APuZAus Politik und Zeitgeschichte 61. Jahrgang · 48/2011 · 28. November 2011

Wehrpflicht und Zivildienst

Harald Kujat Das Ende der Wehrpflicht

Peter Steinbach Zur Geschichte der Wehrpflicht

Berthold Meyer Bundeswehrreform und Parteiendemokratie

Wenke Apt Herausforderungen für die Personalgewinnung der

Heiko Biehl · Bastian Giegerich · Alexandra Jonas Aussetzung der Wehrpflicht. Lehren westlicher Partnerstaaten

Ines-Jacqueline Werkner Wehrpflicht und Zivildienst – Bestandteile der politischen Kultur?

Holger Backhaus-Maul · Stefan Nährlich · Rudolf Speth Der diskrete Charme des neuen Bundesfreiwilligendienstes

Jörn Fischer Freiwilligendienste – vom Nutzen des Engagements Editorial Mit der Aussetzung der Wehrpflicht zum 1. Juli 2011 wurde die Bundeswehr nach 55 Jahren zur Freiwilligenarmee. Voran­ gegangen war eine jahrelange, emotional geführte Debatte. Be­ fürworter der Wehrpflicht hatten wiederholt darauf hingewie­ sen, dass es die Wehrpflicht sei, die dafür gesorgt habe, dass die Bundeswehr in der Mitte der Gesellschaft verankert geblieben und nicht wie die Reichswehr der Weimarer Republik zum Staat im Staate geworden sei. Kritiker hatten dagegen bemängelt, dass von Wehrgerechtigkeit aufgrund der hohen Ausmusterungs­ quote keine Rede mehr sein könne. Letzten Endes ermöglich­ ten Sparzwänge und die Notwendigkeit einer grundlegenden Reform der Bundeswehr die rasche und relativ einvernehmliche Aussetzung der Wehrpflicht.

Die Neuausrichtung der Bundeswehr ist zur Zeit im vollen Gange. Im Oktober wurden die Pläne für Standortschließungen und -verkleinerungen vorgestellt. Eine große Herausforderung liegt in der Rekrutierung von quantitativ und qualitativ ausrei­ chendem Personal. Die Gefahr, dass aus der Bundeswehr eine „Unterschichtenarmee“ werde, wird oft beschworen. Mit Blick auf die Armeen westlicher Partnerstaaten, die zum Teil schon vor Jahrzehnten die Wehrpflicht abgeschafft haben, lassen sich die pessimistischen Vorhersagen aber nur bedingt bestätigen. Die Bundeswehr als Freiwilligenarmee muss nun – wie jeder an­ dere Arbeitgeber auch – Rahmenbedingungen bieten, die es at­ traktiv machen, den Soldatenberuf zu ergreifen.

Das Ende des Wehrdienstes zog auch das Ende des Zivildiens­ tes nach sich. Hatten Ersatzdienstleistende in den ersten Jahr­ zehnten nach Einführung der Wehrpflicht häufig noch als „Drü­ ckeberger“ gegolten, so wandelte sich das Bild allmählich zum sympathischen „Zivi“, auf den zahlreiche soziale Einrichtungen kaum mehr verzichten wollten oder konnten. Mit der Einfüh­ rung des Bundesfreiwilligendienstes versucht die Bundesregie­ rung, die entstandene Lücke zu schließen. Dabei gilt es, die un­ terschiedlichen Logiken eines staatlichen Pflichtdienstes, wie es der Zivildienst war, und des freiwilligen zivilgesellschaftlichen Engagements, das durch den Bundesfreiwilligendienst erschlos­ sen werden soll, zu beachten.

Anne Seibring Transformation der NATO war diese Reform auf Kontinuität angelegt. Aus finanziellen Gründen ist sie nach 2002 nicht fortgeführt worden. Ein Reformstau war die Folge. Nun Das Ende der steht die Bundeswehr zum dritten Mal in zwanzig Jahren vor einer Reform, die als völ­ lige Neuausrichtung konzipiert ist. Es geht Wehrpflicht um höhere Leistungsfähigkeit, mehr Effizi­ enz und größere Einsatzrealität. Die Bundes­ wehr soll professioneller, schlagkräftiger, mo­ Essay derner und attraktiver werden. Es geht aber auch um die Frage: Was können wir uns an treitkräfte müssen sich fortlaufend den Sicherheitsvorsorge leisten, was müssen wir Sveränderten außen- und sicherheitspoliti­ uns leisten? Das Bundesministerium der Ver­ schen Verhältnissen anpassen, damit sie auf teidigung erklärte, Ziel der Neuausrichtung neue Herausforderun­ sei es, „die Bundeswehr so aufzustellen, zu Harald Kujat gen und Risiken ange­ finanzieren und auszustatten, dass Deutsch­ Geb. 1942; General a. D. der messen reagieren kön­ land nachhaltig befähigt ist, gemeinsam mit Luftwaffe; 2000 bis 2002 Gene- nen. Dies gilt ins­ seinen Partnern einen gewichtigen militäri­ ralinspekteur der Bundeswehr; besondere seit dem schen Beitrag zur Sicherheit des Landes und 2002 bis 2005 Vorsitzender des Ende des Ost-West- des Bündnisses sowie zur Sicherung von Frie­ Militärausschusses der NATO. Konflikts, seit sich die den und Stabilität in der Welt zu leisten“. ❙1 gegnerischen Blöcke mit ihren erstarrten Fronten aufgelöst haben. In der Folge hat die Erweiterung der Nordat­ Historischer und lantischen Allianz (NATO), die strategische gesellschaftlicher Bruch Partnerschaft der NATO mit Russland und die Schaffung eines euro-atlantischen Stabili­ Anders als bisher wird diesmal mit der Ausset­ tätsraums durch den Euro-Atlantischen Part­ zung der Wehrpflicht ein historischer und ge­ nerschaftsrat die geopolitische Lage Deutsch­ sellschaftlicher Bruch vollzogen. Wenngleich lands positiv verändert. Wie andere euro­ die Konsolidierung des Bundeshaushalts, zu päische Staaten hat auch Deutschland seine der auch die Bundeswehr einen Beitrag leisten Friedensdividende eingelöst und eine selbst muss, den Anstoß gab, ist das Ende der Wehr­ im historischen Maßstab bemerkenswerte pflicht der eigentlich bestimmende Faktor für Abrüstung vollzogen. die Neuausrichtung der Bundeswehr. Dabei stand als politischer Schachzug die Entschei­ Als größter und wirtschaftlich stärkster dung zur Aussetzung der Wehrpflicht am An­ Staat der Europäischen Union (EU) und als fang des Reformprozesses und ist nicht – wie zweitgrößter Mitgliedsstaat der NATO ist es bei einer aufgaben- und fähigkeitsorientier­ Deutschland jedoch größere außen- und si­ ten Planung eigentlich geboten wäre – dessen cherheitspolitische Gestaltungsmacht zu­ Ergebnis. Die Konsequenzen dieser Vorge­ gewachsen. Unsere Verbündeten erwarten hensweise werden entscheidend dafür sein, daher, dass Deutschland deutlich mehr Ver­ ob die Bundeswehr künftig in der Lage sein antwortung für die Sicherheit Europas und wird, die ihr gestellten Aufgaben zu erfüllen. die Stabilität weltweit übernimmt. Deutsch­ land wird ein größerer Beitrag als bisher zur Nachdem seit Jahren von den Gegnern der gemeinsamen Sicherheitsvorsorge der NATO Wehrpflicht argumentiert wurde, sie sei si­ und zur politischen und militärischen Durch­ cherheitspolitisch und gesellschaftlich über­ setzung der gemeinsamen Außen- und Si­ holt, bedeutete bereits die Verkürzung des cherheitspolitik der EU abverlangt. Wehrdienstes auf sechs Monate – 2009 bei

Im Jahr 2000 begann eine grundlegende ❙1 Reform der Bundeswehr, nachdem sie einige Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.), Sach­ stand zur Neuausrichtung der Bundeswehr. Nationale Jahre zuvor die Auflösung und die Integra­ Interessen wahren – Internationale Verantwortung tion eines Teils der Nationalen Volksarmee übernehmen – Sicherheit gemeinsam gestalten, Berlin, der DDR erfolgreich bewältigt hatte. Wie die 21.. 9 2 011.

APuZ 48/2011 3 der Regierungsbildung beschlossen – prak­ wären, einen substantiellen Beitrag zum Fä­ tisch den Einstieg in den Ausstieg. Der frü­ higkeitsspektrum der Streitkräfte zu leisten. here Verteidigungsminister Karl-Theodor Offensichtlich haben die militärischen Fä­ zu Guttenberg verschärfte den politischen higkeiten der Bundeswehr in den vergange­ Druck zur Aufgabe der Wehrpflicht mit sei­ nen Jahren immer weniger mit den sicher­ ner Argumentation, dass Wehrgerechtigkeit heitspolitischen Herausforderungen Schritt nicht mehr gegeben sei, wenn nur 17 Pro­ gehalten. Eine genauere Betrachtung zeigt zent eines Jahrgangs Wehrdienst leiste­ allerdings, dass dafür nicht die Wehrpflicht, ten. Schließlich wurde die Wehrpflicht nach sondern die jahrelange Unterfinanzierung 55 Jahren zum 1. Juli 2011 ohne eine vertief­ der Streitkräfte verantwortlich ist. te sicherheitspolitische Diskussion der Rah­ menbedingungen sowie der Konsequenzen ausgesetzt. Das Grundgesetz wurde jedoch Neuausrichtung der Bundeswehr: nicht geändert, sodass wohl für den einen Fähigkeitsprofil und Personalbedarf oder anderen Politiker die theoretische Op­ tion einer späteren Reaktivierung, wenn sich Grundsätzlich hat die Neuausrichtung der dies als notwendig erweisen sollte, ausschlag­ Bundeswehr wie jede Streitkräftereform zum gebend für seine Entscheidung war. Ziel, Aufgaben, Fähigkeiten und Mittel mit­ einander in Einklang zu bringen. Die Kern­ Das Argument der Wehrgerechtigkeit wird aufgaben der Bundeswehr leiten sich unmit­ auch weiterhin herangezogen, wenn es gilt, telbar aus dem Grundgesetz ab und umfassen das Ende der Wehrpflicht zu rechtfertigen. den Schutz Deutschlands, die Sicherung von Dass in den Jahren 2000 bis 2010 immer we­ Frieden, Freiheit und Wohlergehen des deut­ niger Wehrpflichtige ihren Dienst ableis­ schen Volkes sowie die Verpflichtungen, die ten mussten, war jedoch keine unabänderli­ sich aus der Mitgliedschaft in einem Bündnis che Entwicklung. Bis zur Bundeswehrreform kollektiver Sicherheit, der NATO, ergeben. des Jahres 2000 sind noch etwa 135 000 junge Alle anderen nationalen und multinationalen Männer eingezogen worden. Mit dem dama­ Aufgaben sind Ableitungen aus diesen beiden ligen Reformkonzept wurde die Möglichkeit Kernaufgaben. der flexiblen Ableistung des Wehrdienstes, einschließlich des freiwilligen zusätzlichen Dem entspricht das Strategische Kon­ Wehrdienstes, geschaffen. Bei durchschnitt­ zept der NATO vom November 2010, das lichen Jahrgangsstärken von 400 000 Wehr­ der Kollektiven Verteidigung höchste Prio­ pflichtigen konnten jährlich etwa 100 000 rität einräumt, noch vor den beiden anderen Wehrpflichtige eingezogen werde. 33 Pro­ Kernaufgaben, Krisenmanagement und Ko­ zent eines Jahrgangs wurden nicht gemustert, operative Sicherheit. Zudem haben die Staats- waren nicht wehrdienstfähig oder galten als und Regierungschefs mit der Verabschiedung Wehrdienstausnahmen, leisteten anderweitig des Strategischen Konzeptes die Bindungs­ Dienst oder verpflichteten sich als Soldaten wirkung des Artikels 5 des Nordatlantikver­ auf Zeit. Bei durchschnittlich etwa 40 Pro­ trags durch die Festlegung verstärkt, dass sie zent Wehrdienstverweigerern konnte also „einander immer gegen einen Angriff unter­ durchaus von Wehrgerechtigkeit gesprochen stützen“ werden und dass „diese Verpflich­ werden. In den Folgejahren wurde jedoch die tung fest und bindend“ sei. Sie wollen daher Zahl derjenigen, die tatsächlich ihren Dienst sicherstellen, dass die NATO über das ge­ ableisteten, aus finanziellen Erwägungen samte Spektrum von Fähigkeiten verfügt, die kontinuierlich nach unten korrigiert. notwendig sind, um jede Art von Bedrohung der eigenen Bevölkerung abzuschrecken und Die Feststellung des ehemaligen Bundes­ abzuwehren, und sie haben sich verpflichtet, präsidenten Roman Herzog, dass die Not­ die dazu notwendigen robusten, mobilen und wendigkeit des Wehrdienstes sicherheitspoli­ verlegbaren konventionellen Kräfte aufzu­ tisch begründet sein müsse, ist unbestritten. bauen und zu unterhalten. ❙2 Da die Aufgaben der Streitkräfte seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes vielfältiger, ❙2 Vgl. Strategic Concept, adopted by the Heads of differenzierter und komplexer geworden State and Government in Lisbon, 20. 11. 2010, online: sind, ist die Frage durchaus legitim, ob Wehr­ www.nato.int/lisbon2010/strategic-concept-2010- pflichtige künftig überhaupt noch in der Lage eng.pdf (18. 10. 2011).

4 APuZ 48/2011 In diesem Zusammenhang wurde ein Fä­ sonal in den aktiven und teilaktiven Verbän­ higkeitsprofil beschlossen, das gleichzeitig den zur Verfügung stehen. Wehrübungsplät­ die Durchführung von zwei großen Opera­ ze sind in ausreichender Zahl vorzuhalten, tionen hoher Intensität und mehreren klei­ um genügend Reservisten in ihren Stamm­ neren Operationen im Rahmen der Kollek­ verbänden in Übung zu halten. tiven Verteidigung und als Krisenreaktion auch über strategische Entfernungen ermög­ Nun könnte man meinen, dass die Wehr­ licht. Entsprechend gilt für die Bundeswehr pflicht im Falle der Landes- und Bündnisver­ als „konkrete nationale Zielvorgabe (…) die teidigung jederzeit reaktiviert werden könn­ Befähigung zum gleichzeitigen durchhaltefä­ te. Die Wiedereinführung der allgemeinen higen Einsatz von bis zu 10 000 Soldatinnen Wehrpflicht ist jedoch keine realistische Op­ und Soldaten bei Übernahme der Verantwor­ tion, da zunächst aufnahmefähige Struktu­ tung einer Rahmennation für landgestütz­ ren geschaffen werden müssten, die Ausbil­ te Einsätze in bis zu zwei Einsatzgebieten dung viel Zeit in Anspruch nehmen würde und zusätzlich zu einem maritimen Ein­ und diese Schritte, ähnlich wie eine Mobil­ satz“. ❙3 Diese bündnispolitischen und natio­ machung, sicherheitspolitisch unerwünschte nalen Vorgaben sind für das Fähigkeitsprofil, eskalatorische Folgen hätten. Hinzu kommt, den Umfang und die personelle Struktur der dass viele Fähigkeiten, die für die Landesver­ Bundeswehr maßgeblich. teidigung unverzichtbar sind, auch bei Kata­ strophen und Notlagen im Innern benötigt Bei der Ausplanung des nationalen Fähig­ werden, für Auslandseinsätze jedoch nicht keitsprofils sind darüber hinaus weitere Fak­ erforderlich sind. In beiden Fällen sind vor al­ toren wie beispielsweise die Eintrittswahr­ lem Spezialisten für kurzfristige Einberufun­ scheinlichkeit eines Konfliktes, die Art des gen gefragt. Dank der Wehrpflicht konnten in Einsatzes, die Konfliktintensität, die wahr­ der Vergangenheit immer genügend geeigne­ scheinliche Dauer sowie die geografischen te Spezialisten mit regionalen Bindungen für und sonstigen Rahmenbedingungen zu be­ diese Aufgabe gewonnen werden. Wie wichtig rücksichtigen. dieser Teil des Aufgabenspektrums ist, zeigt die geplante Aufstellung eines Kommandos Ob Umfang und Leistungsfähigkeit der Territoriale Aufgaben und von Regionalen Si­ Bundeswehr nach der Neuausrichtung an­ cherungs- und Unterstützungskräften. gemessen sein werden, hängt daher zum ei­ nen davon ab, ob sie in der Lage sein wird, Für Krisenreaktionen ist neben einer hohen den von der Verfassung vorgegebenen Auf­ Einsatzbereitschaft vor allem Durchhaltefä­ trag der Landesverteidigung zu erfüllen. higkeit erforderlich, also ein großer Personal­ Zum anderen davon, ob der außen- und si­ umfang. Der Personalbedarf für Krisenope­ cherheitspolitische Gestaltungsanspruch der rationen wird durch die Einsatzdauer und die Bundesregierung – vor allem in NATO und Regenerationszeit zwischen zwei Einsätzen EU – militärisch hinreichend abgesichert ist. bestimmt. Um bei einem viermonatigen Ein­ satzzyklus mit zusätzlicher Ausbildungs- und Die Landesverteidigung Deutschlands und Vorbereitungszeit sowie einem 20-monatigen die Beistandsverpflichtung im Rahmen der Aufenthalt im Heimatstandort die Durch­ Kollektiven Verteidigung der NATO sind haltefähigkeit über Jahre zu gewährleisten, auf Aufwuchs- beziehungsweise Rekonsti­ muss hinter dem jeweiligen Einsatzkontin­ tutionsfähigkeit angewiesen. Dafür ist eine gent mindestens das Fünffache an verfügba­ auf Erweiterung und Verdichtung angelegte ren, einsatzbereiten Kräften stehen. Wegen Personal- und Streitkräftestruktur erforder­ des reduzierten Personalumfangs sollen des­ lich. Neben präsenten und jederzeit einsatz­ halb die „Fähigkeiten mit hochtechnisierter bereiten Verbänden sind teilaktive Verbän­ Unterstützung“ gestärkt werden, um die Ein­ de und Ergänzungsstrukturen vorzuhalten, satzkontingente personell zu begrenzen und die kurzfristig mit ausgebildeten Reservisten so die Durchhaltefähigkeit zu verbessern. ❙4 aufgefüllt werden können, deren Ausrüstung und Waffensysteme bereitstehen. Darüber Bisher hat der Wehrdienst für einen großen hinaus muss überproportional Führungsper­ Personalumfang gesorgt und damit insbeson­

❙3 Bundesministerium der Verteidigung (Anm. 1). ❙4 Vgl. ebd.

APuZ 48/2011 5 dere durch länger dienende Wehrpflichtige die Nimmt man optimistisch an, dass sich Durchhaltefähigkeit erhöht. Die schon über 50 Prozent der freiwillig Wehrdienstleisten­ ein Jahrzehnt andauernden Balkaneinsät­ den als Soldat auf Zeit verpflichten, so kann ze und der deutsche Beitrag zum Einsatz der damit der Bedarf an Zeitsoldaten bei weitem Internationalen Sicherheitsunterstützungs­ nicht gedeckt werden. Die ersten Erfahrungen truppe (ISAF) in Afghanistan belegen dies. mit dem Modell der freiwillig Wehrdienst­ Zugleich haben die Wehrdienstleistenden ein leistenden sind zudem nicht ermutigend. Bei hohes Aufkommen von Reservisten ermög­ einem Bewerberaufkommen von 3459 im licht und auf diese Weise die Aufwuchsfähig­ dritten Quartal 2011 haben 22,5 Prozent die keit der Bundeswehr für die Landesverteidi­ Bundeswehr bereits nach kurzer Zeit wieder gung gesichert. verlassen. ❙7 Wie viele sich als Freiwillige wei­ ter verpflichten, bleibt abzuwarten. Durch die Neuausrichtung sollen mehr Soldaten als bisher gleichzeitig für Einsätze Die Jahrgangsstärken von Frauen und verfügbar sein, obwohl die Bundeswehr mit Männern werden voraussichtlich zwischen wesentlich weniger Zeit- und Berufssoldaten 2011 und 2027 von knapp 800 000 auf etwa und ohne die Wehrpflicht auskommen muss. 600 000 absinken. ❙8 Bei einem Regenerati­ Dabei soll „insgesamt ein breites Fähigkeits­ onsbedarf von 17 000 bis 18 000 Freiwilligen profil erhalten werden“, während „durch die müssten davon jedes Jahr etwa drei Prozent Priorisierung der Fähigkeiten (…) die Durch­ für den Dienst in den Streitkräften gewonnen haltefähigkeit für den Einsatz abgestuft ge­ werden, die sich als Zeitsoldaten verpflich­ stärkt“ wird. Die Formulierungen „diffe­ ten. Erfahrungsgemäß ist der qualitative Be­ renziertes Durchhaltevermögen“ (Heer) und darf nur dann zu decken, wenn mindestens „abgestuftes Durchhaltevermögen“ (Marine) drei Bewerber auf eine zu besetzende Stelle deuten jedoch an, dass die Personalkürzun­ kommen. Das bedeutet, dass sich jedes Jahr gen und die Aussetzung der Wehrpflicht die mehr als 50 000 junge Männer und Frauen Durchhaltefähigkeit in Einsätzen insgesamt bei der Bundeswehr bewerben müssten. Jede deutlich begrenzen werden. ❙5 Abweichung von der Norm bedeutet, dass an der Eignung Abstriche notwendig werden. Der Umfang der Streitkräfte wird laut Bun­ Der Anteil der Frauen wird auch in Zukunft desverteidigungsministerium „einschließlich deutlich geringer sein (von 4589 Freiwilligen, bis zu 2500 Reservisten bei bis zu 185 000 Sol­ die am 1. Oktober 2011 ihren Dienst antra­ datinnen und Soldaten liegen. Diese bestehen ten, waren nur 152 Frauen ❙9). Man kann da­ aus bis zu 170 000 Zeit- und Berufssoldaten her durchaus prognostizieren, dass die Bun­ sowie 5000 Freiwillig Wehrdienstleistenden. deswehr trotz erheblicher Anstrengungen, Dazu kommen bis zu 10 000 weitere Freiwil­ die Attraktivität des Dienstes zu steigern, so­ lig Wehrdienstleistende.“ ❙6 Für Einsätze wer­ wohl quantitative als auch qualitative Abstri­ den etwa 100 000 Soldatinnen und Soldaten che vornehmen muss. zur Verfügung stehen. Um bei einer insge­ samt geringeren Durchhaltefähigkeit gleich­ Es entstehen zwar finanzielle Einsparun­ zeitig bis zu 10 000 Soldatinnen und Solda­ gen durch die Reduzierung der Zeit- und ten in Einsätze schicken zu können, muss die Berufssoldaten und der zivilen Mitarbeiter. bisherige Kategorisierung in Eingreif-, Sta­ Diese fallen jedoch erst nach einer längeren bilisierungs- und ­Unterstützungskräfte auf­ Übergangszeit ins Gewicht. Der finanzielle gegeben werden. Schließlich diente sie eben­ so wie die Ausrüstungskategorien (Anfangs-, ❙7 Grund- und Zielbefähigung) lediglich dazu, Vgl. Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.), Freiwillige treten ihren Dienst in der Bundeswehr an, die mangelhafte Ausrüstung der Streitkräf­ Pressemitteilung vom 25. 9. 2011. te als Folge einer dramatischen Unterfinan­ ❙8 Vgl. Bundesministerium der Verteidigung/Der zierung zu verschleiern. Das angestrebte Bundesminister, Eckpunkte für die Neuausrichtung Einsatzniveau lässt sich nur über eine hoch­ der Bundeswehr. Nationale Interessen wahren – In­ wertige Ausbildung und Ausrüstung aller ternationale Verantwortung übernehmen – Sicher­ Einsatzkräfte erreichen. heit gemeinsam gestalten, Berlin, 18. 5. 2011, Anlage „Entwicklung der Jahrgangsstärken“. ❙9 Vgl. Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.), ❙5 Vgl. ebd. Ziel von 5.000 Freiwilligen mehr als erreicht, Presse­ ❙6 Ebd. mitteilung vom 3. 10. 2011.

6 APuZ 48/2011 Aufwand für die Anwerbung und für sozia­ rungsphilosophie des Führens nach Auftrag, le Maßnahmen im Sinne einer Steigerung der setzt den intelligenten, eigenverantwortlich Attraktivität des Soldatenberufs wird jedoch und selbstständig handelnden Soldaten vo­ von Anfang an deutlich ansteigen. Schließlich raus. Die Bundeswehr wird daher auch in der muss in einer mehrjährigen Übergangsphase Erziehung und Ausbildung große Anstren­ Personal abgebaut werden, ohne die Regene­ gungen unternehmen müssen, wenn sie die­ ration einer unausgewogenen Personalstruk­ sen Anspruch aufrechterhalten will. tur zu unterbrechen. Finanzielle Einsparef­ fekte stellen sich erst relativ spät ein. Die vielen Generationen von Wehrdienst­ leistenden und Reservisten sind immer auch für die Integration der Streitkräfte in die Ge­ Die Bundeswehr sellschaft wichtig gewesen. Das war insbe­ wird eine andere werden sondere in den ersten Jahrzehnten nach der Gründung der Bundeswehr vor dem Hinter­ Seit ihrer Gründung vor 56 Jahren gehört die grund unserer geschichtlichen Erfahrung ein Innere Führung mit dem Leitbild des Staats­ Wesensmerkmal der Streitkräfte. Hinzu ka­ bürgers in Uniform und dem Führen nach men noch vor zehn Jahren über 600 Stand­ Auftrag zum Wesenskern der Bundeswehr. orte, in denen die Bundeswehrangehörigen Im Zusammenhang mit dem Ende der Wehr­ mit ihren Familien soziale Kontakte in allen pflicht wurde daher auch die Besorgnis geäu­ Lebensbereichen unterhielten. Nicht zuletzt ßert, die Bundeswehr könnte ihren Platz in waren es jedoch die vielen Millionen Wehr­ der Mitte der Gesellschaft verlieren und zu dienstleistenden, die einer engen Verzahnung einer „Unterschichtenarmee“ werden. Unbe­ von Bundeswehr und Gesellschaft „dienten“. stritten hat die Wehrpflicht die Bundeswehr ganz entscheidend geprägt. Viele Offizie­ Nun bedeutet das Ende der Wehrpflicht re haben ihren Dienst als Wehrpflichtige be­ nicht, dass die Bundeswehr ein Staat im Staa­ gonnen, andere haben sich nur deshalb zum te wird, an den Rand der Gesellschaft rückt Dienst in den Streitkräften verpflichtet, weil und sich von ihr abschottet und isoliert. Die die Wehrpflicht so entscheidend das inne­ Innere Führung und das Leitbild des Staats­ re Gefüge geprägt hat. Und nicht zuletzt hat bürgers in Uniform sind nicht gefährdet. sich die große Zahl von Reservisten als eine Aber die Bundeswehr wird eine andere wer­ lebendige Klammer zwischen den Streitkräf­ den. Sie wird nicht mehr das ganze Spektrum ten und der Gesellschaft bewährt. Dass so der Gesellschaft repräsentieren, sondern nur viele junge Männer ihren Wehrdienst ableis­ einen Ausschnitt davon. Die Zahl derjeni­ teten und eine große Zahl später noch als Re­ gen, die ihre in der Bundeswehr gesammel­ servisten mit ihren Einheiten in Verbindung ten Lebenserfahrungen in die zivile Gesell­ blieb, bedeutete auch eine Form der demo­ schaft mit zurücknehmen, wird sehr gering kratischen Kontrolle von innen. Die Bundes­ sein. Damit wird auch das Verständnis des­ wehr war durch die Wehrpflicht eine offene sen schwinden, was den Beruf des Soldaten Armee in einer offenen Gesellschaft. ausmacht: die vorbehaltlose Bereitschaft, Verantwortung und Risiken für die Gemein­ Das positive Klima in der Bundeswehr schaft zu übernehmen und die damit verbun­ hat dazu beigetragen, dass sie zeitweise über denen Härten und Gefahren zu ertragen. 50 Prozent ihres Regenerationsbedarfs aus Wehrdienstleistenden rekrutieren konnte. Sie Die Bundeswehr wird sich daher noch war in der vorteilhaften Lage, aus einem gro­ mehr als bisher um Interesse und Verständ­ ßen Potential die am besten Geeigneten aus­ nis der Gesellschaft bemühen müssen. Wenn zuwählen. Und dies, nachdem sich die Be­ ihr allerdings die Politik die ideelle und ma­ werber bereits in der Truppe bewährt hatten. terielle Unterstützung zukommen lässt, die Dabei konnten die Streitkräfte auf ein breites Voraussetzung für die Erfüllung ihres Auf­ Spektrum nach Herkunft, Bildung und Aus­ trages ist, wird sie auch nach dem Ende der bildung zurückgreifen. Die Wehrpflicht war Wehrpflicht eine offene Armee in einer offe­ somit ein wichtiger Garant für die Qualität nen Gesellschaft sein. der Zeit- und Berufssoldaten. Mehr noch: Was die deutschen Streitkräfte gegenüber unseren Verbündeten auszeichnet, die Füh­

APuZ 48/2011 7 Peter Steinbach tigenden europäischen Teilung, die Deutsch­ land mit dem in Sektoren aufgeteilten Ber­ lin besonders berührte, verstärkte sich bei der deutschen Regierung das Gefühl, an der Zur Geschichte Schwelle neuer gewaltsamer Konflikte zu ste­ hen, die anscheinend nur durch die globale atomare Bedrohung eingedämmt wurden. Die der Wehrpflicht Sicherheit Westdeutschlands wurde von den westlichen Alliierten garantiert, die bald einen eigenen Verteidigungsbeitrag von der Bundes­ Essay republik verlangten. Die Bundesrepublik sah sich als Teil der „freien Welt“ und sollte einen ie Wehrpflicht war nach dem Ende des Beitrag zu ihrer Verteidigung leisten. Zugleich DZweiten Weltkriegs in der deutschen Öf­ wirkte sich die Vorstellung aus, mit der Auf­ fentlichkeit ebenso diskreditiert wie die ge­ stellung einer neuen bewaffneten Macht poli­ samte Wehrmacht und tische Souveränität erlangen zu können. Peter Steinbach der „deutsche Mili­ Dr. phil., geb. 1948; tarismus“. Nach zwei Konsequenz des sicherheits- und außen­ Wissenschaft­licher Leiter Weltkriegen war mit politischen Wandels war die Einführung der der Gedenkstätte Deutscher Millionen von To­ Wehrpflicht. Mehr als fünf Jahrzehnte hatte Widerstand Berlin; ten und zwei bedin­ sie Bestand und wurde vor ihrer Aussetzung Professor für Neuere und Neu- gungslosen Niederla­ oftmals gerechtfertigt, ja verteidigt. Inzwi­ este Geschichte, Historisches gen, nach den Leiden schen sind die Kontroversen weitgehend be­ Institut, Universität Mannheim, der Bevölkerung und endet. Nun geht es vor allem um die Frage, Schloss, 68131 Mannheim. territorialen Verlusten ob die Umwandlung der Bundeswehr in eine peter.steinbach@ keine Rechtfertigung Freiwilligenarmee angesichts knapper Perso­ uni-mannheim.de des Militärischen mehr nalressourcen gelingen kann. möglich. Nicht nur die Siegermächte hatten sich mit ihren politischen Im vorliegenden Beitrag wird der Blick Versprechen – Denazifizierung, Dezentrali­ auf die Geschichte der Wehrpflicht gelenkt, sierung, Demilitarisierung und Demokrati­ um deutlich zu machen, wie zeittypisch viele sierung – versichert, Deutschland nicht mehr der Argumente waren, die sich zunächst ge­ zu gestatten, in der Mitte Europas eine Armee gen und schließlich für die Wehrpflicht aus­ aufzustellen. Gewalt sollte niemals wieder sprachen. Dabei zeigt sich, dass sich erfah­ von Deutschland ausgehen. Dieses Ziel ent­ rungsgeschichtlich geprägte Argumente mit sprach durchaus deutscher Stimmungs- und anderen überlagerten, die Wandlungen der Gefühlslage. Systemkonfrontation spiegelten.

Bereits wenige Jahre nach der Kapitulation vom 8. Mai 1945 war nicht zu übersehen, dass „Nie wieder Krieg, nie wieder Barras“ politische Kräfte die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik anstrebten. Motor dieser Be­ Die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik im strebung war das sogenannte Amt Blank, die Jahre 1955 hatte mehrere Herausforderungen Dienststelle des Bevollmächtigten des Bun­ zu bewältigen. Zum einen lehnte nicht nur die deskanzlers für die mit der Vermehrung der deutsche, sondern auch die europäische Öffent­ alliierten Truppen zusammenhängenden Fra­ lichkeit eine Wiederbelebung des „deutschen gen unter Leitung von Theodor Blank, wo Militarismus“ ab. Sicherheitspolitische Pläne sich ehemalige Militärs um die Aufstellung ei­ konnten nur dann auf Unterstützung hoffen, ner neuen Armee bemühten – in Abstimmung wenn die neu aufgestellten deutschen Truppen­ mit den westlichen Alliierten. Zum einen verbände in europäische Verteidigungs- und spiegelte sich darin die veränderte Weltlage: Befehlsstrukturen integriert werden würden. Mit der sich zuspitzenden Blockkonfronta­ Dieses Ziel ließ sich mit der NATO vergleichs­ tion zwischen den neuen Weltmächten und weise leicht verwirklichen. der Gründung des nordatlantischen Vertei­ digungsbündnisses (NATO), mit Koreakrieg Innenpolitisch stellte sich die Bemühung (1950–1953) und der sich immer mehr verfes­ politischer Kreise Westdeutschlands um die

8 APuZ 48/2011 Wiederbewaffnung der Bundesrepublik als Alfred Jodl und schließlich gegen führende eine ungleich größere Herausforderung dar. Offiziere der Wehrmacht begleitet. Als in der ersten Hälfte der 1950er Jahre über die Wehrpflicht gestritten und zugleich ins­ Die Wehrpflicht in der frühen Bundesre­ geheim durch das Amt Blank die Wieder­ publik war also höchst umstritten. Kampag­ bewaffnung der Bundesrepublik vorberei­ nen wurden gestartet, um den Gemeinsinn zu tet wurde, befanden sich noch zehntausende stärken, der sich auch im Wehrdienst äußern deutscher Soldaten in sowjetischer Kriegsge­ sollte. „Miteinander füreinander“ hießen sie, fangenschaft. Zerbombte Städte, vertriebene wenn sie Gemeinsinn stärken, „Ohne mich!“, Landsleute aus den Ostgebieten, die Teilung wenn sie fehlenden Gemeinsinn beklagen Deutschlands in zwei deutsche Staaten – das sollten. Denn die Vorstellung, das Gemein­ waren die äußeren Folgen von „Hitlers Krieg“, wesen mit der Waffe zu verteidigen, blieb mo­ wie man sagte. An einem neuen Krieg woll­ ralisch zutiefst diskreditiert. Hatten die Na­ te sich keiner beteiligen. Stattdessen bekann­ tionalsozialisten doch einen Krieg entfesselt, ten sich viele gegen Atombewaffnung und der als Verteidigungskrieg bezeichnet wurde „Atomtod“ oder zum radikalen Pazifismus, und sich nicht nur als Angriffs­, sondern auch der wenig später die Ostermärsche prägte. als Rassen­ und Weltanschauungskrieg erwie­ sen hatte und nur durch die Mitwirkung der „Nie wieder Krieg, nie wieder Barras ❙1, Wehrmachtsführung möglich gewesen war. nie wieder Wehrmacht, nie wieder auf Men­ Viele ihrer Offiziere gehörten zu der ersten schen schießen zu müssen!“, das war An­ Offiziersgeneration in der Bundesrepublik. fang der 1950er Jahre zunächst eine der Kon­ sequenzen, die die weitaus größte Mehrheit der Bevölkerung aus den Weltkriegen zog, Stimmungswechsel im Zuge von denen der Erste Weltkrieg als europä­ der Blockkonfrontation ische Urkatastrophe, als europäischer Bür­ gerkrieg, als Ausdruck einer Todessehnsucht Die ablehnende Stimmung veränderte sich „in Stahlgewittern“ empfunden worden war, unter dem Einfluss des Kalten Krieges. Die­ und die schließlich zum Vernichtungskrieg, ser hatte sich schon vor der Gründung der zum Zivilisationsbruch, zur Katastrophe der Bundesrepublik abgezeichnet und mit der „Endlösung der Judenfrage“ als Ausdruck ei­ Korea-Krise zugespitzt. 1949 war das nord­ nes rassenideologisch gerechtfertigten Ab­ atlantische Verteidigungsbündnis gegründet grenzungswahns geführt hatte. worden. Die USA proklamierten Eindäm­ mung und Zurückdrängung des Ostblocks. Diese Stimmungen waren aber nur eine Seite Es war klar, dass die westdeutsche Regierung der Debatte. Viel tiefer rührte vermutlich die an den Verteidigungsanstrengungen betei­ moralische Diskreditierung der Wehrmachts­ ligt werden sollte – nicht nur finanziell. Das soldaten nach 1945. Sie waren als Geschlagene Bedrohungsgefühl des Westens verstärkte in völlig veränderte Lebensverhältnisse heim­ sich mit jeder Krise des Ostblocks, weil diese gekehrt. Das Ansehen, das sie in der Zeit des osteuropäischen Krisen – wie 1953 in der Nationalsozialismus genossen hatten, war ver­ DDR, 1956 in Ungarn, 1968 dann noch ein­ spielt. Bald hieß es, die deutsche Wehrmacht mal in Prag und schließlich 1979 in Afghanis­ habe die Voraussetzungen für den Völkermord tan – immer unter Einsatz von Waffen unter­ geschaffen: Mitwirkung der obersten Wehr­ drückt, aber niemals wirklich gelöst wurden machtsführung an der Vorbereitung eines An­ und deshalb bedrohlich virulent blieben. griffskrieges, an der Versklavung und Aus­ plünderung der besiegten Staaten, schließlich Die Demarkationslinien zwischen den an der Realisierung des Völkermords in Ver­ deutschen Besatzungszonen der Alliierten nichtungslagern, solange die Fronten stand­ wurden zur Frontlinie zwischen Ostblock hielten. Die Debatte über die Wehrmacht als und dem Westen. Besonders spürbar war die­ „verbrecherische Organisation“ hatte die Ver­ ser „Systemkonflikt“ in Deutschland. Da­ handlungen des Nürnberger Militärtribunals mit wurde die Bundesrepublik als poten­ gegen hohe Offiziere wie Wilhelm Keitel und tielles Kriegsgebiet wahrgenommen. Die Aufstellung bewaffneter Verbände sollte zu­ ❙1 Barras bezeichnet die Armee, „zum Barras müs­ gleich deutlich machen, dass das 1945 besieg­ sen“ die Wehrpflicht. te Deutschland schrittweise größere Souve­

APuZ 48/2011 9 ränität erlangte. Der Bonner Regierung ging gen waren dabei zu erfüllen. Die Bundeswehr es niemals allein um die Integration der ehe­ musste erstens eine Parlamentsarmee sein – maligen drei westlichen Besatzungszonen kein Generalstab, kein Staat im Staate, keine in ein westliches Verteidigungs- und Wirt­ Absonderung des Offizierskorps, das ebenso schaftsbündnis, sondern ihr Ziel richtete sich durch die Reichswehr- wie durch die Wehr­ auf die Erlangung voller staatlicher Souverä­ machttradition geprägt war; der vom Parla­ nität. Das verbreitete Verständnis von staatli­ ment kontrollierte Verteidigungsminister cher Souveränität verlangte nach „bewaffne­ sollte den Oberbefehl über die Bundeswehr ter Macht“ und einer neuen Armee. ausüben. Die neuen Soldaten sollten zweitens „Staatsbürger in Uniform“ sein, mit allen Dies hatte die Überwindung von Vorbehal­ staatsbürgerlichen Rechten. Die Bundeswehr ten zur Voraussetzung, die sich in der öffent­ sollte Aufgaben in der politischen Bildung lichen und veröffentlichten Meinung in den übernehmen und mit dem Konzept der Inne­ nach 1938/39 von den Nationalsozialisten ren Führung ein neues Modell militärischer besetzten Staaten Europas niederschlugen. Führung überhaupt verwirklichen. Eine ei­ Nicht vergessen waren in den Benelux-Staa­ gens dafür geschaffene Akademie, die Füh­ ten, in Frankreich, in Skandinavien, Italien, rungsoffiziere zu absolvieren hatten, sollte in Griechenland und anderswo die Opfer der den Geist des neuen deutschen Parlaments­ deutschen Besatzungsherrschaft. In Groß­ heeres prägen. Dritte Grundbedingung war britannien und in den USA nährten Kriegs­ die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht: filme alte Feindbilder. Dabei war der rasche Sie wurde nicht nur als Ausdruck eines Ge­ Aufbau einer neuen „Bundeswehr“ nur mit meinschaftsgefühls, sondern als Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht zu erreichen. gesellschaftlicher Verankerung und Zivilisie­ Nur mit ihr konnte unverzüglich eine Armee rung der bewaffneten Macht im neuen Ver­ mit mehreren hunderttausend Soldaten auf­ fassungsstaat gedeutet. Sie galt als Symbol gebaut werden. Also musste der Wehrdienst der Einsatzbereitschaft für den freiheitlichen als Dienst für ein demokratisch legitimiertes Verfassungsstaat, als den sich die Bundesre­ Gemeinwesen gedeutet werden, das verteidi­ publik verstand. Und weil alle Männer eines gungswert war, weil es als – aus dem Osten – bestimmten Jahrgangs damit rechnen muss­ bedrohte und deshalb stets gefährdete frei­ ten, „gezogen zu werden“, galt die allgemeine heitliche politische Lebensform galt. Wehrpflicht als Ausdruck völliger Gleichheit. Dabei wurde sie nicht nur als Verpflichtung, Die westdeutsche Regierung unter Konrad sondern auch als Recht des – zunächst nur Adenauer machte in den 1950er Jahren au­ männlichen – Staatsbürgers gedeutet. ßenpolitisch schnelle Fortschritte und leitete nicht nur die Integration des westdeutschen Manche Politiker sprachen sogar von der Teilstaates in das atlantische Verteidigungs­ Bundeswehr als einer „Schule der Nation“. bündnis der NATO ein, sondere bereitete Erst wenn alle als „tauglich“ befundenen auch die Einbindung der Bundesrepublik in Männer zum „Dienst mit der Waffe“ gezo­ die sich herausbildenden neuen Strukturen ei­ gen wurden und ohne Ansehen ihrer Person, nes politisch geeinten Westeuropas, mit Mon­ ihrer Herkunft, Bildung und beruflicher Fä­ tanunion, Euratom und Europäischer Wirt­ higkeit 18 Monate den Grundwehrdienst ab­ schaftsgemeinschaft, vor. Die Korrektur des leisten müssten, dann, so sagte man, sei die Gefühls, nie wieder Waffen tragen zu wollen, Bundeswehr fest in der Gesellschaft veran­ das in der westdeutschen Gesellschaft verbrei­ kert. Durch den allgemeinen Wehrdienst tet war, stellte die Verantwortlichen innenpo­ würde jede Gefahr politischer und sozialer litisch vor eine ernsthafte ­Herausforderung. Separierung der bewaffneten Macht von der Bevölkerung verhindert. Man könne schließ­ lich durch einen „Staatsbürgerkundeunter­ Gründung der Bundeswehr richt“, der Teil der militärischen Grundaus­ und Einführung der Wehrpflicht bildung sein müsse, Defizite der politischen Bildung ausgleichen und einen neuen Ge­ Wie sollte dieses Ziel bei der verbreiteten meinschaftsgeist schaffen, der – das darf nicht Ablehnung des Krieges und der Wehrmacht vergessen werden – durch die politisch-religi­ durch die deutsche Bevölkerungsmehrheit öse Überhöhung einer sogenannten Volksge­ durchgesetzt werden? Drei Grundbedingun­ meinschaft diskreditiert war.

10 APuZ 48/2011 So überlagerte sich das Konzept der Inneren Bereichen: In wirtschaftlich unsicheren Zei­ Führung mit dem Konzept der Wehrpflicht. ten boten sich Überbrückungsmöglichkeiten, Flankiert wurde diese gesellschaftliche Er­ Führerscheine für LKW oder Boote konnten dung durch die Einrichtung des Wehrbeauf­ erworben, Sprachen erlernt, Fertigkeiten er­ tragten, dessen Aufgabe vor allem die Wah­ worben werden. Zusätzliche Chancen boten rung der Grundrechte des Soldaten und die die Bundeswehrhochschulen, die nicht zuletzt Durchsetzung der Inneren Führung war. Es auch die Voraussetzungen für die berufliche war also nicht nur die Wehrpflicht, die die Integration der Soldaten nach ihrer Entlas­ gesellschaftliche Akzeptanz der Bundeswehr sung aus der Bundeswehr verbesserten. erhöhte, sondern es war die gelungene neue militärische Führungsdoktrin, die nicht sel­ Die Wehrpflicht blieb für einen Zeitraum ten gegen sarkastische Kritik der Altgedien­ von mehr als fünf Jahrzehnten ein wichtiger ten an den angeblichen „Moden“ innerer Bestandteil der freiheitlichen Verfassungs­ Führung durchgesetzt und durch die Grün­ ordnung des Grundgesetzes der Bundesre­ dung der Bundeswehrhochschulen noch ein­ publik. Sie war Ausdruck einer individuellen mal stabilisiert wurde. Verpflichtung und Bekenntnis zu einer ge­ sellschaftlich verankerten Bundeswehr. Wenn die neue Bundeswehr als eine demo­ kratisch legitimierte Armee im freiheitlichen Verfassungsstaat akzeptiert werden sollte, kam Recht auf Kriegsdienstverweigerung es aber nicht nur auf eine gesellschaftlich breite und Ersatzdienst Verankerung in der deutschen Gesellschaft an, sondern auch auf die Akzeptanz in den euro­ Ebenso wichtig wie die Verpflichtung zum päischen Nachbarstaaten. Wichtig war deshalb Wehrdienst war das Recht zur Verweigerung die Einbindung der neuen Bundeswehr in das des Kriegsdienstes aus Gewissensgründen, zu­ westliche Bündnis und die Unterstellung ihrer nächst in der Gesellschaft heftig umstritten Bataillone und Divisionen unter übernationale und als Ausdruck einer „Ohne-mich-Gesin­ Kommandostrukturen. Ebenso entscheidend nung“ abgelehnt. Ersatzdienstleistende wur­ war der dauerhafte Verzicht auf Atomwaffen. den keineswegs immer respektiert. Manche Aber auch die Hoffnung, dass die Bundeswehr Firmen stellten keine Bewerber ein, die sich politisch kontrolliert und dem Bundestag un­ nicht hatten „ziehen“ lassen oder ihr Recht auf terstellt werden würde, verringerte die Be­ „Ersatzdienst“ wahrgenommen hatten. „Wehr­ fürchtungen im westlichen Ausland. Schließ­ dienstverweigerer“ galten als „Drückeberger“. lich verstand man auch, dass es sich nicht um „Ersatzdienstleistende“ wurden als „Verweige­ eine Neuauflage der Wehrmacht, sondern um rer“, nicht als „Zivildienstleistende“ bezeich­ eine parlamentarisch kontrollierte Bürgerar­ net, die sich für eine andere Art des Dienstes mee handelte, die gut in gemeinsame Verteidi­ für die Gemeinschaft entschlossen hatten. gungsstrukturen einzufassen war. In der DDR, die 1962 die Wehrpflicht ein­ Wie das Ringen um eine Wiederbewaff­ führte, hingen Studien-, Ausbildungs- und nung der Bundesrepublik und die Wehrpflicht Berufschancen von einem mehrjährigen na­ ausging, ist bekannt: Die Bundeswehr wurde tionalen „Ehrendienst“ ab. Kriegsdienstver­ 1955 gegründet; ein Jahr später trat das Wehr­ weigerer in der DDR konnten seit 1964 dem pflichtgesetz in Kraft. ❙2 In überraschend kur­ Dienst mit der Waffe als „Bausoldaten“ ent­ zer Zeit wurde der Wehrdienst mehrheitlich gehen und wurden dennoch uniformiert. Das akzeptiert. Der Kalte Krieg verstärkte die Verhalten von Totalverweigerern, die auch politische Unsicherheit und rechtfertigte die den Ersatzdienst ablehnten, galt als „strafbe­ Wehrpflicht. Die Bundeswehr wuchs rasch an, wehrt“, das heißt, sie wurden wie Verbrecher ihre Einheiten wurden permanent geteilt und behandelt und nicht selten inhaftiert – auch mutierten zu Keimzellen neuer Einheiten. Das im westlichen Teil Deutschlands. größte Problem war der Mangel an Offizieren, die gut ausgebildet waren. Die Wehrpflicht Das Ansehen der „Zivis“ in der Bundesre­ galt bald als Erfolgsmodell auch in anderen publik änderte sich in den 1970er und vollends in den 1980er Jahren, als der Ersatzdienst in ❙2 Vgl. APuZ, (2005) 21, mit dem Themenschwer­ der Bundesrepublik dem Wehrdienst gleich­ punkt „50 Jahre Bundeswehr“. gesetzt und gesellschaftlich anerkannt wurde.

APuZ 48/2011 11 Denn mit dem Zivildienst wurden die Sozi­ weise auf veränderte Sicherheitslagen Konse­ aletats entlastet, er erschien sogar als Voraus­ quenzen hatten. Die Kosten der Einheit muss­ setzung dafür, dass viele Sozial- und Pflege­ ten aufgebracht, das Sozialsystem finanziert dienste überhaupt finanziert wurden. Dass werden. Staat ist immer klamm, gewiss. Aber schließlich der Zivildienst wichtiger zu sein irgendwie war eine Grenze spürbar. Reform­ schien als der Wehrdienst, wurde spätestens diskussionen setzten immer wieder ein, Kom­ dann deutlich, als die Beibehaltung der Wehr­ missionen tagten, legten Berichte vor, ohne pflicht mit der Notwendigkeit des Zivildiens­ aber realistische Konsequenzen anzustoßen. tes begründet werden sollte und die Sozial­ Das änderte sich erst in unseren ­Tagen. verbände, die Zivildienstleistende einsetzten, auf die Folgen der Aussetzung für die Finan­ In den 1990er Jahren schien die verteidi­ zierung von Versorgungs- und Pflegediensten gungspolitische Debatte an einem Punkt an­ hinwiesen. Der Ersatzdienst entlastete das gekommen zu sein, an dem nicht mehr Kon­ Sozialsystem, das Ansehen der „Dienstleis­ zeptionen, sondern Haushaltszwänge den ter“ und der Dienstverweigerer war mittler­ Rahmen für grundlegende Entscheidungen weile etwa gleich hoch und entsprach der Sta­ und Neuorientierungen absteckten. Finan­ tistik. Denn von jedem Jahrgang wurde etwa zielle Zwangslagen engten Spielräume ver­ ein Drittel gezogen, ein Drittel ausgemustert, antwortlicher Entscheidung ein. Das spürten ein Drittel absolvierte den Ersatzdienst. auch andere Gesellschaften, die sich von dem Konzept der Wehrpflicht verabschiedeten und sich dennoch zum Prinzip politischer Freiheit Nach dem Kalten Krieg bekennen. Deshalb kam es darauf an, die Ar­ gumente, die für und gegen die Wehrpflicht Mit dem Ende des Kalten Krieges veränder­ angeführt wurden, immer wieder zu prüfen. te sich die strategische Bedeutung der Bun­ deswehr. Deutschland war seit 1989 nicht Zum einen hieß es, die Wehrpflicht diene der mehr an den Grenzen bedroht. Die Krise der Verankerung der bewaffneten Macht in der NATO wurde nicht recht wahrgenommen, Gesellschaft und verhindere, dass mit der Ar­ denn globale Krisen, der Zerfall ganzer Staa­ mee ein Staat im Staat entstehe. Die Abschaf­ ten und Blöcke, ethnisch-konfessionelle Kon­ fung der Wehrpflicht würde diese Verbindung flikte und Bürgerkriege verlangten eine neue lösen und deshalb die demokratische Legiti­ Art der Intervention. Aus der Bundeswehr mation der Bundeswehr ­beeinträchtigen. wurde eine Interventionsarmee, die im Bünd­ nis militärische Aufgaben übernahm und zu­ In vielen gefestigten westlichen Demo­ gleich in ihrem Selbstverständnis Friedens- kratien wie den USA, in Frankreich, Spa­ und Aufbauleistungen zu erbringen hatte. nien, Schweden und Großbritannien wur­ Immer mehr rückten Bündnisverpflichtun­ de die Wehrpflicht abgeschafft – zuweilen gen, aber auch Versuche in den Mittelpunkt, vor vielen Jahren, ohne Gefährdung des po­ Deutschland als Machtfaktor in weltpoliti­ litischen Systems. Darin spiegelte sich nicht schen Konflikten sichtbar zu machen. nur eine veränderte Sicherheitslage, sondern auch politisches Selbstbewusstsein. Eine Ge­ Dabei ging es auch um die Demonstra­ sellschaft muss so stark sein, dass sie die Iso­ tion von Souveränität. Im Kosovo, am Horn lierung der Armee verhindert. Mit dem Ende von Afrika, im Kongo und in Afghanistan – der Blockkonfrontation des Kalten Krieges immer ging es auch darum zu zeigen, dass hatten Armeen überdies andere Funktionen Deutschland nicht nur als zivile Macht, son­ zu übernehmen als die Landesverteidigung. dern auch militärisch Einfluss nehmen konn­ Sie wurden zu Interventions- und Einsatzar­ te. Dass diese Einsätze die Kräfte der Bundes­ meen umgebildet und mussten polizeiliche, wehr überstrapazierten, viel Geld kosteten friedenstiftende oder auf die Versorgung der und ganz neue Fertigkeiten der Einsatzkräf­ Zivilbevölkerung in Krisengebieten gerichte­ te verlangten, das rückte viel langsamer in das te Anstrengungen übernehmen. Alle Beispie­ Bewusstsein. Soldaten kamen im Einsatz um, le zeigen, dass gefestigte Demokratien durch­ klagten über mangelnde Ausrüstung, waren aus ohne Wehrpflicht stabil sein können. irritiert über die geringe Unterstützung und Anerkennung in politischer und moralischer In Deutschland schien man viel zu lange Hinsicht. Nun zeigte sich, dass frühe Hin­ und viel zu weit von dieser Einstellung ent­

12 APuZ 48/2011 fernt zu sein. Hier galt die Wehrpflicht häufig zeigte sich nach der „Großen“ Französischen als Ausdruck besonderer Verantwortung des Revolution, als mit der „Levée en masse“ die wehrpflichtigen Bürgers für seinen Staat. Die entscheidende Wende erreicht und Europa von Frage war, ob dieses Argument noch trug an­ nationalbewussten und von der Notwendigkeit gesichts der nicht einmal von den Anhängern der Revolution überzeugten Franzosen grund­ der Wehrpflicht bezweifelten faktischen Wehr­ legend verändert werden konnte. ungerechtigkeit. Die Zahl der Wehrpflichti­ gen schwankte und befand sich seit etwa 1995 Die französischen Soldaten der Revoluti­ auf Talfahrt. Heirateten Wehrpflichtige vor onszeit identifizierten sich mit ihrer Nation, 30 Jahren noch in jungen Jahren, um Tren­ sie verteidigten die Revolution gegen die Al­ nungsgeld zu beziehen und ihren Sold aufzu­ ten Mächte. Sie waren beseelt von ihrer welt­ bessern, so konnten sie später durch ein Jawort umstürzenden Mission und gehorchten kei­ dem Wehrdienst entkommen. Von Wehrge­ nem Zwang mehr, sondern unterwarfen sich rechtigkeit sprach bald niemand mehr. freiwillig dem militärischen Drill, um sich in Disziplin einzuüben und die Schlagkraft zu erhöhen. Wie eine Walze fegte die französi­ Wehrpflicht als Dienst sche Armee nach der Revolution über Eu­ an der Gemeinschaft? ropa hinweg – sie verteidigte Frankreich und verstand sich zugleich als Propagandist und Häufig wurde behauptet, der Wehrdienst Verbreiter französischer Ideale von Freiheit, stärke den Gemeinsinn. Aber trifft hier nicht Gleichheit und Brüderlichkeit. zu, was so oft in der Politik gilt? Denn Ar­ gumente haben nicht nur zwei Seiten, son­ Bekämpft wurden sie in den napoleoni­ dern spiegeln ihre Entstehungszeit. In der schen Kriegen von glühenden Verteidigern Tat galt seit dem 19. Jahrhundert auch in Mit­ der von Frankreich angegriffenen Länder ge­ teleuropa, dass die übernommene Verpflich­ gen französische Despotie. In Spanien und in tung des Bürgers, seinen Staat zu verteidigen, Tirol stießen französische Truppen erstmals Ausdruck einer engen Verbindung zwischen auf Gegner, die vor allem der Wille beseel­ dem Bürger und seinem Gemeinwesen war. te, ihr Land gegen Eindringlinge zu verteidi­ Im Zuge der Reformen des 19. Jahrhunderts gen. Freiheitskriege ergreifen die Herzen und lernte der Staatsbürger, politische Verant­ machen deutlich: Wehrwille kann ungeahnte wortung zu empfinden. Er wurde vom Un­ Kräfte entfalten, wenn er durch Patriotismus tertanen zum Bürger. Im Absolutismus waren gespeist wird. Kleine Völker konnten große Soldaten in die Heere gepresst, war jede Ent­ Armeen besiegen. Dies hatten bereits Jahr­ fernung aus den Reihen der Soldaten schwer hunderte früher die Verteidigungsanstren­ bestraft worden, sollten Offiziere nicht nur gungen der Schweizer gezeigt, die im Kampf befehlen, sondern „ihre Leute“ oft mit dra­ gegen angebliche Feinde ihrer Freiheit immer konischen Strafen zusammenhalten. zum Volkskampf geblasen hatten.

In der Amerikanischen Revolution wurde Einen Durchbruch bedeutete für den Ge­ erstmals spürbar, welche Kraft in der Bewaff­ danken der Wehrpflicht der Befreiungskrieg nung einer Bevölkerung steckte, die sich zur in Deutschland, zumindest schien es im Volkssouveränität bekannte und diese gera­ Rückblick so. Tatsächlich konnte von einer de im bewaffneten Konflikt praktizierte. „Ich allgemeinen Volksbewaffnung keine Rede wollte, ich hätte zwei Leben“, sagte der junge sein, denn es waren einzelne Soldaten und amerikanische Revolutionär Paul Revere, als Verbände, die sich aus tiefer Bindung an den er vor den britischen Gegnern stand, „dann entstehenden, vor allem in den Vorstellungen könnte ich meinem Land zwei Leben geben.“ der „Befreiungskämpfe“ existierenden deut­ Er starb übrigens eines natürlichen Todes und schen Nationalstaat dazu bekannten, ihr Le­ wurde in amerikanischen Lesebuchgeschichten ben einzusetzen. Sie fanden sich in Schillers zum Helden. Allerdings macht Revere deutlich, Appell wieder: „Und setzet ihr nicht das Le­ wie weit die Opferbereitschaft des Einzelnen ben ein“ und wollten mit dem eigenen Leben für ein Gemeinwesen ging, dessen Verfassungs­ die Zukunft ihrer Nation sichern. ordnung der Bürger akzeptierte. Nationalbe­ wusstsein und Verfassungspatriotismus über­ Mit der Revolution von 1848 setzte sich erst­ lagerten und steigerten sich gegenseitig. Dies mals das Prinzip der Volkssouveränität gegen

APuZ 48/2011 13 das monarchische Prinzip durch, aber es sieg­ dass allein die Reichswehr seiner Herrschaft te nicht. Denn mit dem Scheitern der Badi­ gefährlich werden konnte. Deshalb versuch­ schen Aufstände triumphierte das königliche te er wenige Tage nach seiner Machtübernah­ Heer über demokratisch gesonnene Aufstän­ me, die Reichswehrführung zu lähmen. Ge­ dische. Mit der Reichsgründung von 1871, ei­ gen Pazifismus, für Revision des Versailler ner „Revolution von oben“, wurde die allge­ Vertrages, schließlich für die Eroberung von meine Wehrpflicht in der Reichsverfassung „Lebensraum“ wollte er seine Wehrmacht ein­ festgeschrieben, allerdings mit entscheiden­ setzen. Er rüstete auf, schuf eine schlagkräfti­ den Einschränkungen. Soldaten, die unter der ge Kriegsmarine, ließ eine Luftwaffe aufbau­ Fahne standen, besaßen kein Wahlrecht. So en und führte 1935 die allgemeine Wehrpflicht sollte die bewaffnete Macht davor geschützt ein. Die Wehrmacht wurde allmählich zu einer werden, in politische Konflikte der demokra­ Stütze seiner Herrschaft und seiner Expansi­ tischen Massengesellschaft hineingezogen zu onsbestrebungen. Sie machte die Ausdehnung werden. Das passive Wahlrecht der Uniform­ des Reiches erst möglich: Sudetenkrise, „An­ träger war nicht eingeschränkt worden. Deut­ schluss“ Österreichs, Überfall auf Polen, die lich wird auf diese Weise, dass der Obrigkeits­ Kriege im Westen und im Osten hatten eine staat dem Gedanken der Volksbewaffnung wichtige Voraussetzung: die allgemeine Wehr­ misstraute, vielleicht sogar mit Berechtigung, pflicht. Verweigerung des Dienstes mit der denn ein Revolutionstheoretiker wie Friedrich Waffe bedeutete oft den Tod. Es waren nur Engels vertrat die Meinung, die deutschen Ar­ wenige Regimegegner, die durch militärischen beitermassen hätten in der Armee Disziplin, Widerstand zeigten, dass sich das Militär dem gleichsam revolutionäre „Manneszucht“, ge­ Primat des Politischen unterwarf. lernt. Und weil Engels die großen sozialdemo­ kratischen Wahlerfolge des endenden 19. Jahr­ Mit dem 20. Juli 1944, dem Tag des Attentats hunderts hochrechnete, träumte er schließlich der Widerstandskämpfer um Graf von Stauf­ von einer revolutionären Volksarmee. fenberg auf Hitler, begann eine entscheidende Phase der Zivilisierung des Militärs, seine kon­ In der Weimarer Republik kam es dann sequente Unterordnung unter Politik und Par­ ganz anders. Im Versailler Friedensvertrag lament. Gerade im Handeln der Regimegegner war die bewaffnete Macht des Deutschen Rei­ aus der Wehrmacht wird das Spannungsver­ ches zu einer Schrumpfgröße mutiert: Ein hältnis zwischen Gehorsam und Widerspruch, 100 000-Mann-Heer, keine Luftwaffe und Gefolgschaft und Widerstand sichtbar. Dies eine Reichsmarine, deren größte Schiffseinhei­ sollte bedenken, wer sich zur Wehrpflicht als ten man „Westentaschenpanzerschiffe“ nann­ Ausdruck demokratischer Ordnung bekennt. te, waren die Folge. Im Kapp-Putsch von 1920, Die längste Zeit lag die Wehrpflicht im Inte­ der ersten großen Krise der Weimarer Repu­ resse des Obrigkeitsstaates und der Diktatur. blik, hatte sich die Reichswehr geweigert, in die Gerade das Kaiserreich, der Nationalsozialis­ innenpolitischen Kämpfe einzugreifen. Frei­ mus und die DDR machen deutlich, dass die korps prägten das Bild. Sie verstanden sich als Wehrpflicht keineswegs eine Garantie bietet, Träger eines demokratischen Verteidigungs­ die bewaffnete Macht zu einem Bestandteil willens, hassten aber die demokratisch ge­ der zivilen Gesellschaft werden zu lassen. Die wählte Reichsregierung. Sie wollten an die Zeit Zivilität der bewaffneten Macht hängt allein der sogenannten Befreiungskriege anknüpfen, vom Selbstverständnis der militärischen Füh­ ohne deren Orientierung an den Grundsätzen rung, vom Bekenntnis zur Menschenwür­ einer Bürgergesellschaft zu teilen. „Truppe de als Verpflichtung aller staatlichen Gewalt schießt nicht auf Truppe“, erklärte Hans von und von einer politischen Führung ab, die sich Seeckt, der wenig später zum Chef der Hee­ die letzte Verantwortung für das Militär nicht resleitung der Reichswehr ernannt wurde, und streitig machen lässt, sondern auf dem Primat verstärkte so die Tendenz der Abkapselung der des Politischen besteht. bewaffneten Macht. Staat im Staate sollte und wollte sie sein und wurde doch nur Spielball Die Bundeswehr gilt heute als eine bewaff­ im Kampf um die Republik. nete Macht, die fest in verfassungsstaatliche Strukturen eingebunden ist – vielleicht erst­ Sieger waren 1920 letztlich die entschiedenen mals in der deutschen Geschichte. Soldaten Gegner der Republik, deren Republikfeind­ sind als Bürger in Uniform anerkannt, und da­ schaft später Hitler artikulierte. Er wusste, bei unterscheidet man nicht nach Freiwilligen,

14 APuZ 48/2011 Zeitsoldaten, Wehrpflichtigen oder Berufsoffi­ verlangte überdies nach Spezialisten, die sich zieren. Denn alle teilen die Wertvorstellungen nicht in wenigen Monaten qualifizieren kön­ der Gesellschaft, bekennen sich zu Grundwer­ nen. In zehn oder neun und schließlich sechs ten und Grundrechten. Deshalb war es nach­ Monaten Wehrdienst lässt sich der Umgang vollziehbar, dass die Wehrpflicht nicht mehr mit komplizierten Systemen nicht erlernen. In prinzipiell als Dienst an der Gemeinschaft ge­ Einsatzgebieten kommt es überdies auf inter­ rechtfertigt wurde. Auch der Soldat setzt sich kulturelle Sensibilität und Kompetenz an, de­ für das Gemeinwesen wie jeder andere Berufs­ ren Entwicklung ebenfalls Zeit braucht. tätige ein – dieses Verständnis drückt sich in der gewachsenen Anerkennung des Soldatenberufs Wegen der großen Rekrutierungsapparate aus. Die militärische Führung verliert ebenso wären auch die Kosten der Wehrpflicht in ab­ wenig die Bodenhaftung, denn sie bleibt In­ sehbarer Zeit wohl größer als der Nutzen ge­ strument der ihr übergeordneten Politik. wesen, den eine optimale Ausnutzung von Personal-Reserven der „Gemusterten“ bietet. Irgendwann wird man auch nicht mehr an­ Diskussionen bis zur Aussetzung zweifeln, dass sich der entlastende soziale Er­ der Wehrpflicht satzdienst nicht mehr durch die Wehrpflicht begründen oder halten ließ, leisten doch heu­ Nicht zu übersehen war, dass die Befürwor­ te schon viele zehntausend Jugendliche freiwil­ ter der Wehrpflicht in der kritischen Phase ligen sozialen, kulturellen oder ökologischen seit der Jahrtausendwende politische Argu­ Dienst im In- und Ausland. Es wurde immer mente nutzten, um Interessen zu verfolgen. deutlicher, dass nicht mehr der Staat die Wehr­ Die Bundeswehrführung legte großen Wert pflicht benötigte, sondern dass die Sozialsys­ darauf, das gesamte Potential geeigneter „Be­ teme ihrer bedurften. Wehrpflicht zu fordern, werber“ mustern zu können. Musterungen um den Ersatzdienst zu stärken, das ist ver­ werden von einer großen Zivilverwaltung or­ wirrend. Klarheit und Wahrheit waren einmal ganisiert. Auch deren Mitarbeiter befürchte­ Haushaltsgrundsätze und bestimmten zugleich ten den Verlust ihres Aufgabenbereichs und Kriterien zur Bewertung politischer Maßnah­ die Abschaffung ihrer Behörden. men und Entscheidungen. Wer Argumente ver­ nebelt, politische Maßstäbe verdunkelt, Motive Vor allem aber machten sich Bedenken im verbirgt oder verklärt und wirtschaftliche In­ Bereich sozialer und pflegender Einrichtun­ teressen durch eine Gemeinwohlmetaphorik gen breit. Inzwischen ging es nicht nur um verbrämt, verletzt die Grundsätze politischer den Wehr-, sondern auch um den Ersatz­ Moral, und lebt, um mit Erich Kästner zu spre­ dienst. Denn seitdem der Wehrpflicht das chen, wie alle Moralisten letztlich gefährlich. Recht zur Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe zur Seite gestellt und mit dem Die politische und gesellschaftliche Bedeu­ zivilen Ersatzdienst eine Institution geschaf­ tung der Wehrpflicht hängt vor allem von der fen worden war, die bei aller Kritik an den freiheitlichen Struktur des Verfassungsstaa­ „Ungedienten“ von großer Bedeutung für das tes ab, der sich zum Bürger in Uniform be­ Sozialsystem war, wurde Wehrersatzdienst kennt. Nicht übersehen werden sollte, dass es nicht mehr als Drückebergerei diffamiert, Diktaturen und Obrigkeitsstaaten waren, die sondern als Ausdruck einer sich anders äu­ die Wehrpflicht missbrauchten. Es war ein de­ ßernden, aber gleichwertigen Verantwortung mokratisch legitimierter, freiheitlicher Ver­ für den Staat und seine Gesellschaft empfun­ fassungsstaat, der das Leitbild vom Bürger in den wie der „Dienst mit der Waffe“. Uniform durchsetzte, zum Nutzen des ganzen Gemeinwesens und seiner bewaffneten Macht. Schließlich wurde nach intensiven Diskus­ Wegen dieses Leitbilds ist die Bundeswehr nie­ sionen die Wehrpflicht überraschend schnell mals zum Staat im Staate geworden, nicht we­ ausgesetzt. In dieser Entwicklung spiegeln sich gen der Weh r pflicht , die in der untergega ngenen Zwänge, Notwendigkeiten des Sparens, aber DDR ebenso galt wie in der Bundesrepublik. auch Veränderungen der Sicherheitspolitik wi­ Entscheidend ist der Verfassungsrahmen, das der. Ein Axiom der allgemeinen Wehrpflicht Menschenbild, die Summe der Grundwerte, war die Wahrung des Prinzips der Gleichheit der Respekt vor den Menschenrechten. und der Wehrgerechtigkeit. Dieser Grundsatz wurde nicht mehr erfüllt. Eine Einsatzarmee

APuZ 48/2011 15 Berthold Meyer derlich. Eine umfassende Wehrgerechtigkeit wäre drittens auch nicht mehr gewährleistet.“ Er fügte jedoch hinzu, dies nicht mit Freu­ Vom Ende her de zu sagen, denn die Aussetzung der Wehr­ pflicht sei „eine notwendige, aber mich nicht denken. Bundeswehr­ fröhlich stimmende Entscheidung“. ❙2 In diesen wenigen Sätzen wie auch im un­ reform und Parteien­ terschiedlichen Beifall der Fraktionen wur­ de noch einmal deutlich, dass die Entschei­ demokratie dung zwar unvermeidlich, aber auch sehr schwierig gewesen war, denn für die einen (die meisten Abgeordneten der CDU/CSU ls Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) und ein erheblicher Anteil der SPD-Frak­ Aam 1. März 2011 vor der Presse seinen tion) stellte sie einen schweren Eingriff in Rücktritt vom Amt des Verteidigungsminis­ die Sicherheitskultur der Bundesrepublik ters erklärte, sagte er: dar, für die anderen – nicht nur für die FDP, Berthold Meyer „Es gehört sich, ein sondern auch für Bündnis 90/Die Grünen, Dr. phil, geb. 1944; bis 2010 weitgehend bestelltes Die Linke und Teile der SPD – war sie längst wissenschaftlicher Mitarbei- Haus zu hinterlassen. ­überfällig. ter, Hessische Stiftung Frie- (…) Das Konzept der dens- und Konfliktforschung; Reform steht.“ ❙1 Sein In diesem Beitrag sollen einige Hintergrün­ Honorarprofessor für Frie- Nachfolger Thomas de und Wirkungen der „Neuausrichtung“ dens- und Konfliktforschung, de Maizière (CDU) untersucht werden. Im Folgenden wird zu­ Philipps-Universität Marburg, fand allerdings statt nächst aufgezeigt, wie das Festhalten der bei­ ­Ketzerbach 11, 35032 Marburg. eines bestellten Hau­ den Volksparteien an der Wehrpflicht zwei berthold.meyer@ ses einen Reformtor­ Jahrzehnte lang eine der veränderten Auf­ staff.uni-marburg.de so vor, den auch ein gabenstellung der Bundeswehr angemessene länger im Amt geblie­ Reform verhindert hat. Im zweiten Abschnitt bener Guttenberg trotz seines Sturms und wird gefragt, ob der jetzige Schritt nur dem Drangs nicht zu den angekündigten Termi­ gegenwärtigen Sparzwang oder auch anderen nen hätte realisieren können. Argumenten geschuldet ist. Der dritte Ab­ schnitt stellt die Empfehlungen der Struk­ Mehr als eingehalten wurde jedoch der Zeit­ turkommission zur Bundeswehrreform dem plan für die schon am 15. Dezember 2010 vom Sachstand der Neuausrichtung der Bundes­ Bundeskabinett beschlossene und am 24. Fe­ wehr zum 21. September 2011 gegenüber. bruar 2011 in Erster sowie am 24. März 2011 Schließlich richtet der letzte Teil des Beitrags in Zweiter und Dritter Lesung vom Bundes­ den Blick nach vorn, denn anders als die den tag verabschiedete Wehrdienstreform: Offi­ Anstoß zur Aussetzung gebende Kommissi­ ziell wurde zum 1. Juli 2011 die Pflicht zum on es formulierte, gilt es nicht nur „vom Ein­ Grundwehrdienst ausgesetzt und ein neu­ satz her“, sondern auch von dessen Ende her er freiwilliger Wehrdienst eingeführt. Aber zu denken. schon zum 1. März brauchten nur noch Re­ kruten die Kasernen beziehen, die dies auch wollten. Wehrpflicht als Hemmschuh für Militärreformen seit 1990 In seiner Rede zu Beginn der Zweiten Le­ sung erklärte der neue Minister unter dem In den meisten europäischen Staaten kam Beifall der FDP und eines Teils der Fraktion es nach 1990 zu einschneidenden Verände­ der CDU/CSU: „Die Entscheidung, die Ver­ pflichtung zum Grundwehrdienst auszuset­ ❙1 Guttenberg-Rücktritt: Erklärung im Wortlaut, zen, ist richtig, und sie ist nicht mehr infrage online: www.sueddeutsche.de/ p o l i t i k / ​2.220/gutten ­ zu stellen.“ Er legitimierte dies damit: „Eine bergs-erklaerung-im-wortlaut-ich-habe-die-gren­ zen-meiner-kraefte-erreicht-1.1066386 (12. 9. 2011). Wehrpflichtarmee lässt sich erstens sicher­ ❙2 Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht, heitspolitisch nicht mehr begründen, und 17. Wahl­periode, 99. Sitzung, Berlin, Donnerstag, sie ist zweitens militärisch nicht mehr erfor­ den 24. März 2011, S. 11343.

16 APuZ 48/2011 rungen im Militärsektor. Drei Gründe wa­ gen die Bundesrepublik und ihr demokrati­ ren dafür ausschlaggebend: Erstens erlaubte sches System gerichtet gewesen war, eine an es der Wegfall der Ost-West-Konfrontation, der Inneren Führung ❙4 und ihrem Leitbild die Armeen deutlich zu verkleinern. Dies des „Staatsbürgers in Uniform“ orientierte ermöglichte es zweitens, die Staatshaushal­ politische Bildung entgegenzusetzen. Diese te zu entlasten und den Steuerbürgern et­ Aufgabe konnte jedoch spätestens um 2000, was von der erhofften Friedensdividende nachdem acht bis zehn Jahrgänge gemeinsam zukommen zu lassen. Drittens aber began­ den Grundwehrdienst abgeleistet hatten, als nen sich am Rande und außerhalb Europas erfüllt angesehen werden. vorwiegend innerstaatliche Konflikte blutig zu entladen, denen entweder mit kleineren, Schon im Jahr der Einheit deutete sich an, professionell operierenden Militäreinhei­ dass sich die Aufgaben der Bundeswehr nicht ten Einhalt zu gebieten war, oder bei denen nur durch das Ende des Ost-West-Konflikts Waffenstillstände und Wiederaufbaumaß­ grundlegend ändern würden: Zwar hatte sich nahmen militärgestützt abgesichert werden die Bundesregierung im Zweiten Golfkrieg sollten. Dies verlangte ebenfalls Professio­ 1990/91 noch den Wünschen ihrer Alliier­ nalität, wenn auch mit anderer Akzentset­ ten, Militäreinheiten an den Golf zu entsen­ zung. Für beide Aufgaben waren strukturel­ den, entzogen. Doch bald darauf entschloss le Änderungen der Streitkräfte erforderlich. sie sich, diese Zurückhaltung aufzugeben. Eine Reihe von Staaten leitete diesen Pro­ Das größer gewordene Deutschland wollte zess schon bald mit dem Verzicht auf die sicherheitspolitisch eine aktivere Rolle spie­ Wehrpflicht ein. len und strebte einen Ständigen Sitz im UN- Sicherheitsrat an. Nicht zuletzt, um diesen zu Deutschland nahm bei den Kürzungen erreichen, hielt die Regierung es für nützlich, eine Vorreiterrolle ein, weil der die deutsche die Bundeswehr an Missionen der Vereinten Einheit ermöglichende Zwei-plus-Vier-Ver­ Nationen (UN) zu beteiligen, was allerdings trag vorschrieb, die Personalstärke der Bun­ im Bundestag umstritten war. deswehr Ende 1994 von 495 000 auf 370 000 Soldaten zu vermindern. ❙3 Vollkommen an­ Erst nach der Entscheidung des Bundesver­ ders verhielt es sich mit Blick auf die Wehr­ fassungsgerichts am 12. Juli 1994 zu „Out-of- struktur. Hierzulande erinnerten viele Politi­ area“-Einsätzen der Bundeswehr im Rahmen ker noch lange an das Schreckensszenario der der UN wie der NATO ❙5 wandelte sich die Weimarer Republik, in der eine Berufsarmee Aufgabenstellung der Bundeswehr sukzessi­ zum demokratiefeindlichen Staat im Staat ge­ ve von einer den Verteidigungsfall trainieren­ worden war; ein Szenario, das vor allem im den Truppe zur weltweit operierenden „Ar­ kollektiven Gedächtnis der SPD tiefe Trau­ mee im Einsatz“. Ihre Struktur veränderte mata hinterlassen hat, auch wenn es inzwi­ dies nur oberflächlich: Zwar wurde im Weiß­ schen realitätsfern war. Demgegenüber gab es buch des Bundesverteidigungsministeriums 1990 ein durchaus plausibles Argument, wei­ 1994 zwischen „Hauptverteidigungskräften“ terhin Wehrpflichtige einzuziehen: Die da­ und „Krisenreaktionskräften“ unterschie­ malige Bundesregierung von CDU/CSU und den. Letztere sollten „kurzfristig zusammen FDP sah in Übereinstimmung mit der SPD mit Verbündeten und Partnern zur Bewälti­ im gemeinsam abzuleistenden Wehrdienst gung der wahrscheinlichen internationalen eine Chance, in großer Zahl Jugendliche aus Krisen und Konflikte“ beitragen, die ande­ den neuen und den alten Bundesländern über ren hingegen für den „unwahrscheinlichen einen Lern- und Arbeitszusammenhang zu­ Fall“ der Landes- und Bündnisverteidigung sammenzuführen und so die gesellschaftliche Integration zu fördern. Nicht zuletzt ging ❙4 Die Ausbildungs- und Verhaltensgrundsätze der es darum, einer Generation ostdeutscher Ju­ Inneren Führung sollen dafür sorgen, dass die de­ gendlicher, deren politische Sozialisation ge­ mokratischen Werte und Normen des Grundgesetzes auch für Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr gelten. Vgl. Berthold Meyer, Innere Führung und ❙3 Dabei war zugleich die zu diesem Zeitpunkt noch Auslands­einsätze: Was wird aus dem Markenzeichen 90 000 Mann umfassende Nationale Volksarmee der Bundeswehr? HSFK-Report 2/2009. (NVA) der DDR aufzulösen, von der 18 000 politisch ❙5 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, unbedenkliche Soldaten in die Bundeswehr über­ Band 90, Nr. 16 vom 12. Juli 1994, Tübingen 1994, nommen werden sollten. S. 290.

APuZ 48/2011 17 bereit stehen. ❙6 In der ebenfalls 1994 erlasse­ brachte es zwingend mit sich, dass trotz nen „Konzeptionellen Leitlinie“ für die Bun­ knapper Mittel ein erheblicher Teil des deswehrplanung heißt es: Von den Krisenre­ Stammpersonals allein mit der Ausbildung aktionskräften werde ein so hohes Maß an und Betreuung von Rekruten befasst war, Verfügbarkeit und Professionalität verlangt, deren Anwesenheit bei der Truppe, wie be­ dass sie „überwiegend aus Zeit- und Berufs­ reits damals eingeräumt wurde, vor allem soldaten bestehen“ müssten. Wehrpflichti­ dazu diente, aus ihrer Mitte Nachwuchs für ge seien in ihren Einheiten nur dann zuzu­ längere Verpflichtungszeiten zu gewinnen. lassen, „wenn sie sich bei Dienstantritt bereit Diese Frage warf der damalige Bundesprä­ erklären, für alle Krisenreaktionsaufträge sident Roman Herzog beim vierzigjähri­ zur Verfügung zu stehen“ und „mindestens gen Bestehen der Bundeswehr 1995 vor de­ zwölf Monate dienen“. ❙7 Damit wurde eine ren Kommandeuren auf: „Die Wehrpflicht ist neue Kategorie von „Wehrdienstleistenden“ ein so tiefer Eingriff in die individuelle Frei­ eingeführt, die sich für nicht mehr als 23 Mo­ heit des jungen Bürgers, dass ihn der demo­ nate verpflichteten und deshalb als „freiwillig kratische Rechtsstaat nur fordern darf, wenn länger Dienende“ (FWDL) klassifiziert wur­ es die äußere Sicherheit des Staates wirklich den. Wer hingegen zwischen 24 Monaten und gebietet. Sie ist also kein allgemeingültiges 15 Jahren diente, galt als „Soldat auf Zeit“. ewiges Prinzip, sondern sie ist auch abhän­ gig von der konkreten Sicherheitslage. Ihre Die Begriffe „Hauptverteidigungskräfte“ Beibehaltung, Aussetzung oder Abschaffung und „freiwillig länger dienende Wehrdienst­ und ebenso die Dauer des Grundwehrdiens­ leistende“ zeigen, wie schwer das Ministeri­ tes müssen sicherheitspolitisch begründet wer- um sich damals tat, die notwendigen Konse­ den können. (…) Wehrpflicht glaubwürdig zu quenzen aus der veränderten Weltlage und erhalten, heißt also zu erklären, weshalb wir den eigenen Ambitionen zu ziehen und dies sie trotz des Wegfalls der unmittelbaren äu- der Öffentlichkeit zu vermitteln. Der eine Be­ ßeren Bedrohung immer noch benötigen.“ ❙8 griff suggerierte, dass die Bundeswehr nach Doch eine solche Begründung blieb aus. wie vor hauptsächlich dem in Artikel 87 a, Absatz 1 Grundgesetz (GG) genannten Ziel Da Massenarmeen ohne eine massive Be­ der Verteidigung verpflichtet sei. Folglich drohung nicht mehr gebraucht wurden, redu­ wurde diesem Teil der Streitkräfte auch der zierte die Regierung bis 1998 die Bundeswehr weitaus größte Teil des Personals, vor allem – vor allem aus finanziellen Gründen – von die Grundwehrdienstleistenden zugeteilt, den zunächst vorgesehenen 370 000 auf obwohl der Verteidigungsfall für äußerst un­ 338 000 Soldaten. Dieser Abbau konnte an­ wahrscheinlich gehalten wurde. Der andere gesichts des zunehmenden Bedarfs für Aus­ Begriff war dem Bemühen geschuldet, durch landseinsätze, vor allem auf dem Balkan, nur den Wortteil „Wehrdienst“ die Aufspaltung zu Lasten der Hauptverteidigungskräfte er­ der Streitkräfte in eine Interventionsarmee folgen. Die Plätze für Wehrpflichtige gin­ und eine Heimatschutztruppe zu verhindern. gen daraufhin überproportional zurück. Um Dabei sollte die nunmehr fiktive Gesamt­ den Durchlauf zu vergrößern und die Wehr­ größe der Wehrdienstleistenden als Klam­ gerechtigkeit zu retten, wurde die Grund­ mer zwischen den beiden Teilen der Truppe wehrdienstzeit von zwölf auf zehn Monate ­fungieren. ­verkürzt.

Spätestens ab diesem Zeitpunkt war aber Als SPD und Bündnis 90/Die Grünen im zu fragen, weshalb noch länger 180 000 bis Herbst 1998 eine Koalition bildeten, forder­ 190 000 männliche Angehörige eines Jahr­ ten die Grünen, die Wehrpflicht auszusetzen, gangs eingezogen werden sollten. Denn dies was von großen Teilen der SPD abgelehnt wurde. Beide Parteien beschlossen daher in ❙6 Vgl. Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.), Weißbuch 1994 zur Sicherheit der Bundesrepublik ❙8 Roman Herzog, Vierzig Jahre Bundeswehr – Bi­ Deutschland und zur Lage und Zukunft der Bundes­ lanz und Perspektiven. Rede des Bundespräsidenten wehr, Bonn 1994, S. 89 ff. anlässlich der 35. Kommandeurtagung der Bundes­ ❙7 Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.), wehr in München am 15. November 1995, in: Presse- Konzeptionelle Leitlinie 1994, in: Presse- und Infor­ und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.), mationsamt der Bundesregierung (Hrsg.), Stichworte Bulletin vom 21. November 1995, S. 943. Hervorhe­ zur Sicherheitspolitik, (1994) 9, S. 46. bungen B. M.

18 APuZ 48/2011 ihrer Koalitionsvereinbarung, eine Kommis­ Struck schon am 5. Dezember 2002 öffentlich sion zur Begutachtung der Lage und Zukunft eingeräumt, der klassische Verteidigungs­ der Bundeswehr einzusetzen. Sie arbeite­ auftrag der Bundeswehr sei nicht mehr rea­ te unter Vorsitz des ehemaligen Bundesprä­ listisch, stattdessen müssten Struktur und sidenten Richard von Weizsäcker und attes­ Ausrüstung optimal auf Auslands­einsätze tierte der Bundeswehr am 23. Mai 2000, sie vorbereitet werden, zugleich aber betont, die sei „zu groß, falsch zusammengesetzt und Wehrpflicht sei trotzdem „unabdingbar“. ❙11 zunehmend unmodern. In ihrer heutigen Zum Jahreswechsel 2003/2004 präsentierte Struktur hat die Bundeswehr keine Zukunft. Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan Die Wehrform produziert zu große Perso­ eine „Konzeption und Weiterentwicklung nalumfänge bei gleichzeitig zu schwachen der Bundeswehr“, durch die sich das Profil Einsatzkräften.“ ❙9 Obwohl die Kommission der Streitkräfte weiter zugunsten ihrer Fä­ eine „Erneuerung von Grund auf“ für nö­ higkeit zu Auslandseinsätzen verändern soll­ tig hielt, traute sich ihre Mehrheit nicht, die­ te. In ihr wurde für 2010 ein Gesamtumfang sen Anspruch auch durchzuhalten und nicht von 252 500 Soldaten vorgezeichnet. Damit nur zu fordern, die Größe der Streitkräfte auf war absehbar, dass bis dahin der Anteil der 240 000 Soldaten zu reduzieren, sondern auch Grundwehrdienstleistenden, der 1990 noch die Wehrpflicht auszusetzen, wie dies eine 45 Prozent ausgemacht hatte, bis auf unter Minderheit vorschlug. ❙10 15 Prozent sinken würde.

Anstatt die Kommissionsempfehlungen in Mit der im Herbst 2005 gebildeten Gro­ die Bundeswehrplanung einfließen zu lassen, ßen Koalition ging das Amt des Verteidi­ beauftragte Verteidigungsminister Rudolf gungsministers auf Franz-Josef Jung (CDU) Scharping (SPD) Generalinspekteur Harald über. Er übernahm sowohl den Generalins­ Kujat damit, ein anderes Modell umzuset­ pekteur als auch dessen Planung unverän­ zen, das nur eine Absenkung des Umfangs dert. ❙12 Fasst man die Entwicklung von der der Streitkräfte auf 285 000 Soldaten anstreb­ deutschen Vereinigung bis zum Ende die­ te und an der Wehrpflicht nicht rüttelte, aber ser Koalition im Herbst 2009 zusammen, so den Grundwehrdienst 2002 von zehn auf ergibt sich folgendes Bild: Zwar wurde die neun Monate kürzte. Bundeswehr schrittweise auf etwa 50 Pro­ zent ihres Umfangs verringert und dabei Als Peter Struck (SPD) kurz vor der Bun­ ihr Aufgabenprofil von der Landesvertei­ destagswahl 2002 das Verteidigungsressort digung zur Beteiligung an weltweiten Ein­ übernahm, bekannte er sich sofort zur Wehr­ sätzen in Krisengebieten vollkommen ver­ pflicht. Da die Grünen weiterhin für deren ändert. Aber all das vollzog sich um die Aufhebung eintraten, war es in der Koaliti­ erratisch stehen gebliebene Säule der Wehr­ onsvereinbarung der zweiten rot-grünen Re­ pflicht herum, deren verteidigungspoliti­ gierung im Herbst 2002 wiederum erforder­ sche Notwendigkeit niemand mehr erklä­ lich, einen Formelkompromiss in dieser Frage ren konnte, durch die man aber aus einem zu finden. Er bestand in der Absichtserklä­ ständig neu aufgefüllten Pool junger Män­ rung, noch vor Ende der Legislaturperiode ner Längerdienende gewinnen konnte. Da zu überprüfen, ob weitere Strukturanpas­ die beiden großen Fraktionen, die Unions­ sungen oder Änderungen bei der Wehrver­ parteien, aber auch wesentliche Teile der fassung notwendig seien. Dazu kam es we­ SPD, die Wehrpflicht als unabdingbar an­ gen der 2005 vorgezogenen Neuwahlen nicht sahen, schienen weder FDP noch Bündnis mehr. 90/Die Grünen, die für eine Aussetzung der Wehrpflicht plädierten, als potenzielle klei­ Die weiteren Anpassungsschritte tangier­ nere Koalitionspartner eine Chance zu ha­ ten die Wehrverfassung nicht. Zwar hatte ben, dies durchzusetzen.

❙9 Kommission „Gemeinsame Sicherheit und Zu­ ❙11 Zit. nach Frankfurter Allgemeine Zeitung vom kunft der Bundeswehr“ (Hrsg.), Gemeinsame Sicher­ 6. 12. 2002, S. 1. heit und Zukunft der Bundeswehr. Bericht der Kom­ ❙12 Vgl. Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.), mission an die Bundesregierung, Berlin–Bonn 2000, Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutsch­ S. 13. lands und zur Zukunft der Bundeswehr, Berlin 2006, ❙10 Ebd., S. 147 ff. S. 93.

APuZ 48/2011 19 Koalitionsvereinbarungen von 2009 digungshaushalt hatten hinnehmen müssen und danach gezwungen waren, Größe und und Weise-Kommission Ausrüstung der Streitkräfte dem Etat anzu­ passen. Daher machte er sich zum Vorreiter Wie kam es trotzdem zur Aussetzung der der Sparpolitik, hob aber gleichzeitig hervor, Wehrpflicht 2011? Bei der Unterzeichnung dies dürfe der Bundeswehr nicht an die Sub­ des Koalitionsvertrages am 26. Oktober 2009 stanz gehen. ❙14 hätte wohl niemand damit gerechnet, dass CDU/CSU und FDP in dieser Legislaturpe­ Auf einer Kabinettsklausur am 7. Juni 2010 riode mehr als den dort festgehaltenen wehr­ sagte er Einsparungen von 8,3 Milliarden politischen Minimalkonsens zustande brin­ Euro für die nächsten vier Jahre zu. Dort er­ gen würden: „Die Koalitionsparteien halten hielt er den Auftrag, in Zusammenarbeit mit im Grundsatz an der allgemeinen Wehrpflicht der Weise-Kommission aufzuzeigen, welche fest mit dem Ziel, die Wehrdienstzeit bis zum Folgen eine deutliche Reduzierung der Streit­ 1. Januar 2011 auf sechs Monate zu reduzie­ kräfte um bis zu 40 000 Berufs- und Zeitsol­ ren. Der Bundesminister der Verteidigung daten (BS/SaZ) „für die sicherheitspolitische setzt eine Kommission ein, die bis Ende 2010 Handlungsfähigkeit Deutschlands, die Ein­ einen Vorschlag für Eckpunkte einer neuen satz- und Bündnisfähigkeit, Fragen der Be­ Organisationsstruktur der Bundeswehr, in­ schaffung, die Strukturen und den Gesamt­ klusive der Straffung der Führungs- und Ver­ umfang der Bundeswehr sowie die Wehrform waltungsstrukturen, zu erarbeiten hat.“ ❙13 und deren Ausgestaltung hätte“. ❙15 Hierzu ließ Generalinspekteur Volker Wieker fünf Die Verkürzung der Wehrdienstdauer und Modelle durchrechnen, die der Kommission die Einsetzung einer Wehrstrukturkommissi­ vorgelegt wurden. ❙16 on waren die beiden Teile eines Kompromis­ ses zwischen zwei unvereinbaren Positionen. Insgesamt baute die Weise-Kommission Dem liberalen Argument pro Aussetzung, expressis verbis „auf den Überlegungen der dass keine Wehrgerechtigkeit mehr beste­ ‚Weizsäcker-Kommission‘ auf.“ ❙17 Sie setzte he, wurde durch die Verkürzung des Grund­ ihren Auftrag, „vom Einsatz her zu denken, wehrdienstes ab 1. Juli 2010 um ein Drittel um die Situation der Soldatinnen und Solda­ Rechnung getragen, auch wenn dies von der ten im Einsatz spürbar und messbar zu ver­ Effektivität der Ausbildung her nahezu je­ bessern“, ❙18 zügig um und stellte ihren Bericht dem unvernünftig erschien. Die von den Uni­ am 26. Oktober 2010 der Öffentlichkeit vor. onsparteien abgelehnte Strukturentschei­ Darin betonte sie: „Es gibt viel nachzuholen. dung wurde durch die Kommissionsbildung Die Zeit drängt.“ ❙19 Sie plädierte nicht nur für hingegen erst einmal vertagt. eine Aussetzung der Wehrpflicht, sondern auch für eine deutliche Verringerung des Verteidigungsminister zu Guttenberg setz­ Umfangs der Streitkräfte sowie des zivilen te die Wehrstrukturkommission unter Vor­ Personals und für eine neue Gesamtstruktur sitz des Vorstandsvorsitzenden der Bundes­ der Bundeswehr. agentur für Arbeit Frank-Jürgen Weise am 12. April 2010 ein. Zu Beginn ihrer Tätig­ Statt der Grundwehrdienstleistenden soll­ keit war die zentrale Bedeutung der Aufgabe, te es einen „freiwilligen militärischen Dienst auf Wirtschaftlichkeit zu achten, noch nicht voll absehbar. Das änderte sich, nachdem die ❙14 Vgl. Karl-Theodor zu Guttenberg, Grundsatzre­ Bundesregierung vor dem Hintergrund der de anlässlich des Besuchs der Führungsakademie und Eurokrise Ende April 2010 die Notwendig­ der Kommandeurtagung der Streitkräftebasis am 26. Mai 2010 in . Manuskript, S. 17. keit größerer Einsparungen im Staatshaus­ ❙15 Zit. nach Volker Wieker, Bericht des Generalins­ halt herausstrich. Der Verteidigungsminister pekteurs der Bundeswehr zum Prüfungsauftrag aus wollte offenbar dem Schicksal seiner Vor­ der Kabinettsklausur vom 7. Juni 2010, S. 4. gänger entgehen, die seit Anfang der 1990er ❙16 Vgl. ebd., S. 33 ff. 17 Jahre immer wieder Streichungen am Vertei­ ❙ Strukturkommission der Bundeswehr (Hrsg.), Be­ richt der Strukturkommission der Bundeswehr. Vom Einsatz her denken. Konzentration, Flexibilität, Effi­ ❙13 Wachstum, Bildung, Zusammenhalt. Der Koali­ zienz, Berlin 2010, S. 22. tionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP, Berlin, ❙18 Ebd., S. 22. 26. Oktober 2009, S. 124. ❙19 Ebd., S. 10.

20 APuZ 48/2011 (…) mit einem Dienstpostenumfang von bis schloss. Sie wurde am 29. Oktober, drei Tage zu 15 000 Stellen“ geben. „Die Dauer ist so nach der Veröffentlichung des Weise-Be­ zu bemessen, dass Ausbildung und Qua­ richts, vom CSU-Parteitag in München und lifikation eine Teilnahme an Auslandsein­ drei Wochen später vom CDU-Bundespartei­ sätzen ermöglichen. Dies entspricht einer tag am 15. November in Karlsruhe im Wort­ Dienstzeit von mindestens 15 Monaten.“ ❙20 laut bestätigt. Ihr Text macht deutlich, dass Da zu jenem Zeitpunkt für die Ausbildung die Parteibasis mehr dem Charisma des da­ von 30 000 Grundwehrdienstleistenden und maligen Hoffnungsträgers der Unionspar­ 15 000 FWDL 12 500 Berufs- und Zeitsolda­ teien und den finanziellen Notwendigkeiten ten benötigt wurden, war davon auszugehen, folgte als einer inhaltlichen Neubewertung dass künftig von insgesamt 15 000 freiwil­ der Wehrpflicht, die weiterhin in höchsten lig Dienenden jeweils etwa die Hälfte in der Tönen gelobt wurde. ❙23 Ausbildungsphase stünden. Dafür wären nur noch rund 2500 Ausbilder und Begleiter nö­ Ohne die 2009 im Grundgesetz veranker­ tig. Folglich stünden 10 000 Berufs- und Zeit­ te Schuldenbremse als eine Art Damokles­ soldaten aus der ehemaligen Wehrpflichtperi­ schwert über der künftigen Haushaltspolitik pherie für Einsätze zur Verfügung. hätten die Unionsparteien die Bundeswehr­ reform wahrscheinlich nicht weitgehend so Doch es ging der Kommission nicht nur akzeptiert, wie sie von der Weise-Kommissi­ um eine einsatzorientierte Verwendung die­ on empfohlen wurde. Es wurden zwar noch ser Soldatinnen und Soldaten. Vielmehr kri­ andere Einsichten genannt, die für eine Re­ tisierte sie die „organisatorische Ausprä­ form der Bundeswehrstruktur sprachen, vor gung des Ministeriums und der Bundeswehr allem die veränderte Bedrohungslage sowie (als) viel zu komplex. (…) Dies führt zu ei­ die aktuellen Herausforderungen und Auf­ ner systematisch überstrapazierten Gesamt­ gaben. Es fällt aber auf, dass ein Argument organisation, bei der Zuständigkeiten und nicht auftaucht, das für die Befürwortung Verantwortlichkeiten zwangsläufig unklar der Aussetzung durch den Koalitionspartner bleiben.“ ❙21 Sie sprach sich deshalb für einen FDP maßgeblich war, die nicht mehr darstell­ drastischen Abbau von Hierarchieebenen bare Wehrgerechtigkeit. ❙24 in allen Organisationseinheiten aus. „Das macht die Abstimmungsprozesse einfacher, transparenter und schneller. Die freiwerden­ Personalforderungen des Weise­ den Dienstposten sind konsequent umzu­ Berichts und Ansatz ihrer Realisierung wandeln, so dass sie den Einsatzverbänden zur Verfügung ­stehen.“ ❙22 Während zu Guttenberg bereit schien, eine weitgehend auf den Weise-Vorschlägen ba­ Verteidigungsminister zu Guttenberg war sierende Reform bis 2015 durchzuziehen, es weit vor der Bekanntgabe des Berichts hat de Maizière den Zeitrahmen etwas groß­ schon bewusst, dass an einer Aussetzung der zügiger gesteckt, das heißt, er will die Neu­ Wehrpflicht kein Weg vorbeiführen würde, ausrichtung innerhalb von sechs bis acht Jah­ zumal der zunächst gewählte Weg der Kür­ ren realisieren. ❙25 Die 8,3 Milliarden Euro zung des Grundwehrdienstes sich als nicht Einsparungen, die sein Vorgänger verspro­ zielführend erwies. Für den anstehenden chen hatte, haben sich als illusorisch erwie­ Sprung über den langen Schatten der deut­ sen, um das Projekt durchzuführen. Im Ge­ schen sicherheitspolitischen Kultur in seiner genteil, vor dem Deutschen Bundestag führte eigenen CSU und der Schwesterpartei CDU de Maizière am 7. September 2011 aus: „Nach war noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten. der bisherigen Finanzplanung (…) wäre der Um dies vorzubereiten, beschlossen die Prä­ Verteidigungshaushalt in den nächsten Jah­ sidien von CDU und CSU am 26./27. Sep­ ren kontinuierlich abgesunken und hätte (…) tember eine gemeinsame Erklärung zur „Re­ form der Bundeswehr“, die den Verzicht auf ❙23 Vgl. Berthold Meyer, Bundeswehr ohne Wehr­ die Einberufung zum Grundwehrdienst ein­ pflichtige – Was folgt daraus für die Parlamentsarmee im Einsatz? HSFK-Report 11/2010, S. 19 ff. ❙24 Vgl. ebd, S. 21 f. ❙20 Ebd., S. 28 ❙25 Vgl. „Neuausrichtung der Bundeswehr entschieden“, ❙21 Ebd., S. 30. in: tagesschau.de vom 19. 5. 2011: www.tagesschau.de/ ❙22 Ebd., S. 31. inland/bundeswehrreform166.html (23. 9. 2011).

APuZ 48/2011 21 Tabelle: Vorschläge der Weise-Kommission und Sachstand im September 2011

Weise-Kommission Sachstand der Neuausrichtung 21. 9. 2011 Aussetzung der Musterung und Einbe­ Aussetzung zum 1. Juli 2011, an ihre Stelle treten mindestens rufung der Wehrpflichtigen zum Grund­ 5000 freiwillig Wehrdienst leistende Männer und Frauen mit wehrdienst; aber freiwilliger militärischer einer Probezeit von sechs und einer Gesamtdauer von zwölf Dienst von 15 000 Männern und Frauen von bis 23 Monaten; die Wehrerfassung bei den Kreiswehrer­ 15 bis 23 Monaten. satzämtern bleibt vorerst erhalten; ein neues Konzept der Nachwuchsgewinnung wird erarbeitet. Verdoppelung der Fähigkeit, Soldaten in „Konkrete nationale Zielvorgabe ist die Befähigung zum Auslandseinsätze zu entsenden, von derzeit gleichzeitigen durchhaltefähigen Einsatz von bis zu 10 000 7000 auf ca. 15 000. Soldatinnen und Soldaten bei Übernahme der Verantwortung einer Rahmennation für landgestützte Einsätze in bis zu zwei Einsatzgebieten und zusätzlich einem maritimen Einsatz.“ Verringerung des Gesamtumfangs der Streitkräfteumfang bis zu 185 000 Soldaten, davon bis zu Streitkräfte von ca. 250 000 auf 180 000 170 000 Berufs- und Zeitsoldaten einschließlich 2500 Reser­ Soldaten. visten, sowie 5000 bis 15 000 freiwillig Wehrdienstleistende: „Das Heer wird künftig 57 570, die Luftwaffe 22 550, die Ma­ rine 13 050, die Streitkräftebasis 36 750 und der Sanitätsdienst 14 620 Soldatinnen und Soldaten umfassen. Weitere 30 460 befinden sich turnusmäßig in Ausbildung (…) und stehen in dieser Zeit nicht für Einsätze zur Verfügung.“ Verringerung der Hierarchieebenen und Die zivile Personalstärke soll auf 55 000 verringert, die des zivilen Personals der Bundeswehr von Hierarchieebenen sollen gestrafft und die Zahl der Ministe­ 75 000 auf ca. 50 000, insbesondere Halbie­ riumsarbeiter soll von 3000 auf rund 2000 reduziert werden. rung der Dienstposten im Ministerium von Der Vorschlag eines vollständigen Umzugs nach Berlin ist über 3000 auf unter 1500, wobei diese alle aufgrund des Berlin­Bonn­Gesetzes bis auf Weiteres irrele­ in Berlin ansässig sein sollen, während sie vant. jetzt noch mehrheitlich in Bonn tätig sind. Quellen: Strukturkommission der Bundeswehr (Anm. 17); Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.), Sachstand zur Neuausrichtung der Bundeswehr. Nationale Interessen wahren – Internationale Verantwor­ tung übernehmen – Sicherheit gemeinsam gestalten, Berlin, 21. 9. 2011; Regierungserklärung von Thomas de Maizière zur Neuausrichtung der Bundeswehr vom 27. Mai 2011, in: Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht, 17. Wahlperiode, 112. Sitzung, Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011, S. 12817.

2015 einen Umfang von 27,6 Milliarden Euro sonals sowohl im Ministerium selbst wie in erreicht.“ Dies sei nicht mehr die Zielgröße, den nachgeordneten Behörden, weil der Ab­ sondern 30,4 Milliarden Euro. ❙26 bau eines Beamtenapparates durch sich selbst nur sehr zäh möglich ist. Die Tabelle zeigt an drei Stellen deutliche Unterschiede zwischen den Vorstellungen der Weise-Kommission und dem derzeitigen Weniger vom Einsatz Stand der Neuausrichtung: erstens bei der als vom Ende her denken geplanten Zahl von freiwillig Wehrdienst­ leistenden, jetzt wird von einem Minimum Abschließend soll das Vorhaben der Anhe­ von 5000 Personen ausgegangen, da es sich bung der gleichzeitig im Einsatz stehenden zumindest in der Übergangszeit als schwie­ Kräfte etwas näher betrachtet werden. Die rig erwiesen hat, mehr Freiwillige zu finden. Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee. Die Zweitens bei der Steigerungsrate von gleich­ herausragende Rechtsstellung des Parlamen­ zeitig im Einsatz stehenden Streitkräften: tes gegenüber der Bundeswehr konstitu­ hier wird von nicht mehr als 10 000 Soldatin­ iert zugleich dessen zentrale Verantwortung nen und Soldaten ausgegangen, weil eine hö­ für jeden Einsatz dieses Machtinstruments here Anzahl politisch nicht durchsetzbar sein wie für die damit beauftragten Soldatinnen dürfte. Drittens beim Abbau des zivilen Per­ und Soldaten. Nachdem „Verteidigung“ als Hauptfunktion der Streitkräfte nach Arti­ kel 87 a, Absatz 1 GG obsolet geworden ist, ❙26 Rede von Verteidigungsminister de Maizière vor dem Bundestag am 7. September 2011, online: kommen nach Artikel 87 a, Absatz 2 GG nur www.thomasdemaiziere.de/RedeVerteidigungshaus­ solche Einsätze in Frage, die das Grundge­ halt07092011.pdf (6. 10. 2011). setz „ausdrücklich zulässt“. Das Bundesver­

22 APuZ 48/2011 fassungsgericht hat dies in seiner Entschei­ stehen sollen, von 7000 auf 10 000 darf nicht dung vom 12. Juli 1994 zur Zulässigkeit von zu einer erhöhten Einsatzfreudigkeit füh­ Auslandseinsätzen festgeschrieben. Dem­ ren, die sich in einer Ausweitung vorhande­ nach sind Einsätze nur zulässig, „wenn und ner Mandate oder schnelleren Zustimmung soweit sie strikt auf die Friedenswahrung zu neuen Missionen äußern könnte. Auch verpflichtet sind“. ❙27 Entscheidend für die ge­ wenn gegenwärtig wegen der Akzeptanz­ sellschaftliche Einbindung der „Armee im probleme der ISAF-Beteiligung eher eine Einsatz“ als Parlamentsarmee ist dabei der Zurückhaltung des Bundestages zu erwarten Rechtsbescheid, das Grundgesetz gebiete, ist, sollte er künftig jeden Verlängerungsan­ „für einen Einsatz bewaffneter Streitkräfte trag der Bundesregierung äußerst skrupulös die – grundsätzlich vorherige – konstituti­ daraufhin prüfen, ob und wie lange sowie ve Zustimmung des Deutschen Bundestages mit welchem personellen Aufwand und wel­ einzuholen“. ❙28 cher Ausrüstung ein Verbleiben im Einsatz­ gebiet notwendig ist und ob die Truppe re­ Fast alle vom Bundestag legitimierten Bun­ duziert, umstrukturiert oder gar abgezogen deswehreinsätze der vergangenen eineinhalb werden kann. Jahrzehnte entsprachen diesen Anforderun­ gen. Auch der Einsatz der Internationalen Dieselbe Sorgfalt muss erst recht für jeden Sicherheitsunterstützungstruppe (ISAF) in neuen Antrag gelten. Dilemmata wie im Fal­ Afghanistan war als eine von der UN man­ le der Verlängerungen des ISAF-Mandates datierte humanitäre Intervention geplant und sind kaum zu vermeiden, wenn eine Truppe wurde in den ersten Jahren auch so geführt. erst einmal entsandt worden ist, denn dann Er zeigt aber, wie groß die Gefahr ist, in ei­ bedeutet die Verweigerung eines Verlänge­ nen Krieg hineingezogen zu werden, in dem rungsantrags durch den Bundestag auch ein man nolens volens zur Partei wird und gerade Misstrauensvotum gegen die antragstellende deshalb nicht einfach abziehen kann, obwohl Regierung, weshalb Abgeordnete der jewei­ Kampfeinsätze der Bundeswehrkontingente ligen Koalition manchmal auch widerwil­ dem ursprünglichen Mandat und seinen Zie­ lig Mandate absegnen, die ihnen suspekt er­ len nicht mehr entsprechen. Dadurch steht scheinen. der Bundestag seit mehreren Verlängerungs­ entscheidungen vor einem Dilemma, welches Seit Gründung der Bundeswehr haben er durch das Bemühen um eine über die je­ das Konzept der Inneren Führung und ihr weilige Koalitionsmehrheit hinausgehende Leitbild des „Staatsbürgers in Uniform“ Zustimmung aus den Reihen der Oppositi­ als Ausbildungsprinzipien und Verhaltens­ onsparteien abmildern, aber nicht auflösen grundsätze für die Demokratieverträglich­ kann. keit der Streitkräfte gesorgt. Dabei wurden aber nicht nur die Grundwehrdienstleisten­ „Vom Einsatz her denken“ beinhaltet an­ den nach diesem Konzept und Leitbild aus­ gesichts dieser Erfahrung „vom Ende“ eines gebildet, sondern auch alle anderen Soldaten. solchen her zu denken. Das heißt: Der Bun­ Für die Bundeswehr als Freiwilligenarmee destag hat alle Wünsche der UN, der NATO hat der Bundestag darüber zu wachen, dass oder auch der Europäischen Union zur Be­ diese Prinzipien auch eingehalten und mit teiligung der Bundeswehr vor seiner even­ Blick auf die Einsatzrealitäten weiter ausge­ tuellen Zustimmung sorgfältig daraufhin baut werden, denn in allen erlaubten Fällen zu befragen, ob sie dem zentralen Kriteri­ haben die Soldaten auch demokratiefördern­ um der strikten Friedenswahrung nicht nur de Aufgaben, worauf sie durch die Ausbil­ aktuell, sondern auch auf mittlere Sicht, das dung in Innerer Führung am besten vorbe­ heißt bis zu dem erwarteten Endzeitpunkt reitet werden können. des Engagements, entsprechen. Das bedeu­ tet zugleich: Die vorgesehene Aufstockung der Kräfte, die gleichzeitig für zwei länger währende Auslandseinsätze zur Verfügung

❙27 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Anm. 5), S. 349. ❙28 Ebd., S. 290.

APuZ 48/2011 23 Wenke Apt rung der Personalgewinnung bleibt jedoch be­ stehen. Hauptzielgruppe der Bundeswehr sind ungediente Frauen und Männer mit deutscher Herausforderungen Staatsbürgerschaft zwischen 17 und 24 Jah­ ren, die sich in der Orientierungsphase für für die Personalgewin­ Ausbildung und Beruf befinden. Dabei wird verstärkt gut ausgebildetes und technisch ver­ siertes Personal mit einer hohen physischen nung der Bundeswehr und psychischen Belastbarkeit nachgefragt. Im Bericht des Generalinspekteurs wurde das ereits heute kann die Bundeswehr ihren soldatische Anforderungsprofil zuletzt um­ BBedarf an Soldatinnen und Soldaten nicht fassend umrissen. Demnach werden hervor­ decken. Seit Jahren sind etwa 7000 Stellen nicht ragend qualifizierte und motivierte Soldaten besetzt. ❙1 Verschiede­ mit einem hohen Maß an Sozialkompetenz, Wenke Apt ne Trends im gesell­ Führungsstärke und Flexibilität benötigt, die Dr. rer. pol., geb. 1981; wis- schaftlichen Umfeld in einem komplexen Umfeld, schnell, voraus­ senschaftliche Mitarbeiterin der Bundeswehr deu­ schauend und mit der nötigen Umsicht agie­ im Bereich demografischer ten darauf hin, dass ren können. Die Soldaten sollten in der Lage Wandel der VDI/VDE-IT GmbH, die Herausforderun­ sein, den politischen und kulturellen Kontext ­Steinplatz 1, 10623 Berlin. gen der Personalge­ ihres Einsatzes zu verstehen, ihr Handeln ent­ [email protected] winnung in den nächs­ sprechend anzupassen und auch dem Druck ten Jahren eher noch standzuhalten, in kürzester Zeit Entschei­ zunehmen werden. Als wichtige Risiken gel­ dungen treffen zu müssen, die zum Teil von ten generell die demografische Entwicklung, großer persönlicher, militärischer oder politi­ der Anstieg des Bildungsniveaus, der Gesund­ scher Tragweite sind. ❙6 Da eher junge Solda­ heitszustand der Jugendlichen und der gesell­ ten die Hauptlast militärischer Einsätze tra­ schaftliche Wertewandel. ❙2 gen, sind insbesondere die direkt am Kampf beteiligten Einheiten auf einen kontinuierli­ chen Nachschub junger, leistungsfähiger und Personalbedarf der Streitkräfte vielseitiger Soldaten angewiesen.

Im Jahr 2010 beschäftigte die Bundeswehr 234 650 Soldaten: 188 850 Berufs- und Zeit­ Demografische Entwicklung soldaten, 23 500 Grundwehrdienstleistende (GWDL) und 22 200 freiwillig länger Wehr­ Die demografische Entwicklung der Bevölke­ dienst Leistende (FWDL). Der strukturell rung bildet für die militärische Nachwuchsge­ bedingte Ergänzungsbedarf lag jährlich bei winnung eine wesentliche Planungsgrundlage. rund 25 000 Soldaten auf Zeit. Rund ein Drit­ tel davon wurde durch Erstverpflichtungen in ❙1 Vgl. Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.), der Truppe gedeckt, der Rest durch externe Bericht des Generalinspekteurs der Bundeswehr zum Nachwuchsgewinnung. Im Zuge der Struk­ Prüfauftrag aus der Kabinettsklausur vom 7. Juni 2010, S. 25. turreform der Bundeswehr wurde die Wehr­ ❙2 Vgl. National Audit Office; Recruitment and Re­ pflicht zum 1. Juli 2011 ausgesetzt und die Ge­ tention in the Armed Forces, Ministry of Defence, samtstärke auf 210 550 Soldaten reduziert. Als Report by the Comptroller and Auditor General, HC Freiwilligenarmee stellt die Bundeswehr nun 1633-I Session 2005–2006 (2006), S. 32. 3 188 000 Berufs- und Zeitsoldaten und 22 550 ❙ Bundesministerium der Verteidigung, Antwort FWDL. ❙3 Der jährliche Ergänzungsbedarf auf persönliche Anfrage bei Personal-, Sozial- und Zentralabteilung am 29. September 2011. ist entsprechend auf 18 400 Soldaten auf Zeit ❙4 Bundesministerium der Verteidigung, Antwort 4 und 4000 FWDL gesunken. ❙ Für die nächs­ auf persönliche Anfrage bei Personal-, Sozial- und ten Jahre sind weitere Umfangsreduzierungen Zentralabteilung am 15. November 2011 (Stand No­ geplant. Die im Rahmen der Strukturreform vember 2011). 5 festgelegte Sollstruktur sieht einen Gesamt­ ❙ Der zukünftige Ergänzungsbedarf ergibt sich aus umfang von 170 000 Berufs- und Zeitsoldaten der laufenden Feinausplanung der neuen Personal­ struktur und liegt erst mit dem neuen Personalstruk­ exklusive einem Anteil von 5000 bis 15 000 turmodell im Jahr 2012 vor. FWDL vor. Der Ergänzungsbedarf wird da­ ❙6 Vgl. Bundesministerium der Verteidigung (Anm. 1), mit weiter zurückgehen. ❙5 Die herausforde­ S. 15.

24 APuZ 48/2011 Tabelle 1: Entwicklung der Bevölkerung in Deutschland von 2010 bis 2060 (in Tsd.)

2010 2020 2030 2040 2050 2060 Gesamtbevölkerung 81 545 79 914 77 350 73 829 69 412 64 651 prozentuale Veränderung 100 % 98 % 95 % 91 % 85 % 79 % 18–19-jährige Bevölkerung 848 733 676 667 586 536 prozentuale Veränderung 100 % 86 % 80 % 79 % 69 % 63 % Quelle: Statistisches Bundesamt, 12. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, Variante 1 – W1: Unter­ grenze der „mittleren“ Bevölkerung (2010).

Sie gibt Auskunft darüber, wie viele Personen Entsprechend dem Wiederanstieg der Gebur­ sich gegenwärtig und zukünftig in einem rek­ tenzahlen ab 1994 wird für den Zeitraum zwi­ rutierungsrelevanten Alter befinden. Von be­ schen 2012 und 2018 eine leichte Zunahme der sonderem Interesse sind daher Veränderungen 18-jährigen männlichen Bevölkerung auf 50 in der Altersstruktur und die Entwicklung der bis 60 Prozent des Niveaus von 2006 prognos­ Jugendbevölkerung. Bei der Fortsetzung der tiziert. In den folgenden Jahren bis etwa 2027 aktuellen demografischen Entwicklung wird wird sich die Größe dieser Bevölkerungsgrup­ die deutsche Bevölkerung von etwa 81,5 Mil­ pe stabilisieren. Danach wird der Abwärts­ lionen Menschen im Jahr 2010 auf 64,6 Mil­ trend wieder an Dynamik gewinnen, und ab lionen Menschen im Jahr 2060 zurückgehen 2050 dürfte die Zahl der 18-jährigen Männer (minus 21 Prozent) zurückgehen. Die Jugend­ in den ostdeutschen Bundesländern bei 35 bis bevölkerung wird im gleichen Zeitraum um 45 Prozent des Niveaus von 2006 liegen. ein Mehrfaches schrumpfen. Beispielhaft ist in Tabelle 1 die zukünftige demografische Ent­ In den westdeutschen Bundesländern wird wicklung der 18- bis 19-jährigen Bevölkerung der Rückgang der Jugendbevölkerung gemä­ in Deutschland abgebildet. Ab dem Jahr 2010 ßigter verlaufen als in den ostdeutschen. Dabei sinkt die Größe dieser Bevölkerungsgruppe erwartet man für zwei westdeutsche Länder von 848 000 Personen auf 536 000 im Jahr 2060 jedoch eine relativ untypische Entwicklung. (minus 37 Prozent). Im Saarland wird der Rückgang der Jugendbe­

In den einzelnen Regionen Deutschlands wird die demografische Entwicklung sehr Abbildung 1: Prozentuale Veränderung in der unterschiedlich ausfallen. Zwar erwartet 18-jährigen männlichen Bevölkerung nach West- und Ostdeutschland eine ähnliche de­ Bundesland (ohne Berlin) bis 2060 mografische Zukunft, allerdings werden die 120 120 Auswirkungen des demografischen Wandels SL NI RP NW BW BY HH Ostdeutschland früher und in größerem Aus­ 100 100 maß treffen. Dabei vertieft sich die demogra­ SH HBHE fische Spaltung des Landes bereits seit Anfang 80 80 der 1990er Jahre – durch eine rasch alternde, schrumpfende Bevölkerung in Ostdeutschland 60 60 und eine zwar ebenfalls alternde, aber weiter wachsende Bevölkerung in Westdeutschland. 40 40 Die beiden wesentlichen Ursachen für diese ST TH SN BB MV 20 20 Entwicklung sind regionale Fertilitätsunter­ schiede und Wanderungsbewegungen. 0 0 2006 2012 2018 2024 2030 2036 2042 2048 2054 2060 Abbildung 1 veranschaulicht den relativen Prognosejahre Rückgang der Jugendbevölkerung zwischen Abkürzungen: BB: Brandenburg, BW: Baden­Württemberg, BY: 2006 und 2060 anhand der rekrutierungsre­ Bayern, HB: Bremen, HE: Hessen, HH: Hamburg, MV: Meck­ levanten Bevölkerungsgruppe der 18-jähri­ lenburg­Vorpommern, NI: Niedersachsen, NW: Nordrhein­ gen Männer. Auffällig in der nach Bundeslän­ Westfalen, RP: Rheinland­Pfalz, SH: Schleswig­Holstein, SN: Sachsen, SL: Saarland, ST: Sachsen-Anhalt, TH: Thüringen. dern differenzierten Darstellung ist der rapide Quelle: 2006–2008: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Ergebnisse Rückgang in den fünf ostdeutschen Ländern der 11. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung, ab 2009: zwischen 2006 und 2012, der auf den so ge­ dies. (Hrsg.), Ergebnisse der 12. koordinierten Bevölkerungsvo­ nannten „Wendeknick“ zurückzuführen ist. rausberechnung. Eigene Darstellung.

APuZ 48/2011 25 Tabelle 2: Entwicklung der Schulabschlussquoten einer mangelnden Bildungsintegration von zwischen 1996 und 2008 Schülern mit Migrationshintergrund sowie ei­ ner anhaltend hohen Schulabbrecher-Quote. ❙9 Abschluss- Altersgruppe 1996 2008 Differenz art Gleichzeitig kam es in den vergangenen Jahren Hauptschule 15–17 Jahre 31 % 29 % –2 % zu sichtbaren Veränderungen in den Schulab­ schlussquoten: Bezogen auf die Bevölkerung Mittlere 16–18 Jahre 46 % 51 % 5 % Reife im jeweils typischen Abschlussalter ging die Fachhoch­ 18–21 Jahre 9 % 14 % 5 % Bedeutung des Hauptschulabschlusses zu­ schulreife rück, während sich ein anhaltender Trend zur Hochschul­ 18–21 Jahre 28 % 32 % 4 % Mittleren Reife und (Fach-)Hochschulreife reife abzeichnete (siehe Tabelle 2).

Quelle: Bildung in Deutschland 2008 (Anm. 8), S. 87f.; Bildung Parallel zu diesem Anstieg an höherqua­ in Deutschland 2010 (Anm. 8), S. 88. lifizierten Schulabschlüssen verlassen jedes Jahr viele Jugendliche die allgemeinbildende völkerung in 15 bis 20 Jahren eine ähnliche Di­ Schule ohne einen Abschluss. In der Alters­ mension wie in Ostdeutschland erreicht haben. gruppe der 15- bis unter 17-Jährigen been­ Um das Jahr 2025 wird die Zahl 18-jähriger deten im Jahr 2008 demnach 65 000 Schüler Männer hier noch etwa 60 Prozent des Bestan­ die Schule, ohne zumindest über den Haupt­ des von 2006 aufweisen, und auch danach wird schulabschluss zu verfügen. Dies entspricht der Abwärtstrend weiter anhalten. Dagegen einer Abgängerquote von knapp acht Pro­ ist Hamburg das einzige Bundesland, in dem zent. Seit 2004 ist diese Quote leicht rückläu­ die Bevölkerungsgröße 18-jähriger Männer in fig, dennoch verlässt immer noch ein relativ etwa 30 Jahren wieder das Niveau von 2006 großer Anteil von Jugendlichen das allge­ erreichen wird, bevor sie dann bis zum Ende meinbildende Schulwesen ohne die entschei­ des Betrachtungszeitraums auf ein Niveau von dende Grundvoraussetzung für die weitere etwa 75 Prozent des Ausgangsbestandes ab­ Bildungs- und Erwerbsbiografie. ❙10 Dabei ver­ sinkt. Eine ähnliche Entwicklung – wenn auch lassen mehr Jungen als Mädchen und doppelt auf niedrigerem Niveau – wird für Bremen er­ so viele Schüler mit ausländischer Staatsange­ wartet. Bei den größeren Flächenländern er­ hörigkeit die Hauptschule ohne Abschluss. ❙11 scheint die prognostizierte Entwicklung der Jugendbevölkerung in Bayern, Hessen und Ba­ Der relativ sinkende Hauptschüleranteil und den-Württemberg vergleichsweise gut. die steigenden Übergangsquoten zum Gymna­ sium suggerieren zwar ein verbessertes Quali­ fikationsniveau der heranwachsenden Bevöl­ Bildung kerung. Jedoch spiegelt sich dies nur bedingt im erfassten Kompetenzstand der Schüler wi­ Infolge des wirtschaftlichen Strukturwan­ der. Bei der PISA-Erhebung aus dem Jahr 2000 dels, des technologischen Fortschritts und des lagen die Fähigkeiten deutscher Schüler in den gesellschaftlichen Wandels zur tertiären Wis­ Schlüsselbereichen Lesen, Mathematik und sensgesellschaft vollzog sich in Deutschland Naturwissenschaften unterhalb des OECD- ab den 1970er Jahren ein Trend zur Höher­ Durchschnitts. ❙12 qualifizierung. ❙7 Seit Anfang der 1990er Jahre ist jedoch eine weitgehende Bildungsstagnati­ Zwischen 2000 und 2006 verbesserten sich on zu beobachten. ❙8 Diese äußert sich in be­ die Leistungen deutscher Schüler zwar in grenzten Fortschritten bei der Verbesserung der Schülerkompetenzen in den Schlüsselbe­ ❙9 Vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung reichen Lesen, Mathematik und Naturwissen­ (Hrsg.), Bildung in Deutschland 2008. Ein indikato­ schaften, einer wachsenden Kluft zwischen rengestützter Bericht mit einer Analyse zu Übergän­ den Leistungsschwächsten und -stärksten, gen im Anschluss an den Sekundarbereich I, Bielefeld 2008; dies. (Hrsg.), Bildung in Deutschland 2010. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu ❙7 Vgl. Holger Bonin et al., Zukunft von Bildung und Perspektiven des Bildungswesens im demografischen Arbeit. Perspektiven von Arbeitskräftebedarf und Wandel, Bielefeld 2010. -angebot bis 2020, IZA Research Report No. 9/2007. ❙10 Vgl. Bildung in Deutschland 2010 (Anm. 8), S. 90. ❙8 Vgl. Stefan Hradil, Die Sozialstruktur Deutschlands ❙11 Vgl. Bildung in Deutschland 2008 (Anm. 8), S. 90. im internationalen Vergleich, Wiesbaden 2004, S. 141. ❙12 Vgl. ebd., S. 82.

26 APuZ 48/2011 Tabelle 3: Abgänger und Absolventen 2008 bis 2025 nach Abschlussarten (in Tsd.)

Abschlussart 2008 2010 2015 2020 2025 2008 vs. 2025 (%) allgemeinbildender Schulabschluss 1220 1134 1092 980 925 –24 % ohne Hauptschulabschluss 65 60 57 53 52 –20 % Hauptschulabschluss 247 209 187 166 158 –36 % Mittlere Reife 467 429 412 364 344 –26 % Fachhochschulreife 131 132 129 115 108 –18 % Hochschulreife 311 304 306 281 264 –15 % Quelle : Bildungsbericht 2010 (Anm. 8), S. 154.

Mathematik und den Naturwissenschaften; Damit würden Kapazitäten für weitere 64 000 nicht überall gab es jedoch Fortschritte in der Studienanfänger benötigt. Generell wird ge­ Lesekompetenz, und die Leistungsstreuung schätzt, dass die Nachfrage nach Hochschul­ war in allen drei Kompetenzbereichen immer bildung mindestens noch bis zum Jahr 2025 noch erheblich. ❙13 Zudem ist der Zusammen­ auf einem sehr hohen Niveau bleiben wird. ❙17 hang zwischen sozialer Herkunft und der Dies würde das Rekrutierungspotential unter Schülerleistung in Deutschland ausgeprägter jungen Schulabsolventen weiter reduzieren. als in anderen OECD-Staaten. Insbesonde­ re Schüler mit Migrationshintergrund haben deutliche Nachteile in der Kompetenzent­ Gesundheit wicklung. Dabei ist vor allem der Leistungs­ rückstand der zweiten Zuwanderergenera­ Ungeachtet der fortschreitenden Technolo­ tion beträchtlich und hat sich seit dem Jahr gisierung militärischer Aufgaben stellt der 2000 noch vergrößert. ❙14 Soldatenberuf weiterhin hohe physische An­ forderungen. ❙18 Eine Vielzahl militärischer In den nächsten Jahren wird der demogra­ Tätigkeiten erfordert von den Soldaten ein fische Wandel einen deutlichen Rückgang der hohes Maß an konditioneller und motori­ Absolventenzahlen bedingen (siehe Tabel- scher Leistungsfähigkeit, also Kraft, Aus­ le 3). Laut einer Bildungsvorausberechnung dauer, Schnelligkeit, Koordination und Be­ des Bundes wird sich bis zum Jahr 2025 die weglichkeit. Insbesondere das Heben und Zahl der Absolventen beziehungsweise Ab­ Tragen von schweren Lasten sowie die Ge­ gänger um 24 Prozent verringern. Auch unter wichtsbelastung durch die soldatische Aus­ Berücksichtigung der insgesamt rückläufi­ rüstung verursachen eine „Lastproble­ gen Absolventenzahlen wird die Hauptschu­ matik“, die sich im Einsatz angesichts der le dabei überproportionale Rückgänge ver­ hohen Belastungsdauer und extremer Bedin­ zeichnen (minus 36 Prozent). Die geringste gungen in Bezug auf Schlafmangel, Versor­ prozentuale Veränderung wird für die Gym­ gungsengpässe, Klima und Geländebeschaf­ nasien prognostiziert (minus 15 Prozent). fenheit noch verstärkt. ❙19 Für die Erfüllung zukünftiger militärischer Aufgaben wird Durch die steigende Bildungsbeteiligung die Bedeutung sogenannter „human factors“ hat sich ein größerer Anteil der Jugendlichen wie Alter, Geschlecht sowie Gesundheits- eine Studienberechtigung erworben. Die Stu­ und Trainingszustand der Soldaten weiter­ dienanfängerquote hat sich in den vergange­ hin eine wichtige Rolle spielen. ❙20 Einsatzef­ nen Jahren entsprechend erhöht, beispiels­ fektivität und -erfolg wären demnach nicht weise von 26 Prozent im Jahr 1995 ❙15 auf gewährleistet, wenn die soldatischen Leis­ 34 Prozent im Jahr 2008. ❙16 Bis zum Jahr 2015 tungsanforderungen nicht in großem Maße plant der Hochschulpakt der Bundesregie­ mit den Fähigkeiten des verfügbaren Perso­ rung zusätzliche 275 000 Studienanfänger ein. ❙17 Vgl. ebd., S. 13. ❙18 Vgl. Ulrich Rohde et al., Leistungsanforderun­ ❙13 Vgl. ebd. gen bei typischen soldatischen Einsatzbelastungen, ❙14 Vgl. ebd., S. 85. in: Wehrmedizinische Monatsschrift, (2007) 5–6, ❙15 Vgl. OECD, Education at a Glance, Paris 2009, S. 138–142. S. 60. ❙19 Vgl. ebd., S. 138. ❙16 Vgl. Bildungsbericht 2010 (Anm. 8), S. 122. ❙20 Vgl. ebd., S. 139.

APuZ 48/2011 27 nals übereinstimmten. Allerdings zeichnet dürfte. ❙22 Unterdessen bleibt der BMI weib­ sich in diesem Zusammenhang eine Diskre­ licher Bewerber für die Bundeswehr weitge­ panz zwischen Personalangebot und -nach­ hend konstant und weist keinen altersspe­ frage ab: Während die physischen und psy­ zifischen Anstieg auf. Jedoch kommt es bei chischen Anforderungen an die Soldaten Frauen ab dem Alter 20 zu einem signifikan­ bereits sehr hoch sind und aller Voraussicht ten Anstieg der Durchfallquote. Daher han­ nach weiter ansteigen werden, deuten empi­ delt es sich bei männlichen Bewerbern um rische Analysen auf erhebliche gesundheitli­ ein „isoliertes Gewichtsproblem“ und bei che Risiken und Defizite in der Bevölkerung weiblichen Bewerbern um ein „isoliertes Fit­ hin, insbesondere im rekrutierungsrelevan­ nessproblem“. ❙23 ten Alter. Zwischen 2000 und 2004 erfüllten 37 Pro­ Dazu zählen die frühe Fixierung gesund­ zent der männlichen und 39 Prozent der heitsschädigender Verhaltensweisen wie Al­ weiblichen Bewerber für die Bundeswehr die kohol- und Tabakkonsum, die zunehmen­ Minimalanforderungen der physischen Leis­ de Verbreitung einer bewegungsarmen und tungsfähigkeit nicht. Insbesondere ab 2001 kalorienreichen Lebensweise, die steigen­ kam es unter männlichen Bewerbern zu ei­ de Prävalenz von Übergewicht und motori­ nem signifikanten Anstieg der PFT-Durch­ schen Defiziten sowie die große Anzahl He­ fallquoten. ❙24 Auffällig war dabei der Fitness- ranwachsender mit allergischen, chronischen Rückgang im obersten Bildungssegment. Die oder psychischen Beschwerden. In Anbe­ PFT-Durchfallquote von Gymnasiasten stieg tracht der verminderten Belastbarkeit und innerhalb des Untersuchungszeitraums um der Vielzahl an Begleit­erkrankungen (zum mehr als 35 Prozent. Die physischen Leis­ Beispiel Bluthochdruck, Diabetes Typ II) ist tungsanforderungen im Annahmeverfahren die zunehmende Verbreitung von Überge­ wurden daher weiter gesenkt. ❙25 wicht unter Kindern und Heranwachsenden für die militärische Personalgewinnung von besonderer Relevanz. Wertewandel

Vor diesem Hintergrund hat das zentrale Darüber hinaus sind die Wertorientierungen Institut des Sanitätsdienstes der Bundeswehr der heutigen Jugendlichen nur bedingt mit den hat die physische Leistungsfähigkeit von Be­ soldatischen Anforderungen zu vereinbaren. werbern analysiert und alters- beziehungs­ Laut Shell-Jugendstudie sind im Wertesystem weise geschlechtsspezifische Unterschiede der 12- bis 25-jährigen Bevölkerung vor allem bei der Verbreitung von Übergewicht fest­ „Private Harmonie“ (Familie, Freunde) und gestellt. Insbesondere bei den männlichen „Individualität“ (Unabhängigkeit, Entfaltung Heranwachsenden zwischen 17 und 26 Jah­ eigener Kreativität) von großer Bedeutung. ren ist mit zunehmendem Alter ein mono­ Die geringste Wertschätzung erfahren Orien­ toner Anstieg von Körpergewicht und Body tierungen im Komplex „Tradition und Kon­ Mass Index (BMI) zu beobachten. ❙21 Zwar formität“. Insbesondere „an Althergebrach­ ist hier anzumerken, dass der BMI Körper­ tem festhalten“ oder „das tun, was die anderen bau und Muskelmasse nicht berücksichtigt, auch tun“ erhalten wenig Zustimmung. ❙26 sodass auch Menschen mit geringem Fett­ anteil und großer Muskelmasse als überge­ Auch der hohe Stellenwert von Familie wichtig gelten können. Allerdings wurde unter Jugendlichen ist auffällig. Bereits eine gezeigt, dass die Leistungen männlicher Ju­ gendlicher im Physical Fitness Tests (PFT) – ❙22 Vgl. ebd., S. 13; Dieter Leyk et al., Physical Per­ parallel zum BMI-Anstieg – gesunken sind, formance, Body Weight and BMI of Young Adults sodass die BMI-Erhöhung eher auf einen er­ in 2000–2004: Results of the Physical-Fit­ höhten Körperfettanteil als auf eine Zunah­ ness-Test Study, in: International Journal of Sports me der Muskelmasse zurückzuführen sein Medicine, (2006) 27, S. 644. ❙23 Vgl. ebd., S. 646. ❙24 Vgl. ebd., S. 644. ❙21 Dieter Leyk et al., Adipositas und Bewegungs­ ❙25 Vgl. D. Leyk et al. (Anm. 23), S. 13. mangel in Deutschland: Erste Fakten aus der „Physi­ ❙26 Vgl. Thomas Gensicke, Zeitgeist und Wertorien­ cal-Fitness-Test“-Studie, in: Wehrmedizinische Mo­ tierungen, in: Shell (Hrsg.), Jugend 2006. 15. Shell Ju­ natsschrift, (2005) 1, S. 13. gendstudie, Frankfurt/M. 2006, S. 178–181.

28 APuZ 48/2011 Anfang der 1990er Jahre veröffentlichte Mei­ viler Mitarbeiter. Von den befragten jungen nungsbefragung junger Männer hatte ge­ Männern äußern 26 Prozent ein generelles zeigt, dass knapp die Hälfte ein Lebenskon­ Interesse, für weitere 19 Prozent kommt eine zept der „Balance“ bevorzugen, in dem Beruf Laufbahn bei der Bundeswehr nur „unter und Partnerschaft (beziehungsweise Familie) Umständen“ infrage. Bei den jungen Frauen gleich wichtige und miteinander zu vereinba­ liegen die entsprechenden Anteile bei 13 Pro­ rende Positionen einnehmen. Ein ausschließ­ zent beziehungsweise 18 Prozent. Damit kön­ lich auf Selbstverwirklichung orientiertes nen sich 55 Prozent der Männer und 69 Pro­ Lebenskonzept findet deutlich weniger Zu­ zent der Frauen keine Berufstätigkeit bei der stimmung. Mit dieser Werteorientierung geht Bundeswehr vorstellen. ❙28 eine zukunftsorientierte Handlungs- und Planungsmotivation einher, die auf die Ver­ Darüber hinaus ist die Interessenlage der Ju­ einbarkeit von privaten Lebensinhalten und gendlichen durch einen deutlichen Bildungs­ beruflicher Selbstverwirklichung zielt. ❙27 gradienten gekennzeichnet – je höher das Bil­ dungsniveau, desto geringer das Interesse an Daher ist anzunehmen, dass die Attrakti­ einer beruflichen Tätigkeit in der Bundes­ vität des Soldatenberufes aufgrund verschie­ wehr. Bei jungen Männern mit Hochschul­ dener immanenter Charakteristika weiter ab­ reife interessieren sich demnach nur 37 Pro­ nehmen wird. Dazu gehören das Risiko für zent konkret oder unter Umständen für eine Leib und Leben, lange einsatzbedingte Ab­ entsprechende Laufbahn. Bei denjenigen mit wesenheitszeiten, hohe Anforderungen an Realschul- oder Hauptschulabschluss ist das die Mobilität des Soldaten und seiner Fami­ Interessentenpotential mit jeweils 50 Prozent lie sowie ein hohes Maß an Bürokratie und beziehungsweise 54 Prozent deutlich grö­ Rigidität. Diese berufsbezogenen Nachtei­ ßer. Im regionalen Vergleich können sich am le werden durch drei gesellschaftliche Ten­ ehesten Jugendliche aus Ostdeutschland eine denzen verschärft: (1) die veränderten Rol­ berufliche Tätigkeit bei der Bundeswehr vor­ lenansprüche in modernen Partnerschaften stellen. Für 52 Prozent der dort befragten und der damit einhergehende Anspruch bei­ Männer stellt die Bundeswehr eine berufliche der auf beruflichen Erfolg; (2) die regionale Option dar, in Süddeutschland gilt dies nur demografische Entwicklung und die infra­ für 39 Prozent der Befragten. ❙29 strukturelle Ausdünnung im Umfeld vieler Bundeswehr-Standorte (vor allem in Ost­ Von den jungen Männern, die sich eine be­ deutschland), was die Integration der Familie rufliche Tätigkeit bei der Bundeswehr vor­ weiter erschwert und den Trend zu Wochen­ stellen können, streben lediglich 50 Prozent endbeziehungen unter Bundeswehrangehö­ eine soldatische Laufbahn an. Bei den befrag­ rigen verstärkt; und (3) die Schere zwischen ten Frauen ist der entsprechende Anteil mit dem bevorzugten Bewerberprofil und die 22 Prozent noch wesentlich geringer. Deut­ für eine solche Persönlichkeitsstruktur ver­ lich mehr interessieren sich für eine zivile gleichsweise inadäquaten Möglichkeiten der Tätigkeit (61 Prozent). ❙30 Ob sich interessier­ Selbstentfaltung, Mitgestaltung und Karrie­ te Jugendliche tatsächlich für eine zivile oder reentwicklung in der Bundeswehr. militärische Laufbahn in der Bundeswehr ent­ scheiden, hängt stark von den Einstellungen In diesem Kontext sind auch die empiri­ ihres sozialen Umfeldes ab. Für 70 Prozent schen Befunde des Sozialwissenschaftlichen ist die Meinung von Familie und Freunden Instituts der Bundeswehr von Interesse. In „wichtig“ oder „sehr wichtig“. ❙31 Zustimmen­ der regelmäßig durchgeführten Jugendstudie de Reaktionen werden von jungen Männern werden Jugendliche zwischen 14 und 23 Jah­ ren unter anderem danach befragt, ob sie sich ❙28 Vgl. Thomas Bulmahn et al., Ergebnisse der Ju­ zumindest für eine gewisse Zeit eine beruf­ gendstudie 2008 des Sozialwissenschaftlichen Insti­ liche Tätigkeit bei der Bundeswehr vorstel­ tuts der Bundeswehr, Strausberg 2010, S. 141. len können, entweder als Soldat oder als zi­ ❙29 Vgl. ebd., S. 142. ❙30 Vgl. ebd., S. 147. ❙31 Vgl. Thomas Bulmahn, Berufswahl Jugendlicher ❙27 Vgl. Hanne I. Schaffer, Lebenskonzepte und Zei­ und Interesse an einer Berufstätigkeit bei der Bun­ terfahrungen junger Männer: Zur Bedeutung ge­ deswehr: Ergebnisse der Jugendstudie 2006 des So­ wandelter Lebensvorstellungen für die Bundeswehr, zialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr, München 1992, S. 16. Strausberg 2007, S. 42.

APuZ 48/2011 29 insbesondere von Seiten des Vaters und von Qualität. Mit einem attraktiveren Dienst- und Freunden erwartet, Ablehnung dagegen von Laufbahnrecht könnten beispielsweise An­ Mutter und Partnerin. Junge Frauen erwarten reize für Personen mit Schlüsselqualifikatio­ deutlich weniger Unterstützung im Falle ei­ nen gesetzt werden. Durch flexiblere, auf den ner militärischen Berufsorientierung, insbe­ Bedarf zugeschnittene Zeitverträge könnte sondere von Eltern und Geschwistern. ❙32 die Bundeswehr versuchen, das Personal im einsatzrelevanten Altersband zwischen 20 Nach ihren berufswahlspezifischen Motiv­ und 45 Jahren stärker an sich zu binden und strukturen befragt, betonen Jugendliche ihre sich gleichzeitig besser auf die Erfordernis­ „Wachstumsbedürfnisse“, welche sich auf die se des Einsatzes ausrichten. Wichtigste Vor­ persönliche Weiterentwicklung in einer he­ aussetzung wäre ein volles Ausschöpfen der rausfordernden, verantwortungsvollen und bestehenden gesetzlichen Rahmenbedingun­ abwechslungsreichen Tätigkeit beziehen, so­ gen. Laut Soldatengesetz ist für Soldaten eine wie die Bedeutung „sozialer Bedürfnisse“ Verpflichtungszeit (als Soldat auf Zeit) von hinsichtlich kollegialer Zusammenarbeit und bis zu 20 Jahren möglich. In der Praxis wird guter Menschenführung durch Vorgesetz­ davon jedoch nur selten Gebrauch gemacht. ❙34 te. Insbesondere Frauen bewerten ihre sozi­ Eine solche Flexibilisierung würde auch den alen Bedürfnisse bezüglich der Vereinbarkeit Seiteneinstieg von qualifiziertem Fachperso­ von Familie und Beruf als besonders hoch. nal erleichtern und erlauben, eine Person mit „Existentielle Bedürfnisse“ wie die Sicher­ einer einsatzrelevanten Qualifikation einzu­ heit des Arbeitsplatzes, gute Bezahlung und stellen oder weiterzuverpflichten, unabhän­ umfangreiche Sozialleistungen durch den gig von Alter oder Vorbildung. ❙35 Auch die Arbeitgeber sind zwar ebenfalls wichtig, für vorhandenen demografischen Ressourcen lie­ das generelle Interesse an einer militärischen ßen sich durchaus besser nutzen. Zum einen Laufbahn jedoch nicht ausschlaggebend. Ins­ könnte man stärker auf Personen mit trai­ besondere für Jugendliche mit einem höheren nierbaren physischen und kognitiven Fähig­ Bildungsstand trifft diese differenzierte Be­ keiten zurückgreifen. Zum anderen bestünde wertung der Berufswahlmotive zu: Sie mes­ die Möglichkeit, bisher unterrepräsentierte sen den Wachstumsbedürfnissen eine über­ Bevölkerungsgruppen (Frauen sowie ethni­ durchschnittlich hohe Bedeutung bei, sind sche, kulturelle und religiöse Minderheiten jedoch skeptisch, diese Bedürfnisse im Rah­ mit deutscher Staatsbürgerschaft) verstärkt men einer Tätigkeit bei der Bundeswehr tat­ anzuwerben und bislang ausgeschlossene sächlich realisieren zu können. ❙33 Gruppen (Personen mit ausländischer Staats­ bürgerschaft sowie Ältere) zu legitimieren. Solche Maßnahmen entsprächen auch dem Fazit notwendigen ökonomischen Kalkül. Die Er­ fahrungen europäischer Bündnispartner wie Aufgrund der demografischen Entwicklung Belgien, Großbritannien, Luxemburg oder wird das Rekrutierungspotential der Bun­ Spanien können dafür wichtige Hinweise lie­ deswehr schrumpfen. Neben den generellen fern. Die beschriebenen Handlungsoptionen Veränderungen in der Altersstruktur sind deuten jedoch auch auf neue Erfordernisse auch spezifische regionale Unterschiede von und Herausforderungen bei der Organisati­ Bedeutung. Darüber hinaus stellen die Bil­ on der Streitkräfte hin. Dies gilt vor allem für dungsentwicklung, die wachsende Zahl über­ die militärische Fort- und Weiterbildung, die gewichtiger junger Menschen, das Absinken Bestrebungen um eine höhere Attraktivität der allgemeinen körperlichen Leistungsfä­ des militärischen Dienstes und letztlich die higkeit und der gesellschaftliche Wertewan­ soldatische Identitätsbildung nach den Kon­ del Unsicherheiten für die zukünftige Perso­ zepten der Inneren Führung. nalgewinnung der Bundeswehr dar.

Mögliche Anpassungsstrategien bewegen ❙34 Vgl. Falk Tettweiler, Die Bundeswehr soll einsatz­ sich im Spannungsfeld zwischen Sparzwän­ orientierter werden: Die Strukturkommission steht gen und den Anforderungen an Quantität wie vor großen Herausforderungen, unveröffentlichtes Manuskript (2010), S. 3. ❙35 Vgl. ebd. ❙32 Vgl. ebd., S. 41. ❙33 Vgl. ebd., S. 56 ff.

30 APuZ 48/2011 Heiko Biehl · Bastian Giegerich · führung der Freiwilligenarmee genommen Alexandra Jonas wie kaum ein anderes Land. Zwischen der In­ fragestellung der Wehrpflicht durch den da­ maligen Verteidigungsminister Karl-Theo­ Aussetzung der Wehr­ dor zu Guttenberg anlässlich einer Rede an der Führungsakademie der Bundeswehr am 26. Mai 2010 und deren De-facto-Beendigung pflicht. Erfahrungen zum 1. Januar 2011 lag gerade einmal ein gu­ tes halbes Jahr. Entsprechend wirkt einiges und Lehren westlicher an der Umstellung und der Planung der Frei­ willigenarmee Bundeswehr improvisiert und nicht langfristig vorbereitet. Die Neuausrich­ Partnerstaaten tung der Bundeswehr umfasst zudem nicht nur die – wenn auch zentrale – Aussetzung eutschland ist bei der Aussetzung der der Wehrpflicht und den Umbau zur Freiwil­ DWehrpflicht ein Nachzügler. Ande­ ligenarmee, sondern betrifft auch Auftrag, re westliche Staaten haben den Übergang Umfang, Struktur, Standorte, Organisation zu Freiwilligenarmeen und Prozesse. Heiko Biehl bereits vor Jahren oder Dr. phil, geb. 1971; Leiter des Jahrzehnten vollzo­ Im Folgenden wird ein Überblick darü­ Forschungsschwerpunkts gen. Da­durch ist man ber geboten, welche Erfahrungen andere „Multinationalität/Europäische in der – eigentlich – Staaten und Streitkräfte mit dem Übergang Streitkräfte“, Sozialwissen- angenehmen Situati­ von Wehrpflicht- zu Freiwilligenarmeen ge­ schaftliches Institut der Bundes- on, aus den Erfahrun­ macht haben. Dazu wird zunächst skizziert, wehr, Prötzeler Chaussee 20, gen anderer Staaten wann welche westlichen Partner zu Freiwil­ 15344 Strausberg. und Streitkräfte Leh­ ligenarmeen übergegangen sind und wer an [email protected] ren und Rückschlüsse der Wehrpflicht festhält. Im zweiten Ab­ für das eigene Vorge­ schnitt werden die Folgen der Aussetzung Bastian Giegerich hen ziehen zu können. der Wehrpflicht für die Streitkräfte dar­ Dr. phil., geb. 1976; gelegt. Dabei stehen die Bedingungen und ­wissenschaftlicher Mitarbeiter, Allerdings geschieht Schwierigkeiten der militärischen Perso­ Forschungsschwerpunkt „Multi- dies allzu selten, und nalrekrutierung im Mittelpunkt. Die Aus­ nationalität/Europäische Streit- die Diskussionen und kräfte“, Sozialwissenschaftliches Wahrnehmungen blei­ Die hier vorgetragenen Ansichten und Meinungen Institut der Bundeswehr (s. o.). ben auf den nationa­ sind ausschließlich diejenigen der Autoren und ge- bastiangiegerich@ len Rahmen und die ben nicht notwendigerweise die Sicht oder Auf- bundeswehr.org eigenen ­Erfahrungen fassung des Bundesministeriums der Verteidigung ­wieder. beschränkt. ­Dabei Alexandra Jonas liegt eine Reihe von ❙1 Vgl. Wenke Apt, The Socio-Demographic Context M. A., geb. 1980; wissenschaft- sozialwissenschaftli­ of Military Recruitment in Europe. A Differentia­ liche Mitarbeiterin, Forschungs- chen ­Studien und Er­ ted Challenge, in: Tibor Szvircsev Tresch/Christian schwerpunkt „Multinationali- Leuprecht (eds.), Europe Without Soldiers? Recruit­ kenntnissen vor, die ment and Retention across Armed Forces in Euro­ tät/Europäische Streitkräfte“, international verglei­ pe, Montreal u. a. 2010, S. 63–81; Detlef Buch, Wo­ Sozialwissenschaftliches chend den Umbau von hin mit der Wehrpflicht? Weisen die Partner wirklich Institut der Bundeswehr (s. o.). Wehrpflicht- zu Frei­ den richtigen Weg?, Frankfurt/M. 2010; Nina-Birke alexandrajonas@ willigenarmeen und Glonnegger, The Pitfalls of Suspending Conscripti­ bundeswehr.org die Konsequenzen für on, 18. 4. 2011, online: www.atlantic-community.org/ index/Open_Think_Tank_Article/The_Pitfalls_of_ Streitkräfte, Gesell­ Suspending_Conscription (10. 10. 2011); Karl W. Hal­ 1 schaft und Politik analysieren. ❙ Dass deren tiner, The Definite End of the Mass Army in Wes­ Befunde zu wenig wahrgenommen und ge­ tern Europe?, in: Armed Forces & Society, 25 (1998) nutzt werden, ist nicht zuletzt einem Um­ 1, S. 7–36; Ines-Jacqueline Werkner, Wehrpflicht stand geschuldet, der die Aussetzung der oder Freiwilligenarmee? Wehrstrukturentscheidun­ Wehrpflicht hierzulande von der Umstellung gen im europäischen Vergleich, Frankfurt/M. 2006; Cindy Williams/Björn H. Seibert, Von der Wehr­ in anderen Staaten unterscheidet: Deutsch­ pflichtigen- zur Freiwilligenarmee. Erkenntnisse aus land ist regelrecht aus der Wehrpflicht geflo­ verbündeten Staaten, Weatherhead Center for Inter­ hen und hat sich so wenig Zeit für die Ein­ national Affairs, Cambridge, MA 2011.

APuZ 48/2011 31 setzung der Wehrpflicht verändert die zi­ letzten französischen Wehrpflichtigen ihren vil-militärischen Beziehungen ebenso wie Dienst. Dem französischen Beispiel folgten den sicherheitspolitischen Stellenwert von die Niederlande (1996), Spanien (2002) und Streitkräften. In welcher Weise dies ge­ Italien (2005). schieht, zeigt der dritte Abschnitt auf. In ei­ nem Fazit und Ausblick wird schlussendlich Auffallend viele Nachzügler haben in den aufgeführt, was von den Partnern gelernt vergangenen beiden Jahren ihre Streitkräf­ werden kann, und beleuchtet, inwieweit die te auf Freiwilligenarmeen umgestellt. Ne­ internationalen Erfahrungen und Entwick­ ben Deutschland haben Albanien, Polen und lungen Hinweise darauf geben, wie sich die Schweden für rund zwei Dekaden nach Ende Bundeswehr als Freiwilligenarmee verän­ des Ost-West-Konflikts an der Wehrpflicht dern wird. festgehalten, um sie in den Jahren 2010 und 2011 aufzugeben. Der internationale Trend zu Freiwilligenarmeen und die wiederholte Wandel der Wehrformen – Reduzierung der Verteidigungsausgaben er­ Stand und Entwicklung höhten den Druck, die Wehrpflicht auszuset­ zen oder über deren Ende intensiv zu disku­ In den westlichen Staaten gibt es seit Jahr­ tieren, wie es gegenwärtig in Österreich der zehnten einen Trend hin zu Freiwilligenar­ Fall ist. meen. Hatten 1990 von damals 16 Mitglie­ dern der NATO noch elf die Wehrpflicht, Neben Österreich halten noch einige an­ sind es von heute 28 Mitgliedern nur noch dere Staaten an der Wehrpflicht fest, wo­ fünf Staaten. Dabei lassen sich drei Phasen bei die dahinterstehenden Gründe sehr un­ des Übergangs zu Freiwilligenarmeen un­ terschiedlich sind. In Dänemark besteht die terscheiden: Die angelsächsischen Vorreiter Wehrpflicht zwar fort, kann aber ausgesetzt schafften noch während des Ost-West-Kon­ werden, wenn ausreichend Freiwillige gefun­ flikts die Wehrpflicht ab: Großbritannien be­ den werden. Griechenland und die Türkei se­ reits 1961 und die USA 1973. hen sich weiterhin territorial bedroht und auf vergleichsweise große Streitkräfte angewie­ In den USA war diese Entscheidung eine Re­ sen. Die griechische Armee umfasst 134 000, aktion auf die militärischen und gesellschaft­ die türkische 612 000 Soldaten. Um diese Per­ lichen Zerwürfnisse infolge des Vietnam­ sonalstärken zu gewährleisten, halten bei­ kriegs. Der Aufstellung der amerikanischen de Länder weiterhin an der Wehrpflicht fest. „All-Volunteer-Force“ lag ein konsequent In Estland und Finnland genießt die Wehr­ marktwirtschaftliches Verständnis des Sol­ pflicht aufgrund der perzipierten Bedrohung datenberufs und der Streitkräfte zugrunde, durch Russland nach wie vor hohen Rückhalt das auf entsprechende Anreize und Angebo­ in der Bevölkerung. ❙2 te setzte, um eine ausreichende Zahl Interes­ sierter zu gewinnen. Deutschland liegt somit, wenn auch um einige Jahre verzögert, im internationalen Die internationalen Umwälzungen der Jah­ Trend. Doch welche Folgen sind durch die re 1989 bis 1991 und der Wegfall der Bedro­ Aussetzung der Wehrpflicht zu erwarten? hung durch die Streitkräfte des Warschau­ Welche Entwicklung ist angesichts der Erfah­ er Paktes führten in mehreren europäischen rungen der anderen Staaten und Streitkräfte Staaten zu einer Umorientierung in der Si­ wahrscheinlich? Im nächsten Abschnitt wird cherheits- und Verteidigungspolitik. Die die personelle Situation von Freiwilligenar­ Streitkräfte wurden reduziert, von Vertei­ meen vergleichend beleuchtet und betrachtet, digungs- auf Kriseninterventionsaufgaben inwieweit es ihnen gelingt, qualifiziertes Per­ umgestellt – und die Wehrpflicht ausgesetzt. sonal zu gewinnen. Belgien nahm als erste westeuropäische Na­ tion 1995 endgültig Abschied von der Wehr­ ❙2 Vgl. Conscription: A Farewell to Arms, in: The Eco­ pflicht. Im darauffolgenden Jahr verkündete nomist vom 10. 9. 2011, online: www.economist.com/ der französische Staatspräsident Jacques Chi­ node/​21528598 (10. 10. 2011); Bastian Giegerich/Alex­ ander Nicoll, European Military Capabilities: Buil­ rac auch im „Mutterland der Wehrpflicht“ ding Armed Forces for Modern Operations, Interna­ deren Ende – übrigens ohne Rücksprache tional Institute for Strategic Studies, London 2008, mit dem deutschen Partner. 2001 leisteten die S. 43–44, S. 67.

32 APuZ 48/2011 Militärische Personalgewinnung Mit Blick auf die Rekrutierungserfol­ ge zeigt der Vergleich der Partnerstaaten in Freiwilligenarmeen und -armeen unterschiedliche Entwicklun­ gen und Muster. Es gibt Armeen, denen es Das jahrzehntelange Festhalten an der Wehr­ schwer fiel und fällt, die eigenen Rekrutie­ pflicht erklärt sich, obwohl deren sicherheits­ rungsansprüche in Zahl und Qualität zu er­ politische Legitimation durch den Umbau reichen. Die US-Streitkräfte in den 1970er der Bundeswehr von einer Verteidigungs- zu Jahren sind ein paradigmatisches Beispiel einer Kriseninterventionsarmee zunehmend hierfür. ❙5 Auch die spanischen Streitkräfte erodierte, nicht zuletzt aus den Befürch­ mussten zwischenzeitlich ihre Anforderun­ tungen, die viele politisch und militärisch gen, die unter anderem an den Intelligenz­ Verantwortliche hegten und hegen. So eilt quotienten eines Bewerbers geknüpft waren, Freiwilligenarmeen der Ruf voraus, sie sei­ senken und lösten damit ein verheerendes en Sammelbecken sozialer Unterschichten, Echo aus. ❙6 Des Weiteren wurde in Spanien die aufgrund von mangelnder Kompetenz die Höchstgrenze für Ausländer unter den und Disziplin zu einem gesellschaftlichen Rekruten von zwei auf sieben Prozent er­ wie sicherheitspolitischen Risiko werden höht, um Rekrutierungsproblemen zu be­ können. Zuletzt hat der Historiker Micha­ gegnen. ❙7 Diese Beispiele werden hierzulande el Wolffsohn die damit verbundenen Ängste gerne kolportiert und halten sich in den De­ aktualisiert und der Freiwilligenarmee Bun­ batten – oftmals ohne neuere Entwicklungen deswehr eine Zukunft als – kurz zusammen­ wahrzunehmen. ❙8 gefasst – „verostete Prekariatsarmee“ voraus­ gesagt. ❙3 So sind die US-Streitkräfte gegenwärtig keineswegs mehr ein Sammelbecken sozialer Ein Blick in die Personalstruktur der Unterschichten und Minderheiten, sondern Partnerarmeen, die ihr Personal ohne Wehr­ bilden die Zusammensetzung der Gesell­ pflicht rekrutieren, rechtfertigt diese über­ schaft recht gut ab. Afroamerikaner sind in spitzten Annahmen jedoch nicht, sondern den US-Streitkräften zwar leicht über-, His­ lässt ein differenziertes Bild erkennen. Zu­ panics dagegen unterrepräsentiert, während nächst ist zu beachten, dass sich die Rekru­ Angloamerikaner in der Armee wie in der tierung einer Freiwilligenarmee naturgemäß Bevölkerung die Mehrheit stellen. ❙9 Das Bil­ anders gestaltet als die einer Wehrpflichtar­ dungsniveau der US-Soldaten liegt über dem mee. Während letztere einen Teil der Bür­ der amerikanischen Bevölkerung. Während ger schlichtweg dazu zwingt, als Soldat die Streitkräfte fast ausschließlich Frauen zu dienen, muss erstere viel intensiver um und Männer mit High-School-Diplomen re­ Nachwuchs werben. Dabei steht sie in Kon­ krutieren, haben in den USA etwa 30 Pro­ kurrenz zu anderen staatlichen wie zivilen zent der jungen Erwachsenen keinen solchen Arbeitgebern und muss (arbeits-)marktfä­ hige Angebote und Anreize aufbieten. Dies 5 führt dazu, dass die Personalausgaben von ❙ Vgl. Morris Janowitz/Charles C. Moskos, Racial Freiwilligenarmeen (pro Soldat gerech­ Composition in the All-Volunteer Force, in: Armed Forces & Society, 1 (1974) 1, S. 109–123; Beth Bailey, net) zumeist deutlich über denjenigen von America’s Army. Making the All-Volunteer Force, Wehrpflichtarmeen liegen. Die mit der Aus­ Cambridge–London 2009, S. 88 ff. setzung der Wehrpflicht verknüpfte Hoff­ ❙6 Vgl. Beatriz Frieyro de Lara, The Professionaliza­ nung, Kosten einzusparen, eine Friedensdi­ tion Process of the Spanish Armed Forces, in: T. Sz­ vidende einzustreichen und mehr Mittel für vircsev Tresch/C. Leuprecht (Anm. 1), S. 88. ❙7 militärische Investitionen zur Verfügung Vgl. B. Giegerich/A. Nicoll (Anm. 2), S. 62. ❙8 Vgl. Egon Ramms, Der Soldatenberuf muss akzep­ zu haben, kann sich deshalb auch kaum tiert werden, online: www.heute.de/ZDFheute/in­ 4 ­erfüllen. ❙ halt/​19/​0,3672,8240275,00.html (25. 5. 2011). ❙9 Vgl. Army Profile, Army demographics FY 10. ❙3 Vgl. Michael Wolffsohn, Das Militär verostet, in: Department of the Army, Office of Army Demogra­ Die Welt vom 5. 4. 2011. Verteidigungsminister de phics, Washington 2010; B. Bailey (Anm. 5), S. 254 ff.; Maizière hat die Thesen Wolffsohns entschieden zu­ Jason K. Dempsey, Our Army. Soldiers, Politics, and rückgewiesen. Vgl. Thomas de Maizière, Die Bun­ American Civil-Military Relations, Princeton–Ox­ deswehr ist keine Unterschichtenarmee, in: Die Welt ford 2010, S. 37; Rand Corporation, The Evolution of vom 12. 4. 2011. the All-Volunteer Force, Research Brief, Santa Moni­ ❙4 Vgl. D. Buch (Anm. 1), S. 47. ca u. a. 2006, S. 2.

APuZ 48/2011 33 Abschluss. ❙10 In den vergangenen Jahren ha­ läufig ist und für diese Berufsgruppen bei ben die US-Streitkräfte zudem ihre selbst ungefähr drei (­Unteroffiziere) beziehungs­ gesetzten Rekrutierungsziele weitgehend er­ weise unter zwei (Mann­schaften) Bewer­ reicht, wobei es gewisse Differenzen zwi­ bern pro Dienstposten liegt. ❙13 In Spani­ schen den Teilstreitkräften gibt und es dem en lässt nicht zuletzt die exorbitant hohe Heer für gewöhnlich am schwersten fällt, Jugendarbeitslosigkeit den Dienst in den ausreichend Personal zu gewinnen und zu Streitkräften attraktiv erscheinen. ❙14 Auch binden. Belgien weist mittlerweile keine gravieren­ den Lücken in der Personalgewinnung mehr Unmittelbar nach dem Ende der Wehr­ auf. ❙15 In der Tschechischen Republik wur­ pflicht standen auch die Streitkräfte in Groß­ den demgegenüber in den vergangenen Jah­ britannien vor einem massiven Problem bei ren regelmäßig die gesetzten Rekrutierungs­ der Personalgewinnung. Rekrutierungszie­ ziele verfehlt. ❙16 le wurden regelmäßig verfehlt, teilweise um über zehn Prozent. Dauerhaft abmildern lie­ In der Gesamtschau stellt sich die perso­ ßen sich diese Schwierigkeiten erst durch eine nelle Situation von Freiwilligenarmeen somit Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedin­ besser dar, als hierzulande oftmals wahrge­ gungen für die Soldaten und Soldatinnen. ❙11 nommen und kolportiert. Doch worauf sind Mittlerweile scheint sich das Rekrutierungs­ die relativen Erfolge der Freiwilligenarmeen problem in absoluten Zahlen in Großbri­ in den vergangenen Jahren zurückzuführen? tannien in Grenzen zu halten. Die offiziel­ Welche Muster in Rekrutierungsstrategien len Statistiken weisen für 2010 – gemessen und Personalpolitik sind zu erkennen? am Bedarf – ein Defizit von 0,5 Prozent aus. Dieses lag allerdings in jüngerer Zeit (2007– Zunächst ist festzuhalten, dass die westli­ 2008) auch schon bei drei Prozent und mehr. chen Streitkräfte in den vergangenen Jahren Der britischen Marine fällt es im Vergleich zu und Jahrzehnten ihre Umfänge erheblich re­ den anderen Teilstreitkräften schwerer, ih­ duziert haben und daher eine viel kleinere ren Bedarf zu decken. Ethnische Minderhei­ Zahl an Soldaten benötigen. Auch die Bun­ ten sind in den britischen Streitkräften ins­ deswehr hat gegenwärtig nur noch halb so gesamt unterrepräsentiert: 2010 lag ihr Anteil viele Soldaten wie 1989, nach der Neuausrich­ bei 6,6 Prozent der Soldaten und Soldatin­ tung wird es nur noch ein gutes Drittel sein. nen. Unter den Mannschaften des Heeres ist In Frankreich und Großbritannien bewegt ihr Anteil mit über zehn Prozent am höchs­ sich die Gesamtstärke der Streitkräfte vergli­ ten. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung chen mit 1989 auf ein Niveau von 50 Prozent sind sie damit aber immer noch unterreprä­ zu. In den USA fiel die Reduzierung geringer sentiert. ❙12 aus, und die Zahl der Soldaten und Soldatin­ nen liegt heute auf ungefähr 75 Prozent des In Frankreich gestaltete sich die Rekru­ Niveaus von 1989. Infolge dieser reduzierten tierung von Spezialisten, beispielsweise In­ Umfänge benötigen die Streitkräfte natürlich formatikern oder Kommunikationstechni­ auch eine kleinere Zahl an Bewerbern, um ih­ kern, aufgrund von Konkurrenzangeboten ren Personalbedarf in quantitativer wie quali­ aus der freien Wirtschaft wiederholt als tativer Hinsicht zu decken. schwierig. Dennoch lässt sich generell fest­ stellen, dass der Personalbedarf der franzö­ In der Personalgewinnung setzen die sischen Streitkräfte gedeckt werden kann westlichen Streitkräfte vor allem auf drei und das Personaldefizit bisher nie über Anreizvarianten: Erstens machen sie finan­ 2,2 Prozent (im Jahr 2005) lag, wenngleich zielle Angebote – neben den regulären Sold die Zahl der Bewerber für Unteroffiziers­ posten und Mannschaftsdienstgrade rück­ ❙13 Vgl. C. Williams/B. H. Seibert (Anm. 1), S. 13– 15. ❙10 Vgl. B. Bailey (Anm. 5), S. 253; J. K. Dempsey ❙14 Vgl. B. Frieyro de Lara (Anm. 6). (Anm. 9), S. 38; Rand Corporation (Anm. 9), S. 2. ❙15 Vgl. Philippe Manigart, Ending the Draft. The ❙11 Vgl. C.Williams/B. H. Seibert (Anm. 1), S. 16–17. Case of Belgium, unveröffentlichtes Manuskript 2011. ❙12 Vgl. Defence Analytical Services and Advice, ❙16 Vgl. Bohuslav Pernica/Tomáš Zipfel, Czech Ar­ UK Defence Statistics 2010, online: www.dasa.mod. med Forces’ Professionalization versus the La­ uk/modintranet/UKDS/UKDS2010/chapter2.php bour Market, in: T. Szvircsev Tresch/C. Leuprecht (10. 10. 2011). (Anm. 1), S. 165–180.

34 APuZ 48/2011 treten weitere Vergünstigungen wie freie lässt dies keine Rückschlüsse auf dessen Qua­ Heilfürsorge, spezielle Kredite und Rabat­ lifikation zu. te sowie (Weiter-)Verpflichtungsprämien. Zweitens haben die Soldaten die Chance, Insgesamt wäre die Personalsituation in den sich innerhalb oder außerhalb der Streit­ westlichen Streitkräften sicherlich proble­ kräfte aus- und weiterzubilden. Die vielfäl­ matischer, wenn diese sich nicht für Bevöl­ tigen Bildungsangebote umschließen zivil kerungsgruppen geöffnet hätten, denen lan­ verwertbare Qualifikationen, die von kur­ ge Zeit der Weg in die Streitkräfte versperrt zen Lehrgängen über Berufsausbildungen war. An erster Stelle sind in diesem Zusam­ bis hin zu Studiengängen reichen. Von den menhang Frauen zu nennen. Diese können erworbenen Kompetenzen und Qualifika­ mittlerweile in den westlichen Armeen ihren tionen profitieren Streitkräfte wie Soldaten Dienst verrichten. Allerdings bestehen in den gleichermaßen. Die Streitkräfte verfügen verschiedenen Ländern unterschiedliche Ein­ über kompetentere Soldaten, ziehen insbe­ schränkungen hinsichtlich der militärischen sondere bildungsbewusste Bürgerinnen und Verwendungen – die komplette Öffnung, wie Bürger an und dienen diesen als Vehikel des sie die Bundeswehr 2001 vollzogen hat, ist im sozialen Aufstiegs. Drittens bietet der Solda­ internationalen Vergleich eher die Ausnah­ tenberuf die Aussicht auf soziale Anerken­ me. In einigen NATO-Armeen stellen Frau­ nung. Dabei ergänzen sich militärspezifi­ en, dessen ungeachtet, einen wesentlichen sche Anreize wie Kameradschaft und Esprit Teil des Personals. In Frankreich, Kanada, de Corps sowie gesellschaftliche Anerken­ Lettland, Portugal, Slowenien und Ungarn nung und soziales Renommee. Gerade wenn sind es nach NATO-Angaben jeweils zwi­ die Streitkräfte ein hohes Ansehen in der Be­ schen 14 und 23 Prozent. Demgegenüber ste­ völkerung genießen (was derzeit in nahezu hen Italien, Polen und Rumänien mit jeweils allen westlichen Staaten der Fall ist ❙17) und drei Prozent oder weniger am anderen Ende der Soldatenberuf gesellschaftlich geschätzt der Skala. ❙19 ist (was für den Offiziersberuf weithin zu­ trifft, nicht aber für Unteroffiziere und Einige Streitkräfte haben in den vergan­ Mannschaften), dann fällt es den Streitkräf­ genen Jahren auch die Restriktionen für die ten in der Regel leichter, geeignetes Personal Anerkennung und Verwendung homosexuel­ zu gewinnen. ler Soldaten reduziert. Zwar gab es stets Ho­ mosexuelle in den Streitkräften, doch deren Durch diesen Mix von Angeboten gelingt militärische und rechtliche Anerkennung es, Personal aus allen sozialen Schichten und hat sich erst in letzter Zeit vollzogen und ist Milieus zu gewinnen. Es bestehen aber in noch nicht in allen Streitkräften durchge­ vielen westlichen Freiwilligenarmeen regio­ setzt. Weiterhin schließen sich in den vergan­ nale Schwerpunkte der Personalgewinnung: genen Jahren vermehrt Personen mit Migra­ in den USA der Süden, ❙18 in Italien der Süden tionshintergrund und Angehörige ethnischer und in Deutschland die ostdeutschen Bun­ und religiöser Minderheiten den Streitkräf­ desländer – also oftmals sozioökonomisch ten an, da diese für sie eine attraktive Integra­ schwächere Regionen. Hier sind die Streit­ tions- und Aufstiegsinstanz darstellen. Noch kräfte ein attraktiver Arbeitgeber, nicht zu­ einen Schritt weiter gegangen ist die belgi­ letzt aufgrund mangelnder Alternativen. Dies sche Armee, die EU-Ausländer als Soldaten darf allerdings nicht mit fehlenden sozioöko­ aufnimmt, sowie die spanischen Streitkräfte, nomischen oder Bildungsressourcen auf der in denen Südamerikaner dienen und dadurch individuellen Ebene gleichgesetzt werden. die spanische Staatsangehörigkeit erlangen Auch wenn viele westliche Streitkräfte einen können. ❙20 überproportionalen Anteil ihres Personals aus strukturschwachen Gegenden gewinnen, Die diversen Erweiterungen ihres Rekru­ tierungspools sind ein wesentlicher Garant für die derzeit recht günstige personelle Si­ ❙17 Vgl. Heiko Biehl, Das Ansehen des Soldatenbe­ rufs. Vertrauen in die Berufsgruppe der Militärs, in: if. Zeitschrift für Innere Führung, 53 (2009) 3, S. 52– ❙19 Vgl. Anita Schjolset, NATO and the Women: Ex­ 55. ploring the Gender Gap in the Armed Forces, Peace ❙18 Vgl. B. Bailey (Anm. 5), S. 259; J. K. Dempsey Research Institute Oslo (PRIO), Oslo 2010, S. 28. (Anm. 9), S. 42. ❙20 Vgl. B. Frieyro de Lara (Anm. 6), S. 181–193.

APuZ 48/2011 35 tuation der meisten westlichen Streitkräfte. einher: Erstens wird erwartet, dass die Bun­ Der Verzicht auf gezielte Ausgrenzungen er­ deswehr zunehmend an sozialer Einbindung höht das Potenzial geeigneter Soldaten, auch verliert. Während Wehrpflichtarmeen als in wenn diese Veränderungen nicht alleine den der Mitte der Gesellschaft verankert gelten, Rekrutierungsbemühungen, sondern eben­ seien Freiwilligenarmeen per se sozial margi­ so sicherheitspolitischen, gesellschaftlichen nalisiert. ❙23 Dies führe, so die zweite Besorg­ und rechtlichen Entwicklungen geschuldet nis, zu einer Militarisierung der Außen- und sind. Sicherheitspolitik.

Wie diese Veränderungen, die eine kultu­ Obwohl in Deutschland – wie in anderen relle Pluralisierung in den westlichen Streit­ Staaten auch – immer wieder ein „freund­ kräften mit sich bringen, zu bewerten sind, liches Desinteresse“ der Bevölkerung ge­ darüber gehen die Auffassungen auseinan­ genüber den Streitkräften wahrgenommen der: Militärische Traditionalisten sehen da­ wird, ❙24 ist deren Ansehen in sämtlichen west­ rin nicht nur den Verlust von bewährten lichen Staaten gut bis sehr gut – und zwar un­ Standards, der zu militärischen Funktions- abhängig von der jeweiligen Wehrform (Frei­ und Fähigkeitseinbußen führe. Für sie sind willigen- oder Wehrpflichtarmee). ❙25 Auch die Entwicklungen oft Ursache und Aus­ eine Untersuchung des Sozialwissenschaft­ druck einer gesellschaftlichen Marginali­ lichen Instituts der Bundeswehr (SOWI) zu sierung des Militärs. ❙21 Progressive Stimmen acht europäischen Staaten belegt das positi­ erachten hingegen die Anpassung der mili­ ve Bild, das die europäischen Bürgerinnen tärischen Personalstruktur an die Zusam­ und Bürger von ihren Armeen haben. ❙26 Zu­ mensetzung der Bevölkerung als normati­ dem bleibt es nicht bei bloßen Sympathie­ ve Notwendigkeit, die zugleich funktionale bekundungen; die positiven Haltungen der Vorteile aufweist. Denn den Streitkräften Bürgerinnen und Bürger zu den Streitkräften stünden nun vielfältigere Fähigkeiten zur schlagen sich auch in konkreter Unterstüt­ Verfügung, die gerade in den komplexen zung in Wort und Tat nieder. Ungeachtet ge­ Einsätzen der Gegenwart gefordert seien. wisser Unterschiede zwischen den Ländern Zudem sei es einer Demokratie angemessen, gibt es in jedem der untersuchten Staaten ei­ dass alle Bevölkerungsgruppen gleicherma­ nen beachtlichen Anteil der Bevölkerung, der ßen Zugang zu den Streitkräften haben. ❙22 die Streitkräfte aktiv unterstützt, indem er an Sozial repräsentative Streitkräfte erhöhten deren Veranstaltungen teilnimmt, seine po­ die Legitimation in der heimischen Gesell­ sitive Meinung zu den Streitkräften öffent­ schaft wie in den Einsatzländern gleicher­ lich äußert oder anderen empfiehlt, Soldat zu maßen. In der Folge dienten sie der Einbin­ werden. Dort, wo es Kritik gibt, richtet sie dung der Freiwilligenarmeen in die zivile sich fast ausnahmslos gegen bestimmte Ein­ Gesellschaft. sätze und mithin gegen sicherheitspolitische Entscheidungen, kaum aber gegen Streitkräf­ Folgen für die zivil-militärischen te oder Soldaten generell. Beziehungen und die Sicherheitspolitik Dieses positive Bild darf jedoch nicht verdecken, dass Kontakte zwischen Sol­ Der Übergang von Wehrpflicht- zu Freiwil­ daten und Bürgern in Freiwilligenarme­ ligenarmeen zeitigt nicht nur innermilitäri­ sche Konsequenzen. Auch die sicherheits­ ❙23 Vgl. M. Wolffsohn (Anm. 3). 24 politische Verwendung der Streitkräfte und ❙ So die griffige Formulierung, die der ehemalige ihre Beziehungen zur Gesellschaft unterlie­ Bundespräsident Hort Köhler zur Diagnose der zi­ vil-militärischen Beziehungen in Deutschland ge­ gen einem Wandlungsdruck. Hierzulande prägt hat. Eine differenzierende empirische Über­ gehen mit der Aussetzung der Wehrpflicht prüfung findet sich in: Heiko Biehl/Rüdiger Fiebig, zwei aufeinander aufbauende Befürchtungen Zum Rückhalt der Bundeswehr in der Bevölkerung. Empirische Hinweise zu einer emotional geführten Debatte, SOWI-Thema 2/2011. ❙21 Vgl. Martin van Creveld, Frauen und Krieg, Ham­ ❙25 Vgl. H. Biehl (Anm. 17), S. 52–55. burg 2001. ❙26 Vgl. ders. et al., Strategische Kulturen in Europa. Die ❙22 Vgl. Christian Leuprecht, Socially Representative Bürger Europas und ihre Streitkräfte, Ergebnisse der Armed Forces. A Demographic Imperative, in: T. Sz­ Bevölkerungsumfragen 2010 des Sozialwissenschaftli­ vircsev Tresch/ders. (Anm. 1), S. 35–54. chen Instituts der Bundeswehr, Strausberg (i. E).

36 APuZ 48/2011 en tendenziell seltener sind. Die Ausset­ Vitale Beziehungen zur Bevölkerung kön­ zung der Wehrpflicht führt zusammen mit nen dann auch Garanten eines verant­ Auslands­einsätzen, Truppenreduzierungen wortungsbewussten sicherheitspolitischen und Standortschließungen dazu, dass immer Einsatzes der Streitkräfte sein. Kritiker be­ weniger Bürger eigene Erfahrungen in den fürchten, dass mit dem Übergang zur Freiwil­ und mit den Streitkräften haben. Armeen ligenarmee eine Militarisierung der Außen- und Soldaten drohen allmählich aus der All­ und Sicherheitspolitik einhergeht. ❙29 Grund tagswahrnehmung der Bevölkerung zu ver­ hierfür seien die schwächeren Verbindungen schwinden. Stattdessen dominieren mediale zwischen Gesellschaft, (politischer) Elite und Bilder und Eindrücke, und die Lebens- und Streitkräften. In der Folge bestünden gerin­ Erfahrungswelten von Zivilisten und Sol­ gere politische Skrupel, Freiwilligenarmeen daten differieren zunehmend, so dass Aus­ einzusetzen und in entfernte Konfliktszena­ tausch, Kontakt und Kommunikation immer rien zu entsenden. Gerade wenn die Soldaten schwieriger werden. ❙27 Deshalb sind Freiwil­ weniger Kontakte zur Bevölkerung und zur ligenarmeen angehalten, sich intensiv um die Elite aufweisen, falle es den politisch Verant­ gesellschaftliche Einbindung und den Aus­ wortlichen leichter, einer militärischen Missi­ tausch mit den Bürgerinnen und Bürgern zu on zuzustimmen, da sie selbst und ein Groß­ bemühen. teil der Wähler von den Rückwirkungen und Kosten des Einsatzes nicht betroffen sind. Dies kann durchaus gelingen, wie etwa Mit Blick auf die USA mag diese These einige die Situation in den Vereinigten Staaten und Plausibilität beanspruchen. ❙30 Wie sind aber Großbritannien zeigt, wo trotz seit Jahr­ die Erfahrungen der anderen europäischen zehnten bestehender Freiwilligenarmeen Nationen und was bedeutet dies für die hie­ enge Verbindungen zwischen Gesellschaft sige Situation? Sind mit dem Übergang zur und Streitkräften bestehen. Ein entschei­ Freiwilligenarmee unweigerlich entsprechen­ dendes Moment scheint hierbei der Wille de Militarisierungstendenzen ­verbunden? der Streitkräfte zu sein, Transparenz her­ zustellen. Nur wenn die Bürgerinnen und Gegen die Vermutung spricht insbesonde­ Bürger eine anschauliche Vorstellung vom re, dass die Rekrutierungsform nicht allei­ Innenleben der Streitkräfte und den Be­ ne und auch nicht primär über den Einsatz dingungen des Soldatenberufs haben, kann militärischer Mittel entscheidet. ❙31 Wichti­ man von ihnen realistischerweise Inte­ ger sind das konkrete Konfliktgeschehen, resse, Empathie und Anerkennung erwar­ die eigene Interessenlage, die internationa­ ten. In einer Umfrage des SOWI empfehlen le Einbindung und Verpflichtung sowie die auch die Bundesbürger vertiefte und ehrli­ strategische Kultur eines Landes. Letzte­ che Einblicke in die Binnenwelt der Streit­ re prägt – im Zusammenspiel mit anderen kräfte, um die gesellschaftliche Anerken­ Faktoren – das Verhalten von Akteuren in nung der Streitkräfte zu steigern. ❙28 Dass es der internationalen Politik. Sie strukturiert, Armeen generell schwer fällt, solche Ein­ welche Handlungsoptionen innerhalb ei­ blicke zu gewähren, dürfte kaum überra­ nes Landes – zum Beispiel im Hinblick auf schen, aber es ist in ihrem eigenen Interesse, den Einsatz militärischer Gewalt als Mittel Transparenz zu schaffen. Die Einbindung der Sicherheitspolitik – als legitim angese­ der Streitkräfte in die Gesellschaft ist mit­ hen werden und definiert die Bandbreite der hin auch für Freiwilligenarmeen machbar gesellschaftlich akzeptablen Entscheidungs­ – es bedarf aber beiderseitiger Anstrengun­ gen, um die zivil-militärischen Verbindun­ ❙29 gen mit Leben zu füllen. Referiert bei Berthold Meyer, Bundeswehr ohne Wehrpflichtige – Was folgt daraus für die Parlaments­ armee im Einsatz? HSFK-Report 11/2010. ❙27 Vgl. Sebastian Junger, Why would anyone miss ❙30 Vgl. Donald Abenheim, Soldier and Politics the war?, in: International Herald Tribune vom Transformed. German-American Reflections on Ci­ 18. 7. 2011, S. 6. vil-Military Relations in a New Strategic Environ­ ❙28 Vgl. Thomas Bulmahn/Rüdiger Fiebig/Carolin ment, Berlin 2007; Andrew Bacevich, The New Ame­ Hilpert, Sicherheits- und verteidigungspolitisches rican Militarism. How Americans Are Seduced by Meinungsklima in der Bundesrepublik Deutschland. War, Oxford–New York 2005. Ergebnisse der Bevölkerungsbefragung 2010 des So­ ❙31 Vgl. Henrike Viehrig, Militärische Auslandsein­ zialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr, sätze. Die Entscheidungen europäischer Staaten zwi­ Strausberg 2011, S. 73. schen 2000 und 2006, Wiesbaden 2010, S. 176.

APuZ 48/2011 37 möglichkeiten. ❙32 Obwohl die vielfältigen Fazit und Ausblick und häufigen Einsätze der Streitkräfte in den vergangenen Jahren einen anderen Eindruck Viele verbündete Staaten verfügen über lang­ vermitteln könnten, bestehen, wie die For­ jährige Erfahrungen mit Freiwilligenarmeen. schung herausgearbeitet hat, in Deutschland Diese sind keineswegs so eindeutig, wie sich wie in anderen europäischen Staaten Vorbe­ dies in Stereotypen und Vorurteilen hierzu­ halte gegen den offensiven Einsatz militäri­ lande zuweilen darstellt. Vielmehr gilt es fest­ scher Mittel. Die meisten mitteleuropäischen zuhalten, dass mit dem Übergang von Wehr­ Staaten – und Deutschland im Besonderen – pflicht- zu Freiwilligenarmeen Dynamiken sind demnach geprägt von einer „Kultur der entstehen, die Anpassungen in der Personal­ Zurückhaltung“ und der multilateralen Ein­ gewinnung, der Einbindung der Streitkräfte bindung. Dies zeigt sich sowohl auf Ebene in die Gesellschaft und der sicherheitspoliti­ der politischen Eliten als auch mit Blick auf schen Rolle des Militärs erfordern.­ die Bevölkerungen. ❙33 Mit den richtigen Mitteln und Instru­ Der Abschied von der Wehrpflicht wird menten ist es durchaus möglich, ange­ diese kulturelle Prägung der Sicherheitspoli­ messen qualifiziertes Personal in ausrei­ tik, die Ausdruck historischer Erfahrungen chender Zahl für die Freiwilligenarmee und deren Verarbeitung ist, nicht schlagartig Bundeswehr zu gewinnen und deren Ein­ aushebeln. Viel eher dürfte das Versprechen, bindung in die bundesdeutsche Gesell­ das Altkanzler Helmut Schmidt gegenüber schaft sowie einen verantwortungsvollen Bundeswehrrekruten geäußert hat, als Ge­ ­sicherheitspolitischen Umgang zu gewähr­ bot deutscher Sicherheitspolitik fortbeste­ leisten. Um diese Ziele zu erreichen, sollte hen: „Dieser Staat wird Euch nicht missbrau­ die Bundeswehr in den nächsten Jahren ers­ chen!“ ❙34 Denn nicht zuletzt die Einbindung tens ihre (Aus-)Bildungsangebote ausbau­ der Bundeswehr als „Parlamentsarmee“ trägt en, um so für bildungsbewusste Bürgerin­ dafür Sorge, dass die Abgeordneten bei Ab­ nen und Bürger als Arbeitgeber attraktiv zu stimmungen über Einsatzmandate die Fol­ sein. Sie sollte zweitens durch ein gesteiger­ gen für die Bundeswehrsoldaten und ihre tes Maß an Transparenz neue Einblicke und Wählerschaften im Blick behalten. Die Ge­ Einsichten in die Realität der Streitkräf­ fahr einer verantwortungslosen Instrumen­ te und des Soldatenberufes zulassen und talisierung der Streitkräfte wird nochmals so Interesse, Unterstützung und Empathie geringer ausfallen, wenn es ihnen gelingt, der Bevölkerung stärken. Drittens garan­ entsprechend qualifiziertes Personal in aus­ tieren die Beibehaltung der Inneren Füh­ reichender Zahl zu gewinnen und die Ein­ rung, der Status als Parlamentsarmee sowie bindung in die deutsche Gesellschaft zu ver­ die konsequente multilaterale Ausrichtung festigen. Dazu ist die Bundeswehr durchaus auf die Zusammenarbeit im transatlanti­ in der Lage, denn sie kann Lehren aus den schen und europäischen Rahmen einen ver­ Erfahrungen anderer Staaten mit Freiwilli­ antwortungsbewussten Umgang mit militä­ genarmeen ziehen und weist mit der Inneren rischen Mitteln. An diesen Traditionen und Führung eine eigene Tradition als Armee in den Erfahrungen anderer Länder sollte sich der Demokratie auf. die Freiwilligenarmee Bundeswehr künftig ­orientieren.

❙32 Vgl. dazu auch den Beitrag von Ines-Jacqueline Werkner in dieser Ausgabe. ❙33 Vgl. Bastian Giegerich, European Security and Strategic Culture. National Responses to the EU’s Security and Defence Policy, Baden-Baden 2006; Alexandra Jonas/Nicolai von Ondarza, Chancen und Hindernisse für die europäische Streitkräfteinte­ gration. Grundlegende Aspekte deutscher, französi­ scher und britischer Sicherheits- und Verteidigungs­ politik im Vergleich, Wiesbaden 2010; H. Biehl et al. (Anm. 26). ❙34 Helmut Schmidt, Dieser Staat wird euch nicht missbrauchen, online: www.zeit.de/ o n l i n e / ​2 0 0 8 / ​3 0 / Schmidt-Rede (20. 7. 2008).

38 APuZ 48/2011 Ines-Jacqueline Werkner Professionalisierung der deutschen Streit­ kräfte schon seit Langem rational erscheinen ließ. Wie erklären sich diese unterschiedli­ Wehrpflicht und chen Einstellungs- und Verhaltensmuster in Europa? Was lässt die europäischen Staaten – Zivildienst – durch weitgehend gleiche strukturelle Rah­ menbedingungen gekennzeichnet – so ver­ Bestandteile der schieden agieren? Als Untersuchungsansatz dient die politi­ politischen Kultur? sche und speziell die politisch-militärische Kultur. Im Mittelpunkt des Interesses stehen hier nicht materielle oder strukturelle, son­ er Vorstoß des damaligen Verteidigungs­ dern ideelle Faktoren. Wie wurden histori­ Dministers Karl-Theodor zu Guttenberg, sche Erfahrungen von politischen Akteuren angesichts der Haushaltslage auch die Wehr­ aufgearbeitet? Welche politisch-militärischen pflicht auf den Prüf­ Traditionen, Normen und ­Orientierungen Ines-Jacqueline Werkner stand zu stellen, ent­ prägen die Bundesrepublik? Und ­inwieweit PD Dr. rer. pol., geb. 1965; Aka- fachte nicht nur erneut kann – so die Leitfrage – die Wehrpflicht demische Mitarbeiterin, Institut die ohnehin schwe­ als Bestandteil der politischen Kultur der für Politische Wissenschaft, lende Debatte, son­ Bundesrepublik Deutschland betrachtet Ruprecht-Karl-Universität Heidel- dern führte letztlich ­werden? ❙1 berg; Privatdozentin, Otto-Suhr- auch zur Aussetzung Institut, Freie Universität Berlin. der Wehrpflicht. Da­ [email protected] bei ist über die Fra­ Zum Begriff der politischen Kultur [email protected] ge ihrer Beibehaltung oder Aussetzung in Allgemein formuliert bedeutet politische Deutschland – im Gegensatz zu den meisten Kultur die subjektive Dimension der gesell­ anderen europäischen Ländern – überaus lan­ schaftlichen Grundlagen politischer Syste­ ge und mit außergewöhnlicher Emotionali­ me. ❙2 Ein einheitliches, verbindliches Kon­ tät debattiert worden. Während die einen mit zept existiert jedoch nicht. In treffender dem Ende des Kalten Kriegs und dem verän­ Weise beschreibt es Max Kaase in seiner viel derten Aufgabenspektrum die Wehrpflicht zitierten Metapher, wonach die Definition als obsolet betrachteten, betonten ihre Befür­ politischer Kultur den Versuch darstelle, „ei­ worter vor allem die Aufwuchsfähigkeit und nen Pudding an die Wand zu nageln“. ❙3 Den damit verbundene sicherheitspolitische Flexi­ Terminus „politische Kultur“ prägte im Jahr bilität, das breitere Rekrutierungspotenzial 1956 der US-amerikanische Politologe Ga­ gleichfalls als Basis für Längerdienende sowie briel A. Almond als „a particular pattern of die bessere Integration der Streitkräfte in die Gesellschaft. ❙1 Dieser Beitrag beruht auf früheren Arbeiten der Autorin. Vgl. Ines-Jacqueline Werkner, Die Wehr­ In Europa zeigen sich gegenwärtig zwei pflicht – Teil der politischen Kultur der Bundesrepu­ Phänomene: Zum einen sind ein Ende der blik Deutschland?, in: dies. (Hrsg.), Die Wehrpflicht Massenarmeen und ein klarer Trend zu Frei­ und ihre Hintergründe. Sozialwissenschaftliche willigenarmeen festzustellen. Aus dem Kreis Beiträge zur aktuellen Debatte, Wiesbaden 2004; der NATO- und EU-Mitgliedsstaaten ver­ dies., Wehrpflicht oder Freiwilligenarmee? Wehr­ fügt die Mehrheit mittlerweile über Freiwil­ strukturentscheidungen im europäischen Vergleich, Frankfurt/M. 2006. ligenstreitkräfte. Andererseits gibt es aber ❙2 Vgl. Dirk Berg-Schlosser, Politische Kultur, in: auch Länder, die weiterhin an der Wehr­ Dieter Nohlen/Rainer-Olaf Schultze (Hrsg.), Pipers pflicht festhalten, wie die Schweiz, Öster­ Wörterbuch zur Politik. Bd. 1: Politikwissenschaft. reich oder ein Großteil der skandinavischen Theorien – Methoden – Begriffe, München 1989³. 3 Staaten. Und auch in Deutschland galt die ❙ Max Kaase, Sinn oder Unsinn des Konzepts „Po­ Wehrpflicht bis vor Kurzem – insbesondere litische Kultur“ für die Vergleichende Politikwissen­ schaft, oder auch: Der Versuch, einen Pudding an die bei vielen seiner politischen Akteure – als un­ Wand zu nageln, in: ders./Hans-Dieter Klingemann, antastbar, obwohl die Beteiligung der Bun­ Wahlen und politisches System. Analysen aus Anlaß deswehr an internationalen Einsätzen eine der Bundestagswahl 1980, Opladen 1983, S. 144.

APuZ 48/2011 39 orientations to political action“. ❙4 In dieser historische und normative Aspekte. Dem wird ersten Phase der politischen Kulturforschung die Definition von Karl Rohe gerecht, wonach standen Meinungen, Einstellungen und Wer­ politische Kultur verstanden werden kann als te gegenüber dem politischen System, seinen „in die politische und gesellschaftliche Wirk­ Institutionen und Aktionen im Mittelpunkt: lichkeit eingelassene Ideen, die Politikhori­ Was wissen die Bürgerinnen und Bürger von zonte abstecken, Sinnbezüge stiften und von ihrem Staat und seinen Institutionen, wie ihren jeweiligen gesellschaftlichen Trägern als denken sie, was empfinden sie? – ein empiri­ Maßstäbe zur Auswahl, Organisation, Inter­ sches Phänomen, das die Politikwissenschaft pretation, Sinngebung und Beurteilung politi­ bis dahin noch nicht systematisch untersucht scher Phänomene benutzt werden“. ❙7 hatte. Der empirische Ansatz hat die politi­ sche Kulturforschung in erheblichem Maße Entsprechend diesen Definitionen ist poli­ geprägt und dominiert diese noch heute. tische Kultur nicht mit politischem Verhalten gleichzusetzen, sie erk lärt aber politisches Ver­ In einer zweiten Phase der politischen Kul­ halten. Zwischen ihnen bestehen enge kausale turforschung wurde der Definitionsbereich Beziehungen: Zum einen hilft politische Kul­ erweitert. Das Verständnis von politischer tur, grundlegende Politikziele und politische Kultur wurde auf historische Erfahrungen, Interessen zu definieren. In diesem Sinne wer­ politisch gewachsene Traditionen und die den Interessen nicht als exogen vorgegeben, Identität einer Nation ausgedehnt. Traditi­ sondern als endogen ausgebildete Phänomene onsbestände und historische Eigenheiten von betrachtet. Zum anderen prägt politische Kul­ Nationen spiegeln sich dabei in Phänomenen tur die Wahrnehmung der äußeren Umgebung der Gegenwart wider, sie gehen über empiri­ und determiniert, wie bestimmte Situationen sche Umfrageergebnisse hinaus und prägen und Gegebenheiten die Akteure beeinflussen, politisches Denken und Handeln. ❙5 von diesen beachtet und interpretiert werden. Darüber hinaus begrenzt politische Kultur die Zunehmend gewinnt – als ein weiterer We­ Perzeption von Handlungsoptionen. Durch sensgehalt politischer Kultur – der normati­ kulturelle Normen werden bestimmte Ver­ ve Aspekt an Bedeutung. In diesem Kontext haltensweisen von vornherein ausgeschlossen. stehen Verfassungsnormen und institutionel­ Auch wird die Auswahl der Handlungsoptio­ le Strukturen im Mittelpunkt der Betrach­ nen davon mitbestimmt, welche Instrumente tung. So ist politische Kultur einmal sichtbar und Verfahren als akzeptabel, angemessen in den Einstellungen der Bürger gegenüber und legitim erachtet werden. ❙8 dem politischen System und seinen Instituti­ onen, andererseits zeigt sich politische Kul­ Inzwischen haben sich politische Kulturan­ tur aber auch im politischen System und in sätze auch auf internationaler Ebene etabliert. seiner konstitutionellen Ordnung selbst. In Mit dem Ende des Kalten Krieges und der ihnen spiegeln sich Werthaltungen und cha­ „konstruktivistischen Wende“ fanden Schlüs­ rakteristische Verhaltensmuster wider. ❙6 selbegriffe wie Identitäten, Normen und (po­ litische) Kultur verstärkt Eingang in die In­ Der Begriff der politischen Kultur hat sich ternationalen Beziehungen. ❙9 In diesem Feld auf diese Weise sehr schnell von seinem ur­ stehen verschiedene Modelle zur Verfügung. sprünglichen Ansatz gelöst, sich stark erweitert Diese unterschiedlichen Ansätze und Begrif­ und ist inzwischen durch eine große Vielfalt fe reichen von „strategischer Kultur“ über geprägt. Heute enthält der Begriff empirische, „Organisationskultur“, „politisch-militäri­ scher Kultur“, „außenpolitischer Kultur“ bis ❙4 Gabriel A. Almond, Comparative Political Systems, in: The Journal of Politics, 18 (1956), S. 396. Als Pilot­ ❙7 Karl Rohe, Politische Kultur: Zum Verständnis ei­ studie zur politischen Kultur gilt Gabriel A. Almond/ nes theoretischen Konzepts, in: Oskar Niedermayer/ Sidney Verba, The Civic Culture. Political Attitudes Klaus von Beyme (Hrsg.), Politische Kultur in Ost- and Democracy in Five Nations, Princeton 1963. und Westdeutschland, Berlin 1994, S. 3. ❙5 Vgl. Kurt Sontheimer, Deutschlands Politische ❙8 Vgl. John S. Duffield, World Power Forsaken. Politi­ Kultur, München–Zürich 1990, S. 10; Wolfgang Ber­ cal Culture, International Institutions, and German Se­ gem, Tradition und Transformation. Eine vergleichen­ curity Policy after Unification, Stanford 1998, S. 26 f. de Untersuchung zur politischen Kultur in Deutsch­ ❙9 Vgl. Jeffrey T. Checkel, The Constructivist Turn in land, Opladen 1993, S. 27 f. International Relations Theory, in: World Politics, 50 ❙6 Vgl. K. Sontheimer (Anm. 5), S. 22. (1998) 2, S. 324–348.

40 APuZ 48/2011 hin zu „nationaler Sicherheitskultur“ und „si­ Die Zeit der Weimarer Republik steht da­ cherheitspolitischer Kultur“. Allen Modellen gegen für die negative Entwicklung der Ar­ gemeinsam ist ihr sozialkonstruktivistischer mee zum Staat im Staate, das heißt für die Ansatz, der die Bedeutung von Kultur, Identi­ Abkopplung des Militärs von der Republik tät, Werten und Normen für politisches Han­ und seiner Verfassung, verbunden mit der deln hervorhebt. In diesem Sinne verstehen Mitverantwortung der Reichswehr an der sich alle genannten Ansätze als eine Teilmen­ Machtübernahme Hitlers. ❙12 Dieser militäri­ ge der politischen Kultur, inhaltlich bezogen sche Traditionsbruch war in erster Linie in auf den Kontext von Krieg und Militär bezie­ einem Loyalitätsproblem begründet. Wäh­ hungsweise weiter gefasst auf die Gesamtheit rend das Offizierskorps in Preußen emoti­ der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungs­ onal und vernunftmäßig hinter dem Reich politik. In diesem Beitrag wird der Begriff der und dem Kaiser und damit der gesamten politisch-militärischen Kultur verwendet. Im Staatsordnung stand, war das Offiziers­ Fokus des Interesses stehen – bezogen auf die korps in der Reichswehr noch stark monar­ Wehrpflicht – politisch-militärische Traditi­ chistisch geprägt und der Republik und sei­ onsbestände, Normen der Außen-, Sicherheits- ner Verfassung gegenüber eher gleichgültig und Verteidigungspolitik sowie entsprechende ­eingestellt. ❙13 Orientierungsmuster in der Bevölkerung. Der tiefe historische Einschnitt, der die po­ litische und speziell auch die politisch-militä­ Politisch-militärische Traditionsbestände rische Kultur in der Bundesrepublik nachhal­ tig prägte, war der Nationalsozialismus. Die Jede politische Kultur fußt auf Traditionsbe­ Bundesrepublik konnte sich als politisches ständen. Für die Bundesrepublik Deutschland Gemeinwesen nur etablieren, wenn sie von treten hier allerdings Schwierigkeiten auf, denn ihren politischen Traditionen, die zu diesem alle vorangegangenen Epochen – Preußen und Desaster geführt hatten, abrückte. In der Fol­ die Kaiserzeit, die Weimarer Republik und der ge wurden nationalistische, militaristische Nationalsozialismus – dienen heute nicht der und antidemokratische Traditionen ­bewusst nationalen Identifikation. Politische Traditi­ unterdrückt. ❙14 on in Deutschland ist nicht durch eine relati­ ve Stabilität und Kontinuität gekennzeichnet, sondern durch Umbrüche, Verwerfungen und Normen der deutschen Außen-, historische Einschnitte geprägt worden. Sicherheits­ und Verteidigungspolitik

Zu einer wesentlichen Traditionslinie der Vor dem Hintergrund dieser politisch-mili­ deutschen politischen Kultur vor 1945 ge­ tärischen Traditionslinien, insbesondere der hörte die militaristische Orientierung: „Die historischen Erfahrungen mit dem National­ Deutschen hatten ein Faible für alles Mili­ sozialismus, entwickelte sich nach 1945 in der tärische.“ ❙10 Diese Tradition begründete sich Bundesrepublik eine Politik der Zurückhal­ aus der Geschichte Preußens. Die erreichte tung. Diese stützte sich auf drei handlungs­ Größe und Macht verdankte Preußen seiner leitende Normen der deutschen Außen-, Armee. So verband sich die nationale Identi­ Sicherheits- und Verteidigungspolitik: Anti­ tät mit dem Stolz auf das Militär. Dieses wur­ militarismus, Multilateralismus sowie Inte­ de in Preußen zur Schule der Nation und der gration und Westbindung. ❙15 Mit der Norm Offizier zum gesellschaftlichen Leitbild. ❙11 des Antimilitarismus verbunden war der frie­

❙10 W. Bergem (Anm. 5), S. 95. ❙12 Vgl. W. Bergem (Anm. 5), S. 334. ❙11 Vgl. Roland Roth, Auf dem Wege zur Bürgergesell­ ❙13 Vgl. Carl Hans Hermann, Deutsche Militärge­ schaft? Argumente und Thesen zur politischen Kultur schichte. Eine Einführung, München 1979³, S. 373. ❙14 der Bundesrepublik, in: Gerd Koch (Hrsg.), Experi­ Vgl. K. Sontheimer (Anm. 5), S. 35. ❙15 Vgl. u. a. J. S. Duffield (Anm. 8), S. 60 ff.; Hanns ment: Politische Kultur. Berichte aus einem neuen ge­ W. Maull, Außenpolitische Kultur, in: Karl-Rudolf sellschaftlichen Alltag, Frankfurt/M. 1985, S. 15 f.; W. Korte/Werner Weidenfeld, Deutschland-TrendBuch. Bergem (Anm. 5), S. 95 ff.; Martin Greiffenhagen, Poli­ Fakten und Orientierungen, Opladen 2001, S. 651 ff.; tische Tradition, in: ders./Sylvia Greiffenhagen (Hrsg.), Martin Florack, Kriegsbegründungen. Sicherheits­ Handwörterbuch zur politischen Kultur der Bundes­ politische Kultur in Deutschland nach dem Kalten republik Deutschland, Wiesbaden 2002², S. 95 ff. Krieg, Magdeburg 2005, S. 45 f.

APuZ 48/2011 41 densethisch motivierte Appell „Nie wieder treten. ❙18 Dennoch ist die grundsätzliche Krieg!“ Das bedeutete eine Skepsis gegenüber Skepsis gegenüber militärischen Mitteln in militärischer Macht und der Anwendung mi­ der Politik im Kern geblieben. Dies zeigte litärischer Mittel in der Politik. Militär als ein sich nicht nur an der deutschen Position zum Instrument der Außenpolitik wurde zumin­ Irakkrieg. Insbesondere die ambivalente Hal­ dest bis 1990 kategorisch abgelehnt. Damit tung zum Libyeneinsatz symbolisiert in ide­ verbunden war der ausschließliche Defensiv­ altypischer Weise das Spannungsverhältnis charakter der deutschen Streitkräfte. Mit dem zwischen diesen beiden Normen. So lassen Multilateralismus und der damit eng verbun­ sich zwar deutliche Akzentverschiebungen, denen europäischen Integration und West­ nicht aber substanzielle Veränderungen be­ orien­tierung wurden außenpolitisch ver­ züglich der Normen deutscher Außen- und schiedene Ziele verfolgt: Einmal wurden auf Sicherheitspolitik feststellen. diese Weise deutsche Sonderwege und Allein­ gänge verhindert. Die Bundesrepublik wurde in die westeuropäische und transatlantische Wehrpflicht und Gemeinschaft aufgenommen. Zum anderen politisch-militärische Kultur führte die europäische Integration nicht nur zur Überwindung des Nationalismus und Wie prägen nun diese politisch-militärischen antidemokratischer Strukturen, sondern gab Traditionen und Normen der deutschen Au­ der Bundesrepublik nach ihren Erfahrungen ßen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik die mit dem Nationalsozialismus auch die Chan­ Bundeswehr, und in welcher Beziehung stehen ce einer neuen nationalen beziehungsweise sie zur Wehrpflicht? Die historischen Erfah­ europäischen Identität. rungen insbesondere mit dem Nationalsozialis­ mus und die darauf basierende Norm des Anti­ In der zweiten Hälfte der 1990er Jahren ge­ militarismus prägten in erheblichem Maße die rieten diese Normen unter Anpassungsdruck. Diskussionen um die deutsche Wiederbewaff­ In der Folge lässt sich ein „gestiegene(s), aber nung. Gegen die ablehnende Haltung der Be­ durchaus verantwortungsorientierte(s) und völkerung wurde die Aufstellung der Bundes­ moderate(s) Selbstbewusstsein“ ❙16 erkennen. wehr beschlossen. ❙19 Sie war das Ergebnis der Deutschland übernimmt inzwischen eine grö­ sicherheitspolitischen Lage Deutschlands als ßere regionale und globale Verantwortung. „Frontstaat“ im Ost-West-Konflikt und auf Damit hat sich die außen- und sicherheitspo­ die Einbindung in die NATO zugeschnitten, litische Kultur um eine neue Komponente er­ womit ein deutscher Alleingang verhindert weitert. Die oben identifizierten Grundlagen werden sollte. Im Hinblick auf die Ausgestal­ und Normen bestehen aber in wesentlichen tung und die innere Struktur der Bundeswehr Aspekten weiter fort. Die Bedeutung des orientierte man sich stark an den historischen Multilateralismus und der europäischen In­ Erfahrungen und den daraus resultierenden tegration ist unverändert geblieben. Letztlich Normen. Im Mittelpunkt standen zwei Kon­ zeugt davon auch die „jeden Sonderweg ver­ zepte, die insbesondere auf das zivil-militä­ meidende deutsche Beteiligung am Kosovo- rische Verhältnis zielten: die Innere Führung Krieg 1999 mit dem ersten Kampfeinsatz der und die allgemeine Wehrpflicht. ❙20 Bundeswehr“. ❙17 Dabei wird die Bündnisso­ lidarität mit dem Argument der gestiegenen Die Innere Führung sollte zu einer Demo­ Verantwortung Deutschlands verknüpft. In kratisierung der Streitkräfte beitragen. Sie dieser Konstellation tritt dann allerdings die orientiert sich an den verfassungsrechtlich Norm des Multilateralismus in Konkurrenz verankerten Normen einer demokratischen zu der des Antimilitarismus. Dieses Span­ nungsverhältnis wird gelöst durch eine zu­ ❙18 Vgl. M. Florack (Anm. 15), S. 50 ff., S. 130 ff. nehmende Verschiebung der Handlungsauf­ ❙19 Nur 38 Prozent der Befragten fanden den Aufbau forderung von „Nie wieder Krieg!“ zu „Nie einer deutschen Armee gut. Vgl. Bodo Harenberg wieder Auschwitz!“, verbunden mit dem An­ (Hrsg.), Chronik des 20. Jahrhunderts, Dortmund 13 spruch, Aggressoren deutlich entgegenzu­ 1993 , S. 824. ❙20 Vgl. Thomas U. Berger, Norms, Identity, and National Security in Germany and Japan, in: Pe­ ❙16 H. W. Maull (Anm. 15), S. 655. ter J. Katzenstein (ed.), The Culture of National Se­ ❙17 Wolfgang Bergem, Identität, in: M. Greiffen­ curity: Norms and Identity in World Politics, New hagen/S. Greiffenhagen (Anm. 11), S. 196. York 1996, S. 334.

42 APuZ 48/2011 Gesellschaft. Das enthält Aspekte wie die Als eine weitere Argumentationslinie für verfassungsrechtliche Einbindung der Streit­ die Wehrpflicht stehen die Erfahrungen der kräfte, das Primat der Politik, Menschenfüh­ Weimarer Republik. So könne eine Berufsar­ rung sowie Rechte und Pflichten der Solda­ mee zu einem Staat im Staate führen und zu ten. Im Fokus steht die demokratische und Putschversuchen missbraucht werden. Aus zivile Kontrolle des Militärs. So können die dieser Negativtradition heraus gilt die Wehr­ einzelnen Elemente im Konzept der Inne­ pflicht als das geeignete Mittel, ein Eigenleben ren Führung als eine klare Distanzierung zu der Armee zu verhindern und die Integration früheren zivil-militärischen Verhältnissen in der Streitkräfte in die Gesellschaft zu gewähr­ Deutschland betrachtet werden. leisten. ❙24 Schon seit Beginn des Bestehens der Bundeswehr ist die Wehrpflicht mit diesem Mit der allgemeinen Wehrpflicht sollte der Argument gesellschaftlich begründet worden. personelle Bedarf gedeckt und die Loyalität der gesamten Bevölkerung zu den Streitkräf­ Gegenwärtig dominieren in Europa Ein­ ten sichergestellt werden. In diesem Zusam­ sätze von Streitkräften im Rahmen der inter­ menhang wird häufig der frühere Bundes­ nationalen Konfliktverhütung und Krisen­ präsident Theodor Heuss zitiert, der in der bewältigung. Da nur Freiwillige zu diesen Wehrpflicht das „legitime Kind der Demo­ internationalen Einsätzen herangezogen wer­ kratie“ sah. Historisch verweist man auf die den (können), steht die Wehrpflicht auch für Reformer der preußischen Militär-Reorgani­ den Defensivcharakter der Streitkräfte. Das sationskommission – namentlich vor allem auf entspricht zwar der deutschen Norm des An­ Gerhard von Scharnhorst, Hermann von Bo­ timilitarismus und der Politik der Zurück­ yen und August Neidhardt von Gneisenau – haltung, begrenzt auf der anderen Seite aber die aus einem sozietären, liberalen Staats- und auch die Kapazitäten im Rahmen der gemein­ Gesellschaftsverständnis heraus ein bürger­ samen europäischen und transatlantischen lich verfasstes Militär, die Integration der Außen- und Sicherheitspolitik – ein wesentli­ Bürger in diese Institution und eine bürgerli­ cher Grund, warum andere europäische Staa­ che Machtteilhabe forderten. In diesem Kon­ ten die Wehrpflicht längst abgeschafft be­ text steht auch das von Lazare Nicolas Mar­ ziehungsweise ausgesetzt haben, und auch guérite Carnot stammende und in deutscher ein Grund, warum Deutschland zum 1. Juli Fassung in Verbindung mit Scharnhorst ge­ 2011 die Wehrpflicht aussetzte. So trafen brauchte Zitat „Jeder Bewohner des Lan­ mit der gestiegenen regionalen und globalen des ist der geborene Verteidiger desselben.“ ❙21 Verantwortung Deutschlands zwei Normen „Bürger in Uniform“ beziehungsweise „Bür­ deutscher Außen-, Sicherheits- und Vertei­ ger in Waffen“ waren dabei die Synonyme der digungspolitik aufeinander, die im Wider­ preußischen Reformzeit. ❙22 Dieser Leitgedan­ spruch zueinander standen und nicht mehr ke der preußischen Heeresreform stellt auch miteinander zu vereinbaren waren. Dass das heute noch eine wesentliche Traditionslinie identitätsstiftende Moment der Wehrpflicht der Bundeswehr dar. So heißt es beispielswei­ noch immer in gewisser Weise aufrechter­ se im sogenannten Traditionserlass der Bun­ halten wird, zeigt sich beispielsweise in den deswehr: „Für die Traditionsbildung in den jüngsten verteidigungspolitischen Richtli­ Streitkräften ist von Bedeutung, dass die Bun­ nien. Obwohl diese – am 27. Mai 2011 erlas­ deswehr die erste Wehrpflichtarmee in einem sen – schon vor dem Hintergrund der Aus­ demokratischen deutschen Staatswesen ist.“ ❙23 setzung der Wehrpflicht stehen, heißt es dort zum Selbstverständnis der Bundeswehr: „Die Bundeswehr wird mit der Aussetzung der ❙21 Zit. nach Eckardt Opitz, Allgemeine Wehrpflicht – Verpflichtung zum Grundwehrdienst ganz ein Problemaufriß aus historischer Sicht, in: ders./ Frank S. Rödiger (Hrsg.), Allgemeine Wehrpflicht. zu einer Armee von Freiwilligen. Die Prin­ Geschichte – Probleme – Perspektiven, Bremen 1994, zipien der Inneren Führung mit dem Leitbild S. 13. des Staatsbürgers in Uniform bestehen unver­ ❙22 Vgl. Detlef Bald, Wehrpflicht – Der Mythos vom ändert fort.“ ❙25 legitimen Kind der Demokratie, in: E. Opitz/F. S. Rödiger (Anm. 21), S. 33. ❙23 Traditionserlass der Bundeswehr von 1982, Punkt ❙24 Vgl. J. S. Duffield (Anm. 8), S. 168. 9, in: Der Bundesminister der Verteidigung, ZDv ❙25 Der Bundesminister der Verteidigung, Verteidi­ 10/1 Innere Führung. Selbstverständnis und Füh­ gungspolitische Richtlinien, Berlin 2011, S. 19 (Her­ rungskultur der Bundeswehr, Bonn 2008, Anlage 3. vorhebung I.-J. W.).

APuZ 48/2011 43 Orientierungsmuster Zivildienst und in der Bevölkerung politisch-militärische Kultur

Die der Wehrpflicht zugrunde liegenden po­ Eine komplementäre Konsequenz einer litisch-militärischen Traditionen und Nor­ demokratischen Legitimation von Streit­ men deutscher Außen- und Sicherheitspolitik kräften bildet insbesondere das Recht auf finden sich auch im Denken und Empfinden Kriegsdienstverweigerung. ❙28 Gegründet auf der Bürger wieder. ❙26 Neben einer grundsätz­ historische Erfahrungen im Nationalso­ lich hohen Akzeptanz der Bundeswehr in der zialismus und der sich daraus ableitenden Bevölkerung – je Betrachtungsjahr zwischen Norm des Antimilitarismus ist dieses Recht 80 und 88 Prozent – ist auch hier eine gewis­ auch verfassungsrechtlich – schon vor und se Skepsis gegenüber militärischen Mitteln unabhängig von der Einführung der Wehr­ in der Politik – auch wenn diese kein Tabu pflicht – verankert worden. So heißt es be­ mehr darstellen – erkennbar. So spricht sich reits an vorderer Stelle im Grundgesetz, in noch immer weniger als die Hälfte der Deut­ Artikel 4, Absatz 3: „Niemand darf gegen schen – je nach Betrachtungsjahr zwischen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der 32 und 45 Prozent – für eine aktive Außen- Waffe gezwungen werden.“ Es gehört damit und Sicherheitspolitik aus. Diese favorisieren zu den Grundrechten der Bundesrepublik dann auch eher gewaltfreie Formen der Un­ Deutschland. terstützung: medizinische Hilfe durch zivile Organisationen (97 Prozent), Lieferung von Der Zivildienst (beziehungsweise zivile Nahrungsmitteln und sonstigen Hilfsgütern Ersatzdienst), der, gekoppelt an den Wehr­ (97 Prozent) sowie technische Hilfe durch dienst, sich aus diesem Recht auf Kriegs­ zivile Organisationen (97 Prozent) oder die dienstverweigerung ableitet, genoss in der Bundeswehr (95 Prozent). ❙27 Friedenssichern­ Bundesrepublik ein hohes Ansehen. Er galt de Einsätze der Bundeswehr im Rahmen von schon lange nicht mehr nur als Ausnahme Missionen der Vereinten Nationen finden in von der Regel, sondern etablierte sich zu diesem Kontext einen deutlich höheren Zu­ einem anerkannten und wichtigen Gesell­ spruch (91 Prozent) als friedenserzwingende schaftsdienst. Er wurde zu einer wesentli­ Einsätze zum Beispiel durch Entsendung von chen Stütze im sozialen Bereich. 1998 ha­ Kampftruppen (44 Prozent). ben erstmalig mehr Wehrpflichtige (über 170 000) den Kriegsdienst verweigert und Auch in den Meinungen und Einstellun­ Zivildienst geleistet als zur Bundeswehr ein­ gen der Bevölkerung zur allgemeinen Wehr­ gezogen wurden. ❙29 Diese Zahlen der Kriegs­ pflicht lassen sich übereinstimmende Positi­ dienstverweigerung lassen sich nicht allein onen aufzeigen. Die allgemeine Wehrpflicht auf den Antimilitarismus und Pazifismus stieß konstant – von 1997 bis 2010 – bei einer zurückführen. Der Zivildienst hat sich letzt­ großen Mehrheit – je Betrachtungsjahr zwi­ lich von seinen Ursprüngen gelöst und zu ei­ schen 68 und 80 Prozent – auf Zustimmung. ner eigenständigen Institution entwickelt. Im Hinblick auf die beiden Alternativen Bei­ So bestand auch eine zentrale Argumenta­ behaltung oder Abschaffung der Wehrpflicht tionslinie für die Beibehaltung der Wehr­ sprachen sich in den vergangenen Jahren (bis pflicht darin, den Zivildienst nicht aufgeben 2009) zwei von drei Bundesbürgern für die zu wollen. Wehrpflicht aus. Dies spiegelt sich auch im Meinungsbild der Bevölkerung wider. Danach wird nicht nur ❙26 Vgl. die jährlichen Bevölkerungsumfragen des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr, der Wehrdienst, sondern auch der Zivildienst insbesondere der Jahre 2003 bis 2010, online: www. in der Bundesrepublik als wichtig angese­ sowi.bundeswehr.de (7. 9. 2011). hen. Zwei Drittel der Bevölkerung bewerten ❙27 Vgl. Sozialwissenschaftliches Institut der Bun­ Wehrdienst und Zivildienst als gleicherma­ deswehr, Bevölkerungsumfrage 2005. Repräsentative ßen wichtig. Das verbleibende Drittel favori­ Befragung zum sicherheits- und verteidigungspoli­ tischen Meinungsbild in Deutschland. Ergebnisbe­ richt, Strausberg 2005, S. 15 f. In jüngeren Umfragen ❙28 Vgl. Ralf Zoll, Militär, in: M. Greiffenhagen/S. ist der Fragenkatalog nach Instrumenten deutscher Greiffenhagen (Anm. 11), S. 267. Außenpolitik nicht mehr enthalten. ❙29 Vgl. ebd.

44 APuZ 48/2011 siert jeweils zu gleichen Anteilen den Wehr- Kontext gesamtgesellschaftlicher Verände­ beziehungsweise Zivildienst. ❙30 rungen. Stand historisch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in einem engen Zu­ Im Hinblick auf das Rekrutierungssystem sammenhang mit der gesellschaftlichen Na­ erhielt – bei Vorliegen verschiedener Op­ tionenbildung, tritt nun ein neues, die Sou­ tionen – die Einführung einer allgemeinen veränität des Nationalstaates schwächendes Dienstpflicht, bei der zwischen Wehrdienst Gesellschaftsmodell in Erscheinung. Eu­ und anderen Diensten für die Gesellschaft ropa wird zunehmend durch Tendenzen der gewählt werden kann, die höchste Zustim­ Globalisierung geprägt. Das zeigt sich auch mung (mit 48 Prozent im Jahr 2003 bezie­ in der Außen-, Sicherheits- und Verteidi­ hungsweise 57 Prozent im Jahr 2005). ❙31 Bei gungspolitik. Mittlerweile dominieren ein der von der Bevölkerung favorisierten Op­ weit gefasster Verteidigungsbegriff sowie tion einer allgemeinen Dienstpflicht wären eine globale sicherheitspolitische Ausrich­ beide Teilbereiche – die Wehrpflichtkompo­ tung, womit auch nationale Elemente wie die nente wie auch in angepasster Form der Zi­ Wehrpflicht zurückgedrängt werden. Hinzu vildienst – erhalten geblieben. Dieser Vari­ kommt der Wertewandel in der Gesellschaft, ante standen jedoch starke Ressentiments geprägt durch die Betonung individualisti­ seitens der politischen Akteure gegenüber. scher Werte, der neue Formen der aktiven Hier existierten sowohl Bedenken vor dem Partizipation erfordert. Pflichtdienste wie Hintergrund der deutschen Geschichte als die Wehrpflicht laufen dieser Entwicklung auch im Hinblick auf deutsche Sonderwege, zuwider. denn eine derartige Regelung wäre einmalig in Europa gewesen. Ziel muss es sein, individuelle Rechte mit der Verantwortlichkeit des Individuums für die Gemeinschaft ins Gleichgewicht zu brin­ Fazit und Ausblick gen. Dies kann durch ein verstärktes frei­ williges bürgerschaftliches Engagement er­ Zusammenfassend betrachtet lassen sich mit reicht werden. Ein solcher Freiwilligendienst dem Ende des Kalten Krieges in der Bun­ kann einerseits der Persönlichkeitsentwick­ desrepublik kontrastierende Traditionslini­ lung und Qualifizierung Jugendlicher so­ en innerhalb der politisch-militärischen Kul­ wie als Übergang und Orientierung in der tur ausmachen, die zu einem Abwägen ihrer Lebensphase zwischen Schule und Arbeits­ identitätsstiftenden Elemente führten – Anti­ markt dienen. Andererseits kann er dem Ge­ militarismus und Wehrpflicht auf der einen, meinwohl zugute kommen und Jugendliche Multilateralismus sowie europäische und zu aktiven Bürgern erziehen. Vor diesem transatlantische Bindung auf der anderen Sei­ Hintergrund könnte die Zivildiensttraditi­ te. Dies erklärt auch in einem hohen Maße die on – in angepasster Form – weiter aufrecht­ Dauer, Intensität und Emotionalität der deut­ erhalten werden. So waren auch die jüngsten schen Debatten um die Wehrpflicht, bei der Beschlüsse zur Aussetzung der Wehrpflicht letztlich die Wehrpflichttradition zuguns­ in Europa häufig mit konkreten Bemühun­ ten einer multilateralen, militärisch aktiven gen der jeweiligen Regierungen beziehungs­ Außen- und Sicherheitspolitik aufgegeben weise Verteidigungsministerien verbunden, ­wurde. ein gesellschaftliches Pendant zu schaffen (zum Beispiel in Frankreich, den Niederlan­ Gleichfalls steht die gegenwärtige Phase den oder Belgien). Diese offerieren dann auch der Umstellung der europäischen Rekrutie­ die Möglichkeit eines Engagements im mili­ rungssysteme auf Freiwilligenstreitkräfte im tärischen Bereich. Vieles spricht dafür, dass diese ersten Ansätze eines freiwilligen Ge­ ❙30 Vgl. ebd. sellschaftsdienstes in Europa künftig aus­ ❙31 Vgl. Sozialwissenschaftliches Institut der Bundes­ gebaut und eine zunehmende Bedeutung wehr (Anm. 27), S. 39. In jüngeren Umfragen ist diese erfahren werden. Der in Deutschland ein­ Frage nicht mehr enthalten. In der Bevölkerungsum­ geführte Bundesfreiwilligendienst steuert in frage von 2007 wurde diese Option auf „Männer und diese Richtung. Frauen“ erweitert und ist damit aus methodischen Gründen nicht verwertbar, zumal alle Bevölkerungs­ umfragen durchgängig einen Wehrdienst für Frauen mit großer Mehrheit ablehnen.

APuZ 48/2011 45 Holger Backhaus-Maul · Als ziviler Ersatzdienst für die Wehr­ Stefan Nährlich · Rudolf Speth pflicht war der Zivildienst rechtlich ana­ log zum Wehrpflichtgesetz konzipiert wor­ den. ❙1 In diesem Sinne war der Zivildienst Der diskrete Charme ein Pflichtdienst, der für die Beteiligten mit einer Einschränkung bürgerlicher Freiheits­ rechte einherging und sie befristet dem Aus­ des neuen Bundes­ bildungs- und Arbeitsmarkt entzog. Der Ein­ satz Zivildienstleistender erfolgte in staatlich freiwilligendienstes anerkannten gemeinnützigen ­Arbeitsfeldern, zumeist im Gesundheits- und Sozialbereich. Für Zivildienstleistende galten – wie für ie Wehrpflicht galt vielen als integraler Wehrdienstleistende – keine arbeits- und ta­ DBestandteil des staatlichen Selbstver­ rifvertraglichen Regelungen, so dass sie für ständnisses der Bundesrepublik Deutschland. einen geringen Sold und ohne Mitbestim­ Erst als im Spätsom­ mungs- und Streikrecht äußerst preiswert Holger Backhaus-Maul mer 2010 der damalige und hoch verlässlich Arbeitsleistungen er­ geb. 1960; Soziologe und Verteidigungsminis­ brachten. Volkswirtschaftlich betrachtet han­ Verwaltungswissenschaftler, ter Karl-Theodor zu delt es sich um einen staatlich regulierten wissenschaftlicher Mitarbeiter, Guttenberg die „Aus­ Niedriglohnsektor im Sozial- und Gesund­ Martin-Luther-Universität Halle- setzung“ der Wehr­ heitsbereich, der zugleich aber dem regulä­ Wittenberg; sachverständiges pflicht und damit bei­ ren Ausbildungs- und Arbeitsmarkt wichtige Mitglied der Kommission zur läufig auch des zivi­ Personalressourcen entzog. ❙2 Erstellung des Ersten Engage- len Ersatzdienstes auf mentberichts der Bundesregie- die politische Agenda In Kenntnis der faktischen Bedeutung und rung; Franckeplatz 1, Haus 6, setzte, überschlugen des absehbaren Endes des Zivildienstes be­ 06110 Halle. sich die politischen schloss die Bundesregierung bereits am 15. De­ holger.backhaus-maul@ Entscheidungen. zember 2010 – quasi als „Ersatz für den zivilen paedagogik.uni-halle.de. Ersatzdienst“ – die Einführung eines Bundes­ Das vorläufige Ende freiwilligendienstes. Am 24. April 2011 verab­ Stefan Nährlich der Wehrpflicht mar­ schiedete der Bundestag das Gesetz über den Dr. rer. pol., geb. 1963; kiert eine tiefgreifende Bundesfreiwilligendienst, ❙3 das am 3. Mai 2011 ­Wirtschaftswissenschaftler; Zäsur im konservati­ in Kraft trat und die Rechtsgrundlage für den Geschäftsführer, Aktive ven deutschen Welt­ ab dem 1. Juli 2011 verfügbaren Bundesfrei­ Bürgerschaft e. V., Kompetenz- bild. Mit der Ausset­ willigendienst (BFD) bildet. zentrum für Bürgerengagement zung der Wehrpflicht der Volksbanken Raiffeisen- zum 1. Juli 2011 war Zäsuren wie das Ende des ­Zivildienstes banken, Reinhardtstraße 25, zugleich auch das vor­ rufen Kritik, Zustimmung und Ablehnung 10117 Berlin. läufige Ende des Zi­ hervor. Die jährlich rund 100 000 Zivil­ stefan.naehrlich@ vildienstes entschie­ dienstleistenden ❙4 stellten ein erhebliches Ar­ aktive-buergerschaft.de den, der bis dahin ein beitskräftepotenzial im Sozial- und Gesund­ ziviler Ersatzdienst heitssektor dar, das mit dem Auslaufen des Rudolf Speth für diejenigen jun­ Zivildienstes schlicht fehlt. Damit entfällt Dr. phil. habil., geb. 1957; Privat- gen Männer war, die dozent, Freie Universität Berlin; den Kriegsdienst ver­ ❙1 Vgl. Patrick Bernhard, Zivildienst zwischen Re­ Vertretungsprofessur Politisches weigerten. Der Über­ form und Revolte: Eine bundesdeutsche Institution System der Bundesrepublik gang vom Zivildienst im gesellschaftlichen Wandel 1961–1982, München Deutschland/Staatlichkeit im 2005; Hans-Theo Brecht, Kriegsdienstverweigerung zum Bundesfreiwilli­ und Zivildienst. Kriegsdienstverweigerungsgesetz, Wandel, Universität Kassel; gendienst ist – gemes­ Zivildienstgesetz, München 2004. Jagowstraße 30, 10555 Berlin. sen am Etatvolumen ❙2 Vgl. Holger Backhaus-Maul/Christian Schütte/ [email protected]. von rund 300 Millio­ Dita Vogel, Eine allgemeine Dienstpflicht als Mittel nen Euro – die bisher zur Lösung des Pflegenotstands?, in: Zeitschrift für größte politische Einzelmaßnahme des Bun­ Sozialreform, 37 (1991) 6, S. 349–366. ❙3 BGBl. I, S. 687. desministeriums für Familie, Senioren, Frau­ ❙4 Vgl. http://de.statista.com/statistik/daten/studie/​ en und Jugend (­BMFSFJ) in der laufenden 70600/umfrage/einberufungen-zum-zivildienst-pro- Legislaturperiode. jahr/ (3. 10. 2011).

46 APuZ 48/2011 zugleich auch eine wichtige Sozialisations­ Deutschland auf eine ausdifferenzierte und instanz für junge Männer in Deutschland ❙5 plurale sowie von Eigensinn und Selbstbe­ sowie vor allem auf Seiten von Non-Profit- stimmung geprägte Welt des freiwilligen En­ Orga­nisationen ein wettbewerbsstrategischer gagements, die mit der staatlichen Logik des Ressourcenvorteil und ein wichtiges Rekru­ BFD fremdelt. tierungsfeld für Fach- und Führungskräfte.

Die Bundesregierung stand folglich mit Zivildienst und Zivilgesellschaft dem Ende des Zivildienstes einerseits vor der Aufgabe, einen adäquaten Ersatz für Auch wenn Begriffe wie Zivildienst und Zi­ „preiswerte“ Zivildienstleistende bereitzu­ vilgesellschaft semantische Gemeinsamkei­ stellen und andererseits die administrativen ten andeuten, so wird bei näherer Betrach­ und personellen Strukturen des Bundesam­ tung unmittelbar deutlich, dass es sich um tes für den Zivildienst mit seinen diversen Zi­ zwei unterschiedliche Welten mit je spezi­ vildienstschulen und Regionalbeauftragten fischer Logik handelt. Worin besteht diese entweder aufzulösen oder umzuwandeln. ❙6 Differenz? Der Zivildienst entstammt dem Mit einem Bundesfreiwilligendienst eröff­ Bereich staatlich und nationalstaatlich or­ nete sich für die Bundesregierung und das ganisierter Politik, die dem Ziel diente, dass zuständige BMFSFJ eine vielversprechen­ Bürger der Leistungsverpflichtung „ihrem de Lösungsmöglichkeit in der Tradition des Land“ gegenüber ungefragt nachkommen staatlichen Zivildienstes. Der Haushaltstitel und dabei auch noch zu besseren Staatsbür­ mit den entsprechenden Mitteln und die vor­ gern erzogen werden. handenen administrativen und personellen Strukturen konnten problemlos fortgeführt Die Ausgestaltung des Zivildienstes ent­ werden. Damit konnte der Bund eigenstän­ sprach weitgehend der des Wehrdienstes mit dig und zugleich konkurrierend mit den Län­ vergleichbaren Pflichten und Dienstzeiten dern im Handlungsfeld Freiwilligendienste sowie Arbeits- und Besoldungsformen, die tätig sein, das seit Jahren mit dem Freiwilli­ den Dienstleistenden keine Freiheiten eröff­ gen Sozialen Jahr (FSJ) und dem Freiwilli­ neten, um ihre Tätigkeiten selbstbestimmt gen Ökologischen Jahr (FÖJ) eine Domäne ausführen zu können, sondern eine klar de­ der Bundesländer – in enger Zusammenarbeit finierte und geregelte Dienstpflicht konstitu­ mit gemeinnützigen Verbänden – war. Mit ierten. Es war in gewisser Weise ein „Dienst dem Hinweis auf den ansonsten drohenden an der Nation“. Gleichzeitig war der Zivil­ Verfall der Bundesmittel und dem Verspre­ dienst weitgehend apolitisch und frei von chen auf eine mittelfristige Harmonisierung Vorstellungen und Möglichkeiten direkter der konkurrierenden Freiwilligendienste von politischer Partizipation. Im Kern ging es da­ Bund und Ländern stimmten die Bundeslän­ rum, soziale Dienstleistungen für politisch der letztlich dem BFD zu, und die Verbände gesetzte Zwecke bereitzustellen. Gleichwohl boten sich nach anfänglichem Zögern bereit­ wurden mit dem Zivildienst Vorstellungen willig als Träger und Dienststellen des neuen und Hoffnungen verbunden, junge Männer BFD an. zu guten Staatsbürgern erziehen zu können. Diese Vorstellung geht oftmals einher mit Jenseits dieser dualen und nicht friktions­ der Befürchtung eines Verlustes von gemein­ losen Struktur von BFD einerseits und FSJ wohlorientierten Haltungen bei Jugendlichen und FÖJ andererseits steht der BFD derzeit und eines Niedergangs des Gemeinsinns. Der aber vor einer ungleich größeren sozialkul­ Zivildienst war insofern unterlegt mit sozial­ turellen Herausforderung: Der BFD trifft in kulturellen Vorstellungen von staatsbürgerli­ cher Erziehung und Gesinnung. ❙7 ❙5 Vgl. Heinz Bartjes, Der Zivildienst als Sozialisati­ onsinstanz. Theoretische und empirische Annährun­ Ganz anders hingegen stellt sich die Zivil­ gen, Weinheim-München 2001. gesellschaft dar. Im Kern geht es hier – unter ❙6 Die Zahl der Zivildienstleistenden ist von mehr als 119 000 im Jahr 2000 auf etwa 63 500 im Jahr 2008 ge­ sunken. Im gleichen Zeitraum sank die Zahl der Stel­ ❙7 Vgl. Herfried Münkler/Anna Loll, Das Dilemma len im Bundesamt für den Zivildienst aber nur von von Tugend und Freiheit. Die Notwendigkeit von Ei­ 1119 auf 872. Vgl. www.bundestag.de/presse/hib/​ genverantwortung in einer funktionierenden Bürger­ 2010_01/​2010_​001/​03.html (3. 10. 2011). gesellschaft, Bonn 2005.

APuZ 48/2011 47 Verweis auf Freiwilligkeit und Selbstbestim­ ren auf bundespolitischer Ebene semantische mung – um bürgerschaftliches Engagement. ❙8 Bestrebungen, den Zivildienst, der ein staat­ Damit wird ein individuelles Handeln be­ licher Pflichtdienst ist und nichts mit Frei­ zeichnet, das auf Freiwilligkeit beruht, mit willigkeit zu tun hat, in die Nähe von Freiwil­ keinen materiellen Gewinnabsichten verbun­ ligendiensten zu rücken. Freiwilligendienste den ist und im weitesten Sinne einen Beitrag hingegen, wie das FSJ und das FÖJ, sind seit zum Gemeinwohl leistet. Die Welt der Zivil­ Jahrzehnten ein wichtiger Bestandteil bür­ gesellschaft und ihres bürgerschaftlichen En­ gerschaftlichen Engagements. Auch wenn gagements ist schillernd und facettenreich. Freiwilligendienste Bestandteil einer ver­ Engagement gibt es in verschiedenen Aus­ bindlichen und auf Dauer angelegten Dienst­ prägungen in fast allen Lebensbereichen, von leistungskultur sind, so gründen sie letztlich Sport und Freizeit über Soziales und Kultur in der Freiwilligkeit der ­Engagierten. bis hin zu Umweltschutz und Politik. Ein wesentliches Merkmal des bürgerschaftlichen Engagements ist sein politischer Charakter, Potenziale und Entwicklungen der über das Erbringen sozialer Dienstleis­ der Zivilgesellschaft tungen hinausweist: Im Mittelpunkt stehen Fragen der Mitentscheidung und der Mitge­ Die Welt der Zivilgesellschaft und des bür­ staltung in engagementpolitischen Gegen­ gerschaftlichen Engagements ist für staatli­ stands- und Handlungsbereichen. In die­ ches Entscheiden und Handeln von hoher At­ sem Sinne ist bürgerschaftliches Engagement traktivität, da sie in den vergangenen Jahren keine schlichte Dienstpflicht, sondern eine eine deutliche Aufwertung erfahren hat. Da­ selbstgewählte und vielfach selbstorganisierte bei sind Freiwilligendienste nur ein sehr klei­ Tätigkeit. Bürgerschaftliches Engagement in ner Ausschnitt aus dieser Welt, deren Dyna­ der Zivilgesellschaft ist eigensinnig und folgt mik und Entwicklung im Folgenden anhand nicht einfach vorgegebenen Zwecksetzungen. einiger weniger ausgewählter Trends und Be­ Bisweilen ist es auch unbequem, etwa wenn funde skizziert werden soll. Bürger Partizipationsansprüche signalisieren und politische Initiativen entfalten, die sich Die Zivilgesellschaft hat in den vergange­ gegen Entscheidungen und Vorhaben etab­ nen zwanzig Jahren steigende Aufmerksam­ lierter Parteien und parlamentarischer Mehr­ keit gefunden. Dieser Trend hat verschiede­ heiten richten. ne Gründe. Einer der wichtigsten ist sicher, dass sich nachweislich mehr Bürgerinnen Trotz dieser grundlegenden Unterschiede und Bürger freiwillig engagieren. Die empi­ zwischen Zivildienst und Zivilgesellschaft rische Engagementforschung hat herausgear­ gibt es auch Schnittmengen und Übergänge beitet, dass sich in Deutschland rund 36 Pro­ zwischen beiden Welten. In der Welt des bür­ zent der Bürger engagieren, das heißt nicht gerschaftlichen Engagements gibt es seit Jahr­ nur gesellschaftlich aktiv sind, sondern auch zehnten bewährte Freiwilligendienste, die in freiwillig regelmäßige Tätigkeiten überneh­ Art und Weise ihrer Durchführung durchaus men. ❙9 Die Längsschnittuntersuchung des organisatorische Parallelen zum Zivildienst Freiwilligensurveys hat dabei Sport und Be­ aufweisen. Vielfach werden Freiwilligen­ wegung (10,1 Prozent), Schule und Kinder­ dienste und Zivildienst auch von denselben gärten (6,9 Prozent), Kirche und Religion Organisationen „unter einem Dach“ betrie­ (6,9 Prozent), Soziales (5,2 Prozent), Kultur ben. Auf der anderen Seite gibt es seit Jah­ und Musik (5,2 Prozent) sowie Freizeit und Geselligkeit (4,6 Prozent) als größte Engage­ mentbereiche identifiziert. ❙10 Weitere Berei­ ❙8 Zu den begrifflichen Definitionsschwierigkeiten und Uneindeutigkeiten vgl. u. a. Bernhard Rosen­ che des Engagements sind – mit Anteilen von bladt, Freiwilliges Engagement in Deutschland, zwei bis drei Prozent – Feuerwehr und Ret­ Wiesbaden 2009; Enquete-Kommission „Zukunft tungsdienste, Politik und Interessenvertre­ des Bürgerschaftlichen Engagements“ des Deut­ tung sowie Umwelt- und Tierschutz. schen Bundestages (Hrsg.), Bericht. Bürgerschaftli­ ches Engagement auf dem Weg in eine zukunftsfähi­ ge Gesellschaft, Opladen 2002; Thomas Olk/Ansgar ❙9 Vgl. B. Rosenbladt (Anm. 8), S. 9. Klein/Birger Hartnuß (Hrsg.), Engagementpolitik. ❙10 Vgl. ebd., S. 7; Mareike Alscher et al., Bericht zur Die Entwicklung der Zivilgesellschaft als politische Lage und zu den Perspektiven des bürgerschaftlichen Aufgabe, Wiesbaden 2010. Engagements in Deutschland, Berlin 2009, S. 31.

48 APuZ 48/2011 Bereits der erste Freiwilligensurvey hat Dabei wird angenommen, dass Engagement deutlich gemacht, dass neben den tatsächlich und Gemeinsinn zyklischen Schwankungen engagierten Bürgern ein weiteres Drittel der unterliegen und es infolgedessen zu einem Bevölkerung zumindest im Telefoninterview „Auf und Ab“ im Engagement kommt. Al­ die Bereitschaft zum Engagement erklärt hat, bert Hirschman hat mit seiner Theorie vom gleichzeitig aber darauf verweist, dass diese Wechsel zwischen Engagement und Enttäu­ Bereitschaft bisher nicht abgerufen wur­ schung die Grundlage hierfür gelegt. ❙14 Eck­ de beziehungsweise dass sich ihnen bis jetzt hard Priller hat vergleichend darauf hinge­ keine Gelegenheit zum Engagement geboten wiesen, dass beim Zyklenszenario vor allem hätte. Ob diese Selbstaussagen und Potenzi­ innere Faktoren ausschlaggebend für Engage­ alvermutungen aber zutreffend und belast­ mentveränderungen sind, während beim Kri­ bar sind, kann zumindest teilweise bezwei­ senszenario vor allem äußeren Faktoren, wie felt werden. Im Hinblick auf das Engagement Mobilität, Arbeitsplatzunsicherheit, Indivi­ der Bürger ist zudem zu bedenken, dass an­ dualisierung und veränderte Geschlechter­ gesichts von Engagementkarrieren und -epi­ rollen, maßgebliche Bedeutung zukommt. ❙15 soden mit einer großen Schwankungsbreite beim individuellen Engagement der Bürger Diese Befunde über den sozialen Wandel zu rechnen ist. ❙11 und die Dynamik des bürgerschaftlichen En­ gagements beeinflussen die Zivilgesellschaft Auch wenn die aktuell vorliegenden empi­ und vor allem die zivilgesellschaftlichen Or­ rischen Erhebungen des bürgerschaftlichen ganisationen entscheidend. Nach wie vor ist Engagements einhellig eine hohe Engage­ bürgerschaftliches Engagement organisier­ mentquote und eine beeindruckende Bereit­ tes Engagement, sei es in Verbänden, Verei­ schaft zum Engagement konstatieren, so gibt nen, Stiftungen oder Initiativen, wobei der es doch divergierende Bewertungen der En­ Verein immer noch die dominierende Or­ gagemententwicklung insgesamt, die sich an­ ganisationsform des bürgerschaftlichen En­ hand von drei unterschiedlichen Szenarien gagements in Deutschland ist. Diese Enga­ skizzieren lassen. ❙12 Beim ersten, dem Kri­ gementorganisationen sind existenziell auf senszenario, wird ein Rückgang des Enga­ „personellen Nachwuchs“ und eine Bindung gements erwartet. Für den Niedergang des ihrer Engagierten angewiesen; sie benötigen Engagements werden unter anderem die ab­ Engagierte für ehrenamtliche Führungsposi­ nehmende Solidarität und der Verfall des Ge­ tionen ❙16 und für eine verlässliche Dienstleis­ meinsinns verantwortlich gemacht. Einer tungsproduktion. ihrer prominentesten Vertreter ist Robert Putnam. ❙13 Im zweiten Szenario, dem Struk­ Die Folgen, die in den verschiedenen Sze­ turwandelszenario, gehen die Forscher nicht narien beschrieben werden, betreffen ins­ von einem Schwund, sondern einer Verlage­ besondere auch das Engagement in lokalen rung des Engagements von traditionellen Be­ Gemeinschaften. ❙17 Wenn sich hier weniger reichen in neue Formen und Handlungsfelder Menschen und dann auch nur sporadisch aus. Bedeutsam sind in diesem Szenario die engagieren, wirkt sich das nachteilig auf die abnehmende Dauer und die zunehmende Un­ Bindungskraft und Bestandsfähigkeit loka­ regelmäßigkeit des Engagements. Im dritten, ler Gemeinschaften aus. Mit dem Begriff des dem zyklischen Szenario, wird von einem Sozialkapitals werden die Leistungen der Zi­ diskontinuierlichen Wandel ausgegangen. vilgesellschaft und des bürgerschaftlichen Engagements beschrieben, die der Gesell­

❙11 Vgl. ebd., S. 37. Bei genauerer Betrachtung sind hohe Zugangs- und Abgangsquoten festzustellen, die ❙14 Albert O. Hirschman, Shifting Involvements, es verbieten, von einem dauerhaften Engagement von Princeton 1982. 34 Prozent der Bürgerinnen und Bürger über 14 Jah­ ❙15 E. Priller (Anm. 12). ren auszugehen. ❙16 Vgl. Karin Beher et al., Die vergessene Elite. Füh­ ❙12 Vgl. Eckhard Priller, Dynamik, Struktur und rungskräfte in gemeinnützigen Organisationen, Wandel der Engagementforschung: Rückblick, Ten­ Weinheim-München 2008. denzen und Anforderungen, in: ders. et al. (Hrsg.), ❙17 Vgl. Holger Backhaus-Maul, Kommunale Selbst­ Zivilengagement. Herausforderungen für Gesell­ verwaltung in der Zivilgesellschaft. Plädoyer für die schaft, Politik und Wissenschaft, Berlin 2011, S. 15. bürgerschaftliche Revitalisierung einer modernen In­ ❙13 Robert D. Putnam, Bowling Alone, New York stitution, in: Blätter der Wohlfahrtspflege, 158 (2011) u. a. 2000. 2, S. 48–50.

APuZ 48/2011 49 schaft insgesamt zugutekommen. Die damit gen und weniger an der Förderung von voice angesprochenen Vertrauensbeziehungen und – Einmischung, Partizipation, Beteiligung, Normen der Gegenseitigkeit sind für das in­ Selbstorganisation, Protest – interessiert. dividuelle und das organisierte Engagement Dienstleistungen, die Engagierte erbringen, bedeutsam. Ein Schwinden des Sozialkapitals sind für öffentliche Kostenträger preisgüns­ hat negative Auswirkungen für Demokratie tig, während politische Artikulationen für und gesellschaftliche Wohlfahrt. Staat und Kommunen, Politik und Verwal­ tungen zunächst einmal zusätzliche Kosten Gleichzeitig sind aber auch die Leistungs­ ­verursachen. grenzen von Zivilgesellschaft und bürger­ schaftlichem Engagement zu benennen. Oft­ Vor diesem Hintergrund bieten sich Frei­ mals wird Engagement als Lösung für nahezu willigendienste für Staat, Verwaltung und alle gesellschaftlichen Probleme propagiert, Parteipolitik als ein vielversprechendes In­ von der Hebung des Bildungsniveaus über strument und Verfahren staatlicher Engage­ die Veränderung rechtsradikaler Einstellun­ mentpolitik an. Mit der Umwandlung des Zi­ gen bis hin zur Erweiterung der gesellschaft­ vildienstes in einen Bundesfreiwilligendienst lichen Teilhabechancen von Migranten. Die eröffnet sich für staatliche Akteure die Mög­ begrenzte und spezifische Leistungsfähig­ lichkeit, sich die seit Jahrzehnten von ge­ keit des Engagements verdeutlichen demge­ meinnützigen Verbänden, Vereinen, Stiftun­ genüber soziologische Studien, die das En­ gen und Initiativen geschaffene Kultur der gagement und seine Potenziale anhand von Freiwilligendienste, das heißt des FSJ mit Kategorien wie Schichtzugehörigkeit, Bil­ der Erweiterung um die Einsatzfelder Kul­ dungsgrad, Berufsausbildung, Geschlecht, tur, Denkmalpflege und Sport und des FÖJ, ethnische Herkunft und Alter differenzie­ nutzbringend zu erschließen. ren. Diese Befunde legen unter anderem den ambivalenten Schluss nahe, dass Engagement Die Freiwilligendienste FSJ und FÖJ rich­ soziale Ungleichheit nicht nur abmildern, ten sich an junge Menschen nach Abschluss sondern auch reproduzieren und sogar ver­ der Schulpflicht und bis zur Vollendung des stärken kann. ❙18 27. Lebensjahres. Sie bieten jungen Men­ schen vielfältige Möglichkeiten, sich entspre­ Gesellschaftspolitisch bedeutsam werden chend ihrer Leidenschaften und Interessen diese Befunde dann, wenn – wie in den ver­ im Rahmen einer sechs- bis 18-monatigen gangenen Jahren zunehmend zu beobachten – Vollzeittätigkeit zu engagieren. Die Frei­ staatliche Engagementpolitik das Engagement willigendienste verfolgen dabei das erklärte der Bürger für das Erbringen öffentlicher Ziel, für Engagierte gesellschaftliche Mitge­ Aufgaben in „Dienst nehmen will“, um staat­ staltung und Mitentscheidung zu ermögli­ liche Ziele zu realisieren. ❙19 Staatliche Enga­ chen sowie Bildungs- und Teilhabechancen gementpolitik folgt hier einem europäischen zu erhöhen. Freiwilligendienste sind inte­ Trend, der sich zusammenfassen lässt als Ent­ grale Bestandteile zivilgesellschaftlichen En­ wicklung von „the provision of voice to the gagements, da sie jungen Menschen anbieten, production of services“. ❙20 Staat, Verwaltung das für sie individuell passende Engagement und Parteipolitik sind in diesem Sinne vor al­ aus einem fachlich vielfältigen und qualita­ lem an der Bereitstellung öffentlicher Dienst­ tiv anspruchsvollen Angebot eines plural or­ leistungen zur Bewältigung sozialstaatlicher ganisierten Spektrums von Diensten, Ein­ Aufgabenstellungen und Herausforderun­ richtungen und Trägern auszuwählen. Die fachliche Ausgestaltung sowie die Art und Weise der Organisation und Durchführung ❙18 Vgl. B. Rosenbladt (Anm. 8), S. 74. ❙19 Vgl. Rudolf Speth, Engagementpolitik und En­ der Freiwilligendienste obliegen freigemein­ gagementforschung, in: E. Priller et al. (Anm. 12), nützigen – zivilgesellschaftlichen – Träger­ S. 91 f. organisationen und Verbänden, während der ❙20 Filip Wijkström, Changing Focus or Changing Staat beziehungsweise konkret die Bundes­ Role? The Swedish Nonprofit Sector in the New länder sich weitgehend auf die Gesetzgebung Millennium, in: Annette Zimmer/Christina Stecker und die Finanzierung des FSJ und des FÖJ (eds.), Strategy Mix for Nonprofit Organisations: Vehicles for Social and Labour Market Integration beschränken. In dieser Pluralität und Auto­ (Nonprofit and Civil Society Studies), New York nomie der Freiwilligendienste FSJ und FÖJ 2004, S. 33. kommen die ordnungspolitischen Maximen

50 APuZ 48/2011 des Subsidiaritätsprinzips treffend zum Aus­ rausforderungen im Zusammenhang mit der druck. Dementsprechend haben Bürger und Umwandlung des Bundesamtes für den Zi­ zivilgesellschaftliche Organisationen in den vildienst in ein „Bundesamt für Familie und sie betreffenden gesellschaftlichen Angele­ zivilgesellschaftliche Aufgaben“. Unter ord­ genheiten Vorrang gegenüber staatlichen nungs- und gesellschaftspolitischen Kriteri­ Inter­ventionen und Leistungen. Die zivilge­ en betrachtet sollte der BFD aber kurz- oder sellschaftlichen Freiwilligendienste sind so­ mittelfristig in einen zivilgesellschaftlichen mit „Dienstverhältnisse, die von gemeinnüt­ Freiwilligendienst einmünden. Auf keinen zigen Organisationen im Zwischenbereich Fall sollte der BFD zu einem staatlichen In­ zwischen Ehrenamt und Bildungsmaßnahme strument der Steuerung des Arbeitsmarktes angeboten werden, mit obligatorischen oder in der Berufseinstiegs- und Berufsausstiegs­ fakultativen Bildungselementen, und die in phase und zu einem neuen Niedriglohnseg­ Form von freiwilliger Selbstverpflichtung ment im öffentlichen Dienstleistungsprozess von zumeist jungen (…) Menschen in An­ mutieren. Zivilgesellschaftliche Freiwilligen­ spruch genommen ­werden“. ❙21 dienste bedürfen sachlogisch – so die einfa­ che Formel – der Regie zivilgesellschaftlicher Das BMFSFJ hat in den vergangenen Jah­ Organisationen und Initiativen. ren mehrere Modellprojekte für Freiwilligen­ dienste aufgelegt. Im Kern ging es darum, Freiwilligendienste über die Altersgruppe Perspektiven der Jugendlichen und jungen Erwachsene hi­ naus auf andere Bevölkerungsgruppen, wie Die Einführung des Bundesfreiwilligen­ etwa ältere Menschen, „bildungsferne“ Ju­ dienstes steht in einer Reihe mit Ansätzen gendliche und jüngere Migranten, auszuwei­ und Maßnahmen, bürgerschaftliches Enga­ ten, die bisher keine expliziten Zielgruppen gement als Leistungsressource zu nutzen, um von Freiwilligendiensten waren. Die Bundes­ öffentliche Aufgaben zu erbringen. Mit der regierung versuchte anhand staatlicher Frei­ Zusammenstellung ministerieller Aktivitäten willigendienste sozial-, arbeitsmarkt- und und Maßnahmen in der sogenannten „Natio­ integrationspolitische Ziele mit dem öffent­ nalen Engagementstrategie“ haben die Bun­ lichen Dienstleistungsauftrag zu verknüpfen; desregierung und das federführende BMFSFJ diese sind aber keine originären Zielsetzun­ ihren „Masterplan“ zur Erschließung pri­ gen von ­Freiwilligendiensten. vaten Engagements vorgelegt. Dabei sollen nach aktuellen Überlegungen Mehrgenera­ Vor dem Hintergrund der bestehenden zi­ tionenhäuser als „Knotenpunkte“ bürger­ vilgesellschaftlichen ­Freiwilligendienste ver­ schaftlichen Engagements vor Ort ausgebaut dient die Einführung eines staatlichen Bun­ werden; an ihrer Finanzierung sollen Unter­ desfreiwilligendienstes für alle Altersgruppen nehmen und Stiftungen beteiligt werden. ❙22 zum 1. Juli 2011 besondere Aufmerksamkeit. Diese „Indienstnahme“ bürgerschaftlichen Die ordnungspolitische Berechtigung für die Engagements ist absehbar gewesen und wur­ Einführung dieses staatlichen Freiwilligen­ de bereits frühzeitig kritisch kommentiert. ❙23 dienstes ergibt sich allenfalls aus dem über­ Je stärker Politik und Verwaltung durch di­ raschend schnellen Ende des Zivildienstes, rekte Maßnahmen und Programme versu­ dem erklärten Willen, die im Bundeshaus­ chen, Bürgerengagement zu steuern, desto halt für den Zivildienst bereits eingestellten mehr befördern sie die Abhängigkeit bürger­ Mittel auszuschöpfen, sowie den strukturel­ schaftlichen Engagements von Staat und Po­ len, organisatorischen und personellen He­ ❙22 Vgl. Karsten Speck et al., Freiwilligenagenturen ❙21 M. Alscher et. al. (Anm. 10), S. 79. Neben den und Engagement in Deutschland. Potenziale und beiden großen Freiwilligendiensten FSJ und FÖJ Herausforderungen einer viel versprechenden inter­ mit rund 35 000 Plätzen gibt es eine Reihe weite­ mediären Organisation, Wiesbaden 2012 (i. E.); And­ rer Dienste, von denen die privatrechtlich verfass­ ré Christian Wolf/Annette Zimmer, Lokale Engage­ ten Auslandsdienste gemeinnütziger Organisati­ mentförderung. Kritik und Perspektiven, Wiesbaden onen mit mehr als 4000 Plätzen am bedeutsamsten 2012 (i. E.). sind. Daneben gibt es noch den Europäischen Frei­ ❙23 Vgl. Annette Zimmer/Stefan Nährlich, Zur Stand­ willigendienst (EFD), der durch einen Beschluss des ortbestimmung bürgerschaftlichen Engagements, in: Rates der Europäischen Union ins Leben gerufen dies. (Hrsg.), Engagierte Bürgerschaft. Traditionen ­w u r d e . und Perspektiven, Opladen 2000, S. 9–22.

APuZ 48/2011 51 litik und schwächen die Eigenkräfte der Bür­ ein kostspieliger externer Anreiz mit eher be­ gergesellschaft. ❙24 grenzten Effekten.

Die Eigenkräfte der Bürgergesellschaft Gleichzeitig steigt die Befürchtung vieler sind die Quelle, aus der sich bürgerschaft­ Menschen, bürgerschaftliches Engagement liches Engagement immer wieder selbst er­ diene als Lückenbüßer für einen sich zurück­ zeugt. Herfried Münkler und Anna Loll ziehenden Sozialstaat. Bereits ein Blick in das haben darauf hingewiesen, dass es gute Feuilleton zeigt, dass Stiften und Spenden Gründe für die Annahme gibt, dass sich und Engagement insgesamt zunehmend auch bürgerschaftliche Tugenden vor allem dann kritisch gesehen werden. Diese kritische Hal­ reproduzieren, wenn sie immer wieder in tung wird auch genährt durch ein von Politik Anspruch genommen werden, während sie und Verwaltung vermitteltes Bild des Ehren­ dahinschwinden, wenn man sie eher als eine amts, wonach staatliches Handeln schlicht zusätzliche sozialmoralische Ressource an­ ergänzt und manchmal auch ersetzt wird – sieht, die für Notzeiten aufgespart werden und eben nicht etwas Eigenständiges und Ei­ soll. ❙25 Nicht in der unentgeltlichen Gemein­ gensinniges ist. wohlarbeit oder der Bereitstellung finan­ zieller Ressourcen als Ausdruck bürger­ Bürgerengagement ist von staatlichem schaftlichen Engagements, sondern in der Handeln zu unterscheiden und zu trennen. intrinsisch motivierten Bereitschaft zum Es kann staatlichem Handeln nur voraus­ Engagement für das Gemeinwohl liegt der gehen. Privat vor Staat ist aber keine ver­ Bedeutungskern bürgerschaftlichen Enga­ meintlich „neoliberale“ Position, sondern gements. Folge und Ursache werden jedoch entspricht am ehesten dem Wesen einer Bür­ häufig verwechselt, wie aktuell am Beispiel gergesellschaft. In ihr kommt dem Staat die der Diskussion über die Einführung des Aufgabe zu, bürgerschaftliches Engagement BFD festzustellen ist. und gemeinnützige Organisationen zu stär­ ken und dann dort einzutreten, wo bürger­ In diesem Sinne sind externe Anreize, wie schaftliches Engagement an seine Grenzen beispielsweise Aufwandspauschalen für Or­ stößt sowie Mängel und Fehler verursacht ganmitglieder, Ehrenamtskarten mit Ver­ („voluntary failure“). ❙26 So verstanden ist günstigungen für Freiwillige oder eben die Idee der Bürgergesellschaft keine Blau­ auch die Taschengeldzahlung für Engagier­ pause für den Abbau des Sozialstaates, son­ te, ambivalent einzuschätzen. Sie werden be­ dern eine „Handreichung“ für einen zivilge­ kanntlich nicht eingesetzt, um „blühende sellschaftlich eingebetteten Sozialstaat. Der Ehrenamtslandschaften“ weiter zu verschö­ BFD dagegen erscheint als Blaupause des „ir­ nern, sondern kommen dort zum Einsatz – ritierten“ Staates, der dem Missverständnis um im Bild zu bleiben –, wo „Versteppung“ unterliegt, selbst Teil der Bürgergesellschaft droht, also die intrinsische Motivation nicht zu sein, und damit weder ein angemessenes mehr trägt. Ob durch externe Anreize mehr Verständnis von sich selbst entwickelt noch Menschen nachhaltig zum Engagement zu die Bürgergesellschaft stärkt. ­motivieren beziehungsweise in bestimmte Handlungsfelder oder zu bestimmten Orga­ nisationen zu lenken sind, ist fraglich. Wird Rahmenbedingungen für eine dieses nicht erreicht, werden statt Wirkun­ organisierte Zivilgesellschaft gen lediglich Mitnahmeeffekte produziert. So betrachtet, ist das mit 300 Millionen Euro Während in der öffentlichen Diskussi­ ausgestattete Programm des BFD, mit dem on vor allem auf das individuelle Engage­ 35 000 Freiwilligendienstleistende gewonnen ment im Sinne des „Aktivbürgers“ als Stif­ werden sollen, gegenüber den 23 Millionen ter, Spender oder ehrenamtlich Engagierter ehrenamtlich Engagierten in Deutschland rekurriert wird, sind es jedoch die organi­

❙24 Vgl. Holger Backhaus-Maul/Stefan Nährlich/Ru­ ❙26 Vgl. Lester M. Salamon, Partners in Public Ser­ dolf Speth, Denkschrift. In eigener Regie! Plädoyer vice. The Scope and Theory of Government – Non­ für eine bessere (Selbst-)Steuerungs- und Leistungs­ profit Relations, in: Walter W. Powell (ed.), The Non­ fähigkeit der Bürgergesellschaft, Berlin 20112. profit Sector. A Research Handbook, New Haven ❙25 Vgl. H. Münkler/A. Loll (Anm. 7), S. 10. 1987, S. 99–117.

52 APuZ 48/2011 sierten Formen des Engagements, die kon­ Wer nicht nur die Geselligkeit der Mitglie­ stitutiv für die Bürgergesellschaft sind. Erst der fördern, sondern einen gesellschafts­ durch den organisatorischen Rahmen sol­ politischen Gestaltungsanspruch mit eige­ cher bürgerschaftlicher Assoziationsformen ner ideeller Agenda umsetzen will, benötigt bekommt das individuelle Engagement der Rahmenbedingungen, die Autonomie und Bürgerinnen und Bürger gesellschaftliche Handlungsfreiheit stärken, statt dauerhafte Sichtbarkeit, Durchschlagskraft und Re­ Abhängigkeit und Unterordnung zu schaf­ levanz sowie ein gewisses Maß an Stabili­ fen. ❙29 Der BFD ist hier kein problemlösen­ tät und zeitlicher ­Dauerhaftigkeit. ❙27 Jürgen der Ansatz. Er verschafft gemeinnützigen Kocka hat darauf hingewiesen, dass eine Organisationen in begrenztem Umfang und Bürgergesellschaft nicht lediglich eine An­ unter fremdbestimmten Bedingungen perso­ sammlung gemeinnütziger Organisationen nelle Ressourcen, bleibt aber der alten Logik und engagierter Bürger ist, sondern dass die verhaftet, „wer die Musik bezahlt, bestimmt gesellschaftliche Selbstorganisation durch was gespielt wird“. Verbände, Vereine, Stiftungen und Initia­ tiven ihr konstitutives Element darstellt. ❙28 Mit der Einführung des BDF wird genau Selbstregelungskompetenzen diese intermediäre verbandliche Ebene zwi­ der Zivilgesellschaft schen Engagierten und Einrichtungen ei­ nerseits sowie Staat andererseits in ihrer Die Forderung nach „mehr“ Zivilgesellschaft zivilgesellschaftlichen Bedeutung negiert. und bürgerschaftlichem Engagement mit dem Indem das Bundesamt für Familie und zi­ Verweis auf „rückläufige“ öffentliche Mittel vilgesellschaftliche Aufgaben im Rahmen zu begründen, greift zu kurz. Der Ruf nach des BDF direkte Verträge mit den Einrich­ Zivilgesellschaft und bürgerschaftlichem tungen schließt, erweist sich die verbandlich Engagement ist vielmehr Ausdruck einer organisierte und insofern auch „mächtige“ grundlegenden gesellschaftlichen und politi­ Zivilgesellschaft bei der schlichten Erbrin­ schen Modernisierung. Dazu bedarf es neben gung öffentlicher Aufgaben als offensicht­ Staat und Wirtschaft eines flexiblen, lebens­ lich entbehrlich und gesellschaftspolitisch weltlichen und problemlösungsorientierten „überflüssig“. bürgerschaftlichen Engagements in unab- hängigen und handlungsfähigen Verbänden, Die Organisationen beklagen seit langem, Vereinen, Stiftungen und Initiativen. Um de­ dass die Rahmenbedingungen ihrer Arbeit ren Funktionsfähigkeit zu stärken und das reformbedürftig sind. Entbürokratisierung Potential bürgerschaftlichen Engagements des Zuwendungsrechts, Lockerung des Ge­ besser zur Entfaltung zu bringen, sollte eine bots der zeitnahen Mittelverwendung, Flexi­ kluge gesellschaftliche Engagementpolitik in bilisierung der Rücklagenbildung, Verbesse­ die Selbstregelungskompetenzen der Zivilge­ rung der Möglichkeiten, eigene Einnahmen sellschaft investieren. zu erwirtschaften, sind nur einige der laten­ ten Herausforderungen. Die Anforderungen an die Leistungsfähigkeit gemeinnütziger Organisationen sind zunehmend gestiegen, die Mittel für ihre Arbeit, insbesondere die öffentlichen Mittel, sind jedoch rückläufig. In dieser Lage ist die Auseinandersetzung mit Effektivität und Effizienz, mit Kosten­ einsparung und Einnahmesteigerungen nicht nur folgerichtig, sie ist für viele gemeinnützi­ ge Organisationen alternativlos.

❙27 Vgl. Thomas Olk, Sozialstaat und Bürgergesell­ ❙29 Eine zeitgemäße Handlungsfreiheit setzt eine öf­ schaft, in: Rolf G. Heinze/Thomas Olk (Hrsg.), Bür­ fentliche Transparenzpflicht voraus. Insofern ist die gerengagement in Deutschland. Bestandsaufnahmen bisher für gemeinnützige Organisationen in Deutsch­ und Perspektiven, Opladen 2001, S. 29–68. land geltende Ausnahme von einer gesetzlichen ❙28 Vgl. Jürgen Kocka, Zivilgesellschaft in histori­ Transparenzpflicht als unzeitgemäß zu ­kritisieren. scher Perspektive, in: Forschungsjournal Neue Sozi­ ale Bewegungen, 16 (2003) 2, S. 29–37.

APuZ 48/2011 53 Jörn Fischer Freiwilligendienste Freiwilligendienste sind eine besondere Form Freiwilligendienste des bürgerschaftlichen Engagements, das sich vom klassischen Ehrenamt durch einige spe­ zifische Merkmale abgrenzt. Dazu gehören und ihre Wirkung – unter anderem verbindliche, formal geregelte Rahmenbedingungen, eine Dienstdauer von vom Nutzen des mindestens drei Monaten, ein wöchentlicher Arbeitsumfang von mindestens 50 Prozent der tariflichen Wochenarbeitszeit, eine pä­ Engagements dagogische Begleitung der Freiwilligen und klassischerweise eine Trennung zwischen dem verantwortlichen Träger (beziehungs­ wei politische Entscheidungen haben weise bei internationalen Diensten der soge­ Zdazu geführt, dass Freiwilligendienste in nannten Entsendeorganisation) des Diens­ den vergangenen Jahren stärker in das Blick­ tes und der Einsatzstelle, in der der Dienst feld der Öffentlich­ ­geleistet wird. Jörn Fischer keit gerückt sind: Ers­ Dr. rer. pol., Dipl.-Reg.-Wiss. (LA), tens die Einführung Für die nationalen Dienste (Freiwillige aus geb. 1976; Research Associate, des entwicklungs­po­li­ Deutschland leisten Dienst in Deutschland) Lehrstuhl für Vergleichende ti­schen Freiwilligen­ bestehen im Gegensatz zu den internationa­ ­Politikwissenschaft, Universität dienstes Weltwärts im len Diensten (Freiwillige gehen ins Ausland) zu Köln, Gottfried-Keller-Straße 1, Jahr 2008 du rch d ie da­ seit 1964 einheitliche gesetzliche (Förder-)Re­ 50931 Köln. malige Entwicklungs­ gelungen, die, mehrfach weiterentwickelt und [email protected] ministerin Heidema­ 2008 in das Jugendfreiwilligendienstegesetz rie Wieczorek-Zeul gegossen, mit wenigen Ausnahmen einen ad­ (SPD). Zweitens die Aussetzung der Wehr­ äquaten rechtlichen und nicht zuletzt finanzi­ pflicht und das damit verknüpfte Ende des ellen Rahmen gaben und noch immer geben. Zivildienstes. Diese Entscheidungen wur­ den begleitet von zwei zentralen Debatten: Neben der Unterscheidung national/inter­ Eine kreiste um die Frage, ob Freiwilligen­ national gibt es ein weiteres Distinktions­ dienste den Wegfall des Zivildienstes kom­ merkmal, das sich ableitet aus dem inhaltli­ pensieren sollen beziehungsweise können. ❙1 chen Schwerpunkt der Einsatzstelle. Handelt Und im Kontext des entwicklungspoliti­ es sich um ein soziales, ökologisches, kul­ schen Freiwilligendienstes – ausgestattet mit turelles oder entwicklungspolitisches Pro­ einem Etat von 30 Millionen Euro – wurde jekt? Diese Unterscheidung ist häufig auch die Frage nach dem Nutzen dieser Engage­ namensstiftend: Das Freiwillige Soziale mentform diskutiert. Wer profitiert eigent­ Jahr (FSJ), das Freiwillige Ökologische Jahr lich davon, wenn deutsche Jugendliche, die (FÖJ), das FSJ Kultur, das FSJ im Sport, das zumeist über keinerlei berufliche Qualifi­ FSJ Politik, das Freiwillige Jahr in der Denk­ kationen verfügen, in sogenannte Entwick­ malpflege (FJD) sind Dienstformen, die alle lungsländer entsandt werden? unter dem rechtlichen Dach des Jugendfrei­ willigendienstegesetzes geleistet werden. Sie Die Frage nach dem Nutzen des Engage­ werden vom Bund finanziell bezuschusst; die ments steht im Zentrum dieses Artikels, wo­ Anerkennung der Träger obliegt hingegen bei sowohl grenzüberschreitende als auch na­ den Landesbehörden. Diese Dienste finden tionale Freiwilligendienste betrachtet werden. ganz überwiegend in Deutschland statt, ob­ Zunächst vermittelt dieser Beitrag Basiswis­ wohl sie theoretisch auch als internationaler sen zu Freiwilligendiensten. Es folgen einige Dienst möglich sind. Ein weiterer nationaler theoretische Grundlagen der Wirkungsorien­ Dienst, der durch eine sogenannte Incoming- tierung und eine Skizze der Wirkungsdebatte Komponente (Freiwillige aus dem Ausland in Bezug auf Freiwilligendienste, bevor aus­ kommen nach Deutschland) aber auch zum gewählte Forschungsergebnisse zur Wirkung der deutschen Freiwilligendienstprogramme ❙1 Vgl. dazu den Beitrag von Holger Backhaus-Maul im In- und Ausland diskutiert werden. in dieser Ausgabe.

54 APuZ 48/2011 grenzüberschreitenden Dienst werden kann, der Auswärtigen Kultur- und Bildungspoli­ ist der Bundesfreiwilligendienst. Im Gegen­ tik, wie deutsche Schulen im Ausland oder satz zu den genannten Jugendfreiwilligen­ Goethe-Institute. Und schließlich wurde diensten besteht hier keine Altersbeschrän­ auch das BMFSFJ, eigentlich originärer po- kung nach oben. Dieses neue Programm licy maker im Feld der Jugendfreiwilligen­ des Bundesministeriums für Familie, Seni­ dienste, tätig und legte mit dem „Internatio­ oren, Frauen und Jugend (­BMFSFJ) ist im nalen Jugendfreiwilligendienst“ ein eigenes Kontext der Aussetzung des Zivildienstes Förderprogramm auf. Daneben gibt es mit ­entstanden. dem Europäischen Freiwilligendienst schon seit vielen Jahren ein von der Europäischen Während die nationalen Freiwilligendiens­ Union gefördertes Programm, das mit dem te also über Jahrzehnte hinweg in einem ein­ Boom von Weltwärts und Kulturweit aller­ heitlichen Rahmen einen stetigen förder­ dings an Bedeutung verlor. politischen und inhaltlichen Reifeprozess durchliefen, entwickelten sich die interna­ tionalen Dienste ganz anders: Mangels pas­ Wirkung in Freiwilligendiensten – sender gesetzlicher Rahmenbedingungen ist die Theorie hier ein kreativer Wildwuchs entstanden, der zu einem zwar sympathischen Sammelsuri­ Mit Weltwärts schwappen nicht nur Milli­ um ganz unterschiedlicher Programme und onen Euro, sondern auch Terminologien, Bezeichnungen geführt hat, sich jedoch für Trends und Instrumente der Entwicklungs­ Interessenten als ein nahezu undurchschau­ zusammenarbeit in ein Politik- und Arbeits­ barer Angebotsdschungel erweist. Erst mit feld, das historisch eher der Jugendpolitik der Einführung der Programme Weltwärts zugehörig ist. Einer dieser Trends ist die wir­ (2008) und Kulturweit (2009) hat das jahr­ kungsorientierte Planung, Durchführung zehntelange (förder-)politische Schattenda­ und Evaluation von (entwicklungs-)politi­ sein der internationalen Dienste ein Ende ge­ schen Maßnahmen. Die Freiwilligendienst­ funden. Das Programm Weltwärts wird vom szene hat sich rasch an den mit Weltwärts Bundesministerium für wirtschaftliche Zu­ verbundenen Geldsegen gewöhnt, Teile von sammenarbeit und Entwicklung (BMZ) fi­ ihr fremdeln jedoch noch etwas mit den da­ nanziell gefördert und politisch gesteuert; mit verbundenen Rechenschaftspflichten die Durchführung obliegt über 200 – zu­ und der Debatte um die Wirksamkeit ihres meist zivilgesellschaftlichen – Entsendeor­ ­H a n d e l n s . ganisationen. Das Programm ermöglicht den Einsatz von jährlich rund 3500 jungen Men­ Wirkung soll hier gängig definiert werden schen im Alter von 18 bis 28 Jahren in Afrika, als die Veränderung eines Zustandes oder ei­ Lateinamerika, Asien und (Süd-)Osteuro­ ner Verhaltensweise aufgrund einer Interven­ pa in unterschiedlichen entwicklungspoliti­ tion. Dabei muss ein ursächlicher, zumindest schen Projekten und folgt dabei einem sehr aber plausibler Zusammenhang zwischen der breiten Verständnis von „entwicklungspoli­ Veränderung und der Intervention herstell­ tisch“. Der Anspruch von Weltwärts ist es, bar sein. Doch vor der Wirkung stehen Input nicht nur im sogenannten Partnerland Wir­ und Output, veranschaulicht am Beispiel ei­ kung zu erzeugen, sondern durch das En­ nes Freiwilligendienstes: Input sind die mate­ gagement der zurückgekehrten Freiwilligen riellen und personellen Ressourcen, die dafür auch in Deutschland. Damit ist Weltwärts zur Verfügung gestellt werden, wie finan­ eher ein Instrument der entwicklungspoliti­ zielle Förderung, organisatorische und pä­ schen Bildungsarbeit als ein Instrument der dagogische Infrastruktur von Trägern und personellen Entwicklungszusammenarbeit Einsatzstellen und nicht zuletzt die Arbeits­ (verstanden als die Entsendung von Fach­ kraft der Freiwilligen. Der Output besteht kräften ins Ausland). Kulturweit ist ein vom beispielsweise in der Anzahl der durch den Auswärtigen Amt finanziertes und von der Freiwilligen in einem Gesundheitsprojekt Deutschen UNESCO-Kommission durch­ behandelten Kranken. Doch damit ist noch geführtes Programm, das in etwa so kulturell nichts über die Qualität der Behandlung, also ist wie Weltwärts entwicklungspolitisch. Die der Intervention, gesagt. Das entscheidende in diesem Programm eingesetzten Freiwilli­ Qualitätsmerkmal besteht vielmehr darin, gen sind überwiegend tätig in Einrichtungen ob und in welchem Ausmaß die intendierten

APuZ 48/2011 55 Wirkungen erzielt werden. ❙2 In diesem Bei­ Wirkungsmodell spiel bestünde die Wirkung in einem verbes­ serten Gesundheitszustand der behandelten Patienten. Freiwillige

Dieses Schema – auf Input folgt Output folgt Wirkung – ist konzeptionelle Grundla­ 12 3 ge unzähliger Evaluationen und Policy-Ana­ lysen in unterschiedlichen Politikfeldern. Das Einsatzstelle Gesellschaft genannte Beispiel stellt jedoch nur einen Aus­ (und Gastgesellschaft*) in Deutschland schnitt der im Rahmen von Freiwilligendiens­ ten ablaufenden Wirkungsprozesse dar – die Realität ist komplexer und vielfältiger. Aus * im Fall internationaler Dienste Quelle: Eigene Darstellung. dem Verständnis des Freiwilligendienstes als Lerndienst erwächst hinsichtlich des Wir­ kungsmechanismus eine Dyade aus Bewirken mit ihrem Mikroumfeld (Stufe 2). Die Ge­ und Bewirkt­Werden als besonderes Charak­ samtheit der während des Dienstes gemach­ teristikum und gleichzeitig konstituierendes ten Erfahrungen wiederum wirkt als Motiva­ Merkmal von Freiwilligendiensten: Einerseits tor und Katalysator für ein Engagement auch sollen natürlich die Einsatzstellen beziehungs­ nach dem Dienst (Stufe 3). weise deren Klienten oder „Endbegünstigte“ aus der Tätigkeit der Freiwilligen einen Nut­ Die synchrone Dyade aus aktiv Bewirken zen ziehen; im Beispiel oben also das Gesund­ und passiv Bewirkt-Werden, oft noch zusätz­ heitsprojekt beziehungsweise die Patienten. lich verbunden mit dem Ziel eines zeitlich Andererseits stehen, insbesondere bei den in­ nachgelagerten Engagements, ist charakteris­ ternationalen Diensten, die Freiwilligen selbst tisch für Freiwilligendienste. Seine theoreti­ im Mittelpunkt der Wirkungsbemühungen. sche Fundierung erfährt dieses Modell durch Daraus ergibt sich die kuriose Situation, dass die Sozialtheorie der Reziprozität, die auf die sich in der Person der Freiwilligen zugleich Ef- Theorie der Gabe des französischen Soziolo­ ficiens (das Bewirkende) und Efficiendum (das gen und Ethnologen Marcel Mauss zurück­ zu Bewirkende) vereinigen, ihr Handeln ist – je geht. ❙4 Demnach ist jedes Geben mit einer nach Perspektive – Input und Output zugleich. Gegengabe verknüpft, wodurch soziale Be­ Für die internationalen Dienste kommt hinzu, ziehungen entstehen und die klassische Di­ so zumindest explizit im Fall Weltwärts, dass chotomie aus Altruismus und Egoismus auf­ die Freiwilligen nach ihrer Rückkehr auch in gehoben wird. Deutschland „ihre Auslandserfahrungen ak­ tiv in der Gesellschaft einbringen“ ❙3 sollen. Damit stehen die Freiwilligen im Zentrum ei­ Wirkung in Freiwilligendiensten – nes dreistufigen Wirkungsmodells. die Empirie

Die Stufen 1 und 2 verlaufen synchron: Die Die Wirkungsdiskussion wurde lange Zeit Freiwilligen wirken durch ihre Tätigkeit in gar nicht, und wenn, dann überwiegend aka­ der Einsatzstelle und veranlassen durch ihre demisch und recht abgekoppelt von der Pra­ pure Anwesenheit informelle Lernprozes­ xis geführt. Zaghafte Annäherungen an die se in ihrem gesellschaftlichen Mikroumfeld praktische Arbeit erfuhr die Wirkungsde­ (Stufe 1). Gleichzeitig durchlaufen sie selbst batte durch Überlegungen, im Rahmen von Lernerfahrungen, die zurückzuführen sind Qualitätsmanagement-Instrumenten wie dem auf ihre Tätigkeit und auf die Interaktion QUIFD­Gütesiegelverfahren ❙5 neben Struk­

❙2 Vgl. Reinhard Stockmann, Evaluation und Quali­ ❙4 Vgl. Alain Caillé, Anthropologie der Gabe, tätsentwicklung. Eine Grundlage für wirkungsori­ Frankfurt/M.–New York 2008; Frank Adloff/Steffen entiertes Qualitätsmanagement, Münster u. a. 2006, Mau, Vom Geben und Nehmen: Zur Soziologie der S. 101. Reziprozität, Frankfurt/M.–New York 2005; Marcel ❙3 Vgl. Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam­ Mauss, Die Gabe – Form und Funktion des Austauschs menarbeit und Entwicklung (BMZ) (Hrsg.), Richtlinie in archaischen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1990. zur Umsetzung des entwicklungspolitischen Freiwil­ ❙5 Qualität in Freiwilligendiensten, online: www. ligendienstes „weltwärts“, Bonn 2007, S. 6. quifd.de (24. 10. 2011).

56 APuZ 48/2011 tur- und Prozess- auch Ergebnisqualität, aus grauer Literatur oder Evaluationen, die also Wirkungen, ins Visier zu nehmen, sowie entweder durch die jeweiligen Förderer oder durch den bereits skizzierten Spillover-Effekt Programmverantwortlichen in Auftrag gege­ aus der Entwicklungszusammenarbeit, ausge­ ben oder sogar selbst von ihnen durchgeführt löst durch die Einführung von Weltwärts. Die wurden. Neben mangelnden finanziellen und Wirkungsdebatte wurde von den Praktikern fachlichen Ressourcen sowie forschungsprak­ zunächst eher verhalten aufgenommen; heute tischen Herausforderungen in der Erfüllung schwankt die Szene zwischen Überzeugungs­ sozialwissenschaftlicher Standards besteht tätern auf der einen und offener Ablehnung das Hauptproblem der Wirkungsforschung auf der anderen Seite. Die meisten werden eine in Freiwilligendiensten in einem mangelnden Haltung zwischen diesen beiden Polen ein­ oder eindimensionalen Methodenverständnis nehmen. Kritiker der Wirkungsorientierung vieler relevanter Akteure. Gepaart mit den befürchten Tendenzen, Engagement zu öko­ genannten Schwierigkeiten führt dies zu Pro­ nomisieren und utilitarisieren, führen norma­ blemen wie fehlende Kontrollgruppen (kein tiv-methodische Gründe ins Feld („Menschen Vergleich mit Nicht-Freiwilligen möglich); kann man nicht messen“) oder interpretieren dem Vorherrschen von Querschnitt- über den staatlichen Ruf nach Wirkung als unzu­ Längsschnittdesigns (kein Vorher-Nachher- lässige Einmischung in die zivilgesellschaftli­ Vergleich möglich); zur Vernachlässigung che Durchführungshoheit der Dienste. quantitativer Methoden, die über rein de­ skriptive Statistik hinausgehen, sowie im Be­ Wenn sich in diesem Abschnitt die Be­ reich der internationalen Dienste zu einem funde eher auf der Output- und weniger auf Evaluationsverständnis, das sich zu oft mit der Wirkungsebene befinden sollten, ist dies anekdotischer Evidenz zufrieden gibt. Die nicht dem Konzept Input-Output-Wirkung Aussagen vieler Studien sind daher leider mit anzulasten. Es veranschaulicht vielmehr den einer gewissen Vorsicht zu genießen. Eines Entwicklungsbedarf, den Freiwilligendiens­ hingegen macht Hoffnung: „You get the im­ te bezüglich Evaluation und Wirkungsorien­ pact you program for.“ ❙9 Das heißt: Wirkung tierung teilweise noch aufweisen. Und es ist ist nicht nur ex post rekonstruierbar, sondern ein Indikator für die Komplexität und den auch ex ante steuerbar. Eine Botschaft, die Aufwand, der mit der Durchführung von sich die Akteure, die für die Steuerung von wirkungsorientierten Evaluationen verbun­ Freiwilligendiensten verantwortlich sind, so­ den ist. ❙6 Das ganze Dilemma verdeutlicht wohl auf politischer als auch auf Durchfüh­ eine Meta-Studie über die bisherige Wir­ rungsebene zu Herzen nehmen sollten. kungsforschung zu Freiwilligendiensten in Europa. Das traurige Fazit nach der Analy­ se von 40 Veröffentlichungen: „Stop wasting Wirkung auf die Freiwilligen money on traditional evaluation approaches which provide at best anecdotal evidence of Die Freiwilligen als das zu Bewirkende, das voluntary service impact.“ ❙7 Teil der Proble­ Efficiendum, stehen im Mittelpunkt des In­ matik ist die fehlende Wissenschaftlichkeit teresses von Wissenschaft und Praxis, ❙10 eine der Studien: Nur wenige der 40 näher unter­ logische Folge des Verständnisses von Frei­ suchten Arbeiten halten den wissenschaft­ willigendiensten als Lerndienste. Doch wer lichen Ansprüchen an ein akzeptables For­ sind diese Freiwilligen überhaupt? Die meis­ schungsdesigns stand. ❙8 Freiwilligendienste ten haben gerade ihre Schulzeit beendet und sind nur in Ausnahmefällen ein Studienob­ leisten ihren Freiwilligendienst in nahezu di­ jekt unabhängiger, etwa universitärer, For­ rektem Anschluss daran. ❙11 Stellvertretend schung. Die meisten Erkenntnisse stammen ❙9 Ebd., S. 42. ❙6 Vgl. Gloria Possart, Wirkungen von Freiwilligen­ ❙10 Vgl. G. Possart (Anm. 6), S. 37. diensten. Ein Beitrag zur Qualifizierung der Praxis, ❙11 Vgl. Andrea Rahrbach/Werner Wüstendörfer/ Masterthesis an der Alice Salomon Fachhochschule Thomas Arnold, Untersuchung zum Freiwilligen Berlin, 2006, S. 56. Sozialen Jahr, Stuttgart u. a. 1998, S. 76; Roland Be­ ❙7 Steve Powell/Esad Bratović, The impact of long- cker et al., Lern- und Bildungsprozesse im europäi­ term youth voluntary service in Europe: A review of schen Freiwilligendienst. Band 1: Jugend für Europa – published and unpublished research studies, Brüssel Deutsche Agentur Jugend, Bonn 2000, S. 10; Dietrich 2007, S. 7. Engels/Martina Leucht/Gerhard Machalowski, Eva­ ❙8 Vgl. ebd., S. 22–24. luation des freiwilligen sozialen Jahres und des frei­

APuZ 48/2011 57 für alle Freiwilligendienste gilt die Aussage, daher häufiger (Selbstselektion). Diese Ver­ dass weder die Bewerberstruktur noch die zerrung scheint verstärkt zu werden durch die tatsächliche Zusammensetzung der Freiwilli­ Auswahlprozesse vieler Träger (Fremdselek­ gen „die bundesrepublikanische Realität der tion). Methodisch ist dies nicht ganz einfach Jugendlichen widerspiegelt“. ❙12 Im Vergleich zu erfassen, aber in einem Fall ist es empirisch zur Wohnbevölkerung in Deutschland haben belegt: Das Auswahlverfahren wirkt als Ka­ Freiwillige überproportional oft das Abitur talysator, um die ohnehin schon hohe Abitu­ oder eine andere Hochschulzugangsberech­ rientenquote bei den Bewerbern in eine noch tigung erworben, stammen überproportional höhere Abiturientenquote bei den tatsächlich oft aus höheren sozialen Schichten mit gutem ausgewählten Freiwilligen zu verwandeln. ❙15 materiellen Lebensstandard, haben häufiger Auch im Fall von Weltwärts ist es äußerst un­ die deutsche Staatsangehörigkeit, kommen wahrscheinlich, dass der Abiturientenanteil (im Fall Weltwärts) häufiger aus den west­ von 97 Prozent die Bewerberstruktur exakt deutschen Bundesländern und sind häufi­ widerspiegelt, was zumindest im Aggregat ger weiblich. ❙13 Das heißt im Umkehrschluss: eine ähnliche Abiturientenaffinität auch der Ehemalige Haupt- und Realschüler, Jugendli­ Weltwärts-Entsendeorganisationen nahe legt. che aus niedrigeren sozialen Milieus, Jugend­ liche mit Migrationshintergrund, Ostdeut­ Zurück zu den Wirkungen: Freiwilligen­ sche und Männer sind unterrepräsentiert. dienste sind keine Lernorte der formalen, Letzteres lässt sich noch teilweise erklären sondern der informellen ­beziehungsweise mit der Wehrpflicht, die zum Zeitpunkt aller nicht-formalen Bildung. In diesem Kon­ zitierten Erhebungen noch in Kraft war und text manifestiert sich Lernen (und auch Wir­ vielen Männern den Zivil- oder Wehrdienst kung) als Veränderung in Wissen, Verhalten als Pflichtdienst bescherte. und Einstellung. Der Kompetenzerwerb der Freiwilligen beginnt mit der Aneignung von Die Hintergründe dieser ungleichen Teil­ Qualifikationen, die für die Durchführung nehmerstruktur können hier weder tiefer der täglichen Arbeit in der Einsatzstelle wich­ analysiert noch bewertet werden. Aus den tig sind. Im Gegensatz zu schulischem Ler­ Freiwilligensurveys wissen wir, dass Enga­ nen sind nun die Lernprozesse „auf inhaltlich gementverhalten größtenteils mit den in der und zeitlich enge Verknüpfung zwischen Ler­ erstgenannten Auflistung erwähnten Attribu­ nen und Handeln hin angelegt“. ❙16 Für viele ten positiv korreliert (Ausnahme: Frauen). ❙14 Freiwillige ist der Beginn des Dienstes auch Beispiel Schulabschluss: Jugendliche mit Ab­ gleichbedeutend mit dem erstmaligen inten­ itur interessieren sich eher für Freiwilligen­ siveren Kontakt zur Berufswelt, womit auch dienste als Hauptschüler und bewerben sich die soziale, kommunikative und verbindliche Zuordnung in Mitarbeiter- und Teamstruk­ willigen ökologischen Jahres, Wiesbaden 2008, S. 139; turen einhergeht – ein Neuland, das folglich BMZ (Hrsg.), Evaluierung „Entwicklungspolitischer Lern- und Orientierungsprozesse auslöst. ❙17 Freiwilligendienst Weltwärts“. Hauptbericht, Ham­ Neben dem konkreten, nicht nur für die ak­ burg 2011, S. 37. (Der Verfasser dieses Artikels war bis tuelle Tätigkeit, sondern gegebenenfalls auch März 2011 in seiner ehema ligen Fun ktion a ls Mitarbei­ für die weitere berufliche Laufbahn wichti­ ter des Weltwärts-Sekretariat Mitglied der Referenz­ gruppe zur Begleitung der Weltwärts-Evaluierung) gen berufsqualifizierenden Wissen steht bei ❙12 Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Ju­ den Freiwilligen die Persönlichkeitsentwick­ gendbildung (BKJ) (Hrsg.), EngagementPLUSTat­ lung ganz weit oben auf der Liste der Wir­ kraft. Empirische Ergebnisse aus dem Engagement­ kungen, und zwar sowohl bei den nationalen feld Kultur, Berlin–Remscheid 2007, S. 10. als auch bei den internationalen Diensten. ❙13 Die Anteile variieren nach Dienstart und Stich­ probe; die Abiturientenquote etwa zwischen 47 und 97 Prozent. Vgl. D. Engels et al. (Anm. 11); Jürgen E. Im FSJ beispielsweise sehen die Freiwilligen Schwab/Michael Stegmann, Das freiwillige Enga­ die Auswirkungen auf die persönliche Ent­ gement im FSJ aus Sicht von Teilnehmer(inne)n, in: wicklung vor allem darin, dass sie selbstständi­ Marianne Schmidle/Uwe Slüter (Hrsg.), Das Frei­ ger in der Arbeit geworden sind, selbstsicherer willige Soziale Jahr zeigt Wirkung, Düsseldorf 2010; in ihrem Auftreten und dass sie eher bereit sind, A. Rahrbach et al. 1998 (Anm. 11); R. Becker et al. (Anm. 11); BKJ (Anm. 12); BMZ (Anm. 11). ❙14 Vgl. BMFSFJ (Hrsg.), Hauptbericht des Freiwilli­ ❙15 Vgl. BKJ (Anm. 12), S. 13–14. gensurveys 2009. Zusammenfassung, München 2010, ❙16 J. E. Schwab/M. Stegmann (Anm. 13), S. 22. S. 4. ❙17 Vgl. ebd., S. 23.

58 APuZ 48/2011 für andere Verantwortung zu übernehmen. ❙18 rufsziels, das heißt, das ursprüngliche Berufs­ Ähnlich schätzen die FSJ Kultur-Freiwilligen bild wird entweder bestärkt oder verworfen; den Kompetenzerwerb in den Dimensionen der Dienst hat aber in jedem Fall einen „maß­ Eigenverantwortung, Kommunikationsfä­ geblichen Einfluss“ darauf. ❙24 Dies kann sich higkeit und Verantwortungsbewusstsein am auch darin äußern, dass am Ende eine bewuss­ höchsten ein. ❙19 Im Europäischen Freiwilli­ te Entscheidung gegen das im Dienst kennen­ gendienst wurde die Kompetenz, sich in un­ gelernte Berufsfeld getroffen wird: So sinkt sicheren und neuen Situationen zurechtfinden beispielsweise bei den Weltwärts-Freiwilligen zu können, von den Freiwilligen als wichtigste das grundsätzliche Interesse an einer Tätig­ Lernerfahrung eingestuft. ❙20 In ähnlicher Wei­ keit in der Entwicklungszusammenarbeit von se berichtet die Weltwärts-Evaluation, verse­ 91 Prozent vor dem Dienst auf 84 Prozent da­ hen mit dem methodischen Plus einer zumin­ nach. ❙25 Ein immer noch hoher Wert, den das dest approximativen Längsschnittstudie, von Entwicklungsministerium als Geldgeber, das gestiegener Handlungskompetenz der Frei­ den Dienst auch als „Nachwuchsförderung willigen genauso wie von einem gewachsenen im entwicklungspolitischen Berufsfeld“ ❙26 Selbstbewusstsein, höherer Selbstständigkeit verstanden wissen will, wohl eher in der Rub­ und größerem Vertrauen in die eigenen Fä­ rik „nicht-intendierte Wirkungen“ verbucht. higkeiten. Interessanterweise attribuieren da­ Neben der Berufsorientierung erwarten man­ bei nicht alle Befragten diesen Kompetenz­ che Freiwillige, dass sich durch den Dienst gewinn direkt ihrer Projektarbeit, sondern ihre Zugangschancen zu Ausbildung und Be­ machen dafür auch das selbstständige Woh­ ruf erhöhen; eine Erwartung, die sich in ihrer nen und Reisen im Land verantwortlich. ❙21 eigenen Wahrnehmung erfüllt. ❙27 „Mehr Selbsterkenntnis“ als „Voraussetzung für interkulturelles, globales und persönlich­ Aufgrund der Tätigkeit im Ausland sind ei­ keitsbezogenes Lernen“ fasst eine Studie die nige Wirkungen den internationalen Freiwil­ Wirkungen auf Weltwärts-Freiwillige in Süd­ ligendiensten vorbehalten. Die Verbesserung afrika zusammen. ❙22 Im FSJ Kultur wird ins­ der Fremdsprachenkenntnisse ist wichtiger gesamt von den Freiwilligen der Erwerb von Teil der Motivationslage der Freiwilligen für „personalen“ Kompetenzen im Rückblick et­ einen solchen Dienst, und es ist wenig über­ was wichtiger bewertet als der Zuwachs an raschend, dass der Zuwachs an Sprachkompe­ Sozialkompetenzen und viel wichtiger als die tenz empirisch auch eintritt. ❙28 Etwas abstrak­ neu erworbenen Methodenkompetenzen. ❙23 ter sind die interkulturellen Kompetenzen, die Gerade im Bereich Persönlichkeitsentwick­ erworben und der Lerndimension „Einstel­ lung gilt es jedoch zu bedenken: Ob mit oder lung“ zugeordnet werden. Dazu gehört unter ohne Freiwilligendienst – es ist relativ schwie­ anderem die Fähigkeit, „sich verstehend und rig, sich in diesem jugendlichen Alter über ei­ kooperierend auf andere Orientierungen und nen Zeitraum von einem Jahr nicht persönlich Deutungsmuster des Gastlandes einzulassen weiterzuentwickeln. und gegebenenfalls die eigenen zu relativie­ ren und zu hinterfragen“. ❙29 In dem Zusam­ Ein weiteres wichtiges Lernfeld betrifft den menhang werden manche Freiwillige regel­ Bereich der Berufsorientierung. Die Erwar­ recht zum Fan ihres Gastlandes, gewinnen tung, während des Dienstes ein neues Berufs­ gleichzeitig Verständnis für die Schwierigkei­ feld kennenzulernen, erfüllt sich für nahezu ten in Deutschland lebender Ausländer oder alle Freiwilligen (stellvertretend: 96 Prozent lernen auch das eigene Heimatland stärker im FSJ, 91 Prozent im FÖJ) und bewirkt in al­ schätzen. ❙30 Auch Weltwärts-Freiwillige ent­ len Dienstarten eine Klärung des eigenen Be­ wickeln während des Dienstes ein Bewusst­

❙18 Vgl. D. Engels et al. (Anm. 11), S. 169. ❙24 Vgl. D. Engels et al. (Anm. 11), S. 164, S. 166. ❙19 Vgl. BKJ (Anm. 12), S. 20. ❙25 Vgl. BMZ (Anm. 11), S. 38. ❙20 Vgl. R. Becker et. al. (Anm. 11), S. 32. ❙26 BMZ (Anm. 3), S. 4. ❙21 Vgl. BMZ 2011 (Anm. 11), S. 41. ❙27 Vgl. J. E. Schwab/M. Stegmann (Anm. 13), S. 43. ❙22 Brigitte Schwinge, Verkehrte Welten: Über die ❙28 Vgl. R. Becker et al. (Anm. 11), S. 28; A. ­Rahrbach Umkehrung der Verhältnisse von Geben und Neh­ et al. 1998 (Anm. 11), S. 293; BMZ (Anm. 11), S. 33; men. Der Weltwärts-Freiwilligendienst als Selbstbe­ Deutsche Unesco-Kommission (Hrsg.), Erster handlung im Kulturkontakt zwischen Deutschland „Kulturweit“-Bericht 2009–2010, Berlin 2011, S. 22. und Südafrika, Bonn 2011, S. 7. ❙29 R. Becker et al. (Anm. 11), S. 40. ❙23 Vgl. BKJ (Anm. 12), S. 19. ❙30 Vgl. ebd., S. 40–41.

APuZ 48/2011 59 sein für kulturelle Unterschiede und vorhan­ tragen. Im FSJ Kultur benennen Einsatzstel­ dene Vorurteile. ❙31 Im Fall der „Bereitschaft len ebenfalls vorrangig die inhaltlichen Nut­ zur Perspektivübernahme“ (verstanden als zenargumente von Freiwilligen, „die letztlich Bereitschaft, Perspektiven anderer Personen Einfluss auf die internen operativen Prozes­ einzunehmen beziehungsweise Fragen von se haben“: ❙35 qualitätsvolle Arbeitsunterstüt­ unterschiedlichen Seiten zu betrachten) ging zung, positive Arbeitsatmosphäre, zielgrup­ die persönliche Entwicklung der Freiwilli­ pennahe Perspektive und neue Impulse. gen sogar so weit, dass sich ihr Referenzrah­ men während des Dienstes stark verschob: Daneben wird von den Einsatzstellen ein Der Anteil derer, die hier eine hohe Selbst­ weiterer Aspekt erstaunlich oft genannt: Per­ einschätzung vornahmen, sank von 71 Pro­ sonalgewinnung. Für FSJ- und FÖJ-Einsatz­ zent vor dem Dienst auf 41 Prozent danach. stellen ist dieser Aspekt sogar am wichtigs­ Dies wird interpretiert als eine Korrektur der ten, ❙36 da gute Freiwillige immer auch gute naiv überhöhten Selbsteinschätzung vor dem potentielle Mitarbeiter sind. Dabei muss sich Dienst, „die in der Auseinandersetzung mit die Rekrutierungsfunktion des Dienstes nicht anderen Kulturen und Lebensumständen auf auf hauptamtliche Mitarbeiter beschränken. ein realistischeres Niveau gebracht“ ❙32 wurde. Ehemalige Freiwillige werden auch identi­ Auch die Untersuchungen zum Nord-Süd- fiziert als potentielle Ehrenamtliche, Spen­ Verständnis, etwa bezüglich der ungleichen der, Befürworter von Investitionen im sozia­ Verteilung von Armut und Reichtum, zeigen, len Bereich und nicht zuletzt als Wähler(!). ❙37 dass die Freiwilligen hier eine dynamische Das Urteil der Einsatzstellen bezüglich der und komplexe Entwicklung durchmachen, besseren Versorgung der jeweiligen Zielgrup­ gespeist durch eine intensive Auseinanderset­ pe, also letztlich der Endbegünstigten, er­ zung mit den Gegeben­heiten vor Ort. ❙33 scheint zwiespältig: 46 (FSJ) beziehungswei­ se 49 Prozent (FÖJ) beurteilen den Nutzen in dieser Hinsicht (eher) groß, mehr als die Wirkung in den Einsatzstellen Hälfte jedoch als (eher) gering. ❙38

Die Stufe 2 im Wirkungsmodell bezeich­ Im entwicklungspolitischen Freiwilligen­ net die Wirkungen der Freiwilligen auf die dienst Weltwärts werden die Startbedingun­ Einsatzstellen. Aus Sicht der Wohlfahrts­ gen für eine sachliche Wirkungsdebatte schon verbände sind die FSJ-Freiwilligen „in ih­ allein dadurch erschwert, dass die Mittel für rer Hilfe- und Unterstützungsfunktion für den Dienst aus dem Etat des Entwicklungsmi­ unsere Dienste und Einrichtungen, für de­ nisteriums stammen. Die breite Öffentlichkeit ren Mitarbeiter(innen) aber auch für deren und Teile der Fachöffentlichkeit leiten daraus Kund(in)nen wichtig. Durch sie sind eine einen Wirkungsanspruch an Weltwärts ab, der Entlastung der Fachkräfte, zusätzliche An­ sich mindestens zu messen habe mit dem an­ gebote und damit mehr Zeit für persönliche derer Instrumente der sogenannten personel­ Ansprache und Zuwendung möglich. Die len Zusammenarbeit. Das ist in Anbetracht FSJ-Freiwilligen bringen eine zusätzliche des jugendlichen Alters und der Qualifikatio­ Qualität ein, als junge Menschen, mit dem nen der meisten Weltwärts-Freiwilligen unan­ Blick von außen, mit frischem Elan. Und das gemessen. Problematischer ist jedoch, so eine ist eine Bereicherung für jede Einrichtung.“ ❙34 Weltwärts-Studie zu Südafrika, dass die Frei­ Diese Charakterisierung darf als stellvertre­ willigen diese Erwartungshaltung oft anneh­ tend für viele Einsatzstellen im Inland gelten. men und mit sich in die Einsatzstellen tragen, Die FSJ/FÖJ-Evaluation zeigt, dass es Ein­ die wiederum mit soviel Wirkungs- und Ta­ satzstellen auch um Kostenreduzierung und tendrang auch überfordert sein können. ❙39 um Arbeitsentlastung geht, Freiwillige aber auch zur Verbesserung des Arbeitsklimas bei­ Ein weiterer elementarer Unterschied zu den nationalen Diensten besteht darin, dass

❙31 Vgl. BMZ (Anm. 11), S. 36. ❙32 Ebd., S. 35. ❙35 BKJ (Anm. 12). ❙33 Ebd., S. 37. ❙36 Vgl. D. Engels et al. (Anm. 11), S. 158. ❙34 Theresia Wunderlich, Was erwarten die Wohl­ ❙37 Vgl. T. Wunderlich (Anm. 34), S. 68. fahrtsverbände vom Freiwilligen Sozialen Jahr?, in: ❙38 Vgl. D. Engels et al. (Anm. 11), S. 158. M. Schmidle/U. Slüter (Anm. 13), S. 64. ❙39 Vgl. B. Schwinge (Anm. 22), S. 9, S. 117.

60 APuZ 48/2011 die Einsatzstellen im Ausland eine enor­ fänger, sondern auch als Hilfeleister. „Gerade me Integrations- und Betreuungsarbeit leis­ die emotionale Unterstützung und informelle ten, die insbesondere zu Beginn des Diens­ Ausbildung, die viele Mitglieder der Einsatz­ tes Ressourcen wie Zeit und Nerven kostet. stellen den Freiwilligen anbieten, wirkt sich Aus Sicht der Einsatzstellen schmälert dies positiv auf das Selbstverständnis solcher Or­ zumindest vordergründig den Netto-Nutzen ganisationen aus. Die Verkehrserfahrung, ei­ des Dienstes. Dass dieser grundsätzlich nega­ nem reichen, technologisch hoch entwickelten tiv sei, wie gelegentlich behauptet wird, ❙40 ist Land wie Deutschland über die Ausbildung hingegen nicht nur reziprozitätstheoretisch seiner Jugend Hilfe zukommen zu lassen, leis­ nicht haltbar, sondern vor allem empirisch tet einen nachhaltigen Beitrag für das Selbst­ nirgends belegt. Im Gegenteil, Befragungen bewusstsein der lokalen ­Organisationen.“ ❙45 von Einsatzstellen ergeben, „dass diese ei­ nen weitaus stärkeren Nutzen von den Frei­ Systematische Untersuchungen hinsichtlich willigen verspüren, als die Freiwilligen bis­ der Wirkung der Freiwilligen auf die Endbe­ weilen glauben“. ❙41 Kulturweit-Einsatzstellen günstigten sind mir nicht bekannt. Immerhin attribuieren den Freiwilligen jedenfalls na­ geben 89 Prozent der befragten Weltwärts- hezu unisono einen (nicht näher definier­ Einsatzstellen an, dass deren jeweilige Ziel­ ten) Mehrwert. ❙42 Auf Ebene der Stärkung gruppe vom Einsatz der Weltwärts-Freiwil­ der Handlungskompetenz der Einsatzstel­ ligen profitiere. ❙46 Anekdoten berichten von len kann der Nutzen darin bestehen, dass die Fällen wie dem in Indien, wo das von Frei­ Freiwilligen Wissen und Kompetenzen, bei­ willigen eingeführte „Schulbesuchsdoku­ spielsweise Kenntnisse im IT-Bereich oder mentationssystem“ (eine simple Strichliste) in Unterrichtsmethoden, in die Projekte ein­ die Anwesenheit der Schüler im Unterricht bringen. „Hierbei werden bestehende Abläu­ deutlich und dauerhaft erhöht hat. Den Frei­ fe und Praktiken hinterfragt und aus einer willigen ist es damit gelungen, einen Punkt anderen kulturellen Perspektive betrachtet, in der Wirkungs-Königsdisziplin zu erzielen: wie beispielsweise Unterrichtsformen, Ge­ eine Verhaltensänderung der Zielgruppe. Es walt gegenüber Kindern oder den Umgang steht zu vermuten, dass es in anderen Welt­ mit HIV-Infizierten. Dieser durch infor­ wärts-Einsatzstellen zu ähnlichen Effekten mellen interkulturellen Austausch erzeugte kommt, die niemals dokumentiert werden. Wissenstransfer führt vereinzelt dazu, dass Letztlich können es auch die kleinen, zwi­ Abläufe in der Einsatzstelle angepasst wer­ schenmenschlichen Begegnungen zwischen den. Beispielsweise werden Unterrichtssätze Freiwilligen und Endbegünstigten sein, die verändert, Hygienemaßnahmen intensiviert eine besondere Wirkung entfalten. ❙47 oder Organisationsstrukturen innerhalb der Einsatzstelle optimiert.“ ❙43 Auf einer anderen Ebene befinden sich solche Wirkungen, nach Wirkung nach dem Dienst denen die Anwesenheit der Freiwilligen für die Einsatzstellen mit einem Zugewinn an Die dritte Wirkungsstufe betrifft das Engage­ Sichtbarkeit, Reputation und Bedeutung ver­ ment nach dem Engagement – schließlich endet bunden ist, der sich nützlich erweisen kann auch in den Augen vieler, insbesondere inter­ etwa im Umgang mit ­Behörden. ❙44 nationaler Freiwilliger ein Freiwilligendienst nicht mit dem letzten Tag in der Einsatzstel­ Eine weitere Wirkung der Kategorie Sym­ le. Die Haltung, dass gerade entwicklungspo­ bolik kehrt das Bild der Hilfe um: Einsatz­ litische Freiwilligendienste vornehmlich eine stellen erfahren sich nicht nur als Hilfeemp­ Saat sind, die erst nach dem eigentlichen Dienst aufgeht, ist weit verbreitet. Das Gesamtbild ❙40 Vgl. Jana Rosenboom, Weltwärts – Lernen für die der Forschungsergebnisse zum nachgelagerten Weltgesellschaft, in: Zeitschrift für internationale Engagement insbesondere der Freiwilligen, die Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik, 32 ihren Dienst in Deutschland geleistet haben, ist (2009) 1, S. 31–33, hier: S. 33. uneindeutig. Hinzu kommt, dass es schwierig 41 ❙ B. Schwinge (Anm. 22), S. 10. ist, das Engagement ursächlich dem Freiwil­ ❙42 Vgl. Deutsche UNESCO-Kommission (Anm. 28), S. 20. ❙43 BMZ (Anm. 11), S. 54. ❙45 B. Schwinge (Anm. 22), S. 10. ❙44 Vgl. ebd., S. 62; Deutsche UNESCO-Kommission ❙46 Vgl. BMZ (Anm. 11), S. 51. (Anm. 28), S. 22. ❙47 Vgl. B. Schwinge (Anm. 22), S. 114.

APuZ 48/2011 61 ligendienst zu attribuieren. Wer sich vor dem Der Einfluss eines Dienstes im Ausland auf Dienst engagiert hat, tut dies womöglich auch gesellschaftliches Engagement scheint grund­ nach dem Dienst. sätzlich etwas größer zu sein als bei Inlands­ diensten. ❙51 Das Engagement der ehemaligen „Engagement“ ist zwar eigentlich der Wir­ Auslandsfreiwilligen zeichnet sich aus durch kungsdimension „Verhalten“ zugeordnet, eine große Vielfalt ❙52 und durch den Wunsch doch manche Studien begnügen sich da­ nach Autonomie: Ehemalige internationa­ mit, die Einstellung oder zukünftige Inten­ le Freiwillige möchten eher etwas Eigenes tionen zu Engagement abzufragen, so in ei­ auf die Beine stellen, statt sich in bestehen­ ner Studie zum FSJ Kultur: „The majority of den Strukturen zu engagieren. Die tatsäch­ answers provided by adolescents regarding liche Engagementquote bei den Weltwärts- the program’s impact on their attitude to­ Rückkehrern ist mit 64 Prozent beträchtlich; wards volunteering and civic service show­ die Engagementbereitschaft der noch nicht ed a positive tendency. The program actually Engagierten liegt sogar bei 84 Prozent. ❙53 had a sustainable impact on the volunteers’ Die Studie zeigt auch, dass das Engagement attitude towards civic service and voluntee­ mit zunehmendem zeitlichen Abstand zum ring, and it also influenced their future in­ Dienst sogar leicht ansteigt. Im Europäischen tentions to provide further voluntary sup­ Freiwilligendienst sind bei etwa 50 Prozent port.“ ❙48 Die gleiche Studie gewinnt jedoch der Befragten „durch den EFD induzierte durch eine Vergleichsgruppe, die zeigt, dass Wirkungen, sich sozial, kulturell oder poli­ die Engagementbereitschaft der FSJ Kultur- tisch zu engagieren, vorhanden“; ❙54 90 Pro­ Freiwilligen deutlich höher ist als bei Schü­ zent der Kulturweit-Rückkehrer geben an, lern oder Studenten. sie werden sich auch nach dem Dienst weiter ­engagieren. ❙55 Geht es um konkretes Handeln, setzen ehemalige FSJ-Freiwillige ihre Engagement­ bereitschaft zwar häufiger in die Tat um als Fazit Befragte repräsentativer Untersuchungen; al­ lerdings gehen laut zweier FSJ-Studien die Die Wirkungsdebatte rund um Freiwilligen­ tatsächlichen Engagementquoten im Vorher- dienste steht erst am Anfang. Doch sie deu­ Nachher-Vergleich sogar etwas zurück. ❙49 tet schon jetzt in zweierlei Hinsicht Potential Dies muss jedoch auch vor dem Hintergrund an: Die bisherigen Forschungsergebnisse las­ der besonderen biografischen Umbruchsitu­ sen das Wirkungspotential der Freiwilligen­ ation der ehemaligen Freiwilligen interpre­ dienste bereits schemenhaft erkennen. Um tiert werden (Umzug, Studium, Ausbildung). es jedoch in vollem Umfang sichtbar zu ma­ Besondere Erwähnung verdient die Tatsache, chen, muss die freiwilligendienstbezogene dass die Engagement-Veränderung (nicht not­ Wirkungsforschung erst ihr eigenes Potential wendigerweise die absoluten Zahlen) bei ehe­ heben. Dazu gehört erstens die Entwicklung maligen Hauptschülern größer ist als bei Re­ eines Wirkungsverständnisses, das sich ori­ alschülern und dort wiederum größer als bei ginär an Freiwilligendiensten und deren spe­ Abiturienten. ❙50 Demnach entfalten Freiwilli­ zifischen Zielen orientiert, und zweitens die gendienste genau bei der Gruppe die größte Stärkung sozialwissenschaftlicher Standards Wirkung, die einen extrem erschwerten Zu­ in der Konzeption und Durchführung von gang zu Freiwilligendiensten hat und nur ei­ Wirkungsforschung. Beides ist gemeinsa­ nen kleinen Teil der Freiwilligen stellt. me Aufgabe von Staat, Zivilgesellschaft und Wissenschaft. ❙48 Gesa Birnkraut, The Voluntary Cultural Year in Germany: Views of Youth who Participate and Those ❙51 Vgl. A. Rahrbach et al. (Anm. 11), S. 284. who do Not, in: Amanda Moore McBride (ed.), Youth ❙52 Vgl. Katja Christ/Jörn Fischer, Internationale Service in Comparative Perspective, St. Louis 2009, Freiwilligendienste. Lernen und Helfen im Ausland, S. 35. Freiburg 20113, S. 167–175. ❙49 Vgl. Angela Eberhard, Engagement für andere ❙53 Vgl. BMZ (Anm. 11), S. 71. und Orientierung für sich selbst. Gestalt, Geschich­ ❙54 R. Becker et al. (Anm. 11), S. 48. te und Wirkungen des freiwilligen sozialen Jahres, ❙55 Vgl. Deutsche UNESCO-Kommission (Anm. 28), München 2002, S. 291, S. 259; J. E. Schwab/M. Steg­ S. 23. mann (Anm. 13), S. 37–38. ❙50 Vgl. D. Engels et al. (Anm. 11), S. 163.

62 APuZ 48/2011 Herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung „APuZ aktuell“, der Newsletter von Adenauerallee 86 53113 Bonn Aus Politik und Zeitgeschichte Redaktion Wir informieren Sie regelmäßig und kostenlos per E-Mail über die neuen Ausgaben. Dr. Hans-Georg Golz (verantwortlich für diese Ausgabe) Online anmelden unter: www.bpb.de/apuz­aktuell Dr. Asiye Öztürk Johannes Piepenbrink Anne Seibring (Volontärin) Telefon: (02 28) 9 95 15-0 www.bpb.de/apuz [email protected] Redaktionsschluss dieses Heftes: 18. November 2011

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Harald Kujat 3–7 Das Ende der Wehrpflicht Die Bundeswehr wird durch die Aussetzung der Wehrpflicht eine andere werden. Es bleibt abzuwarten, ob sie nach der Neuausrichtung die ihr gestellten Aufgaben erfül­ len und eine offene Armee in einer offenen Gesellschaft bleiben kann.

Peter Steinbach 8–15 Zur Geschichte der Wehrpflicht Die Wehrpflicht sollte die gesellschaftliche Verankerung der Bundeswehr stärken. Entscheidend für die neue „Parlamentsarmee“ wurde das Konzept der Inneren Füh­ rung. Es steht mit der Aussetzung der Wehrpflicht nicht zur Disposition.

Berthold Meyer 16–23 Bundeswehrreform und Parteiendemokratie Die Aussetzung der Wehrpflicht ist zentraler Bestandteil der neuen Bundeswehr- reform, die deren geänderten Aufgabenstellung gerecht werden soll. Dabei gilt es, nicht nur vom Einsatz her, sondern auch von dessen Ende her zu denken.

Wenke Apt 24–31 Herausforderungen für die Personalgewinnung der Bundeswehr Bereits heute kann die Bundeswehr ihren Bedarf an Soldaten nicht decken. Als Risi­ ken gelten die demografische Entwicklung, der Anstieg des Bildungsniveaus, der Ge­ sundheitszustand der Jugendlichen und der Wertewandel.

Heiko Biehl · Bastian Giegerich · Alexandra Jonas 32–38 Aussetzung der Wehrpflicht. Lehren westlicher Partnerstaaten Deutschland ist bei der Aussetzung der Wehrpflicht ein Nachzügler. Damit eröffnet sich die Chance, von den Erfahrungen westlicher Partnerstaaten im Prozess der Um­ stellung auf eine Freiwilligenarmee zu profitieren.

Ines-Jacqueline Werkner 39–45 Wehrpflicht und Zivildienst – Bestandteile der politischen Kultur? Über die Frage der Aussetzung der Wehrpflicht ist in Deutschland überaus lange und mit außergewöhnlicher Emotionalität debattiert worden. Zur Erklärung dieses Phä­ nomens rekurriert der Beitrag auf den Faktor der politischen Kultur.

Holger Backhaus-Maul · Stefan Nährlich · Rudolf Speth 46–53 Der diskrete Charme des neuen Bundesfreiwilligendienstes Mit der „Aussetzung“ der Wehrpflicht fand auch der zivile Ersatzdienst ein Ende. Der Bundesfreiwilligendienst soll – in Konkurrenz mit bestehenden zivilgesellschaft­ lichen Freiwilligendiensten – Lücken schließen und Übergänge abfedern.

Jörn Fischer 54–62 Freiwilligendienste – vom Nutzen des Engagements Freiwilligendienste erfreuen sich wachsender Beliebtheit und steigender politischer Aufmerksamkeit. Damit einher geht die Frage nach dem Nutzen der Dienste, die mit­ tels eines Wirkungsmodells und empirischer Befunde beantwortet wird.