Hans Peter Willi, Josef Eberli

Differenzierter Hochwasserschutz an der Engelberger Aa

Seit dem Unwetter von 1987 hat in der Schweiz im Hochwasserschutz ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Die Einsicht setzte sich durch, dass mit technischen Massnahmen allein die Naturgefahren nicht in den Griff zu bekommen sind. Ein gutes Beispiel für einen differen- zierten Hochwasserschutz ist die Engelberger Aa im Kanton .

Das Hochwasser vom August 2005 ist das finanziell Schutzbauten aber auch in Zukunft eine wichtige kostspieligste Schadenereignis der letzten 100 Jahre Rolle spielen. Um eine angemessene Sicherheit zu in der Schweiz. Die Schäden an privaten Bauten und gewährleisten, wird deshalb auch künftig baulich in Anlagen betrugen 2 Mrd.Fr., diejenigen im öffentli- die Landschaft und in die Gewässer eingegriffen wer- chen Bereich 500 Mio.Fr. Betrachtet man die Investi- den müssen. Bei den erforderlichen Eingriffen sind tionen in den Hochwasserschutz, so stellt man fest, die vorhandenen Umweltdefizite jedoch so weit als dass seit den Überschwemmungen von 1987 die ein- möglich zu beheben und negative Auswirkungen gesetzten Mittel verdoppelt wurden. Die Schäden möglichst gering zu halten. gingen jedoch nicht zurück. Im Gegenteil, sie haben Ein gutes Beispiel für die neue Philosophie des diffe- zugenommen. Gemäss Schadenübersicht, die seit renzierten, ganzheitlichen Hochwasserschutzes ist die 1972 geführt wird, haben sich die Schäden seit 1987 Engelberger Aa. Ausgelöst durch die Überschwem- vervierfacht. Dies verdeutlicht, dass der Hochwasser- mungen 1987 im benachbarten Uri wurde im Kanton schutz vor grossen Herausforderungen steht. Nidwalden eine Sicherheitsüberprüfung für die Engel- berger Aa vorgenommen. Die Überprüfung deckte Paradigmenwechsel im Hochwasserschutz Handlungsbedarf auf, und entsprechende Massnahmen Das Jahr 1987 gilt im Schweizer Hochwasserschutz als wurden eingeleitet. Das Hochwasser vom August 2005 Wendepunkt. Damals war nicht nur Uri betroffen, bestätigte die Zweckmässigkeit der bisher realisierten sondern auch die Kantone Wallis, Tessin, Graubün- Massnahmen. Dank Investitionen von 26 Mio.Fr. konn- den und Bern. Die Katastrophe zeigte die Verwund- ten Schäden von über 100 Mio.Fr. verhindert werden. barkeit von Bauwerken deutlich auf und führte auch Statistisch gesehen handelte es sich um ein über 200- die Grenzen des damaligen Hochwasserschutzes vor jährliches Ereignis. Gemäss Analysen übertraf der Spit- Augen. Seither hat sich die Sichtweise im Umgang zenabfluss mit 230 m3/s denjenigen der letzten grossen mit Naturgefahren massgeblich verändert. Die Pla- Überschwemmung von 1910 um 30 m3/s. nat, die ausserparlamentarische Kommission des Bundes für Naturgefahren, hat mit ihrer breit abge- Integrales Risikomanagement stützten Strategie im Naturgefahrenbereich gezeigt, Das differenzierte Hochwasserschutzkonzept an der dass mit rein technischen Massnahmen allein die Engelberger Aa beachtet die Tatsache, dass es keine Naturgefahren nicht in den Griff zu bekommen sind. absolute Sicherheit gibt. Neu wird der so genannte Stattdessen braucht es eine umfassende Risikokultur Überlastfall – wenn mehr Wasser oder Geschiebe auf- sowie ein ganzheitliches Risikomanagement. In einem treten, als abgeleitet werden können – in die Planung dicht besiedelten Land wie der Schweiz werden mit einbezogen. Überflutungen werden also nicht um

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1 Die Engelberger Aa beim Abklingen des Hochwassers im Jahr 2005. Das über- schüssige Wasser verlässt das Flussbett an den vorgesehenen Entlastungsstellen und strömt über den Entlastungskorridor zwischen Ennetbürgen und Buochs in den Vierwaldstättersee (Bild: Schweizer Luftwaffe)

jeden Preis verhindert. Vielmehr soll das Wasser kon- Ennetbürgen wurde der Entlastungskorridor als Son- trolliert an Orten über das Ufer treten, wo der Scha- dernutzungszone ausgeschieden. den möglichst gering ist. Ziel ist es, Dammbrüche und unkontrollierte Überflutungen zu verhindern. Hochwasserschutz Das überschüssige Wasser wird in so genannte Entlas- Die Planung und Projektierung des Hochwasserschutz- tungskorridore geleitet. Grundlage und damit zent- projektes «Engelberger Aa» von Grafenort an der Gren- rales Element in der Hochwasserprävention ist die ze zu bis nach Buochs am Vierwaldstätter- Risikoanalyse, die alle möglichen Prozesse einbezie- see begann 1989 und erfolgt in sechs Etappen. Im hen und verschiedenste Szenarien abbilden muss. Für Frühjahr 2007 werden die Bauarbeiten der ersten vier die Nutzungskategorien werden unterschiedliche Etappen in der stärker besiedelten unteren Talebene Schutzgrade definiert. So werden beispielsweise land- von Nidwalden fertig gestellt sein. Bis ins Jahr 2015 wirtschaftlich genutzte Flächen bis zu einem 20-jährli- soll die gesamte Sanierung abgeschlossen sein. Die chen Hochwasser und Siedlungen bis zu einem Hauptelemente des Projektes sind Hochwasserentla- 100-jährlichen Hochwasser geschützt. Die Erkennt- stungen, Gerinneverbreiterungen, Dammverstärkun- nisse der Risikoanalyse werden in der Raumplanung, gen, Uferschutzsanierungen, Anpassungen von dem Hochwasserschutz und der Notfallplanung Brücken, Schutzmassnahmen im Überflutungsgebiet umgesetzt. sowie die Verbesserung des Geschiebehaushaltes in Wol- fenschiessen. Gebäudebesitzer wurden zudem darauf Raumplanung hingewiesen, mit welchen Objektschutzmassnahmen Ein Resultat der Risikoanalyse sind Gefahrenkarten, sie sich gegen die Restgefährdung wappnen können. die in Form von Gefahrenzonen in die Zonenpläne Zentrales Element sind die vier Hochwasserentlastun- einfliessen. In Gebieten mit erheblicher Gefährdung gen. Die erste befindet sich in Dallenwil, die zweite bei besteht in der Regel ein Bauverbot. In Gebieten mit Ennerberg, die dritte und die vierte beim Flugplatz mittlerer Gefährdung werden zur Erreichung der Buochs. Im Überlastfall wird das Zuviel an Wasser kon- Schutzziele Auflagen erlassen; in diesen Gebieten trolliert seitlich über den Damm in den Entlas- werden keine Einzonungen mehr vorgenommen. Die tungskorridor geleitet. So wird gewährleistet, dass an Auflagen gelten bei allen Neu-, Ersatz- und wesent- jeder Entlastungsstelle maximal so viel Wasser im Ge- lichen Umbauten. Der für den Hochwasserfall vorge- rinne verbleibt, wie der Kapazität des nachfolgenden sehene Entlastungskorridor ist in den kantonalen Abschnittes entspricht. Zwischen Dallenwil und der Richtplan aufgenommen worden. Im Rahmen der Über- Entlastung Ennerberg beträgt die maximale Abfluss- arbeitung der Zonenpläne der Gemeinden Buochs und menge nach der Erhöhung der Dämme 300m3/s. Nach

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2 Hochwasserentlastung mit Streichwehrkante vor Buochs (Bilder: Tiefbauamt Nidwalden)

3 Hochwasserentlastung beim Ennerberg am 22. August 2005. Bei noch mehr Wasser wird dieses links über die Streichwehrkante abgeleitet

der vierten Hochwasserentlastung verbleiben noch Notfallplanung maximal 150m3/s im Flussbett, die in Buochs schad- Auch beim differenzierten Hochwasserschutz ist eine los in den See geleitet werden können. Notfallplanung unabdingbar. Durch den Einbezug des Im Bereich der Entlastungen verengt sich der Quer- Überlastfalles in die Überlegungen ist klar ersichtlich, schnitt. Damit wird einerseits durch die höhere Fliess- wann wo wie viel Wasser überflutet. In der Notfallpla- geschwindigkeit der Weitertransport des Geschiebes nung «Engelberger Aa» sind die kantonalen Notfallorga- gewährleistet, andererseits können so die Entlastungs- nisationen auf die kommunalen Notfallorganisationen bauwerke kurz gehalten werden. Die linke Dammkrone abgestimmt. Elemente der Notfallplanung sind unter ist jeweils als Streichwehrkante ausgebildet. Da nur ein anderem eine einheitliche Information und Alarmierung geringer Teil der Wassermenge seitlich abfliesst, hält der Bevölkerung, gemeinsame Organisation der Damm- sich die Zerstörungskraft des Wassers in Grenzen. Das wachen, der Verkehrssperrungen sowie der koordinierte Hochwasser 2005 hat dies deutlich aufgezeigt. Während Einsatz von Baumaschinen und Fachexperten für kriti- die Engelberger Aa im noch nicht verbauten Abschnitt sche Situationen. Die Gemeindeführungsstäbe und die neue Flussläufe mit tiefen Erosionen bildete, blieb die Feuerwehren erhalten so die Möglichkeit, ihre Mittel Grasnarbe im Entlastungskorridor weitgehend unver- und Kräfte je nach Situation dort einzusetzen, wo es sehrt. Sobald der Hochwasserpegel auf die Abflusska- nötig und sinnvoll ist. Es ist definiert, bei welchem Pegel pazität des Gerinnes zurückgeht, fliesst bei den Entlas- wo punktuelle Evakuationen und temporäre Massnah- tungen die gesamte Wassermenge wieder im Flussbett men vorgenommen werden müssen. Durch das schnelle ab. Im Vergleich zu einem Dammbruch wird so die und gezielte Eingreifen der Notorganisationen kann das Zeitdauer der Überflutung massgeblich reduziert. Der Restrisiko nochmals gesenkt werden. Schaden in der Schwemmebene fällt nicht nur wegen der reduzierten Überflutungszeit und -höhe geringer Zukünftige Herausforderungen aus, sondern auch weil die Tiefenerosion weniger aus- In Nidwalden ist es gelungen, Entlastungskorridore für geprägt ist und Geschiebeablagerungen ausbleiben. den Hochwasserfall zur Verfügung zu stellen. Der Die Hochwasserentlastungen haben sich beim Hoch- Raumbedarf stellt die Nagelprobe für den zukünftigen wasser 2005 bewährt. Im Entlastungskorridor entstand Hochwasserschutz dar, und die grosse Frage ist, ob auch ein Schaden von rund 1.6Mio. Fr. Ohne Entlastungen an anderen Orten solche Entlastungskorridore ausge- wären allein in Buochs und Ennetbürgen Schäden schieden werden können. Naturgefahrenprozesse be- durch Dammbrüche von über 50 Mio. Fr. entstanden. nötigen Raum. Die Sicherheit kann auch verbessert wer- Im Raum Stans wurden zudem Schäden von über den, indem zusätzliche Rückhalteräume für das Wasser 100 Mio.Fr. verhindert. geschaffen werden.

6 tec21 36/2006 In Gefahrenbereichen, die sich nur mit grossem Auf- Grosser Sanierungsbedarf wand sichern oder gar nicht sichern lassen, sollten keine Der Schutz vor Naturgefahren ist eine Verbundaufgabe weiteren Risiken aufgebaut und bestehende reduziert von Bund, Kantonen und Gemeinden. Von allen Betei- werden. Sie sind von Nutzungen möglichst frei zu hal- ligten sind grosse finanzielle Anstrengungen nötig, wenn ten. Veränderungen und Anpassungen stossen oft auf innert nützlicher Frist ein angemessener Schutz erreicht Widerstand, denn es fällt schwer, auf gewohnte Nut- werden soll. Die durch die Hochwasserereignisse 2005 zungen zu verzichten. Will man jedoch mehr Sicher- aufgezeigten Schwachstellen lösen in den nächsten vier heit, so ist für extreme Ereignisse grosszügig Raum zur Jahren Folgeprojekte im Umfang von 400 Mio. Fr. aus. Verfügung zu stellen. Aufgrund der Gefahrenkarten, die zurzeit in der ganzen Prognosen gehen davon aus, dass infolge Klimaände- Schweiz erstellt werden, sind zusätzlicher Handlungsbe- rungen nicht alle heute intensiv genutzten Gebiete auch darf und entsprechende Sanierungsprojekte zu erwar- fortan uneingeschränkt nutzbar bleiben. Das Risikoma- ten. Schon länger bekannt ist, dass die grossen Korrek- nagement muss daher neben bestehenden Aspekten tionswerke saniert werden müssen (3. Rhonekorrektion, auch potenzielle Änderungen der Rahmenbedingungen , , Linth, Alpenrhein). Die Finanzierung die- wie etwa Veränderungen der Gefahren oder Nutzungs- ser Vorhaben fordert die ganze Gesellschaft. änderungen mit einbeziehen. Immer wird ein Restrisiko bleiben, welches durch die Überprüfung des Überlast- falls geklärt werden muss. Diese auf Zukunftsszenarien aufbauenden Analysen ergeben wichtige Grundlagen für künftige Nutzungsmöglichkeiten, aber auch für die Notfallplanung sowie die Reduktion der Verletzbarkeit Hans Peter Willi, Chef Abteilung Gefahrenprävention, Bundesamt für Umwelt, Bern von Einzelobjekten. Das Undenkbare muss gedacht [email protected] werden, und es gilt, differenzierte Massnahmenkonzep- Josef Eberli, Kantonsingenieur, Kanton Nidwalden, Stans te zu entwickeln. [email protected]

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