Entwicklungspolitischer Rundbrief Nr. 17/23

Heike Hänsel MdB DIE LINKE, Vorsitzende des Unterausschusses Vereinte Nationen, internationale Organisationen und Globalisierung, entwicklungspolitische Sprecherin und Obfrau im Ausschuss für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

Annette Groth MdB DIE LINKE, menschenrechtspolitische Sprecherin und Obfrau im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, Mitglied im Ausschuss für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

Niema Movassat MdB DIE LINKE, Mitglied im Ausschuss für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und im Unterausschuss Gesundheit in Entwicklungsländern

Berlin, den 5.7.2012

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde, der Koalition beginnt ihr Entwicklungsminister so langsam peinlich zu werden. Als nach dem Staatsstreich im südamerikanischen Paraguay als erster Minister aus der Europäischen Union die Hand des de-facto-Präsidenten schüttelte und damit erhebliche Irritationen bzgl. der deutschen Haltung zum Staatsstreich hervorrief, wollten Koalition und Bundestagspräsident eine Diskussion im Parlament nicht zulassen. Kein Wunder nach den Niebel-Affären um Teppichkauf und Ämterpatronage.

Der eigentliche Skandal aber ist Niebels Entwicklungspolitik, in der wirtschaftliche und militärische Erwägun- gen eine immer größere Rolle spielen. Afghanistan ist, vor der Tokio-Konferenz, das erschütterndste Bei- spiel für die zunehmende Instrumentalisierung der deutschen EZ.

Heike Hänsel, Annette Groth,

Alexander King, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

1 Inhalt dieser Ausgabe:

Teppich & Co.: Dirk Niebels neueste Fehlleistungen (ab S. 3)

Rede von Heike Hänsel (13.6.2012): Das Problem ist nicht die Teppichnummer, sondern Niebels Entwick- lungspolitik

Befragung der Bundesregeriung durch Niema Movassat und Heike Hänsel (27.6.2012): Niebel schüttelt dem De-facto-Präsidenten in Paraguay als erster europäischer Staatsgast die Hand.

Entwicklungszusammenarbeit und Militarisierung (ab S. 7)

Rede von Heike Hänsel (14.6.2012): Im Krieg kann es keine Entwicklung geben

Rede von Niema Movassat (28.6.2012): Frieden verhandeln – für eine andere Sudanpolitik

Pressemitteilung von Niema Movassat (6.7.2012) zur Beantwortung der Kleinen Anfrage „Ziviler und wirt- schaftlicher Aufbau im Sudan und Südsudan“ durch die Bundesregierung

Rio+20: Alternativen zur Green Economy (ab S. 11)

Rede von Heike Hänsel (14.6.2012): Globale Gerechtigkeit statt grüner Kapitalismus

Veranstaltungsbericht (14.6.2012): Globale Gerechtigkeit statt grüner Kapitalismus

Veranstaltungsbericht (14.6.2012): Die deutsche Linke und die Entwicklungen in Lateinamerika

Gesundheit in Entwicklungsländern (ab S. 17)

Rede von Niema Movassat (28.6.2012): Kein Menschenrecht auf Gesundheit ohne globale Umverteilung

Rede von Niema Movassat (28.6.2012): HIV/AIDS: Versprechen einhalten statt schöne Reden schreiben

Nahrungsmittelspekulation (ab S. 20)

Rede von Niema Movassat (28.6.2012): Das Geschäft mit dem Hunger bekämpfen

Interview mit Niema Movassat (10.5.2012): Zocken auf Kosten der Ärmsten gehört verboten

2 Teppich & Co.: Dirk Niebels neueste Fehlleistungen

Rede, 13.6.2012

Das Problem ist nicht die Teppichnummer, sondern Niebels Entwicklungspolitik

Die Teppich-Affäre des Entwicklungsministers war Thema einer aktuellen Stunde im Bundestag. Die entwicklungspolitische Sprecherin der Linksfraktion, Heike Hänsel, hat allerdings weit mehr an Dirk Niebel zu kritisieren, als den Teppich-Kauf:

Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Minister Niebel, das war ein bisschen sehr kurz. ( (CDU/CSU): Aber sehr gehaltvoll!)

Ich denke, es gibt dazu noch etwas mehr zu sagen. Ich möchte mich aber auf die sachliche Kritik konzentrie- ren, und diese muss Minister Niebel auch aushalten; denn er gehört nicht zu denjenigen, die sich mit Kritik zurückhalten.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist allerdings wahr! Das stimmt!)

Ein Minister auf Dienstreise lässt sich in der Deutschen Botschaft in Kabul eine Teppichauswahl vorlegen. Er kauft einen Teppich, und der Geheimdienst schmuggelt ihn am Zoll vorbei nach Deutschland.

(Dr. Erik Schweickert (FDP): Vorsicht! - (CDU/CSU): Das ist nicht sachlich, Frau Kollegin! - Gegenruf des Abg. Niema Movassat (DIE LINKE): Das ist eine Tatsache! Nehmen Sie das mal zur Kenntnis! Das ist Schmuggel!)

Diese Nummer wäre eigentlich reif fürs Kabarett, wenn das Ganze nicht in einem so ernsten Umfeld stattfin- den würde.

Herr Niebel war nämlich in einer Kriegsregion, wo unter anderem deutsche Soldaten Krieg führen, wo täglich Menschen durch Krieg sterben und wo ein Teppichkauf in meinen Augen eigentlich nicht zu einer Dienstrei- se gehört.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir unterstellen ihm nicht, dass er irgendwelche Zollgebühren sparen und sich persönlich bereichern wollte. Diese Vorwürfe finde ich albern, Herr Niebel. Vielmehr geht es darum, dass Sie in verantwortungsvoller Po- sition ein Gespür dafür haben müssen, was man machen kann und was nicht. Ich finde, dieses Gespür fehlt Ihnen.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das haben Sie in meinen Augen schon zu Beginn Ihrer Amtszeit gezeigt, indem Sie mehrfach manchmal auch heute noch mit Bundeswehrkappe in Afrika oder Lateinamerika unterwegs waren.

(Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU): Jetzt kommt die alte Leier!)

Dieses Bild ist eines Entwicklungsministers in meinen Augen nicht würdig.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Es erinnert an ungute deutsche Zeiten.

(Holger Krestel (FDP): Haben Sie ein Problem mit der Bundeswehr, oder wie müssen wir das verstehen?)

Das fand ich schon damals ein ganz großes Problem. Es zeigt, dass Ihnen, Herr Niebel, in manchen Berei-

3 chen, die in Ihrer Verantwortung liegen, das Gespür fehlt.

(Beifall bei der LINKEN - Patrick Döring (FDP): Ihr Geschmack ist ja Gott sei Dank nicht der Maßstab!)

In der Öffentlichkeit kann schnell der Eindruck entstehen, Sie fahren in eine Kriegsregion und am Ende kommt dabei ein Schnäppchenkauf heraus. Ich frage mich auch, ob es die Aufgabe der Deutschen Botschaft ist, eine Teppichauswahl zu organisieren. Auch diese Frage darf man stellen.

Dazu, dass keine Kinderarbeit in dem Teppich steckt, gab es nur eine lapidare Bemerkung. Wir fragen natür- lich nach: Wie wollen Sie das eigentlich beweisen, vor allem angesichts des relativ geringen Preises für den großen Teppich? Das sind in meinen Augen ernsthafte Fragen.

Der eigentliche Skandal liegt für mich und für die Linke aber nicht in Ihrer Teppichnummer, sondern in Ihrer Entwicklungspolitik. Damit kommen wir zu den zentralen Punkten: Sie setzen auf Außenwirtschaftsförde- rung. Ferner gab es Skandale um merkwürdige Stellenbesetzungen, und in meinen Augen waren auch Per- sonalbesetzungen im Ministerium oft inadäquat. Es geht auch um die sogenannte Fusion der verschiedenen Entwicklungsorganisationen.

(Patrick Döring (FDP): Das ist ein großer Erfolg!)

In meinen Augen wurde die gute Organisation DED zerschlagen. Sie ist nicht mit ihren Stärken in die soge- nannte Fusion eingeführt worden. Sie haben noch sehr große Baustellen. Auch was Afghanistan angeht, wurden die Entwicklungsorganisationen unter Ihrer Regierung stärker ans Militär gebunden. Leider begann das unter Rot-Grün.

Herr Niebel, mir gefällt Ihre oft arrogante Haltung nicht - das habe ich auch schon erlebt - , wenn Sie in Län- dern des Südens unterwegs sind, die nicht Ihren politischen Vorstellungen entsprechen, wie zum Beispiel in Lateinamerika, in Bolivien, in Ecuador, in Nicaragua.

(Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): Waren Sie dabei? Sie waren doch überhaupt nicht dabei! Was erzählen Sie denn?)

Sie treten sehr arrogant auf. Sie haben die Entwicklungszusammenarbeit mit Nicaragua wegen fehlender guter Regierungsführung eingestellt. Dazu sage ich: Das kann nicht sein, Herr Niebel. Dann müssen wir gleiche Maßstäbe anlegen. Ich fordere eine gute Regierungsführung für Deutschland.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Uns ärgert auch das ist eine gravierende Konsequenz dieser einfach auch doofen Teppichdiskussion , dass wir über viele wichtige Dinge in Afghanistan nicht sprechen. Vor einigen Tagen gab es dort ein Erdbeben mit über 80 Toten. Wer weiß davon?

(Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU): Darüber hätte man die Aktuelle Stunde machen müssen! - Zurufe von der FDP)

Wer spricht davon? Die Medien nicht. Aber Herr Niebel auch nicht. Es gab Tote durch NATO-Angriffe; es wurden über 18 Zivilisten getötet. Darüber spricht Herr Niebel auch nicht. Ich habe nichts von ihm gehört.

(Niema Movassat (DIE LINKE): Zuhören! Eine Tugend!)

Wir haben eine säkulare, progressive Partei in Afghanistan, die Solidaritätspartei, die gegen den Krieg kämpft. Gegen diese wurde ein Verbotsverfahren durchgeführt. Wir haben bei der Deutschen Botschaft mehrmals gefragt: Was macht die Bundesregierung? Wie reagieren das Auswärtige Amt und das Entwick- lungsministerium? - Wir haben nichts gehört. Ich frage mich: Wo sind die Prioritäten?

(Zuruf von der FDP: Das fragen wir uns bei Ihnen auch! - Holger Krestel (FDP): Sie machen hier eine pillepalle Veranstaltung und halten uns vom Arbeiten ab!)

Sie treten mit Teppichaktionen in Afghanistan in Erscheinung, machen aber nicht den Mund auf, wenn Or- 4 ganisationen, die gegen den Krieg und die Warlords in Afghanistan kämpfen, verboten werden sollen. Das sind für mich entscheidende Punkte. Ich sage Ihnen: Herr Niebel, für mich ist der Teppichkauf kein Rück- trittsgrund,

(Beifall bei Abgeordneten der FDP) aber die Entwicklungspolitik, die Sie gestalten, und die Fehlentscheidungen wären schon längst ein Rück- trittsgrund.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vielen Dank!

Befragung, 27.6.2012

Niebel schüttelt dem De-facto-Präsidenten in Paraguay als erster europäischer Staatsgast die Hand.

In Paraguay findet ein Staatsstreich statt, und der deutsche Entwicklungsminister hat nichts eiligeres zu tun, als dem neuen de-facto-Präsidenten die Hand zu schütteln und Entwicklungsgelder zu ver- sprechen. Dringliche Fragen, die die Linksfraktion zu diesem Vorgang eingereicht hatte, wurden vom Bundestagspräsidenten zurückgewiesen. Der Linksfraktion blieb somit nur, den TOP „Sonstiges“ in der Befragung der Bundesregierung zu nutzen.

Vizepräsident Dr. : Wir haben eine weitere Frage des Kollegen Niema Movassat von den Linken.

Niema Movassat (DIE LINKE): Danke, Herr Präsident. – Frau Staatsministerin Pieper hat gerade die Reakti- on von Catherine Ashton sowie die der Mehrheit der lateinamerikanischen Staaten auf den Putsch in Para- guay dargestellt. Sie hat aber nicht gesagt, ob sie die Kritik, die seitens der lateinamerikanischen Staaten an diesem Putsch besteht, teilt. Wenn man diese Kritik teilt: Wäre es dann nicht vernünftig gewesen, wie die lateinamerikanischen Staaten zunächst die Botschafter zurückzubeordern und Konsultationen zu führen, bevor ein Minister der Bundesrepublik Deutschland nach Paraguay reist und die Hand des Putschisten schüttelt?

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Parlamentarische Staatssekretärin Gudrun Kopp.

Gudrun Kopp, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- lung:Danke schön, Herr Präsident. – Herr Movassat, wie die Kollegin Pieper gerade sagte: Minister Niebel hatte die Reise lange geplant; ebenso war der Gesprächster¬min mit dem damaligen Vizepräsidenten Fran- co vereinbart. Der Minister sah es für wichtig an, diesen vorgesehenen Besuch durchzuführen, weil es da- rum ging, bereits begonnene Projekte der ländlichen Entwicklung, der Armutsbekämpfung und auch der Bil- dung mit neuen Zusagen in Höhe von etwa 8 Millionen Euro zu versehen. Dies ist für die Menschen vor Ort sehr wichtig.

Der Minister hat in dem Gespräch mit Herrn Franco deutlich gemacht, dass er das Votum der jeweiligen Ver- fassungsorgane zur Kenntnis genommen hat. Es gab ja ein breites Votum für das Amtsenthebungsverfah- ren. In der Kritik stand wohl die Eile, mit der dieses Verfahren durchgezogen wurde. Das hat Herr Bundes- minister Niebel in dem Gespräch mit Herrn Franco kritisiert. Er hat auch angemahnt, dass die jetzt im Amt befindliche Regierung alles tun müsse, um für Frieden und dafür zu sorgen, dass die Verhältnisse geklärt werden. Das geht aus seiner Pressemitteilung hervor.

Es war also ein sehr konstruktives Gespräch. Es ging überhaupt nicht um die Anerkennung von Regierun- gen; denn eine solche Anerkennung erfolgt nur gegenüber Staaten. Wie gesagt: Es war ein sehr lange ge- planter Besuch, der wichtig war gerade für die ärmsten Menschen vor Ort.

5 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wir haben noch eine Frage der Kollegin Heike Hänsel, ebenfalls von der Fraktion Die Linke.

Heike Hänsel (DIE LINKE): Danke schön, Herr Präsident. – Meine Frage geht auch zum Thema Herr Niebel in Paraguay: Kann sich die Bundesregierung nicht vorstellen, dass das Ganze ein außenpolitischer Affront ist? Dieses Bild ging um die Welt: Herr Niebel schüttelt dem De-facto-Präsidenten kurz nach einem Staats- streich als erster europäischer Staatsgast die Hand. Das war durchaus als Symbol zu verstehen. Wir wissen ganz genau, welches Signal man mit einem solchen Bild aussendet.

Meine Frage: Gab es eine Rücksprache mit dem Auswärtigen Amt, bevor Minister Niebel den De-facto- Präsidenten Franco getroffen hat, und was hat das Auswärtige Amt Herrn Niebel geraten, wie er sich verhal- ten soll? Hat Herr Niebel versucht, ein Treffen mit dem abgesetzten Präsidenten Lugo zu arrangieren, um sich ein Bild von der Lage machen zu können?

Sie sagen, dass Sie Mittel für die ländliche Entwicklung zur Verfügung stellen wollen. Wie schätzen Sie die Situation ein, dass mit dem De-facto-Präsidenten Franco wieder jene Kräfte an die Macht kommen, nämlich die Großgrundbesitzer, die sich seit Jahren gegen Landreformen für die ländliche Entwicklung und gegen die Armut in Paraguay stemmen?

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte, Frau Staatssekretärin.

Gudrun Kopp, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- lung: Frau Kollegin, innerhalb der Bundesregierung gibt es hier keinerlei Dissens. Vielmehr gab es einen ständigen Austausch zwischen dem Außenministerium, dem BMZ und Minister Niebel, und zwar auch schon vor dem Termin.

Es ging nicht um Symbolpolitik. Es ging auch nicht darum, uns als Deutsche zu Richtern in diesem Verfah- ren aufzuschwingen. Ich betone noch einmal: Es gab einen Termin, den Minister Niebel seinerzeit mit dem Landwirtschaftsminister, der für wichtige laufende Projekte zuständig war, vereinbart hatte. Er hat sich ent- schieden, diesen Besuch zu absolvieren, und hat intensive Gespräche geführt. Er hat keinesfalls irgendwel- che Entscheidungen vorweggenommen. Wie gesagt: In der Pressemitteilung war von einem ersten Eindruck die Rede. Die Entscheidungen im Abgeordnetenhaus und auch im Senat – diese Entscheidungen sind mit großer Mehrheit zustande gekommen – hat Herr Niebel zur Kenntnis genommen. Das war der erste Ein- druck. Alle weiteren Entwicklungen müssen wir beobachten; das hat Frau Staatsministerin Pieper eben aus- geführt. Wir werden uns als Bundesregierung auf EU-Ebene in Kürze im Detail abstimmen.

6 Entwicklungszusammenarbeit und Militarisierung

Rede, 14.6.2012

Im Krieg kann es keine Entwicklung geben

Ob Human Development Index, Lebenserwartung, Kindersterblichkeit - Afghanistan belegt überall einen der letzten Ränge. Diese entwicklungspolitische Bilanz zieht Heike Hänsel vor der Tokio- Konferenz und kritisiert die Schönfärberei der Bundesregierung:

Zu Protokoll gegebene Rede

Sehr geehrte Damen und Herren, vor einer Woche wurden 18 Zivilisten bei einem Luftangriff der NATO getötet; am Dienstag kamen sieben Zivilisten bei einem Anschlag auf Sicherheitskräfte ums Leben; jeden Tag sterben dort Menschen durch Krieg. Am Montag verloren über 80 Menschen bei einem Erdbeben ihr Leben. Das Dorf, in dem sie lebten, soll nun zum Massengrab erklärt werden, weil eine Bergung der Toten nicht möglich ist. Das sind die Nach- richten aus Afghanistan, während wir im Bundestag zur besten Debattenzeit über fliegende Teppiche strei- ten, anstatt darüber zu diskutieren, wie wir den Krieg beenden. Es wäre besser gewesen, Herr Niebel hätte statt Teppichen die deutschen Soldaten aus Afghanistan mitgebracht und sich damit ein Beispiel an der neuen französischen Regierung genommen, die ihre Truppen dieses Jahr abziehen will!

Die Bilanz der bisherigen Unterstützung fällt allerdings verheerend aus. Sie formulieren es in ihrem Antrag selbst: Ob Human Development Index, Lebenserwartung, Kindersterblichkeit - Afghanistan belegt überall einen der letzten Ränge. Und das nach über 10 Jahren sogenannter „Unterstützung“! Milliarden wurden in Afghanistan ausgegeben, auch für die zivile Hilfe. So viel, wie in keinem anderen Land. Und das, um ein sol- ches Ergebnis zu erzielen. Das zeigt: Im Krieg kann es keine Entwicklung geben. Die Fraktion DIE LINKE fordert seit Jahren: Schluss mit dem NATO-Krieg, Truppen raus aus Afghanistan. Weil erst dann Entwick- lung überhaupt möglich wird.

Jetzt schreiben Sie, dass die Kampftruppen bis Ende 2014 Afghanistan verlassen haben werden. Tatsäch- lich aber werden noch lange danach, und zwar mindestens bis 2024 NATO-Truppen stationiert bleiben. Das heißt, dass deutsche Soldaten noch zehn weitere Jahre dort stationiert sein werden! Die militärische, strate- gische und geheimdienstliche Kooperation mit Afghanistan, für Ausbildung und Terrorismusbekämpfung mit Spezialeinheiten wird für die Zeit nach 2014 festgeschrieben. Es wird erwartet, dass eine Truppenstärke von 15 000 Mann im Land verbleiben wird, darunter etwa 1000 Bundeswehrsoldaten. Ein vollständiger Truppen- abzug sieht anders aus!

Es ginge darum, „die Entwicklung Afghanistans zu einem voll funktionsfähigen Staat weiterhin zu unterstüt- zen“, schreiben Sie. Weiterhin? Entwicklung zu einem funktionsfähigen Staat? Wie sah diese Entwicklung denn bislang aus – mit Ihrer Unterstützung? Als Kriegspartei sind die ISAF-Truppen am Töten in Afghanistan beteiligt, Zehntausende von Zivilist/innen wurden in Afghanistan auch durch die Angriffe der ISAF getötet. Doch Deutschland ist nicht nur Kriegspartei, sondern hat auch eine korrupte Regierung, verbrecherische Warlords und Fundamentalisten im Land gestärkt.

Politische Stabilität und graduelle Demokratisierung wollen Sie in Afghanistan feststellen? Frauenrechte, die sowieso nur auf dem Papier standen werden wieder zur Disposition gestellt. Korruption und Misswirtschaft dominieren das Land. Gestern habe ich auf das Verbotsverfahren gegen die Solidaritätspartei, die sich ge- gen die Besatzung und die Warlords und Drogenbarone in Parlament und Regierung engagiert und für den Abzug der Truppen wirbt und gegen die herrschenden Warlords auf die Straße geht, verwiesen. Wo bleibt gegen diese staatliche Repression die Reaktion von Seiten der Bundesregierung, und von Minister Niebel?

Was schlagen die Fraktionen der Regierungskoalition nun vor? Leider nichts neues, sondern nur mehr vom alten. Im Sinne des kürzlich abgeschlossenen bilateralen Kooperationsabkommens zwischen der Bundesre- gierung und Afghanistan setzen sie auf genau das Konzept, das bereits gescheitert ist: Die Wirtschaft Af- ghanistans soll weiter liberalisiert, bessere Bedingungen für private Investoren sollen geschaffen werden.

7 Sie haben die Interessen der deutschen Wirtschaft fest im Blick. Die Liberalisierung, der Afghanistan unter der Kuratel der internationalen „Geber“ unterzogen wird, hat allerdings schon mehr als genug Schaden an- gerichtet. Vor allem regionale Märkte sind dadurch zusammengebrochen, die die Armut in den ländlichen Regionen massiv verstärkt hat. Mit dieser Politik tragen sie nicht zu Stabilität, Entwicklung und Demokratisie- rung bei.

Rede, 28.6.2012

Frieden verhandeln – für eine andere Sudanpolitik

Für die Fraktion DIE LINKE fordert Niema Movassat die Wiederaufnahme der Entwicklungszusam- menarbeit mit dem Sudan, eine Ausweitung des deutschen Engagements in den Bereichen ziviler Friedensdienst, Förderung der ländlichen Entwicklung und die Unterstützung einer raschen Verhand- lungslösung über alle noch strittigen Fragen zwischen beiden Staaten.

Zu Protokoll gegebene Rede

Die Lage in Sudan und Südsudan ist ernst. Über die vergangen Monate hat sie sich dramatisch zugespitzt und beide Staaten stehen am Abgrund eines Krieges. Eines Krieges, der leider fast schon absehbar war und der durch eine andere Politik hätte verhindert werden können!

Über die Lagebeschreibung sind wir uns immerhin alle weitestgehend einig. Der ungewöhnlich ausführliche Feststellungsteil des vorliegenden Antrags von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen ist in großen Teilen durchaus zutreffend, beschreibt die komplexe Lage und suggeriert das Bild von relativer Ausgewogenheit. So werden Fehler, Versäumnisse und Herausforderungen des Sudan und Südsudan gleichermaßen be- schrieben.

Was ich aber vermisse ist das Eingeständnis des eigenen Versagens! Diese Ehrlichkeit hätte Ihnen, werte Antragsteller, als Ausgangspunkt Ihres Antrags gut zu Gesicht gestanden. Auch nur so hätte dieser Antrag der Auftakt für eine echte Wende in der deutschen Sudan-Politik sein können.

Was wir hier rund um diesen Antrag erleben, ist eine Posse, die mit reichlich Skurrilitäten nicht gerade spar- sam umgeht! Zunächst bringt die Koalition diesen Antrag alleine ein – sichtbar unter heißer Nadel gestrickt: Schaut man sich den Forderungsteil einmal genauer an, so geht es hier um nichts weiter, als eine Reproduk- tion und Bekräftigung dessen, was auch schon in der Anfang Mai vom UN-Sicherheitsrat verabschiedeten Resolution 2046 (2012) steht, eine Resolution an der die Bundesregierung als Mitglied des Sicherheitsrats selber beteiligt war und zu der sie selbst in ihrer Antwort auf unsere jüngste Kleine Anfrage sagt – ich zitiere: „Die Bundesregierung unterstützt die Resolution 2046 (2012) (…) und die darin enthaltenen Maßnahmen.“

Ja, wenn dem so ist, wofür brauchen Sie denn dann diesen Antrag noch? Ich verrate es Ihnen: Sie trauen – mit Recht – der eigenen Regierung nicht zu, aus den schweren Fehlern der Vergangenheit zu lernen, ihre teils fahrlässige Untätigkeit zu überwinden und nun angemessen auf die Situation zu reagieren! Dann wird es immer abenteuerlicher: SPD und Grüne betteln in der ersten Lesung förmlich um eine Beteiligung an die- sem Antrag, den sie gleichzeitig kritisieren. Ihr Wunsch wurde ihnen von der Koalition gnädig erfüllt. Es soll ein Signal der Geschlossenheit des Bundestags entstehen, wobei nicht einmal der Versuch unternommen wurde, DIE LINKE mit einzubinden. Wir wissen warum!

Eine ehrliche Analyse würde ergeben, dass es unverantwortlich war, entscheidende Fragen, wie die des Grenzverlaufs, des Status der umstrittenen Provinzen Abyei, Blauer Nil und Südkordofan, der Schuldenauf- teilung und -tilgung, des Status der Flüchtlinge, der Staatsbürgerschaftsfrage und der Entwaffnung und De- militarisierung nicht vor der Unabhängigkeit des Südsudan vor einem Jahr zu klären. Zudem wird fortgesetzt – auch im Forderungsteil Ihres Antrags – einseitig Stellung für den Südsudan bezogen. Die Auswertung der Antwort auf unsere Kleine Anfrage unterstreichet: Während die Entwicklungszusammenarbeit mit dem Sü- den deutlich ausgebaut werden soll, wird diese nach wie vor für den Norden ausgeschlossen – sowohl bila- teral, wie auch multilateral über die Europäische Union. Das sind nichts anderes als Sanktionen und – wie so häufig – leidet darunter vor allem die einfache Bevölkerung und nicht das Regime. Für die Schuldenfrage 8 präferiert die Bundesregierung die sogenannte „zero option“. Das bedeutet: Komplette Schuldenübernahme durch den Sudan bei gleichzeitigem Erhalt von Ausgleichszahlungen vom Süden. Ein Schuldenerlass soll dann nur über die HIPC-Initiative des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank möglich sein. Das aber bringt strenge Auflagen und einen tiefgreifenden Eingriff in die sudanesische Politik mit sich. Wir ken- nen das schon vom inakzeptablen Auftreten der Troika in Griechenland!

Es ist eine Bankrotterklärung und zeugt nicht gerade von Einfallsreichtum, wenn Sie nun von der Koalition einmütig mit SPD und Grünen hier nichts als einen Ausbau ihrer bisher schon gescheiterten Politik fordern, also im Kern eine Ausweitung der bisher völlig wirkungslosen UN-Militärmissionen und die Erteilung eines Blankoschecks für robuste Mandate. Den Auslandseinsatz der Bundeswehr im Rahmen des UNMISS Man- dats lehnen wir ab und fordern den sofortigen Abzug aller deutschen Soldaten!

DIE LINKE fordert die Wiederaufnahme der Entwicklungszusammenarbeit mit dem Sudan, eine Ausweitung des deutschen Engagements in den Bereichen ziviler Friedensdienst, Förderung der ländlichen Entwicklung und die Unterstützung einer raschen Verhandlungslösung über alle noch strittigen Fragen zwischen beiden Staaten. Kurzum: DIE LINKE lehnt ein „Weiter so“ und damit auch diesen Antrag ab.

9 Pressemitteilung, 6.7.2012

Kleine Anfrage „Ziviler und wirtschaftlicher Aufbau im Sudan und Südsudan“ (Drs. 17/10053)

„Sudan und Südsudan stehen am Rande eines Kriegs. Er war voraussehbar und damit auch verhinderbar. Der Bundesregierung fehlt es an einem klaren und ganzheitlichen Ansatz für ihre Su- danpolitik. Eine Kursänderung der bisher gescheiterten Strategie ist leider nicht erkennbar“, erklärt Niema Movassat, Entwicklungspolitiker der Fraktion DIE LINKE, zur Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage „Ziviler und wirtschaftlicher Aufbau im Sudan und Südsudan“ (Bundestags- Drucksache 17/10053). Weiter erklärt Movassat:

„Die Bundesregierung weicht konkreten Fragen zu Defiziten und Versäumnissen ihrer bisherigen Sudanpoli- tik aus, bzw. beantwortet sie schlicht gar nicht (Antworten 1 & 2). Dies ist ein Armutszeugnis. Selbstkritik wä- re angesagt angesichts der derzeitigen Lage.

Eine der entscheidenden Konfliktpunkte ist die des Schuldenerlasses. Die Bundesregierung favorisiert die „zero option“. Hierbei würde der Sudan die Schulden komplett gegen Ausgleichzahlungen von Südsudan übernehmen. Im Rahmen der HIPC-Initiative von IWF und Weltbank könnte der Sudan dann seine Schulden gegen strenge Auflagen erlassen bekommen (Antwort 5). Diese Auflagen wären aber ein tiefer Eingriff in die sudanesische Politik - ähnlich den Auflagen der „Troika“ gegenüber Griechenland. Deshalb ist dieser Weg inakzeptabel. Wir brauchen einen faireren Schuldenerlass, der auch den Südsudan mit einbezieht.

Die mit bis zu 50 deutschen Soldaten unterstützte Mission der Vereinten Nationen in Südsudan (UNMISS) wird als voller Erfolg bewertet (Antwort 7). Dabei hat diese Mission bisher sichtlich nichts zu einer friedlichen Entwicklung in der Region beigetragen. Vielmehr ist die Gewalt noch eskaliert. Deshalb müssen die deut- schen Soldaten unverzüglich aus dem abgezogen werden.

Die Sicherheitssektorreform im Südsudan soll über das GIZ Programm „Stärkung der Funktionsfähigkeit der Polizei im Südsudan“ fortgesetzt werden. Sie bleibt Hauptschwerpunkt der Entwicklungszusammenarbeit (Antwort 16). Außerdem beteiligt sich die Bundesregierung am VN-Programm zur Entwaffnung, Demobilisie- rung und Reintegration von Ex-Kombattanten (Antwort 17b). DIE LINKE setzt dagegen auf eine Stärkung des Zivilen Friedensdienstes. Hier fehlt offensichtlich der politische Wille, diesen Bereich stärker in beiden Sudans auszubauen (Antworten 17f, 17g, 18b & 26). Die zivile Konfliktbearbeitung soll lediglich als Quer- schnittsaufgabe in den laufenden Programmen eine Rolle spielen. Dies ist eindeutig zu wenig. Gerade die Konfliktbearbeitung nach Jahren des Krieges wäre entscheidend, um eine friedliche Entwicklung des Sudan und Südsudan zu fördern.

Aktive Entwicklungszusammenarbeit betreibt die Bundesregierung ausschließlich mit Südsudan, während die Maßnahmen in Sudan sich auf wenige kleine Projekte und Humanitäre Hilfsmaßnahmen beschränken (u.a. Antwort 21). Damit trägt die Bundesregierung eine EU-Politik mit, die für den Sudan eine versteckte Sanktion darstellt, unter der – wie so häufig – insbesondere die Bevölkerung leidet und nicht das Regime. Bezüglich des Südsudan ist auffällig, dass die Ernährungssicherung nur in geringem Ausmaß eine Rolle spielt und eine Aufstockung der Gelder in diesem Bereich vage für 2013 angekündigt wird (Antworten 14 & 17). Bei der Humanitären Hilfe konzentriert sich die Bundesregierung insbesondere auf die Versorgung von Binnenvertriebenen - ein Problem, welches in dem Ausmaß nicht existieren würde, hätte man die Frage der Staatsangehörigkeit schon vor der Teilung des Sudan gelöst. Die Zahl der „rückkehrenden Südsudanesen“ aus Sudan, Flüchtlingen und Binnenvertriebenen ist in Südsudan erschreckend hoch und schon jetzt sind knapp drei Mio. Menschen von Nahrungsmittelknappheit bzw. Mangelernährung betroffen (Antwort 19a). Die Zahlen machen deutlich, dass das Thema Ernährungssicherung einen größeren Raum einnehmen muss.“

Die vollständigen Antworten auf die Kleine Anfrage: "Ziviler und wirtschaftlicher Aufbau im Sudan und Südsudan" (Drs. 17/10053) können hier abgerufen werden: http://dokumente.linksfraktion.net/drucksachen/27140_1710053.pdf

10 Rio+20: Alternativen zur Green Economy

Rede, 14.6.2012

Globale Gerechtigkeit statt grüner Kapitalismus

In der Plenardebatte zur Konferenz der Vereinten Nationen über nachhaltige Entwicklung (Rio+20) kritisierte Heike Hänsel das Konzept der „Green Economy“ und plädierte, anstelle von mehr Markt- wirtschaft, für eine solidarische globale Zusammenarbeit und Umverteilung:

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Herr Göppel hat die Aufbruchsstimmung im Jahr 1992 angesprochen. Ich habe diese Zeit als Studentin mit- erlebt. Nach der Blockkonfrontation gab es in ganz Europa oder sogar weltweit die Hoffnung auf die soge- nannte Friedensdividende. Man wollte die Einsparungen, die sich nach dem Ende des Kalten Krieges durch die Senkung der Rüstungsausgaben ergeben hatten, für nachhaltige Entwicklung einsetzen. Damals gab es im Zuge dieser Aufbruchsstimmung die Idee der lokalen Agenden; das bedeutete, die konkrete Verantwor- tung in den Kommunen zu organisieren. Viele Hunderttausende Menschen und etliche Gruppen haben sich damals auf den Weg gemacht; auch ich habe mich engagiert. Heute gibt es diese Aufbruchsstimmung nicht mehr. Wenn wir nach nunmehr 20 Jahren Bilanz ziehen und prüfen, wo wir heute stehen, dann stellen wir fest, dass wir die höchsten Rüstungsausgaben zu verzeichnenhaben, die weltweit jemals existierten, näm- lich mehr als 1 Billion Dollar jährlich. Das ist das Zehnfache dessen, was für den Bereich der Entwicklung ausgegeben wird. Deshalb unterstützen wir zum Beispiel eine Initiative, die im Vorfeld des Rio-Gipfels von Friedensnobelpreisträgern ins Leben gerufen wurde. Sie heißt „Abrüsten für nachhaltige Entwicklung“.

(Beifall bei der LINKEN)

Diese Initiative sieht vor, bei den Rüstungsausgaben mindestens 10 Prozent jährlich einzusparen und diese Ersparnisse in einem Fonds bei den Vereinten Nationen anzulegen, um dadurch Armut und Hunger zu be- kämpfen. Das ist eine sehr gute Initiative. Sie steht natürlich im Gegensatz zu dem, was ansonsten auf dem Gipfel diskutiert wird. Es wurde schon erwähnt: Es geht nicht mehr um Nachhaltigkeit; das neue Schlagwort heißt Green Economy. Wenn wir uns das genau anschauen, erkennen wir darin eigentlich nichts anderes als grünen Kapitalismus: Weitere Bereiche des Lebens soll einer Profitlogik unterstellt werden. Mit nachhaltiger Entwicklung war etwas ganz anderes gemeint. Da ging es auch um die soziale Dimension der Entwicklung, nicht nur um eine ökologische Erweiterung und Erschließung neuer Märkte mit sogenannter grüner Techno- logie. Deswegen sagen wir: Wir wollen diese Form des grünen Kapitalismus nicht; wir wollen eine ernsthafte nachhaltige Entwicklung.

(Beifall bei der LINKEN)

Das heißt eben auch, dass neue Technologien in solidarischer Zusammenarbeit zur Verfügung gestellt wer- den, dass sie nicht als Exportschlager genutzt werden, um neue Märkte zu erschließen, sondern dass sie weltweit allen Ländern zur Verfügung gestellt werden, damit sie sich nachhaltig entwickeln können. Das ist ein anderer Ansatz. Da geht es nicht um das Zu-Tode-Konkurrieren mit den neuesten Solarzellen, sondern darum, das Wissen untereinander zu teilen, um diesen Planeten zu retten. Da können wir viel von den Län- dern des Südens lernen: In Lateinamerika wird eine solidarische Ökonomie, eine Wirtschaft des gegenseiti- gen Ergänzens erprobt.

( [FDP]: Ein neuer Sozialismus!)

Es geht um die Frage: Wo sind Stärken und Schwächen? In meinen Augen geht es hier um die zentralen Fragen des 21. Jahrhunderts. Wenn wir die ökologische Herausforderung ernsthaft annehmen wollen, dann können wir es nicht mit denselben Mitteln tun, mit denen wir überhaupt erst in die ökologische Krise geraten sind. Die große Frage wird eben sein: Wie organisieren wir den Zugang zu Ressourcen, zu Rohstoffen? Da sind wir der Meinung: Wir brauchen weltweit eine ganz neue Verteilung des Reichtums, von Nord nach Süd und innerhalb der Länder von oben nach unten. Wir müssen die Ressourcen teilen. Wir können nicht mehr so weitermachen.

11 (Beifall bei der LINKEN)

Ganz konkret fordern wir deswegen auch einen Kompensationsfonds bei den Vereinten Nationen. Zum Bei- spiel könnte ein neuer Rat für nachhaltige Entwicklung, wie er von verschiedenen Beratern von Ban Ki-moon vorgeschlagen wird, solche neuen Instrumente entwickeln. Der Rat könnte sich mit den grundsätzlichen Fra- gen auseinandersetzen. Er könnte all die marktbasierten Instrumente, die wir bisher haben – Emissionshan- del, REDD –, hinterfragen und überprüfen: Dienen sie wirklich einer nachhaltigen Entwicklung, oder dienen sie nur der Durchsetzung einer Profitlogik? Das sind für uns die Herausforderungen. Darüber wird in Rio vor allem auf einem Alternativgipfel diskutiert. Daran wollen wir uns beteiligen. Wir werden dort präsent sein, natürlich auch auf dem offiziellen Gipfel, und hoffen, dass wir mit neuen Antworten zurückkommen, die über die jetzigen hinausgehen.

Danke.

(Beifall bei der LINKEN)

Veranstaltung, 14.6.2012

„Globale Gerechtigkeit statt grüner Kapitalismus – Die Linke in Deutschland und in Lateinamerika blickt auf den Rio-Gipfel“

Auf der Veranstaltung referierten Valter Pomar (l.) von der brasilianische Arbeiterpartei (PT) und die MdB Wolfgang Gehrcke und ; Bericht von Alexander King

Rio 2012 ist nicht Rio 1992. Die Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung von 1992 hatte als "Erdgipfel" viele Hoffnungen auf eine Entwicklung ausgelöst, in der der Mensch im Mittelpunkt steht. Die Nachfolgekonferenz in der kommenden Woche ("Rio+20") steht unter ganz anderen Vorzeichen: Grüner Kapitalismus – mit dieser Agenda fahren die Regierungen der Industrienationen nach Rio. Immer weitere Bereiche des Lebens sollen unter die marktwirtschaftliche Profitlogik gezwungen werden.

Was setzen die Regierungen des Südens, insbesondere die linken Regierungen Lateinamerikas, dem ent- gegen? Was erwartet die deutsche LINKE von Rio? Darüber diskutierten am Donnerstagabend die Abge- ordneten Wolfgang Gehrcke und Sabine Leidig mit Valter Pomar von der brasilianischen Arbeiterpartei (PT) und 40 Interessierten im Karl-Liebknecht-Haus.

Ökologische Nachhaltigkeit und Kapitalismus sind nicht miteinander zu vereinbaren, mit dieser Ausgangs- these startete Valter Pomar in die Debatte um linke Alternativen zur "Green Economy". Den Begriff "Green 12 Economy", der die Debatten um den Rio+20-Gipfel prägt, kritisierte er als Versuch, diese Unvereinbarkeit zu verschleiern. Pomar ist Mitglied der Führung der brasilianischen Regierungspartei PT und Exekutivsekretär des Foro de São Paulo, des Zusammenschlusses linker Parteien in Lateinamerika.

Rio muss Entwicklungskonferenz werden

Die PT und der nationale brasilianische Gewerkschaftsdachverband CUT haben sich vor dem Nachhaltig- keitsgipfel in ihrem Land positioniert: Der Rio-Prozess muss die Notwendigkeit des sozialen Schutzes aner- kennen. Rio 2012 darf keine reine Umweltkonferenz, sondern muss eine Entwicklungskonferenz werden. Entwicklung und der Erhalt der Umwelt dürfen nicht mehr gegeneinander diskutiert werden, vielmehr muss es um eine grüne Entwicklung mit würdiger und zugleich sinnvoller Arbeit gehen.

Für die verkehrspolitische Sprecherin der Linksfraktion, Sabine Leidig, ist die Umweltfrage die zentrale so- ziale Frage des 21. Jahrhunderts. Mit Blick auf die Bundestagsdebatte über den Antrag der Linksfraktion (17/9732) und auf eine Erklärung des Deutschen Frauenrats vor dem Rio-Gipfel stellte sie fest, dass sich an dieser Frage eine radikale Systemkritik entwickeln und an gesellschaftlicher Breite gewinnen kann.

"Wir brauchen einen grünen Sozialismus"

Leidig stellte den "Plan B", das "rote Projekt für einen sozial-ökologischen Umbau", vor. Die Linksfraktion trägt darin Alternativen zum Grünanstrich des Kapitalismus zusammen: Von der Demokratisierung der Ener- gieversorgung und der industriellen Produktion über soziale Mobilität bis hin zur Stärkung lokaler Wirt- schaftskreisläufe werden Grundlagen für eine ökologische, soziale und demokratische Wirtschafts- und Le- bensweise vorgestellt und diskutiert. Sabine Leidig lud zum Mitmachen ein - jede und jeder eigene Vorstel- lungen einbringen und mitdiskutieren. Sobald die Seite plan-b-mitmachen.de online ist, werden wir Sie auf linksfraktion.de informieren.

Wolfgang Gehrcke, Leiter des Arbeitskreises Internationale Politik der Fraktion, hatte zuvor in seiner Begrü- ßung die Verbindung zur Friedensfrage hergestellt und auf eine Initiative von Friedensorganisationen und Nobelpreisträgern zum Rio-Gipfel hingewiesen. Sie fordern die Regierungen auf, in Rio die Reduzierung der globalen Rüstungsetats um zehn Prozent zu verabreden und die frei werdenden Mittel in die Armutsbekämp- fung zu lenken.

Die Diskussion im Karl-Liebknecht-Haus machte auch die Widersprüche deutlich, in denen diejenigen sich bewegen, die konkrete linke Alternativen in einer kapitalistischen Umgebung erstreiten wollen. Die PT als Regierungspartei in einem wirtschaftlich aufstrebenden Land muss ihre Politik gegen die Macht der Agrar- lobby und des Finanzkapitals und auch gegen eine konservativ-liberale Mehrheit im Parlament entwickeln und durchsetzen. Die Ergebnisse ihrer Politik müssen immer in diesem Kontext bewertet werden. Sabine Leidig warnte vor dem erhobenen Zeigefinger mit Blick auf die sich entwickelnden Gesellschaften des Sü- dens: Diese Länder entwickeln sich in einer kapitalistischen Umgebung, die alternative Entwicklungswege erschwert und oftmals unmöglich macht.

Globale Umweltfragen sind im Kapitalismus nicht zu lösen, darin war sich Valter Pomar mit Sabine Leidig einig, denn sie benötigen demokratische Planung und den Abschied von der Warenproduktion – Sabine Lei- dig fasste es prägnant zusammen: Wir brauchen einen "grünen Sozialismus".

13 Veranstaltung, 14.6.2012

Die deutsche Linke und die Entwicklungen in Lateinamerika

Diskussionsveranstaltung der Bundestagsfraktion DIE LINKE

Donnerstag, 14. Juni 2012, Deutscher Bundestag

Bericht: Alexander King

Die politische Landschaft Lateinamerikas hat sich in den letzten zwanzig Jahren bedeutend verändert. De- mokratische und emanzipatorische Kräfte haben im Kampf gegen den Neoliberalismus und seine sozialen Auswirkungen wesentliche politische Erfolge errungen. In vielen Ländern des Kontinents sind progressive, linksgerichtete Regierungen entstanden, die in ihren Ländern dabei sind, neue Entwicklungspfade zu be- schreiten.

Die politischen und sozialen Prozesse in Lateinamerika erbrachten Ergebnisse, die mit vergangenen Jahr- zehnten nicht mehr zu vergleichen sind: Von einzelnen Regierungen aufgelegte Sozialprogramme verhalfen Millionen von Menschen dazu, sich aus extremer Armut zu befreien. Tiefgreifende Demokratisierungspro- zesse konnten in Gang gesetzt werden. Lateinamerika als Kontinent begann auf internationaler Ebene eine andere Rolle zu spielen. Es gelang, die nationale Souveränität zu festigen und neue Integrationsprozesse einzuleiten. Aber zugleich stießen diese Entwicklungen auf ernste Probleme und auf Grenzen, die aus der Vergangenheit, den Aktivitäten der Gegenkräfte und den Beziehungen zwischen den kapitalistischen Zen- tren und der Peripherie resultieren. Deutlich wurden tiefgehende Widersprüche, die sowohl Regierungen wie auch politische und soziale Akteure vor neue Probleme stellten.

In einer Diskussionsveranstaltung, zu der die Abgeordneten Heike Hänsel und Wolfgang Gehrcke einluden, wollte die Linksfraktion sich ein Bild von dieser differenzierten Situation in Lateinamerika machen und gleich- zeitig die Frage beantworten, wie sich die deutsche und europäische Linke zu diesen Entwicklungen positio- nieren sollte. Dabei ging es nicht nur um Solidarität mit den Menschen in Lateinamerika, sondern vielmehr um aktive Zusammenarbeit mit den agierenden politischen und soziale Akteuren. Wir fassen im Folgenden die Einstiegsbeiträge der beiden Hauptreferenten Prof. Dr. Dieter Boris und Valter Pomar zusammen:

Dieter Boris von der Universität Marburg skizzierte in sieben Punkten die aktuelle Situation in Lateinameri- ka: Im globalen Kontext stellte er eine veränderte Lage fest, gekennzeichnet durch u. a. die Abnahme der US-Hegemonie, neue Süd-Süd-Beziehungen und globale Krisen.

In Lateinamerika haben sich in Folge sozialer Mobilisierung neue Mitte-Links-Regierungen etabliert, deren Hauptziel es ist, die Souveränität ihrer Länder zu stärken, Armut und Ungleichheit abzubauen, stabile Volkswirtschaften mit starken Binnenmärkten und sozialen Sicherungssystemen aufzubauen und öffentliche Räume zurückzuerobern; dabei sind Erfolge zu vermelden: Privatisierungen konnten rückgängig gemacht, Sozialtransfers verbessert und die Armutsquoten teilweise deutlich gesenkt sowie gewerkschaftliche Rechte gestärkt werden. Allerdings haben sich die gesellschaftlichen Machtverhältnisse dadurch nicht verändert. Die Klassenspaltung in Bildung und Gesundheit bestehen weiterhin.

Gegenkräfte, die den Wandel aufhalten bzw. rückgängig machen wollen, bleiben eine Gefahr. Dazu zählte Boris die neoliberal-konservativen Regierungen in Kolumbien, Chile und Mexiko und die ökonomisch domi- nanten Kräfte, die Widersprüche in den links regierten Ländern, etwa den Streit um den sogenannten Neo- Extraktivismus, ausnutzen und dabei von externen Kräften, darunter auch Nichtregierungsorganisationen, unterstützt werden. Dabei stellt sich die Rechte teilweise als „Bewahrerin der Natur“ dar und unterstützt etwa indigene Gruppen bei ihrem Protest gegen linke Regierungen (Bsp. Tipnis in Bolivien). Die EU hat zuletzt ganz direkt Stellung gegen die argentinische Regierung bezogen, als diese das lokale Tochterunternehmen des spanischen Konzerns REPSOL verstaatlichte.

Widersprüche innerhalb der lateinamerikanischen Linken machte Boris bzgl. Tempo, Intensität und Radikali- tät der Veränderungen aus. Diese Widersprüche zeigen sich auch im Verhältnis zwischen den linken Regie- rungen und sozialen Bewegungen.

14 Bzgl. der Perspektiven stellte Boris fest, dass im Moment noch die Überwindung des Neoliberalismus im Vordergrund steht. Der gesellschaftliche Wandel hin zu einem „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ steht noch in weiter Ferne. Auf die Kritik am Neo-Extraktivismus Bezug nehmend, betonte er, eine sofortige Ab- kehr vom Extraktivismus sei nicht möglich; er unterschied einen „unverzichtbaren“ von einem „zerstöreri- schen und plündernden“ Extraktivismus.

Unter linken Regierungen kühle die soziale Mobilisierung notwendigerweise ab, so Boris. In diesem dialekti- schen Zusammenhang stecke zugleich eine Gefahr. Die Verankerung linker Regierungen in ihrem sozialen Umfeld beschrieb Boris deshalb als eine der wesentlichen Herausforderungen, ebenso die Vertiefung der regionalen Integration.

Mit Blick auf die Linke in Deutschland warnte Boris vor Romantizismus: „Buen vivir“ ersetze noch kein Pro- gramm, Sprichworte ersetzten keine Theorie. Der Export von postmodernen Theoriefetzen sei wenig hilf- reich, stattdessen müsse die Analyse der sozialen Beziehungen in Lateinamerika gefördert werden. An DIE LINKE und die Rosa-Luxemburg-Stiftung gerichtet, regte Boris an, die Öffentlichkeitsarbeit für die Entwick- lungen in Lateinamerika und den intellektuellen Austausch zu verstärken.

Valter Pomar, Exekutivsekretär des Foro São Paulo und Mitglied der Führung der brasilianischen Arbeiter- partei (PT), begann ebenfalls mit einem Blick auf die globale Lage, die durch Instabilität und unklare Per- spektiven gekennzeichnet sei; im einzelnen machte er folgende Trends aus: Krise des neoliberalen Kapita- lismus, anhaltende US-Hegemonie bei gleichzeitiger geopolitischer Verschiebung, interkapitalistische Kon- flikte (USA vs. BRICS), strategische Defensive des Sozialismus.

Die Veränderungen in Lateinamerika sind Ergebnisse von Wahlerfolgen, nicht von Revolutionen, stellte Pomar klar. Entsprechend findet kein Übergang zum Sozialismus statt, sondern unterschiedliche Formen des Kapitalismus mit stärkerer Rolle des Staates prägen sich aus. Zugleich lässt sich feststellen: Die sozia- listische Linke in Lateinamerika ist stärker denn je. Ob dies die Möglichkeit eröffnet, in einen neuen Zyklus des Aufbaus des Sozialismus einzutreten und ob ein solcher neuer Versuch von Lateinamerika ausgehen wird, formulierte Pomar ausdrücklich als offene Frage.

Unter den linken Regierungen wurden die Demokratie, soziale Wohlfahrt, die nationale Souveränität und die regionale Integration gestärkt, so Pomar, wobei ein Unterschied zwischen Süd- und Mittelamerika festzustel- len sei, wo die Nähe der USA bremsend auf den Wandel wirke. Außerdem unterschied Pomar Länder, deren politisches System durch den Neoliberalismus und seine Krise vollkommen zerstört worden sei (Bolivien, Ecuador, Venezuela) und in denen sich nun radikalere Veränderungen vollzögen, von Ländern, deren politi- sches System eine größere Kontinuität aufwiesen (Brasilien, Uruguay, Nicaragua) und in denen der Wandel langsamer vonstattenginge.

Mit dem Amtsantritt von US-Präsident Obama seien die Gegenkräfte in Lateinamerika gestärkt worden, so Pomar. Gleichzeitig seien Verschleißerscheinungen bei der lateinamerikanischen Linken zu beobachten. Der Versuch, Veränderungen ohne einen Systemwechsel durchzusetzen, habe zu Erschöpfung geführt. Pomar führte das Beispiel Venezuela an, wo grundlegende Veränderungen bei der Verteilung der Ölrente erzielt werden konnten, aber nicht die Wirtschaftsform verändert worden sei. Die internationale Krise habe diesbe- zügliche Widersprüche, etwa in Bolivien und Ecuador, verschärft.

Als wichtigste Herausforderung stellte Pomar die Verteidigung des sozialistischen Kubas heraus. Außerdem müssten komplementäre Wirtschaftsbeziehungen und die regionale Integration vertieft, Kräfteverhältnisse weiter verschoben (hier verwies er ausdrücklich auf die Wahlen in Mexiko), der Einfluss des Finanzkapitals zurückgedrängt, das Gewicht des Extraktivismus verringert und mehr Kontrolle über die Transnationalen Konzerne erlangt werden. Pomar betonte die Bedeutung Brasiliens für diesen Prozess. Brasilien könne die Basis sowohl für die Transnationalen Konzerne als auch für die Regionale Integration sein.

Pomar forderte eine klare Haltung gegen den Angriff auf Libyen und gegen eine mögliche Intervention in Sy- rien. Die europäische Linke müsse die Prozesse in Lateinamerika besser verstehen, forderte Pomar und kritisierte sowohl Idealisierung als auch Typisierung. Die Gegenüberstellung von Venezuela (als böse Linke) und Brasilien (als gute Linke) wies Pomar für die PT Brasilien klar zurück. Die PT sei solidarisch mit Hugo Chavez.

15 Auch Pomar forderte, die Erforschung der sozialen Beziehungen zu fördern. Den „Kapitalismus des 21. Jahrhunderts“ besser zu kennen, sei Voraussetzung für einen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“.

Pomar betonte, die PT sei nicht Mitglied der Sozialistischen Internationale, obwohl sie von der SPD heftig umworben werde. Drei ihrer vier Hauptströmungen stünden links von der europäischen Sozialdemokratie. Die PT wünsche sich bessere Beziehungen zur Partei DIE LINKE und zur Rosa-Luxemburg-Stiftung. „Lasst nicht zu, dass die Friedrich-Ebert-Stiftung in den deutschen Beziehungen zur PT hegemonial wird“, mahnte Pomar.

„Es gibt keinen Sozialismus ohne Sozialisten“, stellte Pomar abschließend fest. Wichtigste Aufgabe sei es daher, Menschen für die Organisierung zu gewinnen. Eine sozialistische Strategie und Kultur seien vonnö- ten. Seine Erwartung an die deutsche Linke formulierte er knapp und deutlich: „Werdet stärker!“ Er lud die Fraktion DIE LINKE zur Teilnahme am Foro São Paulo in Caracas ein.

Valter Pomar und Prof. Dr. Dieter Boris

16 Gesundheit in Entwicklungsländern

Rede, 28.6.2012

Kein Menschenrecht auf Gesundheit ohne globale Umverteilung

Wer weltweit das Menschenrecht auf Gesundheit durchsetzen möchte, muss den globalen Wohl- stand gerechter umverteilen. Diesen Zusammenhang betonte für die Fraktion DIE LINKE der Abge- ordnete Niema Movassat in den Debatten über die Förderung von Pharmaforschung und über den globalen Kampf gegen HIV/Aids.

Zu Protokoll gegebene Rede

Der vorliegende Antrag der Koalition ist zweifelsohne gut gemeint. Vernachlässigte Krankheiten treffen rund eine Milliarde Menschen, das heißt jeden siebten Erdbewohner.

Diese untragbare Situation zu verbessern sollte vordringlichste Aufgabe der internationalen Gemeinschaft sein. Für die Menscheit im 21. Jahrhundert ist es ein Armutszeugnis, dass so viele Menschen mit ihren Lei- den schlicht alleine gelassen werden.

Betroffen sind natürlich vor allem die Menschen im globalen Süden. Sie haben nicht genügend Geld und bekommen deshalb nicht die erforderliche Medizin.

Leider sind die im Koalitionsantrag erhobenen Forderungen nicht geeignet, daran grundsätzlich etwas zu ändern. Vieles bleibt schwammig, die entscheidenden Punkte fehlen. Aus der in weiten Teilen richtigen Ana- lyse der heutigen Situation zieht die Koalition nicht die logischen Schlussfolgerungen.

So heißt es zwar im Antragstext, das wirtschaftliche Interesse von Pharmaunternehmen an der Erforschung und Bekämpfung von vernachlässigten und armutsassoziierten Krankheiten sei eher gering. Das ist zwar etwas verharmlosend, aber von der Tendenz her richtig. Konsequente Lösungsansätze für diese Problema- tik bleibt der Antrag aber schuldig.

Dabei zeigt alleine dieser Teilaspekt das ganze Versagen des pharmazeutischen Marktes und die unbeding- te Notwendigkeit, hier schnell und grundsätzlich Veränderungen herbeizuführen.

Die Faktenlage spricht für sich: Aus Profitinteresse konzentriert die Pharmaindustrie ihre Wirkstoffforschung vor allem auf Krankheiten, bei denen ein fertiges Medikament in den Industrieländern großen Absatz ver- spricht. Nur zehn Prozent der globalen Forschungsausgaben beziehen sich auf Krankheiten, die 90 Prozent zur globalen Krankheitslast beitragen. Gleichzeitig investieren pharmazeutische Firmen mehr als doppelt so viel in Marketingmaßnahmen als in die Forschung selbst.

Zusätzlich fließt ein beträchtlicher Teil der Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen in Produkte, die kaum oder keinen therapeutischen Zusatznutzen im Vergleich zu bereits bestehenden Produkten haben. Well- ness-Medizin für die zahlungskräftigen Industrieländer statt lebensrettende Medikamente für die finanz- schwachen Entwicklungsländer.

Menschenleben zählen offensichtlich im kapitalistischen Wirtschaftssystem weniger als Profitmaximierung. Das ist des Pudels Kern. Kein Wunder allerdings, dass die Kolleginnen und Kollegen von der Koalition dies nicht wahr haben wollen. Es würde ihr Weltbild wohl nachhaltig schädigen.

In das hohe Loblied auf das Förderkonzept der Bundesregierung „Vernachlässigte und armutsassoziierte Krankheiten“ können wir nicht einstimmen. Mit einem Fördervolumen von etwa 18 bis 20 Millionen Euro in 2010 liegt Deutschland im Vergleich mit anderen Industriestaaten weit abgeschlagen. Selbst Schwellenlän- der wie Südafrika investieren proportional zur Wirtschaftskraft mehr in die Forschung zur Bekämpfung ver- nachlässigter Krankheiten.

17 DIE LINKE spricht sich aus für eine umfassendere Förderung von gemeinsamen internationalen Non-Profit- Organisationen bestehend aus Pharmakonzernen, Wissenschaft und Zivilgesellschaft, so genannten Pro- duktentwicklungspartnerschaften.

Wir müssen die öffentliche Forschung und das von UNITAID initiierte Konzept der Patentpools massiv stär- ken und ausbauen. Wenn klinische Forschung öffentlich gefördert wird, müssen Open-Access- Veröffentlichungen die Ergebnisse der Allgemeinheit kostenlos zur Verfügung stellen.

In Open-Data-Lösungen liegt die Zukunft der Forschung, nicht im veralteten Patentrecht. Das Konzept der sozialen Verantwortung in der Lizenzpolitik, dass so genannte Equitable Licensing, ist auf dem Weg dahin ein großer Fortschritt.

Außerdem fordern wir die Bundesregierung auf, endlich einen Gesetzentwurf in Anlehnung an das italienische Modell des „AIFA-Fund“ vorzulegen. Dieser erhebt eine Ab- gabe auf die jährlichen auf Ärzte bezogenen Marketingausgaben von Pharmafirmen in der Höhe von 5 Pro- zent. Die Einnahmen fließen exklusiv in die öffentliche Forschung für vernachlässigte und armutsassoziierte Krankheiten.

Es gibt absolut kein einziges vernünftiges Argument gegen diese Maßnahme. Die Wahrheit ist: Die Bundes- regierung will sich nicht mit der Pharmalobby anlegen. Nicht mal in diesem eher kleinen Punkt.

Abschließend möchte ich nochmal ganz deutlich sagen: Vernachlässigte Krankheiten sind armutsbedingte Krankheiten. Wer weltweit das Menschenrecht auf Gesundheit durchsetzen möchte, muss den globalen Wohlstand gerechter umverteilen. Daran führt kein Weg vorbei.

DIE LINKE ist und bleibt die einzige Fraktion im Deutschen Bundestag die bereit ist, diesen Weg einzu- schlagen.

Rede, 28.6.2012

HIV/AIDS: Versprechen einhalten statt schöne Reden schreiben

Eine andere Drogenpolitik wäre ein wichtiger Beitrag zur HIV-Prävention, argumentierte Niema Mo- vassat in der Bundestagsdebatte zu HIV/AIDS in der Entwicklungspolitik:

Zu Protokoll gegebene Rede

Der Titel des vorliegenden Antrages besteht aus zwei Teilen. „Für eine Generation frei von AIDS/HIV bis 2015- Anstrengungen verstärken“- diesem Teil kann ich mich voll und ganz anschließen.

Den zweiten Teil „Zusagen in der Entwicklungspolitik einhalten“ finde ich als Titel eines SPD-Antrag ganz schön scheinheilig. Denn wenn die SPD regiert, bricht sie ihre Versprechen ebenso wie die jetzige Regie- rungskoalition. Die Grünen sind da auch nicht besser. Auch unter Rot-Grün gab es keine substantiellen Schritte Richtung 0,7 Prozent-Ziel. Das sind leider die Fakten.

Die einzigen, die ihre Versprechen gegenüber den Entwicklungsländern im Deutschen Bundestag noch nicht gebrochen haben sind wir, ist DIE LINKE. Die Probe aufs Exempel steht zugegebenermaßen noch aus, aber eine schlechtere Figur als Sie alle zusammen werden wir sicher nicht abgeben, darauf können sie sich ver- lassen.

Wir haben 2010 einen Bundestagsantrag mit dem Titel „Steigerung der Entwicklungshilfequote auf 0,7 Pro- zent gesetzlich festlegen“ eingebracht. Die Koalitionsfraktionen haben ihn genauso abgelehnt wie die SPD. Die Grünen haben sich enthalten.

18 Wären sie unserer Initiative damals gefolgt und hätten einer gesetzlich verpflichtenden jährlichen Steigerung der Entwicklungshilfequote nach britischem Vorbild zugestimmt, würde Deutschland tatsächlich bis 2015 sein 40 Jahre altes Versprechen an die Entwicklungsländer endlich einhalten.

Deshalb ist es heuchlerisch, wenn Rot-Grün und Schwarz-Gelb sich gegenseitig den schwarzen Peter zu- schieben. Sie alle haben es verbockt.

Das Ziel, bis 2015 eine Generation frei von AIDS/HIV zu machen, unterstützen wir selbstverständlich unein- geschränkt. Auch die im Antrag vorgenommene Analyse der aktuellen Situation bezüglich der globalen Ver- breitung von AIDS/HIV ist zutreffend und umfassend.

Hier und da merkt man allerdings ein wenig, dass er noch auf den letzten Drücker vor der Sommerpause zusammengeschustert wurde. Wie eine AIDS-freie Generation „Leitbild und Grundelement für die weltweite Verwirklichung wirtschaftlichen Wohlstands“ werden soll, erschließt sich mir jedenfalls auch nach mehrfa- chem lesen nicht.

Zahlreiche der erhobenen Forderungen sind richtig und wichtig: Der deutsche Beitrag an den Globalen Fonds muss als eigenständiger Haushaltstitel auf 400 Millionen Euro verdoppelt werden. Bilaterale Handels- abkommen der Europäischen Union dürfen den Zugang zu erschwinglichen Generika-Medikamenten für Entwicklungs- und Schwellenländer nicht erschweren oder gar verhindern.

DIE LINKE fordert diese Punkte ebenfalls, schon seit Langem. So haben wir nahezu wortgleich in unserem Antrag „Forschungsförderung zur Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten ausbauen – Zugang zu Medi- kamenten für arme Regionen ermöglichen“ bereits 2011 die Bundesregierung aufgefordert, öffentlich finan- zierte Forschungsinstitute in Deutschland zu verpflichten, eigene Patente auf HIV/AIDS-Produkte dem von UNITAID initiierten Patentpool MPP zur Verfügung zu stellen. Es ist prima, wenn die SPD dieses Anliegen nun auch unterstützt.

Als dringlichste Aufgabe müssen wir die Übertragung von AIDS/HIV von der Mutter zum Kind bekämpfen, das steht außer Frage. Doch ich möchte an dieser Stelle auch auf einen weiteren wichtigen Bereich auf- merksam machen:

Wie die Globale Kommission für Drogenpolitik der Vereinten Nationen vor wenigen Tagen mitteilte, ist Dro- gengebrauch heute weltweit für etwa ein Drittel aller AIDS-Neuinfektionen verantwortlich – ausgenommen im südlichen Afrika.

Die ZEIT fasst das heute folgendermaßen zusammen: „Je härter die Drogenpolitik, desto höher das AIDS- Risiko. Weniger Verbote und Strafen könnten weltweit die HIV-Neuinfektionen senken.“

In der Schweiz ist die Zahl der HIV-Infektionen unter Drogenabhängigen von 68 Prozent auf 5 Prozent ge- sunken, seit es saubere Spritzen und Heroin auf Rezept vom Staat gibt. Wenn dieser Erfolg sich bei dem Drittel der weltweiten Neuinfektionen durch Drogenkonsum wiederholen ließe, wäre das ein gewaltiger Fort- schritt.

Deshalb mein Appell an SPD, CDU/CSU und FDP: Erkennen sie endlich die Zeichen der Zeit und revidieren Sie endlich ihr dogmatisches Verhältnis zur Drogenpolitik. Auch für die AIDS/HIV Bekämpfung weltweit wäre dies ein wichtiges positives Signal.

19 Nahrungsmittelspekulation

Rede, 28.6.2012

Das Geschäft mit dem Hunger bekämpfen

Entschiedene Maßnahmen gegen die Spekulation mit Nahrungsmitteln forderte für die Fraktion DIE LINKE Niema Movassat, im Bundestag.

Zu Protokoll gegebene Rede

Die Koalition hat heute einen Antrag vorgelegt, der vom Titel her vielversprechend klingt - „Rohstoffmärkte gezielt regulieren“. Doch von gezielten Maßnahmen keine Spur in Ihrem Antrag! Stattdessen finden sich da- rin nur vage Formulierungen, die kaum über Aufsichts- und Transparenzforderungen hinausgehen.

Sie fordern in ihrem Antrag keine verbindlichen Positionslimits. Sie wollen Pensionsfonds oder Hedgefonds nicht den Zugang zu Rohstoffderivaten verwehren. Und sie wollen auch nicht den außerbörslichen Derivatehandel abschaffen. Dabei wäre mit diesen drei gezielten Maßnahmen, die DIE LINKE bereits im Ja- nuar 2011 in einem Antrag gefordert hat, viel gewonnen.

Wir brauchen dringend Obergrenzen für die Anzahl gehaltener Positionen auf den Rohstoffmärkten. Nur so können die übertrieben hohen Kapitalzuflüsse auf ein gesundes Maß zurückgefahren und die Zahl von Spe- kulanten ohne wirkliches Interesse an dem tatsächlichen Kauf der Rohstoffe gesenkt werden.

Sie behaupten immer wieder, dadurch wäre die Liquidität der Märkte gefährdet, doch das Gegenteil ist der Fall: die Gefahr der Blasenbildung durch das schädliche Übermaß von Kapital wird gebannt!

Brauchen wir Rohstoffderivate als Kapitalanlage? Es heißt wieder, die Kunden wünschen solche Anlage- möglichkeiten. Fragen Sie doch mal die Leute auf der Straße, ob sie ihre Alterssicherung auf Kosten anderer – derer, die ohnehin schon zu den Ärmsten der Welt gehören – anlegen wollen! „Wir wollen eine sichere An- lage“, werden Sie Ihnen antworten.

Doch nicht mal Sicherheit bieten diese Anlagen, weil es eine Unzahl von Akteuren und Unmengen von Kapi- tal gibt, die die massiven Preisschwankungen ja gerade erst ermöglicht haben.

Auch der Handel außerhalb der Börse, der so genannte OTC-Handel und der ausschließlich computerge- steuerte Hochfrequenzhandel bieten keinerlei Sicherheit, sondern stellen eine Gefahr für das Allgemeinwohl dar, wenn Pensionsfonds und Lebensversicherungen durch rapide Preisverluste mal eben verzockt werden.

Warenterminmärkte mögen ja – sofern vernünftig reguliert – zur Preisfindung beitragen, aber der außerbörs- liche Handel tut dies nicht. Er ist völlig unkontrolliert und besonders anfällig für Manipulationen.

Mittlerweile hat er mindestens das siebenfache Volumen der Warenterminmärkte erreicht. Umso dringlicher ist es hier aktiv zu werden. Dieser Schattenmarkt sollte schlichtweg abgeschafft werden, denn er übernimmt keine andere Funktion im Marktgeschehen als Preistreiberei.

Was in Ihrem Antrag besonders auffällt, ist Ihre sprachliche Verengung auf Rohstoffe. Es wird schlicht aus- geblendet, dass es sich dabei auch konkret um Nahrungsmittel handelt. Worte wie Grundnahrungsmittel oder Agrarrohstoffe scheinen Sie jedoch gezielt zu umschiffen. Nennen Sie doch bitte die Dinge beim Na- men!

Das Geschäft mit dem Hunger steht im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Denn es ist ein entscheiden- der Unterschied, ob ich auf steigende Weizenpreise wette oder auf Silber.

Und besonders strikte Regulierungsmaßnahmen für Agrarrohstoffe fordern ja auch einige Kollegen in der Koalition. Doch in Ihrem Antrag nehmen Sie diese richtungsweisende Unterscheidung kaum vor – einmalig erwähnen Sie auch nur den Begriff Agrarderivate, für die sie zusätzliche Maßnahmen prüfen wollen.

20 Dabei haben wir das Thema seit geraumer Zeit auf dem Tisch. Es gibt konkrete Vorschläge, wie man Nah- rungsmittelspekulationen bekämpfen kann. Deshalb gilt es aktiv zu werden.

Jede Minute die wir zögern, bedeutet weiter steigende Preise durch Zockerei mit Nahrungsmitteln und damit noch mehr Hungernde auf der Welt.

Man gewinnt den Eindruck, bei ihrem Antrag handelt es sich um einen unverbindlichen Scheinantrag. Sie tun mit ihrem Antrag nichts dafür, exzessive Spekulation mit Rohstoffen, insbesondere mit Nahrungsmitteln, konkret einzudämmen.

Ihre Vorschläge – anders kann man diese zaghaften Forderungen gar nicht bezeichnen – entpuppen sich als ein besonders lahmer Versuch, die Auswüchse exzessiver Spekulation auf den weltweiten Hunger minimal abzumildern – hinter ihrem selbstgesteckten Ziel einer tatsächlichen Regulierung der Rohstoffmärkte bleiben Sie jedoch meilenweit zurück. Deshalb werden wir ihren Antrag ablehnen.

Noch kurz zum SPD-Antrag: Es ist grundsätzlich zu begrüßen, dass Sie von der SPD auf verbindliche Regu- lierung setzen. Doch ob Agrarrohstoffderivate überhaupt als Kapitalanlage dienen sollten, stellen Sie leider nicht zur Diskussion.

Statt dem außerbörslichen Handel sowie dem Hochfrequenzhandel beispielsweise eine generelle Absage zu erteilen, folgen Sie den gegenwärtigen EU-Kommissionsvorschlägen, die mit der Schaffung von organisier- ten Handelssystemen – den organised trading facilities - eine institutionelle Parallelstruktur zur Börse, wie sie gegenwärtig der OTC-Handel darstellt, erhalten wollen. Das ist der falsche Weg, die Zockerei mit Roh- stoffen effektiv zu bekämpfen.

Interview, 10.5.2012

Zocken auf Kosten der Ärmsten gehört verboten

Niema Movassat, Abgeordneter aus Nordrhein-Westfalen und Mitglied im Ausschuss für wirtschaftli- che Zusammenarbeit und Entwicklung, zur gerade veröffentlichen Oxfam-Studie "Mit Essen spielt man nicht! – Die deutsche Finanzbranche und das Geschäft mit dem Hunger":

Schon im letzten Jahr legte der Verbraucherschutzverein Foodwatch einen Bericht zur Nahrungsmit- telspekulation vor und prangerte unter anderem die Deutsche Bank an. Nun benennt auch Oxfam Ak- teure wie die Allianz als Profiteure von Nahrungsmittelspekulationen. Wie bewerten Sie das zuneh- mende öffentliche Interesse für dieses Thema?

Niema Movassat: Es ist wichtig, die breite Öffentlichkeit über das Thema Nahrungsmittelspekulation zu in- formieren. Weltweit hungern eine Milliarde Menschen, alle sechs Sekunden stirbt ein Kind an Hunger. Die Zockerei mit Nahrungsmitteln ist eine der zentralen Ursachen dafür. Wir brauchen mehr öffentliche Aufklä- rung darüber, wie Finanzspekulanten mit dem weltweiten Hunger Geld verdienen. Oft gibt es ja deswegen so wenige Informationen dazu, weil alles recht nebulös erscheint und der Fachjargon der Finanzwelt ab- schreckt. Die beiden nun vorliegenden Studien nennen aber Ross und Reiter und tragen dazu bei, den Schleier bei diesem Thema zu lüften.

Können Sie kurz erklären, wieso die Spekulation mit Nahrungsmitteln zu Hunger führt?

An den Warenterminbörsen – dort finden diese Spekulationen statt – wird mit Weizen, Mais, Soja und ande- ren Grundnahrungsmitteln gehandelt. Das Volumen dieses Handels geht weit über die jährliche Produktion hinaus. Diese Börsen legen den Preis für Nahrungsmittel fest. Und zwar Preise, die mit dem tatsächlichen Bedarf oder der tatsächlich vorhandenen Menge des jeweiligen Nahrungsmittels nichts zu tun haben. Im Er- gebnis führt diese Spekulation zu immer höheren Lebensmittelpreisen. So waren Anfang 2011 Nahrungsmit- telpreise so teuer wie nie in der Geschichte der Menschheit und auch aktuell sind die globalen Preise wieder fast auf demselben Level wie im Januar 2011.

21 Da Menschen in den ärmeren Ländern dieser Welt bis zu 80 Prozent ihres Einkommens für Nahrungsmittel ausgeben – wir in Deutschland geben 10-20 Prozent aus - können sie sich ihr Täglich Brot nicht mehr leis- ten, wenn der Preis steigt. Deshalb führt das Zocken an den Warenterminbörsen zu mehr Hunger.

Aber Warenterminbörsen und selbst die Nahrungsmittelspekulation sind doch keine neuen Phäno- mene - sie werden schon in Brechts‘ "Johanna der Schlachthöfe" thematisiert. Was hat sich verän- dert?

In der Tat gibt es schon lange Warenterminbörsen wie die Chicago Board of Trades. Aber erst die Politik der Deregulierung hat vormals festgesetzte Obergrenzen über die Anzahl fachfremder Akteure am Markt sowie über den Geschäftsumfang aufgeweicht und so ist der Anteil derer, die mit Agrargütern handeln, obwohl sie weder Produzent, Großhändler noch Verarbeiter sind, stark gestiegen. Denn nach dem Platzen der US- Immobilienblase suchten sich Hedgefonds, Investmentfonds und Indexfonds eine neue Spielwiese und end- eckten die Zockerei mit Nahrungsmitteln. In dem Wissen, dass die Weltbevölkerung steigt und damit auch der Bedarf an Nahrungsmitteln, können diese Fonds mit sicheren Gewinnen rechnen, wenn sie auf steigen- de Preise wetten. So sind zwischen 2003 und 2008 die Investitionen in die beiden größten Rohstoff- Indexfonds von 13 auf 317 Milliarden US-Dollar gestiegen. Und die Tendenz ist bis heute steigend. Wenn immer mehr Händler mit immensen Kapitalmengen verstärkt auf kurzfristige Positionsgewinne setzen, führt dies zu massiven Preisschwankungen und letztlich auch Preissteigerungen. Der ursprünglichen Funktion dieser Börsen, nämlich zu Preisstabilisierung beizutragen und den Fachakteuren Preissicherheit zu geben, läuft dies zuwider.

Demnach gilt: Losgelöst von den tatsächlichen landwirtschaftlichen Erzeugnissen profitieren Speku- lanten wie die Allianz und die Deutsche Bank von hohen Preisen für Grundnahrungsmittel und trei- ben diese weiter in die Höhe. Was kann man dagegen tun?

Klar ist, was nicht reicht: Appelle an die Finanzmärkte. Wenn Konzerne wie die Allianz laut dem Oxfam- Bericht mit 6,2 Milliarden Euro im Handel mit Nahrungsrohstoffen einbezogen, dann zeigt dies, dass es ein wichtiges Geschäftsfeld für sie ist. Von politisch-moralischen Appellen werden sie sich nicht beeindrucken lassen. Klar ist für mich auch: Die Zockerei auf Kosten der Ärmsten gehört verboten! Wer Gewinne mit dem Tod von Menschen macht ist nicht schutzwürdig, sondern ihm muss das Handwerkt gelegt werden.

Wir haben im Bundestag einen Antrag (Bundestagsdrucksache 17/4533) vorgelegt und darin Vorschläge gemacht. Es braucht Maßnahmen auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene. Positionsober- grenzen müssen wieder eingeführt und die Zahl fachfremder Händler von Agrarrohstoffen begrenzt werden. Investmentfonds für Agrargüter und Rohstoff-Indexfonds müssten abgeschafft werden. In Europa muss eine Warenterminhandelsaufsicht eingerichtet und ein Händlerregister eingeführt werden. Mittelfristig aber muss die Festlegung von Nahrungsmittelpreisen den Finanzmärkten entzogen werden. Wir brauchen internationa- le Abkommen und staatlich festgelegte Preiskorridore. Nahrung ist ein Menschenrecht, es darf nicht der Willkür der Finanzmärkte unterworfen sein. linksfraktion.de, 10. Mai 2012

22 Der Entwicklungspolitische Rundbrief wird herausgegeben von:

Heike Hänsel, MdB Annette Groth, MdB Niema Movassat, MdB

Vorsitzende des Unteraus- Menschenrechtspolitische Spre- Mitglied im Ausschuss für Wirt- schusses Vereinte Nationen, cherin der Fraktion DIE LINKE, schaftliche Zusammenarbeit und internationale Organisationen Obfrau der Fraktion im Ausschuss Entwicklung und im Unteraus- und Globalisierung des Bundes- für Menschenrechte und humani- schuss Gesundheit in Entwick- tag, entwicklungspolitische täre Hilfe, Mitglied im Ausschuss lungsländern Sprecherin der Fraktion DIE für Wirtschaftliche Zusammenar- LINKE, Obfrau der Fraktion im beit und Entwicklung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- lung

Deutscher Bundestag Deutscher Bundestag Deutscher Bundestag

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11011 11011 Berlin 11011 Berlin

Telefon: 030 – 227 73179 Telefon: 030 – 227 77207 Telefon: 030 – 227 71760

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Mitarbeiter/innen: Mitarbeiter/innen: Mitarbeiter/innen:

Dr. Birgit Bock-Luna Uwe Hiksch Manuel Faber

Carlos Hainsfurth Christine Scherzinger Nicolai Röschert

Henning Zierock Tanja Tabbara Therese Wenzel

Entwicklungspolitischer Referent der Fraktion DIE LINKE: Dr. Alexander King

Telefon: 030 – 227 52 802

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