder „Hoffnung verkünden“ will – Tetta- daher nicht allzu lange dauern, bis wei- manzi gilt unter den versierten Papst-Wet- ßer Rauch aus dem Schornstein über tern als einer der Topkandidaten. der Sixtinischen Kapelle der wartenden Zu denen zählt auch Carlo Maria Mar- Menge auf dem Petersplatz verkündet: tini, 73, Erzbischof von Mailand. Der Jesuit Habemus papam. Hans-Jürgen Schlamp

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