Rezensionen

James J. Reid, Crisis of the Ottoman empire. Prelude to collapse 1839-1878, Stuttgart: Steiner 2000, 517 S. (= Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 57), EUR 85,- [ISBN 3-515-07687-5]

Es liegt falsch, wer hinter dem Titel eine politische Geschichte des Osmanischen Reichs vermutet. Reid bietet vielmehr eine psychohistorische Studie, in der er ver- sucht, die innergesellschaftlichen Grundbedingungen auszuloten, welche wesent- lich zum Niedergang und schließlichen Zusammenbruch dieses Reichs beitrugen. Der Autor beschreibt ein bereits seit dem 17. Jahrhundert zerfallendes Ge- meinwesen, in dem nichtstaatliche Gewalt jede rechtsförmige Konfliktlösung ab- gelöst hatte. An deren Stelle waren Blutrache und Fehde getreten. Mit diesen For- men der Konfliktaustragung verbanden sich die zahlreichen regionalen Gegensätze und sozialen Spannungen zu einer gewaltsamen Grundhaltung innerhalb der os- manischen Gesellschaft, die zu kontrollieren keine staatliche Autorität vorhanden war und die keine Reform einzudämmen vermochte. Hinzu kam das Erleben meh- rerer zwischenstaatlicher Kriege und häufiger innerstaatlicher Feldzüge gegen Auf- standsbewegungen. Insgesamt entstand der Eindruck einer Allgegenwart von Ge- walt. Gleichzeitig erzeugte das Fehlen einer auf Recht basierenden Ordnung ein Gefühl der Schutzlosigkeit gegenüber dieser Gewalt. Bei den betroffenen Men- schen führte das zu Symptomen der »Posttraumatischen Belastungsstörung«, in ihren Gemeinschaften zu dem psychologischen Phänomen der Hypervigilanz, ei- ner übermächtigen und vor allem aggressiven Wachsamkeit. Für Reid ist zum Verständnis von Konflikten die Kenntnis solcher psychologi- scher Ausgangsbedingungen unerläßlich. Er möchte die Militärgeschichte um ei- ne psychologische Perspektive erweitern. Und er setzt sich von anderen Ansätzen mit starken Worten ab: wem es an Vorstellungskraft mangele, der konzentriere sich eben nur auf Waffen, fortlaufende Ereignisse und tagespolitische Debatten (S. 24). Statt dessen bietet Reid für den komplexen über nahezu ein ganzes Jahrhundert andauernden Prozeß des osmanischen Staatszerfalls lediglich einen monokausalen Erklärungsansatz: die durch das Erleben von Gewalt in Gang gehaltene innerge- sellschaftliche Gewaltspirale habe das Reich erodiert. Zum Beleg dieser These wird untersucht, wie die reguläre osmanische Armee und irreguläre militärartige Verbände organisiert waren. In Fallbeispielen geht der Verfasser einzelnen Rebellionen, den Kriegen 1853 bis 1856 und 1877/78 sowie den Aufständen auf dem Balkan Mitte der 1870er Jahre nach. Sein Augenmerk liegt da- bei gerade nicht auf den Ereignissen, sondern auf den Erscheinungsformen der Gewalt und ihren Folgewirkungen für diejenigen, welche die Gewalt ausüben, er- leiden oder miterleben. Für die osmanisch/türkische Geschichtsüberlieferung be- klagt Reid eine »posttraumatische Pseudoerinnerung«: Amnesie und falsche Ge- schichten hätten die historische Realität ersetzt. Weil er deshalb türkische Quellen kaum benutzt hat, stützt er sich auf die veröffentlichten Schriften europäischer Of- fiziere in der osmanischen Armee sowie europäischer und amerikanischer Kriegs- berichterstatter und Diplomaten. Aus diesen Quellen und anhand von Vergleichen mit Erlebnisberichten aus dem amerikanischen Bürgerkrieg und dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 weist Reid nach, daß osmanische Soldaten unter den gleichen kriegsbedingten Traumata litten wie Soldaten anderer Armeen. Als Folge des Erlebten sieht er auch eine verstärkte Neigung zu aggressivem und sadistischem Verhalten. Insgesamt

Militärgeschichtliche Zeitschrift 61 (2002), S. 211-256 © Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam 212 MGZ 61 (2002) Rezensionen

werde solches Verhalten zwar durch zivilisatorische und religiöse Hemmungen unterdrückt. Aber in den gewaltsamen Auseinandersetzungen im Osmanischen Reich seien signifikant mehr sadistische Taten als in vergleichbaren Konflikten zu verzeichnen gewesen, gleichzeitig seien derartige Taten in ebenfalls signifikant größerer Zahl von osmanischen Tätern als von den ausländischen Söldnern be- gangen worden. Er gibt als Gründe deren ausgeprägte Gewaltgewöhnung und den Einfluß der osmanischen Offiziere an. Die entscheidende Ursache aber sieht Reid darin, daß die politische, gesellschaftliche und militärische Desintegration des Os- manischen Reichs eine kollektive Mentalität (state of mind) und individuelle psy- chologische Orientierungen hervorgebracht habe, die gewaltsames Verhalten nach sich zogen. So erscheint der spätere Zusammenbruch des Staates als Folge einer Aggressions- und Gewaltspirale. Der spezifische psychohistorische Ansatz der Untersuchung läßt den Leser durchaus Erkenntnisgewinn aus der Lektüre ziehen. Jedoch leidet das Buch an sei- nem überdeutlichen Quellenproblem, welches der Autor im übrigen selbst am mei- sten beklagt (S. 56). Für die Quellen, die er ersatzweise als sein schmales Fundament gewählt hat, könnte man sich zunächst die Ergänzung um ungedrücktes Material vorstellen. Auch wären wohl noch weitere Fallstudien und Vefgleiche nicht von Schaden, ehe man weitreichende Aussagen über gewalttätige Mentalitäten ganzer Völker macht. Insgesamt kann die Studie der Komplexität des osmanischen Vielst- Völkerstaaat nicht gerecht werden. Reid sollte sie daher nicht vollmundig als Er- satz der sonst phantasielosen Forschung, sondern bescheidener als deren Ergänzung verstehen. Martin Kröger

Deutsche Erinnerungsorte. 3 Bde, hrsg. von EtienneFranqois und Hagen Schul- ze, München: Beck 2001. Bd 1: 725 S. [ISBN 3-406-47222-2]; Bd 2: 742 S. [ISBN 3-406-47223-0]; Bd 3: 784 S. [ISBN 3-406-47224-9], je EUR 34,90

Was ist ein Kulturbunker? Ein ehemaliges Bauwerk des Ersten oder Zweiten Welt- krieges, in dem nun Kultur stattfindet - eine Disko hier, ein alternatives Ausstel- lungszentrum dort oder gar ein Objekt, das unter der Prämisse Kultur zum viel- fachen Nachdenken über Menschen, Gefährdungen und Gehäuse anregt? Gerade die deutsche Militärgeschichte des 20. Jahrhunderts hätte ja vom Atlantikwall über städtische Hochbunker bis zürn Regierungsbunker gegen den Atomkrieg im Ahr- tal so einiges so bieten. Nein, der in den »Deutschen Erinnerungsorten« vorge- stellte Stollen bei Oberried im Schwarzwald (Stephan Krass) hortet Zeugnisse al- ler Gestalt von Kulturgut der gesamten deutschen Geschichte - eben für den Fall eines zerstörenden Krieges, während das vom Autor eingangs angesprochene Bun- desarchiv-Militärarchiv »nur« die vor allem schriftlichen Zeugnisse wichtiger Epo- chen der deutschen Militärgeschichte für die Gegenwart aufbereitet. Ist das ein Er- innerungsort? Es ist vielleicht ein Ort, der zur Erinnerung anhalten kann, einer der nachdenklich macht, ein mythischer Raum des scheinbaren Nichts, der doch vor- gibt, alles oder zumindest den Abglanz des Wichtigsten bewahren zu wollen, wenn es eben diese Dinge selbst nicht mehr geben sollte, und darüber kann man ja sehr ins Nachdenken geraten. Aber der Ort selbst im räumlichen und übertragenen Sin- ne ist der Öffentlichkeit unbekannt. Rezensionen MGZ 61 (2002) 213

In Frankreich hat Pierre Nora zwischen 1986 und 1992 in sieben voluminösen Bänden die dortigen »Lieux de memoire« von ausgewiesenen Sachkennern be- schreiben lassen, und er vermag mit den Großkategorien »La republique«, »La na- tion« und »Les France« einen kanonischen Anspruch zur Definition von zwei Jahr- tausenden Geschichte im Hexagon annähernd einzulösen. Was dort zu Erkennt- nissen führte, die anderweitig noch nicht oder gar nicht gewonnen werden konn- ten, kann für andere Länder nicht verkehrt sein. Unter dem mittlerweile für viele europäische Länder durchgeführten Unternehmen ragt das deutsche an Qualität und Umfang hervor. Erinnerimgsorte, wie sie der Franzose Etienne Frangois, der in und Paris lehrt, und der Deutsche Hagen Schulze, der in der Zwischenzeit an das Deutsche Historische Institut in London als Direktor wechselte, definieren, geht von der Wechselwirkung von Geschichte und Gedächtnis als Zugängen zur Vergangenheit aus. Dieses kollektive Gedächtnis bildet »langlebige, Generationen überdauernde Kristallisationsprozesse kollektiver Erinnerung und Identität, die in gesellschaftliche, kulturelle und politische Ublichkeiten eingebunden sind und die sich in dem Maße verändern, in dem sich die Weise ihrer Wahrnehmung, An- eignung und Übertragung verändert« (I, S. 18). Der Begriff Ort ist nicht räumlich, sondern im allgemeinen und übertragenen Sinne zu verstehen; im griechischen Topos ist das am ehesten manifest. Da es für Deutschland anders als für Frankreich keinen verbindlichen Kanon an Erinnerungsorten geben könne, findet hier ein Wandel durch Aneignung statt: Der Schwerpunkt liegt auf den beiden letzten Jahrhunderten, »Deutsches« wird je nach historischer Epoche räumlich anders gefaßt und immer europäisch einge- bettet betrachtet. Triviales wechselt mit Hochkulturellem ununterschieden ab. Die Herausgeber bekennen sich zu ihrer Standortgebundenheit, die eine leichte Ber- lin-Orientierung ergebe, wollen keinesfalls ein sinnstiftendes oder gar staatstra- gendes Projekt. Entstanden ist so ein dreibändiges Kompendium mit insgesamt 130 Beiträgen, die zumeist hervorragende Sachkenner verfaßt haben, aber auch Nachwuchshistoriker, die alle mit Freude und teilweise mit Esprit an die Sache herangingen. Aus mehrsemestrigen Seminaren in Berlin ist darüber hinaus ein se- parater Band mit Studentenarbeiten entstanden, um den es hier nicht geht. Viele Forschungskolloquien zur Vorbereitung kamen hinzu. Großprojekte kosten in je- der Hinsicht. Die Autoren kommen - das garantieren schon die Herausgeber - aus mehreren europäischen Staaten: Franzosen, Briten, Tschechen, Polen, Österreicher und Schweizer, auch Israelis und Amerikaner finden sich: Die deutsche Geschich- te ist einfach zu ernst, als daß man sie den eigenen Landsleuten überlassen sollte. Gegliedert haben die Verfasser mit fast schon zahlenmystischer Strenge: jeder Band enthält sechs Rubriken, die alle irgendwie typisch deutsch und zumindest schwer in andere Sprachen übersetzbar sind: Reich, Dichter und Denker, Volk, Erb- feind, Zerrissenheit und Schuld sind es im ersten; Band II enthält: Revolution, Frei- heit, Disziplin, Leistung, Recht und »die Moderne«. Den Abschluß in Bd III bilden Bildung, Gemüt, Glaube und Bekenntnis, Heimat, Romantik und Identitäten. Jeder der drei Buchumschläge enthält die Hintergründabbildung eines Erinnerungsor- tes (Uta von Naumburg, Brandenburger Tor, Neuschwanstein), dazu im hochkant gestellten Quadrat drei weitere( I: Goethe, Willy Brandt in Warschau 1970, den Volkswagen; II: Marlene Dietrich, Otto von Bismarck und die Paulskirchenver- sammlung; III: das zerstörte 1945, Albert Einstein, Johann Sebastian Bach). Man sieht: alle haben sich bemüht, wohlgesetzt zu konstruieren, ja zu komponie- ren, streng antithetisch und pluralistisch. Sie laden ein zu einer Lektüre im einzel- 214 MGZ 61 (2002) Rezensionen nen und vor allem zu überraschenden Kenntnissen oder Erkenntnissen, die sich aus den Gegenüberstellungen und Gruppenbildungen gewinnen lassen. Was kommt dabei heraus? Streiflichter müssen genügen. Diese Auswahl ist wie jede andere beliebig. Die Frage: warum nicht auch dieses oder jenes? Oder: war- um kommt Α vor - denn dann hätte mindestens auch Β da sein müssen ist eben- so wohlfeil zu stellen wie müßig zu beantworten. Der Rezensent hat seinerseits vor einigen Jahren mit Studenten nach eingehender Erörterung des Konzepts der Erinnerungsorte eine Hitliste durch schriftliche Befragung erstellen lassen, die kaum etwas mit der hier gefundenen Auswahl gemeinsam hatte. Für diese Zeit- schrift sei jedenfalls angemerkt, daß der zentrale Stellenwert, welcher dem Mi- litärischen in der deutschen Erinnerung der letzten Jahrhunderte zukommt, zu- meist nur gestreift wird: Tannenberg/Grunwald (Frithjof Benjamin Schenk) be- zeichnet immerhin eine Schlacht; Langemarck (Gerd Krumeich) bedeutete weniger ein reales Ereignis im Ersten Weltkrieg als eine frühe Medienwirkung. Stalingrad (Bernd Ulrich) ist die große zeitgeschichtliche Ausnahme; und da prangt Konsaliks Buchtitel gleich zu Anfang des Artikels als Abbildung. Dafür kommt aber bei Pe- ter Wapnewski die rhetorische Berufung auf die Nibelungen zur Zeit von Stalin- grad in seinem entsprechenden Artikel vor. Bauernkrieg und Völkerschlacht fir- mieren pointiert unter dem Rubrum »Freiheit«, und damit wird der Gewaltcha- rakter jener Unternehmen schon kompositorisch in ein zukunftsweisendes und positives Banner gehüllt. Die Pickelhaube (Jakob Vogel) stellt allerdings ein zentrales Merkmal des häufig so genannten preußisch-deutschen Militarismus dar. Beim Führerbunker, bei Versailles oder bei der Dolchstoßlegende kommen gewichtige Begleit- oder Folgeumstände von Krieg zur Sprache. Daß die »Pflicht« eine zen- trale soldatische Kategorie ist, bildet ein Thema von Ute Frevert, die aber die mit dem Begriff verbundenen Ambivalenzen deutlich herausarbeitet - und die liegen nicht nur im Militärischen. Uberhaupt wird auch auf die NS-Zeit als solche nur in wenigen Stichworten eingegangen. Anna Bramwell, der wir ein provozierendes Buch mit dem Titel »Hitler's Green Party« verdanken, handelt unter »Blut und Boden« auch die Fol- gen des Nationalsozialismus bis in die ökologische Bewegung der Gegenwart ab und landet am ehesten beim Wald als dem nachfolgendem Erinnerungsort. Da ist der einschlägige Artikel »Der deutsche Wald« von Albrecht Lehmann schon vor- sichtiger. Die nicht explizite Thematisierung der deutsche Diktatur von 1933 bis 1945 ist wohl die gewichtigste interpretatorische Vorentscheidung, denn durch die- se in vielem ja durchlässige Sperrzone hatte sich das ganze kulturelle Gedächt- nis seither durchzuzwängen. Fast alle Lemmata der Erinnerungsorte wurde auch in dieser Zeit verwandt und in allgemein üblicher, hier aber sehr zeitspezifischer oder gezielter Weise umgebogen. Dennoch - oder gerade deswegen - taucht wohl ausweislich des Personenregisters kein Name häufiger auf als der des Adolf Hitler. Nach der Lektüre der Bände kann sich der Rezensent des Eindrucks nicht er- wehren, daß viele hier vorgestellte Erinnerungsorte durch die 12 Jahre großdeut- scher Geschichte derartige Untertöne erhalten und zeitlich darüber hinaus bewahrt haben, daß sie nachher kaum wieder zu beleben waren. Insofern fügt sich dieses Unterfangen auch ein in das geschichtspolitische Bestreben einiger Wissenschaft- ler wie Politiker in den letzten Jahren, die deutsche Geschichte in ihrer vollen Brei- te und vor allem zeitlichen Tiefe wieder stärker ins öffentliche Bewußtsein zu brin- gen. Die Bestandsaufnahme kann so zur Präskription werden. Das geschieht aber Rezensionen MGZ 61 (2002) 215

gerade für die Jahre von 1933 bis 1945 nüchtern und mit viel aufdeckendem Witz. Aber der Befund, der sich aus vielen Artikeln ergibt ist doch der, daß die meisten Erinnerungsorte nachher und seitdem nicht mehr »funktionieren«. Besonders deutlich wird das in dem überlegt ausholenden Artikel von Sabine Behrenbeck über das »Heil«, dessen religiöse Konnotationen in einer säkularen Ge- sellschaft nach der Verwendung in braunen Zeiten kaum mehr tragen konnten. Aber auch viele andere Orte sind in den letzten Jahren zu vage erinnertem Bil- dungsgut geronnen oder besser gesagt: Sie kommen nur noch oder besonders häu- fig in trivialisierter Form vor. Für Schiller merkt Otto Dann dies gegenüber dem ei- gentlichen Klassiker Schiller an, und nicht zufällig wird Andy Warhol in dem Werk dreimal zitiert, der (wie heute noch Gerhard Richter oder Sigmar Polke) ein Mei- ster im Umfunktionieren alter Mythen wan Das spricht die Frage der Trivialisierung von Erinnerungsorten an, die gerade bei den am stärksten bis an die Gegenwart her- anreichenden Artikeln mit Händen zu greifen ist. Es gibt in der heutigen Erinne- rungskultur in nicht wenigen Fällen nur die gleichsam beliebige und der Popkunst ähnlichen Zitation am Rande. Von Einstein bleibt neben einem einschlägigen Po- ster mit herausgestreckter Zunge das Einstein-Cafe (was sich die Autorin darüber hinaus an subjektiven Assoziationen über den Einsteinturm in Potsdam leistet, ist schon ein starkes Stück an Arroganz), von Schiller bleibt die Locke, von Heidel- berg bleiben die außereuropäischen Touristen. Die Hausmusik ist (angeblich) eher im Nirgendwo verschwunden. Der Wandervogel findet sich in Resten bei Seni- orenwanderungen in der Vorsaison auf Mallorca. Gerade diese ironischen Bre- chungen vieler Autoren ließen sich häufen. Wer ist der Adressat oder Autor für Erinnerungsorte? Frangois und Schulze sprechen davon, daß »Bildung als Ideal und Norm, als Utopie und Zukunftsvor- stellung bis in unsere Tage entschieden zur Formierung und Entwicklung der deut- schen Identität beigetragen hat und weiterhin beiträgt« (I, S. 22). Das läßt sich ver- treten - aber gerade ihre nichtkanonische Mischung und Auswahl, die oft präzisen, z.T. aber auch läppischen Assoziationen der Bearbeiter zeichnen insgesamt ein an- deres Bild. Soweit ich sehe, wird der Begriff des (Bildungs-)Bürgers nicht eigent- lich bemüht. Aber gerade diese Schicht war doch über weite zeitliche Strecken hin Träger oder Orientierungspunkt für Definition oder Bewahrung von Erinne- rungsorten. Was bedeutet dies für eine zunehmend nivellierte Gesellschaft, die durch ihre Medien kurzfristige Moden inszeniert? Die Familie Mann (Irmela von der Lühe) wurde noch vor ihrer Wiederbelebung als Fernsehereignis Ende 2001 klug untersucht. Aber wie steht es mit anderen, schichtspezifischen Erfahrungen? Der Feierabend (Gottfried Korff) oder der Schrebergarten (Hermann Rudolph) mag hierhin gehören; bei Rosa Luxemburg (Gilbert Badia) und Karl Marx (Iring Fet- scher) gab es einen breiten Anspruch an die arbeitenden Massen, aber eben doch auch eine bürgerliche Verarbeitung. Am ehesten kommt das von Klaus Tenfelde klug entfaltete »Wissen ist Macht« einem Anspruch der Arbeiterklasse nahe - auch ein Erinnerungsort. Dennoch wäre bei dem nationalen Anspruch vielleicht deut- licher nach dem Verbreitungsgrad und schichtspezifischer Basis der Untersu- chungsobjekte zu fragen. Das gilt zumal für Jud Süß, Rachel Levin Varnhagen oder Moses Mendelssohn: Zweifellos gab es einen kulturellen Umgang mit ihnen, aber der Eindruck dürfte nicht ganz falsch sein, daß hier das löbliche Ziel eine Rolle spielte, den Anteil jüdischer Kultur einzubeziehen. Mit Abstrichen läßt sich dies auch für die DDR-Kultur sagen. Sehr gelungen beziehen viele Autoren die Ver- wertung von Orten in mehr oder weniger offizieller Erinnerungskultur beider deut- 216 • MGZ 61 (2002) Rezensionen scher Staaten und so auch der DDR ein. Die Jugendweihe (Albrecht Döhnert) hat- te ältere Wurzeln als der zweite deutsche Staat, »Mitläufer« gab es auch früher, und »die Mauer« war und bleibt auch ein gesamtdeutsches Dilemma des Umgangs in der Erinnerung: Die DDR ist trotz Berlin-Zentriertheit eigenständig kaum ver- treten; die alte Bundesrepublik findet sich am ehesten in einem Beitrag zu Wyhl (Bernd Rusinek). Was bleibt und zu welchem Ende soll man drei Bände Erinnerungsorte stu- dieren? Ich finde das Werk stark personenlastig, aber im Gegensatz zu früheren »Großen Deutschen« kommt die alltägliche Rezeption oft mit überraschenden Fa- cetten heraus. Und es finden sich auch andere Personen, Marlene Dietrich etwa. Wenn die europäische Perspektive beschworen wird, ist das gerade bei der Kom- petenz der Herausgeber erfreulich. Aber wenn Michel Espagne einen gesonder- ten Beitrag über Madame de Staels »De l'Allemagne« schreiben darf, ist das kaum mehr als internationale Courtoisie. Spannend, aber das Konzept sprengend, wä- re es gewesen, andere, über die deutsche Nation hinauswirkende Elemente von Er- innerungsorten zu erkunden. Hagen Schulze brilliert mit einem Aufsatz über das Nachwirken von Versailles (Schloß, 1871 und 1919) in Deutschland, in dem es heißt, daß der Ort in NS-Zeiten bereits Makulatur war, weil die Nationalsoziali- sten anderes und mehr wollten. Aber Versailles wirkt in der Erinnerungskultur weltweit bis heute als unerfreuliche Lösung hinein, wenn es um den Weg aus ei- ner schwierigen Lage geht - nicht zuletzt bei Michail Gorbatschow (und hier könn- te die Aufklärung über die reale Bedeutung des Versailler Vertrages, der keines- wegs so unerträglich knebelnd war, wie es das internationale Schlagwort will, durchaus weiter aufklärend wirken, damit nicht alles zum beliebig verwendeten Ort wird). Darüber hinaus: Kann man überhaupt noch nationale Erinnerungsorte postu- lieren? Verschwindet die angedeutete Trennschärfe, der sich viele Autoren stellen, nicht in einem Brei des Beliebigen, der den Gesetzen einer weltweiten Medien- kultur unterliegt? Nationale Kanönisierung, nationale Geschichtsbilder und ver- bindliche Setzungen sind genau das, was die Herausgeber nicht wollen. Aber sie mögen zusammen mit den zahlreichen Autoren manchem Neugierigen einen Ein- blick in die Formbarkeit und Gewachsenheit von historischen Assoziationen zu geben. Sie vermitteln gerade wegen des essayistischen Charakters ihres großen Sammelwerkes ein über weite Strecken ungetrübtes Lesevergnügen. Die oben vor- genommene Vorstellung einiger Beiträge folgte gerade nicht den von Franqois und Schulze gebildeten »deutschen« Kategorien, die analytisch fragwürdig und für die Stichworte kaum hilfreich sind - aber sie erleichtern die Lektüre. Mal findet man eher Einzelereignisse als Pars pro toto, mal große und etablierte Kategorien. Man kann sich überraschen lassen und muß sich nur wenig ärgern. Wahrscheinlich ist der Spiegel, den dieses gut ausgestattete und repräsentative Werk subjektiver Aus- wahl hier den Deutschen vorlegt, mit einigem zeitlichen Abstand als Beitrag zur Befindlichkeit der Deutschen um die Jahrtausendwende zu lesen. Mit anderer Ziel- setzung könnte es dann den »Großen Deutschen« von Hermann Heimpel, Theo- dor Heuss und Benno Reifenberg (1956/57) an die Seite gestellt werden oder der »Bibliothek eines geistig interessierten Deutschen«, die Hanns W. Eppelsheimer 1958 vorlegte, schließlich auch den »Stichworten zur >Geistigen Situation der Zeit<« von Jürgen Habermas 1979 - nicht oder wohl kaum parallele Wirkung zu den »Ge- schichtlichen Grundbegriffe« entfalten, die Otto Brunner, Werner Conze und Rein- hard Koselleck als nur scheinbar ähnliches Gebilde vorlegten. Wenn es gut geht, wer- Rezensionen MGZ 61 (2002) 217 den die »deutschen Erinnerungsorte« viele Nachahmer in einer breiten Erinne- rungskultur finden und selbst als Erinnerungsort in die Geschichte eingehen. Jost Dülffer

Gerhard Koop, Klaus-Peter Schmolke, Die Panzer- und Linienschiffe der Bran- denburg-, Kaiser Friedrich III-, Wittelsbach-, Braunschweig- und Deutsch- land-Klasse, Bonn: Bernard & Graefe 2001, 262 S. (= Schiffsklassen und Schiffstypen der deutschen Marine, 10), EUR 39,- [ISBN 3-7637-6211-6]

In der bereits bekannten Form hat der Bernard & Graefe Verlag nunmehr Band 10 der Reihe »Schiffsklassen und Schiffstypen der deutschen Marine« vorgelegt. Ger- hard Koop und Klaus-Peter Schmolke stellen in diesem Band die Panzer- und Li- nienschiffe der Brandenburg-, Kaiser Friedrich III-, Wittelsbach-, Braunschweig- und Deutschland-Klasse vor. Der vorliegende Band wird durch eine Broschüre »Vom Original zum Modell« ergänzt. Auf die Erstellung der sonst obligatorischen »Planmappe« mußte ver- zichtet werden, da die Quellenlage dies nicht ermöglichte (S. 7). Die dargestellten fünf Schiffsklassen repräsentieren die erste Phase von Schiffs- neubauten im Kaiserreich von 1890/91 bis 1906/08. Diese insgesamt 24 Schiffe soll- ten das Gros einer neuen kaiserlichen Schlachtflotte bilden und damit das ehrgei- zige Ziel verwirklichen, der englischen Home Fleet ein adäquates Gegengewicht zu bieten. Großbritannien setzte mit der Konzeption eines stark gepanzerten Ein- kaliberschiffes (Dreadnought-Klasse) neue Maßstäbe, deklassierte so ab 1906 alle bisherigen Schiffsklassen und begünstigte auf diese Weise eine weltweite Flotten- hochrüstung spätestens seit 1908. Erstmalig waren die Briten damit von ihrem tech- nischen Grundsatz: »Never to lead - always to follow« abgewichen. Die mit hohem deutschen technischen Sachverstand gebauten Schiffe waren somit bereits mit ih- rer Indienststellung veraltet (vgl. z.B.: Michael Salewski, Die wilhelminischen Flot- tengesetze. Realität und Illusion, in: Die Deutschen und die See. Studien zur deut- schen Marinegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, hrsg. von Jürgen Elvert und Stefan Lippert, Stuttgart -1998, S. 119-126). Koop beschreibt diese Entwicklung ver- kürzend und reduziert den Bau des Einkaliberschiffes als eine ausschließlich bri- tische Reaktion auf die deutsche maritime Aufrüstung (S. 13). Koops Anliegen ist es auch, die besonderen Leistungen des Marineingenieur- korps während der Kaiserzeit in den Vordergrund zu stellen, um nicht nur das »Können und Wissen deutscher Werften und Firmen« aufzuzeigen (S. 7), sondern die Bedeutung dieser Offiziergruppe innerhalb des Kaiserlichen Offizierkorps her- vorzuheben. Die Marineingenieuroffiziere haben in der Kaiserlichen Marine stets einen besonders schwierigen Stand gehabt, obwohl gerade ihre Fähigkeiten den Ausbau der kaiserlichen Flotte ermöglicht haben - diese Leistungen schlugen sich nicht in den Beförderungsskalen und damit im Ansehen dieses Korps nieder, wenn- gleich die angebotenen Tabellen aufgrund ihres Aussagecharakters nicht ver- gleichbar sind (S. 14). Koop veröffentlicht längere Passagen aus den »Mitteilungen der Vereinigung der Marineingenieure e.V.: Gruppe Nordsee und Gruppe Ostsee, hrsg. in , An- fang Mai 1920 zum 50jährigen Bestehen des Ingenieur-Korps der Marine«. Der Quellentext gliedert sich in chronologischer Folge: Das Maschinenpersonal von 218 MGZ 61 (2002) Rezensionen

1850 bis 1870, Das Marine-Ingenieur-Korps von 1870 bis 1920, Das Marine-Inge- nieurkorps und der Krieg, Statistik (S. 14-32). Koop ergänzt diese Quelle durch die Ranglisten der kaiserlich-deutschen Marine aus dem Jahr 1918 und will - für den Leser an dieser Stelle nicht nachvollziehbar - mit einer beigefügten Rangliste der Kriegsmarine vom 1. November 1935 einen Vergleich ermöglichen (S. 33). Der Quel- lentext belegt die »Innensicht« der Ingenieur-Korps; auf eine kritische Auseinan- dersetzung verzichtet Koop, gibt statt dessen lediglich einige knappe Anmerkun- gen (S. 33 f.) und verweist auf die gängige Literatur (Werner Bräckow, Die Ge- schichte des deutschen Marine-Ingenieur-Offizier-Korps, Oldenburg 1974; Holger H. Herwig, Das Elitekorps des Kaisers. Die Marineoffiziere im Wilhelminischen Deutschland, 1977). Die neuere Darstellung von Thomas Scheerer, Die Marineoffiziere der Kaiserlichen Marine. Sozialisation und Konflikte, Diss. phil. Hamburg 1993 (alsbald in einer Neuveröffentlichung unter dem selben Titel in der Kleinen Schriftenreihe zur Militär- und Marinegeschichte, hrsg. vom Freundes- kreis der Marineschule Mürwik und der Stiftung des Deutschen Marinemuseums als Band 2, Bochum 2002) bleibt unerwähnt. Neben der von Koop präsentierten Quelle wäre der vergleichende Blick auf die Marineführung hilfreich gewesen, um auf diese Weise dem Leser eine wichtige »Außensicht« aufzuzeigen: Im Gegensatz zu den Seeoffizieren wollte Wilhelm II. Marineingenieure nicht aus den »besten Familien« rekrutieren. Vizeadmiral Coerper versuchte 1911 mit einer Weisung an den Direktor der Marine-Ingenieurschule, der zugleich Vorsitzender der Ingenieur-Anwärter-Annahmekommission war, dar- auf hinzuwirken, daß sich angehende Marineingenieure aus guten Familien eher als Seeoffiziere bewerben sollten, da man beobachtet hatte, daß sich viele junge Männer als Ingenieure bewarben, obwohl sie nach ihrer Herkunft zum Seeoffizier geeignet gewesen wären. »Es entspricht nicht meinen Wünschen, daß sich Marineingenieure aus den- selben Familien ergänzen wie die Seeoffiziere [...] Für das Seeoffizierkorps ist es günstiger, wenn sich die Ingenieuranwärter nur aus dem Mittelstand ergänzen. Wir werden damit erreichen, daß die Ingenieure von selbst in die untergeordnete Stellung zurückkehren, die ihnen zukommt. Wirken sie als Vorsitzender der Inge- nieur-Anwärter-Annahmekommission darauf hin, daß möglichst solche Leute an- genommen werden. Es wird ihnen nicht schwer werden, die Ingenieure der Kom- mission, die ja, wie die Erfahrung zeigt, möglichst Leute aus guter Familie einzu- stellen versuchen, unauffällig in meinem Sinne zu beeinflussen. Wir werden auf diese Weise ein zufriedenes Ingenieurkorps erhalten.« (zitiert nach Emil Alboldt: Die Tragödie der alten deutschen Marine. Amtliches Gutachten, erstattet vor dem Untersuchungsausschuß des Deutschen Reichstages, Berlin 1928, S. 19. Auch an- gegeben bei Scheerer [Literaturangabe wie oben], S. 66 f. Ebenso erwähnt bei Her- wig [Literaturangabe siehe oben], S. 103.) Koop hat seinen Quellentext als Bestandteil der Einleitung beigeordnet. Zuvor ist er in gebotener Kürze auf die Flottenentwicklungen Frankreichs, Rußlands und Großbritanniens eingegangen (S. 8-10). In einer Gegenüberstellung hierzu skiz- ziert Koop die Entwicklung in Deutschland (S. 10-13) und beleuchtet die unter- schiedlichen Entwicklungsschritte der deutschen Marineepochen seit 1848. Über- sieht Koop die Bedeutung der 1848er Flotte, die nur selten »Bundesmarine«, sondern »Bundesflotte«, »Reichsflotte« oder »Deutsche Flotte« genannt wurde, in ideeller Weise für die 48er Revolution, kommt es in seiner Darstellung auch zu einigen un- klaren Formulierungen und inhaltlichen Mißgriffen (S. 10): Der 1. deutsch-däni- Rezensionen MGZ 61 (2002) 219

sehe Krieg 1848/49 wurde aufgrund einer Bundesresolution des Paulskirchenpar- laments begönnen; er wurde nicht ausschließlich von Preußen gegen Dänemark geführt. Das »Heilige Römische Reich Deutscher Nation« endete 1806 - dies ist hinreichend bekannt; es führt aber zur Verwirrung, wenn Koop schreibt: »Schließ- lich kam es 1866 zur endgültigen Loslösimg vom >Heiligen Römischen Reich Deut- scher Nation< unter Führung der Habsburger Monarchie.« Was der Autor meint, ist klar, aber dennoch unglücklich und unscharf formuliert; ebensowenig war Otto von Bismarck jemals »preußischer Kanzler« (S. 10). Die Rolle Albrecht von Stoschs (1872-1883 Chef der Admiralität) für die neue Kaiserliche Marine wird auf seine Verdienste zur Standardisierung von Ausbildungs- und Dienstbetriebsrichtlinien reduziert - der Flottengründungsplan von 1873 findet keine Erwähnung, obwohl gerade hierdurch technische Innovationen ermöglicht wurden. Stoschs Nachfol- ger, Leo Graf von Caprivi führte eben nicht »das von Stosch begonnene Werk fort« (S. 11 f.), sondern veränderte durch seine Orientierung zur französischen jeune ecole das strategische Konzept der Kaiserlichen Marine dergestalt, daß diese zu einer Küstenmarine degradiert wurde. Koop beschreibt im folgenden die strukturellen Änderungen und strategischen Zielsetzungen der Kaiserlichen Marine, die schließlich und fast ausschließlich durch die Person Alfred von Tirpitz geprägt wurden. In Koops Darstellung bleibt das of- fensive Element der Schlachtflottenplanung weitestgehend unberücksichtigt - er beschreibt ausschließlich den defensiven Charakter der deutschen Hochseeflotte und benennt als »Grundlage dieses utopischen Flottenbauprogramms [den] von Tir- pitz geprägte[n] >Risikogedanke[n]«< (S. 13). »Der Erste Weltkrieg hat diese Theo- rie ad absurdum geführt«, meint Koop zu wissen, beleuchtet damit aber nur eine Seite der Medaille des tirpitzschen Konzepts, in dem die Gegnerschaft zu England und die Ablösung dieser »Seemacht Nr. 1« mit Hilfe einer Entscheidungsschlacht eine ebenso wichtige Rolle spielte. Mit einzelnen, knappen Darstellungen zu den Themenbereichen »Schiffbau und Panzerung« (S. 34 f., mit erklärenden Detailskizzen), »Entwicklung der Waf- fenanlagen« (S. 36-40, wobei der Exkurs in die mittelalterliche Waffentechnik und Kriegführung sehr holzschnittartig geraten ist), »Waffenanlagen« (S. 40), »Feuer- leitanlagen« (S. 40-46) und »Antriebsanlage« (S. 46-48) zeigt Koop dem Leser die Entwicklungen im Bereich des Kriegsschiffsbaus auf. Er bietet so die Grundlagen, die anschließenden Spezialkapitel einordnend bewerten zu können, um daran den technischen Fortschritt der Schiffe der Brandenburg- (S. 52-77), der Kaiser Fried- rich III- (S. 78-104), der Wittelsbach- (S. 105-128), der Braunschweig- (S. 129-173) und der Deutschland-Klasse (S. 174-248) erst bemessen zu können. Eine Gegen- überstellung aller behandelten Schiffsklassen erleichtert den Zugang zu den De- tailbeschreibungen (S. 49-51). Die einzelnen Kapitel folgen einem bewährten Schema: Einer Übersicht mit technisch-taktischen Daten schließen sich Einzelbeschreibungen an, die sich den schiffbaulichen Besonderheiten, der Panzerung, den See-Eigenschaften, der Be- waffnung, den Schiffsbetriebsanlagen und der Ausrüstung widmen. Zeitgenössi- sche Berichte, wie zum Beispiel der Bericht eines Mitglieds der Schiffsprüfungs- kommission zu den See-Eigenschaften der Schiffe der Brandenburg-Klasse ergän- zen die technischen Angaben und »beleben« die Kapitel, die durch die Lebens- läufe der Schiffe der jeweiligen Schiffsklasse ergänzt werden. Die vorgelegten Schiffsbiographien sind inhaltlich kürzer als diejenigen, die im eigentlichen Stan- dardwert von Hans H. Hildebrand, Albert Röhr und Hans-Otto Steinmetz, Die 220 MGZ 61 (2002) Rezensionen

Deutschen Kriegsschiffe. Biographien - ein Spiegel der Marinegeschichte von 1815 bis zur Gegenwart (als Taschenbuchausgabe in zehn Bänden im Mundus Verlag 1998/99 veröffentlicht). Umfangreicher im vorliegenden Buch hingegen sind - wie erwartet - die schiffbautechnischen Hinweise und die zahlreichen Detail- und Schiffs- skizzen, die wieder in bestechender Weise von Klaus-Peter Schmolke gefertigt wur- den. Ein umfangreiches Bildkapitel beschließt die jeweiligen Klassen-Abschnitte. Im Besonderen wird auch auf diejenigen Einsätze sowohl textlich als auch bildlich eingegangen, die aus historischer Sicht besonders relevant waren. Koop weist auf die Einsätze der Brandenburg-Klasse in Ostasien hin und präsentiert die »berühmt- berüchtigte >Hunnenrede«< Kaiser Wilhelms II. vergleichend an Hand von zwei Zei- tungsquellen (»Nordwestdeutsche Zeitung«, Bremerhaven vom 28. Juli 1900 und »Reichsanzeiger«, Berlin; S. 67-69). Koop vermeidet eine quellenkritische Analyse, weist lediglich auf den stark verkürzenden Charakter der Darstellung im »Reichsan- zeiger« hin und kommentiert dies mit den Worten: »Ähnliches kommt auch in heu- tiger Zeit immer wieder vor nach dem Motto irgendetwas bleibt schon hangen<«. Inwieweit derartige Äußerungen die Seriosität des Autoren und damit auch die des Verlages unterstreichen, bleibt den Lesern anheim gestellt. Mit einem kurzen Resümee wird das Buch beschlossen. In besonderer Weise ist es den Autoren allerdings gelungen, dem Leser zu verdeutlichen, daß jene al- ten kaiserlichen Schiffe diejenigen waren, mit denen die junge Reichsmarine ihren Aufbau gestalten mußte, und die sich nahtlos anschließende Kriegsmarine in den Zweiten Weltkrieg einziehen mußte. Daß die »Bügeleisen der Ostsee« (Deutsch- land-Klasse) dafür in keiner Weise geeignet waren, wurde durch dieses Buch be- sonders deutlich. Ein nützlicher Anhang mit Abkürzungen/Begriffen und Erläuterungen (S. 251-254) rundet das Gesamtwerk ab; ein Schiffsnamenverzeichnis (S. 258-260) erleichtert den raschen Zugriff. Für den Liebhaber technischer Details und schiff- baulicher Besonderheiten und Einzelheiten ist das Buch eine wahre Fundgrube. Die Akribie und Übersichtlichkeit der Zeichnungen Schmolkes bestechen erneut. Jörg Hillmann

Roland Kopp, Paul von Hase. Von der Alexander-Kaserne nach Plötzensee. Eine deutsche Soldatenbiographie 1885-1944, Münster: LIT 2001, 324 S. (= Geschichte, 30), EUR 30,90 [ISBN 3-8258-5035-8]

»Ein vorzüglicher Offizier, der sehr positiv zur Partei steht. Mit ihm werden wir schon arbeiten können.« Kein anderer als Joseph Goebbels kommentierte so am 12. Dezember 1940 den Dienstantrittsbesuch des neuen Wehrmachtkommandan- ten von Berlin, Generalleutnant Paul von Hase. Die Worte galten immerhin einem Mann, der sich nach heutigem Wissen bereits als Regimentskommandeur im Jahr 1938 der sogenannten September-Verschwörung, jenem ersten, planmäßigen Staats- streichvorhaben regimefeindlicher Offiziere in »Abwehr« und Generalstab des Heeres zur Verfügung gestellt hatte. Dreieinhalb Jahre nach Goebbels' denkwür- diger Notiz stand eben dieser Paul von Hase vor dem »Volksgerichtshof«, um we- nig später als Mitverschwörer des 20. Juli 1944 sein Todesurteil zu erhalten. In Paul von Hase begegnet uns eine Persönlichkeit, die bislang keine eigentli- che Beachtung in der Widerstandsforschung und in der interessierten (Fach-)Öf- Rezensionen MGZ 61 (2002) 221 fentlichkeit gefunden hatte. Einerseits erstaunlich, weil seine Schlüsselrolle als Mi- litärkommandant der Reichshauptstadt beim Umsturzversuch des 20. Juli 1944 unübersehbar ist. Andererseits überrascht das geringe Interesse auch wieder nicht, da er als Persönlichkeit einfach zu stark im Schatten der treibenden, intellektuell und programmatisch bestimmenden, gar charismatischen »Köpfe« des militäri- schen Widerstandes steht. Der Paderborner Historiker Roland Kopp hat nun eine Biographie über Paul von Hase vorgelegt, die schon deshalb als gelungen bezeichnet werden kann, weil sie erst gar nicht den Versuch unternimmt, ihren Protagonisten in den »Götter- himmel« der Militäropposition zu heben. Aus kritischer Distanz vielmehr, und dennoch mit Einfühlungsvermögen für die Zeitgebundenheit des Handelns seiner Hauptperson zeichnet der Verfasser den Lebensweg des 1885 geborenen, in Berlin aufgewachsenen preußischen Offiziers nach. Allein das stattliche Quellenver- zeichnis der Arbeit läßt erahnen, wie gründlich und wohl auch erschöpfend Kopp seine Untersuchung vornahm, wobei ihm nicht zuletzt sein guter Kontakt zu den noch lebenden Kindern Hases half. Der grundsätzlichen Problematik aber völlig be- wußt, damit vielfach auf Zeugnisse angewiesen zu sein, deren Erkenntniswert durch ihre Subjektivität und ihren zeitlichen Abstand stark relativiert wird, bleibt der Verfasser bei der Bewertung der Persönlichkeit Hases angemessen vorsichtig und kleidet sie oftmals in Frageform. Ungeachtet dessen gelingt ein plastisches Portrait des Generals, das die Motive für sein Engagement im Widerstand deut- lich werden läßt. So macht die Darstellung plausibel, wie ambivalent Hases Herkunft - hierin durchaus typisch für jene durch die Kaiserzeit geprägte Generation - seine Ein- stellung zum Nationalsozialismus beeinflußte: einerseits aus national-konservati- ver Grundhaltung heraus zeitweise anfällig vor allem für die Außen- und Kriegs- politik des Regimes; andererseits über den bekannten elitären Reflex seiner Gene- ration hinaus dann auch wieder »immun« gegen die ideologische Vereinnahmung durch die »Bewegung«, wobei ein starkes religiöses Moment - Hase war gläubiger Protestant - unverkennbar ist. Entsprechend charakterfest im Umgang mit den all- täglichen Auswirkungen des Nationalsozialismus scheint sich Hase daher schon während der 30er Jahre verhalten zu haben, wofür der Verfasser einige Zeugnisse anführen kann. Den Weg in die Konspiration fand Hase schließlich, als er erleben mußte, wie die Machthaber mittels einer Intrige den Oberbefehlshaber des Heeres, General- oberst von Fritsch, stürzten, dem er als ehemaliger Adjutant persönlich besonders verbunden war. Zudem gibt es Hinweise darauf, daß die zunehmende Judenver- folgung im »Dritten Reich«, die auch die weitere Verwandtschaft Hases-nicht ver schonte, seine innere Distanz zum Regime befördert haben dürfte. Allerdings ver- schweigt die Biographie auch nicht zeittypische antisemitische Affekte in öffentli- chen Äußerungen Hases. Überhaupt bemüht sich Kopp in besonderer Weise um In- terpretation und differenzierende Bewertung der nicht gerade zahlreich überlieferten öffentlichen Äußerungen Hases, gerade weil ihre zuweilen nationalsozialistische Diktion scheinbar im Widerspruch zu dessen Widerständigkeit steht. Naturgemäß schwer fällt es dabei nicht nur dem Verfasser, das Maß an verständlicher Verstel- lung und echter Uberzeugung in der Rhetorik Hases zu unterscheiden. Als besonderen Problembereich behandelt die Arbeit in einem eigenen Kapitel die »nebenamtlichen« Funktionen Hases innerhalb der Militärgerichtsbarkeit: ein- mal seine Tätigkeit als Gerichtsherr der Wehrmachtkommandantur Berlin, später 222 MGZ 61 (2002) Rezensionen auch des Zentralgerichts des Heeres, zum anderen seine zeitweilige Vertretung des Präsidenten des Reichskriegsgerichts. Angesichts einer - wenngleich meist nur mehr oder weniger formalen - Mitwirkung bei über 30 000 Kriegsgerichtsurteilen, darunter zahlreichen Todesurteilen, blieb seine Verstrickung in das NS-Unrecht unausweichlich. Der Frage, inwieweit Hase dabei seinen Ermessensspielraum nutz- te, um Unrecht zu verhindern oder zu lindern, geht Kopp an einigen Beispielen nach und wagt eine für Hase letztlich eher günstige Gesamtbewertung. Diesbe- züglich nicht repräsentativ, aber bemerkenswert erscheint Hases Einsatz für seine ab April 1943 inhaftierten Neffen Dietrich Bonhoeffer und Hans von Dohnanyi, deren Verfahren er als zuständiger Gerichtsherr verschleppen half. Naturgemäß breiten Raum in der Darstellung nimmt schließlich der Komplex »20. Juli 1944« mit seiner Vor- und Nachgeschichte ein. Die Quellenlage läßt aller- dings keine klaren Aussagen darüber zu, wie und wann Hase zum späteren Ver- schwörerkreis um Stauffenberg stieß. So bleibt es kaum mehr als ein Gerücht, daß er gezielt durch Einwirkung der Militäropposition in die Dienststellung des Stadt- kommandanten befördert wurde. Einigermaßen sicher scheint, daß die Konspira- tion bereits im Zuge der frühen »Walküre«-Planungen ab 1942 fest mit seiner Mit- wirkung rechnete, hie und da auch bei ihm »vorfühlte«, ihn aber aus bekanntem Vorsichtskalkül so spät wie möglich richtiggehend einweihen wollte. Dies geschah offenbar erst am 15. Juli 1944, als Staufenbergs erster Attentatsversuch in der »Wolfsschanze« zur vorschnellen Auslösung von »Walküre« führte. Hier wie im anschließenden Kapitel folgt der Verfasser weitgehend dem be- kannten Wissen um Vorbereitung und Ablauf des 20. Juli, wie es seit Peter Hoff- manns grundlegender Arbeit (»Widerstand - Staatsstreich - Attentat«, 1969) im wesentlichen festgeschrieben ist. Hases bedeutende Rolle während jenes Tages hebt die Darstellung angemessen hervor. In jeder Hinsicht verständlich verteidigt Kopp dabei seinen Protagonisten gegen den Vorwurf mangelnder Tatkraft und damit ei- ner Mitschuld für das Scheitern des Umsturzversuchs. Verständnis findet auch Ha- ses Verhalten nach seiner Verhaftung und während des Prozesses vor dem »Volks- gerichtshof« am 7./8. August 1944. In dem, wie er sich vor Freisler keineswegs heroisch-offensiv zu seiner Tat bekannte, sondern eher verhalten und unwissend gab, scheint demnach eine Verteidigungsstrategie erkennbar, mit der er sich, nicht zuletzt aus Sorge um seine Familie, einer Verurteilung oder zumindest der Todes- strafe noch zu entziehen hoffte; doch vergeblich: Am 8. August starben Hase und sieben Mitverschwörer am Galgen der Hinrichtungsstätte Berlin-Plötzensee einen grausamen Tod; seine Familie wurde Opfer der Sippenhaft. Kopp will seine Arbeit als »eine deutsche Soldatenbiographie« verstanden wis- sen, aber eben als keine gewöhnliche. Das läßt die Dominanz des Widerstands aspekts erkennen, dem die Hauptperson ihre eigentliche historische Bedeutung verdankt. Erfreut bilanziert der Leser, daß die Geschichte des militärischen Wi- derstandes gegen das NS-Regime nun nicht etwa umgeschrieben werden muß, im- merhin aber um eine interessante biographische Facette, ausführlich eingebettet in den historischen Kontext, bereichert worden ist. Bereits die weit ausholende Ein- leitung hat dem Leser verraten, um was es dem Verfasser darüber hinaus noch geht: nicht zuletzt um einen Beitrag zur Rezeptionsgeschichte des Widerstandes in Deutschland und speziell zur Traditionsdiskussion in der Bundeswehr. Thomas Vogel Rezensionen MGZ 61 (2002) 223

Herbert Sirois, Zwischen Illusion und Krieg: Deutschland und die USA 1933-1941, Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh 2000, 317 S. (= Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart), EUR 41,- [ISBN 3-506-77505-7]

Wie man die USA besiegen könne, wisse er noch nicht, soll Hitler zu Beginn des Jahres 1942 gegenüber dem japanischen Botschafter, Graf Oshima, geäußert haben. Kurz zuvor hatte er den Vereinigten Staaten den Krieg erklärt, ein Entschluß, der die militärische Situation des Reiches fast aussichtslos machte. Wie war es zu die- ser Entwicklung gekommen? Herbert Sirois legt eine diplomatiegeschichtliche Studie vor, die sich mit dem Verhältnis Berlin-Washington zwischen 1933 und 1941 befaßt und mit dem Kriegs- eintritt der USA abschließt. Er geht der Frage nach, ob »Hitlers Amerika-Politik und Roosevelts Deutschland-Politik von axiomatisch festgelegten Vorstellungen geprägt« wurden; ob der Konflikt unvermeidbar war, weil sich beide Seiten »an- tithetisch zueinander« verhielten (S. 13) und wie die Wahrnehmung der Gegen- seite vor dem Hintergrund innenpolitischer Umstände die Entscheidungen der lei- tenden Politiker beeinflußte. Als Quellen dienen deutsche und amerikanische Ar- chivbestände. Bevor Sirois sich schwerpunktmäßig mit den Jahren 1933 bis 1941 auseinan- dersetzt, skizziert er kurz das Verhältnis der beiden Mächte zwischen 1918 und 1933. Das amerikanische Eingreifen trug maßgeblich zur militärischen Niederlage des Kaiserreiches im Ersten Weltkrieg bei. Von den Vereinigten Staaten erhofften sich viele Deutsche einen mäßigenden Einfluß auf die Friedensverhandlungen. Als der Versailler Vertrag mit seinen harten und demütigenden Bedingungen schließ- lich angenommen werden mußte, war die Enttäuschung groß. Dennoch kam es in den zwanziger Jahren zu einem »Sonderverhältnis zwischen den USA und Deutsch- land« (S. 23). Sirois nennt als Beispiele den Separatfrieden von 1921, das deutsch- amerikanische Schuldenabkommen 1922 sowie den Handelsvertrag von 1923. Ber- lin konnte mit Hilfe Washingtons negative Folgen des Versailler Vertrages min- dern. Die Weltwirtschaftskrise unterhöhlte zu Beginn der dreißiger Jahre die wirt- schaftlich geprägten Fundamente einer Zusammenarbeit zwischen den Vereinigten Staaten und dem Deutschen Reich. Nach 1933 belasteten die Terrormaßnahmen der Nationalsozialisten das deutsch-amerikanische Verhältnis. Die Abschaffung der Demokratie und die Entrechtung der jüdischen Mitbürger lösten in den USA Befremden aus; die sogenannte »Reichskristallnacht« im November 1938 führte gar dazu, daß Washington seine Botschafter abrief. Weitere Konflikte entstanden auf dem Gebiet der Wirtschaftsbeziehungen und der Außenpolitik. Vor allem der mit dem Münchner Abkommen im Jahr 1938 ver- bundene Machtzuwachs für das Deutsche Reich aktivierte bei der Administration Roosevelt alte Feinbilder. Deutschland galt in den Vereinigten Staaten als Aggres- sor. Der amerikanische Präsident wurde zur treibenden Figur einer Außenpolitik, die sich von isolationistischen Fesseln frei machte. Je aggressiver Hitler in Europa auftrat, desto stärkere Argumente besaß der amerikanische Präsident in der Aus- einandersetzung mit seinen innenpolitischen Gegnern, die weiterhin von einer Ein- mischung in europäische Angelegenheiten abrieten. Neben der Veränderung der weltpolitischen Lage macht Sirois auch innenpo- litische Gründe für das entschiedene Auftreten Roosevelts verantwortlich. Die Nie- derlage der Demokraten bei den Novemberwahlen 1938 und die Vorbereitung ei- 224 MGZ 61 (2002) Rezensionen ner dritten Präsidentschaftskandidatur führten zu einer aktiveren Außenpolitik des amerikanischen Präsidenten. Die Erweiterung der deutschen Machtposition durch die Siege über Polen und Frankreich sowie die Besetzung Dänemarks und Norwegens bestätigten Roosevelt in seinem Kurs. Sirois vermutet, daß erst der französische Zusammenbruch das amerikanische Staatsoberhaupt von der Not- wendigkeit eines aktiven Eingreifens in den Krieg überzeugte. Der Verfasser beschreibt die Entwicklung der Jahre 1938 bis 1941 aus einer wech- selseitigen Perspektive. Dabei bestätigt sich seine Hypothese aus dem Eingangs- kapitel: Hitler und Roosevelt verfolgten zwei entgegengesetzte Strategien. »Hit- lers Vision von einer auf rassenideologische Prämissen aufbauenden deutschen Weltherrschaft kontrastierte dabei nicht nur grundsätzlich mit allen Prinzipien und Interessen amerikanischer Politik, sondern widersprach insbesondere dem Ziel Roosevelts, den USA auf Dauer die Stellung einer Weltmacht zu sichern«, faßt Sirois das Ergebnis seiner Forschungen zusammen: »Grundsätzlich war eine Konfronta- tion vorprogrammiert, lediglich der Zeitpunkt blieb unklar« (S. 270 f.). Vieles von dem, was Sirois beschreibt, kann bereits in einschlägigen Standard- werken nachgelesen werden: die zunehmende amerikanische Unterstützung Eng- lands durch Hilfslieferungen, das immer aggressivere Auftreten amerikanischer Seestreitkräfte im Atlantik, Hitlers Versuche, durch Krieg und Diplomatie ein Kon- tinentalimperium zu schmieden, um damit eine bessere Ausgangsposition für die spätere Auseinandersetzung mit den USA zu gewinnen. Der Vorzug des gut ge- schriebenen Buches besteht darin, den Forschungsstand zusammenzufassen und die aktive Rolle Washingtons stärker zu akzentuieren. Die Entwicklung der Jahre 1939 bis 1941 interpretiert Sirois nicht, indem er die vorwiegend ideologisch mo- tivierten Absichten Hitlers in den Vordergrund stellt - obwohl der Verfasser grundsätzlich den Anschauungen der »Programmologen« nahe steht -, vielmehr betrachtet er Hitler und Roosevelt als zwei maßgebende Akteure der internatio- nalen Politik. In einem Exkurs untersucht Sirois die Art und Weise, wie sie ihren Gegenpart wahrnahmen. Dies bedeutet nicht, daß der Verfasser den Diktator und den demokratisch gewählten amerikanischen Präsidenten auf eine Stufe stellt. Ber- lin und Washington hätten »eine zwar nicht qualitativ, aber dennoch formal ver- gleichbare Politik globaler nationalegoistischer Machtinteressen verfochten«, so Sirois (S. 271). Kritisch anzumerken ist, daß Sirois bei der Darstellung der deutschen Strategie im Jahr 1940/41 zu wenig die Tatsache berücksichtigt, daß die Sowjetunion ab Herbst 1940 zunehmend Druck auf das Reich ausübte. Die deutsche Führung muß- te im Frühjahr 1941 sowjetische Aufmarschbewegungen an der Ostgrenze des Rei- ches registrieren, die die Gefahr eines sowjetischen Angriffes als denkbar erschie- nen lassen. Entsprechende Forschungen, die in den letzten zwanzig Jahren zu die- sem Thema erschienen sind, ignoriert der Verfasser. Trotz dieses Einwurfes: wer Freude und Interesse an diplomatiegeschichtlichen Arbeiten hat, dem sei das Buch von Herbert Sirois empfohlen. Axel Kellmann Rezensionen MGZ 61 (2002) 225

»Der Fall Weiß«. Der Weg in das Jahr 1939. Mit Beitr. von Wilhelm Deist [u.a.], hrsg. von Jörg Hillmann, Bochum: Winkler 2001,166 S. (= Kleine Schriften- reihe zur Militär- und Marinegeschichte, 1), EUR 15,25 [ISBN 3-930083-65-5]

Mit dem vorliegenden Werk eröffnen der Förderkreis des Deutschen Marinemu- seums e.V. und der Freundeskreis des Wehrgeschichtlichen Ausbildungszentrums der Marineschule in Flensburg die »Kleine Schriftreihe zur Militär- und Marine- geschichte«, in der die Schriftfassungen von Vortragsreihen, wissenschaftliche Qua- lifikationsarbeiten und auch die Editionen wichtiger Quellen aufgenommen wer- den sollen. Der nun vorliegende erste Band umfaßt vier Vorträge namhafter Militärhisto- riker aus dem Jahr 1999, die durch einen umfangreichen biographischen Anhang ergänzt sind. Man mag anmerken: Der Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939 ist doch ein hinlänglich untersuchter Gegenstand, wozu jetzt dieses Buch? Gewiß es liegen zahlreiche Spezialstudien zum Kriegsausbruch vor - allerdings ist die Aus- breitung der Details auf vielen hundert Seiten gerade für Nicht-Spezialisten eine ermüdende Lektüre, so daß jedem, der sich rasch einen Forschüngsüberblick ver- schaffen will, dieses Werk empfohlen werden kann. Die vier Autoren befassen sich mit den zentralen Themen der Vorkriegsge- schichte. Bernd Wegner umreißt die provokante Frage, ob der Zweite Weltkrieg zu vermeiden gewesen wäre, Rolf-Dieter Müller widmet sich der vermeintlichen in- neren Krise des Reiches am Vorabend des Angriffs auf Polen, Wilhelm Deist schil- dert anschaulich die Phase der Aufrüstung von 1933 bis 1939 und deren innen- und außenpolitische Folgen, Werner Rahn behandelt die deutsche Marinepolitik und Seestrategie in der Zwischenkriegszeit. Den Abschluß bildet der von Christoph Peleikis erstellte überaus hilfreiche, etwa 50 Seiten starke biographische Anhang. Die hervorstechendste Erkenntnis ist zweifellos, daß der Angriff auf Polen im September 1939 nur eine Episode war, ein Auftakt zu einem großen Krieg auf den alle Bereiche von Militär und Rüstung - wenn auch unterschiedlich professionell - fixiert waren. Die Frage ob der Zweite Weltkrieg vermeidbar gewesen sei, wird allzu leicht mit, einem klaren Ja oder einem eindeutigen Nein beantwortet. Ja, in dem Sinne, daß die Großmächte bis 1938 jederzeit dem nationalsozialistischen Spuk in Deutschland ein Ende hätten bereiten können. Nein in dem Sinne, daß aufgrund der allgemeinen außen- und innenpolitischen Konstellationen in Europa ein wei- terer Krieg praktisch nicht zu vermeiden gewesen ist. Bernd Wegner versteht es in seinem Beitrag in sprachlich fesselnder Art und Weise auf diese Fragestellung eine differenzierte Antwort zu geben. Zunächst weist er darauf hin, daß der 1. September 1939 keineswegs eindeutig als Beginn des Zwei- ten Weltkrieges gewertet werden kann. Genauso gut könnte man 1931 (Mand- schurei) oder 1937 (Krieg gegen China), 1938 (»Anschluß Österreichs und des Su- dentenlandes«) nennen bzw. darauf verweisen, daß der Konflikt erst 1941 ein glo- baler Krieg - ein Weltkrieg somit - geworden ist. Etliche Historiker gehen ohnehin davon aus, daß der 1. September 1939 nicht der Beginn des neuen, sondern die Fortsetzung eines eilten Krieges gewesen ist. Wegner verwirft die These vom 2. Drei- ßigjährigen Krieg erfreulicherweise jedoch, weil sie die fundamentalen Unter- schiede beider Konflikte in unzulässiger Art und Weise vermischt. Man muß somit zwischen dem lokalen Konflikt zwischen Deutschland und Po- len einerseits und dem großen globalen Konflikt, den wir als Weltkrieg bezeich- nen, unterscheiden. Die Vermeidung des lokalen Krieges, etwa durch das Einlen- 226 MGZ 61 (2002) Rezensionen ken Warschaus gegenüber den Dominanzgelüsten des Reiches, hätte den großen Krieg nicht vermieden, sondern ihn nur aufgeschoben. Ergo: Hitler war durch Ar- rangements jedweder Art und jedweder Provenienz nicht aufzuhalten. Allerdings: Warum wurde der kriegslüsterne deutsche Diktator nicht vom Ausland gestoppt - und zwar zu einem Zeitpunkt, bei dem dieser Versuch nicht in einem Weltkrieg enden mußte (September 1939), sondern nur eher eine kurze Militäraktion ge- worden wäre (vor allem 1933 bis 1936)? Wegner verweist auf die labile internatio- nale Staatenordnung, die durch die Weltwirtschaftskrise - die »eigentliche Weg- scheide«, wie er sie nennt - vollends ins Wanken geriet. England und Frankreich, aber auch die USA flüchteten sich in eine Politik der national-egoistischen Kri- senbewältigung. Man hat dabei die Radikalität und Dynamik Hitlers gewiß un- terschätzt - und vergessen wir nicht, sie ist in ganz wesentlichem Maße ja auch erst durch den deutsch-italienischen Schulterschluß während des Abessinienkrie- ges außenpolitisch ermöglicht worden. Nachdem Hitler bis 1936 nicht gestoppt worden war, drohte 1938 bei einem Eingreifen ein Krieg der Großmächte, den die Westmächte unbedingt vermeiden wollten. In London ist angesichts des weltwei- ten Engagements und der Überzeugung, einen weiteren Krieg nur mit dem Verlust der Weltmachtstellung zu bezahlen, die Friedenswahrung als essentielle Voraus- setzung der eigenen Großmachtpolitik gesehen worden. Auch in Frankreich wur- de diese Haltung schon aufgrund der Erinnerung an den verheerenden Ersten Welt- krieg, dem man keinen Zweiten folgen lassen wollte, geteilt. Die Westmächte nah- men somit eine zutiefst defensive Haltung ein, die Hitler rücksichtslos auszunut- zen verstand. Wegner kommt somit zu dem Fazit: »Unter den Bedingungen einer zusam- menbrechenden internationalen Ordnung oder gar internationaler Anarchie ist ei- ne Regierung, die ohne Rücksicht auf bestehende Verträge zum Krieg entschlossen ist, kaum zu stoppen.« Und er spitzt weiter zu: »Die Bewahrung zwischenstaatli- chen Friedens hängt offenbar weniger ab von der Vernunft der Regierenden als von der Funktionsfähigkeit und Stabilität des internationalen Beziehungsgeflechts« (S. 30). Rolf-Dieter Müller befaßt sich mit der These, daß das Deutsche Reich aufgrund einer inneren Krise, insbesondere im ökonomischen Bereich im September 1939 in den Krieg geflüchtet sei. Er kommt dabei zu dem Schluß, daß es sicherlich krisen- hafte Erscheinungen in der deutschen Wirtschaft gegeben habe. Diese waren in weiten Teilen aber »hausgemacht« und können ursächlich gewiß nicht für Hitlers Entschluß zum Krieg verantwortlich gemacht werden. Hitler benutzte die ökono- mischen Probleme lediglich zur Begründung seines längst eingeschlagenen Kur- ses, der das deutsche Volk in den Krieg führen sollte. Wilhelm Deist zeichnet in seinem Beitrag noch einmal die Schritte der Hee- resaufrüstung nach, einer Aufrüstung, die in der Zeit von 1933 bis 1939 die Land- streitkräfte von ihrem ursprünglichem Umfang von 100 000 auf knapp 2,8 Millio- nen Mann erweiterte. Als Ziel für diese bereits in der Weimarer Zeit planungs- mäßig vorbereitete Aufrüstung nannte Beck am 14. Dezember 1933: »Einen Ver- teidigungskrieg nach mehreren Fronten mit einiger Aussicht auf Erfolg« zu führen. Hitler dachte jedoch nicht daran, sich an Becks Vorstellungen eines Verteidi- gungskrieges zu halten. Im Sommer 1938 versuchte dieser schließlich vergebens vor einem Angriff auf die Tschechei aus politischen und militärischen Erwägungen heraus zu warnen. Er drang damit weder bei Hitler noch bei seinem Vorgesetzten Brauchitsch durch und trat zurück. Trotz nicht unerheblicher Mängel in puncto Rezensionen MGZ 61 (2002) 227

Ausrüstung und Ausbildung hatte nunmehr Hitler nicht nur eine willfährige mi- litärische Führung zur Hand, sondern auch das Instrument, um seine Expan- sionspläne in Angriff nehmen zu können. Die erfolgreiche Aufrüstungspolitik war somit eine zentrale Voraussetzung dafür, daß Hitler 1938/39 dazu ansetzen konn- te, die Welt in eine neue Katastrophe zu stürzen. »Vom Revisionskurs zur Konfrontation. Deutsche Marinepolitik und Seestrategie von 1928 bis 1939« lautet der besonders quellenreiche Beitrag von Werner Röhn. Zur Zeit der Weimarer Republik war die Reichsmarine ganz auf die potentiellen Gegner Polen und Frankreich fixiert. Zugleich herrschte der Wunsch vor, aus dem Status einer drittrangigen Küstenmarine herauszutreten und wieder eine gleich- berechtigte Seemacht zu werden. Die Gedanken des Konteradmirals Wolfgang Wegner, der 1926 eine Denkschrift verfaßte, in der er bereits einen Krieg gegen die Angelsachsen als unumgänglich voraussagte, da der Weg zur Welt- und Seemacht erneut gegangen werden müsse, fand in der Marine zu diesem frühen Zeitpunkt keinen Widerhall. Im Gegenteil, derartige Äußerungen sind etwa von Erich Rae- der sogar als gefährlich und dilettantisch bekämpft worden. Auch nach 1933 ging es zunächst darum, unter Beibehaltung der im Versailler Vertrag festgelegten Schiffszahlen die Gleichberechtigung mit Frankreich zu er- reichen, ein Ziel, dem man mit dem deutsch-englischen Hottenabkommen ein ent- scheidenden Schritt näher gekommen war. Ab Ende 1937 folgte Raeder dann wi- derspruchslos dem außenpolitischen Konfrontationskurs Hitlers, der nunmehr auch den Krieg gegen England miteinschloß, und dies obwohl ein Krieg gegen die- se maritime Supermacht in internen Studien als aussichtslos herausgestellt wor- . den war. Die kritische Auflehnung war jedoch nicht die Sache der Marine. Diese konzentrierte sich nunmehr auf einen Mitte der vierziger Jahre gegen Großbritan- nien zu führenden Seekrieg. Die einzige Erfolgsmöglichkeit glaubte man in der Kreuzerkriegführung zu erkennen, wobei allerdings von Fregattenkapitän Heye angemerkt wurde: »Wie weit eine solche Flotte, wenn sie einmal vorhanden ist, ei- ne Kriegsentscheidung gegen England erreichen kann, muß eine offene Frage blei- ben, die nicht beantwortet werden kann, da ihre Beantwortung auch nicht allein von den rein militärischen Einsatzmöglichkeiten abhängt.« Das heißt im Klartext, daß man dabei war, eine Flotte aufzubauen, ohne je deren Erfolgschancen seriös über- prüft zu haben. Man kann daher die Feststellung Rahns unterstreichen, daß die Auswertung der Erfahrungen des Ersten Weltkrieges nur sehr oberflächlich vor- genommen worden ist. Insbesondere im Hinbück auf den Wirtschaftskrieg gegen England - dies implizierte ja die Kreuzerkriegführung - verließ sich die Marine- führung allzu sehr auf den Faktor Hoffnung. Werner Rahn konnte diesen Punkt hier nur anreißen, es wird weiterführender Arbeiten bedürfen, um das Bild des Wirtschaftskrieges in der Marineleitung einmal en detail zu beleuchten. Ohne Zweifel hat der Herausgeber hier einem breiten Publikum von Ge- schichtsinteressierten einen Band vorgelegt, der die verschiedenen Aspekte zum Kriegsausbruch 1939 konzise zusammenfaßt. Sänke Neitzel 228 MGZ 61 (2002) Rezensionen

Wtodzimierz Borodziej, Terror und Politik. Die deutsche Polizei und die pol- nische Widerstandsbewegung im Generalgouvernement 1939-1944, Mainz: von Zabern 1999, VIII, 302 S. (= Veröffentlichungen des Instituts für Euro- päische Geschichte Mainz, Abteilung Universalgeschichte, Beih. 28), EUR 29,80 [ISBN 3-8053-1197-4]

Daß Bücher wie dieses endlich in Deutschland erscheinen können, gehört zu den erfreulichen Begleiterscheinungen des Wiederzusammenwachsens von Ost- und Westeuropa. Im Original 1985 in Polen erschienen und dort mehrfach preisgekrönt, war Borodziejs Studie über all die Jahre nur in einer Teilübersetzung in der Zen- tralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg zugänglich, bis es zu der vorliegenden deutschen Übersetzung kam (unter Wiedereinfügung der Pas- sagen, die von der Warschauer Zensur 1985 gestrichen worden waren). Für alle Staaten, die unter deutscher Besatzung gestanden hatten, war es nach Kriegsende von großer moralischer und politischer Bedeutung, wie intensiv und in welcher Weise Widerstand geleistet worden war. Mit dieser Frage waren ge- sellschaftliche und politische Legitimität verbunden, was zu heftigen, zum Teil bis in die Gegenwart andauernden, Auseinandersetzungen führen konnte. In den kom- munistischen Ländern, vor allem denjenigen, die erst nach 1945 unter sowjetischer Besatzung kommunistisch geworden waren, nahmen die innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen besonders scharfe Formen an, ob sie nun offen ausgetra- gen werden konnten oder nicht. Daher rührt die Brisanz des Themas für Polen, in den Worten des Verfassers ausgedrückt: »Die Bedeutung des Widerstandes während des Zweiten Weltkriegs für die Geschichte und Gegenwart Polens kann kaum über- schätzt werden.« (S. 1) Der Autor wertete die polnischen Quellen aus, am wichtigsten dabei die Akten der Sicherheitspolizei Radom, und hatte Zugang zu den einschlägigen Archiven in Deutschland (mit Ausnahme des Berlin Document Centers, zu dem in der Zeit der amerikanischen Verwaltung Angehörige kommunistischer Staaten, wie Polen, kei- nen Zugang hatten). Auf dieser Quellenbasis ist Borodziej eine interessante Synthese gelungen: er beschreibt zum einen die verschiedenen Widerstandsgruppen und ihre Aktivitäten, aber auch den »Feind«, die Sicherheitspolizei, in ihrem tatsächli- chen Handeln und vor allem auch in der Limitierung ihrer Macht. Die Sicher- heitspolizei wird damit als Teil der deutschen Besatzungspolitik gesehen, nicht nur als allmächtiger, monolithischer Exekutivapparat. Auch die Sicherheitspolizei war an die allgemeinen Linien der deutschen Be- satzungspolitik gebunden, deren unbedingte Terrorpolitik den polnischen Wider- stand verstärkte, bis er für die Deutschen nicht zu bewältigende Dimensionen an- nahm. 1942/43 entglitt der Sicherheitspolizei die Initiative bei der Bekämpfung des Widerstands, daran konnten weder Anwendung von Folter, noch die Zentra- lisierung der »Bandenbekämpfung«, noch immer brutaler durchgeführte »Pazifi- zierungsaktionen« etwas ändern. Auf Grund ihrer Kenntnisse der Verhältnisse vor Ort befanden sich die Sicherheitspolizeibehörden interessanterweise oft unter den- jenigen, die die Lage nüchtern einschätzten und eine flexiblere Haltung und Ver: suche der Kollaboration mit Teilen der polnischen Gesellschaft befürworteten; Ber- lin und Hitler selbst standen für einen scharfen antipolnischen Kurs. Von Beginn an litt die Polizei unter chronischem Personalmangel, vor allem was geeignete Dol- metscher anging; letztlich war sie für die ihr gestellte Aufgabe zu schwach. Der Versuch einer allgemeinen politischen Kursänderung 1943/44 kam zu spät. Rezensionen MGZ 61 (2002) 229

Ein Kapitel hat Borodziej den V-Leuten gewidmet, deren Bedeutung für das besetzte Osteuropa bisher in der Wissenschaft nicht ausreichend erkannt worden ist. Die Sicherheitspolizei war sich der Wichtigkeit dieses Potentials bewußt. Des- sen Effizienz litt aber an mangelnder Professionalisierung. Zudem wurde eine be- trächtliche Anzahl von Informanten von der polnischen Untergrundbewegung li- quidiert. Wenn die dem Verfasser zur Verfügung stehenden Quellen auch nur frag- mentarisch sind, erlauben sie doch eine Unterteilung in drei Gruppen von Agen- ten und Einblicke in deren Motivationen, die von Angst, Reaktion auf persönliche Problemlagen, über pekuniäre Vorteile bis zu politischer Überzeugung und der Faszination an der Teilnahme am »Großen Spiel« (S. 146) reichten. Ein weiteres Kapitel ist der Sicht der Gestapo auf die politische Entwicklung des Untergrunds gewidmet, wobei sowohl Erkenntnisdefizite, als auch realitäts- getreue Einschätzungen der deutschen Seite verdeutlicht werden. Bei letzteren kam den V-Leuten eine Schlüsselrolle zu. Insgesamt ist, laut Borodziej, die Gestapo der Mehrzahl der Untergrundorganisationen auf die Spur gekommen. Ihre Probleme lagen eher auf der Ebene der exekutiven Möglichkeiten, woran auch die Einset- zung brutalster Mittel nichts ändern konnte. Als Fazit bleibt, daß die Sicherheits- polizei keine Verbindung zur polnischen Gesellschaft aufnehmen, aber einige rech- te Gruppen zur Kollaboration gegen den kommunistischen Widerstand bewegen konnte, was schwerwiegende Folgen für die Nachkriegszeit hatte. Ruth Bettina Bim

Bogdan Musial, Deutsche Zivilverwaltung und Judenverfolgung ün Gene- ralgouvernement. Eine Fallstudie zum Distrikt Lublin 1939-1944, Wiesba- den: Harassowitz 1999, XI, 435 S. (= Deutsches Historisches Institut War- schau, Quellen und Studien, 10) EUR 29,- [ISBN 3-447-04208-7]

Über die Jahrzehnte hinweg wurde der Blick auf die Täter der Judenvernichtung immer umfassender, unter Einbeziehung immer weiterer Berufsgruppen. Eine der Etappen bildete die Rekonstruktion des Tatbeitrags der Organe der Zivilverwal- tung - über die Handvoll politischer Spitzenfunktionäre hinaus - im deutsch be- setzen Osteuropa; für den Distrikt Galizien des Generalgouvernements zum Bei- spiel hat das Dieter Pohl unternommen. In dem vorliegenden Band beschäftigt sich Bogdan Musial mit der Zivilverwaltung des Distrikts Lublin. Unabhängig vom Wechsel der Perspektive, konnten Themen wie dieses erst nach der Öffnung osteuropäischer Archive in den neunziger Jahren bearbeitet werden, durch die neue Einblicke, besonders auf die Detailebene des Vernichtungsprozesses mög- lich wurden. Der Distrikt Lublin im Generalgouvernement war von besonderer Bedeutung für die nationalsozialistische Vernichtungs- und Umsiedlungspolitik: der SS- und Polizeiführer (SSPF) Lublin, Globocnik, betrieb die als »Operation Reinhard« be- zeichnete Ermordung der polnischen Juden, drei der Vernichtungslager befanden sich in diesem Distrikt. Zudem diente er als Experimentierfeld für Umsiedlungs- und Germanisierungsprojekte, die katastrophale Folgen für die Bevölkerung hat- ten. Auf Grund dieser Umstände ist dem Distrikt Lublin in der bisherigen For- schung bereits besondere Aufmerksamkeit zugewandt worden. Es ist daher etwas zu bedauern, daß der Autor, der sowohl polnischsprachige wie deutsche Quellen 230 MGZ 61 (2002) Rezensionen

auswerten kann, sich nicht einem der anderen Distrikte zugewandt hat, über die zumindest auf deutsch keine Literatur vorliegt. In der vorliegenden Darstellung werden zwei Entwicklungsstränge verknüpft: einmal Aufbau und Struktur der Zivilverwaltung und deren Kompetenzabgrenzung zu SS und Polizei im Generalgouvernement; zweitens der chronologische Ablauf der Judenvernichtung. Die Befehlspyramide in der Verwaltung führte vom Gene- ralgouverneur Frank, hinunter zu den Distriktgouverneuren und weiter zu den Kreis- und Stadthauptleuten. Während der politische Entscheidungsträger Frank in der Literatur vielfach beschrieben worden ist, war lange Zeit über die Macht- haber vor Ort, die Kreishauptleute, und deren Beteiligung an der Verfolgung der Juden wenig bekannt. In der Periode 1939 bis 1941/42, in der zunächst von einer territorialen »Lösung der Judenfrage« ausgegangen wurde, waren die Kompeten- zen bei den Kreishauptleuten gebündelt. Diese betrieben die Kennzeichnung der jüdischen Bevölkerung (die im Generalgouvernement sehr viel früher als in Deutsch- land selbst eingeführt wurde), Organisation der Zwangsarbeit, Entrechtung, räumliche Isolierung, und Ausschaltung aus dem Wirtschaftleben. Besondere Be- deutung bei der Verfolgung der Juden kam auch der 1940 eingerichteten Abtei- lung »Bevölkerungswesen und Fürsorge (BuF)« zu, die für Gesundheit, Fürsorge, Unterbringung zuständig war. In dem Ausmaß, in dem die Entrechtung und Aus- grenzung der jüdischen Bevölkerung voranschritt, wurde diese zunehmend zum Objekt der Aktivitäten der Abteilung BuF. Was all das in der Realität bedeutete, zeigt Musial anschaulich, zum Beispiel an Hand von Kalorienberechnungen, die of- fiziellen Lebensmittelzuteilungen für Juden lagen bei etwa 10 Prozent des tatsäch- lichen Bedarfs. In dieser ersten Phase lagen antijüdische Zwangsmaßnahmen mehr in der Hand der Zivilverwaltung als der SS und Polizei, dem Apparat des Höhe- ren SS- und Polizeiführers (HSSPF) war zudem die Organisation der jüdischen Zwangsarbeit nicht gelungen. Das Kräfteverhältnis änderte sich 1942, jetzt hatte der SS-Polizeiapparat die Prärogative. Grund dafür war einmal der Beginn des tatsächlichen Massenmords, der Deportationen in Vernichtungslager, die von SS und Polizei organisiert und durchgeführt wurden; es kam 1942 aber auch ganz allgemein zu einer Verschie- bung der Machtverhältnisse im Generalgouvernement zuungunsten der Verwal- tung, markiert durch die Einsetzung des HSSPF Krüger zum »Staatssekretär für das Sicherheitswesen«. Das bedeutete allerdings nicht, daß Organe der Zivil Ver- waltung am Vernichtungsprozeß nicht mehr beteiligt gewesen wären: die Kreis- hauptleute nahmen bis Sommer 1942 die Erfassung, Selektion und Deportation von Juden in ihren Kreisen vor. Am Beispiel der Deportationen aus dem Kreis Hru- bieszow kann Musial eindrücklich zeigen, wie alle Angehörigen der Kreisverwal- tung an diesen Aktionen beteiligt waren. Die Abteilung BuF fungierte als Verbin- dungsstelle zum Stab des SSPF Lublin und war aktiv bei den Aussiedlungen nach einer Art von »Austauschprinzip«, bei denen Juden aus Deutschland oder ande- ren Ländern ins Generalgouvernement gebracht, und polnische Juden in Vernich- tungslager deportiert wurden, um vorübergehend Platz für die Neuankömmlinge zu schaffen, die dann später ebenfalls ermordet wurden. Verwaltungsorgane wa- ren auch wieder in der Endphase beteiligt: bei der Jagd auf Juden, die sich den De- portationen durch Flucht entziehen konnten, und der Vermögens Verwertung. Musial beschreibt die verschiedenen Etappen des Massenmords und den Tat- beitrag der Zivil Verwaltung eindrücklich und an Hand vieler Details. Weniger überzeugend dagegen und nur durch eine dünne Quellenbasis abgestützt ist sei- Rezensionen MGZ 61 (2002) 231

ne Periodisierung der Entschlußbildung zur »Endlösung«, bei der er einen Kau- salkonnex zwischen Globocniks Volkstumsplänen und dem Judenmord sieht, und zudem eine eigenständige Entwicklung im Generalgouvernement annimmt. Besonderen Nachdruck legt Musial auf eine Beschreibung der Deutschen in Po- len, ihrem Verhalten und ihrer Motivation. Hierbei wird wieder einmal deutlich, daß die dabei zur Verfügung stehende hauptsächliche Quelle, die Personalakten (ehemals BDC-Akten) zwar Auskunft über Karrieremuster und soziale Schichtung, aber nur selten Einblicke in die Motivation von Tätern geben. Musial beschreibt die materiellen Vorteile, die die deutschen Amtsträger genossen, die Manifesta- tionen von Herrenwahn und Eigenmächtigkeit. Interessant ist in diesem Kontext die Beobachtung, daß von Kreishauptleuten häufig die behördenunübliche »Ich«- Form benutzt wurde, was darauf hindeutet, daß diese sich stark mit ihren Posi- tionen und Aufgaben identifizierten, und sich auch selbst als »Herren über Leben und Tod« begriffen. Wichtig ist auch der Hinweis, daß über die ursprüngliche ideo- logische Indoktrination hinaus die Zustände im Generalgouvernement die Wahr- nehmung von Juden als »Untermenschen« und die Gewöhnung an den Massen- mord erleichterten. Zu wenig problematisiert dagegen wird die Mitarbeit der pol- nischen Verwaltungsorgane, wenn sie auch im Generalgouvernement Polen nur bis zur Gemeindeebene tätig sein durften und keinerlei politische Mitsprache hat- ten. Der letzte Teil des Buches ist dem Nachkriegsschicksal der Täter gewidmet, auch dies ein Thema, dem das Interesse der Forschung in den letzten Jahren ver- mehrt gegolten hat. Die Leichtigkeit, mit der viele der früheren Funktionsträger sich in der Nachkriegsgesellschaft etablieren, ja in einigen Fällen sogar wieder höhere Positionen erlangen konnten, beschreibt Musial mit unübersehbarem Zorn. Insbesondre ist kein Mitglied der Abteilung BuF jemals verurteilt worden. (Allein schon diese Passagen machen deutlich, daß es verfehlt ist, Musial Verständnis für die Nazis zu unterstellen, wie es auf Grund seiner anderen Veröffentlichungen jüngst in einigen deutschen Zeitungen geschehen ist.) Es wäre hilfreich gewesen, diese Angaben stärker zu strukturieren und zu quan- tifizieren, so daß Unterschiede in der deutschen und polnischen Strafverfolgung sichtbar gemacht und eine Korrelation hergestellt worden wäre zwischen Bedeu- tung der Position in der Nazizeit und Wiederbeschäftigung im Staatsdienst, oder in Politik und Wirtschaft. Zu fragen wäre auch - obwohl das die Grenzen dieser Ar- beit wohl überschritten hätte - nach den Möglichkeiten und Grenzen der Justiz, also inwieweit die Aktivitäten der Abteilung »Bevölkerungswesen und Fürsorge« ohne die in polnischen Archiven befindlichen Akten, auf die die deutsche Justiz nur sehr begrenzt Zugriff nehmen konnte, verfolgbar gewesen wären? Und, nicht zu vergessen, in den sechziger und siebziger Jahren standen den Justizbehörden Bücher wie das vorliegende eben noch nicht zur Verfügung. Ruth Bettina Bim 232 MGZ 61 (2002) Rezensionen

Rolf-Dieter Müller, Gerd R. Ueberschär, Hitlers Krieg im Osten 1941-1945. Ein Forschungsbericht, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000, XII, 451 S„ EUR 72,- [ISBN 3-534-14768-5]

Geschichtswissenschaftliche Forschungsberichte drohen außerhalb des Fachs in den Fluten multimedialer Präsenz des Themas unterzugehen. Vermutlich ist deshalb für diesen Band ein griffiger, aber leider mißverständlicher Titel gewählt worden. Die Ver- fasser, ausgewiesen durch eigene Forschungen und zahlreiche Veröffentlichungen zum deutsch-sowjetischen Krieg, beziehen indessen klar Stellung. Sie lassen keinen Zweifel daran aufkommen, daß dieser Krieg zwar von Hitler gewollt und maßgeb- lich geprägt, aber zugleich von den sogenännten deutschen Eliten (Wehrmacht, In- dustrie, Auswärtiges Amt) vorbereitet, mitgeführt und getragen wurde. Es handelt sich zudem nicht um einen Forschungsbericht, sondern um eine Sammlung von sie- ben Beiträgen der Autoren, »vorrangig aus der Sicht des Angreifers« (S. IX) und mit beigefügten umfangreichen, thematisch differenzierten Auswahlbibliographien. Die- se Forschungsberichte gehen im Sinne einer modern-integrativen Militärgeschichte weit über das Kriegsgeschehen an der »Ostfront« hinaus und schlagen sozusagen Erkenntnisschneisen in das Dickicht einer unüberschaubar gewordenen und viel- stimmigen Literatur zum Ostkrieg und seinen Folgen. Ein breiter Konsens scheint lediglich darin zu bestehen, den deutsch-sowjeti- schen Krieg als nicht »normal« zu bewerten,, dies sowohl im Vergleich zum West- krieg als auch zu früheren deutsch-russischen Konflikten. Während in der kollek- tiven Erinnerung der Russen der Begriff des »Großen Vaterländischen Krieges«, der 1941 als Steigerung des »Vaterländischen Krieges« gegen Napoleon 1812/13 eingeführt wurde, fest verankert ist, gibt es dazu auf deutscher Seite kein Pendant. Die Verfasser folgen ihrerseits dem mainstream der »westlichen« Historiographie, indem sie den Charakter des Ostkrieges als einen vom Deutschen Reich unter Hit- ler geführten Weltanschauungs- und Vernichtungskrieg herausstellen (Kapitel III, V-VII). Beide Historiker verschweigen in diesem Zusammenhang nicht - unter Wah- rung der Relationen - die ideologischen Prämissen sowie die zum Kriegsende hin von Haßpropaganda genährten Exzesse der Roten Armee gegen die deutsche Zi- vilbevölkerung. Auch die paradox anmutende Vorgeschichte des Krieges mit dem Abschluß des Hitler-Stalin-Paktes am 23. August 1939 (Kap. I: Politik und Strate- gie) sowie seine wirtschaftliche Dimension und Problematik (Kap. IV: Besat- zungspolitik) werden mit Blick auf die internationale Forschung ausführlich dar- gestellt und nüchtern kommentiert. Eine gewisse Schärfe und politisch-gesell- schaftliche Brisanz gewinnt die Darstellung aus der Fokussierung auf Fragen nach den konkreten Ausmaßen und Formen der Verstrickung deutscher Kriegsteilneh- mer in die verbrecherische Kriegführung und Politik Hitlers. Die Stärke der For- schungsberichte liegt gerade darin, diese und andere zeitgeschichtlich relevanten Fragen aufzuwerfen und anhand divergierender Betrachtungsweisen der deut- schen, angloamerikanischen und sowjetisch-russischen Literatur gegeneinander abwägend und vorläufig zu beantworten. So werden, neben den Fragen nach Schuld und Verantwortung, zentrale Fragen nach den Ursachen (Präventivkriegsdebatte, Kap. I) und Folgen des Krieges (Teilung Deutschlands, Vertreibung, Kriegsgefan- gene, Reparationen in Kap. V) andiskutiert und bibliographisch erschlossen. Allerdings fehlt eine übergreifende Fragestellung, wenn auch der besondere Kriegscharakter die Beiträge gleichsam leitmotivisch durchzieht und verbindet. Rezensionen MGZ 61 (2002) 233

Von daher erklärt sich eine gewisse Unausgewogenheit der Forschungsberichte. So wird z.B. der Holocaust kompakt und weit über den gesetzten Rahmen des Ost- krieges hinausgehend erörtert (S. 237-261), auf die Problematik von Widerstand und Kollaboration, einschließlich Partisanentätigkeit und -bekämpfung, dagegen eher beiläufig eingegangen (S. 244 f., 320-322). Unvermeidlich stoßen die Verfas- ser bei der enormen Spannweite ihrer Themenstellung an Grenzen und bieten reich- lich Angriffsflächen für Kritik. So kann man bedauern, daß bei der Behandlung der Kriegsfolgen neuere Ansätze zu einer vergleichenden Vertreibungsforschung unter dem Blickwinkel »ethnischer Säuberungen« (hierzu programmatisch: Karl Schlögel, Norman Naimark) nicht aufgegriffen wurden. Nicht ganz schlüssig ist zudem das Lavieren zwischen kontinuierlich vorge- brachten - keinesfalls unbegründeten, aber doch plakativen - abschätzigen Be- merkungen über die »marxistisch-leninistische« Historiographie der DDR und der Sowjetunion einerseits und eingestreuten Hinweisen auf »beachtenswerte Studien«, wie die von A.S. Samsonov zur Schlacht um Stalingrad (S. 123) andererseits. Die Behauptung, daß russische Historiker vor 1989 nicht »in größerem Maße Akten aus sowjetischen Archiven« benutzen konnten (S. 81), ist nicht ganz richtig. Rus- sische Historiker hatten und haben Zugang zu sowjetischen Archivalia, wenn auch nicht uneingeschränkt. Das Kernproblem liegt aber nicht in der Verschlossenheit von Archivquellen, sondern in deren auch heute noch vorherrschenden parteilich- patriotischen Auswertung, wofür die 1999 erschienene vierbändige Gesamtdar- stellung »Der Große Vaterländische Krieg, 1941-1945« symptomatisch ist. Im Unterschied zur Wehrmacht erfährt man im vorliegenden Band trotz ein- schlägiger westlicher Literatur (John Erickson, Peter Gosztony, David Glantz, zu- letzt die Synthese von Richard Ο very, Russia's War, 1998) sehr wenig über die Ei- genarten und Strukturen der Roten Armee und Flotte (doppeltes Kommando von Militärs und Politkommissaren, Frauenbataillone, »Fremde Heere« u.a.). Die Au- toren konzentrieren ihre Aufmerksamkeit auf deutsche Feindbilder und auf die unterschätzte Kampfkraft der sowjetischen Streitkräfte. In der Konzeption eines solchen Forschungsberichts sollte aber - auch auf Kostep anderer Aspekte - eine kritische Würdigung des Gegners Platz haben. Der Gebrauchswert dieses Bandes ist dessen ungeachtet sehr hoch zu veranschlagen: für die weitere historische For- schung und auch generell für kritisch denkende Zeitgenossen, die gut informiert an öffentlichen Debatten zu Themen wie Zwangsarbeiter-Entschädigung, »Beute- kunst« oder »Wehrmachtsverbrechen« teilhaben möchten. Harald Moldenhauer

Die SS: Elite unter dem Totenkopf. 30 Lebensläufe, hrsg. von Ronald Smelser und Enrico Syring, Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh 2000, 462 S., EUR 35,80 [ISBN 3-506-78562-1]

Dieser Band stellt eine Art erweitertes »Who is Who« einflußreicher Repräsentan- ten des SS-Imperiums dar. Es handelt sich um ein von den Herausgebern bereits erprobtes Rezept (Die braune Elite, 1989, 1993,1999 und Die Militärelite des Drit- ten Reiches, 1995). Derartige Nachschlagewerke erfreuen sich immer größerer Be- liebtheit und sind notwendig, um sich im Dickicht des stets anschwellenden Fach- wissens auf dem laufenden zu halten. 234 MGZ 61 (2002) Rezensionen

Die Autoren der 30 vorliegenden Biographien werden im Anhang kurz vorge- stellt, mit zwei Ausnahmen. Es handelt sich um ein internationales und multige- nerationelles Team kompetenter Wissenschaftler. Gut die Hälfte der Beiträge sind Übersetzungen aus dem Englischen. Eine solche Anzahl von Autoren bringt zwangsläufig auch Qualitätsunterschiede fachlicher und stilistischer Art mit sich und erlaubt nur Hinweise auf einige Beiträge. Der Band wird durch die Herausgeber eingeleitet mit dem Titel: Annäherungen an die »Elite unter dem Totenkopf«, in dem die Fragen aufgeworfen werden, de- ren Beantwortung sich die in dem Werk vertretenen Wissenschafter »anzunähern« versuchen und für die sie auch einige Antworten anbieten. Von vornherein ist je- doch angedeutet, daß noch vieles offen bleibt und historische »Wahrheiten« im Wandel der Zeiten durch neue Kenntnisse und Methoden in Frage gestellt oder »revidiert« werden. Sämtliche Beiträge sind auf den letzten Forschungsstand zur Zeit der Druckle- gung gebracht und zeichnen sich durch exemplarische Quellen-und Literaturhin- weise aus. Dadurch ist es möglich, auf Paradigmenwandel in der Historiographie, wie auf immer noch bestehende Wissens- und Forschungslücken hinzuweisen. Das fällt besonders auf bei der Vita von Spitzenleuten wie Heinrich Himmler. Trotz neu- er, umfassender Biographien bleibt es unfaßbar, wie eine solch unscheinbare, blas- se und wenig attraktive Erscheinung wie die des Reichsführers SS, unzerstörbare Anhänglichkeiten und Abhängigkeitsverhältnisse schaffen konnte. Wie Hitler ihn dominierte, dominierte er den gesamten SS-Apparat (Johannes Tuchel). Dies wurde nicht nur durch den totalitären NS-Staat möglich, sondern auch durch die Verin- nerlichung »preußischer« Gehorsams- und Pflichtmentalitäten während ganzer Ge- nerationen. Ein geradezu exemplarisches Beispiel für die persönliche Macht von Himmler, die es ihm erlaubte, ideologische Bedenken seitens »alter Kämpfer« zu ignorieren, ist der Fall des Gestapochefs Heinrich Müller, eines fanatischen Büro- kraten, verantwortlich für eine Unzahl von Verbrechen. Er verkörperte geradezu das »Paradigma für die personelle Verschmelzung von Polizei und SS« (Andreas Seeger). Eine Methode, um eine Erklärung für die von ganz »normalen« Menschen be- gangenen Verbrechen zu finden, wird in dem Essay über den Auschwitzkom- mandanten Rudolf Höss angeführt (Gunnar Boehnert). Es handelt sich um das Lern- experiment des amerikanischen Sozialpsychologen Stanley Milgram, in dem es so- wohl um sözialkonformeg Verhalten wie um den überragenden Einfluß überge- ordneter institutionaler Strukturen und Persönlichkeiten ging, nämlich um »die Fähigkeit des Menschen, seine Menschlichkeit abzustreifen«. Milgrams Resultate nahmen die heute von einigen Gehirnforschern vertretene These voraus, daß es keinen freien Willen gibt. Unter gewissen Umständen könnte demnach jeder »nor- male« Mensch, ohne fanatisch oder abnorm zu sein, Unmenschliches begehen. Die Lektüre der 30 Lebensläufe läßt die Vermutung zu, daß viele in den Mahl- strom des Verbrechens mitgerissene Täter unter anderen Zeit- und Lebensum- ständen nie kriminelle Akte begangen hätten. Hingegen gab es aber auch Spit- zenvertreter des »schwarzen Ordens«, Soldaten mit Leib und Seele, wie Wilhelm Bittrich (Horst Mühleisen), die in keine Verbrechen verstrickt waren. In diese Kate- gorie könnte man auch Paul Hausser einreihen, der als erster SS-General den Ober- befehl über eine ganze Armee erhielt. Nach dem Krieg wirkte er bei der »Historical Division« mit, in der deutsche Militärs im Auftrage der Amerikaner Studien zu ei- ner Geschichte des Zweiten Weltkrieges aus deutscher Sicht erarbeiteten (Enrico Syring). Für sehr viele bot die SS vor allem den besten Weg, um Karriere zu machen. Rezensionen MGZ 61 (2002) 235

Zu ihnen muß man Gunter d'Alquen zählen, ein Multitalent, »dem Durchschnitt der SS hinsichtlich Intellekt und Begabung haushoch überlegen«, der überall ein Aufsteiger gewesen wäre (Werner Augustinovic und Martin Moll). Er wirkte zuerst als Chefpropagandist der SS, schuf die Zeitschrift »Das Schwarze Korps« und spä- ter die SS-Kriegsberichterkompanie. D'Alquen war nicht der einzige, der eigene Vorstellungen vom Ideal eines nationalsozialistischen Staates hegte. Zu ihnen gehört auch Werner Best, der Hitler vorwarf, nicht völkisch eingestellt zu sein und der daher den Nationalsozialismus in die Katastrophe führen werde (Fritz Petrick). Als Reichsbevollmächtigter in Dänemark trug er zur Rettung dänischer Juden bei, ob- wohl er es war, der zuvor die Initiative zur Lösung der »Judenfrage« in Dänemark ergriffen hatte. Seine Version der Geschehnisse hat in der Nachkriegszeit viele Hi- storiker beeinflußt. Auch Otto Ohlendorf war ein »Gralshüter des Nationalsozia- lismus« (David Kittertrum), zuständig für die Meinungsforschung im »Dritten Reich«. Als Chef der Einsatzgruppe D liquidierte er mindestens 90 000 Menschen in Ruß- land. Sein Ankläger in Nürnberg charakterisierte ihn als einen »intellektuellen Mör- der«. Diese Bezeichnung trifft weit mehr auf Reinhard Heydrich zu, in Hitlers Au- gen der »ideale Nationalsozialist« (Charles Sydnor). Sein Nachfolger, Ernst Kalten- brunner, war der »Prototyp jener SS- und Polizeigesellschaft, die seine Vorgesetz- ten, Himmler und Heydrich, aus einer >Kriegsjugendgeneration< schmieden wollte« (Peter Black). Er entstammte derselben Gegend wie Hitler und hatte, wie dieser, trotz anderer Herkommens- und Zeitverhältnisse, eliminatorischen Antisemitis- mus und großdeutsche Visionen zu seinem Credo gemacht. Es verdienten noch viele der anderen Essays über SS-Größen der Erwähnung. Sie bringen bisher wenig bekannte Einzelheiten und vervollständigen das Bild der SS-Repressions- und Mordmaschine. Insgesamt kristallisieren sich aus den vorliegenden SS-Lebensläufen drei Ar- chetypen heraus: der Ideologe, der jedes Verbrechen im Namen der reinen Lehre gutheißt; der Karrierist und Opportunist, der sich bedingungslos anpaßt; und schließlich verschiedene Varianten von Kämpfernaturen, vom Landsknecht bis zum hochgradigen Militärfachmann. Der insgesamt positiv zu bewertende Band weist jedoch ein schwerwiegendes Versäumnis auf: er enthält kein Register, das unerläßliche Verbindungen zwischen den verschiedenen Beiträgen und Hinweise auf viele andere erwähnte Persön- lichkeiten ermöglichen würde. Marlis Steinert

Rüdiger Overmans, Deutsche militärische Verluste im Zweiten Weltkrieg, München: Oldenbourg 2000, IX, 367 S. (= Beiträge zur Militärgeschichte, 46), EUR 29,80 [ISBN 3-486-56531-1]

Viele von Overmans im letzten Jahrzehnt publizierte Artikel zu verschiedenen Aspekten der Problematik Menschen Verluste im Zweiten Weltkrieg weckten durch fundierte Quellenkenntnis und -kritik sowie ein akribisches Vordringen zu Details die Erwartung der Fachwelt und der interessierten Leser nach einer seit langem fehlenden Gesamtdarstellung. Die nimmehr vorliegende Monographie beantwor- tet die meisten Fragen nach den deutschen militärischen Verlusten, dokumentiert zuverlässige Zahlenangaben und analysiert die Daten. 236 MGZ 61 (2002) Rezensionen

Ausführlich schildert der Autor die Methoden und Möglichkeiten, dem Leser beweis- und überprüfbare Fakten darzubieten. Dabei dokumentiert er die Quel- len für die Datenbasis des Werks: Das Meldewesen der Wehrmacht bis zum Mai 1945, die bis 1990 in der BRD und der DDR vorhandenen Archive, Behörden und Organisationen und die heute noch bestehenden Institutionen. Quellenkritisch wird dargelegt, was die gesammelten Dokumente belegen und was sie nicht bele- gen können. Dabei werden die Möglichkeiten der staatlichen Archive und Doku- mentationsstellen, wie zum Beispiel die einen zentralen Platz für das Thema ein- nehmende Wehrmachtsauskunftsstelle (WASt) ebenso wie die Suchdienste des Ro- ten Kreuzes, der Kirchen, Erfassungsstellen von Umsiedlern und Heimkehrern aus der Kriegsgefangenschaft usw. behandelt. Overmans Untersuchungsmethoden schließen demographische und soziologische Fragestellungen ein, wie die regionale Herkunft, das Alter, die Kriegsschauplätze und den Zeitpunkt des Todes der deut- schen Opfer. Zuverlässig belegt sind die Totenzahlen der Wehrmacht und der Waf- fen-SS. Die Verluste der Polizei, der Organisation Todt und anderer deutscher Ver- bände sind, soweit möglich, berücksichtigt. Bei den Opferzahlen von Hilfspolizei und anderen Organisationen aus Ortsansässigen in den okkupierten Ländern im Dienste der Wehrmacht räumt Overmans ein, daß Angaben dazu in den Akten- beständen »allenfalls spurenhaft und unvollständig nachweisbar« sind (S. 49). Auf etwa 100 Seiten werden die Untersuchungsergebnisse dargestellt und in 75, oft mehrfach gegliederten Tabellen zahlenmäßig veranschaulicht und kritisch bewertet. Noch vor einem Jahrzehnt schwankten in der Literatur die Angaben über die Anzahl der militärischen Verluste zwischen drei und sieben Millionen. Die in vorliegendem Buch genannten 5 318 000 Todesfälle (S. 228) sind durch verschie- dene Berechnungsmethoden überprüft und dürften mit belegten 4 926 000 Toten der Wehrmacht und 492 000 der Waffen-SS, des Volkssturms, der Polizei und son- stiger Organisationen den Tatsachen sehr nahe kommen. Detaillierte Statistiken über das Verhältnis von Eingezogenen und Gefallenen, deren Alter, ihre Her- kunftsregionen, ihr Todeszeitpunkt (einschließlich der in der Kriegsgefangenschaft Gestorbenen) sind wichtige Hilfsmittel für Analysen des Kriegsgeschehens. Die Tabelle »Tote nach Kriegsschauplätzen« (S. 336) verdeutlicht jedoch ein Dilemma, das Ende 1944 einsetzt. Während bis dahin die verschiedenen Kriegsschauplätze getrennt dokumentiert wurden, taucht nun der Begriff »Endkämpfe« auf. Die Be- rechnung der Gefallenen in den Schlachten im Osten und Südosten Europas ge- gen die Sowjetarmee und im westlichen Deutschland bis Sachsen und Thüringen gegen die Truppen der USA, Großbritanniens und ihrer Verbündeten erfolgt nicht mehr differenziert. Der Verfasser begründet das mit den angesichts der nahen deut- schen Niederlage einsetzenden Auflösungserscheinungen, die auch zur Folge hat- ten, daß die Meldungen der Truppenteile und die Statistik unzuverlässiger wurden. Da nach der Tabelle auf die Endkämpfe 1,23 Millionen, d.h. 23,1 Prozent aller deut- schen Kriegstoten entfallen (S. 265) ergäbe sich für den gesamten Krieg bei diffe- renzierten Angaben für das Jahr 1945 wahrscheinlich ein noch höherer Anteil der an der Ostfront Gefallenen, der von Overmans mit 51,6 Prozent gegenüber 6,4 Pro- zent im Westen angegeben wird. Ausdrücklich wird auf Vergleiche mit den Opferzahlen der Truppen der Staa- ten verzichtet, die von der Wehrmacht angegriffen wurden und am militärischen Kampf beteiligt waren. Hinweise im Text und in den Anmerkungen ermöglichen es jedoch, derartige Bilanzen aufzustellen. Schwierig bleibt es für den deutschen Le- ser, die beiderseitigen Verluste an der deutsch-sowjetische Front zu vergleichen, Rezensionen MGZ 61 (2002) 237 da Stalin und seine Führungsmannschaft schon während des Krieges die enormen Verlustzahlen aus politischen Gründen, aber auch aus dem Unvermögen und der fehlenden selbstkritischen Bereitschaft, diese dem eigenen Volk gegenüber plausi- bel zu begründen, stark verminderten und somit verfälschten. Das trifft auch auf die unter Stalins Nachfolgern erfolgte willkürliche Erhöhung der Opferangaben auf etwa das Dreifache zu. Erst ein 1993 veröffentlichter »Statistischer For- schungsbericht« (Grif sekretnosti snjat, hrsg. von G.F. Krivoseev), auf den Over- mans verweist, bietet Grundlagen für eine Gegenüberstellung der Verluste von Ar- meeangehörigen an der deutsch-sowjetischen Front. Fragezeichen bleiben jedoch, wenn es um Angaben über die Opfer unter Partisanen, Zivilisten im okkupierten Gebiet, »Hilfswillige«, Zwangsarbeiter usw. geht. Anzumerken ist, daß gegenüber der ausführlichen Darstellung der Todesfälle von Wehrmachtangehörigen in der Gefangenschaft Untersuchungen zu den in der Tabelle 73 d (S. 335) erwähnten 25 000 Selbstmorden und 11 000 Todesurteilen, ein- schließlich der Opfer des Terrors nach dem 20. Juli 1944, fehlen. Angesichts der Materialfülle und Aussagekraft der in vorliegendem Buch publizierten, sicher für lange Zeit gültigen Forschungsergebnisse wäre für zukünftige Auflagen ein er- gänzender Abschnitt über diese, angesichts der jahrzehntelangen Auseinander- setzungen um die Verantwortung der Wehrmacht für Verbrechen und über den Widerstand in der Wehrmacht, äußerst sensiblen Themenkomplexe wünschens- wert. Gerhart Hass

Saul Κ. Padover, Lügendetektor. Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45. Aus dem Amerik. von Matthias Fienbork, München: Econ 2001, 336 S., EUR 8,95 [ISBN 3-548-75006-0]

Was dachte und fühlte die deutsche Bevölkerung angesichts der Niederlage im Zweiten Weltkrieg? Welche Kenntnisse besaß sie von den Verbrechen an Kriegs- gefangenen und vom Holocaust? Wie stand sie zu ihrem »Führer« Adolf Hitler, der den Krieg angezettelt hatte, dessen Folgen sie nun am eigenen Leib zu spüren bekam? Zugespitzt: Herrschte ein Gefühl der Niederlage oder der Befreiung? Zur Beantwortung dieser Fragen konnte man lange nur auf Memoiren zurück- greifen. Nunmehr liegt auch dem deutschen Publikum der faszinierende Band von Saul Κ. Padover vor. Padover wurde in Wien geboren und emigrierte 1920 in die USA. Als amerikanischer Offizier der neu errichteten Abteilung für psychologische Krieg- führung (PWD), lautete sein Auftrag, durch Interviews mit Vertretern aller sozialen Gruppen die Stimmung in der deutschen Bevölkerung (Arbeiter, Unternehmer, Mon- archisten, Kirchenmänner, Soldaten etc.) und deren Einstellung zu den Alliierten herauszufinden sowie die Chancen für einen demokratischen Neuanfang zu son- dieren. Im vorliegenden Band schildert Padover seine Erlebnisse und Gefühle und präsentiert zahlreiche Gesprächsprotokolle und Auszüge aus seinen Berichten. Zusammen mit der vorrückenden 1. US-Armee kam Padover 1944 zunächst ins Rheinland, das ihm für sein Anliegen besonders geeignet erschien, da ihm die ka- tholische Bevölkerung als überwiegende »Anti-Nazis« beschrieben wurde. Doch schnell erkannte der gelernte Historiker, wie pauschal und auch falsch diese-Ein- 238 MGZ 61 (2002) Rezensionen

Schätzung war: Statt Aufbruchstimmung, reflektiertem Nachdenken oder Reue über begangene Untaten herrschten bei seinen Gesprächspartner Autoritätsgläubigkeit, »Kadavergehorsam«, Gleichgültigkeit, Ignoranz und vor allem Selbstmitleid vor. Viele der Interviewten sahen sich selbst als Opfer - des Krieges, der Alliierten, des Regimes - an, fluchten auf Hitler, auch wenn sie ihn lange selbst unterstützt hat- ten. Alle waren plötzlich »Antinazis«, von Greueltaten an Kriegsgefangenen, Juden oder anderen Minderheiten wollte kaum einer etwas gehört und schon gar nichts gesehen haben. Trotzdem zeigte sich nach Berichten des PWD gegenüber den Juden »ein eigentümliches Schuldgefühl« und vor den Russen fürchteten sich fast alle, vor allem aus Furcht vor Rache wegen der im Ostfeldzug begangenen Verbrechen. Alles Schlechte wurde dem Regime angelastet, auf das man ohnehin keinen Ein- fluß nehmen konnte und nur unter Zwang und Gruppendruck »mitgemacht« hat- te. Padover nennt diese Mitläufer treffenderweise »Mußnazis«. Viele waren noch stark in der NS-Propaganda und ihrem alten Denken verhaftet, wie eine Grund- schullehrerin, die sich als unpolitisch verstand, aber freudestrahlend darüber be- richtete, daß sie ihren Schülern immer Geschichten aus dem Leben des »Führers« erzählt habe. Andere wiederum beriefen sich auf Befehle, die sie auszuführen hat- ten und deren Richtigkeit sie nie anzweifelten. So kam Padover zu dem Schluß, »daß-die Todesfabriken nicht deswegen möglich waren, weil Hitler ihre Errichtung befohlen hatte, sondern weil die Wagemanns [Bürgermeister von Kornelimünster] den Befehl nicht in Frage gestellt hatten.« (S. 23) Während in den Interviews kaum rassistische oder antisemitische Töne zu hören waren, war ein starker Antibol- schewismus noch immer stark zu spüren. Kritik am aggressiven Angriffskrieg Deutschlands bekam der amerikanische Offizier nie zu hören, in der Regel statt des- sen ein Bedauern über die sich abzeichnende totale Kapitulation. Padover hoffte vor allem auf ehemalige Sozialdemokraten und Kommunisten als Grundlage für einen zukünftigen demokratischen Staat in Deutschland. Doch er mußte wiederholt feststellen, daß von den interviewten Arbeitern keiner an Wi- derstand oder gar Sabotage gedacht hatte, obwohl sie den »Nazi-Bonzen« sehr feindselig gegenüberstanden. Einzig die sehr begrenzten Aktionen der Edel- weißpiraten konnte er als eine Form des Widerstandes feststellen. Seine erfolglo- se Suche nach überzeugten Regimegegnern ließ Padover langsam verzweifeln. Er beschreibt nur zwei Menschen mit Bewunderung, einer davon war der ehemalige kommunistische Abgeordnete Georg Thesen. Diese und andere Erlebnisse führ- ten den amerikanischen Soldaten immer mehr zu einer Verachtung gegenüber der deutschen Bevölkerung, der es materiell sogar besser zu gehen schien als bei- spielsweise der englischen, von den befreiten Zwangsarbeitern ganz zu schwei- gen. Diesen und den Kriegsgefangenen brachte Padover am meisten Sympathien entgegen, vielleicht auch weil sich bei ihnen die Frage nach Schuld und Verant- wortung nicht stellte. Anschaulich tritt im vorliegenden Band auch die Problematik für die Alliier- ten zutage, fähige Leute für die Verwaltung der befreiten Städte zu finden. Aus Mangel an ausgebildeten Fachkräften wurde häufig auf ehemalige Nazifunktionäre zurückgegriffen, wenn sie sich nicht zu sehr in Verbrechen verstrickt hatten. Für die amerikanische Militärverwaltung spielte im Gegensatz zu anderen Stellen die Mo- ral oder auch demokratisches Bewußtsein nur eine sekundäre Rolle, wichtiger wa- ren berufliche Erfahrung und eine einigermaßen funktionierende Bürokratie. Als Paradebeispiel wird Aachen geschildert, wo nationalkonservative Kreise mit Hilfe des mächtigen Bischofs (»Die Kirche wollte keine Märtyrer«) wieder in Rezensionen MGZ 61 (2002) 239

Schlüsselpositionen aufsteigen konnten, egal, welche Rolle sie (v.a. in der Wirt- schaft) des Dritten Reiches gespielt hatten. Einen starken Eindruck hinterließ bei Padover - wie bei vielen amerikanischen Soldaten - der Besuch des Konzentrationslagers Buchenwald, gerade im Kontrast zur gleichgültigen Normalität des deutschen Alltags: »In diesem Moment wußte ich, daß ich von Deutschland genug hatte.« (S. 326) Eine sachliche, analytische Sichtweise und damit die Erfüllung seines Auftrages war für ihn nach diesen Er- lebnissen nicht mehr möglich. Folgerichtig kehrte er nach Kriegsende in die USA zurück, wo er später an der New School for Social Research (New York) lehrte und schließlich 1981 im Alter von 76 Jahren verstarb. Padovers Buch entlarvt in vorzüglicher Weise den Mythos vom unwissenden Deutschen, der von Verbrechen des Nationalsozialismus keine Kenntnis besaß, als Lüge. Dies ist an sich keine neue Erkenntnis, doch die Art und Weise ist zugleich beeindruckend und bedrückend. Der Leser kann sehr gut erkennen, wie schon früh Verdrängungsstrategien dazu benutzt wurden, sich nicht mit der eigenen Rolle in- nerhalb des verbrecherischen Staates auseinanderzusetzen. Padovers Berichte und Interviews zeigen teilweise eine naive Offenheit der Deutschen gegenüber den neuen Machthabern. Anscheinend war man froh, daß es jemanden gab, der zuhör- te und sich für die eigenen Gefühle und Gedanken interessierte. Dabei zeigte Pa- dover offen seine Meinung, forschte nach Zusammenhängen, fragte nach Begrün- dungen, doch fast immer mußte er feststellen, daß keiner seiner Interviewpartner irgendwelche Lehren aus der zurückliegenden Zeit gezogen hatte. Gleichwohl hat die Darstellung auch Schwächen, denn in vielen Urteilen of- fenbart Padover die beschränkte Sichtweise des am Geschehen unmittelbar Betei- ligten. Auch wenn seine Analysen und Berichte angesichts der Borniertheit und des Opportunismus oft bemerkenswert sachlich sind, so pauschalisierend und oberflächlich sind sie teilweise, was sich auch durch den relativ schmalen und durch die Kriegseinflüsse beeinflußten Blickwinkel erklären läßt. Es verwundert den heutigen Leser nämlich nicht, daß die Amerikaner kaum auf Menschen im Widerstand trafen, denn die waren zu diesem Zeitpunkt entwe- der bereits umgebracht worden oder saßen noch in den Lagern ein. Das gleiche gilt für diejenigen, die ins sichere Exil haben fliehen können. So berücksichtigt Pa- dover entscheidende Gruppen nicht, wenn er über den deutschen »Nationalcha- rakter« und die Chancen für einen demokratischen Neuanfang reflektiert. Ohnehin ist der »Nationalcharakter« eine historisch und soziologisch fragwürdige Katego- rie, da sie allzu deterministisch ist und damit für das einzelne Individuum als Ent- schuldigung herangezogen werden kann. Viele Eindrücke sind auch der elementaren Gefahr geschuldet, der sich Pado^· ver an einzelnen Frontabschnitten aussetzte, sowie der Ungewißheit gegenüber dem sich noch weiter verteidigendem Feind. Auch sein Wandel im Urteil nach dem Besuch von Buchenwald dürfte verständlicherweise durch das unmittelbare Er- lebnis zu erklären sein. Außerdem darf man nicht vergessen, daß es sich nicht um die wissenschaftliche Arbeit eines Historikers handelt, sondern um einen Auftrag für das Militär, das schnelle Ergebnisse von den Mitarbeitern des PWD verlangte. Dennoch zeigt sich auch bei Berücksichtigung dieser Mängel der Untersuchung ein beschämendes und bedrückendes Bild über die Einstellung der Deutschen in der sogenannten »Stunde Null«, einem weiteren Mythos, mit dem dieses Buch end- gültig aufräumt. Bemerkenswerterweise wurden die Aufzeichnungen, die bereits 1946 veröffentlicht wurden, erst 1999 ins Deutsche übersetzt. Mit der nun vor lie- 240 MGZ 61 (2002) Rezensionen

genden Taschenbuchausgabe liegt jetzt auch eine preisgünstige Ausgabe vor, die sich jeder an Zeitgeschichte interessierte Leser leisten kann. Alexander Neumann

Nachkriegspolizei. Sicherheit und Ordnung in Ost- und Westdeutschland 1945-1969, hrsg. von Gerhard Fürmetz [u.a.], Hamburg: Ergebnisse Verl. 2001,358 S. (= Forum Zeitgeschichte, 10), EUR 29,- [ISBN 3-87916-058-9]

Langsam etabliert sich neben der Militärgeschichte eine eigenständige Disziplin »Polizeigeschichte«. Dabei hat auclrdiese eine Wandlung weg von der reinen Or- ganisationsgeschichte hin zu einer verschiedene Methoden vereinenden Disziplin erfahren. Der zu besprechende Band vereint aktuelle Forschungsergebnisse von Mitgliedern des »Polizeigeschichtlichen Arbeitskreises« und bietet in zwölf Ein- zelstudien einen Einblick in die Vielzahl von Fragestellungen, welche die moder- ne PolLzeigeschichte erörtert. Am Beispiel der Entwicklung der deutschen Polizei- en nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der Zeit von 1945 bis 1969 werden in zwei großen Themenblöcken der »Institutionelle und personelle Wandel der Po- lizei« sowie verschiedene »Aspekte der Polizeiarbeit« untersucht. Die Beiträge im ersten Teil des Bandes tragen dem oben dargestellten Begriff ei- ner modernen Polizeigeschichte Rechnung und beschreiben, wie unter alliierter Auf- sicht nach dem Krieg die deutschen Polizeien organisiert wurden. Der Beitrag von Jeffrey S. Richter über die »Entpolizeilichung der öffentlichen Ordnung« (S. 35-50) führt den Leser anhand des Beispiels der Reform der Verwaltungspolizei in der bri- tischen Besatzungszone in den Jahren 1945 bis 1955 in ein grundsätzliches, viele Beiträge des Bandes vereinendes Problem ein: Die grundlegend verschiedene Tra- dition der Organisation von Sicherheit und Ordnung in Deutschland und den an- gelsächsischen Staaten. Die britische Besatzungsmacht wollte die Tätigkeit der Poli- zei auf das Aufgabenfeld der »Sicherheit« beschränken und verfolgte das Ziel, vor- malige Aufgaben der Verwaltungspolizei den zivilen Verwaltungen zu übertragen, was in Folge zur Etablierung der Ordnungsämter führte. Diese »Entpolizeilichung« verlief bei den kommunalen Polizeien und insbesondere bei den Oberhäuptern der Kommunen nicht ohne Widerstände, da man dort fürchtete, Einflußmöglichkeiten zu verlieren: Das britische Modell kontrastiert mit dem althergebrach ten preußischen der Jah- re vor 1933, welches in Sachsen unter sowjetischer Aufsicht erneuert wurde. Gleichzeitig erfolgte ein nahezu vollständiger Austausch des Personals, wie Herbert Reinke in seinem Beitrag über »Die Anfänge der in den säch- sischen Großstädten und Dresden 1945-1947« (S. 51-70) aufzeigt. Dabei verweist er darauf, daß der Personalaustausch mit anschließender hoher Fluktua- tionsrate einherging mit der klassischen Polizeiarbeit unter den besonderen Be- dingungen der unmittelbaren Nachkriegszeit und der Durchsetzung der neuen politischen Machtverhältnisse in der SBZ. Diese letztgenannte zentrale Aufgabe der Polizei und ihres Führungspersonals in Abhängigkeit von der sowjetischen Besatzungsmacht hätte der Autor deutlicher herausarbeiten sollen. So war der von Reinke genannte Chef der sächsischen Polizei, Artur Hofmann (S. 56), seit 1949 In- nenminister von Sachsen und ab 1953 hauptamtlicher Offizier im Ministerium für Staatssicherheit; die »Initiativgruppen des (Exil-)Zentralkomitees der KPD« (S. 53) Rezensionen MGZ 61 (2002) 241

waren Hilfsorgane der Politischen Hauptverwaltung der Roten Armee und wur- den ausschließlich von dieser geführt. Auch terminologisch fehlt diesem Beitrag die erforderliche Sorgfalt. So gab es in der SBZ/DDR keine Beamten (S. 67) und daß viele Dresdner Polizisten 1945 den Dienst quittierten, »um einen besseren Job an- zunehmen« (S. 59), mag stimmen, doch erscheint der Begriff »Job« für das Dienst- verhältnis der Polizisten in der sowjetischen Besatzungszone wenig zutreffend. Wenn deren berufliches Selbstverständnis damit beschrieben werden soll, so wä- re dies ein interessanter und wohl auch zu belegender Aspekt, den der Autor dann aber nicht so lapidar abhandeln dürfte. Zwei weitere Beiträge dieses Abschnitts widmen sich der Personalpolitik in der britischen Besatzungszone. Frank Liebert beschreibt am Beispiel Niedersachsens (S. 71-104) und Stephan Linck für Schleswig-Holstein (S. 105-128) alliierte Entnazi- fizierungsbemühungen und personelle Kontinuitäten in den Polizeibehörden vor und nach Kriegsende. Die Reaktionen der bundesdeutschen Politik und Gesell- schaft auf die Weiterverwendung NS-belasteter Polizisten beschreibt Patrick Wag- ner anhand der Affäre um das Bundesamt für Verfassungsschutz von 1963/64 (S. 169-198). Dieser Beitrag fällt insofern etwas aus dem Rahmen, als er nicht un- tersucht, wie durch ihre NS-Vergangenheit belastete Beamte nach dem Krieg im bundesdeutschen Geheimdienst wieder Verwendung fanden, sondern vielmehr beschreibt, wie die westdeutsche Gesellschaft in den 60er Jahren reagierte, als durch Presseveröffentlichungen bekannt wurde, wer da für Sicherheit sorgen sollte. Sach- kundig beschreibt Wagner die Affäre im Dreieck von divergierenden Berufsinter- essen von ehemaligen Gestapo- und jungen Nachkriegsbeamten, alliierten und bundesdeutschen Sicherheitsbedürfnissen und der sich erst entwickelnden demo- kratisch-liberalen westdeutschen Öffentlichkeit. Zwei Beiträge des ersten Teils sind insofern besonders interessant, als sie der vom Herausgeber hervorgehobenen Besonderheit der deutschen »doppelten Polizei- geschichte« (S. 7) entsprechen. Die Untersuchungen von Ursula Nienhaus über die »Weibliche Polizei in Berlin 1945-1952« (S. 129-154) und Richard Bess el über die »Volkspolizistinnen in der SBZ und frühen DDR 1945-1952« bieten die Möglich- keit eines vergleichenden Blicks auf polizeiliche Strukturen in den beiden Teilen Deutschlands am Beispiel der Beschäftigung von Frauen. In beiden Polizeien bemühte man sich nach dem Krieg, Frauen für den Polizeidienst zu gewinnen. Zwar waren die Motive unterschiedlich - die Westalliierten wollten ihre eigenen polizeilichen Traditionen exportieren, in der SBZ/DDR hingegen waren die kriegs- bedingten demographischen Verwerfungen der ausschlaggebende Grund - doch im Ergebnis scheiterten hüben wie drüben die Pläne, Frauen gleichberechtigt Zu- gang zum Polizeivollzugsdienst zu verschaffen an der ablehnenden Haltung ih- rer männlichen Kollegen. Die Aufsätze des zweiten Teils des Bandes widmen sich der Frage, wie die Po- lizeien im Nachkriegsdeutschland praktisch arbeiteten. Dabei spiegelt auch die Be- schreibung der handwerklichen Polizeiarbeit wichtige gesellschaftliche Umbrüche wider, wie der Beitrag von Gerhard Fürmetz über »Polizei und Verkehrsdisziplin in Bayern zwischen Kriegsende und beginnender Massenmotorisierung« (S. 199-228) zeigt. Der Beitrag von Thomas Lindenberger über »Die Volkspolizei und ihre enge Ver- bindung zur Bevölkerung 1952-1965« (S. 229-254) ist der einzige, welcher hier die ostdeutsche Polizeiarbeit behandelt. Doch mit Lindenberger ist für die Geschich- te der DDR-Polizei ein versierter Fachmann gewonnen worden, und so ist denn sein Beitrag über das System der »Freiwilligen Helfer der Volkspolizei« auf Grund- 242 MGZ 61 (2002) Rezensionen

läge fundierter Quellenkenntnisse souverän geschrieben und bisweilen sogar amü- sant zu lesen, wenn er aus Interviews mit ehemaligen »Abschnittsbevollmächtig- ten« (S. 252) zitiert. Hier beschreibt er eine neue Qualität der Arbeit der Volkspo- lizei, die trotz ihres autoritären und auf Geheimhaltung bedachten Auftretens mit völlig neuen Methoden öffentlich präsent war und die Gesellschaft in ihre Tätig- keit miteinbezog. Tobias Mulots Beitrag über »Erzieher in Uniform« (S. 255-275) weicht insofern etwas von den übrigen Aufsätzen ab, als sein Betrachtungszeitraum in das Jahr 1939 zurückreicht und so aufzeigt, wie bei gleicher Rechtsgrundlage sich polizei- liches Handeln und Selbstverständnis vor und nach 1945 unterschieden. Auch hier wird wieder der Begriff der »Entpolizeilichung« thematisiert, diesmal allerdings we- niger, um die Trennung von polizeilichem Handeln von Verwaltungsaufgaben zu beschreiben, als die grundlegende Frage des Auftrags der Polizei in der neuen Ge- sellschaft zu problematisieren. Diese stellte nämlich an die Polizei die Forderung nach maximaler Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit bei gleichzeitiger (von den Alliierten dekreditierter) weitestgehender Beschränkung der polizeilichen Kömpetenzen. Ein Konflikt sowohl für die Polizei wie für die Gesellschaft, der ab- hängig von der tagespolitischen Diskussion laufend neu entschieden wird. Die letzten beiden Beiträge spiegeln die bundesdeutschen innenpolitischen Auseinandersetzungen der 50er und 60er Jahre wider. Thomas Grotum untersucht »Polizei und >Halbstarken<-Krawalle in Niedersachsen 1956-1959« (S. 277-302) und Klaus Weinhauer »Studentenproteste und die Krise der westdeutschen Schutz- polizei in der sechziger Jahren« (S. 303-325). Insgesamt fehlt dem Band eine übergreifende Fragestellung, der Titel ist eher als kleinster gemeinsamer Nenner, denn als wirklicher thematischer Rahmen zu sehen. Die Einleitung beschreibt sehr gerafft die Entwicklung der Polizeigeschichte als geschichtswissenschaftliche Disziplin und deren doppelten deutschen Unter- suchungsgegenstand bis in die Gegenwart. Doch leider ist diese Darstellung we- nig sorgfältig und läßt im Detail vieles offen. Die im Band so häufig und sachkun- dig thematisierte Unterscheidung von Verwaltungs- und Polizeibehörden wird hier leider nicht aufgegriffen und der im Titel suggerierte komperative Anspruch des Bandes wird leider nur von wenigen Beiträgen erfüllt, einzig die Untersu- chungen über Frauen in den Polizeien hüben wie drüben werden diesem Anspruch gerecht. Dabei hätten die Herausgeber mit wenig mehr Aufwand diesem Bedürf- nis des Lesers entsprechen können, z.B. indem man die Personalstärken beider Po- lizeien nicht nur absolut darstellt, sondern relativiert und auf die Gesamtzahl der Bevölkerung bezieht, so wie es für die Bundesrepublik auch dargestellt wird (S. 15). Doch der Band soll kein Handbuch sein, sondern verschiedene Beiträge zur Po lizeigeschichte in Ost- und Westdeutschland vereinen. Und so ist er - ungeachtet aller Einschränkungen - eine spannende Lektüre durch die Fülle der Themen und insbesondere der Fragestellungen und läßt hoffen, daß es der Polizeigeschichte ge- lingt, aus ihrem »Schattendasein« herauszutreten (S. 23). Clemens Heitmann Rezensionen MGZ 61 (2002) 243

Martin Sabrow, Das Diktat des Konsenses. Geschichtswissenschaft in der DDR 1949-1969, München: Oldenbourg 2001,488 S. (= Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, 8), EUR 44,80 [ISBN 3-486-56559-1]

Den Rahmen der vorliegenden Studie, der Druckfassung einer Berliner Habilita- tionsschrift aus dem Jahre 2000, bildet entgegen bisherigen Forschungstrends nicht so sehr der »Ausnahmecharakter« der Historiographie im SED-Staat, sondern de- ren »verblüffende Normalität« (S. 11). Es sei geradezu frappierend, daß es dem Re- gime - wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten und Widerstände - im Laufe der er- sten zwei Jahrzehnte seiner Existenz gelang, eine marxistisch-leninistischen Dis- kursregeln verpflichtete, zweite deutsche Geschichtswissenschaft zu etablieren, die sich im großen und ganzen gegen die Herausforderungen der westlichen »Ge- genwissenschaft« ebenso behaupten konnte wie gegen Anfechtungen, welche aus den Quellen mit ihrem - hier freilich außer Kraft gesetzten - Vetorecht hervorzu- gehen drohten. Sabrow geht es nicht um eine traditionelle Institutionen- und Fächergeschich- te, weshalb man über die Repräsentanz der Historie an Universitäten und Akade- mien nur beiläufig informiert wird. Im Zentrum steht demgegenüber die Ausbil- dung oder besser gesagt Durchsetzung von Interpretationsmaßstäben, Themen- wahl, Gewichtung und methodischen Prinzipien, die in jeder Hinsicht mit den 1945 vorgefundenen, seit vielen Jahrzehnten entwickelten historiographischen Standards brachen. Anders gewendet gilt das Interesse des Autors weniger dem schon unzählige Male erbrachten Nachweis jener Pressionen, mit denen die Staats- führung in der Ära Ulbricht ihre ideologischen Vorgaben gegen Zweifler und Kri- tiker durchboxte. Viel wichtiger als permanenter Druck von oben seien nämlich die innerhalb des Faches nach einer anfänglichen Phase äußerer Eingriffe etablier- ten Diskursregeln gewesen, die sich verselbständigt und zumindest für die zwei- te und dritte Generation von DDR-Historikern zu einer Normalität eigener Art avanciert seien, so daß nicht mehr das Politbüro und seine Organe, sondern die Wissenschaft selbst die erwünschte Linientreue herstellte. Am Ende dieses Pro- zesses, den Sabrow im wesentlichen auf die ersten zwei Dezennien der Existenz der DDR, den gewählten Untersuchungszeitraum, datiert, hatten sich alle fallweise noch gehegten Illusionen über ein quasi objektives, von politischen Rahmenbe- dingungen unabhängiges Wissenschaftsverständnis in Ost und West als Chimäre erwiesen. Um diese These zu veranschaulichen, wählt der Verfasser einen multiperspek- tivischen Zugang über höchst unterschiedliche Themenfelder, die als Fallbeispie- le zu charakterisieren entschieden zu kurz griffe. Es geht ihm sowohl um institu- tionelle Entwicklungen wie den Aufbau (und die Ausrichtung) zentraler For- schungsstätten, die Abfassung von Standardwerken vor allem zur neueren deut- schen Geschichte mit dem erklärten Ziel der Kanalisierung der Bandbreite denkbarer Deutungen, die Ende der 50er Jahre massiv vorangetriebene und bald nach dem Mauerbau 1961 weitgehend abgeschlossene Abschottung von der bundesdeut- schen Konkurrenzhistoriographie sowie last but not least die Behandlung jener Rebellen aus den eigenen Reihen, die als SED-Mitglieder von innen heraus Kritik an dogmatischen Vorgaben äußerten. Hinsichtlich der Auswahl dieser Exempla fällt lediglich auf, daß Sabrow personellen Weichenstellungen, also der general- stabsmäßig geplanten Ausbildung linientreuer »Historikerkader« und der Ver- drängung aller in den Traditionen der prä-kommunistischen Epoche sozialisier- 244 MGZ 61 (2002) Rezensionen ten Wissenschaftler relativ wenig Raum widmet. Wohl geht er auf die Hintergründe personeller Wechsel in einigen Schlüsselpositionen ein, doch hätte man sich neben dem Überbau auf der Diskursebene auch eine Behandlung der personellen Basis gewünscht, deren Darstellung zu kurz gerät. Gerade die Fälle, die Sabrow selbst anführt, belegen die Fruchtbarkeit dieser Fragestellung, die anhand älterer For- schungen wenigstens knapp hätte skizziert werden können. Der Umstand, daß der Verfasser in der Lage ist, seine Demonstrationsobjekte minutiös und auf breitester Quellengrundlage nachzuzeichnen, verdankt er einem für das SED-Regime wohl konstitutiven Faktor, nämlich einer aus der Außensicht kaum vorstellbaren Bürokratisierung des Wissenschaftsbetriebs mit seinen Kon- troll- und Aufsichtsorganen von der informellen Arbeitsgruppe bis zum Politbüro. Sie alle - diesem Eindruck kann man sich bei Lektüre dieser Studie kaum entzie- hen - waren mehr mit der Produktion von Berichten, Arbeitsplänen, Konzepten, Leitlinien, »Einschätzungen« und persönlichen Beurteilungen beschäftigt als mit der eigentlichen Forschungsarbeit. Erwähnenswert ist nicht zuletzt die intensive Kontaktpflege der politischen Führung, von Ulbricht und Kurt Hager abwärts, mit den »Genossen Historikern«, die in unzähligen säuberlich protokollierten Treffen ihre Probleme darlegen durften - wenn sie nicht gar, was durchaus nicht so selten vorkam, deren Lösung an die Parteigewaltigen zu delegieren versuchten. Aus diesem überreichen Quellenfundus hat Sabrow geschöpft und hierbei in der Tat Erstaunliches zutage gefördert. Damit sind weniger die -Verbindungen ei- niger noch heute aktiver Kollegen gemeint. Verblüffender ist schon, daß sich aus- gerechnet jener Ernst Engelberg als ideologischer Hardliner profilierte, der in den letzten Jahren der DDR mit einer auch im Westen hochgelobten, weil von der An- wendung marxistischer Dogmen weitgehend freien Bismarck-Biographie hervor- treten sollte. Bei Engelberg handelt es sich immerhin um die Zentralfigur inner- halb des von Sabrow behandelten Zeitraums, in dessen zweiter Hälfte der Ge- nannte dem als Leitinstanz konzipierten Institut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften vorstand. Gründung und Aufbau dieses Instituts sind für das zen- tralistische Staats- und Geschichts(wissenschafts)modell der DDR ebenso signifi- kant wie die mit endlosen Kalamitäten und Disputen verbundenen Bemühungen, mit der Herausgabe eines mehrbändigen »Lehrbuchs der deutschen Geschichte« das gewünschte Geschichtsbild zu kanonisieren. Nicht ohne Amüsement kann man verfolgen, daß weder das intensive Studium der marxistisch-leninistischen Klassiker noch die »Erarbeitung« diverser Parteibeschlüsse die »Genossen Histo- riker« davor bewahrte, sich in lähmende Querelen etwa in der Periodisierungs- frage zu verstricken, wodurch das von der Staatsspitze als vordringlich eingestuf- te Lehrbuch jahrelang auf sich warten ließ. Zu den packendsten Abschnitten des Buches gehört die Darstellung abwei- chend-kritischer Sichtweisen anhand von vier exemplarischen, teilweise in der (Fach-)Offentlichkeit von Zeitschriften ausgetragenen Kontroversen. Von prinzi- pieller Bedeutung war die von dem auch im Westen bekannten Wirtschaftshisto- riker Jürgen Kuczynski Mitte der 50er Jahre ausgelöste Erörterung der Frage, was es denn mit dem Postulat der Parteilichkeit der ostdeutschen Historiographie auf sich habe. Bezeichnenderweise plädierte das SED-Mitglied Kuczynski nicht etwa für einen schrankenlosen Objektivitätsbegriff nach westlichem Verständnis, son- dern für Parteilichkeit zugunsten des Neuen und Fortschrittlichen, das keineswegs exklusiv aus den Verlautbarungen der politischen Instanzen als selbsternannte »Vorhut« der Arbeiterklasse hervorgehen müsse. War hier die Achillesferse des so- Rezensionen MGZ 61 (2002) 245

zialistischen Geschichtsbildes bzw. des Deutungsmonopols des Regimes berührt, so sprach ein anderer Abweichler weiße Flecken wie etwa das Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt von 1939 an. Alle vier »Dissidenten« wurden nicht admi- nistrativ mundtot gemacht, sondern mittels fachinternen Drucks, vor allem durch Polemiken auf Instituts- und »Kollektiv«-Ebene, zur »Einsicht« in eigene Fehler und damit zum Widerruf ihrer ketzerischen Thesen bewogen. Mit diesen Ausführungen macht Sabrow nicht bloß auf den pervertierten Sprach- gebrauch in der DDR-Diktatur aufmerksam, ging es doch bei den als »Auseinan- dersetzung« bezeichneten Disputen nie um einen nach allen Seiten offenen Mei- nungsaustausch, sondern um die Durchsetzung eines vorbestimmten Resultats. Un- ter den zutage tretenden Diskursprinzipien nahm der Konsens als um jeden Preis anzustrebendes, wenn auch kaum je erreichtes Ideal die erste Stelle ein. Primäres Ziel der »helfenden Kritik« war die Überzeugung des Irrenden durch die geballte Ar- gumentationsmacht des Kollektivs, weniger seine Ächtung. Es versteht sich von selbst, daß die hinter dieser Geschichtsideologie stehende Prämisse, wonach es de facto nur eine einzige richtige, bei korrektem methodischen Vorgehen und bei Be- wahrung einer festen ideologischen Grundlage auch erkennbare historische Wahr- heit gäbe, letztlich scheitern mußte. Wie der Verfasser in einem abschließenden Aus- blick auf die Zeit bis 1989 zeigt, setzte die Erosion des verordneten Geschichtsbil- des aber erst in den 70er, vermehrt dann in den 80er Jahren ein. Das Fazit dieser ex- zellenten Studie, die eine lebendige, quellennahe Darstellung mit einer durchdachten Fragestellung und einem klaren analytischen Konzept auf hohem theoretischen Ni- veau verknüpft, lautet, daß es dem SED-Regime Zumindest geraume Zeit hindurch gelang, sein dogmatisch verzerrtes Geschichtsdenken über ein Diktat des Konsen- ses in den Köpfen der allermeisten ihrer Historiker zu verankern, so daß politische Nutzanwendung und historische Forschung (nahezu) eins wurden. Martin Moll

Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1951.1. Januar bis 31. Dezember 1951. Wiss. Leiter: Rainer A. Blasius, Bearb.: Matthias Jaroch, München: Oldenbourg 1999, LVIII, 816 S., EUR 64,80 [ISBN 3-486- 56418-8]

Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1952.1. Januar bis 31. Dezember 1952. Wiss. Leiter: Rainer A. Blasius. Bearb.: Martin Koopmann und Joachim Wintzer, München: Oldenbourg 2000, LVIII, 842 S., EUR 64,80 [ISBN 3-486-56480-3]

Die von der Alliierten Hohen Kommission (AHK) am 6. März 1951 bekanntgege- bene Revision des Besatzungsstatuts ermöglichte u.a. die »Komplettierung« der Bundesregierung durch die Errichtung des Auswärtigen Amtes (AA), dessen Lei- tung der Bundeskanzler in Personalunion übernahm. In den vorliegenden Bänden läßt sich der Ausbau der im Juni 1950 im Bundeskanzleramt eingesetzten »Dienst- stelle für Auswärtige Angelegenheiten« zum AA anhand der Organisationspläne und einiger Dokumente verfolgen. Problematisch war naturgemäß die Personalauswahl für das Ministerium. Zwar wurden, wie den Kabinettsprotokollen zu entnehmen ist, alle Ernennungen und Be- 246 MGZ 61 (2002) Rezensionen förderungen in den Ministerien vom Oberregierungsrat aufwärts vom Bundesmi- nister der Finanzen und vom Bundesminister des Inneren geprüft, bevor sie dem Kabinett zur Genehmigung vorgelegt wurden; doch hatte schon 1950 der Unter- ausschuß »Auswärtiger Dienst« des Bundestagsausschusses für das Besatzungs- statut und auswärtige Angelegenheiten einen Fragenkatalog über den Anteil der vor 1945 im auswärtigen Dienst tätigen Personen im Amt vorgelegt. Im September 1951 wurde vom Deutschen Bundestag erneut ein Untersuchungsausschuß einge- setzt, nachdem in mehreren Zeitungsartikeln etwa 20 namentlich genannten Mit- arbeitern des AA eine nationalsozialistische Vergangenheit vorgeworfen worden war. In seinem vom Bundestag im Oktober 1952 gegen die Stimmen von DP und KPD angenommenen Bericht sprach sich der Ausschuß in vier Fällen gegen eine weitere Verwendung im auswärtigen Dienst aus, einige Personen sollten nicht in der Personalabteilung des AA beschäftigt, weitere nicht ins Ausland entsandt wer- den. Ob Adenauer einer dieser Empfehlungen entsprach, läßt sich den hier veröf- fentlichten Dokumenten nicht entnehmen. Daß er in der Bundestagsdebatte die Mitarbeiter des AA verteidigte, entsprach den Gepflogenheiten. Er belegte den ge- ringen Anteil ehemaliger Parteigenossen mit statistischen Angaben. Aber er stimm- te auch der Feststellung des SPD-Abgeordneten Fritz Erler zu, je weiter man »nach oben« gehe, desto höher sei deren Anteil. So seien unter den Beamten vom Refe- renten aufwärts etwa 66 Prozent in der NSDAP gewesen (Verhandlungen des Deut- schen Bundestages. Stenographische Berichte, Bd 13, S. 10734 f.) - eine Informati- on, die man allerdings in dem vorliegenden Band, in dem andere Teile der Aus- führungen des Bundeskanzlers in einer Fußnote ausführlich zitiert werden (1952, S: 612), vermißt. Nicht nur die Personalfrage und die Unterbringung der Mitarbeiter des AA in verschiedenen Gebäuden Bonns brachte Probleme mit sich. Das Ministerium ver- fügte 1951 über keinerlei Aktenbestände. Britische und amerikanische Truppen hatten 1945 die gesamten Archivalien und Akten des Α Α beschlagnahmt, die spä- ter zum größten Teil nach Großbritannien überführt wurden. Die Rückgabe wur- de von der AHK mit der Begründung abgelehnt, die Historiker der Alliierten woll- ten die Publikation der Akten fortsetzen (Documents on German Foreign Policy 1918-1945, Series D, 1937-1954, vol. I-IV, Washington 1949-1951). Angeboten wur- de die Überlassung von Mikrofilmen; zu einer Rückführung kam es, von geringen Teillieferungen abgesehen, erst in den Jahren 1956 bis 1958. Die Anfang Mai 1951 begonnenen Verhandlungen mit der AHK über die Ab- lösung des Besatzungsstatuts lassen sich u.a. den im Band publizierten Sach- standsberichten des Leiters der deutschen Delegation Wilhelm Grewe, einem Rund- schreiben Walter Hallsteins »nur für die Herren Bundesminister persönlich« vom 19. Dezember 1951 und der Aufzeichnung über die Außenministerkonferenz am 24./25. Mai 1952 entnehmen. Abgedruckt wurde auch der erste deutsche Entwurf eines »Sicherheitsvertrags« vom 2. August 1951 sowie der von beiden Verhand- lungspartnern erarbeitete Entwurf des »Generalvertrags« vom 22. November 1951, der von dem am 26. Mai 1952 in Bonn unterzeichneten »Vertrag über die Bezie- hungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten« (Deutschlandvertrag) mit Zusatzverträgen (Truppenabkommen, Finanzabkom- men) nicht entscheidend differierte. Die Zwischenfassungen und die Verhandlun- gen des Bundeskanzlers mit den Hohen Kommissaren über den Vertrag sind, der Konzeption der Edition entsprechend, in den 1989 erschienenen Band »Adenauer und die Hohen Kommissare 1949-1951« aufgenommen worden (vgl. dazu MGZ, Rezensionen MGZ 61 (2002) 247

59,2000, S. 264—266). Der Bundesrepublik wurde die »volle Macht über ihre inne- ren und äußeren Angelegenheiten, vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Ver- trags« zugestanden. Auf den im deutschen Entwurf vom 30./31. Oktober 1951 ent- haltenen Begriff »Souveränität« hatte Adenauer am 2. November 1951 angesichts der Einwendungen des amerikanischen und des französischen Hohen Kommis- sars verzichtet, »da er sowieso umstritten sei. Es gebe heute kaum einen Staat, der noch die volle uneingeschränkte Souveränität besitze.« (Adenauer und die Hohen Kommissare, S. 419) Zu den Vorbehalten der Westmächte gehörte u.a., daß sie bei einem Angriff auf die Bundesrepublik oder durch »eine umstürzlerische Störung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung oder durch eine schwere Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder durch den ernstlich drohenden Ein- tritt eines dieser Ereignisse« zum Schutz ihrer in der Bundesrepublik stationierten Truppen den Notstand erklären konnten, falls die Bundesregierung und die EVG »außerstande sind, der Lage Herr zu werden«. Diese Bestimmung blieb in modi- fizierter Form auch nach dem Inkrafttreten des Generalvertrags und der Zusatz- verträge 1955 in Kraft; sie wurde erst nach dem Erlaß des Notstandsgesetzes 1968 aufgehoben. Dokumentiert sind, außer den Besprechungen über den Pleven-Plan, auch die Anfang Januar 1951 begonnenen Verhandlungen der deutschen und alliierten Sach- verständigen über die von Adenauer angebotene Integration deutscher Kontin- gente in die geplante europäische Armee, die die Außenminister der drei West- mächte und der Ministerausschuß der NATO im Dezember 1950 beschlossen hat- ten. Die vom Bundeskanzler geforderte Gleichberechtigung der deutschen Solda- ten war nicht strittig; kontrovers diskutiert wurden jedoch der finanzielle Beitrag der Bundesrepublik und die Höhe der bislang von den Besatzungsmächten fest- gesetzten >Besatzungskosten<, d.h. ob und in welcher Höhe diese Leistungen auf den Verteidigungsbeitrag im europäischen Rahmen angerechnet werden sollten. Wieder aufgenommen wurde diese Frage in den Verhandlungen des Bundesmini- sters der Finanzen mit der AHK über das Truppen- und das Finanzabkommen 1951/52. Sie führte auch nach dem Inkrafttreten dieser Zusatzverträge zum Ge- neralvertrag 1955 immer wieder zu Auseinandersetzungen. Abgeschlossen wurden 1952 die Verhandlungen über die Ansprüche gegen- über Deutschland auf Erstattung der Kosten für die Ansiedlung einer halben Mil- lion Juden in Israel, die die israelische Regierung in einer Note vom 21. März 1951 an die vier Siegermächte präzisiert hatte. Durch die Vermittlung des Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses, Nahum Goldmann, konnte trotz der anfänglichen Weigerung der israelischen Regierung, den Kontakt mit deutschen Vertretern auf- _ zunehmen, in Verhandlungen ζ wischen der Conference on Jewish Material Claims against , zu der sich 52 jüdische Organisationen zusammengeschlossen hatten, unter ihnen die Jewish Agency und der jüdische Weltkongreß, am 10. Sep- tember 1952 von Adenauer und dem israelischen Außenminister Sharett in Lu- xemburg ein Abkommen unterzeichnet werden, das die Leistungen für den Staat Israel und die Claims Conference in Hohe von 3,5 Milliarden DM regelte. Der Bun- deskanzler hatte sich am 26. September 1951 in einer Regierungserklärung zur mo- ralischen und materiellen Wiedergutmachung gegenüber den Juden verpflichtet und dies in einer geheim gehaltenen Besprechung mit Goldmann am 8. Dezember 1951 bekräftigt. Zunächst sollte über die israelische Forderung auf Sachleistungen in Höhe von einer Milliarde DM verhandelt werden. Adenauer hatte diese Zusa- ge ohne Wissen der Bundesminister abgegeben; er teilte den Kabinettsmitgliedern 248 • MGZ 61 (2002) Rezensionen erst in der Kabinettssitzung am 26. Februar 1952 mit, daß die Verhandlungen über die Modalitäten des Abkommens in den nächsten Wochen beginnen sollten. Die Berichte des Leiters der deutschen Delegation Franz Böhm und dessen Stell- vertreters Otto Küster informieren detailliert über die Verhandlungen und deren Schwierigkeiten, die zum Rücktritt Küsters führten. Über die Diskussion inner- halb der Bundesregierung erfährt man, von den Aufzeichnungen über drei Res- sortbesprechungen abgesehen, in einer Edition von Akten zur Auswärtigen Poli- tik naturgemäß wenig. Ergänzend sei deshalb darauf hingewiesen, daß das Kabi- nett zwar, wie in einer Fußnote des Bandes vermerkt (S. 519), das Angebot einer Glo- balabfindung von 450 Millionen DM an die Claims Conference billigte, daß die Zustimmung mit 5:4 Stimmen jedoch knapp ausfiel und daß in der Kabinettssitzung am 8. September 1952 der Bundesminister der Finanzen und der Bundesminister für Arbeit gegen das Abkommen stimmten. Auswirkungen auf die Entscheidung der Gesetzgebungsorgane, die das Ratifizierungsgesetz 1953 verabschiedeten, hat- te diese Ablehnung ebensowenig wie die in der Edition referierten Proteste arabi- scher Staaten. In den Bänden lassen sich auch die Reaktionen auf die Aktivitäten der DDR und der Sowjetunion im Hinblick auf die deutsche Frage verfolgen. Zum Schrei- ben Grotewohls vom 30. November 1950, in dem er vorgeschlagen hatte, einen ge- samtdeutschen konstituierenden Rat in paritätischer Besetzung zu bilden, nahm Adenauer in einer Pressekonferenz am 15. Januar und in einer Regierungserklärung im Deutschen Bundestag am 9. März 1951 Stellung. Er forderte zunächst die Durch- führung freier gesamtdeutscher Wahlen unter der Kontrolle der UNO. An der Wei- gerung der DDR, der internationalen Kommission die Einreise zu gestatten, schei- terte eine weitere Verfolgung dieses Vorgehens. Der Vorstoß der Sowjetunion, be- ginnend mit der »Stalin-Note« vom 10. März 1952 an die Westmächte, in der die Forderung der DDR, über den Abschluß eines Friedensvertrags unter Beteiligung einer gesamtdeutschen Regierung zu beraten unterstützt wurde, führte zu einem ausgedehnten Notenwechsel zwischen den vier Siegermächten, hatte aber keiner- lei konkrete Auswirkungen. Die »Sprachregelung« des Bundeskanzlers ist aus zwei Aufzeichnungen Adenauers ersichtlich: »der einzig gangbare Weg, um möglichst schnell zu einer Verständigung zu kommen« sei »die Beibehaltung des bisher ein- geschlagenen Weges, d.h. von der Sowjetunion die Beantwortung der gestellten Fragen zu erbitten und die Ratifizierung der abgeschlossenen Verträge schnell- stens durchzuführen« (S. 470). Die Dokumente belegen, in welchen Punkten die Bundesregierung ihre Anderungswünsche für die Antwortnoten der Westmäch- te, die zunächst keine einheitliche Linie vertraten, durchsetzen konnte. In den vorliegenden Bänden sind die wichtigen Aspekte der Außenpolitik der Bundesregierung dokumentiert. Das Besatzungsstatut war 1951 revidiert, der das Besatzungsstatut ablösende General vertrag zwar noch nicht in Kraft, aber 1952 un- terzeichnet worden. Die Integration der Bundesrepublik in das westliche Bünd- nissystem war beschlossen. Die »Ordnung unseres Verhältnisses zu den Juden«, wie Adenauer es in seinen »Erinnerungen« nannte, konnte auf den Weg gebracht werden, und in den im August 1952 abgeschlossenen Londoner Verhandlungen über die deutschen Auslandsschulden hatte die deutsche Delegation gewisse Er- leichterungen für die Bundesrepublik erreicht. Keine Fortschritte hatte es indes- sen in der die Beziehungen zu Frankreich belastenden Saarfrage gegeben. Die von dem französischen Außenminister Robert Schuman 1952 vorgeschlagene Abstim- mung des saarländischen Landtags, in dem die deutschfreundlichen Parteien nicht Rezensionen MGZ 61 (2002) 249 vertreten waren, über eine Europäisierung des Saarlands lehnte Adenauer mit dem Argument ab, dafür sei die Entwicklung Europas noch nicht weit genug fortge- schritten. Zwei Jahre später, nach der Ablehnung der EVG durch die französische Nationalversammlung, stimmte der Bundeskanzler im Rahmen der erneuten Ver- handlungen über den noch nicht wirksamen Generalvertrag und die Beteiligung der Bundesrepublik an dem westlichen Verteidigungssystem dem Saarstatut zu. Es sah die Europäisierung des Saarlands unter Aufrechterhaltung der wirtschaft- lichen Verbindungen zu Frankreich und die Abstimmung der saarländischen Be- völkerung über diese Regelung vor. Nach der Ablehnung des Statuts 1955 einig- ten sich der deutsche und der französische Regierungschef über die Rückgliederurig des Saarlands, die am 1. Januar 1957 in Kraft trat. Der Aufbau der Bände ist identisch mit dem des ersten Bandes dieser Serie. Sie enthalten jeweils ein Dokumentenverzeichnis mit Regesten, jedoch keine Einlei- tung. Die Dokumente sind chronologisch geordnet und durchweg gut kommentiert. Wenig benutzerfreundlich ist es allerdings, daß es zwar Rückverweise auf schon behandelte Themen gibt, aber keine Hinweise auf Fortgänge in den jeweiligen Bän- den. Außerdem wird das Ergebnis von Verhandlungen, z.B. durch den Abschluß eines Vertrags, nur dann nachgewiesen, wenn dies in dem jeweils dokumentier- ten Zeitraum erfolgte. Der Personenindex verzeichnet wiederum eine überwälti- gende Anzahl von Seitenangaben zu den Hauptakteuren ohne Differenzierung. Vielleicht gibt es niemanden, der mit Hilfe des Personenindex' die Aktivitäten Adenauers zu recherchieren sich anschickt. Dies mag bei Hallstein, den Hohen Kommissaren oder ausländischen Regierungschefs und Außenministern schon an- ders sein. Da hilft dann nur geduldiges Nachschlagen. Ursula Hüllbüsch

Die USA und Deutschland im Zeitalter des Kalten Krieges 1945-1990. Ein Hand- buch. Hrsg. von Detlef Junker [u.a.], Stuttgart, München: Deutsche Verlags- Anstalt 2001. Bd 1: 1945-1968, 977 S.; Bd 2: 1968-1990, 874 S., EUR 76,- [ISBN 3-424-05299-9]

Im Sinne des Mottos First Things First nutzt der Herausgeber die Chance, in der Einleitung die Grundzüge des deutsch-amerikanischen Verhältnisses darzule- gen, den inneren Zusammenhang zwischen den Dimensionen Politik, Sicherheit, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur aufzuzeigen und Begriffsbestimmungen vor- zugeben. Die grundlegenden Veränderungen in den amerikanisch-deutschen Be- ziehungen im Zeitalter des Ost-West-Konfliktes gegenüber den Konstellationen vor 1914 und vor 1939/41 sieht Junker auf amerikanischer Seite in der bewußten Identifizierung mit der Rolle als Schlüsselmacht sowohl im internationalen Si- cherheits- und Verteidigungssystem und in der Weltwirtschaft als auch als euro- päische Macht und auf deutscher Seite im Hineinwachsen in die Rolle einer ko- operativen Führungsmacht in multinationalen Zusammenschlüssen und als Teil- haber und Mitgestalter der euro-amertkanischen Zivilisation. »Aber erst nach 1945 wurde Westdeutschland auch gesellschaftlich und kulturell ein Teil der >euro- amerikanischen< Zivilisation des Westens unter dem Schirm der amerikanischen Hegemonie, des Einflusses des Kalten Krieges und des weltgeschichtlich einma- ligen Wirtschaftswachstums der Industriestaaten beiderseits des Atlantik« (I, S. 50). 250 MGZ 61 (2002) Rezensionen

Mit der von Großbritannien, Deutschland, Italien, Japan u.a. für unentbehrlich gehaltenen »American Connection« in der Außen-, Sicherheits- und Verteidi- gungspolitik, der Amerikanisierung der Weltpolitik, ging die >Amerikanisierung von unten< einher; das ist das erste Leitthema. In bezug auf die Bundesrepublik will Junker darunter jedoch nicht einseitige Aneignung (Überfremdung) ver- standen wissen, sondern jene »bundesrepublikanische Kultur- und Gesell- schaftssynthese, in die der amerikanische Einfluß eingegangen und in der er auf- gehoben ist«. (I, S. 50) Das zweite Leitthema bildet die Frage, wieviel von der Asymmetrie zwischen der Weltmacht USA, die sich von zahlreichen Rückschlägen und Einbußen immer wieder erholte, und dem westdeutschen Teilstaat verbleibt, der trotz zunehmender Kompetenz und Geltungsbewußtsein seinen Aktionsradius begrenzt hielt, und wie stark die von den USA begrüßte >Europäisierung< der deutschen (Außenwirt- schaftspolitik auf die deutsche Haltung in den vom Integrationsprozeß de facto bis Ende der 1980er Jahre ausgesparten Politikfeldern, insbesondere Sicherheit und Verteidigung< und >Währung<, abfärbte. Die deutsch-amerikanischen Bezie- hungen in der internationalen Finanz- und Währungspolitik lösten seit Mitte der 1960er Jahre die Beziehungen zwischen Dollar- und Sterlingbereich hinsichtlich der Verpflichtung zum Arrangement zwischen Nr. 1 und 2 der westlichen Welt ab (sog. bigemony), ohne daß die auf Preisstabilität eingeschworene Bundes(bank)po- litik die direkte Nachfolge Londons als zweite Leit- und Reservewährung anstrebte; hingegen blieb der Grundtenor >Asymmetrie< für den Bereich Sicherheit und Ver- teidigung kennzeichnend. Das kommt unter anderem darin zum Ausdruck, daß die deutsche Verteidigungspolitik und die Bundeswehr NATO-integriert waren, während die Personalunion von SACEUR und Oberbefehlshaber der US-Streit- kräfte in Europa bedeutete, daß die USA - auch gegen den Einspruch ihres NATO- Partners - Militärmacht von den Standorten in Deutschland in »out-of-area«-Gebiete projizierten. (Krieger, II, S. 185-188) In der Entschlossenheit der USA, die beiden »Feindstaaten« Deutschland und Japan in »westlich« geprägte internationale und regionale Strukturen einzubin- den und deshalb deren innerstaatliche Verfassungsgebote und außenpolitischen Handlungsspielräume weichenstellend zu beeinflussen, sieht Junker zu Recht den Anhaltspunkt dafür, die Entwicklung der bilateralen Beziehungen unter einem doppelten Vorzeichen zu deuten: Erstens den sich wandelnden Strukturen des Kalten Krieges, mit den Zäsuren 1950 und 1968, und zweitens der Bereitwillig- keit, Lehren aus der eigenen Geschichte zu ziehen. Im Falle der USA bedeutet das, daß der Wilsonian Impulse bereits vor der Zuspitzung zur globalen Machtprobe zwischen den USA und dem Soviet-Sino-Bloc 1950 die Selbstmandatierung als eu- ropäische Ordnungsmacht auslöste und die amerikanische »Deutschland-in-Eu- ropa«-Politik anschließend im Tandem mit den Pendelschlägen zwischen Kon- frontation und Detente im Ost-West-Konflikt bestimmte. Junker findet nach- denklich stimmende Worte zur »Amerikanisierung des Holocaust« und hebt Situationen hervor, in denen das amerikanische strategische Interesse am Ausbau der deutsch-amerikanischen Sicherheitspartnerschaft eingeholt bzw. zurückge- worfen wurde durch die tiefsitzenden und jederzeit mobilisierbaren, wenn nicht sogar manipulierbaren, Befürchtungen vor der Rückfälligkeit des neuen Verbün- deten in die alte Rolle Deutschlands als maßloser Herausforderer. Junker konsta- tiert, daß die »Erblast der Vergangenheit« in den wirtschaftspolitischen Bezie- hungen seit Beginn des Wirtschaftswunders und Deutschlands Aufstieg zu Eu- Rezensionen MGZ 61 (2002) 251 ropas bedeutendster Wirtschafts- und Finanzkraft keine Rolle mehr spielte (I, S. 32), hingegen in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik den Stand- punkt verfestigte, daß die USA keinen eigenständigen deutschen Machtanspruch tolerieren dürften. Im Unterschied dazu hätten Frankreich und Großbritannien ihr Recht auf unilaterale Großmachtpolitik in amerikanischen Augen nicht ver- wirkt (I, S. 38 f.), sondern konnten ihren Anspruch auf >Erstklassigkeit< wiederholt in Erinnerung bringen. Daß die »Angst vor Deutschland« umgekehrt aber auch den Zielvorstellungen der Bundesregierungen zugute kommen konnte, illustriert Bra- dy am Beispiel der inneramerikanischen, von deutscher Seite nachhaltig beein- flußten Auseinandersetzungen um die sogenannte Mansfield-Initiative. »Es war eine Ironie der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte, daß die Befür- worter einer Position, die objektiv der Bonner Regierung zugute kam, immer wie- der mit der Furcht [der Nachbarn in Ost- und Westeuropa] vor Deutschland ope- rieren mußten.«(I, S. 223) Der mit den beiden Bänden vorgelegte, erstmalige Versuch, eine umfassende Be- standsaufnahme bilateraler Beziehungen aus vergleichender Perspektive mit der Analyse transnationaler und internationaler Interaktionen zu verknüpfen, konnte gelingen, weil der Herausgeber und die Sektionsleiter - Thomas Schwartz bzw. Klaus Schwabe (Politik); Wolfgang Krieger (Sicherheit); Christoph Buchheim bzw. Harold fames (Wirtschaft); Frank Trommler (Kultur); Volker R. Berghahn bzw. Lily Gardner-Feldman (Gesellschaft) - mit ihren einführenden Beiträgen das jeweilige Gesamtterrain ab- schreiten. Der wechselseitige Prozeß des Aufeinanderabstimmens und der sinn- vollen Abgrenzung ist auf dieser Ebene vorbildlich erfolgt. Daß das mit einem Handbuch-Projekt verbundene Risiko einer Aneinanderreihung dennoch nicht ganz vermieden werden konnte, liegt wohl daran, daß im Streben nach Vollstän- digkeit Themen bedient wurden, die bislang kaum erforscht sind, oder daß einige - jedoch wenige - Autoren gegenüber dem insgesamt erreichten hohen Deutungs- und Informationsniveau zurückfallen. Es kann hier nicht darum gehen, die 134 Sach- und 10 Einführungsartikel Re- vue passieren zu lassen; vielmehr sollen weiterführende Thesen, Einschätzungen und Beurteilungen sowie Sachanalysen hervorgehoben werden, die komplexe Vor- gänge prägnant zusammenfassen und für künftige Forschungen wegweisend sein können. Dem ersten Band kommt zugute, daß die Autoren durch einschlägige Arbei- ten hervorgetreten sind und außerdem auf einen weit entwickelten Forschungs- stand zugreifen können. Auch wenn es unfair ist, die vielen Verfasser nicht ei- gens hervorzuheben, die sich an die Vorgabe gehalten haben, einen Handbuch- artikel zu schreiben, so mag es doch erlaubt sein, auf einige Beiträge besonders hinzuweisen. Rainer A. Blasius demonstriert die Kunst, anhand der heiklen Grewe- Mission die Störanfälligkeit der Kennedy-Adenauer-Phase spannend zu entfal- ten und die scharfsinnigen Analysen Botschafter Knappsteins zu würdigen; Ste- ven f. Brady zeichnet den Stimmungswandel im amerikanischen Kongreß von der Option für die Bundesrepublik (notfalls ohne Frankreich) zur Abwehr der von den Senatoren Mansfield, Fulbright und Church getragenen Vorstöße zugunsten einer »flexiblen«, an den Verständigungsmöglichkeiten mit Moskau ausgerich- teten Berlin- und Deutschlandpolitik; Bryan Τ. van Sveringen und Frederick Zilian präsentieren einen konzisen Uberblick über die amerikanischen Komponenten in der Sicherheitsstruktur des >Westens<, der Militärtechnologie und der »mili- tary balance«. 252 MGZ 61 (2002) Rezensionen

Der den Zeitraum 1968 bis 1990 abdeckende zweite Band bewegt sich gleich- sam zwischen den Polen, daß die Forschung einerseits an der Zeitfront bei der Er- schließung staatlicher Archivalien vordringt und andererseits darauf angewiesen ist, Erkenntnisfortschritte mit den Fragestellungen und Methoden der aktuellen Zeitgeschichte und Politikwissenschaft zu erzielen. In den weiteren Ausführun- gen gehe ich auf den zweiten Band näher ein; dabei konzentriere ich mich auf die in den drei Sektionen Politik, Sicherheit und Wirtschaft vorgelegten Abhandlungen. Es ist kein Zufall, daß gerade amerikanische und deutsche Politiker Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre grundlegende Veränderungen in der Weltpolitik beobachteten und aus dieser Erkenntnis Schlußfolgerungen für eine Politik der 1970er Dekade gezogen haben. Schwabe geht in seiner Einführung außer auf die Standardargumente - Vereitelung deutscher Beteiligung am französischen Ver- such, >Westeuropa< zu einem eigenständigen Machtpol zu machen; Einschreiten gegen Versuchungen, >selektive Entspannung< zu einem Wettlauf um die Gunst Moskaus umzumünzen - auch auf die Eventualitäten ein, was hätte werden kön- nen, wenn die von Egon Bahr und von Willy Brandt mitbedachten Perspektiven sich verselbständigt hätten: Mitteleuropa< statt NATO? Uberwölbung der NATO durch Anbindung der USA an beide Teile Europas im Zuge der von Bonn und Moskau gewünschten Verhandlungen über ein System kollektiver Sicherheit in und für Eu- ropa? (Leider umschifft Lucas in seinem Beitrag über die KSZE-Konferenzen die knifflig-brisanten side-issues.) Beruhte das Plädoyer der SPD für eine zweite Ostpolitik auf einer Überschätzung des politischen Gewichts der Bundesrepublik? Hatte Kohl gute Gründe, den USA mit dem Schreckgespenst einer wenig(er) NATO-freundli- chen SPD-Regierung zu drohen und damit ähnlich wie Premierminister Macmil- lan im Dezember 1962 auf der Nassau-Konferenz das schwere Geschütz der Ver- trauensfrage aufzufahren? (II, S. 26) Es ist erfrischend, daß ein so angesehener Ken- ner wie Schwabe die heiklen Aspekte genauso offen anspricht wie er die gesicherten Erkenntnisse referiert. Das Zusammenwirken der amerikanischen und deutschen Unterhändler bei der Verknüpfung von Ostverträgen und Berlin-Regelung bzw. SALT- und Deutsch- landgesprächen ist Gegenstand der Beiträge von Christian Hacke, Werner Link, Gott- fried Niedhart, Klaus Larres und Richard Wiggers. Link hebt nachdrücklich hervor, daß die eigentliche Wende in der deutschen Ost- und Deutschlandpolitik in der Zeit der Großen Koalition erfolgt sei (II, S. 57); indem die USA die Anpassung der deutschen Ostpolitik an ihre Detentepolitik betrieben, bekämpften sie die eige- nen Befürchtungen vor einem Abgleiten der Ostpolitik ins Fahrwasser der so- wjetischen Europapolitik, übernahmen damit aber auch die Verantwortung für den Erfolg der Politik Brandts. (II, S. 59-62) Hingegen zeichnet Hacke zunächst ei- nen Kontrast zwischen Brandts außenpolitischem Erfolg und innenpolitischer Zu- stimmung und Nixons magerer Bilanz (vor 1972), fährt dann aber fort, daß Nixon dank der deutschen ostpolitischen Vorarbeiten neue außenpolitische Handlungs- spielräume erhielt. (II, S. 39) Eine unübertreffliche Lageeinschätzung verdanken wir G. Niedhart: »Die Freund-Feind-Orientierung des frühen Kalten Krieges [...] wurde [...] in der zweiten Gründungsphase der Bundesrepublik abgelöst durch eine Politik der nüchternen Interessenwahrnehmung gegenüber beiden Supermächten [...] Daraus erwachsende unterschiedliche Beurteilungen und Interessenkonflikte ließen im Fall der USA die Grundlagen der bilateralen Beziehungen unberührt. Die deutsch-amerikanischen Beziehungen entwickelten sich im Rahmen von Rezensionen MGZ 61 (2002) 253

nicht völlig identischen, insgesamt aber doch kompatiblen Interessenstruktu- ren in immer vielfältigeren Bereichen [...] Im Fall der Sowjetunion dagegen han- delte es sich um einen Interessenkonflikt, der langfristig auf den friedlichen Wandel des Status quo zielte. Die deutsche Politik wollte die stabilisierende Bündnismacht USA erhalten, die Hegemonialstellung der Sowjetunion dagegen aufweichen und Moskau zur Hinnahme friedlichen Wandels veranlassen [...] Der steigende internationale Einfluß der Bundesrepublik war ferner dadurch be- grenzt, daß Bonn niemals eine Politik >zwischen< den Supermächten im Sinne eines dritten Wegs verfolgen konnte [...]« (II, S. 47) Es zeichnet die amerikanischen Regierungen aus, daß sie Deutschland unter Be- achtung des Kontrastes zwischen der stabilisierenden Wirkung der deutschen sound /zrance-Strategie und des destabilisierenden Potentials der einseitigen verteidi- gungspolitischen Abhängigkeit der Bundesrepublik von den USA zugestanden, in der Wirtschaftspolitik eigene Rezepte zu befolgen. Das schließt natürlich nicht aus, daß sie zum Schutz heimischer Klientelen dem erfolgreichen Aufsteiger mit fairen ebenso wie mit unfairen Gegenmaßnahmen begegneten. Den Unterschied zwischen der Periode der 1950/60er Jahre und der Epoche nach 1968 faßt Junker in den Beobachtungen zusammen, daß die USA in der ersten Phase »in dem Maße Ursache für die wirtschaftliche Grundlage der demokratischen Entwicklung in der Bundesrepublik [waren], wie sie die Rahmenbedingungen für die soziale Markt- wirtschaft« und des explosionsartigen Anwachsens des Handels zwischen den In- dustrieländern bestimmten (I, S. 33); in der zweiten Phase wollten die USA die Ko- sten des eigenen Imperiums teilweise externalisieren und bei einer abhängigen Kli- entel eintreiben; sie machten gleichsam den Fehler, den die Briten nach 1763 den amerikanischen Kolonisten gegenüber begangen hätten, und erlebten nunmehr ih- rerseits, daß die >Klientel· größere Unabhängigkeit begehrte und erlangte. (I, S. 41 f.) Die USA blieben, nachdem Nixon die Regeln des Bretton Woods-Systems außer Kraft gesetzt hatte, stark genug, um ihre nationalen Interessen durchzusetzen; sie schickten sich aber in die Notwendigkeit, in Weltwirtschaftsfragen einen >Multi- lateralismus unter Vorbehalt< zu praktizieren. (Falke, II, S. 346 f.) Während Harold James, Andreas Falke, Monika Medick-K.ra.kau, Bernhard May sich mit den Reaktionen auf die von Kurswechseln in der US-Politik (benign neglect; Hochzinsphase; Stand- ortwettbewerb) ausgelösten Irritationen beschäftigen, erklären Hans-Eckart Schar- rer/Christine Borrmann und Wolf Werner den Verlauf der Kapitalströme und der In- vestionen, den Perspektivenwechsel der Unternehmer und die Bestimmungsfak- toren der Handelsbeziehungen.

Außer den bereits eingangs erwähnten Perspektiven führt Junker weitere wich- tige Gesichtspunkte an. Leider wird sein Hinweis, daß der Spagat zwischen den USA und Frankreich auch in Wirtschaftsfragen - einschließlich der Entwick- lungshilfepolitik - die »Grundfigur westdeutscher Außenpolitik« bildet (I, S. 33), in den Spezialartikeln nicht aufgegriffen bzw. vertieft. Auf die Bedeutung des Dritt- akteurs in bilateralen Beziehungen geht Eckard Conze systematisch in seinem die ge- genläufigen Tendenzen treffsicher justierenden Beitrag »Dominanzanspruch und Partnerschaftsrhetorik: Die Bundesrepublik im Spannungsfeld von amerikanischer und französischer Politik 1945-1990« (II; S. 88-99) ein. Den Spannungsbogen zwi- schen verstärktem deutschem Einfluß in der NATO vor allem nach dem endgülti- gen Rückzug Frankreichs aus der Militärorganisation und dem amerikanischen Bestreben, Schlußfolgerungen aus den zunehmenden eigenen Zweifeln an der Nuklearstrategie zu ziehen und die Optionen zu thematisieren, die im Falle des 254 MGZ 61 (2002) Rezensionen

Versagens der strategischen Abschreckung in Betracht kommen könnten, behan- delt Kori Schake in ihren beiden Beiträgen. »Das amerikanische Verhalten während der Berlinkrise 1961 [hatte] die deut- sche Führung [...] zu der Überzeugung kommen lassen, daß das deutsch-ame- rikanische Verhältnis und eine starke Verteidigung allein nicht ausreichten, die Sicherheit der Bundesrepublik zu gewährleisten. Ein kooperatives Ver- hältnis zu Moskau [...] sei nötig, um Europa zu stabilisieren und langfristig die Aussichten auf die deutsche Vereinigung zu erhöhen [...] Die vielleicht wichtigste Aufgabe bestand in der multilateralen Rüstungsbeschränkung, die der Allianz ein Langzeitprogramm gab und die europäische Furcht vor ame- rikanischen Alleingängen bei den Ost-West-Verhandlungen schmälerte.« (II, S. 215 f.) Vor diesem Hintergrund ist es zu erklären, warum es innerhalb der amerikani- schen Führungsspitze wiederholt - vor allem im Januar 1966 zwischen McCloy und Harriman (Schwartz, I, S. 65); im Herbst 1989 - zu Auseinandersetzungen kam, ob die Rücksichtnahme auf den zuverlässigen (erstklassigen) deutschen Ver- bündeten oder die Chance zur Generalverständigung mit den sowjetischen Macht- habern als Leitstern dienen sollte. Das grundlegende deutsche Dilemma war, daß >Abschreckung< den Vorrang vor >Führung eines Krieges< erhalten hatte; der Ernstfall eines Krieges durch einen Angriff des Warschauer Paktes, d.h. ein Versagen der ausschließlich von den USA gestellten strategischen Abschreckung, durfte nicht eintreten, weil die >Deutschen< dann nur die Art ihres Todes hätten mitbestimmen können (Junker, I, S. 46 f.; Scha- ke, I, S. 369-372; Zilian, I, S. 354 f., 359) Was aus der Sicht der USA ein begrenzter Krieg sein würde, so Helga Haftendorn, wäre für die Bundesrepublik (und >Ost- mitteleuropa<) im Ergebnis einem totalen Krieg gleichgekommen. Das Entgegen- kommen der USA in Fragen der Festlegung von Bündnispositionen und in Ent- scheidungsverfahren (Schake, II, S. 214-216) konnte den in der Asymmetrie ange- legten Konflikt nicht aus der Welt schaffen. Je mehr die USA, vor allem unter Ken- nedy und Johnson, den Akzent auf Rüstungskontrollpolitik setzten, desto stärker wurde Bonn bewußt, daß die eigenen außenpolitischen Möglichkeiten weitestge- hend von der Atmosphäre im Verhältnis zwischen den Supermächten abhingen, während die deutsche Politik in verteidigungspolitischer Hinsicht nicht umhin konnte, den Nachrüstungsbedarf für die eigenen Streitkräfte ebenso wie zur Schließung der Lücken im amerikanischen Abschreckungspotential anzuerken- nen; warum sollte Moskau über Rüstungsbegrenzung oder gar Abrüstung ver- handeln, wenn der >Westen< durch »strukturelle Abrüstung« seinen Rückstand weiter vergrößerte? Die Unzulänglichkeiten der NATO-Strategie und Streitkräf- - testrukturen sowie die verbesserte Mobilität des sowjet-dominierten Gegenlagers schürten den Konflikt zwischen Washington und Bonn, was getan werden müsse, um ein Versagen der Abschreckung zu vereiteln bzw. für einen solchen Ernstfall ge- wappnet zu sein (Krieger, II, S. 179; Schake, Zilian und Broer in Bd 2). Während die USA die Möglichkeit hatten, ihre Position gegenüber der So- wjetunion direkt zu verbessern - sei es durch Hochrüstung und/oder Qualitäts- sprünge (Zilian, I, S. 350-353; II, S. 245-248), sei es durch Rüstungskontrollver- einbarungen (Dembinski, II, S. 222-224) -, konnte der westdeutsche Teilstaat, weil er sich weder allein verteidigen wollte noch konnte, auch keinen direkten Abrü- stungsdialog mit dem Kreml führen; umgekehrt verwehrte Breschnew der Regie- rung Schmidt das Zugeständnis der asymmetrischen Abrüstung - wer mehr hat, Rezensionen MGZ 61 (2002) 255

muß auf den entsprechenden Sektoren stärker reduzieren. Da die Sowjetunion in den 1970er Jahren bestrebt war, ihren militärischen Vorsprung auszubauen, und gleichzeitig die Schwächephase der USA nach dem Vietnam-Debakel und dem Watergate-Skandal nutzte, um die Position der USA in der Dritten Welt auszuhe- beln, gingen Bonn die dank der Ostpolitik erweiterten Handlungsspielräume schnell wieder verloren. »An der europäischen Frontlinie des Ost-West-Konfliktes gelegen, war die Bun- desrepublik jedoch nicht nur an der Kontinuität der Entspannung [...] interes- siert, sondern auch daran, daß der sowjetischen Rüstung adäquat begegnet wurde und die Bundesrepublik oder Europa sicherheitspolitisch nicht von den USA abgekoppelt wurden [...] Schmidt kritisierte die USA, weil ihre Abspra- chen mit der Sowjetunion auf >gleiche Sicherheit für die Supermächte, aber auf >ungleiche Sicherheit für die Partner< hinausliefen. Während die Entspan- nungspolitik für Bonn teilbar erschien, ja aus Gründen der politischen Klug- heit teilbar sein mußte, hatten die Sicherheitspolitik und die Abschreckung der sowjetischen Militärmacht unteilbar zu sein [...] Bonn [mußte] erfahren, daß es den Stand der Beziehungen zur östlichen Supermacht nicht nach eigenen Wün- schen diktieren konnte.« (Niedhart, II, S. 53 f.) Die Konstellation, die 1979 zum NATO-Nachrüstungsbeschluß führte, jedoch mit der amerikanisch-sowjetischen Einigung auf das Prinzip der asymmetrischen Ab- rüstung im INF-Vertrag (Dezember 1987) und mit der Übertragung dieses Prin- zips auf die Verhandlungen zur Begrenzung der konventionellen Streitkräfte in Europa (März/Mai 1989 bis November 1990) ausklang, ist Gegenstand des Bei- trags von Michael Broer. In einer meisterhaften Zusammenfügung komplexer Sach- verhalte arbeitet Broer den inhärenten Widerspruch zwischen den politischen Be- weggründen und dem militärischen Rationale heraus (II, S. 234-244): »die neuen Mittelstreckenwaffen [waren] nicht allein eine Antwort auf die Sta- tionierung der sowjetischen SS-20 Raketen [...] Die in der Nuklearen Pla- nungsgruppe von Europäern und Amerikanern gemeinsam entwickelten Kon- zeptionen für den Nuklearwaffeneinsatz in Europa waren stärker als vorher auf die politische Signalwirkung militärisch effektiver, aber selektiver, in ihrer Schadenswirkung begrenzter und weiterreichender Einsatzoperationen aus- gerichtet, mit dem politischen Ziel, den Krieg durch eine wiederhergestellte Abschreckung zu beenden.« (II, S. 235) In strategischer Hinsicht bedeutete die Bereitschaft der USA, die Glaubwürdigkeit der Abschreckung durch die Dislozierung von Waffensystemen wiederherzustel- len, die von europäischen Standorten aus Ziele auf russischem Territorium ge- fährden könnten, eine wichtige Annäherung der US-Nuklearstrategie an deutsche strategische Vorstellungen (II, S. 236). In verhandlungsstrategischer Hinsicht führ- te das deutsche Interesse an einer doppelten Null-Lösung (LNINF -1800 bis 5500 km - sowie SRINF, Raketen unter 500 km Reichweite ebenso wie die von den USA mit- bedachte Kategorie der >Euromissiles< von 500 bis 1800 km Reichweite) zu einer scharfen Dissonanz mit den USA (und Großbritannien), in der Außenminister Gen- scher es schließlich auf den Konflikt mit der Regierung Bush auf dem Brüsseler Gipfeltreffen zum 40. Jahrestag der NAT(0)-Gründung ankommen lassen wollte. »[...] die USA [sollten] möglichst bald SNF-Nachfolgeverhandlungen aufnehmen, um an der Frage des Abbaus der Sonderbedrohung für Deutschland die Entspan- nungschancen auszuloten [...] Die [von Bush] zu Beginn seiner Präsidentschaft mit den Formeln containment plus und status quo plus definierte Politik lief nach Gen- 256 MGZ 61 (2002) Rezensionen

schers Auffassung Gefahr, die Chancen des Wandels in Europa zu versäumen.« (II, S. 242) Das zweibändige Handbuch ist eine Leistungsschau und zugleich eine Fund- grube; es ist editorisch perfekt durchorganisiert und somit benutzerfreundlich an- gelegt. Es weist lediglich eine Lücke auf, die den in dieser Hinsicht unterent- wickelten Forschungsstand widerspiegelt, jedoch bei einer Neuauflage behoben werden sollte: In Anbetracht der Tatsache, daß die USA und die Bundesrepublik in internationalen und regionalen Organisationen bzw. Regimen maßgeblich tätig waren und sich für die Leistungsfähigkeit dieser multilateralen establishments ver- antwortlich fühlen, ist es unerläßlich, die Kooperation beider Länder innerhalb dieser Gremien zu bestimmen. Wirken sich die Divergenzen, die aus der Position im Staaten- und im Weltwirtschaftssystem ebenso wie aus den innerstaatlichen Traditionen und aktuellen Gegebenheiten resultieren, auf die Fähigkeit und Be- reitwilligkeit aus, Standards zu vereinbaren und bei der Formulierung weltweiter Ordnungsrahmen zusammenzuwirken? Muß die Beilegung von Konfliktlinien nicht nur, wie in dem Handbuch geschehen, auf der bilateralen Ebene untersucht werden, sondern auch im Kontext internationaler Treffen, und zwar schon allein deshalb, weil viele Drittakteure auf die amerikanische Deutschland- bzw. deutsche Amerikapolitik Einfluß zu nehmen suchen und keiner der beiden Partner frei ist, >nur< den Stand der bilateralen Beziehungen zu berücksichtigen? Es ist letztlich die Frage, inwieweit Führungskräfte aus Ländern, die füreinander zentral wich- tig sind, in den internationalen Organisationen und Regimen »Partnerschaft und Rivalität« ähnlich oder anders austragen als in bilateralen Beziehungen und inso- weit Lernfähigkeiten erwerben, die ihren Ländern die >Systemführerschaft< in den Prozessen der Globalisierung und Regionalisierung sichern. Gustav Schmidt