DAS PARANORMALE IM SOZIALISMUS

Zum Umgang mit heterodoxen Wissensbeständen, Erfahrungen und Praktiken in der DDR

Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau

vorgelegt von

Andreas Anton

aus Villingen-Schwenningen

Sommersemester 2017

Erstgutachter: Prof. (apl.) Dr. Michael Schetsche Zweitgutachterin: Prof. Dr. Sylvia Paletschek

Vorsitzender des Promotionsausschusses der Gemeinsamen Kommission der Philologischen und der Philosophischen Fakultät: Prof. Dr. Joachim Grage

Datum der Fachprüfung im Promotionsfach: 29.11.2017

für Julia

Inhalt

1. Einleitung ...... 7

2. Zum Forschungsstand der DDR-Sozialgeschichte ...... 12 2.1 Die DDR als ‚durchherrschte Gesellschaft‘ ...... 13 2.2 An den Grenzen der Herrschaft: ‚Nischengesellschaft‘ und ‚Eigen-Sinn‘ ...... 17 2.3 Zwischenpositionen: Die ‚konstitutive Widersprüchlichkeit‘ und die ‚Doppelkultur‘ der DDR ...... 22 2.4 Nonkonformes Verhalten in der DDR ...... 25 2.5 Erinnerungskulturen – Die DDR im sozialen Gedächtnis ...... 30 2.6 Zusammenfassung ...... 36

3. Orthodoxie und Heterodoxie in der DDR-Gesellschaft ...... 38 3.1 Wirklichkeit als soziale Konstruktion ...... 38 Lebenswelt und Alltagswirklichkeit ...... 39 Sinnwelten ...... 42 Orthodoxie und Heterodoxie ...... 45 3.2 Die offizielle Wirklichkeitsbestimmung der DDR ...... 48 Die Metaerzählung der DDR ...... 49 Wissenschaftliche Weltanschauung und Szientismus ...... 53 3.3 Zwischenfazit: Wissenssoziologische Überlegungen zur DDR-Gesellschaft ...... 61

4. Fragestellung, Methodik und Datensampling ...... 65 4.1 Untersuchungsfeld: Das sog. ‚Paranormale‘ ...... 65 4.2 Fragestellung ...... 68 4.2 Methodik und Methodologie ...... 71 Diskurse und Diskursanalysen ...... 72 Deutungsmuster ...... 76 Dispositive ...... 81 4.3 Empirische Zugänge und Materialkorpus ...... 83 Literatur und Dokumente ...... 83 Teilnarrative Interviews ...... 86

5. Das Paranormale im öffentlichen Diskurs ...... 92 5.1 Das Mediensystem der DDR ...... 92 5.2 Diskursverlauf ...... 95 1949-1963: Aufklärungsphase ...... 95 1964-1989: Agitationsphase ...... 111 Sonderfälle: ‚Parapsychologie‘ in DDR-Lexika und die Zeitschrift ‚Sputnik‘ ...... 132 5.3 Wichtige Diskursereignisse ...... 139 Die Wanderausstellung ‚Aberglaube und Medizin‘ (1959-1963) ...... 140 Otto Prokop vs. Hans Bender ...... 143 Erich von Däniken ...... 149

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Uri Geller ...... 154 5.4 Das Deutungsmuster ‚Aberglaube‘ ...... 157 5.5 Diskursstrategien ...... 163 Moralisierung ...... 164 Dramatisierung ...... 168 Politisierung bzw. Ideologisierung ...... 170 Ridikülisierung ...... 172 Pathologisierung ...... 175 Der Ausschluss von Sprechern aus dem Diskurs ...... 176 Wiederholung ...... 178 5.6 Zentrale Akteure: Otto Prokop und die Urania ...... 179 Otto Prokop ...... 180 Die Urania ...... 186

6. Die institutionelle Ebene ...... 190 6.1 Verbot und Verfolgung in der SBZ und der frühen DDR ...... 190 6.2 Das Ministerium für Staatssicherheit und das Paranormale ...... 199 Parapsychologie ...... 202 Die UFO-Akten des MfS ...... 206 Utopische Literatur und Prä-Astronautik ...... 210 „Wir hatten sonst noch ein paar Probleme außer Parapsychologie“ – Interview mit Wolfgang Schmidt ...... 217 Zwischenfazit ...... 220 6.3 Paramedizin im DDR-Gesundheitswesen ...... 222 Homöopathie ...... 222 Heilpraktiker ...... 226 Akupunktur ...... 229 Yoga ...... 231 Zwischenfazit ...... 234 6.4 Kontrolle und Zensur von Literatur ...... 236 Druckgenehmigungsverfahren ...... 237 Giftschränke ...... 241 Zollverwaltung ...... 244 Zwischenfazit ...... 247

7. Das Paranormale in der DDR-Lebenswelt ...... 249 7.1 Die Verbreitung des Paranormalen ...... 249 7.2 Einzelfallskizzen ...... 254 Gläserrücken mit der ...... 254 Herr Müller ...... 259 An der Schwelle zum Tod ...... 264 Die Hexe vom Prenzlauer Berg ...... 267 „Die UFOs, die haben doch nicht den Sozialismus gemieden!“ ...... 273 7.3 Übergreifende Aspekte ...... 276 Das Unsagbare ...... 276 5

Geschützte Kommunikation ...... 279 Die szientistische Persönlichkeit ...... 281 Diskursöffnung nach der Wende ...... 284

8. Resümee ...... 288 8.1 Zusammenfassung der empirischen Befunde ...... 288 Gefahrendiskurs ...... 288 Institutionelles Handeln und soziale Kontrolle ...... 291 Okkulter Untergrund? ...... 293 Exkurs: Sowjetische Parapsychologie? ...... 296 8.2 Diskussion ...... 297 Das Paranormale zwischen Durchherrschung und Eigen-Sinn ...... 298 Das Paranormale im sozialen Gedächtnis ...... 300 Heterodoxien in Gesellschaften mit strikter Wirklichkeitsordnung ...... 303 Ein szientistisches Dispositiv? ...... 306 Säkularisierung und soziale Trägerschichten ...... 307 Die Gleichförmigkeit des Okkulten ...... 310 Der doppelte Eiserne Vorhang ...... 312 8.3 Gesamtfazit und Ausblick ...... 313

Literaturverzeichnis ...... 319

Quellenverzeichnis ...... 338

Abkürzungsverzeichnis ...... 342

Danksagung ...... 343

Anhang A: Prototypischer Interviewleitfaden ...... 345

Anhang B: Eidesstattliche Versicherung ...... 351

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1. Einleitung

Aberglaube

Vierblättriges Kleeblatt Lieschen fand’s am Rain Vor Freude es zu haben Sprang Lieschen übern Graben und brach ihr bestes Bein

Spinnelein am Morgen Lieschen wurd es heiß Der Tag bracht keinen Kummer Und abends vor dem Schlummer Bracht Vater Himbeereis

Der Storch bringt nicht die Kinder Die Sieben bringt kein Glück Und einen Teufel gibt es nicht In unsrer Republik (Brecht 1989: 293)

Dieses Kinderlied, verfasst Anfang der 1950er Jahre von Bertolt Brecht, der sich bekanntermaßen vorbehaltlos zum Sozialismus bekannte, bringt in prägnanter Weise eine der tragenden weltanschaulichen Grundlagen der sozialistischen Gesellschafsordnung der DDR zum Ausdruck. Es soll verdeutlichen, dass die DDR („unsere Republik“) ein Staat ist, der sich an den Prinzipien der Rationalität und des Fortschritts orientiert, daher mit irrationalen, abergläubischen Traditionen aus der religiös geprägten Vergangenheit gebrochen hat und dass magische Symbole, ob sie nun Unglück verheißen (‚Spinnelein am Morgen‘) oder Glück versprechen (‚vierblättriges Kleeblatt‘) in der aufgeklärten Gesellschaft der DDR keinen Platz (mehr) haben. Das Kinderlied entstammt einer ganzen Reihe ‚pädagogischer‘ Dichtungen von Bertolt Brecht, der es sich zum Ziel gesetzt hatte, in der neu gegründeten DDR ideologisch- erzieherische Aufbauarbeit im Sinne des Marxismus-Leninismus für die nachwachsende Generation zu leisten (vgl. Karcher 2006: 98.). Die Stoßrichtung des Kinderliedes befindet sich dabei im Einklang mit umfassenden gesellschaftspolitischen Maßnahmen der DDR- Staatsführung zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft, in welcher letztlich jede Form von ‚Aberglaube‘, ‚Irrationalismus‘ und ‚Mystizismus‘ überwunden werden sollte. Damit war gemäß des marxistisch-leninistischen Atheismus in erster Linie die Religion gemeint, das sozialistische ‚Rationalisierungsprogramm‘ der DDR umfasste jedoch letztlich auch sämtliche

7 im weitesten Sinne esoterischen, übersinnlichen, paranormalen, magischen oder okkulten Vorstellungen und Praktiken. Themen wie Astrologie, Parapsychologie, Okkultismus etc. galten im öffentlichen Diskurs der DDR als (rückständiger) ‚Aberglaube‘, welchem in der sozialistischen Gesellschaft der DDR der Nährboden entzogen sei. Doch jenseits der öffentlichen Diskreditierung jener Themen ist über ihren Stellenwert in der DDR-Gesellschaft so gut wie nichts bekannt. Während es in Bezug auf die Rolle der Kirchen und der Religion in der DDR eine Vielzahl von Studien gibt, ist der Umgang mit jenem speziellen Themengebiet bislang noch nicht systematisch untersucht worden. Konkret gefragt: Was dachten die DDR- Bürger1 über Themen wie Gedankenübertragung, Wahrträume, Ahnungen, Spuk- und Geistererfahrungen, Parapsychologie, Astrologie, Alternativmedizin oder UFOs? Waren unabhängig von den öffentlichen Verlautbarungen die Beschäftigung mit entsprechenden Inhalten und dazugehörige Praktiken in der Bevölkerung tatsächlich zurück gedrängt oder existierten sie zumindest im Verborgenen weiter? Falls ja, mit welchen Konsequenzen hatten diejenigen zu rechnen, die sich mit von der geltenden Weltsicht abweichenden Themen beschäftigten oder sogar selbst weltanschaulich unpassende Erfahrungen machten? Welche gesetzlichen Regelungen bestanden im Zusammenhang mit dem Themenkomplex des ‚Okkulten‘, ‚Paranormalen‘, ‚Übersinnlichen‘? Gab es in der DDR vielleicht sogar geheime staatliche bzw. geheimdienstliche Forschungen zur Parapsychologie und verwandten Gebieten, wie sie etwa in den USA im Rahmen des sog. Projektes Stargate und in ähnlicher Weise auch in der UdSSR durchgeführt wurden (vgl. hierzu z.B. May, Rubel & Auerbach 2014)? Diese Fragen bildeten den Hintergrund eines historisch-soziologischen Forschungsprojektes, das von September 2013 bis September 2016 unter dem Titel Im Schatten des Szientismus. Zum Umgang mit heterodoxen Wissensbeständen, Erfahrungen und Praxisformen in der DDR von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziert und am Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene (IGPP) in Freiburg durchgeführt wurde. Im Rahmen dieses Forschungsprojektes entstand die vorliegende Dissertation, deren Hauptziel in einer sowohl sozialgeschichtlich als auch (wissens-)soziologisch orientierten Untersuchung der Bedeutung des Themenkomplexes des ‚Paranormalen‘ bzw. ‚Okkulten‘ in der DDR besteht, zu welchem gemeinhin ein breites Spektrum diverser Überzeugungs-, Erfahrungs-, und Praxisformen rund um Themen wie Parapsychologie, Astrologie, Spiritismus, UFOs, alternative Heilmethoden und dergleichen mehr gezählt werden, deren Gemeinsamkeit darin

1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen sind neutral gemeint und gelten für beiderlei Geschlecht. 8 besteht, dass der ontologischer Status der damit verbundenen Phänomene wissenschaftlich im Allgemeinen mindestens umstritten ist. In einer Gesellschaft wie der DDR, welche sich dem Selbstverständnis nach voll und ganz an Fortschritt, Vernunft und Wissenschaft orientierte, erscheint die Frage dem gesellschaftlichen Umgang mit derartigen Themen von besonderem Interesse. Die damit eingeschlagene Forschungsperspektive enthält zwei übergeordnete Leitfragen und Zugangsweisen zum Untersuchungsfeld: Auf der sozialgeschichtlichen Ebene geht es um die Frage nach der gesellschaftlichen Bedeutung des gewählten Themenfeldes vor dem Hintergrund des komplexen Verhältnisses zwischen umfassenden politisch-staatlichen Machtansprüchen und Herrschaftspraktiken der DDR-Staatsführung einerseits und gesellschaftlichen Widerstands- und Eigendynamiken andererseits. Welche weltanschaulichen Vorgaben gab es seitens des politischen Systems in Bezug auf den Umgang mit den genannten Themen? Inwieweit hielt sich die Bevölkerung an diese Vorgaben? Erweist sich das Feld des Paranormalen in der DDR-Bevölkerung am Ende gar als (weiterer) eigenständiger Bereich nonkonformer, eigensinniger Vorstellungen und Verhaltensweisen? Die wissenssoziologische Ebene untersucht die Konstruktion, Stabilisierung und Verteidigung der spezifischen Wirklichkeitsordnung der DDR in Bezug auf die genannten Themengebiete. Wie zu zeigen sei wird, wurden Themen wie Parapsychologie, Okkultismus, Astrologie etc. in der DDR vor dem Hintergrund der dominierenden marxistisch-leninistischen Weltanschauung nicht nur als unwissenschaftlich zurückgewiesen, sondern auch als ideologisch abweichend markiert und diskreditiert. In anderen Worten: Es geht um den Umgang mit weltanschaulich ‚unpassenden‘ Erfahrungen, Wissensbeständen und Praktiken in einer Gesellschaft mit einer sehr zugerichteten und strikt abgesicherten Wirklichkeitsbestimmung. In diesem Zusammenhang gilt es zunächst zu klären, warum das Feld des ‚Paranormalen‘ aus der Perspektive der offiziellen Staatsideologie überhaupt als problematisch empfunden wurde und welche Maßnahmen konkret zur ‚Bekämpfung‘ dieser speziellen Form der weltanschaulichen Abweichung ergriffen wurden. Damit verbunden ist die Frage, wo genau im Hinblick auf die genannten Themen die ‚Eingriffsschwelle‘ für staatliche Kontroll- und Diskreditierungspraktiken lag und welche psychosozialen Folgen Einmischungen und Übergriffe des Staatsapparates in die Lebenswelt der DDR-Bevölkerung mit sich brachten. Entsprechend dieser Leitperspektive widmet sich das folgende (zweite) Kapitel zunächst einer Reflexion des Forschungsstandes der DDR-Sozialgeschichte. Hierbei wird – mit Blick auf den Untersuchungsgegenstand – vor allem die Frage nach dem Verhältnis zwischen den umfassenden gesellschaftlichen Macht- und Gestaltungsansprüchen der politischen DDR-

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Führung einerseits und widerständigem, nonkonformem, eigensinnigem Verhalten der DDR- Bevölkerung andererseits im Vordergrund stehen. Kapitel drei begründet und erläutert den wissenssoziologischen Teil der gewählten Forschungsperspektive auf das interessierende Untersuchungsfeld. Dabei werden zunächst einige zentrale Implikationen der wissenssoziologischen Theorieentwicklung dargestellt, welche dann als Rahmen für eine Rekonstruktion der wesentlichen weltanschaulichen Grundlagen der spezifischen Wirklichkeitsordnung der DDR dienen. Ziel ist hierbei die Bereitstellung einer Art ‚Basiswissen‘ über grundlegende marxistisch-leninistische Ideologeme – insbesondere in Bezug auf die sog. wissenschaftliche Weltanschauung, welche im Hinblick auf den Umgang mit den in dieser Studie untersuchten Themengebieten innerhalb der DDR eine entscheidende ideologische Bezugsgröße darstellte. Im Fokus des vierten Kapitels stehen eine Konkretisierung des gewählten Untersuchungsthemas sowie der Forschungsfragen, eine Darstellung des Materialkorpus sowie methodisch-methodologische Überlegungen. Letztere beinhalten die Darlegung der theoretischen Rahmungen und des empirischen Forschungsansatzes der wissenssoziologischen Diskursanalyse, welche im Rahmen dieser Untersuchung als Hauptmethodik angewandt wurde. In Ergänzung werden weitere wissenssoziologische Konzeptionen vorgestellt, die im Rahmen der empirischen Bearbeitung der Forschungsfragen Verwendung finden: Soziale Deutungsmuster und Dispositive. Die Kapitel fünf bis sieben bilden das empirische Kernstück dieser Arbeit: Hier geht es zunächst (Kapitel fünf) um eine wissenssoziologische Analyse des öffentlichen Diskurses der DDR zu Parapsychologie, Okkultismus, Astrologie und verwandten Themen. Im Kern des Interesses stehen dabei konkrete inhaltliche Positionierungen im öffentlichen Diskurs, mögliche Veränderungen von Diskurslogiken im zeitlichen Verlauf, aber auch diskursive Strategien und zentrale Akteure in Bezug auf den Umgang mit jenen Themengebieten. Das darauf folgende Kapitel sechs fragt nach administrativen, institutionellen, gesetzlichen bzw. strafrechtlichen Regelungen und Zuständigkeiten im Zusammenhang mit dem Untersuchungsgebiet: In welcher Weise wurde der Umgang mit dem ‚Paranormalen‘ institutionell geregelt? Spielten entsprechende Themen beispielsweise eine Rolle bei den Polizeibehörden, dem Ministerium für Staatssicherheit oder anderen staatlichen Institutionen? Beschäftigten sich staatliche Forschungseinrichtungen in irgendeiner Weise mit paranormalen bzw. grenzwissenschaftlichen Themen? Das siebte Kapitel legt schließlich dar, welche Bedeutung einschlägige Themen aus dem Bereich des ‚Paranormalen‘ in der DDR- Bevölkerung hatten. In diesem Zusammenhang geht es unter anderem um die Frage, wie weit verbreitet entsprechende Überzeugungen, Praktiken oder auch Erfahrungen in der DDR

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überhaupt waren. Das Schlusskapitel bündelt die empirischen Befunde und bemüht sich um eine gleichermaßen sozialgeschichtlich wie wissenssoziologisch informierte Beurteilung der Bedeutung des Themenkomplexes des ‚Paranormalen‘ bzw. ‚Okkulten‘ in der DDR- Gesellschaft.

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2. Zum Forschungsstand der DDR-Sozialgeschichte

Mit der Wiedervereinigung Deutschlands am 03. Oktober 1990 wurde die DDR nach über 40 Jahren Bestehen zur Geschichte – und damit zu einem Thema für die Geschichtswissenschaft. Seither entstand eine Vielzahl wissenschaftlicher Arbeiten, die sich um eine historische Einordnung der DDR bemühen. Von Anfang an war die DDR-Historiographie eng „mit einer breiteren gesellschaftlichen und politischen ‚Aufarbeitung‘ der Geschichte des zweiten deutschen Staates verwoben“ (Bauerkämper 2005: 45). Dieses große politische und öffentliche Interesse verlieh der DDR-Geschichtsforschung kräftige Impulse, die teilweise bis heute anhalten und sich beispielsweise auch in der Einrichtung zahlreicher Museen und Gedenkstätten mit DDR-Bezug widerspiegeln (vgl. Hüttmann 2008: 339). Im Laufe der Jahre haben sich innerhalb der historischen Forschung über die DDR unterschiedliche Schwerpunkte herausgebildet. Während Anfang der neunziger Jahre politikhistorische Studien dominierten, die vor allem der Frage nach der Durchsetzung und Stabilisierung des SED- Staates nachgingen, entstanden ab Mitte der neunziger Jahre zunehmend Arbeiten, die sich wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Aspekten zuwandten (vgl. S. 46). Ein zentraler Aspekt der sozialgeschichtlichen DDR-Forschung ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen Herrschaft und Gesellschaft im staatssozialistischen System der DDR. Hierzu wurden unterschiedliche Forschungsperspektiven und Beschreibungsmodelle entwickelt, die die Frage im Blick haben, wie sich die politische Struktur der DDR auf die Gesellschaft bzw. die Lebenswelt der DDR-Bürger ausgewirkt hat. Versucht man, den bisherigen Forschungs- und Diskussionsstand zu bilanzieren, lassen sich, grob vereinfacht, zwei Pole ausmachen, die den entsprechenden wissenschaftlichen Diskurs rahmen: Zum einen Ansätze, die – an totalitarismustheoretische Perspektiven anknüpfend – das „Absterben“ (Meuschel 1992) bzw. die parteipolitisch durchgesetzte und von den Staatsorganen abgesicherte „Durchherrschung“ (Lüdke 1994) der DDR-Gesellschaft analysieren und zum anderen Arbeiten, die auf die Grenzen der SED-Herrschaft hinweisen und nonkonformes Verhalten sowie individuelle Bedürfnisbefriedung („Eigen-Sinn“, Lüdke 1993) in diversen „Nischen“ (Gaus 1983) innerhalb der DDR-Gesellschaft untersuchen. Zwischenpositionen betonen die „konstitutive Widersprüchlichkeit“ (Pollack 1998) bzw. die „Doppelkultur“ (Lemke 1991) der DDR-Gesellschaft und analysieren in diesem Zusammenhang mögliche Ursachen für den plötzlichen Zusammenbruch des bis 1989 relativ stabilen politischen Systems der DDR. Aufschlussreich in Bezug auf die Frage nach der gesellschaftlichen Tiefenwirkung der umfassenden Machtansprüche der SED sind vor allem Studien zu

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Widerstand und Opposition in der DDR (siehe etwa Veen et al. 2000; Fricke et al. 2002). Ein weiteres, für die vorliegende Studie relevantes Forschungsfeld ist die Frage nach den Spezifika, Strukturen und Merkmalen von Erinnerungsdiskursen in Bezug auf die DDR- Geschichte. Wie zu zeigen sein wird, sind die dominanten, aber auch die eher von Minderheiten getragenen Erinnerungskulturen im Zusammenhang mit der DDR vielschichtige Konstrukte, in die individuelle Erinnerungen ebenso Einzug halten wie kollektiv bzw. diskursiv erzeugte Narrationen (vgl. Goudin-Steinmann & Hähnel-Mesnard 2013b).

2.1 Die DDR als ‚durchherrschte Gesellschaft‘

Die weitreichenden Ansprüche, die das politische System der DDR auf seine Bürger geltend machte, scheinen zunächst in der Tat eine totalitarismustheoretische Perspektive zu rechtfertigen, ging es der „DDR als kommunistisch geprägter Diktatur“ doch um nichts weniger, als eine neue, „politisch gesteuerte Gesellschaft zu schaffen, in der herkömmliche Differenzierungen abgeschafft, Prinzipien einer neuen Gleichheit verwirklicht […] und neuartige Strukturen – vor allem die sozialistische Eigentumsordnung – etabliert sein würden: eine neue Gesellschaft mit neuen Menschen.“ (Kocka 1994: 547) Das Fundament dieses weitreichenden Herrschafts- und Geltungsanspruches und der damit einhergehenden programmatischen Technokratik der DDR-Administration zur Herausbildung einer homogenen „sozialistischen Menschengemeinschaft“ (Bauerkämper 2005: 1) war der umfassende Welterklärungsanspruch des Marxismus-Leninismus. Dieser gab vor, nicht nur eine objektive wissenschaftliche Weltanschauung zu sein, sondern vertrat auch einen Absolutheits- bzw. Überlegenheitsanspruch gegenüber anderen Wirklichkeitsordnungen (vor allem jener westlich-kapitalistischer Gesellschaften). So heißt es in einer programmatischen Schrift zum dialektischen Materialismus aus dem Jahr 1959: „Die einzige Weltanschauung, die in vollem Umfang wahr ist, die ein in sich geschlossenes System darstellt, ist der dialektische Materialismus“ (Klaus, Kosing & Redlow 1959: 15f.). Man war sich sicher, mit dem Marxismus-Leninismus ein „alle Bereiche von Natur und Gesellschaft bestimmendes Prinzip gefunden zu haben und deshalb eine Weltanschauung zu vertreten, die jenem Prinzip in allen Bereichen gerecht wird“ (Schmidt-Lux 2008: 119). Daher sollte der Marxismus- Leninismus nicht nur das Leitprinzip für Politik, Ökonomie, Kultur und Wissenschaft sein, sondern eben auch für die gesellschaftliche Entwicklung. Zur Durchsetzung dieser ‚einzigen Wahrheit‘ des Marxismus-Leninismus und der darauf basierenden weitreichenden „Ansprüche auf Herz und Geist“ (Ross 2002: 748) der DDR- 13

Bürger wurde ein umfangreiches, hierarchisch organisiertes und zentral gesteuertes System parteipolitischer Macht etabliert, mit dessen Hilfe letztlich die gesamte Gesellschaft politisch und ideologisch durchdrungen und kein politikfreier Raum zugelassen werden sollte: „Nicht nur die politischen Organisationen im engeren Sinn, sondern auch die formal außerpolitischen Institutionen, Verbände, Zirkel, und Initiativen sollten politisch instrumentalisiert werden, ja, selbst das Individuum sollte organisatorisch erfasst und durch verschiedene staatlich und parteiamtlich gelenkte Institutionen gesteuert werden […]“ (Pollack 1998: 115). Vor dem Hintergrund dieser umfangreichen Macht- und Herrschaftsansprüche der DDR- Staatsführung und entsprechender Durchsetzungsversuche bis in die alltägliche Lebenswelt der DDR-Bürger hinein erfreute sich die zuerst bei Lüdke (1994), Kocka (1994) und in dem Sammelband Die Grenzen der Diktatur von Bessel und Jessen (1996a) diskutierte These der DDR als „durchherrschter Gesellschaft“2 einer gewissen Beliebtheit. Im Kern geht es bei dieser Diskussion um die Frage, inwieweit die DDR tatsächlich als eine „homogene, sozialstrukturell nivellierte Gesellschaft beschrieben werden kann“ (Pollack 1998: 110). Einer der Ausganspunkte für diese Auseinandersetzung sind die totalitarismustheoretischen Arbeiten zur DDR-Sozialgeschichte der Sozialwissenschaftlerin Sigrid Meuschel (etwa 1990, 1991, 1992, 1993) (vgl. Hüttmann 2008: 300f.). Meuschel argumentiert, dass die gesellschaftlichen und sozialen Prozesse in der DDR weitgehend auf die Herrschaftsausübung der SED zurückzuführen seien, die Sozialgeschichte der DDR könne also nicht ohne die ständige Einbeziehung des Politischen verstanden werden (vgl. Kocka 1994: 547). Durch die nahezu vollständige Entmachtung sämtlicher außerpolitischen Institutionen und Strukturen sei der DDR-Gesellschaft nachhaltig die Gestaltungskraft genommen worden. Die Ökonomie, das Recht und das Geld seien „weitgehend in den Dienst der Parteiherrschaft gestellt worden, deren umfassender Regelungsanspruch keine konkurrierenden Steuerungsmechanismen zugelassen“ (Bauerkämper 2005: 56; vgl. Meuschel 1993: 5) habe. Daher sei die DDR- Gesellschaft „gleichsam stillgelegt“ worden (Meuschel 1993: 6), es sei zu einem „Absterben“ der Gesellschaft der DDR und ihrem Aufgehen im Staat gekommen: „Es fand ein machpolitisch durchsetzter sozialer Entdifferenzierungsprozess statt, der die ökonomischen, wissenschaftlichen, rechtlichen, oder kulturellen Subsysteme ihrer Eigenständigkeit beraubte, ihre spezifischen Rationalitätskriterien außer Kraft setzte oder politisch-ideologisch überlagerte. Nicht der Staat starb ab im Verlauf der jahrzehntelangen Herrschaft der Partei, es handelte sich vielmehr um einen Prozeß des Absterbens der Gesellschaft.“ (Meuschel 1992: 10)

2 Zum ersten Mal taucht der Begriff der „durchherrschten Gesellschaft“ bei Lüdtke (1996: 188) auf. 14

Die Basis dieser Einschätzung bildet eine herrschafts- bzw. totalitarismustheoretisch ausgerichtete Analyse der SED-Ideologie anhand von in Programmen, Parteibeschlüssen und theoretischen Schriften veröffentlichten Aussagen. Meuschel untersuchte gleichsam die Binnenlogik eines politischen Systems, dass „unentwegt von ‚Gesellschaft‘ als Objekt und Ziel“ seiner Herrschaft redete und entsprechende Macht- und Gestaltungsansprüche formulierte und durchsetzte (Lindenberger 1999: 16). Sie scheut dabei nicht davor, diese weitreichenden politischen Steuerungsansprüche als ‚totalitär‘ zu bezeichnen: „Totalitär ist dieser Anspruch deshalb zu nennen, weil er darauf zielte, die gesamte gesellschaftliche Entwicklung in all ihren Aspekten zu planen und steuern. Das veränderte die Gesellschaft grundlegend, prägte nicht allein den Charakter des Herrschaftssystems.“ (1993: 5) Der Vorteil dieser Perspektive liegt auf der Hand: So lassen sich in der DDR tatsächlich kaum Lebensbereiche finden – auch nicht, wenn sie formal ‚politikfremd sind –, die ohne „den unmittelbar auf sie bezogenen Herrschaftsanspruch der SED“ (Lindenberger 1999: 20) zu denken und zu verstehen wären. Die Partei der Arbeiterklasse „beanspruchte erfolgreich die Kompetenz für alle Lebensbereiche. Entscheidungen auf allen Gebieten wurden entweder ex ante von der Partei getroffen oder war ex post von ihr zu bestätigen“ (Lepsius 1994: 18). Eine Folge dieser konsequenten, umfassenden „Durchherrschung“ war, dass der „Kreis der über die vielen Befehlsketten und -hierarchien an dieser Herrschaftsausübung zumindest formal Beteiligten sehr groß war“ (Lindenberger 1996: 313. Hervorhebung wie im Original). Somit war nahezu jeder gesellschaftliche Bereich, „jedwede gesellschaftliche Verantwortung, Aktivität und Aufgabe […] auf die eine oder andere Weise in die ‚Diktatur des Proletariats eingefügt‘“ (ebd.) und erhielt direkt oder indirekt einen politischen Auftrag. Auch auf der Ebene gesellschaftlicher Institutionen betrafen die umfassenden Umgestaltungen beim Aufbau der DDR nahezu jeden Bereich: „Durch die Gleichschaltung aller Organisationen, Verbände und Vereine verlor die Gesellschaft ihre Fähigkeit zur Selbstbestimmung bis auf einige Restbestände, so daß sie diesem Veränderungsprozeß mehr oder weniger wehrlos ausgeliefert war. Auch die als Förderung verkleidete Zensur der Kultur nahm den Universitäten, Medien, Verlagen usw. ihre Autonomie und degradierte sie zu Werkzeugen der Umgestaltung.“ (Jarausch 1999: 8) Besonders hervorzuheben ist dabei der Umstand, dass jene umfangreichen politischen und gesellschaftlichen Veränderungen zentral gesteuert, also nicht zivilgesellschaftlich mitbestimmt wurden (vgl. Lepsius 1994: 25). Vor allem im Vergleich zu den sich immer stärker untergliedernden westlichen Zivilgesellschaften „war die gesellschaftliche Struktur im Osten tatsächlich ‚entdifferenziert‘, da ihre zahlreichen Organisationen von der SED kontrolliert, mit Kadern

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durchsetzt und planmäßig von oben gelenkt wurden. Das hervorragende Merkmal der realsozialistischen Gesellschaft war zweifellos das Ausmaß ihrer Beherrschung durch die Partei, die prinzipiell keinen gesellschaftlichen Raum unbeeinflußt ließ, damit sich dort nicht Oppositionskerne bilden konnten.“ (Jarausch 1999: 9) Ähnlich argumentiert auch Lüdkte (1998), wenn er den von ihm gesetzten Begriff der „durchherrschten Gesellschaft“ dahingehend erläutert, dass die Alltagswirklichkeiten der DDR-Gesellschaft „sich relativ stärker auf Herrschaft“ bezogen als in westlichen Industriegesellschaften und nicht der Erfolg der Herrschaftsstrategien der DDR- Administration auffällig sei, „sondern das Ausmaß, in dem auf sie Bezug genommen wurde“ (S. 12). Kocka (1994) resümiert, die DDR-Gesellschaft erweise sich alles in allem als ein im hohen Maße „künstliches Produkt politischer Herrschaft, von dieser ermöglicht, durchformt und abhängig“ (S. 550). Auf den ersten Blick scheint die Perspektive von Lüdkte und Kocka sich an die Arbeiten Meuschels anzuschließen und die Lesart nahezulegen, „die DDR-Gesellschaft sei vollständig, von oben bis unten gewissermaßen, vom Politbüro ‚durchherrscht‘ gewesen“ (Lindenberger 1999: 19), doch Kocka wies bereits in seinem vielzitierten Aufsatz über die DDR als „eine durchherrschte Gesellschaft“ (1994) auf die Schwachstellen und Grenzen einer solchen, einseitig auf die Auswirkungen politischer Macht fokussierten Perspektive hin: „Falsch wäre es nämlich, anzunehmen, daß die Herrschaft von Partei und Staat die Gesellschaft total prägte und determinierte. […] Staatlich-parteiliche Steuerung und Durchdringung stießen ständig auf Grenzen. Bisweilen lösten sie sogar Gegentendenzen aus.“ (S. 550) Und an anderer Stelle: „Wenngleich nicht aus Gründen rechtsstaatlicher Absicherung, so doch als Folge des Zwangs der Verhältnisse blieb die politisch-herrschaftliche Durchdringung der DDR-Gesellschaft begrenzt.“ (Ebd.) Diese Begrenzung der Herrschaftsausübung des politisch-administrativen Systems der DDR zeige sich insbesondere daran, dass man bei näherem Hinsehen in der DDR-Gesellschaft überall „informelle Strukturen, inoffizielle Beziehungsgeflechte und Problemlösungsmuster [entdecke], die formell nicht vorgesehen waren, aber auf Funktionsdefizite der offiziellen Struktur reagierten oder auch zu Basen des Rückzugs, der Sperrigkeit, des stillen Widerspruchs werden konnten“ (S. 551). Jessen (1995) schlug in Ergänzung zu Meuschel zwei Vorgehensweisen vor, um der seiner Meinung nach durch die herrschaftstheoretische Fixierung in Meuschels Perspektive drohenden „Verflüchtigung des Erkenntnisobjektes DDR-Gesellschaft entgegenzuarbeiten: Die verstärkte Beachtung informeller Beziehungen und Handlungsweisen, denen eine in erster Linie an der hochformalisierten und

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ritualisierten Herrschaftsausübung der SED orientierte Betrachtung nicht gerecht wird, und daraus notwendigerweise folgend den Wechsel der Betrachtungsebene durch die Erforschung von Mikrostrukturen sozialer Beziehungen, da nur so das Ineinander von formeller Herrschaftsstruktur und informeller Beziehungsarbeit entschlüsselt werden kann.“ (Lindenberger 1999: 17) In ähnlicher Weise argumentiert Pollack (1998), der in Auseinandersetzung mit den Thesen Meuschels betont, dass deren Ansatz des „Absterbens“ der DDR-Gesellschaft dazu tendiere, „Tendenzen, die den klaren Machtverteilungsverhältnissen zuwiderlaufen, zu übersehen und Konflikte, Widerständigkeiten, individuelle Handlungsmöglichkeiten, kulturelle Resistenzbereiche, kommunikative Nischen, Formen der Verweigerung und Scheinarrangements zu unterschätzen“ (S. 111). Somit griffen Jessen und Pollack letztlich auf, was schon Kocka (1994) forderte, indem er betonte, dass es darauf ankomme, das dynamische Wechselwirkungsverhältnis zwischen der „diktatorischen Herrschaft und den vielfältigen Weisen zu erforschen, in denen die Menschen mit ihr umgingen – von unkritischer Identifikation und überzeugter Kooperation über opportunistische Anpassung, Apathie und Rückzug ins Private bis hin zur Resistenz und Opposition“ (S. 552). Dementsprechend gelte es, die „die faktischen Grenzen der Durchherrschung“ (ebd.) im Alltag der DDR-Gesellschaft näher zu bestimmen – eine Forderung, der in den kommenden Jahren in vielfältiger Weise nachgegangen wurde.

2.2 An den Grenzen der Herrschaft: ‚Nischengesellschaft‘ und ‚Eigen-Sinn‘

Noch vor den über die Arbeiten von Sigrid Meuschel ausgelösten Debatten über das Verhältnis von Herrschaft und Gesellschaft in der DDR trat der Journalist und Publizist Günter Gaus mit seinem Konzept der DDR als „Nischengesellschaft“ hervor. Jene „Nischen“ der DDR-Gesellschaft seien jedoch prinzipiell nicht als Räume des Widerstandes gegen das DDR-System zu betrachten, vielmehr seien die „privaten Lebensräume, als Nischen ausgestaltet, […] Freiräume von der herrschenden Lehre. Damit sind sie keineswegs grundsätzlich Widerstandsnester. Im Gegenteil: Sie haben eine Ventilfunktion. Es ist geradezu ein Kriterium der mitteldeutschen Nischen, daß ihre Inhaber, ihre Einwohner sich durch die Möglichkeit der Nische, des individuellen Glücks im Winkel, mit dem Regime ihres Staates arrangiert haben.“ (Gaus 1983: 158). Gegen die Vorstellung der DDR als einem „allgewaltigen Willkürstaat“, der „den Menschen kaum Luft zum Atmen läßt“, spreche nach Gaus die „Privatheit der Nischen, das private Glück und Unglück in ihnen, die Staatsferne, in der ein großer Teil des Lebens in der DDR 17 statthat“ (S. 159). Weiter charakterisiert Gaus die Nischen innerhalb der DDR-Gesellschaft als der „bevorzugte Platz der Menschen drüben, an dem sie Politiker, Planer, Propagandisten, das Kollektiv, das große Ziel, das kulturelle Erbe – an dem sie das alles einen guten Mann sein lassen, Gott einen guten Mann sein lassen und mit der Familie und unter Freunden die Topfblumen gießen, das Automobil waschen, Skat spielen, Gespräche führen, Feste feiern. Und überlegen, mit wessen Hilfe man Fehlendes besorgen, organisieren kann, damit die Nische noch wohnlicher wird“ (S. 160f). Dieses private Nischenleben sei dabei „die vorherrschende Existenzform in der DDR“ (S. 161). Alte Vorurteile gegenüber dem Sozialismus, die umfangreichen gesellschaftlichen Veränderungen der Anfangszeit der DDR sowie die Flucht vieler DDR-Bürger in den Westen hätten die privaten Nischen im Laufe der Zeit zu „Fluchtburgen“ gemacht, die „so hermetisch verriegelt waren, wie es die Anpassung an die verlangte gesellschaftliche Aktivität nur irgend zuließ“ (S. 178). Allerdings ist bei einem Verständnis der DDR als gleichsam gespaltene Gesellschaft, in der eine Sphäre des Alltags vermeintlich unabhängig neben der offiziellen politischen Kultur existierte und in der die Menschen – für das Herrschaftssystem mehr oder weniger unerreichbar – untertauchen konnten, Vorsicht geboten. Zwar zeigt Gaus’ Beobachtung der Nischen, dass auch in der DDR ein ‚normales’, das heißt triviales Alltagsleben existierte, welches keineswegs dem jahrzehntelang propagierten Bild der offiziellen politischen Kultur entsprach. Doch besaßen diese Nischen eben primär eine (unpolitische) Ventilfunktion, indem sie es erlaubten, sich von den ideologischen Bevormundungsansprüchen und Machtinstitutionen zumindest auf Zeit zurückzuziehen. Keineswegs jedoch existierten diese privaten Winkel außerhalb des Systems oder waren von diesem autonom und sie stellten auch keine Freiräume von den orthodoxen Lehren dar. Im Gegenteil: In ihnen „waren im Laufe der Jahrzehnte mehr Fakten, Vorstellungen und Maßstäbe des real existierenden Sozialismus heimisch geworden, als allen Nischenbewohnern immer bewusst ist.“ (Gaus 1983: S. 157) Dennoch wurde Gaus‘ Modell der DDR als „Nischengesellschaft“ schon früh als eine Art Gegenmodell – oder zumindest als Ergänzung – des Konzeptes der „durchherrschten Gesellschaft“ diskutiert, beispielsweise bei Fulbrook (1996). Die Autorin hält zunächst fest, dass die DDR durch die immer stärkere Einbeziehung der Bürger in institutionelle Strukturen tatsächlich eine „durchherrschte Gesellschaft“ gewesen sei, es aber durchaus Möglichkeiten gegeben habe, „innerhalb staatlich gelenkter Organisationen Spielräume zu finden. […] Die berühmte ‚Nischengesellschaft‘ (Günter Gaus) der siebziger Jahre beruhte weniger auf einem möglichen, wenn auch noch unbewiesenen Wertewandel, 18

sondern vielleicht eher auf einem Wandel der Rahmenbedingungen und Strukturen des täglichen Lebens […]“ (S. 284). Bessel und Jessen (1996b) weisen mit Bezug auf die Gaus’sche These der „Nischengesellschaft“ darauf hin, dass schon in den frühen Totalitarismustheorien von Carl Joachim Friedrich und Zbigniew Brzezinski von „Inseln der Absonderung“ die Rede sei, „die sich der totalitären Formierung zumindest teilweise entziehen […]“ (S. 13). Gemeint sei damit, dass sich bestimmte gesellschaftliche Teilbereiche auch unter den Bedingungen einer Diktatur ein gewisses Maß an Autonomie und Eigenlogik erhalten könnten. Dies erinnere an Gaus‘ Nischen innerhalb der DDR-Gesellschaft und „eine flüchtige Durchmusterung zumindest der drei Institutionen Familie, Kirche und Wissenschaft“ (ebd.) gäbe Anhaltspunkte dafür, dass es jene „Inseln der Absonderung“ auch in der DDR-Gesellschaft gegen habe. Basierend auf diesen Überlegungen richten Bessel und Jessen ihren Blick auf die „Grenzen der Diktatur“ und fragen nach Bereichen in der DDR-Gesellschaft, in denen der Herrschaftsanspruch der SED scheiterte und sich autonome Teilzonen herausbilden oder erhalten konnten. Diese Vorgehensweise erscheint zunächst legitimierungsbedürftig, da es freilich gute Gründe gibt, die Unbegrenzheit der SED-Herrschaft hervorzuheben. So fragen Bessel und Jessen: „Aber war […] nicht prinzipiell grenzenlose, durch Mauer und Stacheldraht, Schießbefehl und Stasi abgeschirmte Herrschaft das eigentliche Charakteristikum des SED-Staates? Lag nicht gerade in dieser Unbegrenzheit von Herrschaft der Wesensunterschied zum demokratischen Rechtsstaat mit marktwirtschaftlicher Ordnung und gesellschaftlichem Pluralismus westlicher Provenienz?“ (S. 7) Dennoch dürfe man den Blick nicht ausschließlich auf jene Aspekte richten, die DDR- Geschichte sei am Ende wesentlich mehr als die „Geschichte einer entgrenzten Diktatur im Schutz einer Grenze aus Beton und Stacheldraht“ (S. 9). Vielmehr gehe es darum, die komplizierte Wechselbeziehung zwischen Herrschaft und Gesellschaft, zwischen dem „totalen Geltungsanspruch der Diktatur und den auf sie einwirkenden, zum Teil von ihr selbst geschaffenen, aber nicht immer von ihr kontrollierten Umweltbedingungen zu beschreiben“ (ebd.). Und tatsächlich können die verschiedenen Beiträge in dem entsprechenden Sammelband der Autoren zu den „Grenzen der Diktatur“ (1996a) anhand verschiedener Beispiele aufzeigen, dass die sozialen bzw. gesellschaftlichen Strukturen und Entwicklungen in der DDR keineswegs nur unter dem Gesichtspunkt der Steuerung, Herrschaft und Kontrolle durch die SED gesehen werden können, sondern dass sich unterschiedliche tradierte Werte, soziale Strukturen oder Milieus und informelle, private Beziehungen und Netzwerke 19 zumindest zu einem gewissen Grad den Herrschafts- und Strukturierungsansprüchen der Machthaber entziehen konnten. Dies bedeutet, dass sich neben dem ‚totalen‘ Anspruch der wissenschaftlichen Weltanschauung des Marxismus-Leninismus, eine neue Gesellschaft, einen neuen Menschen und eine neue Moral zu schaffen und dies möglichst auf allen Ebenen durchzusetzen (vgl. S. 6), eine ganze Reihe alltäglicher Wissensbestände und Praktiken ausgebildet oder erhalten hat, die die repressiven gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen nicht erreicht haben und vielleicht auch nicht erreichen konnten. Auf privater Ebene, gleichsam im Modus des Geheimen und Verborgenen, hielten sich somit Elemente und Strukturen, die sich dem Zugriff der Partei entzogen und so etwas wie eine dauerhafte „Spaltung des Bewusstseins zwischen offizieller Rhetorik und privaten Meinungen“ (Jarausch 1999: 11) erzeugten. Demnach gilt es, so fasst Lindenberger (1996) die Perspektive von Bessel und Jessen zusammen, „zu unterscheiden zwischen der in Institutionen und politisch konstruierten Strukturen verkörperten Programmatik des SED-Herrschaftsanspruches und der Wirklichkeit gesellschaftlicher Beziehungen in und neben diesen Institutionen und Strukturen“ (S. 311). Anstatt sich (wie bei Meuschel) mit der Diagnose des „Verschwindens“ der DDR- Gesellschaft im Partei- und Staatsapparates zu begnügen, würde dieser Ansatz „die Existenz sozialer Beziehungen an den Grenzen und jenseits der Grenzen des umfassenden staatssozialistischen Zugriffs auszumachen versuchen“ (S. 312. Hervorhebungen wie im Original). In anderen Worten: Um das komplexe Beziehungsgefüge zwischen Herrschaft und Gesellschaft in der DDR fruchtbar untersuchen zu können, muss die Verbindung zwischen dem „‘Durchherrschungs-Programm‘ und der Alltags-Praxis der Vielen zum besonderen Gegenstand gemacht werden“ (S. 314). Gaus‘ Konzept der „Nischengesellschaft“, so Lindenberger weiter, hätte diese Dichotomie von „offiziellem“ und „inoffiziellem“ Leben in der DDR prinzipiell schon gerahmt, es müsse darüber hinaus aber im Sinne einer „die doppelte Konstitution sozialer Wirklichkeit erfassenden Sozialgeschichte“ auch um das praktische Verhältnis zwischen in privaten Nischen enthaltenen „Deutungen und Erinnerungen einerseits und diktatorischer Herrschaft andererseits gehen“ (S. 315). Ein solcher Ansatz bezieht die u.a. von Michel Foucault vorgelegten machttheoretischen Überlegungen mit ein, die Macht nicht als etwas Statisches, sondern als eine dynamische Interaktion zwischen Beherrschenden und Beherrschten begreifen. Herrschaft als „soziale Praxis“ setzt zwar (in Anlehnung an Max Webers Definition von Macht3) eine Asymmetrie

3 „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“ (Weber 1964: 38)

20 der Machtmittel voraus, hinterlässt die Beherrschten jedoch nicht gänzlich machtlos. D.h., auch in einer „von strikter Hierarchie durchzogenen Gesellschaft wie der DDR war die persönliche Ausübung von Herrschaft zugleich immer auch an die persönliche Hinnahme von Herrschaft gebunden […]“ (ebd., Hervorhebung wie im Original).4 Dies bedeutet, dass eine historische Rekonstruktion der Auswirkungen und Wirksamkeit der staatssozialistischen Parteiherrschaft der SED letztlich auch auf einer mikrosoziologischen Analyseebene ansetzen muss, um „uns das alltägliche Funktionieren von herrschaftsbedingten Anforderungen und den Umgang mit diesen auch in informellen sozialen Beziehungen zugänglich zu machen“ (S. 317). Als besonders bedeutsam sieht Lindenberger in diesem Zusammenhang einen alltagsgeschichtlichen Ansatz: „Angesichts der Grenzen einer ‚konventionellen‘ Politikgeschichte, die in ihrer Beschränkung auf Institutionen und Strukturen nicht über die Rekonstruktion der von der Parteidiktatur gesetzten monolithischen Realität und damit einer DDR-Geschichte als Emanation der Parteigeschichte hinauskäme, erschließt der praxeologische Zugang der Alltagsgeschichte die systematische und theoretisch begründete ‚Lektüre‘ zusätzlicher sozialer ‚Subtexte‘ und Bedeutungsebenen.“ (S. 320) Ein weiteres Konzept, das direkt an diese Überlegungen anschlussfähig ist, ist die auf dem ebenfalls zuerst von Lüdkte (1993) formulierten Begriff des „Eigen-Sinns“ basierende Perspektive. Damit soll die Mehrdeutigkeit von Handlungsweisen in den Blick genommen werden, die sich nicht anhand von politischen, strukturellen oder institutionellen Vorgaben auflösen bzw. verstehen lassen. Gemeint sind damit spezifische, eigen-sinnige Arrangements von Individuen oder Kollektiven mit den Anforderungen innerhalb bestimmter Machtverhältnisse. Das Spektrum der darunter fallenden Verhaltensweisen, Motive und Handlungen ist daher breit angelegt: „Es reicht vom Übereifer der glühenden Idealisten und der egoistischen Nutzung der Möglichkeiten einer aktiven Mitarbeit über äußerlich loyales, aber innerlich distanziertes Verhalten bis hin zu passiven Formen der Verweigerung, zu offener Dissidenz und Gegenwehr.“ (Lindenberger 1999: 23) Anders als bei Begriffen wie ‚Widerstand‘ oder ‚Opposition‘ ist das Konzept des „Eigen-Sinns“ also nicht ausschließlich durch einen explizit negativen Bezug auf das Herrschaftssystem gekennzeichnet. Darüber hinaus sei dieser Ansatz notwendig, um folgender Unterscheidung gerecht zu werden: „Der herrschaftlich intendierte und meist ideologisch definierte Sinn von Ordnungen, erzwungenen Verhaltensweisen und Verboten ist die eine Sache. Die je eigene Bedeutung, die Individuen in ihre Beteiligungen an diesen

4 In eindrücklicher Weise wurde dieses dynamische Verhältnis zwischen Herrschaft und Beherrschten in der DDR anhand der Demonstrationen in der sog. „Wendezeit“ 1989 aufgezeigt, in der zehntausende DDR- Bürger auf der Straße demonstrierten, die Machtansprüche der DDR-Staatsführung in Frage stellten und damit auch faktisch minderten. 21

Ordnungen und Handlungen hineinlegen, ist eine andere. Auch bei äußerer Übereinstimmung sind diese nicht identisch.“ (S. 24) Der Begriff des „Eigen-Sinns“ dürfe dabei jedoch nicht als Gegenstück zum SED- Herrschaftsanspruch, als „Sammelbegriff für das Gegenhalten der ‚kleinen Leute‘“ (ebd.) missverstanden werden. Vielmehr solle damit die komplexe Interaktion von Machtverhältnissen einerseits und den in diesen Verhältnissen lebenden Subjekten andererseits analysiert werden. Von besonderer Bedeutung sind aus dieser Sichtweise Möglichkeiten der individuellen (oder auch kollektiven) Sinn-Gebung im Rahmen spezifischer Arrangements mit den jeweiligen Machtanforderungen. Die Perspektive des „Eigen-Sinns“ bezieht die spezifischen Handlungsweisen vorgelagerten Motive, Bedürfnisse, Emotionen und Identitäten mit ein und fragt danach, ob und inwieweit diese durch die Machverhältnisse geprägt waren oder sich im Gegenteil gegen sie ausbildeten (vgl. S 25). Dadurch geraten Phänomene in den Fokus, die aus der „Entkoppelung von Gesellschaftspolitik und eigen-sinnigem Verhalten resultieren: Dauerhafte Formen des stillen Arrangements zwischen der Diktatur und den von ihr Beherrschten, die Interessen und Bedürfnisse der Menschen aus dem offiziellen Leben der DDR in die vielbeschworenen ‚Nischen‘ abdrängten“ (ebd.).

2.3 Zwischenpositionen: Die ‚konstitutive Widersprüchlichkeit‘ und die ‚Doppelkultur‘ der DDR

Der Soziologe Detlef Pollack positioniert sich mit seinem Konzept der „konstitutiven Widersprüchlichkeit“ der DDR gleichsam zwischen den totalitarismustheoretischen Arbeiten Meuschels auf der einen und dem Nischen- bzw. Eigen-Sinn-Ansatz auf der anderen Seite. Während er an Meuschels Perspektive kritisiert, dass sie zwar die Stabilität der DDR zu erklären vermag, nicht aber die Bereitschaft vieler DDR-Bürger zum Widerspruch und Protest, sieht er in dem Ansatz, sich auf eigen-sinnige alltagsweltliche Arrangements zu fokussieren, die Gefahr „daß er die Eindringtiefe der Diktatur verkennt und das gewaltige Potential politischer und sozialer Disziplinierung, das der SED zur Verfügung stand, unterschätzt“ (Pollack 1998: 113). So wie Meuschels Konzeption den Zusammenbruch der DDR letztlich nicht erklären könne, liefere ein Ansatz, der vorrangig auf individuelle Verweigerungsstrategien abstellt, keine befriedigende Erklärung für die Jahrzehnte währende Stabilität der DDR. Daher gehe es vor allem darum, „die Gleichzeitigkeit von Stabilität und Instabilität, von Unwandelbarkeit und Zusammenbruch, von politischer Herrschaft und politischer Ohnmacht“ (S. 114) in den Blick zu nehmen. Für diese Perspektive, die die 22

Widersprüche und Ambivalenzen der DDR-Gesellschaft zu integrieren sucht, prägte Pollack den Begriff der „konstitutiven Widersprüchlichkeit“. Damit sei gemeint,

„daß sich durch die DDR-Gesellschaft spezifische Spannungslinien zogen, die ebenso destruktiv wie unvermeidlich waren und insofern auch als Widersprüche oder Paradoxien behandelt werden können. Solange diese Spannungslinien unsichtbar gehalten werden konnten – und dies war möglich, solange die DDR-Gesellschaft geschlossen war und es deshalb keine unabhängige Öffentlichkeit gab – machte die DDR den Eindruck eines stabilen Staates. Als sich die Grenzen des Systems im Spätsommer und Herbst 1989 erst schrittweise und dann vollständig öffneten, traten mit der Entstehung einer unabhängigen Öffentlichkeit die Spannungslinien jedoch hervor, und sie waren unübersehbar, solange die Grenzen der DDR zum Westen geöffnet waren, also bis 1961“ (ebd.). Insgesamt seien also Unterschiede und Wiedersprüche innerhalb der DDR-Gesellschaft viel weniger aufgehoben gewesen als es die Vorstellung einer einheitlichen sozialistischen Gesellschaft suggerierte. Pollack identifiziert verschiedene Spannungsfelder, die prägend für die DDR-Gesellschaft waren und gleichzeitig das paradoxe Verhältnis zwischen der „rätselhaften Stabilität der DDR“ (Port 2010) und ihrem Zusammenbruch bestimmten. Dazu zählen z.B. der Gegensatz zwischen Egalisierung und der Herausbildung neuer sozialer Differenzierungen, die Spannungslinie zwischen der politischen Homogenisierung und einer viele Bereiche betreffenden funktionalen Differenzierung oder der Widerspruch zwischen Westabschottung und der Westorientierung vieler DDR-Bürger (z.B. in Bezug auf Kleidungsstile, Musik, Lebensweisen etc.). Weitere Felder sind nach Pollack die Gegensätze zwischen Fortschrittsorientierung und Fortschrittskritik, zwischen Traditionsbruch und Traditionsbewahrung oder zwischen dem umfassenden Repressionsapparat – der vor allem durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) repräsentiert wurde – und aus den Repressionsmaßnahmen resultierendem Widerstand bzw. Missmut in der Bevölkerung (vgl. S. 115-128; vgl. auch Bauerkämper 2005: 57). Angesichts dieser inneren Widersprüche der DDR-Gesellschaft kommt Pollack zu dem Schluss, dass die DDR „sozial weitaus fragmentierter und desintegrierter gewesen zu sein [scheint] als die alte Bundesrepublik. Offensichtlich war sie eine in sich widersprüchliche, ja paradox strukturierte Gesellschaft“ (S. 129). Der politische Versuch der umfassenden gesellschaftlichen Homogenisierung, der vor allem auch die Herrschaft der SED langfristig stabilisieren sollte, habe letztlich zu einer Desintegration der DDR-Gesellschaft geführt. In diesem Missverhältnis zwischen der gesellschaftspolitischen Agenda der DDR- Administration und den gesellschaftlichen Realitäten sieht Pollack zugleich einen

23 maßgeblichen Faktor zur Erklärung der paradoxen Situation der Stabilität der DDR auf der einen und ihrer abrupten Auflösung auf der anderen Seite (vgl. S. 129). Die Politikwissenschaftlerin Christiane Lemke argumentiert in dem Band Die Ursachen des Umbruchs 1989 (1991) in ganz ähnlicher Weise. Zunächst hält die Autorin fest, dass in der Retrospektive „die Dauer des staatssozialistischen Herrschaftssystems mindestens ebenso erklärungsbedürftig [ist], wie sein rasanter, implosionsartiger Zusammenbruch“ (S. 12). Totalitarismustheoretische Ansätze seien auf die abrupte Auflösung der DDR nicht vorbereitet gewesen, da sie „die politischen Kommandostrukturen als so übermächtig ansahen, dass Veränderungen nur über äußeren Einfluss möglich erschienen“ (ebd). Spätestens seit Mitte der achtziger Jahre habe es in der DDR-Gesellschaft jedoch deutliche Tendenzen zur Differenzierung bzw. Pluralisierung gegeben, was Lemke u.a. an der Entstehung neuer unabhängiger politischer Gruppierungen, wie z.B. Friedens-, Frauen-, Menschenrechts-, und Umweltgruppen festmacht (vgl. S. 10). Insgesamt, so Lemke, blieb der Zugriff „des Herrschaftssystems auf die Lebensbereiche der Bevölkerung im DDR- Alltag bis 1989 begrenzter, als es Anspruch und Organisation des Herrschaftssystems selbst nahelegten. Reste der alten Zivilgesellschaft, überkommene und neue Freiräume, Privatheit und Individualität waren in größerem Maße vorhanden, als es die bisherige, primär institutionenzentrierte herrschaftskritische DDR-Forschung angenommen hatte“ (S. 15) Nach der Phase der sog. „antifaschistischen, demokratischen Umwälzung“ und des „sozialistischen Aufbaus“ (vgl. z.B. Richter 2009: 13f.) bis Anfang der sechziger Jahre entwickelte sich insbesondere in der Stabilisierungs- und Stagnationsphase der ‚entwickelten sozialistischen Gesellschaft’ ein ambivalentes Herrschaftsarrangement zwischen dem politisch-ideologischen Wirklichkeitsanspruch des offiziellen Machtapparates und einer inoffiziellen Ebene, die sich der verordneten Zielkultur des Herrschaftssystems (kontinuierlich) zu entziehen suchte. Basierend auf diesen Überlegungen entwickelt Lemke ihre These der „Doppelkultur“ innerhalb der DDR-Gesellschaft. Demnach existierte eine Aufspaltung der DDR-Gesellschaft in eine offizielle politische Kultur auf der einen und eine inoffizielle Sphäre auf der anderen Seite, womit all diejenigen Prozesse der politischen Meinungs-, Einstellungs- und Verhaltensbildung gemeint sind, „die entweder nicht der offiziellen Zielkultur folgten wie oppositionelle Haltungen, oder die in informellen nichtstaatlichen Gruppen und Zusammenhängen stattfanden“ (Lemke 1991: 15). Somit sei grundsätzlich zu unterscheiden zwischen einer „offiziellen politischen Kultur im Sinne der Partei- und Staatsführung und einer in der Gesellschaft vorhandenen, vielschichtigen dominanten Kultur“ (ebd., Hervorhebung A.A.). Dabei sei dieses „Auseinanderklaffen von 24 offizieller Herrschaftslegitimation, die die offizielle politische Kultur der DDR-Führung ausmachte, und der faktisch vorhandenen, das Mikromilieu des Alltags strukturierenden dominanten politischen Kultur“ (S. 13) charakteristisch für das Herrschaftssystem der DDR gewesen. Lemke schlussfolgert, dass das Zielkonzept der DDR-Staatsführung, durch eine zentral gesteuerte politische Erziehung die DDR-Bürger zu „sozialistischen Persönlichkeiten“ zu formen, sich letztlich als eine Schimäre erwies. Dem umfassenden politischen „Großprojekt Umerziehung“ (Ploenus 2008: 30) stand die „ungebrochene oder sogar wachsende Bedeutung solcher für die politische Sozialisation – und damit für die politische Bewußtseinsbildung – relevanten Bereiche entgegen, die den direkten Einflüssen weitgehend entzogen blieben“ (Lemke 1991: 276). In diesem missglückten Versuch der umfassenden politischen ‚Erziehung‘ einer ganzen Gesellschaft sieht Lemke schließlich auch die Ursache für den abrupten Zusammenbruch der DDR: „Daß die über Jahrzehnte offiziell geförderten Normen und Werte in der Umbruchssituation Herbst 1989 wie ein Kartenhaus zusammenstürzten, ist daher nicht primär als Folge des (Medien-)Einflusses aus dem Westen oder als Resultat des ‚Gorbatschow-Effektes‘ anzusehen, sondern ist Resultat eines gescheiterten Modells politischer Sozialisation.“ (S. 277) Der Vorteil der Ansätze von Pollak und Lemke besteht darin, dass sie jene Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen der DDR-Gesellschaft in den Blick nehmen, ohne die einerseits die relative Stabilität der DDR, andererseits aber auch ihre abrupte Implosion nicht hinreichend erklärt werden könnten.

2.4 Nonkonformes Verhalten in der DDR

Angeregt von der Fragestellung, welche Tiefenwirkung die umfassenden Macht- und Gestaltungsansprüche der DDR-Staatsführung tatsächlich annahmen, sind in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Studien entstanden, die sich mit abweichendem, nonkonformem bzw. oppositionellem Verhalten in der DDR befassen. Ein erster deutlicher Kulminationspunkt oppositioneller Dynamik war der Volksaufstand im Juni 1953, „der in der DDR insgesamt rund 700 Städte und Gemeinden erfasste“ (Bauerkämper 2005: 106) und gewaltsam von der Roten Armee niedergeschlagen wurde. Mit den zunehmenden Eingriffen der SED in gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungsprozesse ab den späten fünfziger Jahren zeigte sich abweichendes Verhalten der DDR-Bevölkerung vor allem in den rapide ansteigenden Flüchtlingszahlen. So flohen zwischen 1949 und 1961 rund 2,7 Millionen

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Menschen aus der DDR (vgl. Rühle & Holzweißig 1988: 154). Dieser massive Flüchtlingsstrom wurde erst durch den Bau der Berliner Mauer am 13. Juni 1961 eingedämmt. Die Trägerschicht nonkonformen Verhaltens in der Frühphase der DDR wurde zu großen Teilen durch traditionelle gesellschaftliche Milieus gebildet: „Die Verweigerung vieler Bauern gegenüber der Kollektivierungsagitation und die Beharrungskraft von Handwerkern, Unternehmern und Professoren gegenüber der Verdrängungs- und Integrationspolitik des SED-Regimes speisten sich ebenso aus der Einbindung in alltägliche Lebenszusammenhänge wie die öffentliche Kritik vor allem liberaler Hochschulgruppen gegen Übergriffe von Funktionären der SED und FDJ […]“ (Bauerkämper 2005: 107). Es kann davon ausgegangen werden, dass durch die starken Fluchtbewegungen in die BRD das oppositionelle Potenzial der DDR zumindest teilweise an Dynamik verlor (vgl. Ammer 2000: 21). Und in der Tat gibt es Anzeichen dafür, dass abweichendes Verhalten in der DDR- Bevölkerung Anfang der sechziger Jahre zunächst abnahm (vgl. Bauerkämper 2005: 107; Veen 2000: 9). Spätestens seit Mitte der sechziger Jahre bildeten sich jedoch neue Formen nonkonformer Vorstellungen und Verhaltensweisen heraus, die nun vor allem von Jugendlichen und jungen Erwachsenen getragen wurden. Von wichtiger Bedeutung war hierbei die Orientierung an westlichen Lebensstilen, die der DDR-Staatsführung zwar missfielen, deren Unterbindung aber meist erfolglos blieb (vgl. Eisenfeld 2000: 24f.). So machten westliche Erscheinungen wie Jeans-Hosen, Skateboards, (vgl. Erk 2012) Rock-, Beat,- (vgl. Rauhut 1993; Ders. 2002), Hip Hop-, (vgl. Schmieding 2014), Blues-, „Hippie“-, (vgl. Rauhut & Kochan 2013) oder Punk-Musik (vgl. Hahn & Willmann 2008) nicht an der deutsch-deutschen Grenze halt und fanden auch in der DDR mitunter zahlreiche Anhänger. Mit der Einführung der Wehrpflicht 1962 bildete sich eine weitere wichtige Gruppe widerständigen Verhaltens: Kriegsdienstverweigerer, die als sog. „Bausoldaten“ für den Bau militärischer Anlagen, Straßen etc. eingesetzt wurden und später für die Friedensbewegung eine maßgebliche Rolle spielten (vgl. Heydemann 2003: 107). Ein weiteres Milieu, aus dem heraus ab Mitte der sechziger Jahre zunehmend Kritik am politischen System der DDR artikuliert wurde, waren Intellektuellenkreise, die in den Bereichen Wissenschaft, Theater, Kunst und Literatur wirkten. Herausragende Bedeutung hatten in diesem Zusammenhang vor allem einzelne Protagonisten wie Robert Havemann, Wolf Biermann und Stefan Heym. Deren Kritik „an der Schönfärberei und am Dogmatismus der Partei konterkarierte nicht nur die von Ulbricht inszenierte Aufbruchsstimmung und Harmonie, sie ging auch an die Substanz des Regimes“ (Eisenfeld 2000: 25). Allerdings darf die Bedeutung der Regimekritik aus der Wissenschafts- und Kulturszene nicht überbewertet

26 werden, da sie in großen Teilen, wie Bauerkämper (2005) festhält, durch eine „grundsätzliche Staatsloyalität“ (108) gebrochen war und durch Zensur und diverse Maßnahmen des MfS in ihrer Wirkung begrenzt blieb. Einen Wandel der Formen und Trägerschichten oppositionellen, widerständigen Verhaltens innerhalb der DDR- Bevölkerung thematisiert auch der Abschlussbericht der Enquete- Kommission Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktator in Deutschland, die im Auftrag des Deutschen Bundestages von 1992 bis 1994 arbeitete und ihre Ergebnisse 1995 vorlegte. In dem Bericht heißt es, dass die Motivationen, Erscheinungsformen, das Ausmaß und die Intensität von Opposition und Widerstand, aber auch deren Möglichkeiten und Grenzen erheblichen Wandlungen unterlagen. Oppositionelles und widerständiges Verhalten seien daher „im jeweiligen Zeitkontext zur politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung der SBZ/DDR zu begreifen“ (zitiert nach Veen 2000: 7). Gleichzeitig wird betont, dass die Begriffe ‚Opposition‘ und ‚Widerstand‘ die vielfältigen Formen und Ausdrucksweisen regimekritischer, widerständiger oder regimefeindlicher Verhaltensweisen und Auffassungen nicht zu erfassen vermögen: „Gesellschaftliche Verweigerung, Dissidenz, Opposition, Resistenz, Auflehnung sowie passiver und aktiver Widerstand – all diese Protesthaltungen umschreiben von den politisch-ideologischen Normen der SED-Diktatur abweichende Verhaltensweisen, die konkret zu bestimmen sind.“ (Ebd.) Somit sei statt einer einheitlichen „Geschichts- und Widerstandstheorie“ eine „möglichst farbige, inhaltlich und historisch differenzierte Gesamtgeschichte des Widerstandes“ (ebd.) zu erarbeiten. Deutlich wird anhand dieser Forderung, dass sich die sehr heterogenen Formen nonkonformen Verhaltens in der DDR-Bevölkerung nicht primär anhand theoretischer Herrschaftsmodelle beschreiben lassen, sondern zunächst empirisch rekonstruiert werden müssen, um anschließend zu begründeten theoretischen Annahmen zu gelangen. Untrennbar verbunden mit der Frage nach nonkonformem Verhalten in der DDR ist die Rolle der Kirchen, insbesondere der evangelischen Kirche.5 Dies mag zunächst verwundern, da sich die DDR im Zuge des staatlich forcierten Atheismus zu einer der „am stärksten säkularisierten Regionen der Welt“ (Richter 2009: 75) entwickelt hat. In der Endphase der DDR waren Christen eine Minderheit, lediglich rund 30 Prozent der Bevölkerung gehörten einer Kirche an und der Anteil tatsächlich praktizierender Christen war verschwindend gering (vgl. ebd.). Die

5 Die Rolle der katholischen Kirche für Widerstand und Opposition in der DDR kann insgesamt als eher marginal eingestuft werden. Alleine schon zahlenmäßig waren Katholiken in der DDR unterrepräsentiert (1989 rund 4 Prozent der Bevölkerung). Und im Gegensatz zur evangelischen Kirche gab sich die katholische Kirche in politischen Fragen eher zurückhaltend, zumal sie sich als „Diaspora-Kirche seit langem an die Minderheitensituation“ (Richter 2009: 84) gewöhnt hatte (vgl. auch Heydemann 2003: 100).

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Zahl der Konfessionslosen wuchs hingehen von unter 10 Prozent (1950) auf rund 70 Prozent (1990) (vgl. Pollack 2000: 19). Dennoch erlangten die Kirchen für Widerstands- bzw. Oppositionsbewegungen eine zentrale Rolle, da sie unterschiedlichsten oppositionellen Gruppierungen einen mehr oder minder geschützten Kommunikations- und Begegnungsrahmen boten. Dies sollte jedoch nicht zu der Schlussfolgerung führen, dass sich unter dem Dach der Kirchen eine einheitliche, womöglich sogar religiös motivierte Widerstandsbewegung formierte, wie Veen (2000) betont: „Die gängig gewordene Redeweise von der Opposition in der SED-Diktatur kann dazu verleiten, Opposition und Widerstand in der DDR als ein einheitliches Phänomen mißzuverstehen. Dieser Irrtum wird noch dadurch erleichtert, daß die meisten Oppositionsgruppen der siebziger und achtziger Jahre unter dem Schutzdach der evangelischen Kirchen operierten. Dies trug dazu bei, die zum Teil wesentlichen Unterschiede der Milieus sowie der politischen Grundüberzeugungen und Ziele bei den einzelnen Gruppen und Akteuren zu verdecken.“ (S. 8) Auch der Historiker Günther Heydemann (2003) argumentiert, dass mitnichten von einer protestantisch getragenen Oppositionskultur der DDR gesprochen werden kann: „Obwohl die Vernetzung der Gruppen vor allem unter dem Dach der Kirchen erfolgte, ist die griffige Formel einer ‚protestantischen Revolution‘ nicht haltbar“ (S. 103). Die Bedeutung der Kirchen für Oppositionelle verschiedenster Art basierte somit insgesamt eher auf institutionellen Gründen, denn trotz teilweise recht massiver Repressionen seitens der DDR- Staatsführung (vor allem in der Anfangsphase der DDR)6 gelang es den Kirchen, sich als halbwegs eigenständige Institutionen zu erhalten. Sie gewannen mit ihren „verbliebenen Freiräumen als Fluchtburgen für nonkonforme sowie bedrängte oder systemkritische Nichtchristen eine zunehmende Anziehungskraft“ (Eisenfeld 2000: 27). Die Kirchenführer vermieden insgesamt zu explizite Kritik am politischen System der DDR, dennoch gab es einzelne Protagonisten wie die Pfarrer Rainer Eppelmann, Christoph Wonneberger oder Friedrich Schorlemmer, die zu zentralen Figuren der oppositionellen Kräfte innerhalb der DDR wurden (vgl. Richter 2009: 84). Aus dem heterogenen nonkonformen Milieu, dem die evangelischen Kirchen in der DDR einen gewissen Schutzraum boten, entstanden schließlich ab Ende der siebziger Jahre verschiedene Friedens-, Umwelt-, Frauen- und Menschenrechtsgruppen (vgl. Heydemann 2003: 102; Bauerkämper

6 Eine der folgenreichsten Maßnahmen der SED gegen die Kirchen war die Einführung der Jugendweihe im Jahr 1954. Dieses Ritual sollte explizit die christliche Konfirmation ersetzen und hatte dadurch eine quasi- religiöse Dimension. Jugendliche, die nicht an der Jugendweihe teilnahmen, hatten u.U. mit schlechteren Ausbildungschancen, einem Studiumsverbot und Dergleichen mehr zu rechnen. Die evangelische Kirche wiederum erklärte die Jugendweihe und die Konfirmation für unvereinbar. Die Anzahl der konfirmierten Jugendlichen ging in der Folge immer weiter zurück, während gleichzeitig immer mehr an der Jugendweihe teilnahmen und sie schließlich zur Regel wurde (vgl. Richter 2009: 78f.; Heydemann 2003: 100f.). 28

2005: 109). Durch das Forum, das die Kirchen diesen Gruppen bot, steigerte sich deren Selbstvertrauen. Auf diese Weise wurden die evangelischen Kirchen „zum Austragungsfeld der gesellschaftlich nicht zugelassenen Widersprüche“ (Pollack 1993: 253). Die mit der Machtübernahme Michael Gorbatschows im Jahr 1985 einhergehenden politischen Veränderung (Glasnost und Perestroika) förderten die Bereitschaft der DDR-Oppositionellen, offene Kritik am Staat zu äußern. Somit hatten sich in den letzten Jahren der DDR „soziale Räume und Beziehungen [herausgebildet], die eine ‚Reaktivierung der DDR-Gesellschaft‘ herbeiführten, zur Grundlage einer Gegenöffentlichkeit wurden und Ansätze zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation aufwiesen“ (Bauerkämper 2005: 109). Insgesamt kann festgehalten werden, dass es in der gesamten Zeit der Existenz der DDR verschiedene Formen, Gruppen und Zielsetzungen widerständiger Kräfte gab. Eine historische oder auch soziologische Einschätzung des Ausmaßes bzw. der Folgewirkungen oppositioneller Dynamik innerhalb der DDR-Gesellschaft gestaltet sich jedoch schwierig (vgl. Ross 2002: 754). Es besteht eine eklatante Diskrepanz zwischen frühen zeitgeschichtlichen Untersuchungen, die Opposition und Widerstand in der DDR eher eine marginale Rolle zuschrieben und dem plötzlichen Implodieren des politischen Systems der DDR im Herbst 1989, bei dem oppositionelle Kräfte zweifelsohne eine tragende Rolle einnahmen. Aus diesem vermeintlichen Widerspruch lässt sich jedoch eine sozialgeschichtlich bedeutsame Erkenntnis gewinnen, die Neubert (2000) in prägnanter Weise zusammenfasst: „Die richtige Feststellung der Marginalisierung von Opposition und Widerstand in einer Mehrheit der angepaßten, eingeschüchterten oder unpolitischen Bevölkerung kann aber ebensogut darauf hinweisen, daß trotz der repressiven Maßnahmen der SED und der hohen Risiken für die Akteure in der Gesellschaft stets Kräfte wirkten, die die SED nicht beherrschen konnte. Denn trotz der nahezu umfassenden Eingriffe der Kommunisten in die Gesellschaft gelang es ihnen nicht, deren kulturelle, geistige und religiöse Grundlagen ganz und gar auszuschalten.“ (Neubert 2000: 17) Dieser auf empirischen Daten beruhende Befund untermauert zusätzlich die These von den „Grenzen der Diktatur“ (Bessel und Jessen 1996a) bzw. vom „Eigen-Sinn“ (Lüdke 1993), aber auch die Konzepte der „konstitutiven Widersprüchlichkeit“ (Pollack 1998) und der „Doppelkultur“ (Lemke 1991) der DDR. Denn, so marginal spezifische nonkonforme, widerständige oder eben offen oppositionelle Denk- und Verhaltensweisen innerhalb der DDR-Bevölkerung in Teilen auch gewesen sein mögen, sie gehörten gewissermaßen zwangsläufig zum politischen System. Mehr noch: Die rigiden innenpolitischen Reglementierungen der SED und die umfassenden Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen des MfS erzeugten diese speziellen Formen abweichenden Verhaltens überhaupt erst:

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„Als Folge ihres Anspruchs auf totale Kontrolle und Autorität schuf sich die SED häufig ihre ‚Feinde‘ selbst, indem sie von der Norm abweichende Handlungen und Verhaltensweisen als Dissens oder gar Opposition brandmarkte, auch wenn gar keine entsprechende Absicht vorlag und die ‚Vergehen‘ unter weniger rigiden Regimen keine Konsequenzen nach sich gezogen hätten.“ (Ross 2002: 748) Somit wurden durch den umfassenden Herrschaftsanspruch der SED Verweigerung, Protest und Widerstand teilweise auch dort erzeugt oder radikalisiert, wo sonst abweichendes Potenzial kaum entstanden wäre. Das Arrangement zwischen Herrschenden und Bevölkerung war letztlich von Anfang an brüchig, auch wenn die konkreten Konfliktlinien, wie von Pollack (1998) beschrieben, nicht unmittelbar sichtbar waren. Die weitreichenden Machtansprüche der SED auf der einen und unterschiedlichste, oftmals verdeckte Formen des Unwillens zur Machtanerkennung (zumindest von Teilen) der Bevölkerung auf der anderen Seite, erzeugten gleichsam ein stilles, aber substanzielles Konfliktpotenzial und einen schleichenden Autoritätsverlust der Machthaber. Diese Dynamik trug im Herbst 1989 maßgeblich zum vordergründig abrupten Zusammenbruch des politischen Systems der DDR bei (vgl. Bauerkämper 2005: 109).

2.5 Erinnerungskulturen – Die DDR im sozialen Gedächtnis

In den letzten Jahren ist ein Forschungsfeld zunehmend in den Fokus sozial- und kulturwissenschaftlicher Studien gerückt, das indirekt auch einen Bezug zur Sozialgeschichte der DDR hat: Die Frage nach spezifischen Erinnerungsdiskursen, die heute in Bezug auf die DDR existieren. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang in besonderer Weise die Sammelbände Erinnerungsorte der DDR (2009) von Martin Sabrow und Ostdeutsche Erinnerungsdiskurse nach 1989 – Narrative kultureller Identität (2013) von Elisa Goudin- Steinmann und Carola Hähnel-Mesnard. Das Ziel des letzteren ist es laut den Herausgeberinnen, den „Akzent auf die wechselseitige Durchdringung von Erinnerungen, Narrationen sowie individueller und kollektiver Identität zu setzen“ (Goudin-Steinmann & Hähnel-Mesnard 2013b: 12). In anderen Worten: Von wem wird was in welcher Weise über die DDR als Erinnerung weitergegeben? Die Autorinnen betonen dabei, dass Erinnerungen „angeeignet, umgeformt und immer nach Maßgabe gegenwärtiger Bedingungen rekonstruiert“ (ebd.) werden. Einer der Leitgedanken des Sammelbandes besteht in dem (empirisch gestützten) Befund, dass „der Diskurs der ehemaligen DDR-Bürger über die eigene Identität anderen Regeln gehorcht als der ‚offizielle‘ Diskurs über Einheit und über die Zeit der

30 deutschen Teilung“ (S. 13). Darüber hinaus hätten sich auch unter Ostdeutschen unterschiedliche, teilweise konkurrierende Erinnerungsgemeinschaften herausgebildet, die sowohl zwischen verschiedenen Generationen als auch innerhalb einer Generation zu finden seien. Somit könne behauptet werden, dass es „ein dominantes öffentliches Gedächtnis und gleichzeitig ‚Gegengedächtnisse‘ gibt, die um Erinnerungshoheit konkurrieren“ (S. 16). Thomas Ahbe (2013) greift diese Konzeption in seinem Aufsatz im dem Sammelband von Goudin-Steinmann und Hähnel-Mesnard auf und rekonstruiert zunächst eine spezifisch ostdeutsche Erinnerungskultur in Bezug auf die DDR, die sich bisweilen deutlich von dem gesamtdeutschen Diskurs über die DDR-Vergangenheit unterscheidet. Ahbe identifiziert im Wesentlichen drei Quellen für diese Unterschiede: „Erstens nahmen die Ostdeutschen erst nach dem Beitritt und im alltäglichen Kontakt mit den Westdeutschen ihre DDR-Sozialisation und ihre besonderen Maßstäbe bei der Bewertung gesellschaftlicher Realitäten wahr. Zweitens reproduziert sich ostdeutsche Identität durch die Erfahrung der nachhaltigen materiellen Schlechterstellung der Ostdeutschen und drittens durch ihre symbolische Schlechterstellung. Letzte ist verursacht durch die im Nachwendedeutschland vorherrschende diskursive Konstruktion der Ostdeutschen, ihrer Alltagskultur und ihrer Vergangenheit in der DDR.“ (S. 28) Den letzten Aspekt erklärt Ahbe mit den Entwicklungen der Medienlandschaft in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung. Die Leitung der nun auch für die neuen Bundesländer nach westdeutschem Modell geschaffenen öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten und der im Zuge der Vereinigung Deutschlands restrukturierten ostdeutschen Tageszeitungen stammte meistens aus dem Westen. Somit hätte sich ein Diskurs über die DDR etabliert, der vor allem von westdeutschen Akteuren getragen wurde und die Ostdeutschen hätten sich „nach Verwestlichung der ostdeutschen Medienlandschaft schlagartig unter einem neuen Diskurs-Himmel“ (S. 34) wiedergefunden: „Sie sahen nun ihr Vorleben in der DDR, ihre Erinnerungen, Erfahrungen und Wertvorstellungen vor allem aus westdeutscher Perspektive beschrieben und bewertet.“ (Ebd.) Aufgrund dieser „Westzentrierung“ der ostdeutschen Medienlandschaft nach 1990 habe es kaum ein Medium gegeben, in dem Ostdeutsche ihre besonderen Erfahrungen und Erinnerungen im Zusammenhang mit ihrer DDR-Sozialisation und dem Transformationsprozess der Wiedervereinigung hätten diskutieren können. Stattdessen sei der mediale DDR-Diskurs vor allem von verschiedenen westdeutschen Stereotypen über Ostdeutsche und die DDR bestimmt gewesen (vgl. S. 37). Dadurch habe sich eine „beträchtliche Lücke zwischen den Diskursen der überregionalen Medien und den informellen Diskursen der ostdeutschen Bevölkerung, ihren Erfahrungen, Werten und Sinnvorstellungen“ (ebd.) aufgetan. Ein wesentliches Element 31 dieser Diskrepanz zwischen kollektiv geteilten Erinnerungen der ostdeutschen Bevölkerung und dem dominierenden DDR-Diskurs ist laut Ahbe der Umstand, dass die DDR geschichtspolitisch mit den Topoi der „zwei deutschen Diktaturen“ und den „beiden totalitären Systemen“ in die Nähe des ‚Dritten Reichs‘ gerückt würde. Dadurch wäre bei vielen Ostdeutschen das Gefühl entstanden, als „Deutsche zweiter Klasse“ gesehen zu werden (vgl. S. 40-42). Sowohl Ahbes als auch Goudin-Steinmanns und Hähnel-Mesnards Überlegungen zu Erinnerungskulturen in Bezug auf die DDR knüpfen an eine Konzeption des Historikers Martin Sabrow (2009b) an, nach welcher die heutigen kollektiven Vorstellungen über die DDR „offenbar noch keine eindeutig markierte Position im kulturellen Gedächtnis gefunden“ (S. 15) haben. Dies hängt nach Sabrow maßgeblich damit zusammen, dass das Bild der DDR „bis heute aus den unterschiedlichen Blickwinkeln der östlichen Binnen- und der westlichen Außenperspektive“ (S. 16) gewonnen wird. In anderen Worten: „Auf die Frage, ob die DDR ein fehlgeschlagenes Experiment, eine kommode Diktatur oder eine totalitäre Diktatur war, gibt es gegenwärtig und in absehbarer Zukunft keine einheitliche Antwort.“ (Ebd.) Somit sei die DDR gewissermaßen zu einem „Kampfplatz der Erinnerungen“ (ebd.) geworden, auf welchem viele verschiedene Sichtweisen um ein stimmiges Bild der DDR ringen. Basierend auf diesen Grundüberlegungen, entwickelt Sabrow ein Modell unterschiedlicher kollektiver Gedächtnisformen im Zusammenhang mit der DDR-Vergangenheit. Dabei unterscheidet er zunächst die bis 1989 in der DDR und in der BRD dominierenden Gedächtnismuster. Die einzige, in der DDR zugelassene Form des Erinnerns an die eigene Vergangenheit sei das herrschaftslegitimierende Traditionsgedächtnis gewesen: Dieses trachtete danach, so der Autor, „politisch unerwünschte Erinnerungen mit den Mitteln der Zensur, der Indoktrination und der unverhüllten Repression zu überformen oder gänzlich zu unterdrücken, so dass die Entwicklungsgeschichte der DDR […] zu einem kontinuierlichen Reifungsprozess veredelt wurde […]“ (ebd.). Demgegenüber habe in der BRD zunächst ein weit verbreitetes Empörungsgedächtnis gestanden, das vor allem das Bewusstsein vom Unrechtscharakter des SED-Staates habe wachhalten wollen, dann aber ab den sechziger Jahren zunehmend von einem Akzeptanzgedächtnis abgelöst worden sei, das „die schwierigen Bedingungen des Ostens und […] die einzelnen Fortschritte und Rückschläge auf dem Weg zu einem auskömmlichen Leben mit der Teilung und zu einem besseren Miteinander in Erinnerung“ (S. 17) rief. Sabrow betont jedoch, dass diese drei Erinnerungsmuster nur bis 1989/90 gegolten und danach rapide an Bedeutung verloren hätten.

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Nach dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung Deutschlands hätten sich drei neue „Erinnerungslandschaften“ herausgebildet, die, so der Autor, bis heute Gültigkeit haben. Im Zentrum des öffentlichen Interesses sowie der medialen Berichterstattung über die DDR stehe das Diktaturgedächtnis, das vor allem auf den totalen Herrschaftsanspruch der SED, den Unterdrückungscharakter des politischen Systems und deren Überwindung durch die friedliche Revolution abhebe. Diese „diktaturzentrierte Erinnerung widmet ihre Aufmerksamkeit vorrangig dem Macht- und Repressionsapparat des kommunistischen Regimes, und sie pocht darauf, dass zum Verständnis der DDR die Stasi wichtiger sei als die Kindergrippe“ (S. 18). In diesem speziellen, deutlich normativen Erinnerungsmodus werde politischer Freiheit und der Menschenwürde ein entschieden höherer Wert zugemessen als „den sozialen und wirtschaftlichen Gratifikationen, die die DDR unter dem Eindruck der bundesdeutschen Wirtschaftslage und ihrer hohen Arbeitslosigkeit rückblickend als eine Fürsorgediktatur der sozialen Sicherheit erscheinen lassen“ (ebd.). Durch eine „Täter-Opfer- Fokussierung“ räume das Diktaturgedächtnis Verbrechen, Verrat und Versagen des politischen Systems der DDR einen hohen Stellenwert ein. Die wichtigste Aufgabe dieser Gedächtnisstruktur sei die Erinnerung an Leid, Opfer und Widerstand, die „im Dienst der Gegenwart Lehren aus der Geschichte ermöglichen und so vor historischer Wiederholung schützen soll“ (ebd.). Jenseits dieser den öffentlichen DDR-Diskurs dominierenden Gedächtnisstruktur bestehe das Arrangementgedächtnis, das von „alltäglicher Selbstbehauptung unter widrigen Umständen [erzählt], aber auch von eingeforderter oder williger Mitmachbereitschaft und vom Stolz auf das in der DDR Erreichte“ (S. 19). Darüber hinaus pflege das Arrangementgedächtnis eine gewisse Skepsis gegenüber der neuen Werteorientierung im wiedervereinigten Deutschland. Obwohl es teilweise die gleichen Bezugspunkte wie das Diktaturgedächtnis beinhaltet, verbindet es diese, so Sabrow weiter, mit anderen, teils diametralen Erinnerungen: „[Es] fühlt sich vom Blauhemd der FDJ nicht allein an die Zurichtung durch die Parteimacht erinnert, sondern auch an die glückliche Zeit der eigenen Jugend, und vom Einkaufsbeutel nicht nur an den deprimierenden Mangel an Waren, sondern auch an den einstigen Wert der Dinge.“ (Ebd.) Die dritte Erinnerungsform an die DDR-Vergangenheit ist schließlich das Fortschrittgedächtnis, das allerdings weitestgehend im Schatten der öffentlichen Wahrnehmung existiere. Das Fortschrittgedächtnis baut seine „Erinnerungen auf der vermeintlichen moralischen und politischen Gleichrangigkeit der beiden deutschen Staaten auf, die zu friedlicher Koexistenz und gegenseitiger Anerkennung geführt hätten, wenn die Fehler der 33

DDR-Führung, die Ungunst der Umstände oder die Machinationen des Westens nicht zur endgültigen oder nur vorläufigen Niederlage des sozialistischen Zukunftsentwurfs geführt hätten“ (ebd). Anknüpfungspunkte des Fortschrittgedächtnisses seien z.B. die zu Unrecht verkanten Vorteile des DDR-Bildungssystems, Vorbehalte gegen das kapitalistische Finanzsystem oder die Vorstellung der in der DDR weiter voran geschrittenen Gleichstellung von Frauen. Die Trägerschichten dieser spezifischen Gedächtniskultur seien vor allem in Netzwerken früherer DDR-Eliten und im Umfeld der Linkspartei (früher PDS) zu finden (vgl. S. 19f.). Ahbe greift Sabrows Konzeption der drei verschiedenen Gedächtniskulturen in Bezug auf die DDR auf, betont jedoch, dass dieser theoretische Ansatz alleine nichts über die Größe der Trägerschichten bzw. Erzählgemeinschaften aussagt, in denen die verschiedenen Erinnerungen kultiviert werden. Statistische Ergebnisse aus Umfragen unter der ostdeutschen Bevölkerung legen nahe, dass sich ein erheblicher Teil der ehemaligen DDR-Bürger nicht von den verschiedenen Formen staatlichen Unrechts in der DDR betroffen fühlte – und somit keine soziale Trägerschicht für das Diktaturgedächtnis bildet. Diese Spannung zwischen „den Narrativen des ‚staatlich privilegierten Diktaturgedächtnisses‘ einerseits und andererseits den Statistiken zum Unrechts-Erlebnis oder der Unzufriedenheit mit dem eigenen Verhalten legt es nahe, sich die ostdeutsche Erinnerung wie einen Eisberg vorzustellen.“ (Ahbe 2013: 49) Mit dieser Metapher möchte Ahbe das Verhältnis zwischen sichtbaren und unsichtbaren Erinnerungsdiskursen der ehemaligen DDR-Bürger abbilden: „Gut sichtbar, über der Wasseroberfläche, bieten sich dem Blick des Betrachters die Narrative des staatlich privilegierten Diktaturgedächtnisses. Der größte Teil der ostdeutschen Erinnerung aber befindet sich im Dunkel, unter der Wasseroberfläche. Er wird nicht wahrgenommen, weil seine Narrative ambivalent sind und weil sie die Narrative des Diktaturgedächtnisses nicht nur ergänzen und differenzieren, sondern auch dementieren.“ (S. 49f.) Die skizzierten theoretischen Überlegungen zu verschiedenen Erinnerungskulturen im Zusammenhang mit der DDR-Vergangenheit rekurrieren auf frühere sozialpsychologische Arbeiten – insbesondere von Harald Welzer (etwa 2001, 2008; Welzer et al. 2002) – zu den Strukturen und Funktionen individueller, aber auch kollektiver Erinnerungen. Nach Welzer funktioniert das menschliche Erinnerungsvermögen nicht einfach nur wie ein Speicher von Informationen, sondern spezifische Erinnerungen erhalten erst in einem sozialen Kontext ihre Gültigkeit und Bedeutung: Das autobiographische Gedächtnis beruht keineswegs nur darauf, „was der neuronale Apparat an Erfahrungen synaptisch codiert hat, sondern eben auch darauf, dass Erfahrungen nur dann als solche gelten können, wenn diese Geltung sozial fundiert ist: Es muss noch andere Menschen geben, die

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jederzeit bestätigen, dass das Erinnerungsinventar des Autobiographen mit dem auf ihn bezogenen Erinnerungsinventar seiner sozialen Umwelt übereinstimmt“ (Welzer 2008: 16). Verschiedene vermeintliche Dysfunktionen des menschlichen Gedächtnisses wie z.B. Vergessen oder falsches Erinnern trügen in Wahrheit maßgeblich zur Funktionalität des Erinnerns bei, die nicht in der reinen Speicherung von Informationen bestehe, sondern in der Anpassung an aktuelle Ereignisse vor dem Hintergrund selektiv modulierter Gedächtnisinhalte. Kurzum: „Erinnerungsinhalte unterliegen in hohem Maße gebrauchsabhängigen Veränderungen“ (S.19). Kategorien wie „wahr“ und „falsch“ spielen, so Welzer, für das Gedächtnis eher eine untergeordnete Rolle. Entscheidend ist vielmehr die Funktionalität von Erinnerungsstrukturen in Bezug auf die Anpassung an sich verändernde Umweltbedingungen bzw. Lebensumstände. Dieser Aspekt ist für historische und sozialwissenschaftliche Studien von höchster Relevanz, denn der Wahrheitsbegriff der Wissenschaften orientiert sich an völlig anderen Maßstäben als individuelle oder kollektive Vorstellungen von Wahrheit und Wirklichkeit. Viele Konflikte zwischen „Wissenschaftlern und Zeitzeugen und besonders die Durchmischungen von ‚Erinnern‘ und ‚Gedenken‘ gehen auf die chronische Vernachlässigung dieser Unterscheidungen zurück“ (S. 20). Das menschliche Gedächtnis operiere, so Welzer weiter, vor allem als ein sinngenerierendes Modul. Nicht die korrekte Abspeicherung von Erlebtem, sondern die Anpassung von Erinnerungen an kollektiv vorgegebene Sinnstrukturen in der Gegenwart sei die eigentliche Hauptfunktion des menschlichen Gedächtnisses. Deshalb werden „situative Umstände, Kausalitäten, Abläufe etc. so erinnert, dass es am meisten ‚Sinn macht‘. Deshalb werden sowohl individuelle Lebensgeschichten wie die Geschichten von Kollektiven permanent im Lichte neuer Erfahrungen und Bedürfnisse, vor allem aber auch unter den Bedingungen neuer Deutungsrahmen aus der Gegenwart heraus überschrieben“ (S. 27). Auf die verschiedenen Erinnerungsmodi im Zusammenhang mit der DDR-Geschichte übertragen bedeutete dies, dass die spezifischen Erinnerungsinhalte der verschiedenen Gedächtnisformen für die jeweilige Trägerschicht den funktional höchsten Wert hat, da er ihre subjektiven Erlebnisse am ehesten mit einem kollektiv geteilten Sinngehalt versieht. Im Falle des Diktaturgedächtnisses werden westdeutsche Sinn- und Deutungsschemata in Bezug auf das geteilte Deutschland auf die ostdeutsche Bevölkerung übertragen, die ihre persönlichen Erfahrungen jedoch häufig nicht in die westdeutschen Sinnhorizonte einbetten können, wodurch es zu einer Spaltung zwischen einer offiziellen und einer inoffiziellen, aber von erheblichen Teilen der Ostdeutschen getragenen Erinnerungskultur kommt.

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2.6 Zusammenfassung

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Gesellschaftsgefüge der DDR, insbesondere das Verhältnis zwischen Herrschaft und Gesellschaft, äußerst komplex war und sich weder einseitig in den umfangreichen Machtansprüchen und der Herrschaftspraxis der SED noch in der nonkonformen, widerständigen bzw. oppositionellen Dynamik der Bevölkerung auflösen lässt. Herrschaft und Widerstand in einem vielfach verwobenen, dynamischen Wechselverhältnis. Widerständiges Verhalten – in welcher Form auch immer – war letztlich immer auf die geltenden Machtverhältnisse der DDR bezogen und von diesen bestimmt. Umgekehrt erzeugte die DDR-Staatsführung mit der Durchsetzung ihrer Machtansprüche selbst widerständiges Verhalten in der Bevölkerung. Die (vermeintliche) Widersprüchlichkeit zwischen der vier Jahrzehnte währenden Stabilität der DDR und ihrem abrupten Zusammenbruch erklärt sich zumindest in Teilen durch die verdeckte, aber vielleicht gerade deshalb umso wirksamere Widersprüchlichkeit der DDR-Gesellschaft. Verschiedene gesellschaftliche ‚Bruchlinien‘, wie sie von Pollack (1998) beschrieben wurden, trugen maßgeblich zur Implosion des politischen Systems der DDR bei, wurden aber erst nach der Wiedervereinigung Deutschlands sichtbar und traten in das Licht einer nun unabhängigen Öffentlichkeit. Mithin war die DDR-Gesellschaft, anders als es totalitarismustheoretische Perspektiven nahelegen, alles andere als eine „homogenisierte“ Gesellschaft. Es gab zahlreiche informelle Strukturen wie die von Gaus‘ beschriebenen Nischen, tradierte Überzeugungssysteme und Werte, subkulturelle Milieus, systemferne Alltagswirklichkeiten, nonkonforme Gruppierungen etc., die sich zwar nicht unabhängig von der politischen Macht der Herrschaft strukturierten, aber dennoch soziale Orte unterschiedlicher abweichender, widerständiger, eigen-sinniger und -logischer Wirklichkeitsauffassungen waren. Die damit verbundenen Vorstellungen könnten – obwohl sie der Zielkultur der DDR-Staatsführung widersprachen – in Teilen, wie Lemke (1991) argumentiert, sogar eine Art dominante inoffizielle Kultur gebildet haben. Diese Fragmentierung der DDR-Gesellschaft spiegelt sich letztlich auch in den verschiedenen Erinnerungskulturen in Bezug auf die DDR-Vergangenheit innerhalb der ostdeutschen Bevölkerung wider. Je nach spezifischer Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen Milieus, gesellschaftlichen Gruppierungen, Berufsgruppen usw. fallen die Erinnerung an die DDR- Gesellschaft höchst unterschiedlich aus. Diese unterschiedlichen individuellen sowie kollektiven Erinnerungen basieren dabei jedoch nicht nur auf verschiedenen

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Erfahrungswerten, sondern werden auch wesentlich dadurch bestimmt und geprägt, ob und inwiefern sie sich sinnhaft in bestehende Narrationen und Erinnerungsmodi einfügen lassen.

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3. Orthodoxie und Heterodoxie in der DDR-Gesellschaft

3.1 Wirklichkeit als soziale Konstruktion

Ein zentraler theoretischer Baustein der vorliegenden Studie wird durch verschiedene Implikationen der Wissenssoziologie (genauer: der phänomenologisch orientierten Wissenssoziologie) gebildet. Grundsätzlich geht die Wissenssoziologie von der These aus, dass Wissen immer sozial determiniert und damit eine Funktion des Sozialen ist. Anders ausgedrückt: „Die Gesellschaft ist nicht nur ein Gegenstand des Wissens, sie geht konstitutiv in das Wissen mit ein“ (Knoblauch 2005: 16). Somit wird innerhalb der Wissenssoziologie ein kritischer Wissensbegriff vertreten, der nicht in erster Linie in einem positivistischen Sinne nach dem (wie auch immer gearteten) ‚objektiven Wahrheitsgehalt‘ von Wissen fragt, sondern sich mit der Genese, Verbreitung und Bedeutung spezifischer Wissenskonfigurationen unabhängig von deren tatsächlichem Wahrheitsgehalt auseinandersetzt. Man könnte in diesem Zusammenhang auch von einem epistemologischen Agnostizismus sprechen (vgl. S. 17). In der für die neuere Wissenssoziologie wegweisenden Arbeit Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit der Soziologen Peter Berger und Thomas Luckmann (2004)7 fassen die beiden Autoren diese Ausrichtung wie folgt zusammen:

„Wir behaupten also, daß die Wissenssoziologie sich mit allem zu beschäftigen habe, was in einer Gesellschaft als ‚Wissen‘ gilt, ohne Ansehen seiner absoluten Gültigkeit oder Ungültigkeit. Insofern nämlich alles menschliche ‚Wissen‘ schließlich in gesellschaftlichen Situationen entwickelt, vermittelt und bewahrt wird, muss die Wissenssoziologie zu ergründen versuchen, wie es vor sich geht, daß gesellschaftlich entwickeltes, vermitteltes und bewahrtes Wissen für den Mann auf der Straße zu außer Frage stehender ‚Wirklichkeit‘ gerinnt.“ (S. 3) In diesem Sinne kann alles als ‚Wissen‘ gelten, „was in irgendeiner Weise als ‚wirklich‘ gedacht wird. Dieser Begriff umfasst sowohl Ideen, Theorien, ‚Faktenwissen‘, Glaubenssysteme, Sprache oder inkorporierte Handlungs- und Deutungsweisen“ (Keller 2005: 50). Entscheidend für das Verständnis dieses wissenssoziologischen Paradigmas ist das Anliegen von Alfred Schütz, die sog. verstehende Soziologie philosophisch zu fundieren. Der Grundsatz der verstehenden Soziologie, wie sie von Max Weber (1964) definiert wurde, besteht in der Bestimmung der Soziologie als Wissenschaft, welche „soziales Handeln deutend verstehen“ will und Handeln im Gegensatz zum Verhalten dadurch charakterisiert

7 Die erste Auflage des Bandes erschien 1966 in den USA. 38 sieht, dass „der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn“ verbinden (S. 3. Hervorhebung wie im Original). In anderen Worten: „Sinn ist, was Handeln leitet, orientiert und ein Verhalten erst als Handeln auszeichnet. Wissen ist also nichts der Handlung Äußerliches, sondern konstitutiv für Handeln“ (Knoblauch 2005: 142). Schütz kritisiert jedoch an Weber, dass ausgerechnet das zentrale Konzept der verstehenden Soziologie, der subjektive Sinn, von Weber nicht ausreichend bestimmt ist und präzisierte ihn mithilfe phänomenologisch orientierter Konstitutionsanalysen. Entscheidend für das Verständnis des Sinns von Handlungen ist für Schütz deren Zeitstruktur: „Aufgrund ihrer zeitlichen Struktur ist demzufolge die Handlung als abgeschlossene vom ablaufenden Vollzug – dem Handeln – zu unterscheiden, was sich in der verwickelten Struktur verschiedener Motivzusammenhänge ausdrückt (‚Um-zu-‚ bzw. Weil-Motive‘), welche dem Handeln im Entwurf und Vollzug (also prospektiv) einen anderen Sinn zuweisen als einer abgeschlossenen Handlung aus der retrospektiven Perspektive.“ (Schnettler 2007: 104) Während also die Um-zu-Motive auf den unmittelbaren Zweck einer zukünftigen Handlung abzielen, geben die Weil-Motive Auskunft über die Gründe bzw. Ursachen dafür, warum es zu einem konkreten Handlungsentwurf gekommen ist. Aufgrund der Annahme, dass letztlich alle sozialen Handlungen durch derartige Sinn- bzw. Motivstrukturen geprägt sind (die im Wesentlichen intersubjektiv generiert werden) geht Schütz grundsätzlich von einem sinnhaften Aufbau der sozialen Welt8 aus, deren soziale Wirklichkeiten durch interaktive und kommunikative Sinnsetzungsprozesse konstituiert werden (vgl. Schnettler 2007: 104; Endreß 2006: 342).

Lebenswelt und Alltagswirklichkeit

Von grundlegender Bedeutung ist hierbei das Konzept der Lebenswelt, das innerhalb der Phänomenologie Husserls eine zentrale Rolle einnimmt und von Schütz und später auch von Berger und Luckmann aufgegriffen wurde (vgl. Keller 2005: 51). Doch während bei Husserl der Fokus im Zusammenhang mit dem Konzept der Lebenswelt noch philosophisch- erkenntnistheoretisch ausgerichtet war, verschiebt sich die Perspektive bei Schütz und auch bei Berger und Luckmann „sehr deutlich in Richtung auf eine sozialwissenschaftliche Problemstellung: Die Lebenswelt ist eine im Handeln und Wirken entstehende Wirklichkeit“ (Schnettler 2007: 106). Die Grundidee besteht darin, dass die Lebenswelt gleichsam die

8 So lautet auch der Titel des ersten und zu seinen Lebzeiten einzigen erschienenen Bandes von Alfred Schütz (1932). 39 unterste Ebene intersubjektiv erzeugter Wirklichkeit ist. In der Lebenswelt bildet das menschliche Bewusstsein im Erfahren „Gegenstände aus, die als Dinge in der Welt erscheinen“ (Knoblauch 1999: 111). Diese Erfahrungsgegenstände sind jedoch keineswegs bloße Abbildungen des Wahrgenommenen, vielmehr werden sie durch das Bewusstsein selbst konstruiert: „Das Bewusstsein erst bildet die Erfahrungsgegenstände, es ‚typisiert‘ sie als einander Ähnliche, und es bestimmt die Kriterien der Ähnlichkeit (‚Relevanz‘). Unser Wissen hat also einen eminent subjektiven Charakter.“ (Ebd.) Die innerhalb der Lebenswelt konstruierte Wirklichkeitsform, die Alltagswirklichkeit, ist jedoch keineswegs die einzige Variante intersubjektiv erzeugter Wirklichkeit. Vielmehr bestehen, so Schütz, „mannigfache Wirklichkeiten“ im Rahmen spezifischer Sinnstrukturen („Sinnprovinzen“): „Neben der Alltagswelt besteht eine Fülle weiterer Sinnprovinzen, wie etwa die Welten der ästhetischen Erfahrung, der Träume, des Phantasierens, der Spielwelt des Kindes oder die Welt der wissenschaftlichen Theorie.“ (Schnettler 2007: 107) Die Alltagswirklichkeit nimmt jedoch eine besondere Stellung ein, denn „die Welt des Alltags ist der Bereich der Praxis, der Bereich, in dem Menschen miteinander handeln und kommunizieren können und deshalb von besonderer Bedeutung für den Aufbau der sozialen Welt“ (S. 108). Das zur Lebenswelt bzw. zur Alltagswirklichkeit gehörende Alltagswissen zeichnet sich vor allem durch eine pragmatische Orientierung aus, da für die erfolgreiche Bewältigung der meisten Probleme des Alltags ein einfaches ‚Rezeptwissen‘ genügt und beispielsweise keine detaillierten Kenntnisse über bürokratische Abläufe, technische Geräte oder juristische Bestimmungen nötig sind, um sich im alltäglichen Leben zurecht zu finden. In anderen Worten: „Wo unsere praktischen Interessen dominieren, genügt ein Wissen, daß bestimmte Mittel und Prozeduren bestimmte gewünschte oder nicht gewünschte Resultate bringen“ (Schütz, zitiert nach Schnettler 2007: 110). Daher ist das Alltagswissen in vielerlei Hinsicht „unvollständig, oberflächlich und lückenhaft“ (ebd.), dennoch bleibt die Alltagswelt die „‘vorherrschende Wirklichkeit‘, weil hier Handeln stattfindet, weil hier Wirkungen in der Umwelt auch für andere erzielt werden und weil wir hier mit anderen verkehren“ (Knoblauch 2007: 121). Genau diese Wirklichkeit der Alltagswelt ist es, die Berger und Luckmann (2004) in den Fokus ihrer Theorie über die gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit stellen: „Unsere Abhandlung soll eine soziologische Analyse der Alltagswirklichkeit vorstellen – präziser: eine Analyse jenes Wissens, welches das Verhalten in der Alltagswelt reguliert.“ (S. 21) Auch Berger und Luckmann gehen, wie Schütz, davon aus, dass Wissen und Wirklichkeit grundsätzlich auf subjektiven Erfahrungen beruht. Prinzipiell hätten Menschen jedoch Zugang

40 zu den Erfahrungen anderer, da sie ihr Handeln an den Erfahrungen anderer orientieren und ihre eigenen Erfahrungen kommunizieren (vgl. Anton 2011: 69). Dies ist letztlich als der Kern der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit zu betrachten: Durch Kommunikation und Interaktion, so die grundlegende These, bauen Menschen eine gemeinsame Wirklichkeit auf, welche individuelle Erfahrungen und Handlungen überschreitet und gleichsam als ‚objektive Tatsache‘ auf sie zurückwirkt. Die Frage, wie genau dieser Prozess funktioniert, steht somit im Mittelpunkt der wissenssoziologischen Analyse: „Wie ist es möglich, dass subjektiv gemeinter Sinn zu objektiver Faktizität wird? Oder, in der Terminologie Webers und Durkheims: Wie ist es möglich, dass menschliches Handeln (Weber) eine Welt von Sachen hervorbringt? So meinen wir denn, dass erst die Erforschung der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit – der ‚Realität sui generis‘ – zu ihrem Verständnis führt. Das, glauben wir, ist die Aufgabe der Wissenssoziologie.“ (Berger & Luckmann 2004: 20. Hervorhebungen wie im Original) Zu betonen ist, dass Berger und Luckmann von der Wirklichkeit sprechen, sie beschränken sich also nicht auf die gesellschaftliche Wirklichkeit, es „ist die gesamte Wirklichkeit, die von der Gesellschaft konstruiert wird“ (Knoblauch 2005: 156). Die Autoren stellen sich dabei den Prozess der gesellschaftlich determinierten Entstehung von Wirklichkeit als eine Art Wechselbeziehung aus Externalisierung, Objektivierung und Internalisierung vor, die „als Dialektik den Zusammenhalt von subjektiver und objektiver Wirklichkeit garantieren“ (ebd.). Kurzum: „Gesellschaft ist ein menschliches Produkt. Gesellschaft ist eine objektive Wirklichkeit. Der Mensch ist ein gesellschaftliches Produkt.“ (Berger & Luckmann 2004: 65) Bei der Externalisierung beziehen sich die Autoren wesentlich auf Annahmen aus der Philosophischen Anthropologie9. Hier wird der Mensch als ‚instinktarmes Mängelwesen‘10 begriffen, welches, anders als Tiere, darauf angewiesen ist, sich eine ‚externe‘ Welt zu konstruieren („exzentrische Positionalität“11), die ihm als Orientierung und Sicherheit dient. Anders ausgedrückt: „Weil der Mensch biologisch unzureichend ausgestattet ist, muss er sich eine eigene Wirklichkeit erschaffen. Unsere sehr offene körperliche Ausstattung und die Möglichkeiten unseres Bewusstseins bilden den Rahmen, der unser Handeln und die soziale Konstruktion begrenzt.“ (Knoblauch 2005: 154) Für Berger und Luckmann ist die

9 Die Philosophische Anthropologie beschäftigt sich vor allem mit der Frage nach dem Wesen des Menschen und mit seiner Stellung in der Welt. Zu den wichtigsten Vertretern und Ideengebern der Philosophischen Anthropologie zählen Max Scheler, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen. Einen fundierten Überblick über das Theorieprogramm liefern z.B. Fischer (2006) und Arlt (2001).

10 Der Begriff ‚Mängelwesen‘ stammt von Arnold Gehlen und wurde in seinem Werk Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940) eingeführt.

11 Der Begriff der ‚exzentrischen Positionalität‘ stammt von Helmuth Plessner. 41 menschliche Existenz „ab initio eine ständige Externalisierung. Indem der Mensch sich entäußert, errichtet er die Welt, in die hinein er sich entäußert. Im Prozess seiner Selbstentäußerung projiziert er seinen subjektiven gemeinten Sinn auf die Wirklichkeit“ (Berger & Luckmann 2004: 112). Die Objektivierung besteht in der Umwandlung dieser Externalisierungen in äußere, unabhängige, feststehende ‚Objekte‘ bzw. ‚Fakten‘: „Der Mensch schafft Institutionen gemeinsamen, wechselseitigen Handelns, Werkzeuge und andere Dinge, die zusammen die Kultur bilden. Einmal fertiggestellt, erscheinen diese Ergebnisse der menschlichen Handlungen als objektiv, d.h. als ob sie unabhängig von Handlungen existieren könnten. Auch Religionen oder Sprachen erscheinen dann als natürlich oder göttlich eingegeben.“ (Knoblauch 1999: 112) Die derart konstruierte Wirklichkeit wird schließlich von den Subjekten internalisiert und damit dem menschlichen Bewusstsein wieder einverleibt, „womit sie Individuen in den sie umgebenden Kulturen oder Gesellschaften Orientierung, Kommunikation und damit letztlich das Leben ermöglicht“ (Anton 2011: 70). Damit ist die Wirklichkeit am Ende ein Ergebnis menschlicher Interaktion und Kommunikation und wird in einem dynamischen Prozess fortwährend reproduziert, ergänzt und verändert (vgl. Knoblauch 1999: 112).

Sinnwelten

Welcher Teil der so konstruierten ‚objektiven Wirklichkeit‘ von einem Subjekt internalisiert und somit schließlich zur subjektiven Wirklichkeit wird, hängt für Berger und Luckmann, in Anlehnung an Schütz, von individuellen Relevanzstrukturen ab, die über Prozesse der Sozialisation vermittelt werden. Hierbei unterscheiden die Autoren zwischen primärer und sekundärer Sozialisation: „Die primäre Sozialisation ist die erste Phase, durch die der Mensch in seiner Kindheit zum Mitglied der Gesellschaft wird. Sekundäre Sozialisation ist jeder spätere Vorgang, der eine bereits sozialisierte Person in neue Ausschnitte der objektiven Welt ihrer Gesellschaft einweist.“ (Berger & Luckmann 2004: 141) Während es in der primären Sozialisation also darum geht, ein Individuum über die An- bzw. Übernahme von Sprache, Normen, Rollen, Einstellungen etc. grundsätzlich in die Gesellschaft zu integrieren, besteht die sekundäre Sozialisation in der Aneignung von Spezial- oder Sonderwissen, das nach Berger und Luckmann Bestandteil von „Subsinn“- oder „Subwelten“ ist. Diese Subwelten, die „mit der sekundären Sozialisation internalisiert werden, sind im allgemeinen partielle Wirklichkeiten im Kontrast zur ‚Grundwelt‘, die man in der ‚primären Sozialisation‘ erfaßt“ (S. 149). Die Reichweite und die Eigenart dieser Subwelten, so die Autoren weiter, werden 42

„von der Art und dem Grade der Differenziertheit der Arbeitsteiligkeit und der entsprechenden Verteilung von Wissen bestimmt“ (S. 148). Die Träger derartigen Sonderwissens sind dabei als ‚Experten‘ zu bezeichnen. Je nach gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die bestimmen, ob spezielle Formen von Sonderwissen gesellschaftlich eher erwünscht oder eher unerwünscht, ‚wertvoll‘ oder eher ‚wertlos‘ (in einem ökonomischen Sinne) sind, gestaltet sich die Vermittlung von Sonderwissen eher esoterisch oder exoterisch. Berger und Luckmann merken hierzu an: „Die wachsende Anzahl und Kompliziertheit der Subsinnwelten machen sie immer schwerer zugänglich für Außenseiter. Sie werden zu esoterischen Enklaven, ‚hermetisch verriegelt‘, im klassischen Sinne hermetischen Geheimwissens. Ihre zunehmende Autonomie stellt die Außenseiter wie die Eingeweihten gewissen Legitimationsproblemen gegenüber. Die Außenseiter müssen ferngehalten werden, ja, gelegentlich dürfen sie sogar nicht einmal etwas von der Existenz einer Subsinnwelt wissen.“ (S. 93) Knoblauch ergänzt diese Überlegung mit dem Hinweis, dass in pluralistischen Gesellschaften Wissen im Wesentlichen als exoterisch anzusehen ist. Selbst esoterische Wissensformen „im engeren Sinne werden hier exoterisch und zugänglich, und die Bedeutung von Geheimwissen verliert vollständig an Ruf. Nur das, was prinzipiell allen vermittelt werden kann, […] gilt als richtiges Wissen“ (Knoblauch 2005: 163). Auch wenn im Rahmen von Subsinnwelten sehr spezielle, sich unterscheidende Formen von Wissen generiert und vermittelt werden, integrieren diese sich, so Berger und Luckmann, am Ende dennoch in ein allumfassendes Bezugssystem, welches sie symbolische Sinnwelt nennen. Diese sei als „die Matrix aller gesellschaftlichen objektivierten und subjektiv wirklichen Sinnhaftigkeit zu verstehen. Die ganze Geschichte der Gesellschaft und das ganze Leben des Einzelnen sind Ereignisse innerhalb dieser Sinnwelt“ (Berger & Luckmann 2004: 103. Hervorhebungen wie im Original). Die symbolische Sinnwelt einer Gesellschaft ist jedoch, trotz ihres nahezu ‚totalen‘ Charakters und ihrer Wirkmächtigkeit keineswegs stabil, sondern vielmehr dauerhaft einer Bedrohungslage ausgesetzt: „Wir dürfen jedoch nicht außer acht lassen, daß durch die institutionelle Ordnung, wie die des Einzellebens, ständig durch die Gegenwart von Wirklichkeiten bedroht ist, die in ihrem eigenen Sinn sinnlos sind. Die Legitimation der institutionellen Ordnung ist also mit der ständigen Notwendigkeit konfrontiert, ein Chaos in Schach zu halten. Jede gesellschaftliche Wirklichkeit ist gefährdet und jede Gesellschaft eine Konstruktion am Rande des Chaos.“ (S. 111) Besondere Gefährdungslagen für die Stabilität und Legitimität von symbolischen Sinnwelten sind vor allem krisenhafte Situationen (Katastrophen, ökonomische Krisen, Kriege etc.) oder der Kontakt mit einer fremden Kultur mit einer völlig anders gearteten symbolischen 43

Sinnwelt.12 Doch neben derartigen Bedrohungen könnten auch ‚interne Abtrünnige‘, also Anhänger alternativer Wirklichkeitsauffassungen, zu einer ersthaften Gefahr für eine symbolische Sinnwelt werden: „Das eigentliche Problem verschärft sich jedoch, sobald ganze Gruppen von ‚Bewohnern‘ symbolischer Sinnwelten sich auf eine abweichende Version ihrer Auslegung einlassen. Aus Gründen, die sich aus dem Wesen der Objektivation herleiten, erstarrt die abweichende Version dann zu einer Wirklichkeit eigenen Rechts, die durch ihr bloßes Vorhandensein in der Gesellschaft den ursprünglich gesetzten Wirklichkeitsstatus der symbolischen Sinnwelt in die Schranken fordert. Die Gruppe, welche die Abweichung objektiviert hat, wird Träger einer alternativen Wirklichkeitsbestimmung.“ (S. 114) Problematisch seien alternative symbolische Sinnwelten vor allem, „weil ihr bloßes Vorhandensein empirisch demonstriert, daß die eigene Sinnwelt nicht wirklich zwingend ist“ (S. 116). Berger und Luckmann führen weiter aus, dass zum Schutz einer symbolischen Sinnwelt die „üblichen Repressalien der Hüter der ‚offiziellen‘ Wirklichkeitsbestimmung“ (S. 115) zum Einsatz kämen, präzisieren dies jedoch nicht weiter. Allerdings beschreiben sie einige allgemeine Aspekte der Legitimierung symbolischer Sinnwelten, die sie als „Stützkonzeptionen“ bezeichnen. Besonders bedeutsame Typen dieser Stützfunktionen seien Mythologie, Theologie, Philosophie und Wissenschaft, die auch als Mischformen auftreten könnten und über Prozesse der Therapie und der Nihilierung die geltende Wirklichkeitsbestimmung legitimierten und stabilisierten. Als ‚Therapie‘ bezeichnen Berger und Luckmann im weitesten Sinne theoretische Konzeptionen, die absichern sollen, „daß wirkliche oder potenzielle Abweichler bei der institutionalisierten Wirklichkeitsbestimmung bleiben. Sie sollen mit anderen Worten verhindern, daß ‚Einwohner‘ einer bestehenden Sinnwelt ‚auswandern‘.“ (S. 121) Konkret meinen sie damit Methoden von der „Teufelsaustreibung bis zur Psychoanalyse, von der Seelsorge bis etwa zur Ehe- und Berufsberatung“ (ebd.) und rechnen diese der Kategorie der „sozialen Kontrolle“ zu. Von besonderem Interesse an den jeweiligen Therapie-Methoden seien dabei vor allem die theoretischen Konzeptionen, die sie legitimieren und institutionell absichern: „Da sie [die Therapie] es mit Abweichungen von ‚offiziellen‘ Wirklichkeitsbestimmungen zu tun hat, muß sie eine theoretische Konzeption entwickeln, die sowohl Abweichungen erfaßt als auch die von ihnen bedrohten

12 Drastische Beispiele für das Aufeinanderprallen unterschiedlicher symbolischer Sinnwelten und den gesellschaftlichen Folgen sind sog. asymmetrische Kulturkontakte, also Kontakte zwischen Kulturen mit unterschiedlichen Entwicklungsniveaus. Die Menschheitsgeschichte kennt viele Beispiele für derartige Kulturkontakte, die sich in der Regel verheerend auf die weniger entwickelte Kultur auswirkten und nicht selten sogar deren vollständiges Ende bedeutete (vgl. Schetsche 2008: 242; Groh 1999). 44

Wirklichkeiten stützt. Dazu bedarf es eines Wissensbestandes, der eine Theorie der Abweichung, eine diagnostische Methodik und ein theoretisches Modell der ‚Seelenheilung‘ enthält.“ (Ebd.) Während also die Therapie Abweichler von der dominierenden Wirklichkeitsbestimmung gleichsam zu resozialisieren sucht, operiert die Nihilierung gleichsam in umgekehrter Weise, da sie alles, was außerhalb der symbolischen Sinnwelt steht, zu liquidieren versucht: „Nihilierung leugnet die Wirklichkeit von Phänomenen (bzw. ihrer Interpretationen), die nicht in die betreffende Sinnwelt hineinpassen.“ (S. 123) Die Funktion der Nihilierung ist es also, Bedrohungen der symbolischen Sinnwelt durch die Zuschreibung eines negativen ontologischen Status zu neutralisieren. Berger und Luckmann bezeichnen dies als „negative Legitimierung“ (ebd.) dominanter Wirklichkeitsbestimmungen. Sowohl therapeutische als auch nihilierende Anwendungen, so die Autoren, sind symbolischen Sinnwelten inhärent. Sofern eine symbolische Sinnwelt den Anspruch erhebt, die gesamte Wirklichkeit zu umfassen, „kann nichts außerhalb ihrer theoretischen Reichweite erlaubt sein“ (S. 124). Im Anschluss an diese Überlegungen erscheinen im Hinblick auf die weitere Argumentation einige Begriffsbestimmungen angebracht, namentlich eine klare Unterscheidung zwischen den Begriffen Wirklichkeitsbestimmung, Wirklichkeitsordnung und Wissensordnung. Als Wirklichkeitsbestimmungen (Synonyme sind Begriffe wie Wirklichkeitsauffassung oder Wirklichkeitskonzeption) können im Sinne Bergers und Luckmanns spezifische Auffassungen gelten, die eindeutig festlegen, was wirklich ist und was nicht und in welcher Weise Wirkliches von Unwirklichem, Realität von Nicht-Realität unterschieden werden kann. Wissensordnungen hingegen enthalten unterschiedliche Wirklichkeitsbestimmungen, ordnen diese aber nach unterschiedlichen Graden der Geltung, Legitimität und Erklärungsansprüche, geben einer spezifischen Wirklichkeitsbestimmung (oder auch mehreren Wirklichkeitsbestimmungen) also den Vorrang vor anderen. Wissensordnungen schließlich enthalten die Gesamtheit des in einer Gesellschaft zirkulierenden Wissens, also auch Wissensformen, die keinen Anspruch auf eine Wirklichkeitsabbildung erheben wie bspw. fiktionale Inhalte und ordnen diese bestimmten Bereichen wie z.B. Sprache, Wissenschaft, Religion, Politik etc. zu.

Orthodoxie und Heterodoxie

Die grundlegenden Konzeptionen von Berger und Luckmann zu symbolischen Sinnwelten und ihrem Verhältnis zu abweichenden Wirklichkeitskonzeptionen wurden anschließend von verschiedenen Autoren aufgegriffen und innerhalb der wissenssoziologischen Theoriebildung 45 weiter entwickelt. Vor allem im Hinblick auf komplexe pluralistische Gesellschaften wird deutlich, dass es neben dominierenden Wirklichkeitsbestimmungen immer auch abweichende Wirklichkeitsauffassungen gibt. Seit einigen Jahren haben sich in diesem Zusammenhang die Begriffe Orthodoxie und Heterodoxie zur Beschreibung der sozialen Gültigkeit von spezifischen Wirklichkeitsbestimmungen etabliert. Max Weber hatte dieses Begriffspaar in seiner religionssoziologischen Systematik benutzt, um einerseits die Dogmatisierung religiöser Lehren (Orthodoxie) und andererseits häretische Angriffe gegen die orthodoxe Lehre (Heterodoxie) zu beschreiben – z.B. in Form von Sekten oder Propheten (vgl. Müller 2014: 150). Später übertrug Pierre Bourdieu (1993) dieses Konzept im Rahmen seiner Analysen sozialer Felder auf allgemeine Wissens- und Machtverhältnisse: „Diejenigen, die bei gegebenen Kraftverhältnissen das spezifische Kapital – Grundlage der Macht oder der für ein Feld charakteristischen spezifischen Autorität – (mehr oder weniger vollständig) monopolisieren, neigen eher zu Erhaltungsstrategien – Strategien, die im Feld der Produktion kultureller Güter tendenziell die Orthodoxie vertreten –, die weniger Kapitalkräftigen dagegen (die oft auch die Neuen und damit meist Jüngeren sind) eher zu Umsturzstrategien – Strategien der Häresie. Erst die Häresie, die Heterodoxie als kritischer, oft im Zusammenhang mit der Krise auftretender Bruch mit der Doxa bringt die Herrschenden dazu, ihr Schweigen zu brechen und jeden Diskurs zur Verteidigung der Orthodoxie, des rechten Denkens im doppelten Sinne, zu produzieren, mit dem ein neues Äquivalent zur schweigenden Zustimmung der Doxa geschaffen werden soll.“ (S. 109. Hervorhebungen wie im Original) Die Orthodoxie kann im Anschluss an die Überlegungen Bourdieus als dominierendes Wirklichkeitswissen einer Kultur oder Gesellschaft bezeichnet werden. Dieses Wissen definiert, was als ‚objektiv‘, ‚wahr‘ und ‚richtig‘ gelten kann und sagt den Mitgliedern einer Gesellschaft, wie die Welt beschaffen ist, in der sie leben, „wie wir – als Menschen – darin unseren Platz finden und auch, welche Handlungsoptionen wir haben (und welche nicht)“ (Schetsche 2012a: 5f.). Oder in anderen Worten: „‚Orthodoxie‘ bezeichnet die definierte, offizielle Welt oder auch die herrschende Kultur. Sie verfügt über einen so hohen Grad an Systematisierung zu einer Lehre oder Ideologie, dass sie eine vollständige Soziodizee (etwa: ‚Jeder ist seines Glückes Schmied‘) – die säkulare Spielart der Theodizee – enthält.“ (Müller 2014: 153. Hervorhebungen wie im Original) Darüber hinaus ist die orthodoxe Wirklichkeitsbestimmung normativ verbürgt und institutionell getragen. Sowohl geäußerte gedankliche als auch handlungspraktische Verstöße gegen sie kann Sanktionen nach sich ziehen. Diese reichen „von einfacher Stigmatisierung im sozialen Umfeld […] bis hin zur Umerziehung oder dauerhaften Aussonderung von Wirklichkeitsrebellen – in modernen Gesellschaften etwa in psychiatrischen Anstalten“ (Schetsche 2012a: 6). Institutionell

46 getragen werden orthodoxe Wirklichkeitsbestimmungen primär von Wissen verbreitenden, Wissen produzierenden und sozialisierend wirkenden gesellschaftlichen Instanzen wie Schulen, Universitäten, Massenmedien usw. (vgl. ebd.). Bei heterodoxen Wirklichkeitsbestimmungen handelt es sich im Gegensatz dazu um Formen abweichenden Wirklichkeitswissens, welche „meist nicht die Wirklichkeit insgesamt, aber doch spezifische Teile von ihr anders konstruieren, beschreiben und erklären – und dementsprechend auch partiell abweichende Handlungsanleitungen (alternatives Praxiswissen) zur Verfügung stellen“ (ebd., Hervorhebungen wie im Original). Es handelt sich also (aus Sicht der Orthodoxie) um illegitime, problematische oder gar ‚gefährliche‘ Wissensbestände, um bewusst gewählte ‚Gegenwelten‘ (vgl. Müller 2014: 153). Diese befinden sich in einem „gelegentlichen, zyklischen oder auch permanenten ‚Geltungskrieg‘ mit der Orthodoxie“ (Schetsche 2012a: 6). Beispiele für heterodoxe Wirklichkeitsbestimmungen in modernen Gesellschaften sind alternative wissenschaftliche Theorien, abweichende Deutungsschemata von bestimmten Ereignissen (wie etwa die sog. Verschwörungstheorien), marginalisierte religiöse Wirklichkeitsauffassungen oder nonkonforme Überzeugungssysteme innerhalb von gesellschaftlichen Subkulturen (vgl. ebd.). Das Konkurrenzverhältnis zwischen Orthodoxie und heterodoxen Wirklichkeitsbestimmungen zeigt sich, so Schetsche weiter, darin, „dass in den orthodoxen Geltungs- und Legitimierungsdiskursen immer wieder (negierend) auf das heterodoxe Wirklichkeitswissen Bezug genommen wird und vielleicht auch Bezug genommen werden muss […]. Konkurrenz besagt hier aber auch, dass nicht ein für alle Mal festgelegt ist, welcher Wissensbestand, welche Theorien und lebensweltlichen Deutungen in das orthodoxe und welche in das heterodoxe Segment des Wirklichkeitswissen gehören“ (ebd.). Ein entscheidender Vorteil der wissenssoziologischen Kategorien Orthodoxie und Heterodoxie und der damit zusammenhängenden Überlegungen zu deren Konkurrenzverhältnis in Bezug auf gesellschaftliche Geltung besteht darin, dass damit sowohl die Stabilität als auch die Dynamik von Wissensverhältnissen in Gesellschaften in den Blick genommen werden können. Eine solche Perspektive erscheint im Hinblick auf die DDR- Gesellschaft sinnvoll und ergiebig, da hier – im Gegensatz zu pluralistischen Gesellschaften – in besonders vehementer Weise der Versuch unternommen wurde, eine spezifische Wirklichkeitsbestimmung als einzig gültige Wahrheit zu etablieren und zu verteidigen, was jedoch letztlich nicht verhindern konnte, dass das System im Herbst 1989 schlagartig zusammenbrach – und damit auch dessen spezifische (orthodoxe) Wirklichkeit.

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3.2 Die offizielle Wirklichkeitsbestimmung der DDR

Die tragenden Säulen der orthodoxen Wirklichkeitsbestimmung der DDR waren die Implikationen des Marxismus-Leninismus, zu welchem definitionsgemäß die Trias aus dialektischem und historischem Materialismus, der politischen Ökonomie und dem wissenschaftlichen Sozialismus bzw. Kommunismus gehört. Der dialektische und historische Materialismus erhob dabei den Anspruch einer umfassenden, in sich geschlossenen und wissenschaftlich begründeten Welterklärung: „Die bewußte, systematische Form der materialistischen Weltanschauung, der dialektische Materialismus, ist die wissenschaftliche Lehre von den allgemeinen Gesetzen der Bewegung der Natur, der Gesellschaft und des Denkens. Im Gegensatz zur naiven, elementaren Weltanschauung ist die wissenschaftliche Weltanschauung eine systematische, mit einer wissenschaftlichen Methode gewonnene Theorie über das Wesen der gesamten Welt.“ (Klaus, Kosing & Redlow 1959: 14. Hervorhebungen wie im Original) Diesem Verständnis nach gab es keine Erscheinungen, die nicht durch den dialektischen Materialismus abgedeckt und erklärt – oder zumindest potenziell erklärt – werden könnten. Während beispielsweise die Physik besondere Gesetzmäßigkeiten untersuche, „die nur für bestimmte Seiten der materiellen Welt Gültigkeit haben, erforscht der dialektische Materialismus die Gesetze, nach denen sich die gesamte materielle Welt bewegt“ (ebd.). Mit der gesamten materiellen Welt waren dabei jedoch stets sämtliche Erscheinungen der Welt gemeint, also z.B. auch menschliches Bewusstsein, dass im Materialismus als „passiver Reflex“ des menschlichen Seins und menschlicher Tätigkeit begriffen wurde: „Demgegenüber unterstrichen Marx und Engels, daß für die Entstehung und Entwicklung des menschlichen Bewusstseins nicht die Natur allein bestimmend ist, sondern vor allem die Arbeit, die materielle produktive Tätigkeit, in der und durch die sich der Mensch in der Gemeinschaft mit anderen Menschen mit der Natur ‚auseinandersetzt‘, auf sie einwirkt, sie umgestaltet.“ (Buhr & Kossing 1982: 205) Letztlich sind nach Marx und Engels auch gesellschaftliche Entwicklungen materiell bestimmt. Durch die Ausdehnung der materialistischen Philosophie auf die Gesellschaft hätten es Marx und Engels ermöglicht, „die spezifischen materiellen Gesetze zu entdecken, die das gesellschaftliche Handeln der Menschen, die Formen ihres gesellschaftlichen Zusammenlebens und ihres gesellschaftlichen Bewusstseins bestimmen“ (Klein und Redlow 1973: 11). In der politischen Ökonomie ging es vor allem um grundsätzliche Analysen von ökonomischen Gesetzmäßigkeiten und deren politisch-gesellschaftlichen Konsequenzen, wie Marx sie in seinem Werk Das Kapital vorgelegt hatte (vgl. Schmidt-Lux 2008: 113).

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Leitgedanke war dabei, dass aufgrund der Marx’schen Analysen der kapitalistischen Produktionsweise ein Übergang zum Sozialismus unvermeidlich sei: Die politische Ökonomie des Kapitalismus und des Sozialismus „ist wesentlicher Inhalt des Marxismus-Leninismus, weil Marx ‚einzig und allein aus dem ökonomischen Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft‘ ableitete, daß die Umwandlung der kapitalistischen in die sozialistische Gesellschaft unvermeidlich ist“ (Klein und Redlow 1973: 13f.). Im wissenschaftlichen Kommunismus bzw. Sozialismus schließlich sollten die historischen und politischen Gesetzmäßigkeiten des Klassenkampfes untersucht werden. Er umfasst „die Gesamtheit der politischen und historischen Lehren des Marxismus-Leninismus, die Strategie und Taktik der kommunistischen Bewegung und die politischen Lehren vom Aufbau des Sozialismus und Kommunismus“ (S. 18), so Klein und Redlow. Der wissenschaftliche Kommunismus habe enthüllt, dass hinter allen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der Geschichte letztlich der Klassenkampf die entscheidende Triebfeder ist (vgl. ebd.). Diese ideologischen Grundlagen bildeten gewissermaßen das Grundgerüst, auf dem die politische Führung der DDR die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft in Angriff nahm. Es lässt sich demnach festhalten, „daß die marxistische Heilsgeschichte in ihrer narrativen Form als ‚marxistisch-leninistisches Geschichtsbild‘ und ihrem systematischen Kern als vermeintlich ‚einzig wissenschaftliche Gesellschafstheorie‘ von der politischen Führung der DDR selbst als Handlungsanleitung, als strategisches Konzept zur praktisch-politischen Ausgestaltung des realsozialistischen Gesellschaftsexperiments verstanden wurde“ (Gibas 1999: 250).

Die Metaerzählung der DDR

Nach dem Selbstverständnis der SED war die DDR in den „welthistorischen Fortschrittsprozess“ eingereiht, man sei „nun würdiger Bestandteil des jahrhundertelangen Kampfes des edelsten Teils der Menschheit um eine sozial gerechtere Gesellschaft, ja man wähnte sich gar ‚in Übereinstimmung mit den grundlegenden historischen Gesetzmäßigkeiten unserer Zeit‘“ (S. 256). Die ideologischen Leitlinien des Marxismus-Leninismus boten jedoch nicht nur die maßgebliche Legitimationsquelle der politischen Akteure, sie rahmten gleichzeitig eine umfassende Metaerzählung, die auch der DDR-Bevölkerung eine Identifikationsmöglichkeit anbot: „Als die DDR gegründet wurde, hatten die sowjetischen Besatzer und die Gruppen mit politischer Gestaltungsmacht bereits in vielerlei Hinsicht Fakten geschaffen – sowohl in politisch-ökonomischer Hinsicht als auch im Sinne 49

einer Metaerzählung. Diese Metaerzählung war nicht nur Identitätsstütze der Kommunisten, als Basis und Quelle der Legitimität der machthabenden Gruppierung, sie bildete auch ein Identifizierungsangebot, auf dessen Basis sich die Bevölkerung zu den neuen machtpolitischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten verhalten konnte.“ (Ahbe 1999: 266) Die herausragende Bedeutung der DDR-spezifischen Metaerzählung zur Legitimierung der Machtverhältnisse und als umfassendes gesellschaftliches Sinn- und Identitätsstiftungsangebot macht sie gleichsam zum Kern der orthodoxen Wirklichkeitsbestimmung der DDR. Freilich variierten verschiedene Elemente der DDR- Metaerzählung im Verlauf der Existenz der DDR, andere, grundlegende Ausrichtungen unterlagen jedoch keinen wesentlichen Veränderungen. Dazu zählte der Anspruch, mit der Gründung der DDR als „Arbeiter- und Bauernstaat“ die historische Aufgabe zu erfüllen, zum einen die kapitalistische Produktionsweise und zum anderen „Militarismus“ und „Imperialismus“ zu überwinden, wie es beispielweise im Programm der SED aus dem Jahr 1963 nachzulesen ist: „Die Entwicklungsgesetze der Gesellschaft stellen der deutschen Arbeiterklasse die geschichtliche Aufgabe, im Bündnis mit der werktätigen Bauernschaft und den anderen werktätigen Schichten in Deutschland die kapitalistische Ausbeuterschaft für immer zu beseitigen und den Sozialismus zum Siege zu führen. Die Arbeiterklasse ist die soziale Hauptkraft der Gesellschaft, sie steht an der Spitze aller Kräfte, die gegen Imperialismus und für eine bessere Zukunft des Volkes kämpfen. Sie ist dazu berufen, die Führung der Nation zu übernehmen und durch die Beseitigung des Imperialismus und Militarismus den Widerspruch zwischen der aggressiven imperialistischen Politik des Monopolkapitals und den friedliebenden Interessen des deutschen Volkes zu lösen.“ (Programm SED 1967: 30) Die Arbeiter und Bauern in der DDR galten von Beginn an als „führende Klasse“, und als „Träger des ‚fortschrittlichen Gedankenguts‘“; sie waren „Ziel, Sinn und Maß der Politik“ (Ahbe 1999: 268), durch deren politische Aufwertung nicht zuletzt „die leninistische Doktrin von der kommunistischen Partei als proletarische ‚Avantgarde‘ untermauert werden sollte“ (Bauerkämper 2005: 29). Dazu wurden wichtige Positionen innerhalb des Staatsapparates systematisch mit Personal aus der Arbeiterschaft besetzt. Die „Diktatur des Proletariats“ sollte mit der „Herkunft ihrer Spitzenfunktionäre aus der ‚Arbeiterklasse‘ legitimiert und mit der demonstrierten Nähe der Führung zur gesellschaftlichen Basis inszeniert werden“ (ebd.). Im Verhältnis zu anderen gesellschaftlichen Gruppen „verdienten die Arbeiter gut, sie oder ihre Kinder wurden beim Zugang zur Bildung bevorteilt und auch in der symbolischen staatsoffiziellen Rhetorik stand der Arbeiter gut da“ (Ahbe 1999: 269).

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Gemäß den ideologischen Implikationen des Marxismus-Leninismus wurde in der DDR eine Planwirtschaft nach sowjetischem Vorbild eingerichtet, die auf der Grundlage der sog. Fünfjahrespläne Lebensmittel, Konsumgüter, Industrieerzeugnisse etc. produzierte. Im Zuge der Umsetzung der Planwirtschaft wurden private Eigentumsformen an Produktionsmitteln in Industrie, Landwirtschaft, Handwerk und Handel kollektiviert und in Volkseigene Betriebe (VEB), Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG), staatliche Produktionsgenossenschaften des Handwerks (PGH) und Handelsorganisationen (HO) umgewandelt. Diese Umwandlungsprozesse zur sozialistischen Wirtschaftsweise wurden dabei von der SED als Ergebnis des vom Marxismus-Leninismus offen gelegten historischen Entwicklungsprozess gedeutet: „Der Sozialismus ist das Ergebnis der objektiven geschichtlichen Entwicklung, das Ergebnis des Kampfes der Volksmassen unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei. Durch den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus tritt an die Stelle der spontanen Wirkung der ökonomischen Gesetzte, die für die kapitalistische Gesellschaft kennzeichnend ist, die bewußte planmäßige Entwicklung der Gesellschaft im Interesse und zum Wohle des Volkes.“ (Programm SED 1967: 29) Die sozialistische Wirtschaftsweise bildete für die Staatsführung der DDR eines der wichtigsten Unterscheidungsmerkmale von westlich-kapitalistischen Gesellschaften, welchen man sich angesichts der ‚objektiven Wahrheit‘ des Marxismus-Leninismus überlegen sah. Ein weiteres Element der DDR-spezifischen Metaerzählung, das gleichermaßen Herrschaftslegitimation und Identifikationsangebot war, war das Selbstverständnis der DDR, ein ‚Wohlfahrts- und Arbeitsstaat‘ zu sein. Mit teilweise weitreichenden sozialpolitischen Begünstigungen sollten „Arbeiter aber auch Bauern, und die ‚neue Intelligenz‘ als Empfänger staatlicher Leistungen an die politische Führung gebunden werden. Zudem zielte die Sozialpolitik auf die Steigerung der Produktion und Produktivität, die Eingliederung der Erwerbstätigen in die Berufsarbeit und die Einebnung gesellschaftlicher Unterschiede“ (Bauerkämper 2005: 6). Durch die sozialistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung sah die DDR-Staatsführung einen nie dagewesenen Lebensstandard erreicht, der sich vor allem durch das verfassungsmäßige Recht auf einen Arbeitsplatz manifestierte. So verkündete Erich Honecker auf dem XI. Parteitag 1986 der SED in : „Unser Volk hat auf Grund der Entwicklung der Produktivkräfte und der sozialistischen Produktionsverhältnisse einen Lebensstand erzielt wie noch nie in seiner Geschichte. Arbeitslosigkeit ist für uns ein Begriff aus einer anderen, fremden Welt. Gewährleistet sind uns soziale Sicherheit und Geborgenheit, Vollbeschäftigung, gleiche Bildungschancen für alle Kinder des Volkes.“ (zitiert nach Winkler 1989: 232) 51

Dass es im Zusammenhang mit den sozialpolitischen Maßnahmen und dem Lebensstandard der Bevölkerung in der DDR einen eklatanten Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit gab, muss an dieser Stelle nicht ausgeführt werden. Wichtig ist jedoch, dass die Sozialpolitik der DDR ideologischen Leitlinien folgte, die wiederum Teil der orthodoxen Wirklichkeitsbestimmung waren. Die Programmatik und Ideologie der SED, die sich in der Tradition des sozialistischen und kommunistischen Flügels der Arbeiterbewegung sah, strebte ihrem Selbstverständnis zufolge danach, „eine ‚bessere Gesellschaft‘ zu errichten, worunter eine Gesellschaft ohne Not, Arbeitslosigkeit, Standes- und Klassenunterschiede und mit einem Höchstmaß an Produktivkraftentfaltung verstanden wurde“ (Schmidt 1999: 28). 1971 hatte Erich Honecker die Steigerung des Lebensstandards in der DDR zur politischen Hauptaufgabe erklärt. Es folgte eine erhebliche Ausweitung des Sozialleistungssystems: „Hohe Investitionen förderten besonders den Wohnungsbau, aber auch die Gesundheitsfürsorge und die Familiengründung. Im Rahmen der 1976 proklamierten ‚Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik‘ wurde darüber hinaus die Grundversorgung subventioniert, so dass die Preise für Produkte wir Brot und Wohnraum niedrig blieben.“ (Bauerkämper 2005: 10) Derartige Maßnahmen entsprachen der ideologischen Ausrichtung der SED und ihrem Anspruch, einen sozialistischen Wohlfahrtsstaat zu errichten, gleichzeitig wurde die Sozialpolitik auch zur wohl bedeutsamsten Legitimationsquelle der SED- Herrschaft (vgl. ebd.). Ein weiteres Kernelement der DDR-Metaerzählung war der Antifaschismus. Gemäß der DDR- Staatsrhetorik war die neue sozialistische Gesellschaft dem Ziel verpflichtet, die „politischen und sozialstrukturellen Ursachen des Nationalsozialismus und belastende gesellschaftliche Traditionen zu überwinden“ (Bauerkämper 2005: XI). Das NS-System wurde in der DDR- Historiographie als Ergebnis der Verschärfung des Klassenkampfes betrachtet. Die BRD galt als „postfaschistischer Staat“, in dem die Grundlagen für den Faschismus nicht beseitigt sind. An die antifaschistische Tradition der KPD anknüpfend, erhob die SED den Antifaschismus zur Staatsdoktrin. So ist im SED-Programm aus dem Jahr 1963 zu lesen: „Im Einklang mit den geschichtlichen Erfordernissen und konkreten Bedingungen in Deutschland legte die Kommunistische Partei Deutschlands in ihrem programmatischen Aufruf vom 11. Juni 1945 die grundlegenden Aufgaben und Schritte der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung dar: die konsequente Zuendeführung der bürgerlich-demokratischen Revolution und die Schaffung einer antifaschistisch-demokratischen Ordnung unter Führung der Arbeiterklasse. Die Einigung der Arbeiterklasse ist die wichtigste Voraussetzung für den Sieg über Imperialismus und Militarismus und den Aufbau der neuen Gesellschaftsordnung. Der Aufruf der Kommunistischen Partei Deutschlands bildete die Grundlage für die Einheitsfront zwischen der

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Kommunistischen Partei Deutschlands und der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.“ (Programm SED 1967: 32) Für die DDR selbst galt diese Forderung dabei bereits als umgesetzt: „Die Aufgaben der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung wurden im Osten Deutschlands gelöst.“ (S. 33) Auch in der Verfassung der DDR war die antifaschistische Grundausrichtung verankert. In der Verfassungsausgabe von 1968 ist zu lesen: „Getragen von der Verantwortung, der ganzen deutschen Nation den Weg in eine Zukunft des Friedens und des Sozialismus zu weisen, in Ansehung der geschichtlichen Tatsache, daß der Imperialismus unter Führung der USA im Einvernehmen mit Kreisen des westdeutschen Monopolkapitals Deutschland gespalten hat, […] hat sich das Volk der Deutschen Demokratischen Republik, fest gegründet auf den Errungenschaften der antifaschistisch- demokratischen und der sozialistischen Umwälzung der gesellschaftlichen Ordnung, […] diese sozialistische Verfassung gegeben.“ (Verfassung der DDR vom 06. April 1968) Der Antifaschismus war schließlich auch das wichtigste Legitimierungsargument für den Bau der Berliner Mauer (in der DDR-Propaganda als „antifaschistischer Schutzwall“ bezeichnet) am 13. August 1961.

Wissenschaftliche Weltanschauung und Szientismus

Eine weitere zentrale Säule der DDR-Wirklichkeitsbestimmung, die im Rahmen dieser Untersuchung von besonderer Bedeutung ist, war die innerhalb der DDR propagierte wissenschaftliche Weltanschauung. Diese spezielle Wissenschaftsverständnis galt als Mittel zur Erklärung aller Erscheinungen in der Welt und war als erkenntnistheoretische Ausrichtung eine zentrale Grundlage des gesamten Marxismus-Leninismus. So ist beispielsweise im SED-Programm von 1963 nachzulesen: „Der Marxismus-Leninismus ist die Lehre von den allgemeinen Entwicklungsgesetzen der Natur, der Gesellschaft und des menschlichen Denkens, eine wissenschaftliche Weltanschauung, ein in sich geschlossenes, harmonisches System philosophischer, ökonomischer sozialer und politischer Anschauungen.“ (Programm SED 1967: 125f. Hervorhebung A.A.) Die wissenschaftliche Weltanschauung wurde als explizites Gegenstück zu „idealistischen Weltanschauungen“ propagiert: Während die wissenschaftliche (bzw. materialistische) Weltanschauung davon ausgehe, dass „die Welt außerhalb des menschlichen Bewusstseins und unabhängig von ihm existiert und nicht etwa das Produkt irgendwelcher geheimnisvoller Mächte, eines Gottes oder von Geistern“ ist, betrachteten alle religiösen und idealistischen Weltanschauungen die „Welt entweder als Erzeugnis von Göttern, beziehungsweise sonstigen

53 geheimnisvollen, überirdischen Mächten, oder aber als Produkt des menschlichen Bewusstseins“ (Klaus, Kosing & Redlow 1959: 13). Die wissenschaftliche Weltanschauung ermögliche dem Menschen Kenntnis der „objektiven allgemeinen Gesetze, nach denen sich alle Dinge und Erscheinungen bewegen“ und damit einen Überblick über die „scheinbar verwirrenden, einander widersprechenden Erscheinungen des Lebens“ (S. 15). Mit ihm wurden die Möglichkeit und der Anspruch einer einheitlichen, umfassenden Erklärung, „der Glaube an die Erkennbarkeit der Welt und die Überzeugung eines stetigen Fortschritts der Menschheit verbunden“ (Schmidt-Lux 2008b: 57). Lediglich im Marxismus-Leninismus sei die Frage nach dem Verhältnis von Sein und Bewusstsein konsequent mit exakten wissenschaftlichen Methoden beantwortet worden (zugunsten des Seins), daher sei die mit ihm verbundene Weltanschauung die einzige wissenschaftliche Weltanschauung (vgl. ebd.). In der DDR galt die wissenschaftliche Weltanschauung als geeignet, „auf dem Feld der Welterklärung, aber auch als individuelle Handlungsanleitung und Sinnstiftung das einzig angemessene Instrument zu sein“ (Schmidt-Lux 2008: 20. Hervorhebungen wie im Original). So galt nicht nur der Anspruch, Politik und Ökonomie ‚wissenschaftlich begründet‘ zu gestalten, sondern es galt darüber hinaus prinzipiell als möglich, „die materielle Einheit der Welt in ihrer unendlichen qualitativen Mannigfaltigkeit und Entwicklung richtig zu erkennen und zu überschauen und die Stellung des Menschen in dieser Welt, den Sinn seines Lebens wissenschaftlich zu bestimmen“ (Klein und Redlow 1973: 29). Schmidt-Lux bezeichnet dieses in der DDR propagierte Wissenschaftsverständnis als Szientismus. Szientismus versteht er dabei als eine Position, die „Wissenschaft zum obersten Prinzip allen Denkens und Handelns erhob und ihren Geltungsanspruch auf die gesamte Gesellschaft ausdehnte“ (Schmidt-Lux 2008b: 44). Der Begriff Szientismus ist im Allgemeinen negativ konnotiert, wie beispielsweise Schöttler (2012) hervorhebt: „Kaum ein Begriff dürfte heute eindeutiger negativ konnotiert sein als der des ‚Szientismus‘, und zwar weltweit und in allen Sprachen, wie beispielsweise scientism, scientisme oder scientismo.“ (S. 245. Hervorhebungen wie im Original) Der Autor weist auf das Problem hin, dass der Begriff im heutigen Diskurs im Sinne einer übertriebenen Wissenschaftsgläubigkeit zwar häufig Verwendung findet, dass dessen Begriffs- und Wortgeschichte jedoch nicht hinreichend bestimmt ist. Der „fast immer leichtfertig-pauschal oder gar polemisch verwendete Begriff Szientismus“ bedürfe nach Schöttler einer genaueren Betrachtung, da sich „hinter ein und demselben Wort sehr unterschiedliche Profile verbergen können, die jeweils historisch- konkret zu rekonstruieren sind“ (S. 259). Darüber hinaus wirft er die Frage auf, ob der

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Szientismus „je ein breites und massenhaftes Phänomen war oder sein kann“ (ebd.). Und an anderer Stelle: „Wann, wo und von wem wurde Wissenschaft je zur Religion erhoben? […] Und gehörten die Szientisten, falls sie Einfluss gewannen, tatsächlich zu den ‚Anbetern des neuen Baal‘ (Arthur Koestler), also zu den Protagonisten jener totalitären Wissenschaftsreligion, die erst in der Sowjetunion und später auch in China und Osteuropa vom Staat propagiert wurde?“ (S. 260) Wie ist vor dem Hintergrund dieser Überlegungen Schmidt-Lux‘ These zu bewerten, nach der der Szientismus in der DDR „integrale Leitidee von Staats- und Parteiorganen sowie im Bildungswesen“ (Schmidt-Lux 2008b: 56) wurde? Schmidt-Lux betont, dass der Szientismus in Ostdeutschland nicht erst in der DDR von Bedeutung war, sondern schon vorher (beispielsweise in freidenkerischen Gruppen in der Weimarer Republik) im Osten Deutschlands eine gewisse Tradition hatte, die auch die NS-Zeit überlebte und die ideologisch an den Marxismus-Leninismus anknüpfen konnte: „Mit dem Marxismus-Leninismus wurde ein Ideengebäude zur zentralen Doktrin von Partei und Staat, das als integralen Bestandteil die Orientierung auf Wissenschaftlichkeit mit sich führte und die eigene Idee als wissenschaftliche Weltanschauung propagierte. Damit erlangte nun der Szientismus eine buchstäblich hegemoniale Stellung im offiziellen politischen Diskurs.“ (Ebd.) Darüber hinaus sei das vorherrschende Wissenschaftsverständnis in der DDR als Szientismus zu bezeichnen, da dessen selbstdefinierter Geltungsbereich nachweislich weit über die Ansprüche anderer Wissenschaftsauffassungen hinausgehe. In Anlehnung an Arnold Gehlen sieht der Autor bei dem in der DDR propagierten Szientismus alle Funktionen einer umfassenden Weltanschauung erfüllt: „a) sie bieten einen abschließenden Deutungszusammenhang der Welt und treffen Aussagen über deren Ganzheit und Ursprung, b) sie geben konkrete Handlungsanweisungen und c) bearbeiten Gefühle von Ohnmacht und Kontingenz.“ (S. 45) Die damit verbundene normative und sinnstiftende Dimension unterscheide den Szientismus von anderen Wissenschaftsauffassungen, die sich in ihrer Gültigkeit selbst beschränken. Ein weiteres wichtiges Argument von Schmidt-Lux besteht darin, dass der Szientismus in der DDR institutionell getragen war. Seine Verbreitung erfolgte vor allem über „Schulen und Hochschulen, Arbeiter- und Bauernfakultäten und andere Bildungseinrichtungen“ (S. 58). In der Tat folgte das Bildungswesen der DDR von Beginn an dem politisch-ideologischen Prinzip der weltanschaulichen Erziehung im Sinne des Marxismus-Leninismus. So betonte bspw. Ministerpräsident Otto Grotewohl auf dem dritten Parteitag der SED im Jahre 1950 „das Recht des Staates, den dialektischen Materialismus als die wissenschaftliche 55

Weltanschauung der Arbeiterklasse‘ im gesamten schulischen Bereich zu propagieren“ (Boese 1994: 229). Demgemäß formulierte das Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungswesen ein klares Bildungsziel hin zur „Erziehung sozialistischer Persönlichkeiten im Geiste der Weltanschauung der Arbeiterklasse, des Marxismus-Leninismus“ (Schneider 1995: 15). Eine programmatische Quelle mit dem Titel Sozialistische Persönlichkeit – ihr Werden, ihre Erziehung fasst zusammen: „Je größer das allgemeine Bildungs- und Kulturniveau. Je vielfältiger die politischen, geistigen und kulturellen Interessen, desto größer ist auch die Aufgeschlossenheit für weltanschauliche Fragen und das Bedürfnis nach einer wissenschaftlich begründeten Weltanschauung. Jahrhundertelang haben sich die Herrschenden Unwissenheit und bedrückende Lebensverhältnisse zunutze gemacht, um das Volk mit Aberglauben, religiösen Vorurteilen und reaktionären Ideologien zu benebeln. Mit der Befreiung der Arbeiterklasse von bürgerlicher Vorherrschaft war zugleich ihre geistige Befreiung verbunden. Die wissenschaftliche Weltanschauung der Arbeiterklasse, von Marx, Engels und Lenin begründet, im revolutionären Kampf der Arbeiterklasse bestätigt und durch wissenschaftliche Entwicklungen im vergangenen Jahrhundert auf vielfache Weise bekräftigt und bereichert, hat sie sich als sicherer Kompaß für die Arbeiterklasse und alle Werktätigen erwiesen.“ (Neuner 1975: 45. Hervorhebungen wie im Original) Im Hinblick auf diese spezifische Ausrichtung lassen sich folgende Kennzeichen des DDR- Bildungswesens festhalten: „erstens ein Anspruch auf wissenschaftlich-atheistische Bildung, zweitens die Unvereinbarkeit mit religiöser Erziehung und drittens eine […] beschränkte Auslegung der Glaubens- und Gewissensfreiheit“ (Boese 1994: 231). Im offiziellen politischen Verständnis galt insbesondere der Staatsbürgerkundeunterricht als der Ort einer systematischen Unterweisung in die wissenschaftliche Weltanschauung (vgl. Kirsch 2016). Doch auch in anderen Fächern und sogar in der Freizeit sollten die weltanschaulichen Prinzipien des Sozialismus vermittelt werden: „Gemäß den politisch- ideologischen Vorgaben der machthabenden SED waren nicht nur die gesellschaftswissenschaftlichen Unterrichtsfächer, sondern der gesamte Schulalltag und sogar die Freizeitgestaltung der Jugendlichen auf die staatsbürgerliche Erziehung ausgerichtet.“ (Bunke 2005: 10). Grundsätzlich galt, dass die „einzig richtige und zuverlässige theoretisch- ideologische Grundlage für die Erziehung der Schüler […] die wissenschaftliche, die dialektisch-materialistische Weltanschauung“ (zitiert nach Neubert 2010: 406) ist. Die wissenschaftliche Weltanschauung sei die „Voraussetzung dafür, daß Schüler zu kommunistischen Überzeugungen gelangen, die Erscheinungen der Wirklichkeit richtig verstehen und eine aktive und schöpferische Einstellung zu ihrer Umwelt finden“ (ebd.). Mit dem Marxismus-Leninismus bzw. der wissenschaftlichen Weltanschauung konkurrierende

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Überzeugungen blieben „ausgespart oder wurden als historisch überholt, unwahr, einseitig oder unhumanistisch charakterisiert“ (Schneider 1995: 20). Auch wenn es nicht immer so offen wie in folgendem Zitat des DDR-Erziehungswissenschaftlers und Bildungspolitikers Eberhard Poppe angesprochen wurde, war damit durchaus eine aktive Ausgrenzungs- und Eindämmungspolitik gemeint: „Aus dieser Unvereinbarkeit [der wissenschaftlichen Weltanschauung mit religiösen Dogmen] folgt notwendig, daß das Grundrecht auf Bildung die verschiedenen Formen der religiösen, mystischen, übersinnlichen Propaganda, Bildung und Erziehung nicht lediglich ausschließen und passiv ignorieren kann, sondern ihren Einfluss in geeigneter Weise und bei voller Achtung der religiösen Gefühle gläubiger Menschen eindämmen muß. Insofern ist die einseitige Propagierung der Ideen des philosophischen Materialismus und der wissenschaftlich begründeten atheistischen Weltanschauung ein direkter Auftrag des Grundrechts auf Bildung“ (zitiert nach Boese 1994: 230). Es kann also festgehalten werden, dass die Erziehung in der DDR hin zu Marxismus- Leninismus bzw. der wissenschaftlichen Weltanschauung und die Ausgrenzung davon abweichender Überzeugungen (wozu explizit auch Themen aus dem Untersuchungsfeld gezählt wurden) im Sinne Bergers und Luckmanns Sozialisationstheorie fester Bestandteil der primären Sozialisation waren. Neben Institutionen des Erziehungs- und Bildungswesens wie Kindergärten, Schulen und Hochschulen sieht Schmidt-Lux vor allem die Urania als wichtigen Träger des Szientismus in der DDR. Die DDR-Urania war eine Vereinigung, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, der Bevölkerung wissenschaftliche Erkenntnisse aus den Bereichen Naturwissenschaft, Technik, Medizin, Gesellschaftswissenschaft etc. nahe zu bringen und dazu zahlreiche Vortragsveranstaltungen organisierte. Ursprünglich wurde die Urania 1888 in Berlin gegründet. Nach einer wechselhaften Geschichte kamen die Tätigkeiten der Urania kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges zum Erliegen. Im Westteil wurde sie 1953 als Deutsche Kultur-Gemeinschaft Urania Berlin neu bzw. wieder gegründet, in Ost-Berlin 1954 als Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse. Letztere nahm 1966 schließlich wieder den Namen Urania an. Nach Schmidt-Lux unterschied sich die DDR- Urania seit ihrem Bestehen sowohl von der Vorläuferorganisation als auch von der West- Berliner Variante durch eine grundsätzlich szientistische Ausrichtung: „Parallel zur bürgerlichen Urania [in West-Berlin] entstand im Ostteil der Stadt eine Organisation, die sich ebenfalls der Popularisierung wissenschaftlicher Kenntnisse und Methoden verschrieben hatte, dabei aber einem anders akzentuierten, nämlich szientistischen Wissenschaftsverständnis folgte.“ (Schmidt-Lux 2008b: 54) Die von der DDR-Urania vertretene szientistische Weltanschauung widmete sich, so Schmidt-Lux weiter, nicht nur 57 wissenschaftlichen Fragestellungen, sondern gab darüber hinaus Anleitungen für individuelles und gesellschaftliches Handeln und bemühte sich um die Beantwortung ethisch-moralischer Probleme und Sinnfragen. In dieser „Steigerung der Wissenschaft zur Weltanschauung“ liege das „zentrale Charakteristikum des Szientismus“ (S. 67). Zusammenfassend kommt Schmidt- Lux zu dem Ergebnis, dass die Urania als „eine Instanz interpretiert werden [kann], die nicht nur über ihre Einzelveranstaltungen Wirkung erzielte, sondern über die Gesamtheit ihres Programms den Bereich ‚legitimen Wissens‘ für die DDR-Gesellschaft definierte.“ (S. 71) Insgesamt erscheinen Schmidt-Lux‘ Analysen plausibel und hinreichend mit Quellmaterial belegt, so dass die von Schöttler aufgeworfene Frage, ob der Szientismus je ein „breites und massenhaftes Phänomen“ war, im Fall der DDR eindeutig bejaht werden muss. Ein wesentlicher Teil der orthodoxen DDR-Wirklichkeitsbestimmung kann in der Tat als szientistisch bezeichnet werden. Eine andere Frage ist freilich, welche gesellschaftliche Tiefenwirkung das szientistische Programm der DDR-Staatsführung tatsächlich entfaltete. Jenseits der Frage nach der Bedeutung des Szientismus für die DDR-Gesellschaft beschäftigt sich Schmidt-Lux auch mit der Binnenstruktur des in der DDR dominierenden szientistischen Wissenschaftsverständnisses und arbeitet dabei dessen Sinnstruktur heraus, die er anhand von drei zentralen Dimensionen beschreibt:

(1) Totalitätsanspruch: Der Szientismus erhebt für sich den Anspruch, „für alle Bereiche und Probleme menschlichen und natürlichen Lebens der maßgebliche Wegweiser zu sein“ (Schmidt-Lux 2008a: 124) und somit Orientierung für menschliches Handeln und Denken zu bieten. (2) Wissenschaft als oberstes Prinzip: Zu dieser Dimension zählt die Auffassung, dass Wissenschaft und menschliche Vernunft zum Leitprinzip allen menschlichen Handelns erhoben werden sollte und darüber hinaus die Überzeugung, dass die Welt durch wissenschaftliche Methoden in vollem Umfang erkennbar ist. Ferner verbindet sich mit dem Vertrauen auf die Wissenschaft und die menschliche Vernunft die Gewissheit von einem kontinuierlichen technisch-wissenschaftlichem Fortschritt (vgl. S. 125). (3) Antireligiöse bzw. antichristliche Ausrichtung: „Der Szientismus jeder Spielart vertrat einen dezidiert antichristlichen und speziell antiklerikalen Standpunkt. Wendete sich dies noch im Positivismus und im Monismus speziell gegen das Christentum, verstand sich der Marxismus-Leninismus als generell antireligiös.“ (Ebd.)

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Die letzte Dimension besitzt für das Thema der vorliegenden Arbeit besondere Relevanz und soll daher näher ausgeführt werden. Anders als andere Wissenschaftsauffassungen vertrat der in der DDR propagierte Szientismus die Haltung der Unvereinbarkeit von Wissenschaft und Religion. Mehr noch: Durch den umfassenden Erklärungs- und Sinngebungsanspruch trat die wissenschaftliche Weltanschauung bzw. der Szientismus in der DDR in explizite Konkurrenz zur Religion. Damit knüpfte er direkt an die atheistische Denktradition des Marxismus- Leninismus an, nach der Religion als Teil des ‚ideologischen Überbaus‘ der Klassengesellschaft die Menschen an ihrer Selbstbestimmung hindere und den herrschenden Klassen als Unterdrückungsmechanismus des Proletariats diene, prägnant in der Formel ‚Religion ist das Opium des Volkes‘ bzw. ‚Religion ist Opium für das Volk‘13 ausgedrückt (vgl. Schneider und Anton 2014: 162). In programmatischen Schriften der DDR zum dialektischen Materialismus wurde immer wieder die Überlegenheit der Wissenschaft betont oder „die Kirche als Instrument der jeweils ausbeutenden Klasse stigmatisiert“ (Schmidt-Lux 2008b: 55). Religiöse Überzeugungen enthielten Glaubenssätze über den Ursprung der Welt und das Wesen des Menschen, die „wissenschaftlich falsch sind und als Fremdkörper im dialektischen Zusammenhang des Naturganzen keinen Platz haben“ (zitiert nach Schmidt-Lux 2008b: 55). Die christliche Weltanschauung, so heißt es in einer Schrift über die wissenschaftliche Weltanschauung, habe es in „2000 Jahren nicht fertig gebracht, ihre Ideale der christlichen Nächstenliebe, der Gerechtigkeit und der Gleichheit zu verwirklichen. Sie hat durch ihre Ideen weder Ausbeutung, weder soziales Elend noch Krieg aus der Welt schaffen können. Im Gegenteil: Sie ist immer direkt oder indirekt dazu benutzt worden, Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg zu rechtfertigen und zu sanktionieren. […] Erst die wissenschaftliche Weltanschauung des dialektischen Materialismus erweist sich als fähig, eine wirksame theoretische Waffe zur Befreiung der Menschheit zu sein.“ (Klaus, Kosing & Redlow 1959: 11) Das Wesen der Religion sei im Kern irrational, sie entspringe aus „Unwissen und daraus resultierender Furcht und Ohnmacht. Die Wissenschaft dagegen versuche, gerade diese Defizite aufzuheben und gerate dadurch zwangsläufig mit der Religion in Konflikt“ (Schmidt- Lux 2008a: 115). Grundsätzlich war Religionsfreiheit in der Verfassung der DDR verbürgt. So heißt es in Artikel 41: „Jeder Bürger genießt volle Glaubens- und Gewissensfreiheit. Die ungestörte Religionsausübung steht unter dem Schutz der Republik.“ (Verfassung der DDR vom 06. April 1968) Auch die SED setzt sich laut ihrem Programm aus dem Jahr 1963 trotz des Ziels,

13 Die erste Formulierung stammt von Marx und findet sich zum ersten Mal in der Einleitung seiner Schrift Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Lenin variierte später diese Aussage zu „Religion ist Opium für das Volk“. 59 die „atheistische Weltanschauung“ „allseitig“ zu verbreiten, für die „Achtung der religiösen Gefühle gläubiger Menschen“ (Programm SED 1967: 126) ein. Im Rahmen des Gesellschaftsbildes des Marxismus-Leninismus bestand allerdings die Überzeugung, dass die Religion „im Prozess der weiteren sozialistischen und kommunistischen Entwicklung der Gesellschaft mehr und mehr aus den Köpfen der Menschen verschwinden [wird], während das wissenschaftliche Bewußtsein, die sozialistische Moral und die Kunst immer größere Bedeutung“ (Klein 1960: 32) erlangen würden. Man ging also von einem ‚Absterben‘ der Religion aus, da sie in der sozialistischen Gesellschaft „ihre sozialen Grundlagen“ (Buhr & Kossing 1982: 282) verloren habe und durch ein „gründliches Studium“ der Naturwissenschaften obsolet geworden sei, wie Walter Ulbricht in einer Rede betonte: „Wir wollen, daß besonders junge Menschen in unserer sozialistischen Gesellschaft sich dieses wissenschaftliche Weltbild zu eigen machen. Dazu sind vor allem umfangreiche naturwissenschaftliche Kenntnisse nötig; denn nur durch ein gründliches Studium der Physik, der Chemie, der Biologie, der Astronomie und anderer Naturwissenschaften erkennen wir, daß es auf unserer Welt natürlich und gesetzmäßig zugeht und deshalb für übernatürliche Kräfte kein Platz ist.“ (zitiert nach Klaus, Kosing & Redlow 1959: 21f.) Neben ihrer antikirchlichen bzw. antireligiösen Haltung richtete sich die in der DDR propagierte wissenschaftliche Weltanschauung auch gegen sämtliche im weitesten Sinne esoterischen, paranormalen, okkulten und alternativ-religiösen Themen. Die mangelnde Differenzierung zwischen Religiosität und verschiedenen Formen des ‚Aberglaubens‘ folgte dabei einem innerhalb des Marxismus-Leninismus tradierten Argumentationsmuster, wie Schmidt-Lux (2008a) betont: „Dementsprechend widersprach der Marxismus-Leninismus auch den Versuchen, Religion und Aberglauben voneinander getrennt zu halten. Nur ‚bürgerliche Wissenschaftler‘ würden sich vergeblich bemühen, ‚zu beweisen, dass religiöse Vorstellungen nicht zum Aberglauben gehören, sondern sich davon grundsätzlich unterscheiden‘“ (S. 117). Bei der Urania jedenfalls stand der ‚Kampf gegen den Aberglauben‘ fest im Programm. Die Urania-Vortragenden sollten deutlich machen, „daß es in der Natur gesetzmäßig und dialektisch zugeht und keine Wunder geschehen, dass die Welt erkennbar und von uns zu verändern ist, wir also nicht auf ‚höhere Wesen‘ angewiesen sind.“ (Jahresplan 1955: 1) Die naturwissenschaftlichen Vorträge seien bewusst zu nutzen, um „den Aberglauben, unwissenschaftliche Vorstellungen und die Mystik zu bekämpfen“ (ebd.). Des Weiteren sei der „Unwert und die Schädlichkeit unwissenschaftlicher Vorstellungen einer unwissenschaftlichen Weltanschauung – in welcher Form auch immer (Aberglaube, Mystik, Astrologie, Kurpfuscherei, Fatalismus, Idealismus usw.)“ herauszustellen mit dem Ziel, „die

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Bevölkerung gegen die vorhandenen Erscheinungen mehr und mehr immun zu machen“ (Plan zur Verbesserung der ideologischen Arbeit 1955: 1). Im Einzelnen müssten dabei abergläubische Vorstellungen über „den hundertjährigen Kalender, von Astrologie und Wahrsagerei, von Wünschelrutengängerei, von fliegenden Untertassen usw.“ in einschlägigen Publikationen „zerschlagen werden“ (ebd.). In einem weiteren Dokument aus dem Jahr 1956 über den Stand der Vortragstätigkeiten der Urania ist zu lesen, dass den „verhältnismäßig stärksten Raum auf dem Gebiet der Philosophie“ Vorträge über „die verschiedenen Formen des Aberglaubens“ einnehmen und es wird über Vorträge gegen „Hexenglauben“, „Wunder- und Aberglauben“ berichtet, die als Beispiele für die „planmäßige wissenschaftlich- propagandistische Arbeit zur Veränderung und Entwicklung des Bewußtseins unserer Bevölkerung“ dienen sollen (Über den Stand der Arbeit auf dem Gebiete der Philosophie 1956: 2-4). Schließlich verschrieb sich auch die SED dem ‚Kampf gegen den Aberglauben‘: „Die Sozialistische Einheitspartei wird durch offene Kritik den Kampf gegen Überreste der kapitalistischen Vergangenheit im Denken und in den Lebensgewohnheiten der Werktätigen, gegen rückständige Auffassungen, Erscheinungen des Individualismus, des Egoismus und des Aberglaubens verstärken.“ (Programm SED 1967: 121)

3.3 Zwischenfazit: Wissenssoziologische Überlegungen zur DDR-Gesellschaft

Zunächst kann festgehalten werden, dass sich die geltende Wirklichkeitsbestimmung der DDR, die auf den Implikationen des Marxismus-Leninismus basierte, durch ein hohes Maß an innerer Geschlossenheit, Stringenz und vor allem durch den Anspruch auszeichnete, die gesamte Wirklichkeit abzubilden. Damit stellt sie im Sinne Bergers und Luckmanns eine umfassende symbolische Sinnwelt dar, die außerhalb ihrer theoretischen Reichweite prinzipiell nichts zulassen konnte (vgl. Berger und Luckmann 2004: 124). Und in der Tat besteht eines der kennzeichnenden Merkmale der DDR-Wirklichkeitsordnung darin, dass ihre orthodoxe Wirklichkeitsbestimmung in besonders vehementer Weise institutionell abgesichert (man könnte auch sagen: objektiviert) und gegen Angriffe von innen und außen geschützt wurde. Dennoch bleibt mit Blick auf die sozialgeschichtlichen Konzepte von der DDR als Nischengesellschaft, vom Eigen-Sinn vieler DDR-Bürger oder der Doppelkultur der DDR- Gesellschaft die Frage, wie tief die orthodoxe Wirklichkeitsbestimmung der DDR tatsächlich in die Gesellschaft eindringen konnte. Fest steht: Innerhalb der DDR-Gesellschaft wurden Abweichungen von dem politisch Erwünschten bzw. Vorgegebenen kaum oder gar nicht 61 geduldet und nicht nur theoretisch bekämpft, sondern auch mit teilweise drakonischen Repressions- und Sanktionierungsmaßnahmen versehen. Berger und Luckmann folgend, kann man in diesem Zusammenhang von Stützfunktionen der symbolischen Sinnwelt durch Prozesse der Therapie und der Nihilierung sprechen. Grundsätzlich galt der DDR-Führung nahezu jede Form von Abweichung oder heterodoxer Wirklichkeitsbestimmung mindestens als verdächtig, oftmals aber eben auch als staatsgefährdend und sanktionierungsbedürftig. Wichtig ist an dieser Stelle eine Differenzierung: Abweichendes Verhalten steht nicht immer im Zusammenhang mit Heterodoxien und Heterodoxien stehen umgekehrt nicht immer im Zusammenhang mit abweichendem Verhalten. So kann es nonkonforme Verhaltensweisen geben, die keine alternative Wirklichkeitsauffassung voraussetzen und auf der anderen Seite abweichende Wirklichkeitsvorstellungen, die nicht zwingend zu nonkonformem Verhalten führen. Problematisch waren aus Sicht der DDR-Führung jedoch alle Formen: nonkonformes Verhalten, alternative Wirklichkeitsbestimmungen und natürlich auch die Kombination aus beidem. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass es der politischen Führung der DDR um die Durchsetzung einer wissenschaftlich-materialistischen Wirklichkeits- und Gesellschaftsordnung ging, in der es möglichst gar keine Abweichungen geben sollte – in welcher Form auch immer. Zentrale Elemente der Legitimierungskonzeption der Wirklichkeitsbestimmung waren dabei die historischen, politischen und vor allem auch die (natur-)wissenschaftlichen ‚Gesetzmäßigkeiten‘ des Marxismus-Leninismus, die als alternativlos galten. Die weitreichenden Ansprüche der orthodoxen Wirklichkeitsbestimmung der DDR waren in der Realität allerdings begrenzt. In der Lebenswelt der DDR-Bevölkerung spielten ihre Vorgaben oft nur eine geringe Rolle. Die Alltagswirklichkeiten der DDR-Bürgen waren, wie im zweiten Kapitel der Arbeit deutlich wurde, oftmals von ideologiefreiem Pragmatismus bestimmt, von sorgsam gepflegten Nischen, von beharrlichem Eigen-Sinn. Dennoch zeigten die Ansprüche der Orthodoxie auch hier eine gewisse Wirkung: Hubert Knoblauchs Hinweis, dass in pluralistischen Gesellschaften Wissen immer exoterischer wird und Geheimwissen seine Bedeutung verliert (vgl. Knoblauch 2005: 163), gilt in der DDR-Gesellschaft in umgekehrter Weise: Die rigide DDR-Wirklichkeitsordnung und die damit verbundenen potenziellen Sanktionen für ‚Abtrünnige‘ erzeugten ein gesellschaftliches Klima, in dem die esoterische Verhandlung von heterodoxem Wissen bedeutsam, gelegentlich sogar existenziell war. Abweichende Meinungen wurden im Privaten, im Verborgenen, im Modus der Geheimhaltung ausgehandelt. Somit entstand gleichsam ‚im Schatten‘ der offiziellen Wirklichkeitsbestimmung eine verborgene inoffizielle Sphäre, die sich der verordneten

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Zielkultur und staatlichen Strukturierungsversuchen zu entziehen versuchte. Im Sinne von Lemkes Doppelkultur-These könnte es sich dabei letztlich sogar um die zahlenmäßig dominante Kultur der DDR-Gesellschaft gehandelt haben.14 Gestützt werden diese Überlegungen von Sabrows Thesen zu den verschiedenen Gedächtniskulturen in Bezug auf die DDR: Das heute dominierende Diktaturgedächtnis referiert in Bezug auf die Beurteilung der DDR-Vergangenheit in negativer Weise auf die orthodoxe DDR- Wirklichkeitsbestimmung. Letztere wird heute lediglich von einer Minderheit der ostdeutschen Bevölkerung getragen (Fortschrittsgedächtnis) und war vielleicht auch schon zu DDR-Zeiten keine Mehrheitsmeinung. Die Träger der inoffiziellen, aber nach Lemke dominanten Kultur innerhalb der DDR-Gesellschaft sind heute wohl am ehesten dem Arrangementgedächtnis zuzuordnen. Dies würde eine weitere Erklärung für den Widerspruch zwischen der dominanten Erinnerungskultur (Diktaturgedächtnis) und den tatsächlichen Erinnerungen vieler Ostdeutscher liefern: Wenn die orthodoxe Wirklichkeitsbestimmung tatsächlich von der Mehrheit der DDR-Bevölkerung nicht getragen wurde, findet diese Mehrheit sich heute auch nicht in einer Erinnerungskultur wieder, die die DDR- Vergangenheit (in negativer Weise) vor allem im Licht dieser seinerzeit orthodoxen Wirklichkeitsbestimmung betrachtet. Aus wissenssoziologischer Perspektive ergibt sich hieraus eine interessante Situation: Man hat es im Zusammenhang mit der DDR-Gesellschaft mit einer Wissensordnung zu tun, die zwar eine klar identifizierbare, institutionell getragene und über Sanktionen abgesicherte Orthodoxie aufweist, diese wurde jedoch, nimmt man Lemkes These von der Doppelkultur ernst, in der Bevölkerung nicht mehrheitlich geteilt. Dadurch war die orthodoxe Wirklichkeitsbestimmung der DDR gleichsam unter mehr oder minder permanentem ‚Druck‘. Gleichzeitig ließ die rigide Absicherung der DDR-Orthodoxie die inoffizielle, aber dominante Kultur gleichsam ‚unsichtbar‘ werden. D.h., um noch einmal Ahbes Metapher vom ‚Eisberg‘ aufzugreifen, ein großer Teil der Erfahrungen der DDR-Bevölkerung lag und liegt auch heute noch im Dunkeln. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass sich ein wesentlicher Teil der orthodoxen Wirklichkeitsbestimmung der DDR aus den Axiomen des spezifischen Wissenschaftsverständnisses des Szientismus ableitete. Der in der DDR propagierte Szientismus beinhaltete neben einem antireligiösen und antikirchlichen Imperativ explizit auch die Ablehnung von Themen und Praktiken im Zusammenhang mit dem ‚Paranormalen‘,

14 Im Anschluss an die Überlegungen von Elisabeth Noelle-Neumann (1980) zur „Schweigespirale“ ließe sich in diesem Zusammenhang auch von der ‚schweigenden Mehrheit‘ sprechen. 63

‚Okkulten‘, ‚Übersinnlichen‘. Die Zitate aus verschiedenen offiziellen Quellen der DDR- Administration und der Urania belegen, dass die ‚Bekämpfung‘ jener Themen, subsummiert unter dem Stichwort ‚Aberglaube‘, unmissverständlich zum umfassenden gesellschaftlichen Aufklärungs- bzw. Rationalisierungsprogramm zählte. Konkret angesprochen werden dabei Themen wie Mystik, Astrologie, Wahrsagen, UFOs, Kurpfuscherei etc., welche, trotz ihrer Unterschiedlichkeit, aus Sicht der DDR-Führung offenkundig zu einem gemeinsamen Feld weltanschaulicher Abweichung (wissenssoziologisch könnte man sagen: zu einer spezifischen Heterodoxie) zählten. Das nächste Kapitel widmet sich zunächst der näheren Bestimmung dieses spezifischen Themenfeldes.

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4. Fragestellung, Methodik und Datensampling

4.1 Untersuchungsfeld: Das sog. ‚Paranormale‘

Zu dem Bereich des ‚Paranormalen’ ‚Okkulten‘ oder ,Übersinnlichen‘15 wird gemeinhin ein breites Spektrum nicht-konfessioneller Glaubens-, Erfahrungs- und Praxisformen gezählt, zu dem Themenkomplexe wie Spiritismus und Esoterik, Parapsychologie und Astrologie, UFOs, Wahrsagepraktiken und Wünschelruten oder auch magisch-therapeutische sowie alternativmedizinische Behandlungsweisen gehören. Im herkömmlichen wissenschaftlichen Verständnis wird der Kern dieses Feldes von Phänomenen, außergewöhnlichen Erfahrungen, Vorgängen und Erscheinungen gebildet, deren ontologischer Status als äußerst problematisch erachtet wird, da sie von der Normalität (besser: von Übereinstimmungen mit normalen wissenschaftlichen Erwartungen) abweichen, die „in den Wissenschaften und häufig auch im Alltag in der jeweiligen Zeit als gültig angenommenen ‚Naturgesetze‘ zu verletzen scheinen“ (Mayer, Schetsche, Schmied-Knittel und Vaitl 2015: 2) und sich hinsichtlich ihres Nachweises zumeist (natur-)wissenschaftlichen Begründungen entziehen. Letzteres hängt vor allem damit zusammen, dass es sich in vielen Fällen um sog. Spontanphänomene handelt, die „weder von den Betroffenen noch von externen Beobachtern a) in ihrem Eintreffen vorhergesagt oder gar b) systematisch unter kontrollierten Bedingungen erzeugt bzw. reproduziert werden können“ (Mayer & Schetsche 2011: 13). Dieses Replikationsproblem (vgl. dazu Schmidt 2012) macht es aus wissenschaftstheoretischer Sicht äußerst schwierig, zu entscheiden, unter welchen Bedingungen bzw. nach welchen Kriterien sie als evident zu betrachten sind (vgl. Bender 1985: 196). Paranormale Erfahrungen und Wissensbestände haben in modernen Gesellschaften als subjektive Wirklichkeiten zwar ihren festen Platz, werden aber seit der Etablierung der modernen Wissenschaft ungeachtet ihres lebensweltlichen Status mehr oder minder kontinuierlich als von der dominanten Wirklichkeitsauffassung abweichend angesehen (vgl. Doering-Manteuffel 2008). Insofern sind sie ein sehr geeignetes Beispiel, um der hier interessierenden Frage nach dem Umgang mit heterodoxen Wirklichkeitsbestimmungen nachzugehen. Der gewählte Untersuchungsbereich ist darüber hinaus gleichsam ein Paradebeispiel für eine Heterodoxie, da innerhalb von paranormalen Wissens- bzw. Überzeugungssystemen teilweise Wirklichkeitskonzepte Gültigkeit haben, die sich

15 Nach der in diesem Abschnitt erfolgenden inhaltlichen Bestimmung jenes spezifischen Themenbereiches im Sinne eines konkreten Untersuchungsfeldes wird im Folgenden die Schreibweise ohne Anführungszeichen gewählt. 65 fundamental von etablierten wissenschaftlichen Paradigmen unterscheiden. Dies betrifft grundlegende (natur-)wissenschaftliche Axiome wie z.B. die Linearität der Zeit, die lokale Wirkung von Ursachen oder die Einwirkung von mentalen Intentionen auf Materie (vgl. Schmidt 2014: 114). In der DDR-Gesellschaft, deren orthodoxe Wirklichkeitsbestimmung sich, wie dargelegt, explizit am Szientismus orientiert, stellt sich die Frage nach dem Umgang mit dem heterodoxen Feld des Paranormalen umso mehr. Die mit paranormalen Wissensbeständen, Erfahrungen und Praktiken verbundenen Deutungssysteme rührten in besonderer Weise an den Grundfesten der dominierenden wissenschaftlichen Weltanschauung bzw. der szientistischen Welterklärung, welche in systematischer Weise schrittweise alles ‚Irrationale‘, ‚Abergläubische‘, ‚Unwissenschaftliche‘ ausgrenzen oder absterben lassen wollte. Damit war – nach der dargelegten, am marxistischen Atheismus orientierten Subsumtionslogik – eben nicht nur die Religion als ‚Opium des Volkes‘ gemeint, sondern gleichzeitig auch jede andere Form des (vermeintlichen) ‚Irrationalismus‘. Doch während, dem ideologischem Selbstverständnis entsprechend, ein sich als rein materialistisch verstehender Szientismus den öffentlichen Diskurs dominierte, finden sich zugleich einige Hinweise, wonach im Schatten dieser offiziellen Wirklichkeitsbestimmung gleichsam ein ‚okkulter Untergrund’ existierte und esoterische und magische Praktiken, alternative Heilverfahren oder ‚paranormale Erlebnisse’ in der Lebenswelt der DDR-Bürger durchaus eine Rolle spielten. Über die Frage, wie das entsprechende Glaubens-, Wissens- und Handlungsfeld im Einzelnen aussah, welche Strategien zur Absicherung der orthodoxen Wirklichkeitsbestimmung ggf. zum Einsatz kamen oder wie staatlicherseits mit entsprechenden ‚Wirklichkeitshäretikern‘ aus dem paranormalen Feld verfahren wurde, gibt es bislang so gut wie keine Erkenntnisse. Kurzum: Hier ist eine bis heute so gut wie unbeachtete Schattenkultur der in der Alltagswelt in der DDR zu entdecken. Die vorangegangenen Darstellungen deuten die Vielfältigkeit bzw. Heterogenität des zu untersuchenden Wissens-, Handlungs- und Erfahrungsfeldes des Paranormalen in der DDR an. Für ein handhabbares Untersuchungsdesign erscheint es daher gleichermaßen notwendig wie zweckmäßig, eine fokussierte Betrachtung des Untersuchungsfelds vorzunehmen, was jedoch alles andere als trivial ist. Zumindest vordergründig lassen sich Merkmale wie ein ‚unklarer ontologischer Status’ oder die ‚elusive Natur’ der gemeinten Phänomene als übergeordnete Gemeinsamkeit konstatieren. Von Bedeutung ist darüber hinaus, dass die als ‚paranormal‘, ‚okkult‘ oder ‚übersinnlich‘ markierten Bereiche von Phänomenen, Erlebnissen und Wissensbeständen unabhängig von ihrer wie auch immer gearteten ‚objektiven Realität‘

66 primär durch Zuschreibungen konstituiert werden – sei es seitens einzelner Subjekte oder aber durch diskursive Prozesse in Wissenschaft und Gesellschaft. Anders ausgedrückt: „Die Außergewöhnlichkeit eines Phänomens wird – sozial wie individuell – nicht durch eine objektive Qualität des Ereignisses, sondern durch dessen Deutung konstruiert“ (Schetsche & Schmied-Knittel 2003: 185). Für die vorliegende Studie bedeutet dies, dass zunächst prinzipiell alles in den Untersuchungsbereich fallen kann, was in der DDR entweder subjektiv oder kollektiv als ‚paranormal‘ interpretiert wurde. Bei empirischer Betrachtung sind es dann allerdings doch nicht beliebig viele Felder oder Phänomene, die zum Gegenstandsbereich des Paranormalen zählen. Es handelt sich – zumindest in modernen Gesellschaften – vielmehr um eine relativ überschaubare Gruppe an Überzeugungen, Erfahrungs- und Ereignisbereichen, die entweder hinsichtlich der phänomenologischen Ähnlichkeit des Erlebten oder aber auf Basis kulturell tradierter Deutungsmuster entsprechend wahrgenommen und klassifiziert werden. Von diesem Befund ausgehend, lassen sich auch für die DDR-Gesellschaft Vorgänge, Erscheinungen, Praktiken und Überzeugungssysteme extrahieren, denen hinsichtlich ihres lebensweltlichen Vorkommens und bezüglich ihrer diskursiven Verhandlung eine zentrale Stellung innerhalb des paranormalen Feldes zukommt. Auf diesen Vorüberlegungen basiert die aus forschungspraktischen Gründen notwendig vorgenommene Auswahl eines gleichermaßen handhabbaren wie erkenntnisträchtigen ‚thematischen Samples’, das exemplarisch für den Gesamtbereich des Paranormalen in der DDR stehen soll. Konkret geht es um eine Fokussierung auf fünf übergeordnete Themenbereiche aus dem Feld des Paranormalen:

(1) Astrologie (2) Wunderheilung, Geistheilung, Alternativmedizin (3) UFOs bzw. Ufologie (4) Parapsychologie (5) Paranormale Erfahrungen und Praktiken (sog. außersinnliche Wahrnehmungen, Nahtoderfahrungen, Hellseh- und Wahrsagepraktiken, Seancen, Tisch- und Gläserrücken, Wünschelruten etc.)

An dieser Stelle soll betont werden, dass es in dieser Untersuchung in keiner Weise um eine Bewertung des ontologischen Status der gennannten Themenbereiche gehen soll. Gemäß der wissenssoziologischen Ausrichtung dieser Arbeit wird diesbezüglich die Perspektive des epistemologischen Agnostizismus eingenommen, die nicht nach dem ‚objektiven Wahrheitsgehalt‘ von Überzeugungen fragt, sondern sich mit der Frage beschäftigt, wie es

67 dazu kommt, dass bestimmte Phänomene individuell oder kollektiv für ‚wirklich‘ gehalten werden und andere eben nicht. ‚Wissen‘ ist demnach nicht auf objektiv überprüfbares Faktenwissen beschränkt, sondern bezieht sich auf alles, was als ‚wirklich‘ gedacht wird (vgl. Knoblauch 2005: 17, Berger & Luckmann 2004: 3 sowie Keller 2005: 50). In Bezug auf das Paranormale in der DDR-Gesellschaft bedeutet dies, dass die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der behaupteten Phänomene hier nicht von Relevanz ist, wohl aber der Umstand, dass entsprechende Erlebnisse von einigen Menschen in der DDR für wahr gehalten wurden.

4.2 Fragestellung

Lässt man den Forschungsstand zur DDR-Sozialgeschichte (Kapitel 2) noch einmal Revue passieren, so lässt sich zum einen festhalten, dass sich die bisherigen Forschungen zur Frage nach nonkonformen bzw. widerständigen Verhaltensweisen in der DDR vor allem auf zwei Themenkomplexe bezogen haben: das Verhältnis zwischen Staat und Religion bzw. Konfession sowie die kontrovers diskutierte Frage nach der prinzipiellen Möglichkeit eines auch ideologischen Eigen-Sinns innerhalb der DDR-Gesellschaft gegenüber der weltanschaulichen Staatsdoktrin. Im Erkenntnisinteresse stand dabei oftmals das eigentümliche Verhältnis zwischen der „rätselhaften Stabilität der DDR“ (Port 2010) und ihrer (vermeintlich) abrupten Implosion. Zum anderen haben die sozialgeschichtlichen Forschungen in den letzten Jahren den Fokus mehr und mehr auf die Alltagsgeschichte der DDR-Bevölkerung gelegt, auf ‚kleine Alltagswelten‘ und die ihnen (möglicherweise) innewohnenden Widerständigkeiten, die bislang, im Sinne Ahbes Metapher vom ‚Eisberg‘ der DDR-Erinnerung, im Dunkeln geblieben sind. Das Feld des Paranormalen bildet eine solche verborgene Zone – einen lebensweltlichen Bereich der DDR, der bislang nicht erforscht wurde. Aus wissenssoziologischer Perspektive handelt es sich bei dem Wissens- und Handlungsfeld des Paranormalen in der DDR um eine besonders interessante Heterodoxie, da man es hier mit Alltagswirklichkeiten zu tun hat, die in fundamentaler Weise verschiedene Prämissen der szientistischen Welterklärung als Teil der orthodoxen Wirklichkeitsbestimmung der DDR in Frage stellen. Mit dem Fokus auf das Untersuchungsfeld des Paranormalen besteht eine zentrale Aufgabe dieser Studie in der empirischen Rekonstruktion eines spezifischen Teilbereichs des heterodoxen Segments der Wissensordnung der DDR und in der Klärung seines Verhältnisses zur offiziellen Wirklichkeitsbestimmung. Mit jenem Forschungsziel sind verschiedene 68

Fragenkomplexe verbunden, die unter einem jeweils spezifischen Fokus auf das genuin wissenssoziologische Problem des Verhältnisses zwischen Gesellschaft(en), ihren legitimen wie illegitimen Wissensbeständen sowie den damit verbundenen Prozessen gesellschaftlicher Wirklichkeitskonstruktion abzielen. Genaugenommen geht es um die Analyse der Bewertung paranormaler Themen im öffentlichen Diskurs auf der einen und deren lebensweltlicher Bedeutung auf der anderen Seite in einer Gesellschaft, deren offizielles Wirklichkeitswissen außerordentlich rigide Züge trägt. Insofern soll die Analyse des bisher nur wenig beachteten und unsystematisch analysierten Bereichs des Paranormalen Bausteine für ein generelles Verständnis des heterodoxen Segments der Wirklichkeitsordnung der DDR liefern. Dazu ist nach den Rollen und Möglichkeiten von ‚Kontrolleuren‘ und ‚Rebellen‘ in Bezug auf die offizielle Wirklichkeitsbestimmung, nach diskursiven und institutionellen Strategien und Maßnahmen der Absicherung der Orthodoxie (Verbot, Abweisung, Ausgrenzung, Tabuisierung etc.), nach politisch-ideologisch motivierten Stigmatisierungen und ihren individuellen wie sozialen Folgen sowie nach der lebensweltlichen Bedeutung paranormaler Erfahrungen, Praktiken und Wissensbestände zu fragen. Ein genauer Blick auf das Feld des Paranormalen in der DDR als Beispiel für Grenz- und Konfliktlinien zwischen staatlicher Ideologie und alltagsweltlicher Abweichung verspricht dabei nicht nur Erkenntnisse im Hinblick auf das bisher wenig analysierte Spannungsfeld zwischen Orthodoxie und Heterodoxie in Gesellschaften mit rigiden Wirklichkeitsordnungen, sondern kann auch einen empirischen Baustein für die sozialgeschichtliche bzw. gesellschaftliche Debatte über den Grundcharakter der DDR-Gesellschaft (‚durchherrschte Gesellschaft‘ vs. ‚Eigen-Sinn‘ bzw. ‚Doppelkultur‘) liefern. Zur Rekonstruktion des Feldes des Paranormalen in der DDR muss, zusammenfassend ausgedrückt, gleichermaßen nach der Rahmung einschlägiger Themen im öffentlichen Diskurs, nach konkreten, institutionell festgelegten Formen des Umgangs mit dem Paranormalen sowie nach der lebensweltlichen Verbreitung und Bedeutung entsprechender Erfahrungen und Praktiken gefragt werden. Daraus ergeben sich drei übergeordnete Untersuchungsebenen:

(1) Die Diskursebene (2) Die institutionelle Ebene (3) Die lebensweltliche Ebene

Zu beachten ist, dass diese Ebenen analytisch nicht strikt voneinander zu trennen sind, vielmehr sind sie durch verschiedenartige Wechselwirkungen miteinander verflochten. So

69 können sich beispielsweise diskursive Prozesse auf institutionelle Regelungen auswirken, institutionelle Regelungen wiederum lebensweltliche Aspekte beeinflussen etc. Dennoch richten sich an diese drei Untersuchungsebenen verschiedene allgemeine Leitfragen sowie empirisch orientierte Einzelfragen: Im Zusammenhang mit der diskursiven Ebene stellt sich die Frage, wie in der DDR vor dem Hintergrund des offiziellen Weltbildes (des Marxismus-Leninismus und des Szientismus) mit Themen rund um das Feld des Paranormalen umgegangen wurde. Im Einzelnen ist von Interesse:

 Wie wurden einschlägige Themen in Büchern, Zeitschriften und im Rundfunk dargestellt und bewertet und welche Aussagen finden sich über Akteure (Personen und Gruppen) aus dem Feld des Paranormalen?  Wie wurden die entsprechenden Themen in der DDR im Kontext des geltenden szientistischen Weltbildes eingeordnet? Auf welche Wissensbestände der offiziellen marxistisch-leninistischen Ideologie wurde dabei Bezug genommen?  Durch welche (diskursiven) Strategien erfolgte die Absicherung der geltenden Weltanschauung und des ‚richtigen’ Wissens und welche Diskursstrategien wurden verwendet, um das heterodoxe Wissen in diesem Bereich zu delegitimieren?  Lassen sich dabei Unterschiede im historischen Verlauf feststellen, oder ist der Umgang mit dem Paranormalen im öffentlichen Diskurs in den verschiedenen politischen Phasen der DDR einheitlich?  Welche Personen und Instanzen (Akteure) traten regelmäßig als ‚Wächter der Wirklichkeit’ auf; wie waren ihre Aktivitäten und ihr Expertenstatus als Verteidiger des ‚richtigen Wissens‘ legitimiert und motiviert?

Auf der institutionellen Ebene geht es um die Frage nach konkreten institutionellen Festlegungen, Zuständigkeiten und Ausrichtungen im Zusammenhang mit dem Feld des Paranormalen. In diesem Zusammenhang ist zu fragen:

 Beschäftigten sich staatliche Einrichtungen in irgendeiner Weise mit paranormalen Themen? Gab es z.B. wissenschaftliche Experten, Forschungseinrichtungen und/oder - projekte, die sich mit den genannten Themen befassten?  Gab es institutionelle Regelungen (z.B. Verbote, strafrechtliche Regelungen etc.) in Bezug auf die Ausübung paranormaler Praktiken (z.B. Astrologie, ‚Hellsehen‘, ‚Handlesen‘ etc.), im Hinblick auf die Anwendung alternativmedizinischer Diagnose-

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und Heilverfahren oder im Zusammenhang mit der Beschäftigung (z.B. durch Publikationen) mit entsprechenden Themen?  War das Feld des Paranormalen in irgendeiner Weise relevant für Polizeibehörden und das Ministerium für Staatssicherheit? Und wenn ja: Wer war für die ‚Bearbeitung’ zuständig und wie sah diese aus?

In Bezug auf die lebensweltliche Ebene interessiert vor allem die Frage, welche im weitesten Sinne paranormalen Erfahrungen, Wissensbestände und Praktiken hier zu finden sind und welche Bedeutung diesen zugemessen wurde. Konkrete Einzelfragen lauten:

 Wie verbreitet waren individuelle Erfahrungen, Wissensbestände und soziale Praktiken im hier interessierenden Untersuchungsfeld des Paranormalen?  Wie und wo haben sich entsprechende Akteure über paranormale Themen informiert?  Wie haben sie den öffentlichen Diskurs in Bezug auf paranormale Themen wahrgenommen?  Gab es ‚Betroffenengruppen’ oder Interessengemeinschaften? Falls ja: unter welchen Rahmenbedingungen?  In welchem Öffentlichkeitsmodus erfolgten die entsprechenden Aktivitäten von Personen (privat, geheim, geduldet, offenes Geheimnis etc.)? Kann diesbezüglich von einem ‚okkulten Untergrund’ gesprochen werden?

4.2 Methodik und Methodologie

Die explorative Fragestellung der Studie, die Komplexität des Untersuchungsfeldes sowie die zu erwartende Heterogenität des empirischen Untersuchungsmaterials erfordern ein Untersuchungsdesign mit verschiedenen, prinzipiell aber gleichberechtigten empirischen Zugängen zum Feld des Paranormalen in der DDR. Vorrangiges Ziel ist dabei, eine multidimensionale Beschreibung dieses spezifischen Segments der heterodoxen Wissensordnung in seinem Verhältnis zur orthodoxen Wissensbestimmung der DDR zu leisten. Vor dem Hintergrund der damit verbundenen wissenssoziologischen Forschungsperspektive erscheint das methodisch-methodologische Programm der wissenssoziologischen Diskursanalyse als geeigneter Ansatz, der sich, grob zusammen gefasst, mit Prozessen der „sozialen Konstruktion, Zirkulation und Vermittlung von Deutungs- und Handlungsweisen auf der Ebene von institutionellen Feldern, Organisationen, sozialen Kollektiven und Akteuren“ (Keller 2008a: 192) und deren gesellschaftlicher 71

Auswirkungen befasst. Im Folgenden sollen der theoretische Hintergrund sowie zentrale Implikationen dieses Forschungsprogramms dargelegt und in Bezug auf das Untersuchungsfeld spezifiziert werden.

Diskurse und Diskursanalysen

Im landläufigen Sprachgebrauch wird der Begriff ‚Diskurs‘ im Allgemeinen als Synonym für die Wörter Diskussion, Debatte, Disput, Meinungsaustausch etc. gebraucht. Jenseits dieser alltagssprachlichen Verwendung spielt der Diskursbegriff seit einigen Jahren eine zentrale Rolle in sozialwissenschaftlichen Theorie- und Methodendiskussionen im Zusammenhang mit sog. Diskurstheorien, die vor allem von den Arbeiten Michel Foucaults (etwa Foucault 2003) angeregt wurden (vgl. Schmied-Knittel 2008: 16). Trotz teilweise stark variierender Perspektiven und Ansätze in Bezug auf Diskurstheorien können, so Keller (2007), vier grundlegende Merkmale des sozialwissenschaftlichen Diskursbegriffs festgehalten werden: „Sozialwissenschaftliche Diskurstheorien und Diskursanalysen

1) beschäftigen sich mit dem tatsächlichen Gebrauch von Sprache und anderen Symbolformen in gesellschaftlichen Praktiken; 2) betonen, dass im praktischen Zeichengebrauch der Bedeutungsgehalt von Phänomenen als ‚Wissen‘ sozial konstruiert ist und diese damit in ihrer gesellschaftlichen Realität konstituiert werden; 3) unterstellen, dass sich einzelne Sprach- bzw. Aussageereignisse als Teile einer umfassenden Diskursstruktur verstehen lassen, und gehen 4) davon aus, dass die entsprechenden diskursiven Strukturierungen der Produktion, Zirkulation und Transformation von gesellschaftlichen Wissensordnungen rekonstruierbaren Regeln des Deutens und Handelns unterliegen.“ (S. 200, vgl. auch Keller 2011: 9)

Dieses Verständnis ist stark an die Überlegungen Foucaults angelehnt, nach denen ein Diskurs „eine Menge von an unterschiedlichen Stellen erscheinenden, verstreuten Aussagen [ist], die nach demselben Muster oder Regelsystem gebildet worden sind und die Formulierung weiterer Aussagen strukturieren“ (Keller 2008b: 79f). Mit anderen Worten: Diskurse regeln, was wann von wem wo in welcher Weise gesagt oder eben nicht gesagt werden darf. Daher sind Diskurse untrennbar mit Machtstrukturen verknüpft. Foucault spricht in diesem Zusammenhang von ‚Macht/Wissen-Beziehungen‘. Es sei anzunehmen, „daß Macht und

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Wissen einander unmittelbar einschließen; daß es keine Machtbeziehung gibt, ohne daß sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert“ (Foucault 1994: 39). Diese Grundüberlegungen von Foucault wurden im Zuge der sozialwissenschaftlichen Diskussion um den Diskursbegriff erweitert und präzisiert, wie beispielsweise bei Kaschuba (1999), der Diskurse wie folgt beschreibt:

1) „Ein Diskurs lässt sich als Argumentationssystem definieren, in dem Gewicht und Gültigkeit vermittelt werden und das zugleich in einem bestimmten Verhältnis zu anderen Diskursen steht. 2) Ein Diskurs stellt ein Regelsystem dar, das festlegt, wie und wo im (öffentlichen) Diskurs miteinander umzugehen ist und welche Äußerungsmodalitäten, Sprach- und Argumentationsweisen dabei zulässig sind. 3) Diskurse beschreiben Denksysteme, in denen bestimmte Vorstellungen konsensuell festgeschrieben sind. In diesem Sinne konstituieren Diskurse wesentlich die Wahrnehmung von Wirklichkeit, wie diese in den Begriffen dieses Denksystems organisiert ist. 4) Diskurse sind zugleich soziale Praxissysteme, da sie Denk- und Handlungsweisen miteinander verbinden, indem sie die vermittelten Werte und Vorstellungen in soziale und kulturelle Verhaltensmuster übertragen und somit eine Beziehung zwischen Verhalten und Wissen herstellen.“ (S. 236)

In diesem Sinne repräsentieren Diskurse soziale Kräfte- und Machtverhältnisse und legen fest, was zu einem bestimmten Zeitpunkt als ‚wahr‘ gilt und wer sich an einem Diskurs beteiligen darf. Denn, so Keller (2008a): „Nicht jeder erfüllt die Kriterien und verfügt über die Ressourcen oder Kapitalien, die für die Teilnahme an einem spezifischen Diskurs vorausgesetzt sind. Und auch die spezifische Definition der Wirklichkeit, die ein Diskurs vorgibt, schließt andere Varianten aus. Insoweit verweist der Diskursbegriff unmittelbar auf den Begriff der Macht; diskursive Auseinandersetzungen sind machthaltige Konflikte um Deutungsmacht.“ (S. 208)

Somit sind Diskurse regulierte, mit Machtverhältnissen verbundene Produktionsprozesse von Aussagen und deren Bewertungen. Sie stellen geltendes Wissen über die ‚Wirklichkeit‘ her, definieren Wahrheit, Norm und Abweichung und legitimieren oder delegitimieren individuelles oder kollektives Handeln (vgl. Schetsche & Schmied-Knittel 2013: 26). Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit bzw. Wissen ist dabei stets mit bestimmten

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‚Produktionsregeln‘, Ermächtigungs- und Ausschlussprozeduren verbunden, deren Aufgabe es ist, „die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen“ (Foucault 2003: 10). Damit sind Diskurse als mehr oder weniger erfolgreiche, historisch situierte Versuche zu verstehen, „Bedeutungszuschreibungen und Sinnordnungen zumindest auf Zeit zu stabilisieren und dadurch eine kollektiv verbindliche Wissensordnung in einem sozialen Ensemble zu institutionalisieren“ (Keller 2011: 8). Foucault beschreibt mehrere Mechanismen, mit denen Diskurse sich konstituieren und zu stabilisieren versuchen:

 „Formen der ‚Ausschließung von außen (Verbote, die sich auf Inhalte, Situationen und Subjekte des Sprechens beziehen; den Ausschluss von ‚Wahnsinnigen‘ aus dem Kreis des vernünftigen Sprechens; die Unterscheidung und Prüfung von wahr/falsch in Bezug auf die Aussageinhalte in juridischen und wissenschaftlichen Diskursen);  innere Mechanismen der verknappenden Strukturierung und Organisation von Inhalten wie den ‚Kommentar‘ (die Wiederholung, das Wiederaufgreifen von bereits Gesagtem), das zuordnende Prinzip des ‚Autors‘ oder der (beispielsweise wissenschaftlichen Fach-)‚Disziplin‘;  schließlich die ‚Verknappung der sprechenden Subjekte‘, durch akademische Laufbahnen, Prüfungsrituale und Abschlussgrade, aber auch durch Einbindungen in ‚Doktrinen‘, etablierte Positionen und Netzwerke, welche die Chancen einer Sprecherin, eines Sprechers definieren, Aussagen zu formulieren und Gehör zu finden.“ (Keller 2008b: 81) Mit dem methodologisch-methodischen Programm der wissenssoziologischen Diskursanalyse hat Reiner Keller den Versuch unternommen, diese diskurstheoretischen Ansätze von Michel Foucault mit dem sozialkonstruktivistischen Paradigma von Berger und Luckmann zu vereinen. Der Vorteil der Kombination dieser beiden Ansätze liegt auf der Hand, denn obwohl „die Analyse gesellschaftlicher Ebenen der Wirklichkeitszirkulation genuin in der Wissenssoziologie von Berger und Luckmann angelegt ist, mangelt es zumindest teilweise an makroanalytischer Kontextualisierung, da in der Forschungspraxis Wissensprozesse in erster Linie aus der Perspektive eines einzelnen Gesellschaftsmitgliedes und weniger hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Prägung analysiert werden.“ (Schetsche & Schmied-Knittel 2013: 27. Hervorhebungen wie im Original) Umgekehrt spielen einzelne Subjekte in den diskurstheoretischen Überlegungen von Foucault eine eher untergeordnete Rolle: Sie werden als mehr oder minder passive Adressaten durch Diskurse ‚subjektiviert‘ und gegenüber der Perspektive des Sozialkonstruktivismus von

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Berger und Luckmann auf eine „Unterwerfungsfunktion“ reduziert (vgl. Keller 2008a: 186). Durch die Kombination beider Ansätze können einzelne Akteure sowohl als diskursiv konstituierte als auch als regelinterpretierende Handelnde, als aktive Produzenten und Rezipienten von Diskursen verstanden werden (vgl. S. 191). Somit richtet sich der Blick der Wissenssoziologischen Diskursanalysen gleichzeitig auf die Mikroebene und die Makroebene der Produktion, Zirkulation und Stabilisierung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Anders ausgedrückt, geht es um die „Prozesse der sozialen Konstruktion und Kommunikation symbolischer Ordnungen in institutionellen Feldern der Gesellschaft, also gesellschaftliche Objektivierungsprozesse von Wissen, institutionalisierte Wissensordnungen, gesellschaftliche Wissenspolitiken, deren Aneignung durch soziale Akteure sowie die davon ausgehenden Wirklichkeitseffekte“ (Keller 2011: 69). Der Rahmen für eine wissenssoziologische Diskursanalyse ist dabei, so Keller (2005) durch folgende Aspekte wesentlich bestimmt:

 „Die Bestimmung von Diskursen als gegenstandskonstituierende Praktiken, denen eine gemeinsame Struktur zugrunde liegt;  das Konzept der ‚Aussage‘ als dem typischen Kern einer singulären Äußerung bzw. eines diskursiven Ereignisses sowie, damit zusammenhängend, der Idee der ‚Einschreibung‘, also der Wiederholung von Aussagen als der Grundlage der Strukturbildung;  das Interesse für Diskurse als strukturierende Praktiken gesellschaftlicher Wissensverhältnisse;  das Konzept der diskursiven Formation und der verschiedenen Dimensionen von Formationsregeln (der Gegenstände, der Äußerungsmodalitäten, der Begriffsformation, der Diskursstrategien);  der Hinweis auf institutionelle Orte der Verknappungsmechanismen der Aussageproduktion;  die Idee des Dispositivs als Sammelbegriff für das Gefüge von Diskursproduktion und als Grundlage der Machteffekte von Diskursen (durch ‚Weltintervention‘);  die Trennung zwischen Diskursen und diskurs-externen Praktiken bzw. Praxisfeldern und die Untersuchung der Beziehungen zwischen beiden; und  die Hinweise auf Akteure, Kämpfe, Strategien und Taktiken in und zwischen Diskursen.“ (S. 63)

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Hervorzuheben ist, dass eine Diskursanalyse am Ende deutlich mehr bedeutet als die Rekonstruktion einzelner Aussagen innerhalb eines Diskurses. Es geht um die Freilegung eines Systemzusammenhangs und dessen Regelwerk, vor dessen Hintergrund die Spezifika eines Diskurses zu verstehen sind (vgl. Schmied-Knittel 2008: 24). Was bedeutet dies nun für den Forschungsgegenstand dieser Arbeit? Konkret wird zu fragen sein, wie genau sich der Diskurs rund um das Paranormale in der DDR strukturiert, mithilfe welcher diskursiven Strategien (der Ausschluss von Sprechern, die Wiederholung von Aussagen etc.) die geltende Wirklichkeitsbestimmung gegen die heterodoxen ‚Angriffe’ aus dem Feld des Paranormalen verteidigt bzw. abgesichert wurde, aber auch, welche (kollektiven) Akteure als ‚Wächter’ der Wirklichkeitsordnung eine Rolle spielten. Hier bilden programmatische Schriften, Artikel aus Schulbüchern und Lexika, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, Radio- und Fernsehsendungen aus DDR-Zeiten, die inhaltlich auf das Themenfeld des Paranormalen Bezug nehmen, die Beobachtungseinheiten.

Deutungsmuster

Eine weitere, für diese Untersuchung bedeutsame wissenssoziologische Kategorie sind soziale Deutungsmuster. Im Allgemeinen handelt es sich dabei um „allgemeine Deutungsfiguren, die in konkreten Deutungsakten zum Einsatz kommen und dabei in unterschiedlicher sprachlich- materialer Gestalt manifest werden“ (Keller 2008a: 240). Geprägt wurde der Begriff von dem Soziologen Ulrich Oevermann in dem 1973 vorgelegten (zunächst unveröffentlichten) Manuskript Zur Analyse der Struktur von sozialen Deutungsmustern16 (vgl. Franzmann 2007: 191). Oevermann (2001) begreift soziale Deutungsmuster als „krisenbewältigende Routinen, die sich in langer Bewährung eingeschliffen haben und wie implizite Theorien verselbstständigt operieren, ohne dass jeweils ihre Geltung neu bedacht werden muss (S. 38)“. Nach der Einführung des Begriffs durch Oevermann führten intensive Diskussionen zu einer zunehmenden theoretisch-methodologischen Fundierung des Konzepts, wobei betont werden sollte, dass im Hinblick auf diverse theoretische, methodische und methodologische Konkretisierungen Uneinigkeit herrscht, sodass der Deutungsmuster-Ansatz bislang kein eigenständiges methodisches Verfahren bildet. Es sei vielmehr, so Franzmann (2007), als ein „Forschungskonzept (im Sinne eines approach)“ zu verstehen, „das mit verschiedenen

16 Das Manuskript erschien 2001 in überarbeiteter und verdichteter Form unter dem Titel: Die Struktur sozialer Deutungsmuster – Versuch einer Aktualisierung (Oevermann 2001) 76 anderen Ansätzen darum konkurriert, seinen Gegenstand deskriptiv analytisch und theoretisch adäquat zu beschreiben“ (S. 192. Hervorhebungen wie im Original). Der Kern Oevermanns Deutungsmusterkonzept besteht darin, dass Subjekte in Gesellschaften immer wieder mit Situationen konfrontiert werden (seien es neuartige Ereignisse, Problemlagen, Krisen oder ungewohnte Kontexte), für die sie nicht jedes Mal individuell eine neue Interpretation entwickeln können und daher auf kollektive Deutungsroutinen zurück greifen, die während der Sozialisation verinnerlicht werden. In anderen Worten: „Es gibt im sozialen Leben eine Vielzahl von Problemlagen, die immer wieder kehren und nicht durch spontane Lösungen zum Verschwinden gebracht werden können. Da diese Problemlagen für Subjekte krisenhaft und bedrängend sind und ihnen nicht ausgewichen werden kann, müssen sie ausgedeutet werden, und zwar auf eine Weise, die es den Handlungssubjekten erlaubt, sie als fortbestehende Tatsachen in ihr Weltbild zu integrieren, um ihnen damit den Charakter einer akuten Krise zu nehmen.“ (S. 193) Plaß und Schetsche (2001) kritisieren an diesem Ansatz, dass das Verhältnis zwischen kollektiven Wissensbeständen (in Form von Deutungsmustern) und ‚objektiven‘ Problemlagen gleichsam deterministisch ist: Zur Aktivierung eines kollektiven Deutungsmuster bedarf es einer spezifischen Problemlage. Doch, „auch wenn sich bei neueren Deutungsmustern ein – wie auch immer gearteter – Zusammenhang zu ‚objektiven Problemen‘ finden lässt, haben wir es doch mit einer sozialen Realität zu tun, in der sich die meisten Gesellschaftsmitglieder gezielt oder gezwungenermaßen eine Fülle von Wissen aneignen, bevor oder ohne daß sie Gelegenheit haben, auf ‚passende‘ Probleme zu stoßen, bei denen ihnen jenes Wissen helfen kann“ (S. 519). Das bedeutet, zugespitzt formuliert, dass Deutungsmuster nicht nur Reaktionen auf individuelle oder kollektive Problemlagen sind, sondern diese umgekehrt selbst generieren können. Daher schlagen Plaß und Schetsche eine allgemeinere Definition vor, nach der soziale Deutungsmuster kollektives Alltagshandeln strukturieren, indem sie idealtypische Modelle von spezifischen Situationen bereitstellen, unter welche Sachverhalte, Ereignisse und Erfahrungen nach bestimmten Merkmalen subsumiert werden. Durch diesen Vorgang würde letztlich Komplexität reduziert, wodurch diverse Situationen, Erfahrungen und Problemlagen für einzelne Subjekte wie für Kollektive überhaupt erst zu bewältigen wären und komplexe Informationen mit Sinn versehen und in bestehende Wissensbestände integriert werden könnten (vgl. S. 523).

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Basierend auf diesem Verständnis sozialer Deutungsmuster,17 dem in dieser Untersuchung gefolgt werden soll, formulieren Plaß und Schetsche vier theoretische Setzungen: 1) „Deutungsmuster sind sozial geltende, mit Anleitungen zum Handeln verbundene Interpretationen der äußeren Welt und innerer Zustände. 2) Voraussetzung für die Kollektivität von Deutungsmustern sind Weitergabe und Austausch zwischen Subjekten; neue Deutungsmuster erhalten soziale Gültigkeit primär durch ihre diskursive Verbreitung (insbesondere in den Massen- und Netzwerkmedien). 3) Deutungsmuster als sozial geltende Wissensformen sind theoretisch und empirisch von ihren individuellen Repräsentationen zu unterscheiden. 4) Neben der überindividuellen Steuerung von Handlung und Interaktion erfüllen Deutungsmuster vier Funktionen für Subjekt und Sozietät: Komplexitätsreduktion, Antizipation von Situationsentwicklungen, Verständigung über Grenzsituationen und Erzeugung sozialer Gemeinschaft.“ (Schetsche & Schmied-Knittel 2013: 29; vgl. auch Plaß & Schetsche 2001: 522-527)

Neben den zuletzt genannten psychosozialen Funktionen sozialer Deutungsmuster (vgl. hierzu auch Schetsche 2001: 127) entwickeln Plaß und Schetsche Überlegungen zur Binnenstruktur von Deutungsmustern, die, so die Autoren, aus sechs funktional miteinander verknüpften Bestandteilen besteht: 1) Das Situationsmodell: Das Situationsmodell kann gewissermaßen als ‚Kern‘ eines Deutungsmusters beschrieben werden. Es beschreibt die wesentlichen Merkmale von Situationen oder Ereignissen, die dann zur Aktivierung bestimmter Deutungsmuster führen. Darüber hinaus enthält es auch Abgrenzungskriterien gegenüber ähnlichen Situationen. 2) Das Erkennungsschema: Das Erkennungsschema kann als operationalisierte Kurzfassung oder Kurzbezeichnung eines Situationsmodells beschrieben werden. Es fasst – unabhängig von einer konkreten Situation – zusammen, wie ein Deutungsmuster charakterisiert und für welche Situation es adäquat ist. 3) Die Prioritätsattribute: Mit Prioritätsattributen sind Kriterien gemeint, die festlegen, wann und in welchem Umfang einer identifizierten Situation gesteigerte

17 Das methodische Verfahren zur Analyse von sozialen Deutungsmustern, das Plaß und Schetsche im Anschluss an ihr spezifisches Verständnis von sozialen Deutungsmustern entfalten, nennen sie wissenssoziologische Deutungsmusteranalyse (vgl. Schetsche & Schmied-Knittel 2013: 31). 78

Aufmerksamkeit eingeräumt werden muss und ob die Situation aktives Handeln erfordert. 4) Das Hintergrundwissen: Hiermit ist Wissen über grundlegende Sachverhalte in Bezug auf eine bestimmte Situation gemeint. Dieses Wissen kann Axiome, Erklärungsmuster, die Festlegung bestimmter Zusammenhänge, historisches Wissen, aber auch einen normativ-ethischen Bewertungsmaßstab enthalten. 5) Das Emotionsmuster: Das Emotionsmuster innerhalb eines Deutungsmusters enthält konkrete Vorgaben über adäquate emotionale Reaktionen angesichts einer spezifischen Situation oder Entwicklung. 6) Die Handlungsanleitungen: Die Handlungsanleitungen schließlich legen fest, welche Handlungen angesichts einer bestimmten Situation angemessen, notwendig oder eben unangebracht, kontraproduktiv etc. sind. (vgl. S. 528-530 sowie Anton 2011: 78-80)

Zur empirischen Rekonstruktion sozialer Deutungsmuster schlagen Plaß und Schetsche vier aufeinander aufbauende Einzelschritte vor: 1) „Erstellung eines ‚Mosaiks‘ der aktuellen (oder je nach Forschungsinteresse: historischen) Verwendung des Deutungsmusters anhand möglichst divergierender Quellen. Bei historischen Fragestellungen kommt ausschließlich die Analyse medialer und anderer Dokumente in Frage, bei Untersuchungen zur Gegenwart auch die Beobachtung von Handlungspraxen oder die Auswertung von Gruppendiskussionen und Interviews. 2) Identifikation des Zeitraumes und der ‚Orte‘ der erstmaligen Verbreitung des Deutungsmusters durch eine von der Gegenwart in die Vergangenheit fortschreitende Verwendung in verschiedenen Medien; wenn möglich auch die Ermittlung seines ‚Ursprungs‘ (Entstehung in Alltagspraxis, Übernahme aus fachlichem, wissenschaftlichem oder künstlerischem Sonderwissen usw.). 3) Rekonstruktion der vollständigen Form des Musters (Situationsmodell, Erkennungsschema, Prioritätsattribute, Hintergrundwissen, Emotionsmuster, Handlungsanleitungen) anhand einer begrenzten Zahl von Dokumenten aus der Zeit der erstmaligen Verbreitung. 4) Abschätzung der aktuellen – oder je nach Forschungsinteresse auch: des Wandels in der historischen – Geltung durch die Ermittlung des Grades der Selbstverständlichkeit sowohl in der medialen Verwendung als auch in der täglichen Interaktion (primäre Methoden sind hier Medienanalyse und sowie Gruppendiskussion und Interviews).“ (S. 532; siehe auch Schetsche und Schmied 2013: 29f.) 79

In welchem Verhältnis stehen nun aber Deutungsmuster und Diskurse? Deutungsmuster können als integraler Bestandteil von Diskursen aufgefasst werden, denn sie bezeichnen, so Keller (2008b) „grundlegende bedeutungsgenerierende Schemata, die durch Diskurse verarbeitet werden und nahe legen, worum es sich bei einem Phänomen handelt“ (S. 243). Deutungsmuster in Diskursen stellen darüber hinaus „jene Wissensform dar, die allein die Verknüpfung zwischen Wissen, Deuten und Handeln im Alltag strukturell herzustellen in der Lage sind und damit kollektiven Sinn in scheinbar individuelles, tatsächlich aber soziales Handeln zu verwandeln mag“ (Schetsche und Schmied-Knittel 2013: 31. Hervorhebungen wie im Original). Somit fungieren Deutungsmuster gewissermaßen als Scharniere zwischen Diskurs und Individuum und beantworten damit die von Berger und Luckmann gestellte Frage, wie es möglich ist, dass subjektiv gemeinter Sinn zu objektiver Faktizität wird: „Der subjektive Sinn ist tatsächlich ein kollektiv geteilter, und weil er dies ist, sind die aus ihm resultierenden Handlungen keine im eigentlichen Wortsinn individuellen, sondern es sind immer schon soziale Handlungen.“ (Ebd.) Diskurse erzeugen Deutungsmuster und stellen sie als kollektive Deutungs- und Handlungsanleitungen zur Verfügung. Diese wiederum werden von den Individuen einer Gesellschaft genutzt, um Alltagssituationen zu deuten und ihr Handeln an diesen Deutungen zu orientieren. In anderen Worten: Deutungsmuster benennen keine beliebige, „sondern die zentrale handlungsleitende Form jenes Wissens, das in Diskursen prozessiert wird“ (Schetsche & Schmied-Knittel 2013: 33). Damit wird die Analyse von Deutungsmustern zu einem unverzichtbaren Bestandteil einer Diskursanalyse: „Nur die Rekonstruktion der Deutungsmuster erklärt, wie der kollektive Sinn des Diskurses sich in individuellen Sinn der einzelnen Subjekte verwandelt und sich dann über deren gleichzeitig individuelles wie kollektives Handeln wiederum in soziale Praxis umsetzt, objektiviert und auch institutionalisiert.“ (Ebd.)

Im Zusammenhang mit dem Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit ist also zu fragen, welche Deutungsmuster innerhalb des öffentlichen Diskurses der DDR über das Paranormale existieren, wie deren Binnenstruktur beschaffen ist, wann und unter welchen Bedingungen sie entstanden sind, welche Akteure für ihre Verbreitung bedeutsam sind und ob sie zeitlichen Veränderungen unterliegen. Der Datenkorpus für diese Analyse besteht primär aus den auch für die Diskursanalyse relevanten (in erster Linie) massen- und leitmedialen Bezugnahmen zum interessierenden Themenfeld.

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Dispositive

Die Analyse von Deutungsmustern und Diskursen zielt vorrangig auf die Rekonstruktion von Formationen von Wissen, die über sprachliche Aussagen generiert werden. Obschon sowohl bei Diskurs- als auch bei Deutungsmusteranalysen immer auch die Ebene menschlichen Handelns einbezogen wird, bedarf es zur Klärung der Frage nach dem Verhältnis von Wissen, Sprache und Handlung einer weiteren analytischen Kategorie, die beschreibt, wie genau sich Diskurse, die mit ihnen verflochtenen Machtstrukturen sowie die in ihnen prozessierten Deutungsmuster auf individuelle und soziale Praktiken auswirken. Es geht also, anders ausgedrückt, um den Bereich von „Praktiken, die – mit Blick auf das Verhältnis von Wissen und Macht – als Voraussetzungen wie als Effekte von Diskursen zu fassen sind“ (Schneider 2015: 26. Hervorhebung wie im Original). Foucault schlägt in diesem Zusammenhang den Begriff des Dispositivs vor, den er wie folgt definiert: „Was ich unter diesem Titel festzumachen versuche, ist erstens ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale (sic) Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann. Zweitens möchte ich in dem Dispositiv gerade die Natur der Verbindung deutlich machen, die zwischen diesen Elementen sich herstellen kann. […] Drittens verstehe ich unter Dispositiv eine Art von […] Formation, deren Hauptfunktion zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt darin bestanden hat, auf einen Notstand zu antworten. Das Dispositiv hat also eine vorwiegend strategische Funktion.“ (Foucault 1978: 119f.)

Somit reichen Dispositive gewissermaßen über Diskurse hinaus, sie enthalten diskursive, aber auch nichtdiskursive Praktiken, sie sind, zusammengefasst, „als Ensembles zu verstehen, welche Diskurse, Praktiken, Institutionen, Gegenstände und Subjekte als Akteure, als Individuen, und/oder Kollektive, als Handelnde oder ‚Erleidende‘ umfassen“ (Bührmann & Schneider 2012: 68. Hervorhebungen wie im Original). Von besonderer Bedeutung sind aus dieser Perspektive konkrete Objektivationen von Diskursen wie z.B. in Form von gesetzlichen Regelungen, ‚Funktionsgebäuden‘ (wie etwa Gefängnissen, Krankenhäusern, Psychiatrien etc.) oder auch in Form von Alltagsgegenständen wie Straßenschildern, Geld oder nach Geschlecht getrennten Toiletten, durch die die Machtwirkungen von Diskursen für Subjekte gleichsam konkret erfahrbar werden. Ferner kann unter Berücksichtigung des Dispositiv- Ansatzes die Rolle von Subjekten umfassender betrachtet werden. Sie können „sowohl in ihrer Potenzialität als aktiv Handelnde (also als Disponierende) wie auch als passiv Erleidende (also als Disponierte) begriffen werden, um 81

Subjektivation/Subjektivierung als Effekt unterschiedlicher diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken ebenso in den Blick zu nehmen wie die Widerständigkeiten, Eigen-Sinnigkeiten der Handelnden, falls sie sich dem Disponiert-Sein widersetzen oder es zumindest zu unterlaufen versuchen“ (S. 155).

Die Analyse von Dispositiven setzt nach diesem Verständnis auf die „systematische Rekonstruktion der Bedingungen und Regeln des Sagbaren ebenso wie auf die Bedingungen und Regeln des Machbaren“ (Schneider 2015: 37). Das Sagbare sowie das Machbare konstituiert sich, so Bührmann und Schneider (2012), entlang des Zusammenspiels folgender Unterscheidungen:  „der Differenz zwischen dem Gesagten im Sinne einer ‚Positivität der Aussage‘ und dem Ungesagten als dem Nicht-Auftreten einer Aussage;  der Differenz zwischen dem Sagbaren, aus dessen Möglichkeitsraum einer Diskursformation als diskursives Innen sich das Gesagte speist, und dem Unsagbaren, das die Grenze zum diskursiven ‚Außen‘ markiert als das, was nicht in der einen, sondern in einer anderen Diskursformation als sagbar erscheint bzw. gesagt werden könnte.  der Differenz zwischen dem zu Sagenden und dem nicht zu Sagenden – hier verstanden als normative Aussageforderungen bzw. Aussageverbote. Allerdings: Nicht alles, was sagbar ist, darf oder muss gesagt werden, und auch nicht alles, was sagbar ist, braucht gesagt zu werden. Hier sind also insbesondere Überschneidungen oder Unterscheidungen im Ungesagten zu beachten zwischen dem, was dem nicht zu Sagenden und dem Unsagbaren geschuldet ist: was aufgrund eines Aussageverbots nicht gesagt werden darf; was als Aussagemöglichkeit nicht ‚verfügbar‘ ist; und schließlich das, was kollektiv gewusst als das gilt, was nicht gesagt zu werden braucht, (weil es selbstverständlich ist, weil es als Gesagtes – gegenüber dem Tun – seine Wirkung verlieren könnte).“ (S. 97)

Es kann also festgehalten werden, dass es bei der Analyse von Dispositiven um die Auseinandersetzung mit der Frage geht, „welche (Wissens-)Elemente aus diskursiv vermittelten Wissensordnungen inwieweit ‚wirk-liche‘ (und insofern ‚machtvolle‘) Effekte zeitigen, als dass sie in der kollektiven wie individuellen Vermittlung im Selbst- wie Weltbezug handlungswirksam werden und dadurch (erst) auf jene Wissensordnungen zurückwirken können“ (S. 152). Die Analyse von Dispositiven ist dabei weniger als Alternative denn als eine Ergänzung von Diskursanalysen zu sehen, durch die die Perspektive

82 ausgeweitet wird. Sie wendet sich systematisch jenen Verhältnisbestimmungen zu, die „Aufschluss über das Verhältnis von Diskurs und Praxis, von Vorder- und Hinterbühne, von Hegemonie, Marginalisierungen und auch Widerständigkeiten geben können“ (S. 157). Unter Berücksichtigung der Dispositiv-Perspektive wird im Hinblick auf das Untersuchungsfeld darauf zu achten sein, ob und in welcher Weise sich der Diskurs über das Paranormale in der DDR in Form von spezifischen Objektivationen niederschlägt. Konkret gemeint sind damit vor allem institutionelle bzw. gesetzliche Regelungen, die einen Bezug zu dem interessierenden Themenfeld haben. Gab es institutionelle Zuständigkeiten (etwa das MfS, die Polizei, Parteigremien) für die Aktivitäten entsprechender Personen und Personengruppen (sofern es letztere überhaupt gab)? Falls ja, welche konkreten Maßnahmen (wie bspw. Überwachung, Kontrolle, Sanktionierung) wurden von welcher Stelle gegebenenfalls angeordnet und durchgeführt? Darüber hinaus interessiert aber auch die Frage nach spezifischen Subjektivierungsprozessen in Bezug auf das Untersuchungsfeld. Welche diskursiven (aber eben auch: nicht-diskursiven) Bezugnahmen haben sich im Rahmen der Sozialisation von Individuen in welcher Weise ausgewirkt? Gab es beispielsweise innerhalb des Bildungssystems der DDR konkrete Vorgaben im Hinblick auf die interessierenden Themen? Welche Praktiken, Vorstellungen und Erfahrungen existierten jenseits des öffentlichen Diskurses? Das entsprechende Untersuchungssample zu Beantwortung dieser Fragen setzt sich – neben diskursiven Bezugnahmen auf das Themenfeld, die auch hier eine Rolle spielen – im Wesentlichen aus zwei Beobachtungseinheiten zusammen: Zum einen aus der Inhaltsanalyse behördlicher Dokumente, namentlich Sach- und Personenakten der DDR-Administration und der Strafverfolgungsbehörden, zum anderen aus im Rahmen von teilnarrativen Interviews gewonnenen Selbstauskünften von Personen, die in der DDR in verschiedener Weise einen Bezug zu dem Untersuchungsfeld hatten.

4.3 Empirische Zugänge und Materialkorpus

Literatur und Dokumente

Der erste Teil des Datenkorpus wird durch non-reaktive Daten wie Bücher, Zeitschriften- und Zeitungsartikel, Akten, Filmmaterial, Lexika-Einträge etc. gebildet. Dabei gilt es zwischen Primär- und Sekundärquellen zu unterscheiden: Primärquellen sind jene Quellen, die in der DDR entstanden sind, seien es themenspezifische Beiträge aus dem öffentlichen Diskurs,

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Akten aus staatlichen Institutionen oder andere Dokumente mit einem Bezug zum Untersuchungsfeld. Sekundärquellen sind Quellen, die für die Forschungsfragen von Interesse sind, aber außerhalb der DDR oder retrospektiv nach der Wiedervereinigung Deutschlands entstanden sind. Nach einer intensiven Recherche nach relevanten (wissenschaftlichen oder programmatischen) Veröffentlichungen wurden 31 Bücher (davon sind 20 Primär- und 11 Sekundärquellen) sowie rund 90 themenbezogene Artikel aus unterschiedlichen Zeitschriften (ca. 70 Primär- und 20 Sekundärquellen) in den Materialkorpus aufgenommen. Ein Rechercheauftrag mit für das Untersuchungsfeld zentralen Stichwörtern im Zeitgeschichtlichen Archiv in Berlin (ZGA), das ein umfangreiches DDR-Pressearchiv beinhaltet, erbrachte rund 30 relevante Artikel aus unterschiedlichen DDR-Zeitungen. Darüber hinaus lieferte eine Eigenrecherche über das Zeitungsinformationssystem (ZEFYS) der Staatsbibliothek zu Berlin, über welches die DDR-Tageszeitungen , Berliner Zeitung und Neue Zeit vollständig digitalisiert und im Volltext erschlossen wurden, über eine Stichwortsuche rund 120 weitere Zeitungsartikel, sodass insgesamt ca. 150 themenbezogene Artikel der DDR-Presse in den Materialkorpus einflossen. Eine systematische Sichtung von DDR-Lexika und Schulbüchern lieferte weiteres relevantes Textmaterial. Rechercheaufträge und Eigenrecherchen im Archiv des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU), im Bestand der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (im SAPMO-BArch), im Archiv des Deutschen Hygienemuseums (DHMD), im Deutschen Rundfunkarchiv (DRA), im Archiv des IGPP und im Schulbuch-Archiv des Studienhauses Wiesneck ergaben insgesamt rund 1000 Seiten Text- und Aktenmaterial, das im Einzelnen aus folgenden Archivbeständen stammt:  MfS – HA I (Bestand der „Hauptabteilung I, NVA und Grenztruppen“ des MfS im BStU)  MfS – HA IX (Bestand der „Hauptabteilung IX, Untersuchungsorgan“ im BStU) MfS – ZOS (Bestand „Zentraler Operativstab“ im BStU)  MfS – HA XX (Bestand der „Hauptabteilung XX, Staatsapparat, Kultur, Kirchen, Untergrund“ im BStU)  MfS – ZAIG (Bestand der „Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe“ im BStU)

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 DO 1 (Akten aus dem Bestand „Innenministerium, Erlaubniswesen, “ im SAPMO-BArch)  DP 1 (Akten aus dem Bestand „Ministerium der Justiz“ im SAPMO-BArch)  DQ 1 (Akten aus dem Bestand „Ministerium für Gesundheitswesen“ im SAPMO- BArch)  DR 1 (Akten aus dem Bestand „Ministerium für Kultur“)  DY 11 (Akten aus dem Bestand „Urania“ im SAPMO-BArch)  DY 41 (Akten aus dem Bestand „Gewerkschaft Gesundheitsweisen“ im SAPMO- BArch)  ADHM – Akten und Filmmaterial aus dem Bestand zur Wanderausstellung „Aberglaube und Gesundheit“ aus dem Archiv des Deutschen Hygienemuseums Dresden  DRA – Akten und Filmmaterial aus dem Bestand DDR/Fernsehen  E/21 – Akten aus dem Bestand „Laufende Tätigkeiten des Instituts“ im Archiv des IGPP

Noch ein Wort zu den MfS-Akten: Die Recherchen am BStU erbrachten lediglich Sachakten, also Unterlagen ohne personenbezogene Daten wie zum Beispiel Dienstanweisungen, themenspezifische Auswertungen etc. Personenbezogene Akten, die Informationen über Betroffene oder Dritte enthalten, bedürften grundsätzlich deren Einwilligung.18 Gleichwohl konnten im Laufe der Untersuchung personenbezogene Akten eingesehen werden, die freundlicherweise von den Betroffenen zur Verfügung gestellt wurden. Kopien der Akten liegen vor und werden im Folgenden in anonymisierter Form dargestellt.19 Der so zusammengetragene Textkorpus wurde einer Inhalts- bzw. Dokumentenanalyse unterzogen. Freilich kann in den folgenden Darstellungen nicht auf das gesamte Material eingegangen werden, sondern es werden wichtige Schlüsseldokumente behandelt, die in exemplarischer und adäquater Weise die wesentlichen bzw. dominierenden argumentativen Strukturen und Deutungsrahmen wiedergeben. Dies gilt allerdings nicht für die Bücher, die in der DDR im Zusammenhang mit dem Untersuchungsfeld erschienen sind. Da ihre Zahl sehr überschaubar ist und damit gleichsam jedes einzelne Buch ein ‚Diskursereignis‘ darstellt,

18 Vgl. http://www.bstu.bund.de/DE/Akteneinsicht/ForschungUndMedien/ForschungUndMedien_node.html (letzter Zugriff: 09.02.2016)

19 Die im Rahmen der Untersuchung zusammengetragenen personenbezogenen MfS-Akten wurden dem IGPP- Archiv eingegliedert, dürfen jedoch ohne Einwilligung der Betroffenen nicht eingesehen werden.

85 wird im Rahmen der folgenden Analysen – in der gebotenen Kürze – auf nahezu jedes Buch, das sich in der DDR mit einschlägigen Themen beschäftigte, eingegangen werden.

Teilnarrative Interviews

Der zweite Teil des Datenkorpus wurde durch die Durchführung teilnarrativer Interviews mit Zeitzeugen gewonnen. Teilnarrative Interviews unterscheiden sich von narrativen Interviews vor allem durch die Verwendung eines themenzentrierten Leitfadens. Narrative Interviews zeichnen sich durch einen sehr niedrigen Grad an Strukturierung seitens des Interviewers aus und werden oftmals im Zusammenhang mit biografischen Fragestellungen verwendet (vgl. Kruse 2015: 151). Für die Beantwortung der Fragestellungen im Rahmen der vorliegenden Studie schien einerseits eine möglichst offene Interviewgestaltung (im Sinne narrativer Interviews) sinnvoll, andererseits aber auch eine themenorientierte Strukturierung mit Hilfe eines Interviewleitfadens. So sollten die Interviewten weniger zu allgemeinbiografischen Stegreiferzählungen, sondern zu mehr oder weniger zusammenhängenden Narrationen bezüglich des in Frage stehenden Gegenstandsbereichs motiviert werden. Zu diesem Zweck wurde ein prototypischer Interviewleitfaden (siehe Anhang) mithilfe des sog. SPSS- Verfahrens20 entwickelt, nach welchem zunächst in einem offenen Brainstorming möglichst viele Fragen gesammelt, anschließend auf ihre Eignung geprüft, inhaltlich zu Themenblöcken sortiert und schließlich im Leitfaden strukturiert wurden (vgl. Helfferich 2005: 161-167). Der so entstandene Leitfaden wurde je nach Art der Bezüge der interviewten Personen zum Themenfeld angepasst bzw. ergänzt. Konkret besteht er aus sechs übergeordneten Themenblöcken bzw. Leitfragen und inhaltlichen Nachfragen, die grundsätzlich nur dann gestellt wurden, wenn die interviewte Person nicht bereits von sich aus auf entsprechende interessierende Themen Bezug nahm. Eine detaillierte Darstellung des Leitfadens würde den Rahmen dieses Abschnitts sprengen, daher sollen hier lediglich die übergeordneten Themenfelder und die dazugehörigen Leitfragen bzw. Erzählaufforderungen wiedergegeben werden:

1) Biografischer Abschnitt Erzählaufforderung: „Erzählen Sie doch vielleicht zunächst ein bisschen etwas über sich, d.h. wo sind Sie aufgewachsen, auf welche Schule sind Sie gegangen, welchen Beruf haben Sie erlernt etc.“

20 Hinter dem Kürzel, das durchaus als ironische Anspielung auf die gleichnamige Statistiksoftware verstanden werden kann, stehen die vier Schritte ‚Sammeln‘, ‚Prüfen‘, ‚Sortieren‘ und ‚Subsumieren‘ (vgl. Helfferich 2005: 162). 86

2) Spezifizierung des Themas Leitfrage: „Mit welchen Themen aus dem Bereich des Paranormalen bzw. der Parapsychologie haben Sie sich beschäftigt und wie kamen Sie dazu?“ 3) Austausch/Kommunikation Leitfrage: „Wie offen konnten Sie zu DDR-Zeiten über diese Themen/Erfahrungen sprechen?“ 4) Information (offizielle Medien) Leitfrage: „Wie gut konnte man sich zu DDR-Zeiten über solche Themen/ Erfahrungen informieren?“ 5) Soziale bzw. staatliche Kontrolle Leitfrage: „Können Sie etwas darüber sagen, ob und wenn ja in welcher Weise die Beschäftigung mit derartigen Themen in der DDR kontrolliert/überwacht wurde?“ 6) Zeiten/Wende Leitfrage: „Hatte die Wende eine Bedeutung für Ihre Beschäftigung mit diesen Themen?“

Ziel war es zum einen, Personen zu interviewen, die sich zu DDR-Zeiten auf der lebensweltlichen Ebene in irgendeiner Weise mit Themen im Zusammenhang mit dem Untersuchungsfeld beschäftigten, ‚paranormale‘ Erfahrungen machten oder entsprechende Praktiken ausübten. Zum anderen sollten Personen interviewt werden, die gleichsam den öffentlichen Diskurs in Bezug auf das Untersuchungsthema repräsentieren – also etwa Vertreter des Wissenschaftssystems, Buchautoren, ehemalige Mitarbeiter des MfS etc. Die Auswahl der Interviewten orientierte sich dabei an den Kriterien des Theoretical Sampling (vgl. hierzu Kruse 2015: 237-250), wonach sich die Zusammenstellung erster Fälle mit deren Analyse bzw. Interpretation, erster Hypothesenbildung, erneuter Fallauswahl und fortschreitender Theorieentwicklung abwechselten. Für die Rekrutierung der Interviewpartner wurden verschiedene Strategien gewählt: Zum einen wurden Aufrufe in Massen- und Fachmedien platziert, die über die Hintergründe und Zielsetzungen der Studie informierten und Personen mit einschlägigen Erfahrungen hinsichtlich des interessierenden Themenfeldes darum baten, sich als Zeitzeugen für ein Interview zur Verfügung zu stellen. So wurden einerseits zahlreiche ostdeutsche Zeitungsredaktionen mit der Bitte angeschrieben, entsprechende Aufrufe zu publizieren, von denen die Mehrzahl allerdings nicht reagierte oder einer Veröffentlichung nicht zustimmte. Darüber hinaus wurden einige Aufrufe in diversen Spezialmedien veröffentlicht, die sich

87 schwerpunktmäßig mit einem oder mehreren Themen im Kontext des Untersuchungsfeldes beschäftigen, beispielsweise in den Astrologiezeitschriften Meridian (Anton 2015a) und Astrologie heute (Anton 2015b), in dem Online-Forum Grenzwissenschaften aktuell (Anton 2014a), in der Zeitschrift für Anomalistik (Schneider & Anton 2014), herausgegeben von der Gesellschaft für Anomalistik oder in der Zeitschrift Skeptiker (Anton & Schmied-Knittel 2015), der Vereinszeitschrift der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften. Ferner erschienen Berichte über das Forschungsprojekt in regionalen und überregionalen Zeitungen, die ebenfalls einen Aufruf an Zeitzeugen enthielten, bspw. im Nordkurier (Wilhelm 2016) oder auf Zeit-Online (Füßler 2014). Als weitere Rekrutierungsstrategie wurde die Kontaktierung von Multiplikatoren und ‚Türöffnern‘ gewählt. Verschiedene Organisationen, Verbände und Interessengruppen, die sich den für das Forschungsvorhaben relevanten bzw. ausgesuchten Themenfeldern (Astrologie, UFO, Alternativmedizin, Parapsychologie usw.) widmen, wurden kontaktiert und nach ostdeutschen Mitgliedern gefragt. Die Idee dahinter bestand darin, dass entsprechende Organisationen vielleicht schon vor der Wiedervereinigung Kontakte zu DDR-Bürgern hatten, die sich für einschlägige Themen interessierten oder nach der Wiedervereinigung Mitglieder aus Ostdeutschland aufnahmen, die sich schon zu DDR-Zeiten mit Themen aus dem Bereich des Paranormalen beschäftigt haben. Im Einzelnen wurden folgende Organisationen kontaktiert:  Gesellschaft zur Erforschung des UFO-Phänomens e.V.  Deutschsprachige Gesellschaft für UFO-Forschung e.V.  Gesellschaft zur Untersuchung von anomalen atmosphärischen und Radar- Phänomenen (MUFON-CES)  Gesellschaft für Anomalistik e.V.  Wissenschaftliche Gesellschaft zur Förderung der Parapsychologie e.V.  Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften e.V.  Forschungsgesellschaft für Archäologie, Astronautik und SETI  Deutscher Astrologenverband  Vereinigung deutscher Rutengänger

Schließlich wurde zur Rekrutierung auch das sog. Schneeballsystem (vgl. Kruse 2015: 251) bemüht. Hierzu wurden anfangs bereits bestehende Kontakte und Netzwerke des IGPP genutzt, die im deutschsprachigen Raum in Bezug auf das interessierende Untersuchungsfeld des Paranormalen wohl einzigartig sind. Überdies wurde jede interviewte Person nach

88 weiteren potenziellen Interviewpartnern gefragt, wodurch weitere Kontakte zu Stande kamen. Auch über die eigens für das Projekt erstellte Homepage21 sowie über Präsentationen des Forschungsprojektes auf diversen Fachtagungen22 konnten weitere Interviewpersonen gewonnen werden. Insgesamt wurden über die verschiedenen Rekrutierungsstrategien 23 Einzelinterviews und eine Gruppendiskussion realisiert. Den Fragestellungen und Zielsetzungen der Studie folgend, wurden Personen mit sehr unterschiedlichen Bezügen zum Untersuchungsfeld interviewt. Sie reichen von Personen mit paranormalen Erlebnissen über ‚Anbieter‘ paranormaler Praktiken (z.B. ‚Hellsehen‘) bis hin zu Vertretern des Wissenschaftssystems oder des MfS. Abgesehen von einem Fall (Telefoninterview) wurden alle Interviews am Wohnort der Interviewten (entweder bei ihnen zu Hause oder in einem Kaffee, am Arbeitsplatz etc.) durchgeführt. Im Regelfall wurden die Interviews mithilfe eines MP3-Players mit externem Mikrofon aufgezeichnet und anschließend transkribiert. Drei Interviewpartner wollten nicht, dass das Gespräch aufgezeichnet wird. In diesen Fällen wurden während der Interviews handschriftliche Gesprächsprotokolle angefertigt. Insgesamt entstanden so rund 32 Stunden Tonmaterial und ca. 770 Transkript-Seiten. Die Analyse bzw. Interpretation der Interviews richtete sich nach dem von Kruse (2005) vorgeschlagenen integrativen Basisverfahren, dessen Grundidee ist, „dass man nicht mit einer singulären Analysemethode an einen Text herangeht, sondern umgekehrt: Im Verlaufe einer offenen, (mikro-)sprachlich-deskriptiven Analyse eines Textes kommt man zur integrativen Anwendung von spezifischen forschungsgegenständlichen und methodischen Analyseheuristiken, um so die zentralen Sinnstrukturen in einem Prozess der fortschreitenden Abstrahierung herauszuarbeiten.“ (S. 463)

Damit bewegt sich das Verfahren, von Kruse auch „ein rekonstruktiv-hermeneutisches Programm“ genannt, zwischen zwei Paradigmen qualitativer Interviewanalyse: In Anlehnung an die Grounded Theory (siehe etwa Glaser & Strauss 2008) werden Analysekategorien nach dem Prinzip der maximalen Offenheit textbasiert entwickelt und hinterher im Sinne einer qualitativen Inhaltsanalyse (siehe z.B. Mayring 2008) auf deren Gültigkeit bzw. Relevanz geprüft. Insofern oszilliert das von Kruse vorgeschlagene Verfahren gleichsam zyklisch zwischen einer eher induktiven (materialgeleiteten) und einer eher deduktiven (an Leitfragen orientierten) Analyseebene qualitativer Daten. Anders ausgedrückt:

21 www.okkulte-ddr.de

22 Eine Übersicht über die im Rahmen des Forschungsprojektes gehaltenen Vorträge findet sich hier: http://okkulte-ddr.de/?page_id=174 89

„Das integrative Basisverfahren versucht den so weit wie möglich offen- rekonstruktiven Zugang zu den textuellen Daten einerseits auf der Basis eines (mirko-)sprachlichen Analyseansatzes und andererseits durch die Integration verschiedener spezieller forschungsgegenständlicher und methodischer Analyseheuristiken.“ (S. 465)

Konkret wurden auf Basis der im Zuge des Forschungsprojektes erstellten Interviewtranskripte innerhalb einer Interpretationsgruppe (die sich aus drei bis vier Soziologen zusammensetzte) Lesarten und Analyseheuristiken entwickelt sowie (zentrale) Motive und Thematisierungsregeln erarbeitet, trianguliert23 und validiert. Dazu wurden die Interviewtranskripte sowohl längs als auch quer analysiert, d.h., die Interviews wurden sowohl einzeln betrachtet als auch systematisch passagenweise verglichen. Die Namen der Interviewpartner wurden in den meisten Fällen anonymisiert bzw. mit Pseudonymen versehen. In einigen wenigen Fällen legten die interviewten Personen jedoch keinen Wert auf Anonymisierung, da sie z.B. im Zusammenhang mit den interessierenden Themen ohnehin in der Öffentlichkeit stehen – etwa durch Publikationen. Hier wurden die Klarnamen beibehalten. An dieser Stelle scheinen einige Bemerkungen in Bezug auf generelle Schwierigkeiten bei der Verwendung von qualitativen Interviews zur Rekonstruktion historischer Gegebenheiten angebracht. Dies betrifft vor allem das neuralgische Verhältnis von Erinnerung und Wirklichkeitsbezug in (teil-)narrativen Interviews mit Zeitzeugen (Oral History) – und womöglich eine grundsätzliche Kritik an subjektiven Quellen bei der Analyse vergangenheitsbezogener Wissensbestände. Klar ist, dass bei der Durchführung und Auswertung derartiger Interviews quellenspezifische Sensibilität und Reflexivität notwendig sind. Die im Rahmen der Interviews erhobenen Selbstaussagen entstanden in einem deutlichen zeitlichen Abstand zu den für diese Untersuchung relevanten Ereignissen in der DDR – dies wirft Fragen nach dem Quellenwert dieser subjektiven Erinnerungen auf: Lässt sich überhaupt eine Kongruenz der persönlichen und biografisch gefärbten Erzählungen mit ‚der Wirklichkeit’ sicherstellen? Vermischen sich womöglich Erinnerungen aus DDR-Zeiten mit solchen nach der Wiedervereinigung? Solche und ähnliche Fragen nach den Grenzen des Gedächtnisses sind ein zentraler Aspekt der Kritik an Interviews mit Zeitzeugen. Deren Erinnerungen, so heißt es, seien eine heikle Quelle, da Gedächtnisinhalte durch spätere Erlebnisse und Verarbeitungen, durch nachfolgende Bewertungen, durch ein neues soziales

23 Innerhalb der Sozialwissenschaft wird mit dem Begriff ‚Triangulation‘ die Betrachtung eines Forschungsgegenstandes aus mehreren Perspektiven bezeichnet. In Bezug auf die Analyse qualitativer Daten ist damit u.a. gemeint, dass unterschiedliche Hypothesen bzw. Lesarten an einen Text herangetragen werden, die dann in einer Interpretationsgruppe diskutiert und am Text plausibilisiert bzw. validiert werden (vgl. Flick 2004: 309-318). 90

Gefüge überlagert und verändert werden (vgl. hierzu Abschnitt 2.5.) – oder auch, weil entsprechende Selbstzeugnisse nachträglich und nicht selten in legitimatorischer Absicht dargelegt werden (vgl. etwa Assmann 2007; von Plato 2000). Daher gilt es zu beachten, dass retrospektive Interview-Aussagen niemals „Reproduktionen von Vergangenem, sondern stets Neuproduktionen einer operativen Gegenwart“ sind, die schlussendlich „eine neue Wirklichkeit“ hervorbringen (Nassehi 1994: 53). Trotz der geschilderten Einschränkungen sind Interviews mit Zeitzeugen – vor allem im Abgleich mit anderen historischen Quellen – dennoch ein unverzichtbares und (unter Berücksichtigung der nötigen quellenkritischen Überlegungen) auch valides Erhebungsinstrument.

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5. Das Paranormale im öffentlichen Diskurs

Ziel des folgenden Kapitels ist es, darzulegen, in welcher Weise der Umgang mit dem Untersuchungsgegenstand im öffentlichen Diskurs der DDR erfolgte. Dazu erscheinen zunächst einige Erläuterungen zum Mediensystem der DDR notwendig, das in erheblichem Maße staatlich kontrolliert und gelenkt war. Danach werden exemplarisch allgemeine Bezugnahmen zu einschlägigen Themen aus verschiedenen medialen Formaten dargelegt, die sich an eine breitere Öffentlichkeit richteten. Konkret wird es um die Darstellung des interessierenden Themenbereiches in Zeitungen, Zeitschriften, (Fach-) Büchern, im Fernsehen, Radio etc. gehen. Im Vordergrund stehen dabei zentrale inhaltliche Bestimmungen, Argumentationslinien, Deutungsrahmen und wichtige Akteure innerhalb des öffentlichen Diskurses im Zusammenhang mit den interessierenden Themen. Um inhaltliche Veränderungen im Diskursverlauf rekonstruieren zu können, erfolgt die Darstellung zudem chronologisch. Anschließend werden verschiedene herausragende Fallbeispiele behandelt, womit Ereignisse oder Personen gemeint sind, die im öffentlichen Diskurs der DDR ein hohes Maß an Aufmerksamkeit erzeugten und damit einer besonderen Betrachtung bedürfen. Basierend auf der Rekonstruktion des Diskurses über das Paranormale in der DDR wird im Anschluss der Versuch unternommen, ein zentrales, dominierendes Deutungsmuster im Zusammenhang mit dem Untersuchungsfeld zu skizzieren, welches mithilfe verschiedener Diskursstrategien etabliert, reproduziert und abgesichert wurde. Schließlich sollen die Hauptakteure im öffentlichen Diskurs der DDR über das Paranormale bestimmt und eingehend behandelt werden.

5.1 Das Mediensystem der DDR

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg begann die Sowjetische Militäradministration (SMAD) in der SBZ damit, das Mediensystem nach sowjetischem Vorbild aufzubauen. Das bedeutete, dass Lizenzen für Presseerzeugnisse fast ausschließlich an Parteien und Massenorganisationen, nicht aber an Privatpersonen vergeben wurden. In besonderer Weise wurde dabei die SED begünstigt: „Die meisten Zeitungen bzw. Zeitschriften waren dabei direkt der SED als sogenanntes ‚zentrales Organ‘ nachgeordnet, sozusagen als Sprachrohr der Partei. Diesen Zeitungen wurde das größte Papierkontingent zugebilligt und gute Bedingungen zum Vertrieb geschaffen.“ (Otto 2015: 37) Nach und nach wurde ein

92 umfassendes Kontroll- und Zensursystem geschaffen, das zentral von der Parteispitze gesteuert wurde und Zugriff auf nahezu jede Veröffentlichung erlaubte. Die Medienlenkung und -kontrolle funktionierte dabei auf „verschiedenen Ebenen bzw. Kontrollinstanzen und durch eine Vielzahl von politischen Akteuren, wie z.B. den Sekretären der Agitationsabteilung des ZK“ (S. 40). Das so geschaffene System der Kontrolle über die öffentliche Meinung erzeugte, so Stefan Wolle, eine staatlich „verordnete Öffentlichkeit“: „Zunächst war da die sicherlich nicht hermetisch abgeschlossene, doch jedes gedruckte oder öffentlich gesprochene Wort reglementierende und kontrollierende verordnete Öffentlichkeit des Staates. Ihre Wächter ahndeten Abweichungen von der ideologischen oder begrifflichen Norm und verfügten über ein ausbalanciertes und hochperfektioniertes System von Vor- und Nachkontrollen, von Strafen und Strafandrohungen, die von geminderten Berufschancen bis zu Gefängnisaufenthalten reichten.“ (Wolle 1998: 135)

Nahezu die gesamte Medienlandschaft der DDR war direkt an das politische Machtzentrum angebunden, was reglementierende Eingriffe zu jeder Zeit und auf allen Ebenen erlaubte. Nach sowjetischem Vorbild sollten die Medien vor allem ein Propaganda-Instrument sein, sodass Zensur gleichsam eine Selbstverständlichkeit darstellte (vgl. Heydemann 2003: 109). Selbst vermeintlich unbedeutende Details in der medialen Berichterstattung wurden „von den Agitationssekretären der SED und dem Generalsekretär persönlich entschieden. Erich Honecker bestimmte nicht nur, wie die ersten Seiten des Neuen Deutschland und die auszusehen hatten, sondern mischte sich auch in Kleinigkeiten ein“ (Meyen & Fiedler 2010a: 73). Letztlich habe sich, so Holzweißig, die politische Administration der DDR an die Forderung Lenins gehalten, Zeitungen müssten immer „kollektiver Propagandist, Agitator und Organisator“ (Holzweißig 1999: 574) sein. Tatsächlich beanspruchte die SED bis zuletzt die vollständige Entscheidungsgewalt über die Berichterstattung in der Presse, weshalb für die DDR zu Recht von einem staatlichen Nachrichtenmonopol die Rede sein kann. Jürgen Habermas sprach in diesem Zusammenhang von der „‚totalitären Vernichtung der politischen Öffentlichkeit‘ in den ‚staatssozialistischen Gesellschaften‘“ (nach Meyen & Fiedler 2010b: 36). Bücher wurden im Auftrag des Zentralkomitees der SED vor allem durch die ‚Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel‘ im Ministerium für Kultur zensiert. Diese Hauptverwaltung stützte sich zuletzt auf „78 lizensierte Verlage, deren Produktionspläne sie absegnete und denen sie das Papier zuteilte. Jedes einzelne von den Verlagen publizierte Buch wurde zuvor im sog. Druckgenehmigungsverfahren (dazu später mehr) überprüft – eine systematische Vorzensur in klassischer Form“ (Lokatis 2008: 12). Die 78 DDR-Verlage waren mehrheitlich „volkseigen“, d.h. im Besitz von Parteien und Massenorganisationen. 93

Damit waren sie, so Emmerich, „von vornherein dem Lenkungs- und Kontrollverlangen der SED ausgeliefert“ und gehorchten einer „von Lenkungsinstanzen vorgegebenen Programmatik sowie einer ebenfalls von oben vorgegebenen Einteilung dessen, was inhaltlich produziert werden sollte“ (Emmerich 2000: 49). Analog dazu wurde auch das DDR-Fernsehen reglementiert. Es unterstand dem ‚Staatlichen Rundfunkkomitee‘, das wiederum dem Ministerrat der DDR-Regierung untergliedert war, womit letztlich das Politbüro des Zentralkomitees der SED über „Zielsetzungen, Formen und Inhalte sowie über das Personal des Fernsehens“ (Hickethier 2010: 121) bestimmte. Dieses staatliche Meinungsmonopol innerhalb der DDR-Medienlandschaft wurde jedoch von Beginn an durch die konkurrierenden Medienangebote aus Westdeutschland untergraben, sodass es die SED nicht vermochte, ihren „medialen Totalitätsanspruch“ (Heydemann 2003: 110) durchzusetzen. So wurden trotz intensiver Bemühungen der Zollverwaltung der DDR enorme Mengen an Büchern, Zeitungen und Zeitschriften aus der BRD in die DDR geschmuggelt und gelesen (vgl. hierzu Lokatis & Sonntag 2008). Darüber hinaus waren von Anfang an überall in der DDR „westliche Hörfunksender zu empfangen, und schon Mitte der 1960er Jahre konnten 85 Prozent der TV-Zuschauer auch Sendungen aus der Bundesrepublik sehen. Der Zugang verbesserte sich in den 1980er Jahren noch einmal deutlich, als im ‚‘ – so die Bezeichnung für die Bezirke Dresden und Neubrandenburg sowie die Osthälfte des Bezirks Rostock, wo man vorher kein Westfernsehen empfangen konnte – Gemeinschaftsanlagen für den Satellitenempfang gebaut wurden“ (Meyen & Fiedler 2010a: 73).

Hierdurch ergab sich für die Medien-Rezipienten in der DDR ein permanenter „kontrastiver Dialog zwischen den konkurrierenden deutsch-deutschen Programm-Angeboten“ (Heydemann 2003: 110). Dieser Umstand ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass der DDR-eigene öffentliche Diskurs in einem hohen Maße staatlich kontrolliert war und sich dadurch hinsichtlich seiner Strukturlogik in eklatanter Weise von dem öffentlichen Diskurs der BRD unterschied. Diese speziellen strukturellen Bedingungen gilt es bei einer Analyse des öffentlichen Diskurses der DDR in besonderer Weise zu berücksichtigen. Innerhalb der ‚verordneten Öffentlichkeit‘ der DDR waren Widersprüche, offene Kritik, abweichende oder alternative Meinungen kaum oder gar nicht geduldet, daher entsprach in der DDR der öffentliche Diskurs fast immer auch der offiziellen bzw. weltanschaulichen Wirklichkeitsbestimmung.

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5.2 Diskursverlauf

Der Verlauf des Diskurses in der DDR im Zusammenhang mit Themen aus dem Bereich des Paranormalen kann, wie zu zeigen sein wird, grob in zwei zeitliche Phasen aufgeteilt werden, die sich qualitativ unterscheiden: Die erste Phase umfasst die Zeitspanne von der Gründung der DDR bis Mitte der 1960er Jahre. Hier stand zunächst die Bekämpfung des ‚Aberglaubens‘24 nach innen im Fokus; es ging um die historischen Residuen abergläubischer, magischer und paramedizinischer Praktiken, die den Aufbau der jungen DDR und die Entwicklung des ‚sozialistischen Menschen’ vermeintlich behinderten. Dominierend war in dieser Phase in Bezug auf die interessierenden Themen ein Aufklärungsdiskurs. Demgemäß kann diese Phase als Aufklärungsphase bezeichnet werden.

1949-1963: Aufklärungsphase

Einer der ersten Zeitungsartikel zum Themenkomplex des Paranormalen stammt aus dem Neuen Deutschland vom 21. September 1949, also noch aus der SBZ. Anlass für den Artikel war ein Vortrag von Wilhelm Gubisch (1980-1972) im Berliner Kulturbundhaus zum Thema „Telepathie und andere okkulte Phänomene im Lichte kritischer Forschung“. Gubisch war seinerzeit einer der vehementesten Kritiker parapsychologischer Forschung und erlangte durch eine Vielzahl von öffentlichen Vorträgen zu verschiedenen Themen im Bereich des Paranormalen einige Popularität. Sein Credo lautete, dass paranormale Phänomene ausnahmslos auf Suggestion und Zaubertricks basieren, nicht jedoch auf ‚übernatürlichen‘ Fähigkeiten (vgl. Gubisch 1961). In seinen Vorträgen führte Gubisch oftmals vermeintliche Hellseh- oder Telepathiephänomene vor, um dem Publikum anschließend zu erklären, dass es sich dabei lediglich um Zaubertricks und Täuschungen handelte (vgl. Schneider 2015: 6125). Diesem Muster folgte Gubisch auch in seinem Vortrag im Berliner Kulturbundhaus: „Um zu zeigen, wie verhältnismäßig leicht es die ‚Medien‘ haben, ihr Publikum zu täuschen, und mit welchen psychologischen Mitteln sie arbeiten, täuschte Gubisch das seine durch eine Reihe von verblüffenden Experimenten, deren verborgene Tricks er dann enthüllte. Ohne – wie er zum Schluß gestand

24 In der Logik des öffentlichen Diskurses der DDR wurden unter dem Begriff ‚Aberglaube‘ nahezu sämtliche hier interessierenden Themenfelder subsummiert. Im Sinne der Unterscheidung zwischen emischen und etischen Sichtweisen müsste der Begriff im Folgenden, um eine kritische Distanz zu seiner Verwendung im DDR-Diskurs zu markieren, eigentlich immer in Anführungszeichen geschrieben werden. Der Einfachheit halber wird, ähnlich wie bei den Begriffen ‚Paranormales‘, ‚Okkultes‘ und ‚Übersinnliches‘ auf eine solche Schreibweise verzichtet. Sofern im Folgenden also von ‚Aberglaube‘ die Rede ist, wird auf das spezifische Verständnis dieses Begriffes im öffentlichen Diskurs der DDR rekurriert.

25 Bei der angegebenen Quelle handelt es sich um eine unveröffentlichte Abschlussarbeit, welche, in deutlich gekürzter Form, auch als Artikel in einem Sammelband erschienen ist (Schneider 2016). 95

– im Besitz ‚okkulter Fähigkeiten‘ zu sein, lieferte er verblüffende Beispiele von ‚Hellseherei‘ und ‚Gedankenlesen‘, die sich insgesamt als durchaus natürliche Vorgänge erwiesen, bei denen es keiner ‚außersinnlichen Kräfte‘ bedurfte.“ (Neues Deutschland 1949: 3)

Bereits in diesem frühen Artikel taucht eine politische Rahmung des Themas auf. So wird betont, dass Zeitungskioske in den Westzonen und in den Berliner Westsektoren mit einer „Hintertreppenpresse“ behängt sind, die „ihre Leser dem ‚Okkulten‘ zutreibt, das abermals – wie unter Hitler – der reaktionären Volksverdummung dient“ (ebd.). Kritisch wird an Gubischs Vortrag angemerkt, dass er die „schwierigsten Probleme“ des Themas ausblendete und „den ganzen Fragekomplex in einer Weise vereinfachte, die zumindest den Kenner nicht befriedigte“ (ebd.). Interessanterweise wird in diesem Zusammenhang die Parapsychologie deutlich von dem „betrügerischem Unfug“ im Zusammenhang mit okkulten Phänomenen abgegrenzt, den Gubisch mit seinen Vorträgen zu entlarven versuchte: „Die sogenannte Parapsychologie tritt mit einer umfangreichen Fachliteratur, mit exakten Forschungsmethoden und mit einer wachsenden Zahl von Hochschuleinrichtungen als ernst zu nehmende Wissenschaft auf. Gelehrte und Institutionen wie Charles Richet, Camille Flamarion, die Society for Psychical Research, die Pariser Sorbonne, das Marburger Psychologische Institut sowie verschiedene Universitäten in den skandinavischen Ländern und in Amerika haben enorme Mengen von Studienmaterial zusammengebracht, das man nicht entkräftet, indem man es mit den Schwindeleien von Varietegauklern und Vorstadtadepten in einen Topf wirft.“ (Ebd.)

Der Artikel schließt bemerkenswerterweise mit der Forderung, die Parapsychologie kritisch zu analysieren und sie auf eine Weise in das Weltbild des dialektischen Materialismus zu integrieren, dass sie ihren „gespenstischen Charakter“ verliert (vgl. ebd.). In einem Artikel aus der Neuen Zeit aus dem Jahr 1950 – nun also schon zu DDR-Zeiten – wird die Parapsychologie ähnlich positiv bewertet. Der Autor Kurt Klein benennt zunächst verschiedene Formen des Aberglaubens, deren Wirkungen teilweise als „volksschädlich“ zu bezeichnen seien: „Es gibt ferner eine Anzahl von Erscheinungen des Aberglaubens, die sogenannten ‚okkulten‘ Charakters sind. Gerade in den sturmbewegten Zeiten der Kriege und Nachkriegsjahre blühen diese Phänomene in einer Art und Weise, die man als volksschädlich bezeichnen muß.“ (Klein 1950a: 3) Es sei ein weit verbreiteter Irrtum, dass Phänomene wie Wahrsagen einer „jenseitigen Geistervermittlungen“ entspringen. Vielmehr sei hierbei eine „Unzahl unbewusster und unbekannter seelischer Kräfte […] im Spiel, die seit etwa 150 Jahren Untersuchungsobjekt kritischer Forscher sind“ (ebd.). Somit werden spiritistische Deutungen paranormaler Phänomene dem Bereich des Aberglaubens zugerechnet,

96 wohingegen die Parapsychologie als ernstzunehmende Wissenschaft um ein rationales psychologisches Verständnis der entsprechenden Phänomene bemüht sei: „Heute eint die Parapsychologie, so heißt die Wissenschaft von den noch unbekannten Kräften der menschlichen Seele, alle Bestrebungen, die zur ernsten Erforschung okkulter Phänomene beitragen. Wissenschaftler wie August Messer, Hans Driesch, Joh. Verweyen, Max Dessoir, Emil Mattiesen und Hans Bender waren wegweisend durch ihre Arbeiten auf dem Gebiete dieser unbekannten Kräfte.“ (S. 3f.)

Besonders hervorzuheben ist, dass hier Wissenschaftler, die auf dem Gebiet der Parapsychologie tätig waren (oder es, wie Hans Bender, zu diesem Zeitpunkt sind), als Pioniere einer ernstzunehmenden wissenschaftlichen Disziplin beschrieben werden. Mehr noch: Die Existenz verschiedener parapsychologischer Phänomene wird eindeutig bejaht: „Die Kräfte und Wahrsagungen sind an Personen gebunden, die oftmals wirkliche Medien mit unterbewußten Fähigkeiten sind. […] Die echt medial veranlagten Menschen besitzen u. a. die Fähigkeit des Gedankenlesens oder des Erahnens zukünftiger Dinge, die aus diesen oder jenen Zusammenhängen resultieren.“ (S. 4)

Am Ende des Artikels wird die Parapsychologie, ähnlich wie bereits in dem ersten Artikel, deutlich von „schädlichem Aberglauben“ abgegrenzt: „Der Aberglaube in seiner entarteten Form der Gegenwart hat nichts zu tun mit der ernsten Arbeit, welche die Parapsychologen – von vielen unverstanden und belächelt – leisten im Dienste an der Wahrheit.“ (Ebd.) In einem weiteren Artikel aus dem Jahr 1950 aus der Neuen Zeit kommt Kurt Klein erneut zu Wort. Er widmet sich dem Thema Telepathie, deren Existenz er für eindeutig erwiesen hält und beschreibt in diesem Zusammenhang ein Sender-Empfänger-Modell als Grundlage dieses Phänomens: „Unser menschliches Denken besitzt eine gewisse Sender-Energie, die von anderen Menschen empfangen werden kann. Hierfür können wir das Wort Gedankenübertragung anwenden. Diese Kräfte sind offenbar immaterieller, d.h. geistiger Art.“ (Klein 1950b: 2) Als mögliche Erklärung für Telepathie und andere paranormale Phänomene nennt Klein unter Bezug auf den US-amerikanischen Parapsychologen Joseph Banks Rhine26 die sog. Psi-Funktion27: „Ein amerikanischer Parapsychologe, Professor Rhine von der Duke-Universität glaubt, durch seine Experimente eine seelische Eigenschaft

26 Joseph Banks Rhine (1895-1980) war ein US-amerikanischer Parapsychologe, der 1935 an der Duke University in Durham das weltweit erste parapsychologische Forschungsinstitut gründete. Rhine gilt darüber hinaus als Begründer der statistischen Parapsychologie.

27 Der Begriff ‚Psi‘ (vom griechischen Wort Psyche abgeleitet, das für ‚Hauch‘, Gedanke, Seele steht) wurde Anfang der 1940er Jahre von dem österreichischen Biologen Bertold P. Wiesner geprägt und gilt seither als Synonym für außersinnliche Wahrnehmungen (z.B. Telepathie, Hellsehen und Präkognition) und paranormale Fähigkeiten wie Psycho- bzw. Telekinese.

97 gefunden zu haben, die Telepathie, Hellsehen und auch Wahrsagen hervorbringen kann. Er nennt sie Psi-Funktion.“ Damit führt Klein vermutlich als erster den Begriff ‚Psi‘ in den öffentlichen Diskurs der DDR über das Paranormale ein. Insgesamt zeigt sich also, dass die Parapsychologie in dieser Phase im öffentlichen Diskurs, vor allem durch den Autor Kurt Klein, durchaus eine positive Bewertung erfährt. Wie steht es jedoch mit anderen Themen aus dem Bereich des Paranormalen? Hier zeigt sich ein deutlicher Unterschied: Themen wie Astrologie, Okkultismus, UFOs etc. werden eindeutig negativ bewertet. Interessant ist dabei, dass bereits kurz nach Gründung der DDR derartige Themen vor allem als Problem kapitalistischer Länder betrachtet werden. In einem Artikel mit dem Titel Positives Kulturbewusstsein aus der Neuen Zeit aus dem Jahr 1950 heißt es bspw.: „Es gibt in der DDR […] keine pornographische Literatur, keine Damenringkämpfe und Dauertänze, keinen Mißbrauch auf den Gebieten der Hypnose und Suggestion, der Astrologie, Handlesekunst und des Hellsehens. Es gibt keine Massenhysterie um zweifelhafte Propheten wie Gröning28, keinen Massenwahn über ‚Fliegende Untertassen‘ und ähnliche Hirngespinste.“ (Desczyk 1950: 2) Ein anderer Artikel aus der Berliner Zeitung aus dem Jahr 1951 mit dem Titel Die Höllengeister erzählen findet noch deutlichere Worte. In Westdeutschland würden fast täglich Anleitungen gegeben, „wie man sich mit dem Geist seiner verstorbenen Urgroßmutter mühelos unterhalten könne, aus allen möglichen und unmöglichen Dingen wird die Zukunft vorausgesagt. Wie eine Seuche hat neben der ‚Astrologie‘ der ‚Okkultismus‘ die Menschen drüben ergriffen, wobei unter ‚Okkultismus‘ die ganze Reihe sinnloser und vernunftwidriger Dinge zu verstehen ist, angefangen bei der Unterhaltung mit Verstorbenen bis zum Gedankenlesen, Hellsehen, Weissagen, Gespenstererscheinen. Selbst in ihrem populärwissenschaftlichen Teil gehen westdeutsche Zeitungen und Zeitschriften jetzt häufig unter wissenschaftlichem Mäntelchen und Zitierung von ‚Professoren‘ auf solche Fragen ein“ (Berliner Zeitung 1951: 3)

Der Okkultismus sei, wie auch die Astrologie, eine „typische Erscheinung der westlichen ‚Kultur‘“ (ebd.) und habe mit Wissenschaft nichts zu tun. Die Hochkonjunktur des Okkultismus im Westen sei auf den Spürsinn von Betrügern und Schwindlern zurückzuführen. Darüber hinaus sei den „kapitalistischen Mächten des Westens“ der Erfolg des Okkultismus gerade recht, denn er sei ein „willkommenes Mittel, um das Volk von den eigentlichen Problemen abzulenken, es zu verdummen und schicksalsergeben zu machen“

28 Bruno Gröning (1906-1959) erlangte durch öffentliche Auftritte und Vorträge als ‚Wunderheiler‘ in der BRD einige Popularität. Seine ‚Heilmethoden‘ galten (vor allem aus schulmedizinischer Sicht) als äußerst zweifelhaft, dennoch scharte er eine große Zahl Anhänger um sich, die von seinen Fähigkeiten überzeugt waren und nach seinem Tod sektenartige Gruppierungen bildeten (vgl. Vogel 2005). 98

(ebd.). Ferner sind, so der Autor weiter, Okkultismus und Astrologie die „letzten Rettungsmittel eines mystifizierenden Idealismus im Kampf gegen den dialektischen Materialismus, indem man glaubt, den breiten Massen zurufen zu können: ‚Da seht ihr es! Es gibt also doch übernatürliche Dinge, die wir nie werden erklären können!‘“ (Ebd.) Im gleichen Artikel wird allerdings betont – und damit erneut die Differenzierung zwischen Aberglauben und ernstzunehmender Parapsychologie der vorherigen Artikel aufgegriffen –, dass beim Phänomen des Gedankenlesens „absolut wissenschaftliche Versuche“ gezeigt hätten, dass es jenseits von Zaubertricks „in ganz seltenen Fällen bei einzelnen Menschen doch etwas wie eine bestimmte Fähigkeit auf diesem Gebiet gibt“ (ebd.). Am Ende des Artikels wird ausgeführt, dass „okkulte Erscheinungen“, sofern sie nicht auf Schwindel oder Betrug zurückzuführen sind, keinesfalls „mystische Erscheinungen“ sind, die „außerhalb jeder Erkennbarkeit stehen, sondern Dinge, die unsere zukünftige Wissenschaft auf materialistischer Grundlage bestimmt entschleiern wird“ (ebd.). Es wird hier also bemerkenswerterweise von einer grundsätzlichen Vereinbarkeit von parapsychologischer Forschung und einer materialistisch orientierten Wissenschaft ausgegangen. Bei der nächsten relevanten Quelle handelt es sich um eine Art Lehrplan für den Vorbereitungsunterricht für die Jugendweihe. Dieser Quelle kommt sicher eine besondere Bedeutung zu, da es sich um ein Dokument mit Lerninhalten aus der staatlichen Struktur der primären Sozialisation bzw. Erziehung von Jugendlichen innerhalb der DDR handelt. Der Lehrplan stammt aus dem Jahr 1956, ist für die fünfte Jugendstunde im Rahmen des Unterrichtes für die Jugendweihe vorgesehen und trägt den Titel Geisterglaube, Aberglaube, Wissenschaft – Wie der Mensch lernte, die Natur zu beherrschen und den Aberglauben zu überwinden. Als Ziel der Unterrichtsstunde ist die Vermittlung einer technik- und wissenschaftsoptimistischen Grundhaltung angegeben. Die Teilnehmer der Jugendstunde sollen die Erkenntnis gewinnen, dass der Mensch sich „dadurch die Natur dienstbar macht und zum Herrn seines Schicksals wird, daß er mit Hilfe seines Denkens, seiner forschenden und schöpferischen Geisteskraft, mit Hilfe seiner Vernunft in die Natur und die Gesellschaft eindringt, ihre Gesetzmäßigkeiten erkennt und sich ihrer bewußt bedient“ (Für die Jugendstunde 1956: 3). Weiter ist zu lesen, dass die Menschen, „als ihr Denken noch wenig entwickelt“ war und sie noch nicht über „brauchbare Werkzeuge und Instrumente für die Zwecke der Forschung verfügten“, sich mit „einfachen, unwissenschaftlichen und später als falsch nachgewiesenen Erklärungen“ (S. 4) begnügten. Viele Erscheinungen seien auf übernatürliche, übersinnliche Gewalten zurückgeführt worden, weshalb „die Menschen früherer Zeiten die Natur mit Geistern, Gespenstern und ähnlichen unerkennbaren Wesen“

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(ebd.) bevölkerten. Auch heute sei der Aberglaube noch nicht ausgestorben und zeige sich vor allem in Form von Glauben an „Zauberei, Hexerei, wundersame Krankenheilungen, Wahrsagerei und ähnliche Quacksalberei“ (S. 5). Ferner wird auch in diesem Text dem Aberglauben eine Ablenkungs- bzw. Disziplinierungsfunktion in kapitalistischen Klassengesellschaften zugesprochen, wenn es heißt: „Die in der Klassengesellschaft herrschenden Schichten haben ein Interesse daran, den einfachen, den arbeitenden Menschen in seinem Aberglauben zu belassen, um ihn desto leichter lenken und ausbeuten zu können. Dadurch wird aber jeder Fortschritt in der Gesellschaft verhindert.“ (Ebd.) Stellenweise weisen die Vorgaben für die Jugendstunde auch eine explizit szientistische Argumentationsweise auf: „Die Wissenschaft entstand aus der Summe vielfältiger Erfahrungen. Sie ist die Grundlage jeder Weiterentwicklung, ist uns bester Helfer. Es gibt keinen Bereich im menschlichen Leben, der nicht von ihr abhängt.“ (S. 6) Jeder Mensch müsse wissen, heißt es weiter, „daß unser Leben durch die Gesetze bestimmt wird, die in Natur und Gesellschaft vorhanden sind“ (ebd.). Der Aberglaube jedoch leugne diese Gesetze und versuche verschiedene Erscheinungen mithilfe von Übernatürlichem zu erklären. Kurzum: „Er ist gefährlich.“ (Ebd.) Sachbuch der DDR, das sich mit den hier interessierenden Themen beschäftigt, erschien ebenfalls im Jahr 1956. Es handelt sich um den im Urania-Verlag erschienenen Band Magie, Sternenglaube, Spiritismus – Streifzüge durch den Aberglauben von Gerhard Zwerenz.29 Zu Beginn des Buches betont Zwerenz, dass er sich nicht aus einer christlichen Perspektive mit verschiedenen Formen des Aberglaubens beschäftigen möchte, sondern vielmehr zu einer „materialistischen Geschichte des Aberglaubens“ (S. 10) beitragen möchte. Die Grundlage, auf der er Aberglauben behandelt, besteht im materialistischen Wissenschaftsverständnis des Marxismus-Leninismus. Zwerenz schreibt: „Friedrich Engels, der Freund von Karl Marx und Mitbegründer des wissenschaftlichen Sozialismus, sage dazu: ‚Allerdings heißt die materialistische Naturauffassung weiter nichts als einfache Auffassung der Natur so, wie sie sich gibt, ohne fremde Zutat‘. Wenn aber die Natur so genommen wird, wie sie sich gibt, wenn nichts in sie hineinphantasiert wird, wenn alle Dinge wirklich vorurteilslos untersucht werden und nur das gilt, was tatsächlich feststellbar ist, dann hat so manches, über das wir im weiteren noch sprechen wollen, seinen Platz höchstens noch in Geister- und Spukgeschichten, in Märchen und phantastischen Erzählungen.“ (S. 17)

29 Gerhard Zwerenz (1925-2015) geriet 1944 in sowjetische Kriegsgefangenschaft, kehrte 1948 aus der Gefangenschaft zurück und wurde 1949 Mitglied der SED. Ab 1956 arbeitete er als freiberuflicher Schriftsteller. 1957 wurde er aus der SED ausgeschlossen und floh nach Westdeutschland. Hier arbeitete er weiter als Schriftsteller und veröffentlichte zahlreiche Werke (Belletristik und Sachbücher). Von 1994 bis 1998 war er über die offene Liste der PDS Mitglied des deutschen Bundestags. 100

Der Autor legt also von Anfang an fest, dass er sich der wissenschaftlichen Weltanschauung des Marxismus-Leninismus verpflichtet fühlt und vor diesem Hintergrund nur Erscheinungen gelten lässt, die „tatsächlich feststellbar“ sind. Dies bringt ihn zu seiner Definition von Aberglauben: „Der Aberglaube einer jeweiligen Zeit besteht in Anschauungen (Handlungen), die von der Wissenschaft dieser Zeit widerlegt oder widerlegbar sind, trotzdem aber weiterbestehen (getätigt werden) und ihrem Wesen nach ein übernatürlich-phantastisches Moment haben.“ (S. 28) Als Ursache für das teilweise lange Bestehen abergläubischer Vorstellungen nennt der Autor gemäß der marxistisch-leninistischen Geschichtsphilosophie die Interessen der herrschenden Klassen. Die Geschichte lehre, dass „es zu verschiedenen Zeiten auch Kräfte gibt, die an der Existenz des Aberglaubens ein Interesse haben und deshalb ihn bestärken helfen. […] Wenn wir vom Aberglauben als Überbleibsel sprachen und dieses jetzt noch unter dem klassenmäßig-sozialen Gesichtspunkt analysieren, so werden wir feststellen, daß viele derartige Überbleibsel nur deshalb Überbleibsel geworden sind, weil bestimmte Kräfte und Mächte für ihre Beibehaltung eintraten.“ (ebd.) Die Klassengesellschaft sei gleichermaßen Ursache wie Stabilisator abergläubischer Vorstellungen, in ihr entstünden „die vielen Amateurastrologen, die Laienwissenschaftler des Okkulten, die Graphologen aus Leidenschaft, die Mythenproduzenten aus Neugier.“ (S. 30) Sie alle seien Opfer der „unter kapitalistischen Verhältnissen katastrophalen Bildungsmöglichkeiten“, an ihnen zeige sich, „mit welch enormem Verschleiß an Intelligenz der Kapitalismus arbeitet“ (ebd.). Der Aberglaube habe mit der Religion gemein, so Zwerenz weiter, dass er im Marx’schen Sinne eine Trostideologie sei, ein „Seufzer der bedrängten Kreatur“ und „Opium des Volkes“. Diese Funktion des Aberglaubens und auch seine Ursachen seien in der DDR überwunden: „Unsere Republik ist von einem derart vielgestaltigen und dichten Netz von Bildungsmöglichkeiten überzogen, daß es eigentlich schwer sein müßte, sich diesen Bildungsmöglichkeiten zu entziehen. Niemand kann mehr das Argument für sich in Anspruch nehmen, was in früheren Zeiten mit Recht von abergläubischen Menschen vorgebracht wurde: Wir haben es nicht gewußt! Heute hat jeder die Möglichkeit, sich weiterzubilden. Und heute bedarf es auch keiner Trostideologie mehr, denn die Aufgabe, die die Zeit gestellt hat, ist nicht die Erringung einer ewigen himmlischen, sondern einer irdischen Gerechtigkeit.“ (S. 34) Dennoch seien auch in der DDR gewisse Reste abergläubischer Vorstellungen zu finden, die sich hemmend auf die weitere Entwicklung des Sozialismus auswirken könnten. Der Autor schreibt: „Unter dem Aspekt des sozialistischen Aufbaus sind die astrologischen Aspekte nicht nur ein lächerlicher Anachronismus, sondern auch ein ernster Hemmschuh der

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Entwicklung.“ (S. 35) Als weitere Formen „heutigen Aberglaubens“ nennt der Autor neben der Astrologie „Besprechen, Gesundbeten, Gebrauch des siderischen Pendels und Handlesen“ (S. 109). Es folgen ausführliche Erläuterungen der Geschichte des Spiritismus, denen Zwerenz den Text Die Naturforschung in der Geisterwelt von Friedrich Engels30 anhängt. Dieser Text kann als eine Art Basisreferenz für die Beurteilung von Spiritismus und Okkultismus aus marxistischer Perspektive gesehen werden, da in unzähligen Texten über entsprechende Themen aus dem öffentlichen Diskurs der DDR Bezug auf ihn genommen wird.31 Zwerenz kommentiert Engels Text wie folgt: „Seine strikte Verurteilung des Geistersehens ist in ihrer Argumentation auch heute noch mustergültig, obwohl Engels zur damaligen Zeit nur wenige wissenschaftliche Hilfsmittel und Orientierungsmöglichkeiten zur Verfügung standen.“ (S. 148) Im Kern geht es in dem Engels-Text darum, zu demonstrieren, dass ein reiner Empirismus ohne die Ergänzung durch den theoretischen Überbau des dialektischen Materialismus zwangsläufig zum Aberglauben und Mystizismus führt. Engels schreibt: „Wir werden uns demnach schwerlich irren, wenn wir die äußersten Grade von Phantasterei, Leichtgläubigkeit und Aberglaube suchen, nicht etwa bei derjenigen naturwissenschaftlichen Richtung, die, wie die deutsche Naturphilosophie, die objektive Welt in den Rahmen ihres subjektiven Denkens einzuzwängen suche, sondern vielmehr bei der entgegengesetzten Richtung, die auf die bloße Erfahrung pochend, das Denken mit souverainer Verachtung behandelt und es wirklich in der Gedankenlosigkeit auch am weitesten gebracht hat. Diese Schule herrscht in England.“ (Engels 1898: 335) Nach einer kritisch-sarkastischen Darstellung diverser Phänomene im Zusammenhang mit dem sog. animalischen Magnetismus (Mesmerismus) und dem Spiritismus, die seinerzeit den Naturforscher Alfred Russel Wallace (1823-1913) und den Physiker und Chemiker William Crookes (1832-1919) beschäftigten, folgert Engels: „Genug. Es zeigt sich hier handgreiflich, welches der sicherste Weg von der Naturwissenschaft zum Mysticismus ist. Nicht die überwuchernde Theorie der Naturphilosophie, sondern die allerplattste, alle Theorie verachtende, gegen alles Denken mißtrauische Empirie. Es ist nicht die apriorische Nothwendikeit, die die Existenz der Geister beweist, sondern die erfahrungsmäßige

30 Der Text wurde ursprünglich wahrscheinlich im Jahr 1878 von Engels verfasst. Die folgenden Zitate stammen aus einer Version des Textes aus dem Jahr 1898.

31 Ein weiterer, für die Auseinandersetzung mit dem Spiritismus ideengeschichtlich mindestens ebenso bedeutsamer Text, ist der Essay Träume eines Geistersehers von Immanuel Kant, der 1766 zum ersten Mal erschien und 1954 in der DDR im Aufbau-Verlag neu aufgelegt wurde. In einem Vorwort von Friedrich Bassenge wird die Schrift als „Markstein in der Geschichte der deutschen Aufklärung des 18. Jahrhunderts“ bezeichnet, der einen „reinigenden und erfrischenden Stoß – aller Dunkelmännerei mitten ins Herz“ (S. 5) durchführe. Im Gegensatz zu Engels Naturforschung in der Geisterwelt finden sich im öffentlichen Diskurs der DDR über paranormale Themen aber keine Bezugnahmen auf Kants Träume eines Geistersehers. 102

Beobachtung der Herrn Wallace, Crookes und Co“ (S. 342f.). Und an anderer Stelle: „Falsches Denken, zur vollen Konsequenz durchgeführt, kommt aber nach einem altbekannten dialektischen Gesetz regelmäßig an beim Gegenteil seines Ausgangspunktes. Und so straft sich die empirische Verachtung der Dialektik dadurch, daß sie einzelne der nüchternen Empiriker in den ödesten aller Aberglauben, in den modernen Spiritismus führt“ (S. 343). Anschließend widmet sich Zwerenz der Astrologie, die für ihn eine der bedeutsamsten Formen des Aberglaubens darstellt. Angesichts moderner astronomischer Erkenntnisse hätte die Astrologie platzen müssen wie eine „eitle Seifenblase“ (S. 177), so der Autor, dennoch sei sie auch heute noch weit verbreitet. Eine Ursache dafür sieht Zwerenz in den traumatischen Erfahrungen der beiden Weltkriege: „Da haben wir zuerst jene Ursachen, die nicht nur zum Wiederaufleben und zur Stärkung der Astrologie, sondern des gesamten Aberglaubens führten. Auch dem oberflächlichen Beobachter muß auffallen, welche enorme Entwicklung und Verbreitung der Aberglaube im Gefolge der beiden Weltkriege hat.“ (Ebd.) Diese Ursache wirke zwar in beiden Teilen Deutschlands, es sei jedoch hervorzuheben, dass in der DDR „der Ausbreitung des Aberglaubens Grenzen gesetzt sind. Anders in Westdeutschland, wo die Literatur des Aberglaubens wie eine wüste Schlammflut das Land überzieht“ (ebd.). Krisenhafte Erscheinungen im kapitalistischen System würden dem Glauben an Astrologie und anderer abergläubischen Vorstellungen zusätzlichen Auftrieb verleihen: „Wenn alles zum Teufel geht, wenn täglich von der Vorbereitung des dritten Weltkrieges gesprochen wird, wenn die eigene Existenz ungesichert bleibt und Krisen drohen, dann ist es kein Wunder, daß Verzweiflung und Hilflosigkeit um sich greifen, daß auch Menschen, die es eigentlich besser wissen könnten und müßten, den astrologischen Fallenstellern auf den Leim kriechen. Welche Auswirkungen dies dann bei breiteren Volksschichten haben muß, ist leicht zu übersehen und wird uns heute in Westdeutschland am deutlichsten demonstriert.“ (S. 178) Zudem stünde das im Kapitalismus angelegte Profitstreben einer konsequenten Aufklärung gegen den Aberglauben im Wege. Zwerenz schildert eine Episode mit einem westdeutschen Chefredakteur, der in seiner Zeitung Horoskope drucken lässt und kommentiert: „So nüchtern jener zitierte Chefredakteur die Lage auch beurteilen mag, so unbefangen er dem astrologischen ‚Waschzettel‘ auch gegenüberstehen mag, er läßt ihn dennoch drucken! Weil es verlangt wird von den Lesern? Diese Ausrede ist eine echt kapitalistische. Um zu profitieren, wird das Zeug gedruckt, und wenn dann breite unwissende Schichten des Volkes nach ihrem Wochenhoroskop verlangen wie ein Süchtiger nach seinem Rauschgift, so entschuldigt man sich damit, daß eben ein Bedürfnis dafür vorhanden sei.“ (S. 180. Hervorhebung wie im Original)

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Am Schluss seines Buches betont Zwerenz, dass mangelnde Neugier, Interessenlosigkeit und Stumpfsinn als „Nachwirkungen der kapitalistischen Verhältnisse“ auch noch in die sozialistische Gesellschaftsordnung der DDR hinein wirkten und zu einer Weiterexistenz des Aberglaubens führten. Daher sei auch in der DDR die Überwindung der Reste abergläubischer Vorstellungen ein pädagogisches und psychologisches Problem: „Pädagogisch insofern, als wissenschaftliche Bildung ihn [den Aberglauben] überwindbar macht, psychologisch insofern, als neue Mittel und Wege gefunden werden müssen, die Bildung in verstärktem Maße in die Massen hineinzubringen.“ (S. 229) Bemerkenswert ist an Zwerenz‘ Buch zum einen, dass er bereits in dieser frühen Phase der DDR den Aberglauben, so wie er ihn versteht, mit gesellschaftspolitischen Bedingungen in Verbindung bringt und folglich vor allem als Problem kapitalistischer Länder beschreibt. Darüber hinaus wird an vielen Stellen gleichsam eine szientistische Mission deutlich, die mit der Vorstellung einer aufgeklärten (sozialistischen) Gesellschaft einhergeht, die befreit von Aberglauben ist und sich an der wissenschaftlichen Weltanschauung orientiert. Dieser Programmatik hat sich, wie dargelegt, die Urania verschrieben, in deren Verlag Zwerenz‘ Band erschienen ist. Schließlich fällt auf, dass die NS-Zeit in dem Buch völlig ausgeklammert wird. So oft Zwerenz über die gesellschaftlichen Bedingungen im Kapitalismus und deren Verhältnis zum Aberglauben und über historische Wurzeln abergläubischer Vorstellungen schreibt, so sehr schweigt er sich über das Verhältnis des Nationalsozialismus zu Okkultem aus. Der nächste themenspezifische Band, Wünschelrute, Erdstrahlen und Wissenschaft, herausgegeben von Otto Prokop (1921-2009), stammt aus dem Jahr 1957 und erschien ebenfalls im Urania-Verlag. Im selben Jahr hatte Prokop vom gerichtsmedizinischen Institut in Bonn nach Ostberlin gewechselt, wo er von nun an als Direktor des Instituts für Gerichtliche Medizin der Humboldt-Universität zu Berlin wirkte. In den folgenden Jahren galt Prokop als einer der wichtigsten und einflussreichsten Wissenschaftler der DDR. Gleichzeitig war Prokop einer der vehementesten Gegner der Parapsychologie. Das Buch entstand in Zusammenarbeit mit mehreren westdeutschen Wissenschaftlern und setzt sich kritisch und detailliert mit Wünschelruten auseinander. Ein Vorwort zu dem Buch vom Urania-Verlag gibt Auskunft über den Zweck der Schrift: „Wenn auch in der Deutschen Demokratischen Republik das Unwesen der ‚Radiästheten‘ und ‚Rutengänger‘ nicht blühen und gedeihen kann, darf doch keineswegs angenommen werden, daß das Übel samt der Wurzel beseitigt sei. Es besteht im Gegenteil auch heute die Gefahr, daß Menschen, die noch immer an die Nützlichkeit von ‚Wünschelruten‘ oder ‚Erdstrahlungsapparaten‘ glauben, Opfer von Irrtum, grobem Unfug oder skrupelloser 104

Geschäftemacherei werden. Deshalb bedarf es noch beharrlicher und eingehender Aufklärung in breiten Kreisen, um restlose Klarheit über diese Frage zu schaffen.“ (Prokop 1957: 8) In den folgenden Kapiteln wird deutlich, dass die Verfasser des Bandes der Wünschelrute keinerlei physikalisch oder naturwissenschaftlich begründbare Wirkungs- bzw. Funktionsweise zurechnen, weshalb der Glaube an die Wirksamkeit der Wünschelrute eindeutig dem Aberglauben zuzurechnen sei. Die Ausschläge der Rute seien letztlich auf Autosuggestion und unbewusste Muskelkontraktionen zurückzuführen, die in keinerlei Zusammenhang zu Wasser- oder Edelmetalladern, Krankheiten oder ‚Erdstrahlen‘ stünden. Es wird eine Vielzahl von Studien zitiert, die laut den Verfassern die Wirkungslosigkeit der Wünschelrute demonstrieren. Der Naturwissenschaftler dürfe nicht hoffen, „an irgendeiner Stelle der Rutenkunst eine Verbindung zu seinen wissenschaftlichen Kenntnissen zu finden. Wie ein vom Boden der Wirklichkeit gelöstes Beziehungssystem schwebt das Ganze frei im Raum, und wo es mit der Wirklichkeit in Berührung kommt, platzt die farbige Pracht gleich einer Seifenblase.“ (S. 27) Psychologisch betrachtet zeichneten sich sowohl Rutengänger als auch Rutengläubige durch einen „Hang zur Mystik“ (S. 83) aus, den sie mit Vertretern der Parapsychologie gemein hätten. Der Parapsychologie widmet der Band ein ganzes Kapitel, da eine Aufklärung der Rutenphänomene ohne eine Auseinandersetzung mit der Parapsychologie nicht möglich sei. Angesichts der naturwissenschaftlichen Widerlegungen der Strahlungshypothesen der Rutengänger komme die „Parapsychologie geradezu als erlösender Rettungsanker; denn hier ist ein wahrer Tummelplatz für Halbgebildete“ (S. 89). Die positiven Ergebnisse parapsychologischer Experimente (z.B. bei Rhine und Bender) seien in eigenen Experimenten der Verfasser nicht bestätigt worden und beruhten daher vermutlich auf einer (bewussten oder unbewussten) Fehlinterpretation oder Verzerrung entsprechender Daten. Besonders positiv werden in diesem Zusammenhang die Bemühungen von Wilhelm Gubisch erwähnt, positive Ergebnisse parapsychologischer Experimente auf Täuschung und Manipulation (sei es durch die Versuchspersonen oder durch die Versuchsleiter) zurückzuführen. Es sei offensichtlich, dass für Wünschelrutenanhänger alle „parapsychologischen Erklärungsversuche besonders begehrlich erscheinen, sobald die Methoden der exakten Wissenschaft nicht zu einer Erklärung verhelfen können“ (S. 88). So würde versucht, die Pseudowissenschaft der Wünschelrute mit einer weiteren Pseudowissenschaft, der Parapsychologie, zu untermauern. Spätestens mit diesem Buch hatte sich Otto Prokop als unerbittlicher Gegner von Okkultismus und Parapsychologie etabliert – sowohl in der DDR als auch in der BRD. Bemerkenswert erscheint der Umstand, dass sich zeitlich mit dem Erscheinen dieses Buches und mit dem 105 physischen Erscheinen Otto Prokops in der DDR die Bewertung der Parapsychologie im öffentlichen Diskurs wandelte. Von nun an wurde die Parapsychologie und mit ihr deren prominentester westdeutscher Vertreter, der Arzt und Psychologe Hans Bender (1907-1991), in ähnlicher Weise kritisiert wie zuvor Okkultismus, Astrologie etc. Bender hatte 1950 in Freiburg im Breisgau das Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene (IGPP) gegründet und führte dort parapsychologische Untersuchungen durch. In einem Artikel aus der Berliner Zeitung aus dem Jahr 1959 wird dies in spöttischer Weise kommentiert. Zunächst listet der Autor persiflierend verschiedene Phänomene auf, mit denen sich die Parapsychologie beschäftigt (Telepathie, Hellsehen, Prophetie). Hellsehen wird bspw. wie folgt beschrieben: „Das Hellsehen: ‚die außersinnliche Wahrnehmung von objektiven Sachverhalten‘ (Beispiel: Folgt man den bekannten Sinnen, ist die DDR existent. Außersinnlich kann man aber wahrnehmen, daß sie nicht existiert.“ (Jade 1959: 3) Hinterher heißt es: „Nun wird mancher sagen: Das ist Blödsinn! Wo gibt es denn Parapsychologen? Wer glaubt heute schon an Telepathie, Hellsehen und Prophetie? Nun, die Parapsychologie wird in der Westzone hauptsächlich von dem Professor Bender betrieben, der in Freiburg ein planmäßiges ‚Extraordinariat für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene‘ innehat.“ (Ebd.)

Im selben Jahr erschien der Band Aberglaube und Medizin von Günther Wippermann im Verlag Volk und Gesundheit. Das Buch möchte gegen abergläubische Vorstellungen im Zusammenhang mit Krankheiten und Heilung aufklären, die nach Wippermann trotz der Erfolge der modernen Medizin immer noch weit verbreitet sind. So schreibt er: „Wie oft wird auch heute noch die Handlungsweise unserer Mitmenschen von Vorstellungen bestimmt, die doch längst durch bessere – naturwissenschaftliche – Einsichten widerlegt sein sollten. Immer noch klafft bedauerlicherweise eine Lücke zwischen den naturwissenschaftlichen Erklärungen unserer Tage und der persönlichen Denk- und Verhaltensweise des einzelnen.“ (Wippermann 1959: 8f.)

Trotz des großzügigen Ausbaus des Gesundheitswesens in der DDR gingen immer noch viele Bürger aufgrund abergläubischer Vorstellungen zu „Dorfzauberern, Wundermännern und anderen dunklen Elementen“ (S. 12), bedauert Wippermann. Dies sei eine ernsthafte Gefahr für die Bevölkerung und koste den Staat jährlich hohe Opfer an Menschen, Arbeitskraft und Vermögen. Daher müssten dem Kurpfuschertum die objektiven und nachprüfbaren Erfolge der DDR-Kliniken gegenüber gestellt werden, sodass es am Ende niemandem schwerfallen würde, sich für die wissenschaftliche Medizin zu entscheiden (vgl. S. 11f.). Durch die intensive Vortragstätigkeit der Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse 106

(der Vorgängerorganisation der Urania) sowie durch Ausstellungen, Presse und Filme werde „dem Aberglauben allmählich der Nährboden“ (S. 37) entzogen. Ziel sei dabei eine Gesellschaft frei von Aberglauben: „So werden wir erreichen, dass eines Tages der Aberglaube nebst seiner naturwissenschaftlich getarnten Spielart [gemeint ist der Okkultismus] der Vergangenheit angehört, und damit wird eine ernste Bedrohung der Gesundheit unserer Mitmenschen von uns genommen sein.“ (Ebd.) Zur Erreichung dieses Ziels müsse auch der Staat noch aktiver werden. Wippermann begrüßt, dass in der DDR die Kurierfreiheit aufgehoben wurde und nur noch ein wissenschaftlich-medizinisches Studium und die ärztliche Approbation die Ausübung eines Heilberufst erlauben. Damit sei den „ärgsten Auswüchsen des Kurpfuschertums vorgebeugt“ (S. 43). Dennoch sei zu hoffen, dass die „staatlichen Organe (Gesundheitsämter!) in Zukunft mehr als bisher von den gesetzlichen Möglichkeiten zur Bekämpfung des Kurpfuschertums Gebrauch machen, wenn es darum geht, unsere Bevölkerung vor unbelehrbaren Wundermännern zu schützen“ (ebd.). Im Folgenden setzt sich der Autor mit verschiedenen Heil- und Diagnoseverfahren auseinander, die seines Erachtens dem Aberglauben und dem Kurpfuschertum zuzuordnen sind, wie z.B. dem ‚Besprechen‘ von Krankheiten, der Magnetopathie bzw. dem Mesmerismus, der Irisdiagnostik oder der Homöopathie. Zur Homöopathie schreibt Wippermann: „Zusammenfassend kann man sagen, daß die Homöopathie als unwissenschaftlich zu bezeichnen ist. Die Erkenntnisse der experimentellen Medizin haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten hier völlige Klarheit geschaffen. Das hat dazu geführt, daß die Homöopathie von der wissenschaftlichen Medizin verlassen wurde und heute nur noch in der Hand von Laien auf gefährliche und höchst bedenkliche Weise angewendet wird.“ (S. 97) Diesen ‚Methoden des Kurpfuschertums‘ stellt der Autor die Errungenschaften der modernen Medizin gegenüber, durch deren Siegeszug der Aberglaube Zug um Zug seine Position habe räumen müssen. Abschließend fragt Wippermann: „Die moderne Medizin verbürgt das größte Maß an Sicherheit. Wer will sich da dem Kurpfuschertum mit seinen außerordentlichen Gefahren noch aussetzen?“ (S. 105). Es bleibt zu bemerken, dass sowohl in diesem als auch in dem Band Wünschelrute, Erdstrahlen und Wissenschaft von Otto Prokop – im Gegensatz zu dem zuvor besprochenen Buch von Zwerenz – keinerlei politische oder ideologische Rahmungen der behandelten Themen zu finden sind. Ein weiteres relevantes Buch, Schach dem Aberglauben von Maximilian Meischke, stammt aus dem Jahr 1961 und ist ebenfalls im Verlag Volk und Gesundheit erschienen. Analog zu dem Band von Wippermann werden in dem Buch verschiedene ‚abergläubische‘ Heil- und

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Diagnoseverfahren kritisiert. Gleich zu Beginn verdeutlicht der Autor, dass es aus seiner Sicht letztlich keine Alternative zur Schulmedizin geben könne: „Die vielerorts aufgeworfene Streitfrage, ob es im Gegensatz zur üblichen Medizin eine Naturheilkunde, die auf volksmedizinischen Kenntnissen beruht, überhaupt gibt, sollte ernsthaft nicht mehr erörtert werden. Im Grunde gibt es doch nur eine Heilkunde, die sich der Natur bedient und mit Beobachtungen der Natur Schritt hält, und das ist die Medizin auf der Grundlage der Naturwissenschaften.“ (Meischke 1961: 16f. Hervorhebungen wie im Original) Trotz der unbestreitbaren Erfolge der modernen Medizin und Naturwissenschaft gäbe es, so Meischke, aber immer noch viele Menschen, die abergläubischen Vorstellungen anhingen. Dies wiederum werde schamlos von Kurpfuschern und Scharlatanen ausgenutzt, die leichtgläubigen Menschen nicht nur Geld aus der Tasche zögen, sondern sie im schlimmsten Fall auch davon abhielten, zu einem Arzt zu geben, wodurch sie ihre Gesundheit oder sogar ihr Leben gefährdeten. Ziel des Buches sei es daher, „die Leser von der Unwahrhaftigkeit der vielerlei Bereiche abergläubischen Denkens zu überzeugen“ (S. 8). Zum abergläubischen Denken zählt für Meischke dabei auch die Parapsychologie, die seit ihrem Bestehen keine nennenswerten Ergebnisse erzielt habe. Vertreter der Parapsychologie wie Hans Bender und Albert von Schrenck-Notzing32 hätten sich durch Betrügereien und ihre Leichtgläubigkeit täuschen lassen, so bleibe von „den geheimnisvollen Vorgängen von Telepathie, Hellsehen, Parapsychologie, Spiritismus und allen außersinnlichen Wahrnehmungen nicht viel übrig. Seit Jahren wird versprochen, daß nun die Beweise bald folgen würden, aber man wartet nicht seit gestern oder heute; fast 50 Jahre sind seit Schrenck-Notzing vergangen; Benders Beweise – nicht die Behauptungen – lassen auf sich warten […].“ (S. 45) Politisch-ideologische Rahmungen der Thematik finden sich bei Meischke eher am Rande, so zitiert er bspw. Umfragen, die belegen sollen, wie viele Menschen in der BRD an Astrologie glauben (25%, S.119). Im Zusammenhang mit dem angeblich in der BRD immer noch weit verbreiteten Glauben an Hexen taucht auch die Zahl von 10.000 „Hexenmeistern“ auf, die in dem öffentlichen Diskurs der DDR der folgenden Jahre immer wieder genannt wird: „Nach Mitteilungen der INTERPOL (Internationale Kriminalpolizei) und des Medizinischen Informationsdienstes beläuft sich die Zahl der Hexenmeister in Westdeutschland auf rund 10.000, womit wir einen ziemlich traurigen Rekord halten.“ (S. 160) Im Gegensatz zu anderen

32 Albert Freiherr von Schrenck-Notzing (1862-1929) war ein deutscher Mediziner und gilt als einer der Pioniere der Parapsychologie. Er verfasste zahlreiche Werke über verschiedene Phänomene, die der Parapsychologie zugerechnet werden, wie z.B. über Telepathie und Telekinese. Darüber hinaus wurde Schreck-Notzing als Vorkämpfer für die Etablierung der Hypnose als Forschungs- und Therapiemethode international bekannt. Seine Experimente mit verschiedenen ‚Medien‘ seiner Zeit erregten großes öffentliches Aufsehen und wurden von Anfang an kontrovers diskutiert (vgl. Bauer 2007). 108

Autoren sieht Meischke die Verbreitung abergläubischer Vorstellung jedoch nicht als Problem, das hauptsächlich westliche Gesellschaften betrifft. Deutlich wird dies z.B. an einer Stelle, an der er über die Verbreitung von Schriften mit abergläubischem Inhalt schreibt: „Man sollte meinen, daß in der Deutschen Demokratischen Republik, in der der Vertrieb astrologischer, hellseherischer oder sonstiger abergläubischer Schriften verboten ist, kein Feld für Betrüger dieser Art wäre. Man wird jedoch eines Besseren belehrt, da von Zeit zu Zeit Gerichtsverhandlungen gegen Nutznießer des Aberglaubens durchgeführt werden müssen.“ (S. 82) Meischke beendet sein Buch mit einer Art Plädoyer für die Wissenschaft im „Kampf gegen den Aberglauben“: Die Wissenschaftler müssten „den Kampf gegen den Aberglauben aufnehmen, damit Vernunft nicht durch die Unvernunft besiegt wird, damit die Gefahren für Kranke und Gesunde beseitigt werden“ (S. 208). Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass Meischkes Buch offenbar mit intensiver Unterstützung von Otto Prokop entstand, den der Autor im Vorwort dankend erwähnt: „Ohne die Bereitschaft weitgehender Unterstützung durch Überlassung einer umfangreichen Literatur sowie großen Bildmaterials wäre die Fertigstellung dieser Arbeit nicht möglich gewesen. Für diese Bereitwilligkeit bin ich dem Direktor des Instituts für Gerichtliche Medizin der Humboldt-Universität Berlin, Herrn Professor Dr. O. Prokop, zu ganz besonderem Dank verpflichtet.“ (S. 8)

Etwa zur gleichen Zeit wie das Buch von Meiscke entstand der medizinische Lehrfilm Diagnose, der im Auftrag des Ministeriums für Gesundheitswesen der DDR von dem DEFA- Studio für populärwissenschaftliche Filme produziert wurde. Der Film stammt aus dem Archiv des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden. Eine exakte Datierung des Films war leider nicht möglich. Da er sich im Archivbestand im Zusammenhang mit einer vom Hygiene- Museum organisierten Wanderausstellung zum Thema „Aberglaube und Gesundheit“ befand, die in den Jahren 1959 bis 1963 in der DDR zu sehen war (dazu später mehr), kann allerdings mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass auch der Film aus diesem Zeitraum stammt. Otto Prokop fungierte sowohl bei der Wanderausstellung als auch bei der Entstehung des Films als wissenschaftlicher Berater. Der Film dauert ca. 17 Minuten und kann als eine Art medizinischer Aufklärungsfilm angesehen werden. Thema des Films ist die Geschichte einer Frau mittleren Alters (Frau Reinke), die in einer Fabrik arbeitet, unter starken Magenbeschwerden leidet und sich von einem ‚Heiler‘ (Herr Wiedecke) behandeln lässt, der seine Diagnosen anhand der Augendiagnose erstellt. Herr Wiedecke verschreibt Frau Reinke gegen ihre Leiden unter anderem Rohkost, „magnetisiertes Wasser“ und „Entstrahlungskugeln“. Darüber hinaus fragt er mithilfe eines Pendels nach ihrem im Krieg verschollenen Sohn und versichert ihr, dass er noch lebe und bald heimkehren 109 werde. Frau Reinke befolgt alle Anweisungen, doch ihre Beschwerden bessern sich nicht und werden sogar noch schlimmer. Schließlich kollabiert sie und muss in einem Krankenhaus notoperiert werden. Es stellt sich heraus, dass sie an einer Gastritis leidet, die sich zu einem lebensbedrohlichen Magengeschwür entwickelt hat. Daraufhin wird Herr Wiedecke wegen fahrlässiger Körperverletzung in Tateinheit mit Betrug angeklagt und seine Praxis geschlossen. Vor Gericht soll er gegenüber einem medizinischen Sachverständigen unter Beweis stellen, dass er anhand der Augendiagnose Krankheiten richtig erkennen kann. Dazu werden mehrere Personen mit unterschiedlichen Erkrankungen im Gerichtssaal von Herrn Wiedecke untersucht. Sämtliche von ihm gestellten Diagnosen erweisen sich als falsch und er wird als Betrüger und Scharlatan bloßgestellt und im Gerichtssaal ausgelacht. Frau Reinke hingegen erfreut sich wieder bester Gesundheit und kann erneut ihrer Tätigkeit in der Fabrik nachgehen. Der Film warnt in drastischer Weise vor möglichen negativen Auswirkungen paramedizinischer Diagnose- und Heilverfahren, die, wie im fiktiven Fall der Frau Reinke, sogar lebensbedrohlich werden können. Den abergläubischen, nutzlosen und gefährlichen Heilmethoden des Herrn Wiedecke wird die Schulmedizin und die wissenschaftliche Weltanschauung gegenüber gestellt, was in besonderer Weise in einer Aussage des medizinischen Sachverständigen in der Gerichtsverhandlung gegen Herrn Wiedecke zum Ausdruck kommt: „Die Augendiagnose ist keine Wissenschaft. Sie ist Scharlatanerie. Die Naturwissenschaft bekämpft seit Jahrzehnten diesen Aberglauben. […] Wie feindlich diese Irrlehre einer wissenschaftlich fundierten Weltanschauung gegenüber steht, ja wie gefährlich sie für den Einzelnen werden kann, zeigt der Fall Maria Reinke. Sie litt an Gastritis, die sich zu einem akuten Magengeschwür entwickelte, das der Patientin fast das Leben kostete. Der Angeklagte verordnete genau das, was für die Kranke am gefährlichsten war.“ Die Grundaussage zielt also in Richtung einer gesundheitlichen bzw. medizinischen Aufklärung der Bevölkerung und fügt sich somit in die Gesamtstoßrichtung der besprochenen Fachliteratur aus der Zeit zwischen Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre (Prokop 1959, Wippermann 1959, Meischke 1961) im Zusammenhang mit dem Untersuchungsfeld ein, deren Ziel vor allem in der Aufklärung im Hinblick auf diverse abergläubische Vorstellungen ging. Besonders deutlich wird in dem Film hervorgehoben, dass der Aberglaube für die Bevölkerung eine erhebliche Gefahr darstellen kann, die es mit Hilfe der wissenschaftlichen Weltanschauung zu bekämpfen gilt.

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1964-1989: Agitationsphase

1964 erschien der von Otto Prokop herausgegebene Sammelband Medizinischer Okkultismus – Paramedizin im Gustav-Fischer-Verlag in Jena. Das Buch, das mehrere Auflagen erreichte, kann mit Sicherheit als eines der wichtigsten Bücher der DDR im Zusammenhang mit dem Untersuchungsfeld bezeichnet werden.33 Darüber hinaus markiert der Band im Hinblick auf den weiteren Diskursverlauf eine gewisse Zäsur. Bislang lag der Fokus im Sinne eines (medizinischen) Aufklärungsdiskurses vor allem auf verschiedenen tradierten Formen des Aberglaubens, deren Irrationalität und möglichen Gefahren für die Bevölkerung. Auch wenn immer wieder darauf verwiesen wurde, dass der Aberglaube vornehmlich ein Problem westlich-kapitalistischer Gesellschaften darstelle, galt es als wichtige Aufgabe, ‚Reste‘ abergläubischer Vorstellungen in der DDR zu tilgen. Ab Mitte der 1960er Jahre schien in zunehmendem Maße das Verständnis vorzuherrschen, dass diese Aufgabe zu wesentlichen Teilen erfüllt sei. Auffällig ist jedenfalls, dass im weiteren Diskursverlauf immer wieder betont wird, dass in der DDR – ganz im Gegensatz zur BRD und anderen kapitalistischen Staaten – dem Aberglauben inzwischen der Nährboden entzogen sei. Dementsprechend handelt es sich bei den Bezugnahmen zum Untersuchungsfeld im öffentlichen Diskurs von nun an immer häufiger um Themen und Ereignisse, die außerhalb der DDR zu verorten sind – am häufigsten freilich beim direkten ‚Systemkonkurrenten‘ BRD. Im Zuge dieser Perspektivverschiebung wurden Themen im Zusammenhang mit dem Untersuchungsfeld in zunehmendem Maße politisch funktionalisiert und als Argumente für Kritik am westlich- kapitalistischen Gesellschaftsmodell verwendet, es kam also zu einer Verstärkung politisch- ideologischer Agitation im Zusammenhang mit den interessierenden Themenfeldern. Daher kann diese zweite Phase des Diskursverlaufs als Agitationsphase bezeichnet werden. In einem Vorwort des Verlages zu Prokops Sammelband ist zu lesen, dass die zusammengetragenen Beiträge rund um „Fragen des medizinischen Aberglaubens“ den harten Kampf charakterisierten, „der besonders in der BRD zwischen Naturwissenschaft und Parawissenschaft tobt“ (Prokop 1973a: 7). Die Anthologie enthält neunzehn Beiträge von verschiedenen Autoren (die meisten stammen jedoch von Otto Prokop selbst), darunter auch Maximilian Meischke, zu diversen Themen aus dem Bereich des Paranormalen bzw. Okkulten, wie z.B. über Telepathie und Hellsehen, Wünschelrutengehen, Pendeln sowie zu ‚paramedizinischen‘ Heil- und Diagnoseverfahren wie der Irisdiagnose, der Homöopathie oder der Akupunktur.

33 Die folgenden Zitate aus dem Sammelband stammen aus der dritten Auflage (1973), die ebenfalls im Gustav- Fischer-Verlag erschien. 111

In dem ersten Aufsatz des Bandes mit dem Titel Naturwissenschaft und Aberglaube – Die Parawissenschaften, insbesondere die Paramedizin, verfasst von Otto Prokop, wird zunächst auf angeblich in der BRD weit verbreitete abergläubische Vorstellungen verwiesen: Nach einer Umfrage in der BRD aus dem Jahr 1958 glaubten „53% des als repräsentativ bezeichneten Kollektivs an das ‚zweite Gesicht‘ […]. Nach Knaut (1970) wollen 12% aller erwachsenen Bürger der Deutschen Bundesrepublik mit eigenen Augen Gespenster gesehen haben und 32% sind überzeugt, daß man die Zukunft voraussagen kann. In der BRD, in Österreich und der Schweiz sind 500.000 Menschen dem Spiritismus verfallen.“ (Prokop 1973b: 13) Nach Ausführungen über „Hexenprozesse“ in der BRD – also Gerichtsverfahren in Bezug auf Straftaten, die einen wie auch immer gearteten Bezug zu okkulten Themen aufwiesen – kommt Prokop auf die Verbreitung abergläubischer Vorstellungen bei Ärzten der BRD zu sprechen. Ein „sehr großer Teil“ der Ärzte in der BRD gehe „gefährliche Wege“, nur 27,4% beschränkten sich auf die „wissenschaftliche Therapie“, unter dem Rest fänden sich Vertreter und Anhänger der „‚Neuraltheraphie‘, der ‚Segmenttheraphie‘, der Akupunktur, der ‚Erfahrungsheilkunde‘, der ‚Homotoxinlehre‘ oder der naturwissenschaftlich gänzlich unverständlichen Anthroposophie“ (S. 18). Ferner kommt Prokop zu einer Art kulturpessimistischen Gesamteinschätzung der Bedeutung des Aberglaubens: „Das heutige Kulturniveau schein so nur eine relativ dünne Schicht zu sein, unter der die geheimen Wissenschaften und die Magie verflossener Jahrhunderte und Jahrtausende auf die Gelegenheit warten, diese Decke zu durchstoßen, um erneut an die Oberfläche zu kommen. Es sind ja nicht allein die Hexenbanner – hinzu kommen die Astrologen, die Wünschelrutengänger, die Pendler, religiöse Fanatiker, Laienhomöopathen, Hellseher und Chiromanten.“ (S. 14) Einen weiteren Beleg für den sich vor allem in westlichen Gesellschaften ausbreitenden Aberglauben sieht Prokop in der seinerzeit zunehmenden Etablierung der Parapsychologie als akademische Disziplin in verschiedenen westeuropäischen Ländern. Er bezieht sich dabei auf parapsychologische Lehrstühle in den Niederlanden (Wilhelm Heinrich Carl Tenhaeff34), Schweden (John Björkhem35) und in der BRD (Hans Bender), die „unter der Fahne des Sieges, vorangetragen durch Prof. Rhine, und unter dem Eindruck seiner faszinierenden Schriften“ (S. 20) entstanden seien. Da Prokop parapsychologische Phänomene für

34 Wilhelm Heinrich Carl Tenhaeff (1894-1981) war ein niederländischer Parapsychologe, der sich 1933 zum Thema ‚außersinnliche Wahrnehmung‘ promovierte und ab 1953 einen Lehrstuhl für Parapsychologie an der Universität Utrecht leitete. Tenhaeff galt zu Lebzeiten neben Hans Bender als einer der profiliertesten Vertreter der Parapsychologie in Westeuropa.

35 John Björkhem (1910-1963) war ein schwedischer Psychologe und Theologe, der als Pionier der schwedischen Parapsychologie und Hypnoseforschung gilt. 112 unbewiesen hält, sei „für eine ‚parapsychologische‘ Forschung in der Wissenschaft kein Raum“ (S. 21). Lobend erwähnt Prokop hingegen diverse Kritiker der Parapsychologie wie z.B. Wilhelm Gubisch, Carl Pelz und Wolf Wimmer. In diesem Zusammenhang erscheinen einige Kontextinformationen notwendig: Gubisch erlangte, wie in Abschnitt 5.2. dargelegt, mit Publikationen und insbesondere mit Vorträgen als vehementer Kritiker der Parapsychologie eine gewisse Bekanntheit. Der Polizeikommissar Carl Pelz (um 1890-1960) trat ebenfalls mit zahlreichen Vorträgen und Publikationen (z.B. Pelz 1937, 1952, 1959), in denen er sich kritisch mit Parapsychologie und Okkultismus auseinandersetzte, in Erscheinung. Sowohl Gubisch als auch Pelz waren Mitglied der westdeutschen Skeptikerorganisation Gesellschaft Schutz vor Aberglauben (DEGESA). Die 1953 in Berlin gegründete DEGESA hatte es sich zum Ziel gesetzt, „wissenschaftliche Studien und Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Parapsychologie zu betreiben und dabei vor allem unrichtigen und unwahren Behauptungen entgegenzutreten, die geeignet sind, volksschädigend zu wirken“ (zitiert nach Schneider 2015: 25). Aus einem Brief des Gründers der DEGESA, dem Physiker und ‚Anti-Okkultisten‘ Albert Stadthagen, (um 1870-1956) aus dem Jahr 1954 geht die Zielsetzung der DEGESA noch deutlicher hervor: „Leider stehen wir den kaum faßbaren Tatsachen gegenüber, dass im Atomzeitalter allein im Jahre 1953 60 Hexenprozesse vor deutschen Gerichten abgerollt werden mußten, die Gesamtzahl der in deutschen Zeitungen alljährlich erscheinenden Tages- und Wochen-Horoskope nach unseren […] Berechnungen weit über anderthalb Milliarden beträgt, das Gelichter der ‚Sterndeuter‘, der angeblichen ‚Hellseher‘, der ‚Krebs erzeugenden Reizstreifen‘ feststellenden Pendler & Rutengänger, der Fabrikanten von praktisch absolut wertlosen, dafür indessen umso teureren Abschirmgeräten und Abschirmsalben gegen ‚Erdstrahlen‘, der Wahrsager, Kartenlegerinnen […], der von keinerlei medizinischen Sachkenntnissen getrübten ‚Wunder- Ärzte‘ usw. usw. eine noch niemals vorher bestandene Höchstkonjunktur erlebt. Diese Umstände veranlaßten mich, vor einem knappen Jahr die vorgenannte Gesellschaft zu gründen, der heute bereits die erfahrensten und bekanntesten Anti-Okkultisten aller Sparten angehören.“ (S. 25. Hervorhebungen wie im Original) In den 1950er und 1960er Jahren regte die DEGESA in der BRD mehrere Gerichtsprozesse an, um dem Aberglauben Einhalt zu gebieten. Dabei ging es u.a. um das 6. und 7. Buch Mosis36, ein Buch über volkstümlichen Zauber- und Aberglauben. Die DEGESA betrachtete das Buch als eine Ursache für den aus ihrer Sicht um sich greifenden Aberglauben, verklagte die Verleger und wollte ein vollständiges Verbot erreichen – musste aber vor Gericht eine

36 Die Schreibweise des Titels variiert. Meistens wird es 6. und 7. Buch Mosis geschrieben (unter diesem Titel wird es auch verlegt), gelegentlich findet sich aber auch die Schreibweise 6. und 7. Buch Moses.

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Niederlage hinnehmen. Prokop fungierte in diesem Prozess als Sachverständiger und sprach sich, wie die DEGESA, für ein Verbot des Buches aus (vgl. S. 32-35). Prokop war insgesamt eng mit der DEGESA verbunden, allerdings kein direktes Mitglied. Dies hatte, so Schneider, vor allem strategische Gründe: Er sollte in gerichtlichen ‚Okkult-Prozessen‘ für die DEGESA weiterhin als Sachverständiger fungieren können und daher „den Eindruck der Unabhängigkeit erwecken“ (S. 31). In der DDR, in der das 6. und 7. Buch Mosis nicht erhältlich war, sprach Prokop diese gerichtliche Niederlage in öffentlichen Vorträgen mehrfach an und sah sie als weiteren Beleg für den in der BRD um sich greifenden Irrationalismus und Aberglauben, was wiederum die DDR-Presse aufgriff, wie z.B. in einem Artikel aus dem Neuen Deutschland aus dem Jahr 1962. Hier ist zu lesen, dass „in Westdeutschland mit dem Aberglauben ein schmutziges Geschäft betrieben wird. Viele Gerichtsprozesse, die gegen diese gefährlichen Umtriebe angestrengt wurden, verliefen erfolglos. so auch ein Prozeß, der in Braunschweig gegen die geschäftlichen Hintermänner des sogenannten 6. und 7. Buches Moses geführt wurde“ (Neues Deutschland 1962: 10). Dieses Beispiel zeigt zweierlei: Zum einen demonstriert es, dass Prokop eng mit westdeutschen Okkultismus- bzw. Parapsychologie-Kritikern zusammen arbeitete. Dies gilt auch für den 1976 erschienenen Band Der moderne Okkultismus – Parapsychologie und Parapsychologie,37 den Prokop gemeinsam mit dem westdeutschen Juristen und Parapsychologie-Gegner Wolf Wimmer verfasste und der bis heute als eine Art Standardwerk der kritischen Auseinandersetzung mit Okkultismus, Parapsychologie und Alternativmedizin gilt. Zum anderen verdeutlicht das Beispiel, dass Prokop durch seine kritische Perspektive auf diesen Themenbereich im öffentlichen Diskurs der DDR Inhalte für eine Kritik des politischen Systems der BRD lieferte, das aus seiner Sicht zu wenig im Kampf gegen den Aberglauben unternahm. Deutlich politisch argumentiert auch ein Artikel über Aberglauben aus der Berliner Zeitung aus dem Jahr 1966. Darin wird zunächst festgestellt, dass „sich schon viele Bürger der DDR durch den Erwerb eines umfangreichen politischen und Fachwissens von abergläubischen, das heißt metaphysischen übersinnlichen Vorstellungen befreit haben“ (Hecht 1966: 9). Das Bildungssystem des Marxismus-Leninismus habe dabei geholfen, zu lernen, dass „Wissen wertvoller ist als Glauben“, Aberglauben sei letztlich an die Gesellschaftsordnung gebunden und habe im Sozialismus „keinen Platz“ (ebd.). Anschließend wird das Argument bemüht, dass verschiedene Formen des Aberglaubens vornehmlich ein Problem westlicher

37 Auf diesen Band wird im Folgenden nicht näher eingegangen, da er in einem BRD-Verlag (Gustav Firscher) erschien. 114

Gesellschaften seien. Die Verbreitung abergläubischer Vorstellungen in kapitalistischen Ländern demonstriere gar ihre Unterlegenheit gegenüber sozialistischen Ländern: „Die enorme Verbreitung des Aberglaubens mit den verschiedensten Varianten in Westdeutschland und in den kapitalistischen Ländern ist angesichts der Weltraumflüge, der Düsenflugzeuge, der elektronischen Geräte usw. für einen Menschen, der das sozialistische Bildungssystem kennt, kaum faßbar. Der wie im Mittelalter blühende Hexenglauben in Westdeutschland bestätigt ein weiteres Mal, daß die Bundesrepublik ein unterentwickeltes Land ist.“ (Ebd.)

Die „Förderung des Aberglaubens“ in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung diene der „systematischen Verdummung“ der Bevölkerung, als „ideologisches Werkzeug des Imperialismus“ und sei gar ein „wichtiges Mittel der psychologischen Kriegsführung“ (ebd.). Eine deutlich politisch-ideologische Akzentuierung von Themen im Zusammenhang mit dem Untersuchungsfeld zeigt sich auch am Beispiel einer Radiosendung zum Thema Parapsychologie mit dem Titel Geschäfte mit ‚Psi‘, die am 18. Juni 1974 im Radio DDR II lief. Glücklicherweise existiert im Archiv des IGPP eine Abschrift der Sendung, aus welcher im Folgenden zitiert wird. Anlass für die Radiosendung war ein Auftritt des bekannten Bühnenmagiers Uri Geller im BRD-Fernsehen, der von sich selbst behauptet, übersinnliche Fähigkeiten wie Telepathie, Hellsehen und Psychokinese zu beherrschen. Besondere Bekanntheit erlangten jene öffentlichen Auftritte Gellers, bei denen er angeblich mithilfe ‚paranormaler‘ Kräfte Löffeln, Gabeln und andere Metallgegenstände verbog (dazu später mehr). In der Radio-Sendung sind zunächst Auszüge aus einem Interview mit Geller zu hören, dass er in der BRD gegeben hat. Er spricht darin über seine angeblichen „magischen Fähigkeiten“. Anschließend wird kommentiert: „Meine Damen und Herren, Sie haben richtig gehört. Man soll es glauben. Man soll glauben, dass sich per Fernsehen Gabeln und Löffel verbiegen, Uhren stehen bleiben und dergleichen mehr. Und man glaubt es. Tausende glauben es.“ Der Grund für den Glauben an derartige Phänomene, der auch unter Wissenschaftlern herrsche, sei die in westlichen Ländern populäre Parapsychologie. Sie würde die Aufmerksamkeit für paranormale Fähigkeiten bzw. Psi-Phänomene wieder entzünden. Der Glaube an parapsychologische Erscheinungen erkläre sich dabei „nicht allein durch die menschliche Dummheit“, sondern auch durch gezielte Manipulation der Medienkonsumenten in den westlichen Ländern: „Die parapsychologischen Darbietungen und Phänomene werden dem Konsumenten nicht nur mit Geschick angeboten, sondern er selbst wird perfektioniert und manipuliert.“ Die Parapsychologen würden sich, wie zuvor „Zauberer, Schamanen, Medizinmänner, Handaufleger, Wahrsager, Astrologen und notorische Wundertäter“ die Unsicherheit, Angst und Leichtgläubigkeit der Menschen zunutze machen, um ein gutes

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Geschäft zu machen und Macht und Berühmtheit zu erlangen. Anstatt die drängenden Fragen der Zeit zu lösen, dulde man in „vielen Ländern staatlich sanktionierte pseudowissenschaftliche Gesellschaften und Institutionen und Massenmedien, Film und Fernsehen können es sich leisten, Streifen zu drehen, z.B. den Film ‚Der Exorzist‘, […] die in dicht aufeinander folgenden Horrorszenen der Psyche des hypnotisierten Zuschauers das letzte abverlangen oder richtiger gesagt: das Niederste in ihn hinein pressen.“ Insgesamt sei die Zunahme des „Sektenwesens, des Glaubens an Hexenkunst und Dämonie“ in der westlichen Welt beängstigend. Dies sei der Nährboden für einen massenhaften Betrug der Öffentlichkeit: „Auf solchem Boden entstehen Filme wie der ‚Der Exorzist‘, wird der Mensch entwertet, wird der Betrug, wird das Laster angebetet. Auf solchem Boden hat die Parapsychologie ihre politische Funktion.“ Am Ende des Beitrages fällt die politisch- ideologische Akzentuierung des Themas noch deutlicher aus, wenn es heißt: „Es ist schon so, in dem Bestreben, eine Machtposition zu halten, muss der Imperialismus die Menschen manipulieren. Darum greift er nach jedem Strohhalm, ob er Okkultismus heißt oder Antikommunismus. Jeder für sich ein Versuch, […] das Wesen der Widersprüche unserer Zeit zu vertuschen.“ Explizit politisch argumentiert auch ein Artikel aus dem Neuen Deutschland mit dem Titel Moderner Aberglaube im Gewand der Wissenschaft. Parapsychologie – der neueste Schrei des Irrationalismus (Spickermann 1975). Zunächst wird für die BRD ein sich rasch ausbreitender Irrationalismus diagnostiziert. Astrologen, Wahrsager und Gesundbeter hätten großen Zulauf. Ursache dafür sei u.a. die „heutige Krise in den kapitalistischen Ländern“, die das „Wiederaufleben irrationalistischer Strömungen der bürgerlichen Ideologie“ begünstige (ebd.). Da die Gesellschaftstheorien der „herrschenden Klassen“ westlicher Länder untauglich seien, Antworten auf wichtige Lebensfragen zu geben, würden sich viele Menschen „mystizistischem Wunderglauben“ zuwenden (ebd.). Darüber hinaus wird dem Paranormalen eine Ablenkungsfunktion zugeschrieben, wenn es heißt: „Die Massenmedien der herrschenden Klassen nähren diesen Prozess [gemeint ist die Verbreitung des Aberglaubens] nach Kräften, entsprechen Okkultismus und Aberglaube doch dem Wesen der herrschenden Weltanschauung. Mystizismus ist auch geeignet, die Aufmerksamkeit der Massen von den wichtigen Problemen und grundlegenden ökonomischen und politischen Fragen abzulenken.“ (Ebd.)

Schließlich wird im Zusammenhang mit paranormalen Themen erneut die Überlegenheit des Sozialismus propagiert: „Wenn wir Kommunisten davon sprechen, daß mit dem sozialistischen Weltsystem ein neues Zeitalter begonnen hat, dann meinen wir damit auch diesen Vorzug unserer Ordnung: daß wir dem Dunkelmännertum, dem 116

betrügerischen Aberglauben, den Profiteuren menschlicher Unwissenheit ein für allemal den Nährboden entzogen haben.“ (Ebd.)

In der DDR würden „seriöse Naturwissenschaftler und marxistische Philosophen“ das „moderne Dunkelmännertum“ engagiert entlarven. Einer der leidenschaftlichsten Vertreter der „Ehre der Wissenschaft“ sei dabei Otto Prokop mit seinen Mitarbeitern im Institut für Gerichtliche Medizin der Humboldt-Universität Berlin, der diverse „okkulte Verfahren“ als „bewußt manipulierte Fälschungen enthüllt“ habe (ebd.). Der Artikel schließt mit einer Art materialistischem Credo, das in ähnlicher oder nahezu wortgleicher Form in Bezugnahmen zum interessierenden Themenkreis immer wieder auftaucht: „Wir Marxisten-Leninisten halten die Welt grundsätzlich für erkennbar und veränderbar kraft des Menschen, der für uns das höchste Maß aller Dinge ist.“ (Ebd.) Im selben Jahr lief eine Fernsehsendung mit dem Titel Gibt es übernatürliche Erscheinungen? im Rahmen einer Reihe von Wissenschaftssendungen der Urania im ersten Programm des DDR-Fernsehens.38 In der Sendung werden verschiedene angebliche paranormale bzw. parapsychologische Phänomene wie Wünschelrutengehen, Psychokinese, Hellsehen, das Besprechen von Warzen etc. auf Zaubertricks, Täuschungen, physiologische Erklärungen (wie beim Ausschlag der Wünschelrute) oder auf (Auto-)Suggestion (beim Besprechen von Warzen) zurückgeführt. Sämtliche Darbietungen von bekannten ‚Psi- Begabten‘ wie Uri Geller, Nina Kulagina39 oder Ted Serios40 ließen sich derart erklären, weshalb es der Annahme übernatürlicher Kräfte nicht bedürfe. Nach der Demonstration verschiedener Zauber- und Täuschungstricks (u.a. durch Otto Prokop), mit deren Hilfe man vermeintliche Psi-Effekte vortäuschen kann, wird in dem Film gefragt: „Tricks, Täuschung, im besten Falle Fehlinterpretation von Erscheinungen. Das soll alles sein? Bisher war das alles. Und was die Primitivität betrifft, selbst große Rätsel der Natur erscheinen uns enttäuschend einfach nach ihrer Lösung. Könnte es vielleicht sein, dass die von Parapsychologen beschriebenen Phänomene gar nicht existieren?“ Die Beantwortung dieser Frage wird dem sowjetischen Psychologie-Professor A.N. Leontjew überlassen, der auch einer der Autoren eines Artikels mit dem Titel Parapsychologie –

38 Eine Aufzeichnung der Sendung kann beim Deutschen Rundfunkarchiv eingesehen und ausgeliehen werden.

39 Die Russin Nina Kulagina (1926-1990) wurde ab den 1960er Jahren durch ihre angeblichen psychokinetischen Fähigkeiten berühmt. Sie soll in Anwesenheit von Wissenschaftlern verschiedene Gegenstände wie Zigaretten, Zündhölzer oder Kompassnadeln ohne Berührung bewegt haben. Skeptiker werfen Kulagina vor, die Effekte mit Zaubertricks und Betrug hervorgebracht zu haben (vgl. Iwanow 1977).

40 Der US-Amerikaner Ted Serios (1918-2006) erlangte durch seine angebliche Fähigkeit Bekanntheit, Gedanken auf Film- und Fotokameras zu projizieren. Mehrere Parapsychologen hielten seien Fähigkeiten für erwiesen, Kritiker wie Otto Prokop hingegen warfen Serios vor, mithilfe simpler Tricks seine Fähigkeiten vorzutäuschen (vgl. etwa Eisenbud 1978). 117

Fiktion oder Realtät? ist, der in deutscher Übersetzung 1974 in der Zeitschrift Sowjetwissenschaft – Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge erschienen ist und sich mit der Situation der Parapsychologie in der UdSSR auseinandersetzt. Auf den Artikel soll an anderer Stelle ausführlich eingegangen werden. Auf die Frage nach der Existenz parapsychologischer Erscheinungen antwortet Leontjew: „Ich möchte sagen, dass solche Vorstellungen plötzlich wellenartig zunehmen und sich nach einer gewissen Zeit wieder verlieren. Interessant ist, dass sich die wesentlichen Argumente, die Fakten und sogar die Demonstrationen über Jahrhunderte kaum ändern. Es ist immer das gleiche. Es verändern sich nur die Hypothesen, die Erklärungsversuche und Auslegungen. Aber der Inhalt bleibt immer der gleiche. Das heißt doch nichts anderes, als dass sich diese wundersamen und geheimnisvollen Dinge nicht entwickeln. Dass die Angaben und Daten in ihrem Wesen falsch sind und sich nicht halten können. Es wurden immer wieder kompetente Kommissionen einberufen um zu überprüfen, ob es diese geheimnisvollen Erscheinungen tatsächlich gibt. Auch in unserem Land gab es sie schon zu Mendelejews Zeiten. Sie kamen immer zu negativen Schlussfolgerungen. Und auch heutige Kommissionen haben negative Schlussfolgerungen erneut bestätigt.“ Auch politisch-ideologische Argumente im Zusammenhang mit der Parapsychologie und paranormalen Phänomenen im Allgemeinen fehlen in der Sendung nicht: „Je inniger sich die Menschen in den kapitalistischen Staaten der Überzeugung von der Existenz des Übernatürlichen hingeben“, so heißt es, „desto weniger werden sie über die Gesellschaft nachdenken, in der sie leben. Ob asiatische, afrikanische und indianische Kulte, ob Jesuswelle, ob moderner Okkultismus in der Gestalt der Parapsychologie, alles wird gefördert, damit die Mächtigen an der Macht bleiben und die Machtlosen in die Ohnmacht versinken.“ Auch Leontjew bestätigt in der Sendung die These eines Zusammenhangs zwischen dem Glauben an das Paranormale und der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Im kapitalistischen System fühle sich der Mensch verloren, führt Leontjew aus, hätte kein Vertrauen in die Zukunft, keine Perspektive. Die so entstehende Unsicherheit bringe „ihn dazu, an eine andere Welt zu glauben, er beginnt nach überirdischen Dingen zu suchen. Man muss also sagen, dass es letztlich soziale Gründe sind, die das Interesse an diesen überirdischen Dingen erklären.“ Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Sendung in Bezug auf ihre Argumentationsstrategie voll und ganz der allgemeinen Stoßrichtung dieser Phase des öffentlichen Diskurses der DDR im Hinblick auf die interessierenden Themen entspricht. Dies zeigt sich schließlich auch an der Schlusssequenz der Sendung, die als eine Art materialistisch-szientistisches Plädoyer gelesen werden kann:

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„Nur beharrliche wissenschaftliche Kleinarbeit ohne Effekthascherei […] verspricht Klärung des Unerklärten. Unerforschtes jedoch mit der Wirkung von Psi-Kräften, mit ‚Ich-weiß-nicht-wie-Kräften‘ zu deuten erklärt im Grunde gar nichts. Die ernsthafte wissenschaftliche Forschung wird gewiss auch Antworten finden, die bisherige Vorstellungen weitgehend verändern. Doch keine noch so sensationelle Entdeckung wird die uns bekannten Naturgesetze außer Kraft setzen. Das beweist die Erfahrung der Wissenschaftsgeschichte. Übernatürliche Kräfte waren entbehrlich und sie werden es auch weiterhin sein.“ Eine weitere TV-Sendung mit relevantem Inhalt lief am 27. Dezember 1976 im Rahmen der der politisch-agitatorischen DDR-Sendung Der schwarze Kanal41 und trägt den Titel Mittelalter in unserer Zeit. Anlass für die Sendung waren die Geschehnisse um die BRD- Studentin Anneliese Michel, die im selben Jahr an den Folgen einer Unterernährung in Kombination mit einer Lungenentzündung gestorben war. Dieser Todesfall erregte internationale Aufmerksamkeit, da Anneliese Michel vor ihrem Tod über einen längeren Zeitraum von zwei katholischen Priestern ‚exorziert‘ wurde. Die Priester waren davon ausgegangen, dass Anneliese Michael unter ‚dämonischer Besessenheit‘ leitet. Im Vorfeld war bei ihr bei medizinischen Untersuchungen ein epilepsieartiges Anfallsleiden diagnostiziert worden. Nach dem Strafverfahren, das nach ihrem Tode gegen die beiden Priester geführt wurde, wurden diese wegen fahrlässiger Tötung durch unterlassene Hilfeleistung zu jeweils sechs Monaten Haft verurteilt, die auf drei Jahre Bewährung ausgesetzt wurde. Im schwarzen Kanal wurden diese Ereignisse bissig kommentiert. Die Priester seien „wie im Mittelalter der seit der Pubertät an psychischen Störungen leidenden Annelie Michel zuleibe [gegangen], quälten sie, entdeckten ‚nur einen gefallenen Engel, nämlich Luzifer‘, der in sie gefahren sei sowie fünf Erdenbürger, die zur Hölle abgestiegen seien: nämlich den biblischen Brudermörder Kain, den römischen Kaiser Nero, den Denunzianten Christi, Judas, einen sündigen katholischen Pfarrer, der im 16 Jhd. seine Geliebte getötet hat – und Adolf Hitler, der sich bei den Teufelsaustreibungen mit ‚Heil! Heil!‘ gemeldet habe – alle steckten in der Anneliese Michael: alles ernsthafte Angaben des Exorzistenpaters Arnold Renz. In der Bundesrepublik! Ausgangs des 20. Jahrhunderts!“ (Der schwarze Kanal 1976: 1f.) Der Fall der Annelise Michael sei dabei gleichsam symptomatisch für die gesellschaftspolitische Situation in den kapitalistischen Ländern im Zusammenhang mit okkulten oder paranormalen Themen:

41 Das Hauptziel der Sendung bestand darin, so der Moderator Karl-Eduard von Schnitzler, „die Verlogenheit der westlichen Politik und Propaganda am Beispiel des Westdeutschen Fernsehens [zu] entlarven und ihre Argumente [zu] widerlegen“ (zitiert nach Levasier 2007: 239). 119

„In allen kapitalistischen Ländern lief der amerikanische Film ‚Der Exorzist‘: In diesem prädikatisierten Machwerk ging die ‚Teufelsaustreibung‘ so brutal vor sich, daß Zuschauer reihenweise ärztlich behandelt werden mußten. Da werden Taschenspielertricks eines Gabelverbiegers wie Uri Geller vom Fernsehen ausgestrahlt, wochenlag beschäftigt sich die Asphaltpresse mit allem ‚Übernatürlichen‘. Sogenannte ‚parapsychologische‘ Literatur sprießt in Millionenauflage aus dem Boden. Fernsehserien handeln von ‚übernatürlichen Geistern und Mächten‘, Illustrierten-Serien von ‚Stimmen aus dem Jenseits‘. Und dann lassen zwei Exorzisten ein 23-jähriges Mädchen auf 35 Pfund abmagern, rufen keinen Arzt, beschwören Luzifer, Hitler und Nero – und lassen es verhungern. Ausgangs des 20. Jahrhunderts.“ (S. 4) Derartige „mittelalterliche Erscheinungen“ machten, heißt es in der Sendung weiter, die Krise der bürgerlichen Ideologie deutlich, die „Unfähigkeit der Bourgeoise, ein Weltbild zu vermitteln, das den Bedingungen und Erfordernissen unserer Zeit entspricht“ (ebd.). 1978 erschien eine Übersetzung des Buches Magie, Telepathie und allerlei Wunder – Auseinandersetzung mit Pseudowissenschaften von dem sowjetischen Physiker Alexander Kitaigorodski. Der Autor setzt sich darin kritisch mit verschiedenen „Pseudolehren“ auseinander, wozu er die Astrologie, den Spiritismus und vor allem auch die Parapsychologie zählt. Letztere sieht Kitaigorodski in einem direkten Widerspruch zu einem materialistischen Wissenschaftsverständnis, wie bspw. das folgende Zitat verdeutlicht, in dessen Kontext sich der Autor mit möglichen Ursachen für den Glauben an Pseudowissenschaften auseinandersetzt: „Man glaubt einfach nicht, daß der Mensch aus ebensolchen Atomen aufgebaut ist wie ein Baum, Und zu dem Gedanken, daß zwischen dem materiellen Wesen des Menschen und einer kypernetischen Maschine kein prinzipieller Unterschied besteht, verhält man sich feindselig. Daraus entsteht die Leichtgläubigkeit gegenüber Pseudowissenschaften, die von der Naturwissenschaft abgelehnt werden, wie beispielsweise die Parapsychologie.“ (Kitaigorodski 1978: 22) Der Schaden, den die Parapsychologie anrichte, so Kitaigorodski weiter, sei derart, „daß manche Menschen zu naiver Leichtgläubigkeit und zum Aberglauben erzogen werden“ (S. 88). Die Parapsychologie sei nichts weiter als Magie, die vortäusche, eine Wissenschaft zu sein. Dies sei „widerwärtig und empörend“ (S. 158). Auch für Vertreter der Parapsychologie findet Kitaigorodski deutliche Worte: Ihre Tätigkeit sei „eine üble Profanierung der Wissenschaft, eine Vergewaltigung unschätzbarer Errungenschaften der menschlichen Kultur“ (ebd.) und sie sollten öffentlich angeprangert werden: „Personen jedoch, die die Magie verbreiten und sie in wissenschaftliches Gewand hüllen, Fanatiker, die zur Analyse der Telekinese menschliche Apparate, EDV-Anlagen und die Wahrscheinlichkeitsrechnung benutzen, 120

verdienen von meinem Standpunkt aus, öffentlich angeprangert zu werden. Eine noch härtere Bestrafung verdienen selbstverständlich Journalisten und Schriftsteller, die die saubere Wissenschaft mit der schmutzigen Magie vermengen.“ (S. 159) In diesem Zusammenhang kommt Kitaigorodski auch auf Hans Bender zu sprechen, den er 1966 auf einem internationalen Kongress für Psychologie in Moskau traf, bei welchem vereinzelte „Fanatiker der Parapsychologie“ zugegen gewesen seien. Kitaigorodski beschreibt Bender als einen der „führenden Leute in der internationalen Bruderschaft der Parapsychologen“ (S. 166) und kommentiert einen Artikel in der BRD-Zeitschrift Der Spiegel über Bender mit den Worten: „Wie kann man einem derartigen ‚Wissenschaftler‘ das Wort in der Presse geben!“ (Ebd.) An einer anderen Stelle des Buches wird deutlich, dass Kitaigorodski zur Bekämpfung des Aberglaubens eine Erziehung zu einer „rationalen Einstellung zur Welt“ im Sinne einer gegen Pseudowissenschaften gerichteten „Propaganda“ für elementar hält. So schreibt er: „Die natürlichen Fähigkeiten zum selbstständigen Denken entwickeln sich nicht ohne die entsprechende Erziehung, und die Früchte der Erziehung zu einer rationalen Einstellung zur Welt zeigen sich erst nach vielen Jahren systematischen und konsequenten Lernens. […] Entscheidend bei der Festigung des Aberglaubens ist aber nicht nur die Propaganda, sondern auch das Fehlen von Propaganda. Astrologische und metapsychologische Gesellschaften, der Beruf des Weissagers, der Glaube an Vorzeichen und Vorahnungen und die unkritische Bereitschaft, ein Wunder für real zu halten - das alles wird es so lange geben, wie es die Menschheit nicht für notwendig hält, sich von Auffassungen zu trennen, die der Wissenschaft widersprechen.“ (S. 109) Kitaigorodski argumentiert hier also ganz im Sinne einer szientistischen Wissenschaftsauffassung, nach welcher der Wissenschaft auch die gesellschaftliche Funktion zukommt, die Menschen zu ‚rationalem‘ Denken zu erziehen, um sie damit von ‚irrationalen‘ Vorstellungen zu befreien. Die Pseudowissenschaften und vor allem die Parapsychologie auf der einen und die Naturwissenschaft auf der anderen Seite stünden sich „unversöhnlich“ gegenüber. Die Akzeptanz parapsychologischer Phänomene, fasst Kitaigorodski am Ende seines Buches zusammen, käme einer Aufgabe des materialistischen, atheistischen Weltbildes gleich: „Die Anerkennung von zwei selbstständigen Materien oder – wir wollen die Dinge beim Namen nennen – die Anerkennung der Materie und der Seele als zweier gesonderter Realitäten ist für mich aus dem Grunde unannehmbar, weil wir, wenn wir diesen Weg einschlagen, alle antireligiösen Argumente verlieren.“ (S. 179) Darüber hinaus betont er nochmals in aller Deutlichkeit seinen materialistischen Standpunkt: „Ich, der diese Zeilen schreibe, bin jedoch Naturwissenschaftler, bin Physiker. Dinge und Begriffe, die prinzipiell

121 nicht von einer Maschine analysiert oder von einem Gerät gemessen werden können, gibt es daher für mich nicht.“ (S. 180) Kitaigorodskis Buch ist jenseits seiner Rezeption in der DDR für die Frage bedeutsam, in welcher Weise in der Sowjetunion – im Vergleich zur DDR – mit entsprechenden Themen umgegangen wurde. Dazu später mehr. Aus dem Jahr 1979 stammt die einzige relevante Bezugnahme in einem Schulbuch, die im Rahmen von intensiven Recherchen in DDR-Schulbüchern nahezu aller Schulfächer im Archiv des Studienhauses Wiesneck42 identifiziert werden konnte. Es handelt sich dabei um eine Textstelle aus einem Lehrbuch für Astronomie.43 In einem einführenden Abschnitt über die Entstehung der Astronomie wird auf die Astrologie als unwissenschaftliche Vorstufe der Astronomie eingegangen. Priester im alten Orient hätten die Astrologie genutzt, um religiöse Vorstellungen zu festigen, nach denen „der Mensch und die menschliche Gesellschaft das Leben nicht selbst gestalten können, sondern von Naturkräften, vor allem von den Himmelskörpern und den Vorgängen am Sternhimmel abhängig sind“ (Astronomie 1979: 7). Dadurch hätte sich der Glaube verbreitet, dass die Sterne einen Einfluss auf den Lebensweg des Menschen hätten. Dieser Zustand sei auch heute noch nicht überwunden, sondern herrsche in Klassengesellschaften wie der BRD weiterhin: „Die Unwissenheit und den damit verbundenen Aberglauben des Volkes nutzte die herrschende Klasse zur Stärkung ihrer Machtposition. Die sich entwickelnde Astronomie widerlegte in zunehmendem Maße die Behauptungen der Astrologie durch exakte wissenschaftliche Beweisführung. Trotzdem wird die Astrologie auch heute noch in der historisch überholten Ausbeutergesellschaft, z.B. von der herrschenden Klasse in der BRD, zur betrügerischen Beeinflussung leichtgläubiger Menschen genutzt. In der DDR und in anderen sozialistischen Ländern wird dem Aberglauben durch die Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse über Natur und Gesellschaft und durch die Erfahrung, daß es möglich ist, das Leben bewußt zu gestalten, der Boden entzogen.“ (Ebd.) Die Textstelle spiegelt im Hinblick auf die Astrologie die dominierende Argumentationsstruktur des öffentlichen Diskurses im Zusammenhang mit verschiedenen Themen des Untersuchungsfeldes in paradigmatischer Weise wieder. Freilich darf die Bedeutung dieser Textstelle nicht überbewertet werden, als Teil eines Schulbuches der DDR hat sie dennoch ein gewisses Gewicht. Darüber hinaus bestätigt sie einmal mehr, wie

42 Das Studienhaus Wiesneck bzw. Institut für politische Bildung Baden-Württemberg e.V. in Buchenbach bei Freiburg i.Br. ist eine überparteiliche Bildungsstätte und besitzt ein umfangreiches Schulbucharchiv. Ich möchte an dieser Stelle in besonderer Weise Nikola Roth für ihre Recherchen und dem Studienhaus Wiesneck für die Bereitstellung der DDR-Schulbücher danken.

43 Astronomie war ab 1959 in DDR-Schulen in der zehnten Klasse Pflichtfach.

122 einheitlich die Deutungs- und Argumentationsrahmen im Hinblick auf die interessierenden Themen über verschiedene mediale Formate waren. Auch in den 1980er Jahren findet sich im öffentlichen Diskurs der DDR eine ganze Reihe von Bezugnahmen zum Themenbereich des Paranormalen. Zunächst fallen zwei Artikel aus dem Neuen Deutschland aus dem Jahr 1981 ins Auge. Der erste erschien im Januar unter dem Titel Bürgerliche Ideologie im Zeichen der Krise – Was ist und was will der Irrationalismus heute? Hier ist zu lesen, dass Sektenwesen, Okkultismus, der Glaube an überirdische Kräfte und Drogenkonsum als Ausdruck von Irrationalismus inzwischen „Massenerscheinungen in der kapitalistischen Welt“ (Ihme 1981: 10) geworden seien. Der Irrationalismus sei dabei eine inhärente Eigenschaft des westlichen Imperialismus und gehe davon aus, dass „der Lebensprozeß des Menschen von ‚unergründbaren Seinszusammenhängen‘ bestimmt wird, daß die Wirklichkeit rational nicht erfaßt werden kann und ihr keine objektiven Gesetzmäßigkeiten eigen sind“ (ebd.). Das Argument, dass die Neigung zu „irrationalistischen Lehren“ Ausdruck der krisenhaften Entwicklung des Kapitalismus sei, wird hier noch einmal zugespitzt: „In einer Zeit, in der die Sorge um den Arbeitsplatz Millionen Werktätige bedrückt, sich soziale Unsicherheit, Existenzangst, Unzufriedenheit und Hoffnungslosigkeit ausbreiten, der imperialistische Staat sich immer unfähiger zeigt, sozialen Erfordernissen gerecht zu werden, und die Krisenlasten den Werktätigen aufbürdet, Kriminalität und Gewaltbereitschaft schier unvorstellbare Dimensionen annehmen, Umweltverschmutzung, intensivierte Ausbeutung der Arbeiterschaft und Arbeitshetze Gesundheit und Leben der Werktätigen bedrohen, erfreuen sich irrationalistische Verheißungs- und Trostideologien eines breiten Zuspruchs.“ (Ebd.)

Der Irrationalismus sei dabei jedoch nicht nur eine eigenwillige Weltsicht, eine „Weltflucht- Ideologie“ oder „lebensfremder Aberglauben“, sondern in ihm spiegelten sich, so der Autor weiter, „gesteigerte Aggressivität, Antihumanität, Willkür und Gewalttätigkeit des Imperialismus wider“ (ebd.). Der zweite Artikel stammt aus dem Juli 1981, widmet sich dem Thema „Die Krise und die Verdunkelung der Köpfe“ und argumentiert in nahezu identischer Weise. Die Ursache für die Virulenz des Aberglaubens in Form von Glauben an Hellsehen, Hexen, Spuk etc. sei der Zustand einer „allgemeinen Krise“ des kapitalistischen Systems, das kurz vor dem Abstieg stehe. Angesichts des drohenden Kollapses kapitalistischer Gesellschaftsordnungen lösten sich Ordnungen auf, Lebensumstände würden unübersichtlich und Zukunftsperspektiven dunkel. Diese Unsicherheit erzeuge Angst, aus dieser Angst wiederum entspringe „die Hoffnung auf Wunder und zugleich die Bereitschaft zu glauben, die erforderlich ist, um allen

123 möglichen Unsinn als Halt und Rettung zu ergreifen“ (Kertzscher 1981: 4). Schließlich wird dem in der BRD angeblich um sich greifenden Irrationalismus auch in diesem Artikel eine Ablenkungsfunktion zugeschrieben, in dem es heißt: „Vom herrschenden Ausbeutersystem und seiner ideologischen Verteidigung her kann der wuchernde Aberglaube nur erwünscht sein. Wer sich in das Dickicht magischer Vorstellungen verliert, ist verloren für revolutionäres Denken und Handeln. Aus diesem Dickicht gibt es keinen Durchblick mehr auf die Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung. Es wirkt wie eine Barriere gegen den Fortschritt. Es bewirkt Abwendung von der Realität, politische Abstinenz, Vereinzelung, Verdummung. Darum wird der Irrationalismus in der gegenwärtigen kapitalistischen Welt auf den verschiedenen Ebenen intellektuellen Anspruchs gefördert.“ (Ebd.)

In der DDR hingegen herrsche eine völlig andere Situation: „Hierzulande herrscht eine wissenschaftliche Weltanschauung“ (ebd.), die schon Kindern vermittelt würde. Die Basis der wissenschaftlichen Weltanschauung ermögliche es, zu wissen. „warum sich die Dinge in Natur und Gesellschaft so und nicht anders gestalten“ (ebd.). Der Artikel schließt mit der Behauptung, dass der „ganze irrationalistische Hokuspokus in der kapitalistischen Welt ein System ihres Zerfalls [ist], eine Erscheinung ihrer allgemeinen Krise. Mit solchen Anzeichen einer Auflösung der Vernunft sind auch frühere Gesellschaftsformationen ihrem Ende entgegengegangen“ (ebd.). Im selben Jahr wie die beiden Artikel aus dem Neuen Deutschland erscheint das Buch Geheimwaffe Fliegende Untertassen – Gauner, Gaukler, Gangster von Christian Heermann, das als eine Art ‚Rundumschlag‘ gegen Parapsychologie, Okkultismus und verwandte Themen gesehen werden kann. So finden sich in dem Buch Bezugnahmen zu etlichen Themen aus dem Bereich des Paranormalen, wie z.B. zu UFOs, Parapsychologie, Sekten, Astrologie, Okkultismus, Satanismus etc. Ziel des Buches sei es, über „Gauner, Gaukler und Gangster, Hochstapler, Abenteurer und Scharlatane“ (S. 6) zu informieren, die in den Klassengesellschaften der westlichen Länder den Aberglauben der Menschen ausnutzten, um sich zu bereichern. Auffällig ist an dem Band, dass darin in sehr expliziter Weise politisch- ideologisch argumentiert wird. Der Glaube an okkulte, paranormale Phänomene sei vor allem eine Erscheinung des Westens und auf die politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse in kapitalistischen Staaten zurückzuführen, postuliert Heermann. In den Ländern des Kapitals stünden die Menschen den ökonomischen, sozialen und politischen Veränderungen hilflos gegenüber. Die „bürgerlichen Gesellschaftstheorien“ könnten, so der Autor, „keine Antwort auf die Fragen der Zukunft geben und der Zugang zur marxistischen Lehre bleibt den meisten Menschen versperrt. In ihrer Ratlosigkeit wenden sie sich dem Mystizismus zu.

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Massenmedien und Büchermarkt halten dafür ein breites Angebot bereit, wobei sich Geschäft und Manipulation in wunderbarer Weise ergänzen.“ (S. 329f.) Ein Beispiel hierfür sei der im Westen weit verbreitete Glaube an UFOs im Sinne von außerirdischen Raumschiffen. Hierzu schreibt Heermann: „Die durch die Krise der kapitalistischen Ordnung ausgelöste Existenzangst von Millionen Menschen und deren Furcht vor den Schrecken eines Krieges werden genutzt, um ihnen einen neuen Glauben an Wunder und Rettung zu suggerieren. Nicht den gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern einer übermächtig gewordenen Technik wird die Schuld an der Misere zugeschrieben. So muß auch die Technik zur neuen Gottheit werden, die allein alles zum Guten wenden kann. Okkulte Raumschiffe, blonde Techniker aus dem All und andere Mystifikationen sind an die Stelle der Engel getreten und bringen jene Botschaften, welche die neuen Sekten hören wollen.“ (S. 139f.) An anderer Stelle schreibt der Autor, dass es für Menschen aus der sozialistischen Welt kaum zu begreifen sei, wie „ungeheuer groß die Enttäuschung von vielen Millionen von Männern, Frauen und Jugendlichen über ihr Leben und Schicksal unter kapitalistischen Verhältnissen sein muß, wenn sie als Auswege nur die verlogenen Heilslehren obskurer Sektengründer und die scheinreligiösen Offerten von einem besseren Dasein durch außerirdische Hilfe sehen“ (344). Allen „Gaunern, Gauklern und Gangstern“ im Bereich des Übersinnlichen bzw. Paranormalen sei gemein, so Heermann weiter, dass ihre Taten und Untaten Produkte der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse der Klassengesellschaft sind: „Sie liefern ein normales, gewöhnliches Spiegelbild der Klassengesellschaft, in der sie lebten und die es ihnen ermöglichte, einen Treffpunkt des Extremen, Abnormalen und Außergewöhnlichen zur wählen.“ (338.) Insgesamt sei der Glaube an Paranormales vor allem Ausdruck rückständiger gesellschaftlich- politischer Verhältnisse und Teil einer rückwärtsgewandten Ideologie. Vermeintliche paranormale Phänomene seien letztlich allesamt auf Täuschungen zurück zu führen oder ließen sich durch natürliche Ursachen erklären. So schreibt Heermann: „Noch ungelöste wissenschaftliche Fragen liefern seit jeher Quellen für Spekulationen. Blitz und Donner galten als Werke von Göttern und Dämonen. Für solche und tausende andere einst rätselhafte Erscheinungen wurden die natürlichen Ursachen gefunden. Und obwohl noch längst nicht alle Probleme der uns umgebenden Welt erforscht sind, gilt es heute als gesichert, daß es nichts mehr gibt, für das nicht eine Erklärung durch natürliche Ursachen möglich ist.“ (S. 323) Die spätkapitalistische Gesellschafsordnung jedoch, schließt Heermann sein Buch, bedürfe des Glaubens an Wunder, „um von echten Alternativen abzulenken“ (S. 345). Damit schreibt

125 auch Heermann dem Paranormalen in kapitalistischen Gesellschaften eine Ablenkungs- bzw. Manipulationsfunktion zu und greift damit ein Argument auf, dass im öffentlichen Diskurs innerhalb der DDR zu einschlägigen Themen immer wieder auftaucht. In den folgenden Jahren erscheint eine ganze Reihe von Artikeln zu relevanten Themen in der DDR-Presse, die alle in sehr ähnlicher Weise argumentieren. Als Beispiel soll ein Artikel aus Wochenpost vom 18. Mai 1984 dienen, der die Überschrift „Goldene Zeiten für schwarze Künste“ trägt. Zunächst wird ausführlich eine Szene beschrieben, in der eine Frau Rat bei einem ‚Magier‘ sucht, der, um herauszufinden, wie es um ihre Beziehung zu ihrem Verlobten bestellt ist, zunächst in eine Kristallkugel sieht und hinterher eine „Astralreise“ macht. Hinterher ist zu lesen: „Situationen wie diese gehören zum Alltag in der BRD, in den entwickelten kapitalistischen Industrieländern. Man geht zum Astrologen, Wahrsager, Hellseher, Handleser.“ (Weinreich 1984: 12) Dies sei jedoch nicht nur eine vorübergehende Modeerscheinung, sondern systemimmanente Eigenschaft der kapitalistischen Gesellschaft. Wieder werden, um diese Behauptung zu belegen, Zahlen aus Meinungsumfragen genannt: „Das Übel liegt tiefer. Nach Ansicht von Meinungsforschern glaubten zu Beginn der achtziger Jahre 53 Prozent der erwachsenen Bundesbürger allgemein an Phänomene, die außerhalb der Gesetze der Naturwissenschaft stehen.“ (Ebd.) Und an anderer Stelle: „Nach vorsichtigen Schätzungen gibt es in der gesamten BRD mehr als 2000 hauptberufliche Hellseher. […] Das Unwesen der Wahrsagerei verkörpert nur einen Teil der okkultistischen Szenerie in der BRD. Zu dieser zählen auch Hexenmeister und Hexenbanner. Man schätzt ihre Zahl auf 10.000.“ (Ebd.) Diese Proportionen dürften sich, so der Autor weiter, „inzwischen mit der Zunahme der wirtschaftlichen Unsicherheit, der wachsenden Zahl von Arbeitslosen, Bankrotten kleinerer und mittlerer Betriebe und der daraus resultierenden Rat- und Ausweglosigkeit weiter zugunsten der berufsmäßigen Schwarz- und Hellseher verschoben haben“ (ebd.). 1984 erschien der Band Stimmen aus dem Jenseits – Parapsychologie und Wissenschaft der beiden Gerichtsmediziner Andreas Gertler und Wolfgang Mattig im Verlag Neues Leben. Gertler und Mattig, beide Schüler von Otto Prokop, setzen sich darin kritisch mit unterschiedlichsten Themen aus den Bereichen Okkultismus und Parapsychologie auseinander. Der üblichen argumentativen Logik des öffentlichen Diskurses der DDR im Zusammenhang mit paranormalen Themen folgend, zitieren auch Gertler und Mattig am Anfang ihres Buches zunächst eine Reihe von Umfrageergebnissen, die die Verbreitung okkulter Vorstellungen in der BRD belegen sollen. Sie schreiben: „Nach statistischen Erhebungen, die als repräsentativ bezeichnet werden, glauben 53 Prozent der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland an das ‚zweite Gesicht‘, 12 Prozent aller erwachsenen Bürger wollen Gespenster mit 126

eigenen Augen gesehen haben, und 32 Prozent sind von der prophetischen Gabe bestimmter Mitmenschen überzeugt; beinahe jeder zweite Erwachsene zieht in Dingen des täglichen Lebens Horoskope zu Rate. Ein fester Hexenglaube ist noch bei 2 Prozent der Erwachsenen verwurzelt. Es wird geschätzt, dass in der BRD, in Österreich und in der Schweiz 500.000 Menschen dem Spiritismus verfallen sind.“ (Gertler & Mattig 1984: 7) Die Autoren behandeln im Folgenden viele verschiedene Themen aus dem Bereich des Paranormalen, darunter Wahrsagen, Pendeln, Wünschelruten, Astrologie und vor allem die Parapsychologie. Letztere zähle ebenso zum Aberglauben wie die anderen genannten Beispiele für Übersinnliches, für dessen Existenz – in welcher Form auch immer – es keinen einzigen Beweis gäbe. Mehr noch: Die Parapsychologie, die der Menschheit „keinen einigen wahren Dienst“ erwiesen habe, sei nicht nur entbehrlich, sondern auch gefährlich, weil sie „die Menschen täuscht, irreleitet und verdummt, weil sie Tatsachen auf den Kopf stellt und anerkannte Gesetzmäßigkeiten ignoriert, weil sie Menschen ohne Orientierung noch weiter von der Bewältigung ihrer Rolle in der Gesellschaft wegleitet und selbst Wissenschaftler ohne klaren Standpunkt arg verunsichert“ (S. 150). Somit schreiben auch Gerter und Mattig dem Aberglauben, der aus ihrer Sicht vor allem durch die Parapsychologie verkörpert wird, eine Ablenkungsfunktion zu und sehen in ihm ein gesellschaftliches Gefährdungspotenzial. In Ländern mit kapitalistischer Wirtschaftsordnung würde die dem Menschen innewohnende Sensationslust „mit kapitalistischen Methoden rücksichtslos ausgebeutet“ (S. 147), was zur Verbreitung abergläubischer Vorstellungen beitrage. Völlig anders sei dagegen die Situation in der DDR, die den „Bereicherungsmethoden von Okkultisten einen Riegel vorgeschoben“ (ebd.) habe. Somit seien in der DDR die „Ausbreitungsmöglichkeiten des Aberglaubens naturgemäß sehr begrenzt, wenn auch immer noch in einem gewissen Umfang vorhanden“ (ebd.). Darüber hinaus taucht bei Gertler und Mattig das Argument der geistigen Nähe zwischen Aberglauben (und damit eben auch der Parapsychologie) und dem Nationalsozialismus bzw. Faschismus auf. Die Parapsychologie „der Nachkriegszeit besitzt auch einen deutlich umrissenen ideologischen Hintergrund. Der von uns erwähnte Parapsychologe Rhine verkündet ohne Umschweife, daß die Parapsychologie den dialektischen Materialismus bekämpfen und zu dem politischen Kampf der ‚westlichen Zivilisation‘ gegen den Marxismus ihr Scherflein beitragen muss.‘ [...] Wie nah die größten Feinde des Marxismus, die faschistischen Machthaber dem Okkultglauben standen, läßt sich anhand zahlreicher Dokumente belegen. Einer der abergläubischsten Okkultisten war Heinrich Himmler, Reichsführer der SS, der die Wünschelrute in breitem Umfang förderte und seinen Astrologen befragte, ob ein neuer Einmarsch der Mongolen nach Europa bevorstünde“ (S. 149).

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Um dem Aberglauben Einhalt zu gebieten, schlussfolgern Gertler und Mattig, bedürfe es umfangreicher gesellschaftlicher Erziehungsmaßnahmen: „Die Gesellschaft hat die nicht zu unterschätzende Aufgabe, durch die Erziehung zu Grundüberzeugungen die Menschen auch gegenüber den Einflüssen des Aberglaubens und der Demagogie unanfechtbar zu machen.“ (S. 146) Am Ende ihres Buches greifen die Autoren einen Satz von Kitaigorodski (auf den in dem Band mehrfach Bezug genommen wird) auf: „Der Glaube an Unsinn muß ebenso ununterbrochen bekämpft werden, wie man Jahr für Jahr die Beete jätet.“ (S. 151) Dieser Mission „im Dienst an der Wahrheit“ schließen sich Gertler und Mattig an, da sonst der „Rückfall des Menschen ins Mythische nicht verhindert werden“ (ebd.) könne. Als letzte Quelle im Rahmen der Analyse des Verlaufs des Diskurses der DDR zum Themenbereich des Paranormalen dient der 1988 im Urania-Verlag erschienene Band Hexeneinmaleins – Medien, Mythen, Manipulation, Hintergründe des Aberglaubens von Ursula Bergmann. Das Buch widmet sich vor allem dem Thema Hexen, behandelt aber auch Okkultismus und Parapsychologie, die nach der Autorin wesentliche Ausdrucksformen des neuen „Hexen- und Aberglaubens“ sind, der sich in der westlichen Welt einer „Massenpsychose“ gleich ausbreite. Auch Bergmann verweist zum Beleg dieser These auf Umfrageergebnisse, nach denen „in der Bundesrepublik 12.000 Hexenaustreiber, Astrologen und Parapsychologen ihr Unwesen“ (Bergmann 1988: 14) treiben. Diese neue „okkulte Welle“ überschwemme die Länder des Westens „mit buntschillernder Hexe wie mit Para-, Psi- und Pseudowissenschaften. Die sich wissenschaftlich aufgeschlossen gebende Parapsychologie gehört genauso zum Hexeneinmaleins der Krisengewinnler wie der Aufschwung der sich mehr traditionsbewußt darstellenden Astrologie“ (S. 31). Der sich in kapitalistischen Ländern massenhaft ausbreitende Glaube an Okkultes sei, fährt Bergmann fort, vor allem vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen und sozialen Krisen jener Länder zu verstehen: „Ängste vor der Zukunft, vor dem Mißbrauch der Technik, vor der Bedrohung der Umwelt und vor einer atomaren Katastrophe fördern die Flucht in irrationale Weltsichten, in Aberglauben und Mystizismus.“ (S. 13) Dabei erfüllt der Glaube an Übersinnliches auch für Bergmann eine Ablenkung- und Manipulationsfunktion, die dazu diene, die wahren Ursachen der Krise des kapitalistischen Systems zu verschleiern. Die Förderung des Aberglaubens diene „im allerhöchsten Interesse“ einem „ideologischen Zweck: die Ursachen für Krisen und Ängste nicht in den kapitalistischen Machtverhältnissen dieser Welt, sondern bei ‚höheren Mächten‘ zu suchen“ (S. 6). Bergmann schließt ihr Buch mit der Prognose, dass der Glaube an Paranormales in den westlichen Gesellschaften auch weiterhin existieren würde, da er untrennbar zum System

128 gehöre. Solange die Krisenängste der Menschen in den kapitalistischen Ländern „in klingende Münze umzuwandeln sind“, so die Autorin, „produziert der ‚freie‘ Markt weiterhin teure Magie oder billigen Mythos“ (S. 145). Eine Loslösung vom Aberglauben sei gar nicht erwünscht, da sie den „mystischen Schleier“ durchdringen würde, der über die „herrschenden Verhältnisse gelegt wurde“ (ebd.).

Was lässt sich nach diesem Überblick über den Verlauf des öffentlichen Diskurses zum Themenbereich des Paranormalen festhalten? Zunächst fällt auf, dass es in der DDR nur sehr wenige Bücher zu Themen aus dem Bereich des Paranormalen gibt – vor allem, wenn man dies mit der schier unüberblickbaren Vielzahl an Büchern vergleicht, die im gleichen Zeitraum zu Themen wie Okkultismus, Astrologie, Parapsychologie, Esoterik etc. in der BRD erschienen sind. Darüber hinaus sind auch weitere Bezugnahmen aus dem öffentlichen Diskurs in Zeitschriften, Zeitungen etc. verhältnismäßig selten. Insgesamt lässt sich über die Analyse der Bezugnahmen zum interessierenden Themenfeld im öffentlichen Diskurs innerhalb verschiedener medialer Formate ein sehr homogenes Argumentations- bzw. Deutungsmuster erkennen, von dem es – abgesehen von sehr wenigen Ausnahmen – keine Abweichungen gibt (dazu später mehr). Obwohl dies angesichts der in Abschnitt 5.1 dargestellten zentralen politischen Steuerung und Kontrolle des Mediensystems in der DDR vielleicht wenig überraschen mag, erscheint die Einheitlichkeit der Argumente dennoch bemerkenswert, demonstriert sie doch in eindrücklicher Weise, wie auch bei einem eher marginalen Themenfeld wie dem Paranormalen die Mechanismen eines staatlich gelenkten Diskurses zum Tragen kommen. Über die Zeit hinweg lassen sich jedoch auch gewisse inhaltliche Veränderungen des Diskurses bestimmen: Bereits in der Frühphase des öffentlichen Diskurses kristallisierte sich der Topos ‚Aberglaube‘ heraus, zum dem diverse okkulte Praktiken wie Astrologie, Wahrsagen und vor allem auch paramedizinische Heil- und Diagnoseverfahren gezählt wurden. Die Parapsychologie wurde anfangs explizit nicht zum Aberglauben gezählt, sondern galt als wissenschaftliche Disziplin, die sich mit ungewöhnlichen Erscheinungen beschäftigt. Dies änderte sich mit dem Erscheinen des Bandes Wünschelrute, Erdstrahlen und Wissenschaft von Otto Prokop und dessen Übersiedlung in die DDR im Jahr 1957. Die Parapsychologie wird von nun an als Pseudowissenschaft und Aberglaube beschrieben, die von ihr untersuchten Phänomene ins Lächerliche gezogen. Diese kritische Haltung gegenüber der Parapsychologie und gegenüber ihrem wichtigsten Vertreter in der BRD, Hans Bender, intensiviert und stabilisiert sich im weiteren Diskursverlauf.

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Eine weitere inhaltliche Veränderung innerhalb des DDR-Diskurses besteht im Zusammenhang mit der Bedeutung politisch-ideologischer Rahmungen des Themas: Obschon bereits der erste Band zum Thema, Magie, Sternenglaube, Spiritismus – Streifzüge durch den Aberglauben von Gerhard Zwerenz explizit politisch argumentiert und den Aberglauben vor allem als Produkt und Stabilisator kapitalistischer Gesellschaftsverhältnisse sieht, geraten derartige Argumente in der Folgezeit zunächst eher in den Hintergrund. Die Hauptstoßrichtung des öffentlichen Diskurses zu den entsprechenden Themen besteht anfangs vor allem darin, vor den Gefahren abergläubischer Vorstellungen im Zusammenhang mit Krankheit und Gesundheit (Paramedizin) zu warnen und damit Volks- und Gesundheitsaufklärung zu leisten. Ideologische Argumente spielen hier, wenn überhaupt, nur am Rande eine Rolle. Dies ändert sich ab Mitte der 1960er Jahre: Von nun an wurde der Aberglaube, zu dem inzwischen auch die Parapsychologie zählte, zunehmend zum Argument für den Systemvergleich und politische Propaganda. Auffällig ist, dass diese Perspektivverschiebung zeitlich mit dem Erscheinen des Bandes Medizinischer Okkultismus – Paramedizin (1964) von Otto Prokop korreliert. Prokop argumentiert darin zwar nicht explizit politisch, macht aber dennoch deutlich, dass er die DDR in Bezug auf den Umgang mit Themen wie Parapsychologie, Okkultismus, Paramedizin usw. für den fortschrittlicheren Staat hält. Letzteres zeigt sich auch in einem Beitrag von Prokop im Neuen Deutschland im Zuge seines Rufes an die Berliner Humboldt-Universität gab. Prokop schreibt hier, dass er den Aberglauben und den Okkultismus in jeder Form in seiner jahrelangen Tätigkeit als Gerichtsmediziner „als dauernde und latente Gefahr für die geistige und körperliche Gesundheit unseres Volkes erkannt und wiederholt angeprangert“ habe (Neues Deutschland 1957: 4). Weiter heißt es: „Wie ich die ärztliche Tätigkeit und das Klima der wissenschaftlichen Arbeit in der DDR in den Instituten der Universitäten vorgefunden habe und einschätze, nachdem ich jahrelang an einer westdeutschen Universität als Hochschullehrer tätig war? Meine Auffassung ist die: Die Tendenz zur ausschließlich naturwissenschaftlich begründeten Arbeit, frei von Mystik und Spekulation, gibt hier eine klare und wissenschaftlich saubere Atmosphäre, die zu den größten Hoffnungen in der Medizin und zwar in der Therapie und in der Prophylaxe berechtigt.“ (Ebd.) Mit seiner ablehnenden Haltung gegenüber Okkultismus, Parapsychologie etc. konnte sich Prokop reibungslos in die in der DDR propagierte wissenschaftliche Weltanschauung einfügen, er passte gleichsam wie der Schlüssel in das Schloss. Durch seine Kritik am Umgang mit paranormalen Themen in der BRD gab er ihnen indirekt auch eine gesellschaftspolitische Bedeutung. Welche Rolle genau Prokop im Zusammenhang mit der

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Zunahme politisch-ideologischer Rahmungen von Themen im Bereich des Paranormalen im DDR-Diskurs hatte, lässt sich schwer rekonstruieren, sicher ist jedoch, dass seine Argumente im öffentlichen Diskurs aufgenommen und zum Zweck der Kritik westlich-kapitalistischer Systeme politisiert und ideologisiert wurden. Dessen ungeachtet lässt sich festhalten, dass im staatlich kontrollierten öffentlichen Diskurs der DDR Themen wie Parapsychologie, Okkultismus oder paranormale Phänomene nicht nur abgelehnt, sondern – mit einer großen Konstanz im Hinblick auf die vorgebrachten Argumente – auch systematisch diskreditiert, abgewertet und als abweichend markiert wurden. Entsprechend des Umstandes, dass es sich hierbei um einen staatlich gelenkten Diskurs handelte, der der Bevölkerung eine bestimmte Weltanschauung vermitteln sollte, haben die Bezugnahmen zu entsprechenden Themen keinen kontroversen, erörternden, sondern einen verkündenden Charakter, mit dessen Hilfe den Rezipienten eine ablehnende Haltung gegenüber einschlägigen Themen vorgegeben wurde. Die entsprechenden Argumente gegen den Aberglauben finden sich im Rahmen eines den öffentlichen Diskurs bestimmenden, einheitlichen Deutungsmusters analog in unterschiedlichen Diskursformaten wie Zeitungen, themenbezogener Literatur, Fernsehsendungen etc. und lassen sich im Wesentlichen in zehn Kernbehauptungen zusammenfassen:

1) Zum Aberglauben zählen sämtliche als okkult, paranormal oder übersinnlich bezeichneten Vorstellungen, Lehren und Praktiken wie z.B. Astrologie, Okkultismus, Spiritismus, Parapsychologie, Paramedizin, UFOs etc. 2) All diese Vorstellungen, Lehren und Praktiken haben gemein, dass sie die Existenz von Phänomenen, Kräften und Wesen voraus setzen, die mit einem naturwissenschaftlichen Weltbild und damit mit der wissenschaftlichen Weltanschauung des Marxismus-Leninismus nicht vereinbar sind. 3) Abergläubische Vorstellungen – vor allem im Bereich der Paramedizin – stellen im schlimmsten Fall eine lebensbedrohliche Gefahr dar und müssen daher bekämpft werden. 4) Der Aberglaube in seinen unterschiedlichen Formen in westlich-kapitalistischen Gesellschaften kann als Reaktion auf die Krise des kapitalistischen Gesellschafts- und Wirtschaftssystems betrachtet werden und ist dem System grundsätzlich immanent. 5) Gleichzeitig dient der Aberglaube, gleichsam als ‚Opium für das Volk‘, der herrschenden Klasse in kapitalistischen Ländern zur Ablenkung von gesellschaftlichen Unzumutbarkeiten (Massenarbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit etc.).

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6) Der Aberglaube wird von den Machthabern kapitalistischer Länder systematisch zur Legitimierung von aus marxistischer Sicht überholten gesellschaftlichen Zuständen genutzt (Disziplinierungsfunktion). 7) Skrupellose Geschäftemacher und Betrüger nutzen die Leichtgläubigkeit und Verzweiflung der Bevölkerung in den kapitalistischen Ländern aus, um aus abergläubischen Vorstellungen Profit zu schlagen. 8) Irrationalismus und Aberglaube weisen eine geistige Verwandtschaft zum Nationalsozialismus bzw. Faschismus auf. 9) Abergläubische Vorstellungen sind Bestandteil bzw. Ausdruck einer bourgeoisen, bürgerlichen, revanchistischen und daher politisch gefährlichen Ideologie. 10) In der DDR wird bzw. ist dem Aberglauben durch die Orientierung an der wissenschaftlichen Weltanschauung des Marxismus-Leninismus und den gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen der Nährboden entzogen.

Diese Kernbehauptungen zählen zu einer idealtypischen Argumentationsstruktur, die den öffentlichen Diskurs der DDR zum Themenbereich des Paranormalen wesentlich prägt und sich immer weiter stabilisiert. Wie gezeigt, gab es Variationen dieses Musters vor allem im Hinblick auf die Beurteilung der Parapsychologie in der Frühphase des Diskurses sowie in Bezug auf die Gewichtung politisierender Argumente im Zusammenhang mit unterschiedlichen Stoßrichtungen des Diskurses (nach ‚innen‘ und nach ‚außen‘). Letzteres erlaubt eine grobe Einteilung des Diskursverlaufs in zwei Phasen. Im gesamten Textkorpus, der für die Analyse des öffentlichen Diskurses der DDR zu den interessierenden Themen untersucht wurde, fanden sich lediglich zwei systematische Abweichungen von der aufgezeigten Argumentationsstruktur. Zum einen handelt es sich dabei um Lexika-Einträge zum Thema Parapsychologie und zum anderen um Artikel aus der Zeitschrift Sputnik.

Sonderfälle: ‚Parapsychologie‘ in DDR-Lexika und die Zeitschrift ‚Sputnik‘

Die Frage nach der Bestimmung von Begriffen im Zusammenhang mit dem Untersuchungsfeld ist insofern von besonderem Interesse, da davon ausgegangen werden kann, dass in Lexika das konsensuelle, offizielle Wissen einer Gesellschaft repräsentiert wird. Um zu überprüfen, in welcher Weise die interessierenden Themen in DDR-Lexika aufgegriffen wurden, wurden acht verschiedene Lexika (darunter befanden sich allgemeine, philosophisch-politische und wissenschaftliche Lexika), die in der DDR erschienen sind,

132 systematisch mithilfe einer Stichwortliste44 durchgesehen.45 Dabei zeigte sich, dass die entsprechenden Begriffe gemäß der dargelegten themenbezogenen Argumentations- bzw. Deutungsstruktur im öffentlichen Diskurs der DDR in der Regel nicht nur in kritisch- ablehnender Weise behandelt, sondern darüber hinaus oftmals auch mit (gesellschafts- )politischen bzw. ideologischen Argumenten verknüpft wurden. In Meyers Neues Lexikon aus dem Jahr 1972 heißt es bspw. zu dem Begriff ‚Aberglaube‘: „[…] Formen des Glaubens, die von den kirchlichen Glaubensnormen abweichen. Aberglauben ist der Glaube an die Wirkung übernatürlicher, den Gesetzen der Natur und Gesellschaft zuwiderlaufender Kräfte und meistens an die Möglichkeit, diese Kräfte beeinflussen zu können. […] In der Klassengesellschaft ist der Aberglaube (wie auch die Religion) ein Produkt der Ausbeutung und Unterdrückung der Volksmassen, ein illusorisches Mittel, das eigene Leben mithilfe abergläubischer Praktiken zu verbessern. In der sozialistischen Gesellschaft stirbt der Aberglaube deshalb allmählich ab. Aberglaube ist grundsätzlich negativ zu bewerten; er führt oft zu schweren seelischen und körperlichen Schäden.“ (S. 27) In nahezu identischer Weise wird im Zusammenhang mit dem Begriff ‚Aberglaube‘ in dem Kleinen Wörterbuch der Marxistisch-Leninistischen Philosophie (1982) argumentiert. Hier ist zunächst zu lesen, dass von einem „wissenschaftlichen Standpunkt jeder Glaube an übernatürliche Kräfte und ihr Wirken A[berglaube]“ (Buhr & Kosing 1982: 13) sei. Ferner würden in der „antagonistischen Klassengesellschaft alle Formen des A[berglaubens], die verfeinerten wie die primitiven, von den herrschenden Klassen gefördert“ (ebd.). Die wissenschaftliche Weltanschauung des Marxismus-Leninismus hingegen ist, so heißt es weiter, „unvereinbar mit allen Formen des A[berglaubens] und führt einen entschiedenen Kampf gegen seine Überreste“ (ebd.). Als weiteres Beispiel soll der Begriff ‚Astrologie‘ dienen. In Meyers Neues Lexikon (1972) wird die Astrologie definiert als „Irrlehre, die behauptet, aus der Stellung von Himmelskörpern das Schicksal von Menschen vorhersagen zu können“ (S. 552f.). Die Astronomie lehne jegliche Form von Astrologie ab, da letztere nicht auf einer wissenschaftlichen Grundlage basiere. Dennoch sei die Astrologie „keineswegs ausgerottet“, sie diene „häufig zu betrügerischer Ausnützung abergläubischer Menschen und hat heute in den imperialistischen Ländern immer noch größere Verbreitung“ (ebd.). Interessanterweise findet sich der Verweis auf die Verbreitung der Astrologie in „imperialistischen Ländern“ in einer früheren Ausgabe des Lexikons (1961) noch nicht. Hier endet der Eintrag mit dem Satz:

44 Die Stichwortliste enthielt diverse Begriffe im Zusammenhang mit dem Themenfeld, z.B. Aberglaube, Astrologie, Okkultismus, Parapsychologie, UFOs etc.

45 Ich möchte an dieser Stelle Nahrin Lahdo für ihre umfangreichen Recherchen danken. 133

„Sie ist jedoch keineswegs ausgerottet, sondern dient häufig zu betrügerischer Ausnützung abergläubischer Menschen“ (S. 437). Das gleiche Muster lässt sich für den Begriff ‚Okkultismus‘ feststellen. In der Ausgabe des Meyer-Lexikons aus dem Jahr 1964 (Band 6) wird Okkultismus zunächst wie folgt definiert: „[…] theoretische und praktische Beschäftigung mit bestimmten materiellen bzw. psychischen Erscheinungen, die von den Anhängern des O[kkultismus] (Okkultisten) in absichtlicher oder unbeabsichtigter Verkennung ihrer natürlichen Erklärbarkeit auf sog. übersinnliche Kräfte zurückgeführt werden.“ (S. 251) Anschließend ist zu lesen: „Die Kritiklosigkeit mancher Menschen wird dabei von vielen Okkultisten in ihrem persönlichen Interesse mißbraucht.“ (Ebd.) In der 1974er Ausgabe des Lexikons (Band 10) wird aus diesem Satz: „Die Kritiklosigkeit mancher Menschen wird dabei von vielen Okkultisten in ihrem persönlichen oder einem bestimmten gesellschaftlichen Interesse (z.B. in kapitalistischen Staaten die Ablenkung von der Klassenauseinandersetzung) mißbraucht.“ (S. 259) Hier zeigt sich also, dass im Meyers-Lexikon – und dies deckt sich mit der allgemeinen Tendenz des öffentlichen Diskurses der DDR – Themen aus dem Bereich des Paranormalen ab Mitte der 1960er Jahre zunehmend im Rahmen politischer Kritik an westlich-kapitalistischen Gesellschaften genutzt wurden. Dies gilt innerhalb des Meyer-Lexikons bemerkenswerterweise jedoch nicht für die Parapsychologie, die in der Ausgabe von 1964 definiert wird als Versuch „einer – meist unwissenschaftlichen – Erklärung der sog. okkulten psychischen Erscheinungen, wie ‚Hellsehen‘, ‚Gedankenlesen‘, ‚Telepathie‘ usw. Da diese Erscheinungen auf Betrug oder Zufall beruhen, ist die P[arapsychologie] äußerst anfechtbar. Neuerdings werden in den USA, in der UdSSR und anderen Ländern Untersuchungen zur radiobiologischen Kommunikation unternommen.“ (S. 407) Aus dem letzten Satz wurde in der Ausgabe von 1974 dann: „Gegenwärtig wird von einigen marxistischen Wissenschaftlern die Frage aufgeworfen, inwieweit derartige Phänomene [gemeint sind Telepathie und Hellsehen] tatsächlich existieren und wie sie in diesem Falle durch Rückführung auf ihre physikalenergetischen und physiologischen Grundlagen materialistisch erklärt werden können.“ (466) Hier wird die Existenz parapsychologischer Phänomene also nicht grundsätzlich abgelehnt, die Parapsychologie nicht direkt dem Aberglauben zugerechnet und auch politisch- ideologische Bemerkungen fehlen. Dies gilt auch für den Eintrag zum Stichwort ‚Parapsychologie‘ in dem Wörterbuch der Psychologie aus dem Jahr 1976, erschienen im VEB Verlag . Parapsychologie wird hier definiert als „Gebiet der Psychologie, das sich mit parapsychischen Erscheinungen befasst, soweit sie nicht als Betrug entlarvt werden 134 können“ (S. 383). Durch wissenschaftliche Experimente sei es gelungen, „für das Gedankenlesen eine Erklärung durch die Wirkung ideomotorischer Phänomene zu finden, bei denen die Muskelgefühle, der Muskelsinn, eine wesentliche Rolle spielen“ (ebd.). Besondere Verdienste in der Aufklärung parapsychischer Erscheinungen hätten sich die sowjetischen Gelehrten Bechterew, Tarchanow und Wasiljew erworben. Und weiter heißt es: „Auf der Grundlage materialistischer Positionen richten sich die Forschungen gegenwärtig auf das Auffinden von Sinnesorganen, die bisher nicht bekannt sind, und auf die Suche nach bisher unbekannten Leistungen bekannter Organe.“ (Ebd.) Diese Lexika-Einträge fallen in auffälliger Weise aus dem bisher für diese Zeit rekonstruierten Argumentationsstrategien in Bezug auf die Parapsychologie im öffentlichen Diskurs der DDR heraus und bleiben auch eine Ausnahme. Von zentraler Bedeutung scheinen in diesem Zusammenhang parapsychologische Untersuchungen sowjetischer Wissenschaftler zu sein. Ähnlich wie schon in den frühen Zeitungsartikeln von Kurt Klein zur Parapsychologie (vgl. Abschnitt 5.2), wird auch hier die Frage aufgeworfen, inwiefern sich parapsychologische Phänomene mithilfe eines materialistischen Wissenschaftsverständnisses erklären lassen könnten. Eine völlig andere Stoßrichtung weist der bereits zitierte Eintrag über Parapsychologie von Otto Prokop im Jahr 1978 im Wörterbuch Philosophie und Naturwissenschaften auf. Die Bezeichnung Parapsychologie, schreibt Prokop, „soll dem Bereich des Okkulten wissenschaftliches bzw. naturwissenschaftliches Gepräge verleihen“ (S. 702). Vor allem in den USA und in der BRD hätte eine Schicht „auch gebildeter Menschen neues Vertrauen zur P[arapsychologie] gewonnen“ (S. 702f.) Dabei sei es unverkennbar, dass „mit der qualitativen Verschärfung der allgemeinen Krise des Kapitalismus das Kolportieren und Propagieren parapsychologischen Gedankenguts durch die Massenmedien kapitalistischer Länder enorm angestiegen ist“ (ebd.). Anschließend heißt es: „Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen den zunehmenden Krisenerscheinungen des Kapitalismus und dem Aufblühen irrationalen Mystizismus in einer Vielfalt von Spielarten.“ (S. 703) Alle bisherigen Versuche, den Nachweis für parapsychologische Phänomene zu erbringen, seien gescheitert. Anders als in den zuvor skizzierten Lexika-Einträgen ordnet Prokop die Parapsychologie – dem im öffentlichen Diskurs üblichen Argumentationsmuster folgend – dem Bereich des Irrationalen und dem Mystizismus zu und beschreibt sie überdies als eine Auswirkung krisenhafter Erscheinungen des Kapitalismus. Auch die parapsychologischen Experimente sowjetischer Wissenschaftler kommentiert Prokop kritisch:

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„Bemühungen sowjetischer Autoren (u.a. Wassilijew 1962) sind in der Sowjetunion selbst auf erheblichen Widerstand gestoßen […]. Bei diesen Bemühungen um die P[arapsychologie] ging es um die Aufklärung bisher noch nicht erforschter, aber vermuteter bzw. bekannter Phänomene vom materialistischen Standpunkt aus.“ (S. 704) Der Leningrader Physiologe Leonid Leonidowitsch Wassiliew46 (1891-1966) hatte ab den 1920er Jahren parapsychologische Experimente durchgeführt, in denen es vor allem um Telepathie und Mentalsuggestion ging. Von 1950 bis 1960 leitete er das Laboratorium für allgemeine Physiologie des Nerven- und Muskelsystems am I.P.-Pawlow-Institut für Physiologie der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Auch in dieser Zeit beschäftigte sich Wassiliew mit parapsychologischen Fragestellungen (vgl. Werthmann 1966: 151f). 1966 wurde im Auftrag des IGPPs eines seiner Bücher zu parapsychologischen Themen ins Deutsche übersetzt,47 das allerdings in der DDR nicht erhältlich war. In dem Sammelband Medizinischer Okkultismus – Paramedizin bringt Prokop wesentlich deutlicher als in dem Lexikon-Eintrag zum Ausdruck, was er von den Experimenten und Veröffentlichungen Wassiliews hält. Er schreibt: „Mit dem Buch des Leningrader Parapsychologen Vasiliev haben wir uns ausgiebig befaßt. Es ist abergläubisch und von uns und von Birjukow eindeutig kritisiert worden – in durchaus angemessener Weise. Es ist voll von Glaubensbefangenheit und bietet nichts, was das Problem nach der positiven Seite hin fördern könnte.“ (Prokop, Hoffmann & Schirmer 1973: 72) Und an anderer Stelle: „Das Werk von Vasiliev verrät eine außergewöhnliche Glaubensbereitschaft für okkultistische Dinge und die Darstellung im ganzen eine geringe Vertrautheit mit naurwissenschaftlicher Denk- und Arbeitsweise.“ (S. 73) Zusammenfassend lässt die Analyse der Begriffsbestimmungen von Themen im Zusammenhang mit dem Untersuchungsfeld in DDR-Lexika zwei Schlüsse zu: Zum einen zeigt sich, dass es – entgegen der allgemeinen Tendenz jener Zeit im öffentlichen Diskurs – zumindest phasenweise eine gewisse Offenheit gegenüber der Parapsychologie gab, wobei jedoch stets betont wurde, dass parapsychologische Phänomene auf der Grundlage eines materialistischen Wissenschaftsverständnisses untersucht bzw. erklärt werden müssten. In diesem Zusammenhang scheinen parapsychologische Untersuchungen in der UdSSR eine Rolle gespielt zu haben, auf die in den entsprechenden Lexikon-Einträgen verwiesen wird.

46 Es existieren im Deutschen unterschiedliche Schreibweisen (Vasiliev, Wassilijew und Wassiliew). Für den 1966 in deutscher Übersetzung erschienenen Band Experimentelle Untersuchungen zur Mentalsuggestion wurde die Schreibweise Wassilew verwandt, die daher auch im Folgenden benutzt wird.

47 Wassiliew, Leonid (1965): Experimentelle Untersuchungen zur Mentalsuggestion. Telepathie, Telepathische Hypnosen. Bern, München: Francke. 136

Zum anderen wird erneut die zentrale Rolle Otto Prokops im Hinblick auf die Bewertung entsprechender Themen im öffentlichen Diskurs der DDR deutlich. Der Umstand, dass Prokop als Autor von Einträgen zu einschlägigen Begriffen in einem Wissenschafts-Lexikon in Erscheinung tritt, unterstreicht den Expertenstatus, den er inzwischen in Bezug auf Themen aus dem Bereich des Paranormalen in der DDR innehatte. Entgegen vorheriger lexkalischer Bestimmungen ordnet Prokop die Parapsychologie in einem von ihm verfassten Lexikon- Artikel dem Irrationalismus bzw. Aberglauben zu, bringt den Glauben an paranormale Phänomene in Zusammenhang mit dem kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem und beurteilt parapsychologische Experimente, die in der UdSSR stattfanden, als nicht ernst zu nehmen.

Eine weitere Abweichung von der dargelegten dominierenden Argumentationsstruktur in Bezug auf das Paranormale im öffentlichen Diskurs der DDR bildet die sowjetische Zeitschrift Sputnik, einer Art Digest der sowjetischen Presse, die in der DDR in deutscher Übersetzung erschien und Artikel aus den Bereichen Politik, Kultur, Wissenschaft und Gesellschaft enthielt. 1988 wurde der Sputnik in der DDR verboten, da in ihm Artikel über Stalin und den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt erschienen waren, die der SED- Führung missfielen. Im Sputnik findet sich eine ganze Reihe von Artikeln über Themen aus dem Bereich des Paranormalen, wie z.B. über Parapsychologie, UFOs, Nahtoderfahrungen, Wünschelruten etc., die sich in Bezug auf die Rahmung der entsprechenden Themen zumindest teilweise von der Logik des üblichen Argumentationsmusters im öffentlichen Diskurs unterscheiden. Auch im Sputnik werden paranormale Phänomene überwiegend kritisch betrachtet, doch im Gegensatz zu den üblichen Bezugnahmen im DDR-Diskurs finden sich hier auch Artikel, die von der Existenz bestimmter Psi-Phänomene ausgehen oder sie kontrovers diskutieren. In einem Artikel über Telepathie aus dem Jahr 1968 heißt es bspw., dass die Übertragung von Gedanken als „radiobiologische Kommunikation“ verstanden werden könne. Die Parapsychologie wird als ein „Teilgebiet der Psychologie“ verstanden, dem sich viele bedeutsame russische Gelehrte wie z.B. „Alexander Butlerow, Wladimir Bechterew, Konstantin Ziolkowski, Alexander Leontowitsch, Ilja Metscnikow“ (Gussew 1968: 59) gewidmet hätten. Anschließend folgt ein Interview mit dem ukrainischen Psychologen Alexej Gubko, der sich laut Sputnik seit Jahren mit dem Studium der Parapsychologie beschäftigt und Hypothesen zur Erklärung von Telepathie-Phänomenen formuliert: „Viele Wissenschaftlicher sind sich darin einig, daß das menschliche Gehirn elektromagnetische Wellen ausstrahlt, wie zum Beispiel Radiosender. Das

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Gehirn anderer Menschen nimmt gleich einem Radioempfänger diese Strahlen auf und ‚entziffert‘ sie. Das mag seltsam scheinen, doch in der Hypothese liegt nichts Übernatürliches, denn es ist bewiesen, daß unser Körper von elektrischer Energie durchdrungen ist. […] Ich möchte noch bemerken, daß die elektromagnetische Theorie nicht die einzige in der Parapsychologie ist. Die meisten Wissenschaftler neigen heute zu der Ansicht, daß das Gehirn besondere, noch unbekannte Energie ausstrahlt, die der materielle Träger der parapsychologischen Information ist.“ (S. 60f.) In einer Sputnik-Ausgabe aus dem Jahr 1977 wird der sowjetische Physiker Lew Wentschaunas interviewt, der nach eigenen Angaben als Leiter eines Labors für Bioinformation parapsychologische Erscheinungen untersucht: „Wir haben die Strahlung der Hände von Menschen untersucht, die durch Handauflegen heilen können, ferner den biophysikalischen Effekt bei Wünschelrutengängern und den Einfluß des biologischen Feldes des Menschen auf Gewächse.“ (Sputnik 1977: 93) Auf die Frage, warum er sich mit derartigen Forschungen beschäftigt, antwortet Wentschaunas: „Viele Wissenschaftler haben sich wegen ihrer Ungeduld von uns abgewandt: Wenn es allzu lange keine Antwort auf ein Rätsel gibt, beginnt man sich zu ärgern. Die Lage wurde dadurch verschlimmert, daß auf unserem Gebiet auch gewissenlose Forscher und auch einfach Spekulanten tätig sind, die versuchen, Kapital aus diesen geheimnisvollen Erscheinungen zu schlagen. Die Art und Weise, wie wirkliche Wissenschaftler darauf reagieren, ist da nur natürlich. Und trotzdem sind wir der Ansicht, daß die Forschungen fortgesetzt werden müssen. Man darf da nicht sofort alles ausstreichen, darunter auch das eventuelle Vorhandensein einer besonderen und vorläufig noch unerklärlichen Verbindung zwischen Lebewesen. Denn zahlreiche Tatsachen sprechen für eine solche Verbindung.“ (Ebd.) Diese beiden Beispiele mögen genügen, um einen zentralen Unterschied zwischen der üblichen Bezugnahmen innerhalb des öffentlichen Diskurses der DDR und dem Sputnik zu Themen aus dem Bereich ‚Psi‘ zu verdeutlichen. Während üblicherweise die Existenz paranormaler Phänomene grundsätzlich negiert wird und sie daher dem Aberglauben zugerechnet werden, kommen im Sputnik neben kritischen Berichten auch sowjetische Wissenschaftler zu Wort, die die Existenz entsprechender Phänomene nicht von vornherein abstreiten, parapsychologische Forschungen betreiben und Erklärungshypothesen für mögliche PSI-Effekte entwickeln. Auch eine politisch-ideologische Rahmung des Themas findet sich im Sputnik kaum. Insgesamt lässt sich in der Zeitschrift ein gewisses Meinungsspektrum in Bezug auf die interessierenden Themen ausmachen, welches sich ansonsten im öffentlichen Diskurs der DDR – abgesehen von den dargelegten Ausnahmen in der Anfangszeit der DDR – nicht finden lässt. Dies deutet einen grundlegenden Unterschied

138 im Umgang mit entsprechenden Themen zwischen der DDR und der UdSSR an, der an anderer Stelle vertieft werden soll. Die besondere Rolle des Sputnik im DDR-Diskurs über Themen rund um das Paranormale wurde indes auch von Zeitzeugen bestätigt, die sich zu DDR-Zeiten für entsprechende Themen interessierten und ihm Rahmen der Untersuchung interviewt wurden. So berichtet bspw. Herr Schulze48, dass er zu DDR-Zeiten aus dem Sputnik erfahren habe, dass in der Sowjetunion parapsychologische Forschungen stattfanden und dass er die Berichterstattungen des Sputnik zu derartigen Themen im Vergleich zur DDR-Presse insgesamt als „liberal“ und „locker“ empfunden hat. Hier ein Auszug aus dem entsprechenden Interviewtranskript49: „Und dann kam auch noch das Thema auf, dass sich die Russen mit diesen ganzen parapsychologischen Phänomenen beschäftigen. Das hab ich schon gewusst, also über Westsender und wie gesagt auch über den Sputnik, wo ja auch viele Themen doch sehr locker und liberal behandelt wurden, wo ich gesagt hab: „Mensch, musste mal schauen.“ (Interview 11: 38) Diese Sonderrolle des Sputnik wird auch von einem anderen Interviewpartner bestätigt, der angibt, dass hier gelegentlich Artikel zu grenzwissenschaftlichen Themen zu lesen waren:

„Was man hier auf Deutsch bekommen hat, ist die russische Zeitschrift Sputnik. […] Die gab es in vielen Sprachen und die hat wirklich interessante Artikel gehabt aus der Sowjetunion, aber auch aus anderen Ländern. Und die haben sich auch grade so was Kryptozoologie betrifft doch etwas mehr mit solchen Themen gemeldet, was jetzt hier in Richtung russischer Yeti ging […]. Aber auch grenzwissenschaftliche Bereiche wie Spukthemen waren da wohl ab und zu mal drin. Und was alles zum Wahrsagen gehört, also solche grenzwissenschaftliche Bereiche hat man dort durchaus auch in Artikeln mal angesprochen.“ (Interview 2: 9f.)

5.3 Wichtige Diskursereignisse

Neben den allgemeinen Bezugnahmen innerhalb des öffentlichen Diskurses der DDR und dem Diskursverlauf sollen im Folgenden noch einige Personen oder Ereignisse im Zusammenhang mit dem Untersuchungsfeld behandelt werden, die größere öffentliche Aufmerksamkeit erzielten und damit weitere wichtige Bezugspunkte zur inhaltlichen Rekonstruktion des öffentlichen Diskurses über das Paranormale in der DDR liefern.

48 Name geändert.

49 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurden die Auszüge aus den Transkripten vereinfacht. So wurden z.B. Betonungen, Pausen, alltagssprachliche Äußerungen (wie etwa ‚ähm‘) und Füllwörter entfernt sowie grammatikalische Satzkorrekturen vorgenommen (vgl. hierzu Kruse 2015: 358f.). 139

Die Wanderausstellung ‚Aberglaube und Medizin‘ (1959-1963)

Als erstes soll die Wanderausstellung Aberglaube und Gesundheit in den Blick genommen werden. Das Ziel der vom Deutschen Hygienemuseum organisierten Ausstellung war es, gegen abergläubische Vorstellungen und dem Glauben an Naturheilkunde und Volksmedizin gesundheitliche Aufklärung auf einer medizinisch-naturwissenschaftlichen Basis zu leisten und verschiedene „Erscheinungen des Aberglaubens als Gefahr für Gesundheit und Leben des Einzelnen in der Gemeinschaft erkennbar werden zu lassen“ (Nierade 2012: 66). Die Ausstellung besuchte zwischen 1959 und 1963 sämtliche Bezirke und viele Kreise der DDR und setzte sich auf Ausstellungstafeln in leicht verständlicher Form kritisch mit Themen wie Astrologie, Wahrsagen, Pendeln, Radiästhesie, Augendiagnose, Homöopathie etc. auseinander. Die Vorbereitungen für die Ausstellung begannen bereits 1957. Dazu zählte eine Umfrage unter Kreis- und Bezirksärzten über die Verbreitung „des Aberglaubens und der Kurpfuscherei“ in den verschiedenen Regionen der DDR. Eine entsprechende Mitteilung findet sich in einer Ausgabe der Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Gesundheitswesen vom 30. Dezember 1957. Hier ist zu lesen: „Am 13. Juni 1957 wurden vom Deutschen Hygienemuseum alle Kreisärzte angeschrieben und um Unterstützung bei der geplanten Ausstellung ‚Aberglaube und Kurpfuscherei in der Medizin‘ gebeten. Es gingt dabei vor allem um die Feststellung besonders charakteristischer Fälle von Aberglauben und Kurpfuscherei (z.B. praktische Fälle der Kurpfuscherei) und der besonderen Art und Weise, in der sich Aberglaube und Kurpfuscherei in einzelnen Kreisgebieten äußern (Astrologie, Besprechen, Magnetopathie, Reliquien- und Wunderglauben, Amulette, Wunderheilungen, Kartenlegerei, Gesundbeten, Heilmittelschwindel usw.).“ (Mitteilung vom 05. Dezember 1957: 4) In der DDR-Presse finden sich zahlreiche Ankündigungen und Besprechungen der Ausstellung, wie z.B. in der Neuen Zeit vom 19. Juli 1959. Der Aberglaube sei seit Jahrhunderten eine ernste Gefahr, heißt es hier, der sich in den Köpfen der Menschen unheilvoll eingenistet habe und dessen Auswirkungen „vielen schon schweres Leid gebracht“ (Neue Zeit 1959: 8) hätten. Da es auch in der DDR noch verschiedene Formen des Aberglaubens gäbe, sei die Ausstellung sehr zu begrüßen. Weit gefährlichere Ausmaße als in der DDR nehme der Aberglaube in der BRD an, wo er „bewußt gezüchtet“ werde, „um die Menschen von den weltpolitischen Ereignissen abzulenken“ (ebd.). So brächten in Westdeutschland etwa „80 Zeitungen und Zeitschriften regelmäßig Wochenhoroskope, Sensationsartikel über Hellseher, geheimnisvolle Erdstrahlen und Spukereignisse“ (ebd.). Im Sozialismus hingegen herrsche das Ziel, „jeden Menschen vor geistigen und körperlichen Schäden zu bewahren“, weshalb es notwendig sei, „den unsinnigen Aberglauben auszurotten“ 140

(ebd.). Die 85 Bildtafeln, zahlreiche Modelle sowie umfangreiches Material der Ausstellung würden beweisen, „welche große Gefahr im Aberglauben liegt“ (ebd.). Einer der wissenschaftlichen Berater der Ausstellung war Otto Prokop. Prokop war intensiv in die Konzeption der Ausstellung eingebunden, lieferte Informationen, Ausstellungsmaterial und nahm bis kurz vor dem Beginn der Ausstellung noch Korrekturen an dem Ausstellungsmanuskript vor, wie es bspw. aus einem Brief Prokops an Rolf Thränhardt, den wissenschaftlichen Direktor des Hygienemuseums, vom 20. September 1958 hervorgeht. Interessanterweise bietet Prokop in dem Brief auch an, weiteres Ausstellungsmaterial von der Deutschen Gesellschaft Schutz vor Aberglauben zu beschaffen – ein weiterer Beleg für seine enge Verbindung zu der Vereinigung (vgl. Prokop 1958: 2). Wie stark Prokops Einfluss auf die Gestaltung der Ausstellung war, zeigt sich deutlich am Beispiel Homöopathie. Die Darstellung der Homöopathie in der Ausstellung folgte Vorlagen von Prokop, der sich bereits zuvor als vehementer Kritiker der Homöopathie hervorgetan hatte (vgl. Nierade 2012: f). Auf einem der Ausstellungsplakate50 über Homöopathie ist unter der Überschrift „Dicke Dummheit – dünne Dosis“ zu lesen: „Bereits mit einer einzigen Mahlzeit nehmen wir oft schon die millionenfache Menge jener Substanzen auf, die von Pfuschern in ihren Verdünnungen zu Heilzwecken verordnet werden. Die angeblich so wirksame Verdünnung ist also völlig illusorisch.“ (Bild 59) Derartige Darstellungen der Homöopathie riefen mehrere homöopathisch praktizierende Ärzte auf den Plan, die Korrekturen von aus ihrer Sicht falschen Darstellungen verlangten, wie bspw. der Arzt Rudolf Stengel aus Dresden, der in einem Brief vom 19. Dezember 1959 an Walter Friedeberger, den stellvertretenden Minister für Gesundheitswesen, schreibt: „Inzwischen habe ich beim Studium eines Leporello der Ausstellung ‚Aberglaube und Gesundheit‘ die Berichte bestätigt gefunden, nach denen diese Ausstellung hinsichtlich der Homöopathie grobe Entstellungen enthält, die durch historisch nachweisbare Tatsachen widerlegt werden können.“ (Stengel 1959: 6) Stengel legt ausführlich seine positive Sicht auf die Homöopathie dar und kommt zu dem Ergebnis, dass „nach den Grundsätzen des Dialektischen Materialismus […] die Aufgabe nicht darin bestehen [kann], die Homöotherapie zu verwerfen, weil sie zu den z.Zt. anerkannten Theorien im Widerspruch steht, sondern darin, eine naturwissenschaftliche haltbare Theorie zu suchen, die auch den bei der Homöopathie beobachteten Eigentümlichkeiten gerecht wird“ (S. 3).

50 Die Plakate der Ausstellung sind nicht mehr im Original, sondern nur noch als Leporello vorhanden. Dankenswerterweise durfte der Autor die Abbildungen der Plakate im Archiv des Deutschen Hygienemuseums abfotografieren. Die Abbildungen der Plakate in dem Leporello sind durchnummeriert. Im Folgenden wird als Quellenbeleg lediglich die Abbildungsnummer angegeben. 141

Er fordert, die Behandlung der Homöopathie aus der ansonsten begrüßenswerten Ausstellung heraus zu nehmen. Sollte sich die ablehnende Haltung gegenüber der Homöopathie, wie sie sich in der Ausstellung zeige, durchsetzen, drohe im schlimmsten Fall sogar die Flucht homöopathisch praktizierender (und anderer) Ärzte aus der DDR. Stengel schreibt: „Wenn bestimmte Personen es für angebracht halten, sich solcher Entstellungen für ihre Zwecke zu bedienen, kann das als ihre Privatangelegenheit angesehen werden. In dem Augenblick aber, wo diese Entstellungen vom ‚Zentralinstitut für medizinische Aufklärung‘51 übernommen werden, bekommen sie amtlichen Charakter. Und damit kommen wir zur politischen Seite der Angelegenheit. Gewiß ist die Zahl der homöopathischen Ärzte, Tierärzte Apotheker usw., die an der Homöopathie interessiert sind, in der DDR nicht allzu groß; aber ich glaube nicht, daß dieser Umstand für unsere Partei ein Grund sein könnte, diese Gruppe von den Grundsätzen der Bündnispolitik auszunehmen und insbesondere die Prinzipien des Kommuniqués des Politbüros über die Arbeit mit der medizinischen Intelligenz nicht zur Anwendung zu bringen. […] Muß es nicht das sich anbahnende Vertrauen der medizinischen Intelligenz – nicht etwa nur der homöopathischen Ärzte – zu unserer Regierung beeinträchtigen, wenn hier ohne politische Notwendigkeit hinsichtlich der Perspektiven im Sozialismus Ausnahmen gemacht werden?“ Wird dadurch nicht ein vermeidbarer Anlaß zur Republikfluch geschaffen?“ (S.6) Friedeberger schien mit diesem Brief überfordert zu sein, er leitete ihn in einem vertraulichen Schreiben an Prokop mit der Bitte um argumentative Unterstützung weiter. Friedeberger schreibt: „Darf ich von Ihnen einige Ratschläge erhalten, wie ich verschiedene der doch sichtlich fehl gehenden Ausführungen richtig stellen soll?“ (Friedeberger 1959: 1) Prokop wiederum antwortet prompt. Die Androhung der Republikflucht sei ein „altes Kampfmittel der Homöopathen“ (Prokop 1960: 1). Es stehe jedem homöopathischen Arzt in der DDR frei, Beweise für die Homöopathie zu erbringen, da dies aber „seit vielen Jahren nicht geschieht, muß man annehmen, daß sämtliche Versuche und Untersuchungen letztlich negativ verlaufen“ (ebd.). An anderer Stelle schreibt Prokop: „Sehr verehrter Minister. Was hier unterbreitet wird ist gerade das, was wir als Pseudo-Wissenschaft ablehnen. Ein Staat, der ein Höchstmaß an naturwissenschaftlichem Materialismus auf seine Fahnen geschrieben hat, kann unmöglich Konzessionen machen.“ (S. 2) Letztlich setzte sich Prokop durch. Die Ausstellungstafeln zur Homöopathie blieben unverändert. Diese Episode demonstriert einmal mehr die Bedeutung und den Einfluss Otto Prokops im Zusammenhang mit dem öffentlichen Umgang mit Themen aus dem Untersuchungsfeld. Gerade erst hatte er seine Stelle am Institut für Gerichtliche Medizin der Humboldt-Universität zu Berlin angenommen, schon gab er gegenüber dem Ministerium für

51 Gemeint ist das Deutsche Hygienemuseum. 142

Gesundheitswesen und dem Deutschen Hygienemuseum die Argumentationslinien im Umgang mit diversen Themen vor. Nierade bewertet Prokops Rolle im Zusammenhang mit der Darstellung der Homöopathie in der Ausstellung Aberglaube und Gesundheit wie folgt: „Der Einfluss Prokops auf das Schicksal der Homöopathie und der homöopathischen Praktiker in der DDR wurde nie wieder so deutlich wie in der Hilflosigkeit des Gesundheitsministeriums gegenüber den Fragen zur Homöopathie im Rahmen der Ausstellung. Das Beispiel zeigte, dass die naturwissenschaftlichen Intentionen der Kritik Prokops an der Homöopathie eine gesellschaftspolitische Dimension erreicht hatten, ohne dass dies seine erklärte Absicht gewesen war.“ (Nierade 2012: 70) Dem kann ausnahmslos zugestimmt werden, wobei in diesem Zusammenhang hinzugefügt werden sollte, dass letzteres – neben der Homöopathie – im gleichen Maße auch für andere Themen in Verbindung mit dem Untersuchungsfeld gilt. Auch hier erreichte Prokops Kritik – ob von ihm gewollt oder nicht – gesellschaftspolitische Bedeutung. Gesellschaftspolitische Bedeutung wurde indes auch in der Wanderausstellung den behandelten Themen zugemessen, wie bspw. ein Ausstellungsplakat zum Thema Astrologie verdeutlicht, auf dem zu lesen ist: „Die Astrologen reden den Menschen ein, ihr Leben werde nicht von ihnen selbst, sondern von den Sternen und ihrer Stellung am Himmel bestimmt. Die Flut astrologischer Veröffentlichungen duldet man in Westdeutschland nur zu gerne, denn sie entfremdet die Menschen einer nüchternen Betrachtung der Wirklichkeit und lenkt sie vor allem von den politischen Tagesereignissen ab.“ (Bild 46) Eindringlichen Warnungen vor den Gefahren verschiedener Formen abergläubischer Vorstellungen wurde die wissenschaftliche Weltanschauung des Marximus-Leninismus gegenüber gestellt. Mit der Methode des dialektischen Materialismus entschleiert der Mensch, heißt es auf einem anderen Plakat, „immer mehr ‚Geheimnisse der Natur‘. Denn jede Erscheinung in Natur und Gesellschaft ist auf irgend eine natürliche materielle Ursache zurück zu führen und ist selbst wiederum Ursache für andere Erscheinungen. Der Glaube an ‚jenseitige‘ und überirdische Kräfte ist Unsinn.“ (Bild 20)

Otto Prokop vs. Hans Bender

Hans Bender war seinerzeit international einer der bekanntesten Parapsychologen, sein Name war und ist bis heute untrennbar mit „dieser Disziplin verbunden und steht für die Untersuchung außersinnlicher Wahrnehmung ebenso wie die von Spuk- und Hellsehphänomenen“ (Lux 2013: 343). Nachdem Bender 1950 in Freiburg im Breisgau das außeruniversitäre Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene (IGPP) 143 gegründet hatte, welches sich bis heute mit parapsychologischen Fragestellungen beschäftigt, gab er ab 1957 die Zeitschrift für Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie heraus und erlangte über zahlreiche Publikationen über Parapsychologie und unzählige Medienauftritte internationale Bekanntheit. Benders Psychologie-Professur an der Universität Freiburg wurde 1967 zu einem Lehrstuhl für Psychologie und Grenzgebiete der Psychologie umgewandelt, in dessen Rahmen er auch über Parapsychologie lehrte. Damit war ihm die akademische Verankerung der Parapsychologie in Westdeutschland gelungen. Der Lehrstuhl wurde bis 1998 von Johannes Mischo, einem Schüler Benders, weitergeführt und anschließend in einen Lehrstuhl für Pädagogische Psychologie umgewandelt (vgl. S. 349). Den Höhepunkt seiner Popularität erlangte Bender in der ersten Hälfte der 1970er Jahre, als u.a. die Auftritte Uri Gellers ein größeres öffentliches Interesse an der Parapsychologie weckten (vgl. S. 343). Bis zu seinem Tod im Jahr 1991 hatte er die Leitung des von ihm gegründeten Instituts inne. Benders Wirken war von Beginn an immer wieder (teilweise massiver) Kritik innerhalb der Wissenschaftsgemeinde und in den Massenmedien ausgesetzt. Kritiker warfen ihm vor, bei der Untersuchung von Spukfällen und vermeintlich paranormal begabten Personen zu wenig auf Täuschungen und Manipulationen zu achten und vorschnell zugunsten der Existenz paranormaler Phänomene zu urteilen. So schreibt bspw. der Jurist Herbert Schäfer, ehemals Mitglied der Deutschen Gesellschaft Schutz vor Aberglaube, zu der Prokop in enger Verbindung stand, in seinem Band Poltergeister und Professoren aus dem Jahr 1996 über Bender: „Aus der Sicht der beobachtenden Dritten verhielt sich Bender über Jahrzehnte hindurch eigenartig, auffällig und ohne Rücksicht auf seinen eigenen Ruf, wenn es um die Ehre der Parapsychologie ging. Diesem hohen Ziele zuliebe sah er manche Dinge anders als andere Menschen. Bei seinen Schilderungen heilt er sich an seine Wahrheit, auch wenn Außenstehende und Ketzer ihm vorwarfen, er habe wichtige Tatsachen verschwiegen oder falsch dargestellt. […] Bender hat wiederholt den Eindruck erweckt, er habe eindeutig objektive Unrichtigkeiten und Unwahrheiten wider jede Logik und Vernunft und entgegen jeder anderslautenden Beweisbarkeit behauptet.“ (Schäfer 1994: 14f) Im öffentlichen Diskurs der DDR stand Bender als wichtigster Vertreter der deutschsprachigen Parapsychologie im Zentrum der Kritik, er galt gleichsam als Personifizierung des Aberglaubens mit akademischem Antlitz. Wie in Abschnitt 5.2 bereits angedeutet, festigte sich dieses Bild von Bender jedoch erst ab Ende der 1950er Jahre – zuvor wurde Hans Bender als wissenschaftlicher Pionier und die Parapsychologie als Gegenspieler des Aberglaubens dargestellt. Von entscheidendem Einfluss für diese veränderte Bewertung der Person Hans Bender im öffentlichen Diskurs der DDR war sicher Otto Prokop, der Bender 144 bereits in seinem Buch Wünschelrute, Erdstrahlen und Wissenschaft von 1957 massiv kritisierte und, wie am Beispiel der Wanderausstellung Aberglaube und Medizin gezeigt, im Zusammenhang mit Themen aus dem Bereich des Paranormalen einen erheblichen Einfluss auf die öffentliche Meinung in der DDR hatte. Prokop kannte Bender nicht nur durch dessen Schriften, sondern auch durch seine Gutachtertätigkeit vor Gericht. Wie Prokop selbst fungierte auch Bender immer wieder als Gutachter bei Gerichtsverhandlungen, die einen Bezug zu parapsychologischen Themen hatten – so z.B. im Fall des ‚Hellsehers‘ Willi Endres, der in einem Mordfall von der Lokalpolitik gebeten wurde, Hinweise auf den Täter zu liefern und dabei auf einen Unschuldigen verwiesen hatte, der Endres infolgedessen verklagte. Nach einem Freispruch nach der ersten Verhandlungsrunde legte die Staatsanwaltschaft Berufung ein. In zweiter Instanz fungierten Hans Bender und – von der DEGESA vermittelt – Otto Prokop als Gutachter. Bender wies vor Gericht darauf hin, dass es aus seiner Sicht Hellsehen zwar in der Tat gebe, das Verhalten von Endres jedoch fahrlässig sei. Prokop hingegen vertrat die Position, dass paranormale Fähigkeiten wie Hellsehen nicht existieren. Er könne sich „über die Leichtgläubigkeit dieses Gelehrten [Bender] nur wundern“ (zitiert nach Schneider 2015: 42) Endres wurde schließlich zu einer Gefängnisstrafe von einem Monat verurteilt (vgl. ebd.). Danach hatte die DEGESA versucht, Bender als Sachverständiger vor Gericht auszuschließen. Die Vereinsführung verschickte Schreiben an alle Generalstaatsanwälte der Bundesrepublik und forderte sie dazu auf, Bender zukünftig nicht mehr als Gutachter zu konsultieren, da er „dem Aberglauben verfallen sei“ (S. 48). Der diskreditierende Ton des Schreibens veranlasste Bender zu einer Klage. Im entsprechenden gerichtlichen Verfahren bekam er Recht: „Das Gericht enthielt sich des Urteils über die aufgeworfenen naturwissenschaftlichen Fragen, verkündete aber, dass durch das Rundschreiben der Tatbestand der ‚Ehrkränkungen und Verleumdungen des Klägers‘ erfüllt sei. Der Degesa wurde verboten, die im Rundschreiben gemachten diffamierenden Aussagen zu wiederholen. Bender verzichtete auf Schadensersatzansprüche, dafür wurde die Degesa verpflichtet, die Kosten des Prozesses zu tragen und den Urteilstenor allen Adressaten des Rundschreibens sowie den Mitgliedern des Vereins mitzuteilen.“ (Schneider 2015: 49) Die Auseinandersetzungen Benders mit der DEGESA wurden auch in der DDR-Presse kommentiert, wie z.B. in der Berliner Zeitung vom 14. Juni 1959, die über Bender schreibt, dass er vor allem dadurch bekannt geworden sein, „daß er sich bereits mehrmals vor Gerichten mit übersinnlichen Deutungen von Vorgängen blamierte, die klügere Gauner als er geschickt arrangiert hatten“ (Berliner Zeitung 1959: 8).

145

In den folgenden Jahren waren Bender und das von ihm gegründete IGPP – wie in Abschnitt 5.2 bereits angedeutet – immer wieder Thema in der DDR-Presse. Einen Höhepunkt erlangte die kritische Berichterstattung über Bender Anfang bis Mitte der 1970er Jahre, also zu einem Zeitpunkt, als Bender in der BRD ein hohes Maß an Bekanntheit und Popularität genoss. In der Regel wurde ihm vorgeworfen, selektiv bzw. manipulativ mit Untersuchungsdaten umzugehen und gegenüber Personen mit angeblichen PSI-Fähigkeiten allzu leichtgläubig zu sein. So heißt es bspw. in einer Rezension zu Benders Band Unser sechster Sinn (1971a) in der Weltbühne mit dem Titel Nachhineintreffer, Typ ‚Bender‘: „Der Nachhinentreffer ist ein typisches Produkt der Kritikschwäche. Es gibt neue Beispiele dafür! Mit seinem Buch ‚Unser sechster Sinn‘ hat der Parapsychologe Prof. Dr. Dr. Bender (Freiburg/BRD) seinem Fach den Grabstein gesetzt. Es enthält Nachhineintreffer… Wir wissen indessen, daß er die Parapsychologie damit nicht totmachen konnte. Sie blüht immer wieder auf, wenn die alten Schandtaten vergessen sind. Sie werden später verschwinden und neue ‚Tatsachen‘ ins Feld geführt. Aus dem Wust der alten Veröffentlichungen wird dann das eklektisch ausgewählt, was in das ‚neue‘ Konzept paßt.“ (Mittler 1972: 479. Hervorhebungen wie im Original)

Dass sich ein Ordinarius für Psychologie mit Themen wie der Parapsychologie beschäftige, sei „unerträglich“ (S. 480), schließt die Rezension. „Geister, Wunder, Aberglauben. In Filmen, Illustrierten und sich wissenschaftlich gebenden Buchproduktionen der BRD und manch anderer kapitalistischer Länder“, heißt es in einem Artikel aus dem Jahr 1975 über Bender, „‚spukt‘ es mehr und mehr. Die fatale Wirtschaftslage läßt an Gespenster glauben. Als Spukforscher tut sich besonders Prof. Dr. Bender hervor“ (Kramer & Tanzer 1975). Im Folgenden werden in dem Artikel verschiedene bekannte Fälle, die als mögliche parapsychologische Phänomene diskutiert wurden, beschrieben, darunter der ‚Spukfall‘ von Rosenheim oder die ‚Gedankenfotografien‘ von Ted Serios. Zu Letzterem ist zu lesen: „Diesmal ist das große Medium ein Gelegenheitsarbeiter und Trinker aus Chicago, von dem die Parapsychologen behaupten, er brauche nur ein Pappröhrchen vor die Linse der Kamera zu halten, und schon seien seine Gedanken nach Betätigung des Verschlusses der Kamera auf dem Film. Wer glaubt das? Antwort: Die Professoren für Parapsychologie Bender aus Freiburg, Neuhäusler aus München und Tennhaef aus Utrech.“ (Ebd.)

Bender und seinen parapsychologischen Kollegen wird anschließend gleichsam als ‚rationaler Gegenspieler‘ Otto Prokop gegenüber gestellt. Prokop habe bewiesen, dass die Gedankenfotografien von Ted Serios auf Tricks und Täuschungen basieren, auch die vermeintlichen paranormalen Fähigkeiten von anderen ‚Medien‘ wie dem Hellseher Gerard

146

Croiset52 seien Zaubertricks. PSI-Phänomene existierten letztlich „nur in der Phantasie der Parapsychologen“ (ebd.). Noch pointierter wird das antagonistische Verhältnis zwischen Bender und Prokop in einem Artikel aus der Urania (eine Zeitschrift der gleichnamigen Organisation) beschrieben. Hier heißt es zunächst, dass der moderne Aberglaube in Form der Parapsychologie in der BRD eine unerwartete Renaissance erfahren habe, was sich an diversen Umfrageergebnissen zeige. Bender sei einer der „namhaftesten Vertreter der Parapsychologie“ und sein Wirken „symptomatisch für den derzeitigen Stand der Parapsychologie in Westeuropa“ (Waltz 1975a: 35) Es sei kaum vorstellbar, dass die Parapsychologie in der BRD Gegenstand ernstgemeinter Untersuchungen an einer Universität ist. „Uns scheint es unbegreiflich“, schreibt der Autor weiter, dass „heute neben den meist in großem Umfang betriebenen Naturwissenschaften, deren Leistungen Anerkennung erfahren, die Parapsychologie weiterhin ihre Existenz an Universitäten kapitalistischer Länder behaupten kann“ (ebd.). Die Parapsychologie sei dabei letztlich eine Erscheinung der bürgerlichen Ideologie, „eine der vielen Spielarten des Klassenkampfes, die mit ihrer Spitze gegen die wissenschaftliche Weltanschauung der Arbeiterklasse gerichtet ist“ (ebd.). Die „Machwerke der Parapsychologen“ im Westen hätten neben möglichst großen Profiten vor allem ein Ziel: „Die Erzeugung und Verfestigung eines falschen gesellschaftlichen Bewußtseins, das die Werktätigen daran hindert, die entscheidenden Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten ihres gesellschaftlichen Lebens zu erkennen und gemäß dieser Erkenntnis bewußt und zielstrebig zu handeln.“ (S. 36) Die Parapsychologie wird hier in deutlicher Weise zum Politikum gemacht und Hans Bender als wichtigster Vertreter der Parapsychologie gleichsam zum Advocatus Diaboli abergläubischer Vorstellungen als Ausdruck einer überholten Gesellschaftsform. Demgegenüber stehen die DDR und Otto Prokop: „In der DDR hat sich besonders der Direktor des Instituts für gerichtliche Medizin der Humboldt-Universität zu Berlin, Prof. Dr. Otto Prokop, mehrfach in sehr pointierter Weise mit dem modernen Aberglauben auseinander gesetzt und z.B. in jüngster Zeit die Psycho- und Aurafotografie als Schwindel entlarvt. Zusammen mit anderen Wissenschaftlern kommt er immer wieder zum gleichen Ergebnis: Die Parapsychologie hat noch keinen überzeugenden Beweis für die Übersinnlichkeit ihrer ‚PSI-Kräfte‘ erbringen können. Parapsychologie hat eben nichts mit Wissenschaft zu tun, aber auch gar nichts!“ (S. 37)

52 Gerard Croiset (1909-1980) war ein holländischer ‚Hellseher‘, der durch zahlreiche öffentliche Auftritte internationale Bekanntheit erlangte. U.a. versuchte Croiset, der Polizei mittels Hellsehen Hinweise im Zusammenhang mit ungeklärten Verbrechen zu geben. Eine gewisse Bekanntheit erlangte auch eine Reihe von Präkognitions-Experimenten (die sog. Platz-Experimente), die u.a. von Hans Bender mit Croiset durchgeführt wurden (siehe etwa Pollack 1965). Croisets angebliche Psi-Fähigkeiten werden bis heute kontrovers diskutiert. 147

Die Gesellschaftsordnung der DDR basiere auf einer „fundierten wissenschaftlichen Weltanschauung, dem Marxismus-Leninismus, der prinzipiell davon ausgeht, daß die Welt erkennbar ist“ (ebd.) Zur weiteren Erschließung der Welt trage die Beschäftigung mit Okkultem nichts bei, auch wenn „dieser Aberglaube aus der Wissenschaft einige Begriffe entlehnt“ (ebd.). Die Rivalität zwischen Bender und Prokop wird also nicht nur als wissenschaftliche Auseinandersetzung zweier Gelehrter um Fragen der Parapsychologie dargestellt, sondern letztlich zum politischen Systemkampf hochstilisiert: Auf der einen Seite steht Bender als Vertreter der Parapsychologie und damit der überholten Klassengesellschaft der BRD, auf der anderen Seite Prokop als Vertreter der Aufklärung, verwirklicht in der am Marxismus- Leninismus orientierten Gesellschaftsordnung der DDR. Bender und Prokop selbst gaben ihrer Auseinandersetzung zwar nicht in dieser Weise eine gesellschaftspolitische Dimension, befeuerten entsprechende Rahmungen jedoch immer wieder durch Äußerungen mit politischer Stoßrichtung, etwa wenn Prokop, wie bereits zitiert, schreibt, dass „mit der qualitativen Verschärfung der allgemeinen Krise des Kapitalismus das Kolportieren und Propagieren parapsychologischen Gedankenguts durch die Massenmedien kapitalistischer Länder enorm angestiegen ist“ (Prokop 1978: 702). Bender wiederum vermutete im Zusammenhang mit seinen gerichtlichen Auseinandersetzungen mit der DEGESA, dass Prokop hier als „ideologischer Berater“ (Bender 1960: 4) fungiert habe. Die Argumentation der DEGESA richte sich eindeutig nach der dialektisch-materialistischen Theorie der Kausalität und der Erkenntnis, nach welcher „Kausalität und Gesetz objektiv in der materiellen Welt existieren, die Kausalität in den Dingen selbst, in der Materie wirkt und die Kategorien der Logik die Beziehungen und den Zusammenhang der realen Dinge wiedergeben“ (S. 5). Da die Parapsychologie nach „transzendierenden Fähigkeiten des Psychischen“ frage, sei sie „für den Leninisten nicht nur ein Verstoß gegen die Wissenschaft, sondern auch ein Verstoß gegen den doktrinären Atheismus, denn solche Erscheinungen müssen ihm als ‚übernatürlich‘ erscheinen“ (ebd.). Die Annahme parapsychologischer Phänomene sei vor dem Hintergrund des Marxismus-Leninismus eine „Ketzerei, gegen die sich der antireligiöse Affekt richtet und die verdächtigt wird, als ‚Opium für das Volk‘ ein Ausbeutungsmittel der herrschenden Klasse in der kapitalistischen Gesellschaft zu sein“ (ebd.). Demnach erfolgte die Politisierung der Parapsychologie nicht nur anhand von Zuschreibungen im DDR-Diskurs, sondern wurde zumindest teilweise auch von Prokop und Bender selbst vorgenommen (vgl. Schneider & Anton 2014: 169).

148

Erich von Däniken

Der 1935 in der Schweiz geborene Bestsellerautor Erich von Däniken hat wie zuvor kein anderer die Vorstellung populär gemacht, dass die Erde in der Vergangenheit von Außerirdischen besucht wurde.53 Däniken begann seine Laufbahn zunächst im Hotelgewerbe, sein langjähriges Interesse an der Frage nach außerirdischem Leben und der Archäologie führten ihn aber schließlich zur publizistischen Tätigkeit, mit der er weltberühmt werden sollte (vgl. Richter 2015: 348). In zahlreichen Büchern, die in über 30 Sprachen übersetzt wurden und eine Auflage von über 60 Millionen erreichten, entwickelte Däniken die These, dass Außerirdische in grauer Vorzeit auf die Erde kamen, sich mit den Menschen kreuzten und der Menschheit Wissen und Fähigkeiten vermittelten, die menschliche Zivilisationen und Kulturen überhaupt erst möglich gemacht hätten (vgl. Döring-Manteuffel 2008: 224-226). Aufgrund ihrer technischen und zivilisatorischen Überlegenheit seien die Außerirdischen von den Urmenschen für Götter gehalten worden. Dementsprechend hält Däniken diverse Göttermythen als Beschreibungen von Kontakten zwischen Menschen und Außerirdischen. Verschiedene archäologische Funde und antike Bauwerke seien ohne die Annahme des Einflusses einer außerirdischen Zivilisation nicht erklärbar, beispielsweise der Bau der Pyramiden von Gizeh, der den Menschen jener Zeit ohne fremde Hilfe nicht möglich gewesen wäre (siehe etwa von Däniken 1968). Dänikens Thesen werden aufgrund mangelnder Belege und unwissenschaftlicher Methoden von der Mehrheit der Wissenschaftsgemeinde abgelehnt, was dem kommerziellen Erfolg seiner Bücher jedoch keinen Abbruch tat. Ganz im Gegenteil: Däniken inszeniert sich erfolgreich als tabubrechender Außenseiter, der die Mainstream-Wissenschaft vor sich her treibt, überkommene Dogmen hinterfragt und damit als Wissenschafts-Revolutionär agiert. Bereits mit seinem ersten Buch Erinnerungen an die Zukunft (1968) hatte Däniken großen Erfolg. Das Buch startete zunächst mit einer Auflage von 6000 Exemplaren. Vier Jahre später waren bereits 1,3 Millionen Stück verkauft. Der Erfolg Dänikens lässt sich dabei, so Döring- Manteuffel, auch durch die Zeitgeschichte erklären: „Däniken nutzte den schon seit Jahren zwischen den Blockmächten anhaltenden Wettlauf ins All, der 1969 mit der sensationellen Mondlandung der Amerikaner seinen Höhepunkt erreichte. Dieses Ereignis rief bei der Bevölkerung zwar Ängste, aber auch Neugier hervor. In den folgenden Jahren bestätigte sich, was Däniken früh erkannt hatte. Es ging um Grundsätzliches: die Zukunft der Menschheit, utopische Entwürfe zur Erneuerung der Welt, die

53 Die These von dem Besuch Außerirdischer auf der Erde in der Frühgeschichte der Menschheit wird auch als Prä-Astronautik oder Paläo-SETI bezeichnet. 149

Zerstörung der Natur und die Angst vor der übermächtigen Technik.“ (Döring- Manteuffel 2008: 223).

Die Bücher Erich von Dänikens waren in der DDR nicht erhältlich. Gleichwohl lösten sie im öffentlichen Diskurs der DDR eine erhebliche Resonanz aus. Däniken galt hier als Inbegriff des Irrationalismus, des Absurden, des Mystizismus. Sein Erfolg sei nur vor dem Hintergrund der (gesellschafts-)politischen Situation in kapitalistischen Gesellschaften zu verstehen. So ist zum Beispiel in einem Leitartikel über Däniken aus der Neuen Zeit vom 18. Februar 1970 zu lesen: „Warum berichten wir von alledem und noch dazu in einem Leitartikel? Weil Dänikens haarsträubende Absurditäten nachweislich in einem westlichen Lande mehr als in allen anderen eine gläubige Gemeinde von etlichen hunderttausend Anhängern gefunden haben, und noch dazu, wie es heißt, besonders in dessen ‚gebildeten Schichten‘: in Westdeutschland. Das ist entlarvend! Es beweist ein weiteres Mal, welch epidemische Wirkungen eine mehr als zwanzig Jährige Politik gezeigt hat, die – im Interesse der Monopole und um deren anachronistische Herrschaftsgelüste zu schützen – eine bewußte Volksverdummung betrieben hat und betreibt.“ (Neue Zeit 1970: 1)

Angesichts derartiger Kritik erscheint es recht verwunderlich, dass die Verfilmung von Dänikens Buch Erinnerungen an die Zukunft aus dem Jahr 1970 im April 1973 in den DDR- Kinos anlief. Der Film greift die zentralen Thesen des Buches auf geht der Frage nach, ob die Menschheit in ihrer Frühphase Besuch von außerirdischen Intelligenzen erhalten und diese identifizierbare Spuren hinterlassen haben. Verschiedene antike Bauwerke, Zeichnungen, Fresken und Ähnliches liefern für Däniken eindeutige Beweise dafür, dass es sich zumindest bei einigen Göttern alter Kulturen in Wahrheit um außerirdische Besucher handelte. In dem Zulassungsprotokoll zu dem Film des Ministeriums für Kultur vom 18. Dezember 1972 ist eine bemerkenswerte Einschätzung zu lesen: „Es wäre also verfehlt, diesen Film als sensationell zu bezeichnen, auch kann er nicht den Anspruch erheben, wissenschaftlich zu sein, er ist in einem interessanten Sinne journalistisch, indem er unter einem großen Aufwand verschiedene Dinge zeigt, die die These des Films, es habe auf der Erde außerirdischen Besuch gegeben, belegen soll […] Über seinen utopischen Charakter hinaus hat der Film aber einen kulturhistorischen Wert, indem die grandiosen Kulturleistungen des Menschen anschaulich verdeutlicht werden. Der Film gibt so Anstöße zum Nachdenken über die Entwicklung der Menschheit, trägt zur Entwicklung der Phantasie junger Menschen bei, fördert den Forschungs- und Wissensdrang, indem er uns bekannte Dinge unter einem neuen Aspekt zeigt.“ (Schmidt 1972: 3)

Insgesamt werde der Film, heißt es in dem Protokoll weiter, „aufgrund seiner interessanten Problematik und der Fülle des optisch ausgezeichneten Materials […] auch bei uns das Interesse der Zuschauer finden“ (ebd.). In dem Protokoll finden sich darüber hinaus einige 150

Hinweise für die Öffentlichkeitsarbeit im Zusammenhang mit dem Film. Er sollte nicht als Dokumentarfilm, sondern als „utopischer Film“ bezeichnet werden, der „keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit“ erheben könne (S. 1). Außerdem sollten die Verweise auf die Bücher Dänikens entfernt werden. Die Entscheidung, Dänikens Film in den DDR-Kinos zu zeigen, zog heftige Kritik nach sich, vor allem von dem DDR-Archäologen Burchard Brentjes (1929-2012). In der Jungen Welt vom 11. Mai 1973 schreibt Brentjes: „Ein neuerdings vom Progress-Filmbetrieb in der DDR verbreiteter Film zwingt zur Stellungnahme und Warnung, denn dieser Film propagiert eine moderne Ersatzreligion, die ‚Dänikitis‘. Sie ist, wie jede Religion, wissenschaftsfeindlich, und ihre angeblichen Beweise sind Fälschungen, Verfälschungen und offene Lügen.“ (Brentjes 1973a)

Der Erfolg von Däniken sei ein Ergebnis der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, in der die Angst vor einem Atomkrieg und vor Wirtschaftskrisen weit verbreitet sei, wodurch „die Hoffnung auf Hilfe durch übermenschliche Kräfte“ (ebd.) entstehe. Vor diesem Hintergrund sei es völlig unverständlich, warum Dänikens Film in den DDR-Kinos zu sehen sei: „Die Umgestaltung unserer Kinotheater in Bethallen des neuen Kultes ist ein Verstoß gegen alle Prinzipien unserer sozialistischen Gesellschaft: Sein Inhalt ist Religion, seine Argumente sind falsch und erlogen und sein Prophet ist ein psychopathischer Geschäftemacher.“ (Ebd.) In der Weltbühne vom 5. Juni 1973 legt Brentjes nach. Unter dem Titel Spinnen oder Denken kritisiert er erneut die Entscheidung, den Film ins Programm zu nehmen. Däniken sei ein mehrfacher Millionär und ein Produkt des „verfaulenden Kapitalismus“ (Brentjes 1973b: 584), seine Bücher reine Phantasie, die keinerlei wissenschaftliche Erkenntnisse erhalten. Die Freigabe des Films sei unverständlich und verantwortungslos, da dadurch „bei manchen ein wissenschaftsfeindliches, antimarxistisches Weltbild gefördert wird!“ (Ebd.) Brentjes empfahl, den Film „einer Wissenschaftlergruppe vorzuführen, die diese Legenden der Lächerlichkeit preisgeben und an ihre Stelle echtes Wissen“ setzen (ebd.). In ganz ähnlicher Weise argumentieren Horst Hoffmann und Wilhelm Hempel, Mitglieder des Präsidiums der Astronautischen Gesellschaft der DDR, in einem Artikel in der Wochenpost: Dänikens Lehren seien antimarxistisch und wissenschaftsfeindlich. Er habe eine „Religion der Technologie [geschaffen], deren Prophet er selbst sei (Hoffmann & Hempel 1973: 17). Im Grunde genommen bestünde kein Anlass, auf die Phantasien von Däniken einzugehen, „wenn sie auf ihr Ursprungsland beschränkt blieben“ (ebd.). Die Entscheidung, den Film in der DDR zu zeigen, sei „offenkundig daneben gegangen“ (ebd.).

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Die heftige Kritik an der Freigabe von Erinnerungen an die Zukunft in der DDR blieb nicht ohne Folgen: Schon nach kurzer Zeit wurde der Film wieder aus dem Kinoprogramm genommen. In den folgenden Jahren blieb Erich von Däniken im öffentlichen Diskurs der DDR ein Reizthema. Neben einigen Artikeln in der DDR-Presse erschienen auch drei Bücher, die sich in kritisch-ablehnender Weise mit den Thesen Dänikens beschäftigen. Wie es sich nach der Freigabe von Dänikens Film in der DDR bereits ankündigte, erwies sich dabei im Besonderen Burchard Brentjes als scharfer Kritiker. In den Büchern Rätsel aus dem Altertum und Weiße Götter? Kultur – Werk des Menschen oder außerirdischer Zivilisationen (beide erschienen 1980) setzt er sich detailliert mit Dänikens Thesen auseinander, die für ihn Teile einer „reaktionären, ja faschistischen Ideologie mit Massenwirkung“ (Brentjes 1980a: 89) sind. In Rätsel aus dem Altertum fragt Brentjes nach der Darlegung Dänikens Vorstellung von der „Aufzucht einer intelligenten Menschenrasse“ (von Däniken 1968: 73) durch Außerirdische: „Wie weit ist diese Denkweise eigentlich noch von der entfernt, die zur ‚Ausrottung minderwertiger Rassen‘ in Auschwitz und anderen faschistischen Konzentrationslagern, zur Vernichtung ‚lebensunwerten Lebens‘ führte, wie es im Sprachgebrauch der Hitler-Faschisten hieß?“ (Brentjes 1980a: 89f.)

Däniken sei dabei bei weitem nicht der einzige, der derartige Thesen vertrete, im „kapitalistischen Buchgeschäft“ gebe es eine ganze Reihe „mehr oder weniger geschickter Schreiber, denen ein hohes Honorar für ein gelogenes Buch wichtiger ist als die Wahrheit“ (S. 91). Dies erkläre sich letztlich auch durch die gesellschaftlichen Verhältnisse im Kapitalismus: „Auf dem Boden der in permanenter Krise befindlichen imperialistischen Gesellschaft hat sich eine üppig wuchernde Trivialliteratur entwickelt, die einem sozial und ideologisch verunsicherten breiten Publikum mit Hilfe phantastischer und betrügerischer Geschichtsspekulationen ein scheinbar neues, wegweisendes, von kulturellen und wissenschaftlichen Ansprüchen getragenes ‚Weltverständnis‘ anbietet. Tatsächlich verbirgt sich dahinter, gepaart mit schlecht verhohlener Wissenschaftsfeindlichkeit, ein Komplex antihumanistischen Gedankenguts mit rassistischen, kolonialistischen und faschistoiden Aspekten.“ (S. 95)

Durch Film und Fernsehen fluteten, so Brentjes weiter, derartige reaktionäre Vorstellungen auch in die sozialistische Welt hinein. Die Antwort darauf könne nur lauten: „Noch wirksamer muß die Popularisierung unserer wissenschaftlichen Weltanschauung sein, die den Leser befähigt, Unsinn und Wissenschaft auseinanderzuhalten.“ (Brentjes 1980b: 123) Innerhalb des Sozialismus, zu dessen Idealen die Gleichheit aller Völker zählt, sei kein Platz für „‘weiße Götter‘, kämen sie nun mit dem Schilfbot aus der Vergangenheit oder mit

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Raumschiffen aus dem All, dem Jenseits oder aus der verbrecherischen faschistischen Ideologie“ (ebd.). Von dem DDR-Theologen und Orientalisten Karl-Heinz Bernhardt (1927-2004) stammt das Buch Sind wir Astronautenkinder? Die falschen Sensationen des Erich von Däniken im Lichte der biblischen Archäologie. Bernhardt, der als IM beim MfS tätig war (vgl. Krötke 2010: 61), argumentiert darin – im Gegensatz zu Brentjes – jedoch kaum politisch. Allerdings stimmt er am Ende seines Buches der politisierenden Argumentation von Brentjes im Zusammenhang mit Däniken zu: „B. Brentjes denkt in seiner Auseinandersetzung mit Dänikens Spekulationen an einen gezielten Angriff auf unser Welt- und Geschichtsbild. Die Berechtigung dieses Vorwurfs im Hinblick auf die weltanschaulichen, pseudoreligiösen Aspekte und Konsequenzen Dänikens ist uns im Detail mehr als hinreichend deutlich geworden, ebenso wie der antihumanistische Charakter seines Menschenbildes.“ (Bernhardt 1979: 126)

Bernhardt greift in seinem Buch verschiedene Thesen und Argumente Dänikens auf, versucht sie bis ins Detail zu widerlegen und damit ihre Unhaltbarkeit zu demonstrieren. Aufgrund der kenntnisreichen und meist sachlichen Kritik gilt Bernhardts Buch bis heute als wichtige Gegenposition zu den prä-astronautischen Hypothesen Dänikens. In der DDR-Presse wurde der Band überaus positiv besprochen, wie beispielsweise in der Berliner Zeitung vom 11. November 1978. Der Erfolg Dänikens sei die „spektakulärste Gaunerkomödie, die derzeit im kapitalistischen Welttheater gegeben wird“ (Czerny 1978: 13), heißt es hier. Und weiter: „Wer mehr über den Mechanismus des Däniken-Unsinns erfahren will, hat jetzt Gelegenheit dazu, denn bei uns, im Union Verlag Berlin, ist wegen des anhaltenden Däniken-Booms ein überaus interessantes Büchlein erschienen: ‚Sind wir Astronautenkinder? Die falschen Sensationen des Erich von Däniken im Lichte der biblischen Archäologie‘. Der Autor, Professor Dr. Karl-Heinz Bernhardt, ein an der Humboldt-Universität wirkender Wissenschaftler von internationalem Rang, kennt sich bestens aus. […] Auf 127 Druckseiten weist Bernhardt dem Däniken Dutzende Fälschungen und Entstellungen der Bibel und anderer Schriften nach. Mit Sachkenntnis, oft auch mit erfrischendem Spott und Ironie, läßt er uns nacherleben, wie Däniken aus alten Sagen, Legenden, Mythen Volksmärchen und ‚publikumswirksamen‘ Spekulationen sein neues Weltbild zusammengeblödelt hat.“ (Ebd.)

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Erich von Däniken im öffentlichen Diskurs der DDR in ganz ähnlicher Weise zu einem Politikum gemacht wurde wie Hans Bender und die von ihm vertretene Parapsychologie. Und analog zum antagonistischen Verhältnis zwischen Hans Bender und Otto Prokop im öffentlichen Diskurs der DDR gab es auch im Fall von Däniken, der gleichermaßen als Repräsentant wie als Symptom der kapitalistischen Gesellschaftsordnung galt, mit Burchard Brentjes und Karl-Heinz Bernhardt Gegenspieler in 153 der DDR, die als Vertreter der wissenschaftlichen Weltanschauung des Marxismus- Leninismus die Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung zu demonstrieren gewillt waren. Diese Gesellschaftsordnung mache Erscheinungen wie den Erfolg Erich von Dänikens unmöglich. Seine Spekulationen seien mit der wissenschaftlichen Weltanschauung nicht vereinbar. „‘Im dialektischen Materialismus‘, stellt Däniken fest, ‚darf es auch keine Mitwirkung der Außerirdischen geben!‘“ zitiert Christian Heermann Erich von Däniken und fügt hinzu: „Das ist einer der wenigen wahren Sätze des Schweizer Autors, denn unsere Weltanschauung stützt sich nicht auf phantastische Märchen und Spekulationen, sondern auf Ergebnisse exakter Forschung“ (Heermann 1983: 181).

Uri Geller

Uri Geller (eigentlich György Gellér), 1946 in Tel Aviv geboren, wurde in den 1970er Jahren durch zahlreiche öffentliche Auftritte weltberühmt und zählt seither zu den bekanntesten Bühnenmagiern der Welt. Geller beeindruckte ein Millionenpublikum, indem er vor laufender Kamera versteckt gemalte Zeichnungen nachmalte, Löffel verbog, kaputte Uhren wieder zum Laufen brachte, Kompassnadeln ablenkte und Dergleichen mehr. Er behauptete dabei, dass die entsprechenden Effekte nicht auf Zaubertricks, sondern auf paranormalen Fähigkeiten wie Telepathie und Psychokinese beruhen würden. Skeptiker werfen Geller Betrug vor und halten sämtliche von ihm vorgeführten Effekte für geschickt inszenierte Zaubertricks (siehe etwa Randi 1982). 1974 veröffentlichten die Physiker Russell Targ und Harold Puthoff vom Stanford Research Institute in den USA nach Experimenten mit Geller einen Artikel über dessen angebliche hellseherische Fähigkeiten in der renommierten Zeitschrift Nature (Targ und Puthoff 1974). Die Veröffentlichung des Artikels sowie dessen Inhalt wurden anschließend äußerst kontrovers diskutiert. Kritiker warfen Targ und Puthoff vor, methodisch unsauber gearbeitet zu haben und den angeblichen paranormalen Fähigkeiten Gellers gegenüber zu leichtgläubig gewesen zu sein. Geller selbst lehnt seither wissenschaftliche Überprüfungen seiner vermeintlich übersinnlichen Fähigkeiten ab. Im deutschsprachigen Raum wurde Geller insbesondere durch einen Auftritt in der Fernsehsendung Drei mal Neun am 17. Januar 1974 bekannt. Während der Sendung verbog Geller Metallbesteck und brachte defekte Uhren scheinbar nur durch seine Gedankenkraft wieder in Gang. Mehr noch: Während und nach der Sendung riefen hunderte Zuschauer beim ZDF an und berichteten, dass sich bei ihnen zu Hause ebenfalls Metallgegenstände verbogen hätten und alte Uhren plötzlich wieder funktionierten (vgl. Schellinger 2009: 167f.).

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Im öffentlichen Diskurs der DDR wurde der Auftritt Gellers im ZDF spöttisch kommentiert, wie beispielsweise in dem bereits zitierten Artikel von Helmut Waltz in der Zeitschrift Urania. Hier ist zu lesen: „2 Prozent aller erwachsenen Bürger der BRD glauben fest – wie die Erhebung 25/1973 des Allensbacher Instituts für Demoskopie ausweist – an Hexen, 18 Prozent an Spuk und 53 Prozent an das zweite Gesicht. […] Es ist daher kein Wunder, wenn irgendwelche angeblich ‚parapsychologischen‘ Leistungen in diesen Ländern fruchtbaren Boden finden. Eine geradezu ‚psychische Epidemie‘ wurde nach einer Sendung des BRD-Fernsehens am 17. Januar 1974 in der BRD, in Österreich und in der Schweiz ausgelöst. In dieser Sendung brachte das Medium Uri Geller durch sogenannte ‚Psi-Kräfte‘ Uhren, die nicht mehr gingen, zum Laufen und zerbrach eine Gabel. Von Stund an wütete in der BRD der ‚Geller-Effekt‘“. (Waltz 1975a: 34)

Sachverständige, heißt es in dem Artikel weiter, seien sich einig, dass Gellers Vorführungen lediglich auf Zaubertricks basierten und dass er nur deshalb eine hohe Popularität erlangen konnte, weil er „seine Kunststücke nicht als Tricks servierte, sondern als übersinnliche Fähigkeiten (Psi)“ (ebd.) Die Argumentation des Artikels lehnt sich deutlich erkennbar an einen Artikel von Otto Prokop (und einem seiner Studenten) aus dem September 1974 über Parapsychologie und Uri Geller an. Prokop schreibt hier: „Nach einer Erhebung des Allensbacher Instituts für Demoskopie […] glauben z.B. 18 Prozent aller Bürger der BRD an Spuk. (Ergebnis einer Untersuchung von 1958.) Dies zeigt, daß viele Menschen in diesem Staat geneigt sind, überirdische, außerirdische oder unbekannte Kräfte anzunehmen – ein Nährboden für Betrüger, Zauberer und Kurpfuscher.“ (Prokop & Berthold 1974: 211)

In diesem gesellschaftspolitischen Klima sei es einem Zauberkünstler wie Geller leicht gefallen, die Menschen zu manipulieren. „Von Beginn seiner Tätigkeit an wurde er ‚parapsychologisch‘ geprüft“, schreibt Prokop weiter, „nicht jedoch psychiatrisch, was wichtig gewesen wäre, da er auch eine fliegende Untertasse gesehen haben soll“ (ebd.). Aufgrund der zahlreichen Zuschriften von Zusehern nach der Sendung zweifeilt Prokop nicht nur an Gellers geistiger Gesundheit; wie von Waltz übernommen, spricht er von einer „psychischen Epidemie“: „Bei einer von der Zeitung ‚Bild‘ (Springer) veranstalteten Geller- Darbietung wurde gemeldet, daß 2895 kaputte Uhren wieder gingen. 290 Löffel und Gabeln verbogen sich alleine in Frankfurt, 220 in Hannover, 123 in München 72 Glühlampen platzen usw. usw. Sofort war eine psychische Epidemie ausgebrochen.“ (Ebd.) Die Kunststücke Gellers seien allesamt mit Tricks zu erklären. Die Gabeln und Löffel seien vorgeknickt und

155 zum Teil mit Quecksilbernitrat präpariert, bei den Uhren könnten alleine die Bewegung und ein Temperaturwechsel wieder einige zum Laufen bringen. In den folgenden Jahren wurde im öffentlichen Diskurs der DDR immer wieder über Uri Geller berichtet. Die Argumentation blieb im Wesentlichen gleich wie in Prokops Artikel aus dem September 1974, so z.B. in dem bereits zitierten Artikel Die Krise und die Verdunklung der Köpfe aus dem Neuen Deutschland vom 4. Juli 1981. Hier ist im Zusammenhang mit dem Auftritt Uri Gellers im ZDF zu lesen: „Wenn bei uns nur ein Varietézauberer auftritt, wird meistens schon bei der Ankündigung auf seine Geschicklichkeit und auf die Raffinesse seiner illusorischen Tricks hingewiesen. Ja, niemand soll das für ‚echte Zauberei‘ halten. Dagegen konnte in der BRD vor einigen Jahren ein geschickter Illusionist namens Uri Geller Massen von Leuten an der Nase herumführen. Er verbog Löffel und Gabeln angeblich allein durch Geisteskraft, sogar das Fernsehen wurde ihm dafür zur Verfügung gestellt. Die Leichtgläubigkeit ging so weit, daß Leute sich meldeten, die ihre krumme Gabel aus dem Tischkasten geholt hatten und nun behaupteten, Geller hätte sie per Fernsehen verbogen.“ (Kertzscher 1981: 9)

Die Ursachen für solche „Hochfluten des Aberglaubens“ (ebd.) seien dabei eindeutig in der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu suchen. Auffällig sei darüber hinaus, dass derartige „Wogen des Irrationalismus“ wie die ‚Geller-Welle‘ in der BRD „immer in den Spätzeiten der Gesellschaftsformationen in die Höhe gehen: gegen Ende der griechisch-römischen Sklavenhaltergesellschaft, gegen Ende des Feudalismus und heute in der bürgerlich-kapitalistischen Welt“ (ebd.). Zuletzt griff auch Ursula Bergmann in ihrem Buch Hexeneinmaleins von 1988 das Thema Uri Geller auf. Sie berichtet über die Experimente von Puthoff und Targ mit Geller und kommt, mit Verweis auf Friedrich Engels Text Die Naturforschung in der Geisterwelt zu dem Schluss, dass die beiden Physiker, analog dazu, wie es Engels für die Naturforscher Alfred Russel Wallace und William Crookes beschreibt, durch die „Verachtung aller Gesetze des Denkens“ (S. 28) dem Aberglauben anheimgefallen seien. Uri Geller hätte „die beiden ‚nüchternen‘ Wissenschaftler völlig in den Griff bekommen. Joseph Hanlon, ein britischer Wissenschaftler, der die Tests unbefangen betrachtete, berichtete ausführlich, wie Uri Geller es schaffte, daß seine Tester bald nur noch das sahen, was sie sehen sollten und mit Sicherheit auch sehen wollten“ (ebd.). Letztlich sei Geller lediglich ein Teil der „okkulten Welle“ (S. 29), die die Länder des Westens angesichts von Krisenerscheinungen des Kapitalismus überschwemme. Das Beispiel Uri Geller bestätigt, analog zu den Fällen Hans Bender und Erich von Däniken, was für die zweite Phase des Diskursverlaufes (Agitationsphase) festgehalten wurde: Anlässe 156 für Diskursereignisse im Zusammenhang mit dem Untersuchungsfeld waren vor allem Themen (oder wie in diesen konkreten Fällen: Personen) von außerhalb der DDR, die darüber hinaus für politische Kritik am ‚Klassenfeind‘ und zur Demonstration der Überlegenheit des sozialistischen Systems genutzt wurde. Im Gegensatz dazu spiegelt das erste Beispiel für wichtige Diskursereignisse, die Wanderausstellung Aberglaube und Gesundheit, mit ihrem Anspruch der medizinischen (Volks-)Aufklärung die Logik der ersten Diskursphase (Aufklärungsphase) wider. Am Beispiel Uri Geller zeigt sich dessen ungeachtet einmal mehr die Bedeutung Otto Prokops für den öffentlichen Diskurs der DDR im Hinblick auf Themen des Untersuchungsfeldes. Die von ihm vorgegebenen Argumente im Zusammenhang mit Uri Geller finden sich im weiteren Diskursverlauf immer wieder, insofern fungierte Prokop auch hier als wichtiger Stichwortgeber.

5.4 Das Deutungsmuster ‚Aberglaube‘

Die Kohärenz der im öffentlichen Diskurs der DDR im Zusammenhang mit dem Untersuchungsfeld hervorgebrachten Deutungen, Rahmungen und Argumentationslinien rechtfertigen den Ansatz, in diesem Zusammenhang von einem spezifischen Deutungsmuster zu sprechen, das im Folgenden skizziert werden soll. Dabei muss allerdings angemerkt werden, dass es sich hierbei nicht um eine vollständige Deutungsmusteranalyse handelt, wie von Schetsche und Schmied-Knittel (2013) vorgeschlagen, sondern lediglich um eine knappe Rekonstruktion der wesentlichen Merkmale des entsprechenden Deutungsmusters. Wie aufgezeigt, unterliegt dieses Deutungsmuster gewissen Variationen: In der Frühphase der DDR wurde bspw. die Parapsychologie ausgegliedert, politische Argumente spielten eine geringere Rolle als später etc. Dennoch lässt sich über die gesamte Zeit des Bestehens der DDR im öffentlichen Diskurs eine im Kern gleichbleibende Deutungsstruktur ausmachen, die idealtypische Modelle von bestimmten Phänomenen, Sachverhalten, Ereignissen und Personen zur Verfügung stellt. Als gesellschaftlich konstruierter Wissensbestand, der sich über Prozesse der Externalisierung, Objektivierung und Internalisierung konstituiert, erfüllt dieses Deutungsmuster grundlegend die Funktion, menschliches Erleben mit Sinn zu versehen und einen konkreten Zusammenhang zwischen Wissen, Deuten und Handeln herzustellen. Gleichsam am ‚Beginn‘ dieses Deutungsmusters – dies entspricht dem Erkennungsschema bei Plaß und Schetsche – stehen bestimmte Themen, Erfahrungen und Praktiken, die dem ‚Paranormalen‘, ‚Okkulten‘ oder ‚Übersinnlichen‘ zugerechnet und gemeinhin nicht zum Kanon wissenschaftlich anerkannten Wissens gezählt werden. Konkret gemeint sind damit 157 vor allem spezifische Begriffe und Akteursbezeichnungen, die mit dem entsprechenden Themenfeld assoziiert werden, wie z.B. ‚Parapsychologie‘, ‚UFOs‘, ‚Horoskope‘, ‚Hellseher‘, ‚Astrologe‘, ‚Heiler‘, ‚Pendel‘, ‚Wünschelrute‘, ‚Gläserrücken‘ etc. Eine Kurzbezeichnung für das mit diesen Begriffen verbundene Deutungsmuster liefert der Diskurs in der DDR über entsprechende Themen selbst: Aberglaube. Wie gezeigt, findet dieser Begriff im Zusammenhang mit dem Untersuchungsfeld häufig Anwendung und proklamiert bzw. aktiviert dabei bestimmte Situationsmodelle und spezifische Wissensbestände: Zunächst subsummiert der Begriff ‚Aberglaube‘ in negativ-wertender Weise eine ganze Reihe von Glaubens-, Erfahrungs- und Praxisformen, zu denen Themen wie Spiritismus, Astrologie, alternativmedizinische Behandlungsweisen (Homöopathie, Akkupunktur etc.), UFOs, Parapsychologie, Wahrsagepraktiken und Dergleichen zählen. All diese Themen gelten dabei als von der herrschenden wissenschaftlichen Lehrmeinung abweichend und darüber hinaus als unvereinbar mit der wissenschaftlichen Weltanschauung des Marxismus-Leninismus. Kurzum: Der Aberglaube ist falsch. ‚Falsch‘ muss hierbei in einem vierfachen Sinne verstanden werden: Der Aberglaube ist erstens falsch, da er auf irrationalen, unbewiesenen bzw. unbeweisbaren, unwahren oder erfundenen Behauptungen basiert, die mit einem wissenschaftlichen Weltbild nicht vereinbar sind. Alleine die im Zusammenhang mit paranormalen Erscheinungen behaupteten Verletzungen fundamentaler Axiome der Naturwissenschaft machen sie unmöglich. In anderen Worten: Vor dem Hintergrund einer szientistischen Weltanschauung können entsprechende Erscheinungen per se nicht Bestandteil der Wirklichkeit sein. Der Aberglaube ist zweitens falsch, da der Glaube an Dinge, die nicht real sind, illegitim, wenn nicht gar pathologisch ist. Besonders deutlich wird dies an jenen Stellen in Bezugnahmen zum Untersuchungsfeld im öffentlichen Diskurs, die unter der Verwendung von Krankheitsmetaphern den sich in der BRD ‚epidemieartig‘ ausbreitenden Aberglauben beschreiben (z.B. bei Ihme 1981: 10). Drittens gilt der Aberglaube als falsch, da er eine Gefahr darstellt. Dies wird vor allem in der ersten Phase des öffentlichen themenspezifischen Diskurses in der DDR deutlich, in der eindringlich vor den Gefahren des Aberglaubens – vor allem im Zusammenhang mit paramedizinischen Diagnose- und Heilverfahren – gewarnt wurde. An dieser Stelle sei beispielsweise an die Ankündigung der Wanderausstellung Aberglaube und Gesundheit in der Neuen Zeit vom 19. Juli 1959 erinnert, in der es heißt, das der Aberglaube seit Jahrhunderten eine ernste Gefahr sei, die „vielen schon schweres Leid gebracht“ (Neue Zeit 1959: 8) habe.

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Schließlich ist der Aberglaube falsch, da er Bestandteil einer bürgerlichen, revanchistischen, antihumanistischen, wenn nicht gar faschistischen bzw. nationalsozialistischen Ideologie ist, die von den Machthabern in der kapitalistischen Welt gezielt zur Ablenkung und Manipulation der Massen genutzt wird. Mit diesen Setzungen weist das Deutungsmuster Aberglaube in der DDR nicht nur einen deutlich szientistischen, sondern auch einen politisch-ideologischen Grundcharakter auf. Das konkrete Hintergrundwissen des Deutungsmusters Aberglaube besteht aus den zentralen Axiomen des Marxismus-Leninismus bzw. der wissenschaftlichen Weltanschauung und dem Verständnis von deren Unvereinbarkeit mit jeglicher Form des Aberglaubens. Die Vermittlung der wissenschaftlichen Weltanschauung war (im Sinne Bergers und Luckmanns Sozialisationstheorie) fester Bestandteil sowohl der primären als auch der sekundären staatlichen Sozialisation in der DDR. Der Aberglaube als Gegenfolie zur wissenschaftlichen Weltanschauung war sowohl in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen als auch im öffentlichen Diskurs der DDR ein fest verankerter Topos. Insgesamt kann das Deutungsmuster Aberglaube in der DDR als institutionalisiertes Bewertungssystem gelten, was sich in besonderer Weise im Mediensystem niederschlägt: Abgesehen von wenigen Ausnahmen gab es im Zusammenhang mit den interessierenden Themenfeldern keine konkurrierenden Deutungsmuster, wodurch mit dem Deutungsmuster Aberglaube auch die Deutungshoheit über einschlägige Themenbereiche verbunden war. Die ‚Falschheit‘ bzw. ‚Gefährlichkeit‘ des Aberglaubens bilden weiterhin die Prioritätsattribute des Deutungsmusters Aberglaube und legitimieren Forderungen nach gesteigerter Aufmerksamkeit in Bezug auf die entsprechenden Themen sowie nach gezieltem Handeln gegen den Aberglauben. Die damit verknüpften konkreten Handlungsanleitungen sind komplex und können hier nur angedeutet werden: Sie beziehen sich auf individuelles, kollektives und institutionelles Handeln: Auf individueller Ebene beispielsweise können die Handlungsanleitungen des Deutungsmusters Aberglaube in der ersten Phase des Diskurses vor allem als Warnung vor den Folgen der Anwendungen paramedizinischer Heilverfahren beschrieben werden, die, wie z.B. der fiktive Fall der Frau Reinke in dem Film Diagnose demonstrieren soll, sogar lebensbedrohlich werden können. In der zweiten Diskursphase besteht die Handlungsvorgabe für die Rezipienten des Deutungsmusters im Wesentlichen darin, sich nicht mit den entsprechenden Themen und Praktiken zu beschäftigen, da dies mit einer rational denkenden ‚sozialistischen Persönlichkeit‘ nicht vereinbar ist. In diesem Zusammenhang liefert das Deutungsmuster Aberglaube auch konkrete Emotionsvorgaben: Die dramatisch klingenden Zahlen im Hinblick auf die Verbreitung

159 abergläubischer Vorstellungen in kapitalistischen Gesellschaften sollen irritieren, erstaunen, beunruhigen, verängstigen, empören – und teilweise sicher auch belustigen. Demgegenüber soll die Bekämpfung bzw. Vernichtung des Aberglaubens mithilfe der wissenschaftlichen Weltanschauung in der DDR ein Gefühl der politisch-moralischen und intellektuellen Überlegenheit vermitteln und damit letztlich das politische System und die spezifische Wirklichkeitsbestimmung der DDR legitimieren. In der Aufklärungsphase des Diskurses wird durch die eindringlichen Warnungen vor den Gefahren des Aberglaubens ein Gefühl der Bedrohung durch ‚Kurpfuscher‘, ‚Quacksalber‘ etc. erzeugt, die mit ihren paramedizinischen Diagnose- und Heilverfahren die Gesundheit der Bevölkerung aufs Spiel setzen. Darüber hinaus werden verschiedene abergläubische Vorstellungen durch aufklärende Informationen widerlegt und der Lächerlichkeit preisgegeben. Abbildung 1 skizziert die entsprechenden Bestandteile des Deutungsmusters Aberglaube in der DDR nach den theoretischen Vorgaben von Plaß und Schetsche (2001: 528-530).

Abbildung 1: Das Deutungsmuster ‚Aberglaube‘ in der DDR

Wie aufgezeigt, taucht das Deutungsmuster Aberglaube bereits zu Beginn des öffentlichen Diskurses in der DDR auf, wobei hinzugefügt werden muss, dass es zu jener Zeit nicht völlig 160 neu entstand, sondern zumindest teilweise auf Vorläufer rekurrierte, die schon in der NS-Zeit und davor existierten – und zwar sowohl im Hinblick auf die szientistisch begründete als auch auf die politisch-ideologisch akzentuierte Ablehnung und Diskreditierung entsprechender Themen (vgl. hierzu z.B. Schellinger, Anton und Schetsche 2010). Auch die von Plaß und Schetsche (2001: 522-527) theoretisch bestimmten psychosozialen Funktionen von sozialen Deutungsmustern lassen sich für das Deutungsmuster Aberglaube in der DDR rekonstruieren. So trug das Deutungsmuster Aberglaube in der DDR in mehrerlei Hinsicht zur Reduktion von Komplexität bei, alleine schon durch die Subsummierung (und damit Entdifferenzierung) vieler verschiedener Themenbereiche unter den Überbegriff ‚Aberglaube‘. Die Unterscheidung von Aberglauben und Parapsychologie, die in der Frühphase noch getroffen wurde und eine komplexere, differenziertere Darstellung entsprechender Inhalte bedingte, tauchte, wie dargelegt, ab Ende der 1950er Jahre nicht mehr auf. Von nun an galten sämtliche Themen aus dem Bereich des Paranormalen, seien es Parapsychologie, Astrologie, UFOs oder alternative Heil- und Diagnoseverfahren, als Formen des Aberglaubens, die keiner differenzierten Betrachtung bedürfen, da ihre Grundlagen irrational und unwissenschaftlich sind. Auch in Bezug auf die Ursachen für die Verbreitung abergläubischer Vorstellungen in der Anfangszeit der DDR und in den westlichen Gesellschaften wurden einfache Erklärungen angeboten: Mangelnde Bildung, überkommene gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen, Krisenerscheinungen des Kapitalismus usw. Kontroversen über die Existenz bzw. Nichtexistenz verschiedener paranormaler Phänomene, die in westlichen Gesellschaften tausende von Büchern und Aufsätzen füllten, wurden im öffentlichen Diskurs der DDR ausgeblendet. Die Funktion der Antizipation von Situationsentwicklungen wird im Rahmen des Deutungsmusters Aberglaube insofern erfüllt, weil es ein Modell enthält, nach dem die Verbreitung des Aberglaubens in westlichen Ländern als Vorbote des Zerfalls der westlichen kapitalistischen Gesellschaftsordnung verstanden werden kann. Um dies zu verdeutlichen, sei noch einmal Kertzscher (1981) zitiert. Im Zusammenhang mit seiner Diagnose, der zunehmende Aberglaube würde den Menschen in den westlichen Ländern die „Köpfe verdunkeln“ schreibt der Autor: „Diese gegenwärtigen Zustände in Verbindung mit dem geschichtlichen Rückblick lassen jedenfalls eins erkennen: Der ganze irrationalistische Hokuspokus in der kapitalistischen Welt ist ein System ihres Verfalls, eine Erscheinung ihrer allgemeinen Krise. Mit solchen Anzeichen der Auflösung der Vernunft sind auch frühere Gesellschaftsformationen ihrem Ende entgegengegangen.“ (S. 9)

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Der Aberglaube sei also, wie diverse andere krisenhafte Erscheinungen des Spätkapitalismus auch, ein Vorzeichen für das unmittelbar bevorstehende Ableben eines überkommenen gesellschaftlichen Systems. Dieses Antizipationsmodell innerhalb des Deutungsmusters Aberglaube ist dabei eingebettet in die historizistische Geschichtsauffassung des historischen Materialismus, nach welcher historische Abläufe identifizierbaren Gesetzen folgen und die bürgerliche Gesellschaft sowie das kapitalistische Wirtschaftsmodell eine Übergangsphase seien und zwangsläufig zur klassenlosen Gesellschaft des Sozialismus bzw. Kommunismus führten (vgl. etwa Popper 1987). Die Funktion der Verständigung über Grenzsituationen ist nach Plaß und Schetsche vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sie Subjekten über einen gemeinsamen Korpus potenzieller Deutungen in zweifelhaften Situationen Verständigung ermöglicht. (vgl. Plaß/Schetsche 2001: 526; Schetsche 2000: 127f.). Das Deutungsmuster Aberglaube erfüllt diese Funktion in zweierlei Hinsicht: Zum einen stellt es ein eindeutiges Beschreibungsmodell für diverse paranormale bzw. okkulte Erscheinungen, Themen und Praktiken bereit, die – zumal vor dem Hintergrund eines materialistischen Weltbildes – hochgradig irritierend sein können. Durch die Zuweisung eines negativen ontologischen Status und der damit einhergehenden Exklusion aus dem Bereich des ‚Wirklichen‘ wird eine eindeutige Verständigung über entsprechende Themen ermöglicht: Das Paranormale ist nicht real (und damit letztlich keiner weiteren Beachtung wert). Darüber hinaus erfüllt das Deutungsmuster Aberglaube die Funktion der Verständigung über Grenzsituationen gleichsam auch wörtlich, denn es bietet Deutungen für Erscheinungen und Situationen jenseits der Landesgrenze, die aus der eigenen Wirklichkeits- und Gesellschaftsordnung leidlich erfolgreich ausgegliedert wurden. Eng mit dem letzten Aspekt verbunden ist die Funktion der Erzeugung sozialer Gemeinschaft. Das Deutungsmuster Aberglaube in der DDR ist eingebettet in das übergeordnete Überzeugungssystem der wissenschaftlichen Weltanschauung und dieses wiederum Teil des umfassenden Identitätsangebots der marxistisch-leninistischen Ideologie und der damit einhergehenden Vorstellung der sozialistischen Persönlichkeit. So heißt es beispielsweise in einem programmatischen Aufsatz über Das Menschenbild in der sozialistischen Gemeinschaft von Bernd Bittighöfer aus dem Jahr 1969 in der Einheit, der „Zeitschrift für Theorie und Praxis des Wissenschaftlichen Sozialismus“ (so der Untertitel) der SED, dass eine „im Marxismus-Leninismus wissenschaftlich begründete Weltanschauung und ein hohes sozialistisches Moralbewußtsein unabdingbare Persönlichkeitsqualitäten eines sozialistischen Menschen“ (Bittighöfer 1969: 423) seien. Das Deutungsmuster Aberglaube dekliniert diese Vorgaben anhand der konkreten Inhalte durch, die unter dem Begriff ‚Aberglaube‘

162 subsummiert werden. Dabei wurde – vor allem in der zweiten Diskursphase – nach einem dichotomen Schema eine ‚Wir-Gruppe‘ und eine ‚Sie-Gruppe‘ mit spezifischen Merkmalen bestimmt: Auf der einen Seite die DDR, der Sozialismus, die wissenschaftliche Weltanschauung, die sozialistische, rational denkende Persönlichkeit etc. und auf der anderen Seite die BRD, der Kapitalismus, der Aberglaube, die Manipulation der Bevölkerung usw. In besonders prägnanter Weise kommt dieses Schema in einem Artikel aus der Einheit aus dem Jahr 1975 zum Thema ‚Psi‘ in der bürgerlichen Ideologie“ zum Ausdruck. Hier heißt es mit Blick auf die Verbreitung des ‚Irrationalen‘ in der BRD, dass die „Infiltration spiritistischen und okkultistischen Gedankenguts“ zur Ablenkung der Menschen in der kapitalistischen Welt diene, zur „Manipulierung der Werktätigen im Herrschaftsinteresse des Kapitals“ (Waltz 1975b: 569). Darum gehe es, wenn sich „Marxisten mit dem Stellenwert der Parapsychologie oder ‚Psi‘ in der bürgerlichen Welt befassen“ (S. 571): Durch die „Praxis des Kapitalismus“ sei bewiesen, dass in einer Gesellschaft mit „zunehmender sozialer Unsicherheit, Arbeitslosigkeit, Inflation und Ansteigen der Kriminalität jedes Mittel recht [ist], um das werktätige Volk vom Klassenkamp und der sich zuspitzenden Krise abzulenken, davon, daß es selber seine Geschicke in die Hand nimmt, für seine Rechte, für ein menschenwürdiges Dasein kämpfen muß“ (ebd.).

Letztlich seien Parapsychologie, Spiritismus und Okkultismus neben Pornographie, Jesus- Kult und Hollywood Instrumente imperialistischer Manipulation, die die wahren Verhältnisse verschleierten. Dieser ‚Diagnose‘ der Situation in kapitalistischen Ländern wird die sozialistische Gesellschafsordnung gegenübergestellt, die auf „einer fundierten wissenschaftlichen Weltanschauung, dem Marxismus-Leninismus“, basiere und prinzipiell davon ausgehe, dass „die Welt erkennbar ist“ (ebd.). Mit der „Herausbildung der sozialistischen Gesellschaft“ (ebd.) sei in den sozialistischen Staaten die Grundlage für den Aberglauben entzogen. Damit sind die wesentlichen Binnenmerkmale und die psychosozialen Funktionen des Deutungsmusters Aberglaube in der DDR bestimmt. Eine andere Frage ist es, in welcher Weise diesem Deutungsmuster im öffentlichen Diskurs der DDR Geltung verschafft wurde. Davon handelt der folgende Abschnitt.

5.5 Diskursstrategien

Um einem Deutungsmuster allgemeine soziale Realität zu verleihen, ist es, unabhängig von der wissenschaftlichen oder staatlichen Anerkennung des Deutungsmusters, notwendig, dass 163 es in den Massen- und Leitmedien mit einer gewissen Selbstverständlichkeit prozessiert wird (vgl. Schetsche 2014: 128). Dazu gehört, dass spezifische Thematisierungen nicht legitimierungsbedürftig sind, Einteilungen von ‚wahr‘ und ‚falsch‘ und die Gültigkeit von Argumentationslinien als fraglos gelten und das Deutungsmuster insgesamt mit bereits anerkannten Wissensbeständen kompatibel ist. Im Zusammenhang mit dem Deutungsmuster Aberglaube ist dies zweifelsohne der Fall: Die entsprechenden Themen aus dem Bereich des Paranormalen werden wie selbstverständlich im öffentlichen Diskurs der DDR immer wieder auf die gleiche Weise gerahmt und es tauchen immer wieder die gleichen Argumente auf (vgl. 5.2). Die so generierte spezifische Deutung des Themenfeldes des Paranormalen im öffentlichen Diskurs der DDR fügt sich darüber hinaus nahtlos in die offizielle Wirklichkeitsbestimmung der DDR ein, um nicht zu sagen: sie entstammt dieser Wirklichkeitsbestimmung. Doch die Erfüllung dieser Kriterien allein genügt nicht, um ein spezifisches Deutungsmuster dauerhaft in einem Diskurs zu stabilisieren. Dazu bedarf es verschiedener Diskursstrategien, die einem Deutungsmuster immer wieder neue Aufmerksamkeit sichern und seine Legitimität garantieren. Im Fall des Deutungsmusters Aberglaube in der DDR erfüllen die damit verbundenen Diskursstrategien konkret die Funktionen, das Deutungsmuster zu legitimieren, zu stabilisieren, seine Dominanz im Diskurs sichern und gegen ‚Angriffe‘ alternativer Deutungsmuster zu verteidigen. Im Folgenden werden einige Diskursstrategien zur Durchsetzung und Absicherung des Deutungsmusters im Zusammenhang mit dem Untersuchungsfeld im öffentlichen Diskurs der DDR exemplarisch vorgestellt. Im Einzelnen geht es um Strategien der Moralisierung, Dramatisierung, Politisierung bzw. Ideologisierung, Ridikülisierung, Pathologisierung, den Ausschluss von Sprechern aus dem Diskurs und der Wiederholung.

Moralisierung

Eine häufige Diskursstrategie im Zusammenhang mit dem Untersuchungsfeld besteht darin, entsprechende Themen moralisch abzuwerten. Dies geschieht beispielsweise dadurch, dass Okkultismus, Parapsychologie und verwandte Themen in eine geistige und personelle Nähe zum Faschismus und Nationalsozialismus gebracht und dadurch moralisch diskreditiert werden, wie z.B. in einem Artikel aus der Weltbühne mit dem Titel ‚Opfer‘ Parapsychologie? aus dem Jahr 1971. Anlass war eine Artikelserie über Parapsychologie in der BRD-Zeitung Die Welt. Der Weltbühne-Autor schreibt:

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„Die Parapsychologie, die legitime Tochter des Spiritismus, Okkultismus, der Geisterseher und Rosenkreuzer sei im ‚dritten Reich‘ zugrunde gegangen, las ich kürzlich in der ‚Welt‘. Das kann doch nicht stimmen? Sie lebt noch – und war auch in den dunkelsten Zeiten des Nazismus niemals in Gefahr.“ (Mittler 1971: 1608)

Die Verbindung zwischen Parapsychologie bzw. Okkultismus und Nationalsozialismus zeigt sich für den Autor nicht nur in okkulten Affinitäten einzelner NS-Führer (z.B. Hermann Göring oder Rudolf Heß), sondern auch im Kern der nationalsozialistischen Ideologie, deren Rassenlehre der „Inbegriff mystischen Denkens überhaupt“ sei (ebd.). Die Parapsychologie habe sich dem NS-Regime erfolgreich angepasst, da ihr, wie anderen „wissenschaftsfeindlichen und scheinwissenschaftlichen Systemen“ die Neigung zu „chamäleonhafter Anpassungsfähigkeit wesenseigen sei“ (ebd.). Die „Blut-und-Bodenmystik“ der Nationalsozialisten sei alles andere als „para-feindlich“ gewesen, sondern habe Parapsychologie und Okkultismus sogar begünstigt (ebd.). Als weiteres Beispiel soll ein Auszug aus dem Band Geheimwaffe Fliegende Untertassen von Christian Heermann dienen. Heermann schreibt im Zusammengang mit seiner Meinung nach in der BRD stark verbreitetem okkultem Gedankengut: „Besonders auffällig schließlich das immer zutage tretende faschistische Gedankengut. Der prominenteste UFO-Okkultist, Professor Oberth,54 zeigte, daß Untertassen-Anhänger nicht darauf verzichten können. Für Däniken war das Entstehen der menschlichen Zivilisation ohne faschistische Praktiken undenkbar. Er darf für sich in Anspruch nehmen, als erster über den Nutzen von SS-Methoden schon in grauer Vorzeit und auf anderen Sternen nachgedacht zu haben. Manson und die Punks erkoren Hitler zum Idol und selbst die Exorzisten von Klingenberg kommen ohne ihn nicht aus. Aus der direkten Liaison von Faschistenherrschaft und Okkultismus schließlich ging der Parapsychologe Bender hervor.“ (S. 339) Bender wurde immer wieder vorgeworfen, er sei durch seine Tätigkeiten zur NS-Zeit politisch belastet. Tatsache ist, dass Bender in zu Beginn seiner akademischen Karriere am Psychologischen Institut in Bonn durch von der DFG (zuvor Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft – NDW) finanzierte Versuche zu außersinnlichen Wahrnehmungen in Konflikt mit nationalsozialistisch ausgerichteten Zeitungen und der ‚anti-okkult‘ eingestellten Abteilung Schadensverhütung der ‚Nationalsozialistischen Wohlfahrt‘ geriet (vgl. Schneider & Anton 2014: 169). Ab Oktober 1942 unterhielt Bender, der zu jener Zeit eine außerplanmäßige Professur für Psychologie an der ‚Reichsuniversität‘ Straßburg innehatte,

54 Hermann Oberth (1894-1989) war ein aus Siebenbürgen stammender Physiker und Raketentechniker, der als Begründer der wissenschaftlichen Raketentechnik, Astronautik und der Weltraummedizin gilt. Seine Erkenntnisse bildeten eine der Grundlagen der deutschen Raketen- und Raumfahrttechnik und flossen während des Zweiten Weltkrieges auch in den Bau der V2-Rakete ein. Oberth interessierte sich darüber hinaus für das UFO-Thema und setzte sich für dessen wissenschaftliche Untersuchung ein. 165 ein ‚Grenzwissenschaftliches Institut‘. Um an geeignete Literatur zum Aufbau einer grenzwissenschaftlichen Spezialbibliothek zu gelangen, kommunizierte Bender mit der SS- Forschungseinrichtung Ahnenerbe, war an dieses nach dem aktuellen Erkenntnisstand aber nie angegliedert. So lässt eine formale „Eingliederung des Straßburger ‚Grenzwissenschaftlichen Instituts‘ in das Forschungsprogramm des ‚SS-Ahnenerbe‘, wie es erstmals 1993 in einer astrologiehistorischen und- kritischen Dissertation auf sehr dünner Quellenbasis behauptet wurde, nach derzeitigem Forschungsstand nicht belegen“ (Schellinger 2012: 338). In den letzten Jahren des NS-Regimes passte sich Bender an den okkult-kritischen öffentlichen Diskurs an (vgl. Hausmann 2005-2007: 208) und wurde später, vermutlich auf den Rat seines Mentors Erich Rothacker, auch NSDAP-Mitglied. In den 1945 durchgeführten Entnazifizierungsverfahren konnte Bender „auf die gegen ihn geführte Pressekampagne vom Jahr 1935 verweisen und seinen Parteieintritt sozusagen als überlebensnotwendig deklarieren, was ihm auch geglaubt wurde und nicht abwegig war.“ (S. 214). Die von Heermann unterstellte Erfolgsbasis Benders, bestehend aus „Faschistenherrschaft und Okkultismus“, bringt also eine mehr als verzerrte Sichtweise zum Ausdruck und muss als politische Propaganda bezeichnet werden. Ein weiteres Beispiel für die moralische Diskreditierung der Parapsychologie und verwandter Themen durch ihre Verknüpfung mit Faschismus und Nationalsozialismus stellt ein Auszug aus dem Band Hexeneinmaleins von Ursula Bergmann dar. Hier ist zu lesen, dass außer Hexen und Hellsehern „Wünschelruten und Astrologie im privaten und politischen Geschäft“ (Bergmann 1988: 44) der Nazis von Bedeutung gewesen seien. In diesem Zusammenhang beschreibt sie diverse okkulte Affinitäten von Heinrich Himmler und Hermann Göring. Hitler hätte die Parapsychologie, so Bergmann weiter, nach dem ‚Endsieg‘ gar „im großen Stile fördern wollen“ (S. 45). Unklar bleibt, wie Bergmann zu dieser letzten These kommt und wie diese angeblich durch Hitler geplante Förderung der Parapsychologie hätte aussehen sollen. Als letztes Beispiel soll eine weitere Sendung des Schwarzen Kanals mit dem Titel Tischrücken und Manipulieren dienen, die am 15. Mai 1989 im DDR-Fernsehen lief. Kontext der Sendung war das Pfingsttreffen der DDR-Jugend, welches, so berichtet Karl-Eduard von Schnitzler, von Lebensfreude, Begeisterung und der Gewissheit geprägt war, dass der sozialistischen Jugend die Zukunft gehört. Völlig anders sei hingegen die Situation in der BRD. Hier flüchte die Jugend „aus ihrer tristen Gegenwart teils in die Vergangenheit, teils ins Jenseits“ (Schwarzer Kanal 1989: 1). Dies sei angesichts „fehlender Lehrstellen […]; angesichts andauernder, durch die Frühlingssonne nur wenig und vorübergehend gemilderter Jugendarbeitslosigkeit; angesichts dessen, was man der Jugend im Kapitalismus an

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Mißachtung und Minderwertigkeit“ (ebd.) zumutet, nachvollziehbar und berechtigt. Aufgrund dieser Unzumutbarkeiten wären Jugendliche in der BRD in zunehmendem Maße an Übersinnlichem interessiert, da sie hier Antworten zu finden hofften, die sie in der kapitalistischen Gesellschaft der BRD nicht fänden. Dies wird mithilfe einer recht holprigen Argumentation mit der Situation zur Zeit des Nationalsozialismus und dem Wirken des als ‚Hellseher‘ bekannten Trickkünstlers Erik Jan Hanussen55 verglichen: „Der [sic] Pendel sagt die Wahrheit und auf der ‚Schwarzen Messe‘ wird man von dem ‚Phänomen fasziniert‘ […], so fasziniert, daß die Leute imstande sind, an etwas Schlechtes zu glauben, aber selber zu glauben, daß es gut sei. Bei dieser Art mittelalterlichen Manipulierung sollte uns Älteren der Name ‚Eric Hanussen‘ einfallen: Das war in den ersten dreißger Jahren ein ‚Hellseher‘, ein ‚Wahrsager‘, ein Gaukler, der sich im ‚Übersinnlichen‘ bewegte; und so ganz nebenbei war er für den aufkommenden Faschismus tätig und half kräftig, die Menschen zu manipulieren.“ (S. 2) Am Ende der Sendung greift Schnitzler diesen Gedanken noch einmal auf, indem er fragt: „Ja, meine Zuschauerinnen und Zuschauer, hat das alles wirklich nichts miteinander zu tun: Okkultismus, Spiritismus, Neonazismus, Revanchismus? Fällt das nicht alles in die Rubrik: Manipulierung, Verführung, Ablenken von der Wirklichkeit?“ (S. 3) Das Vorhandensein und die Bedeutung derartiger Strömungen in der BRD werden schließlich auch als Beleg für die Überlegenheit des politischen Systems der DDR gewertet. So schließt die Sendung mit den Worten: „Was für eine Gesellschaft ist das, […] die ihrer Jugend Mittelalter und ‚Tausendjähriges Reich‘ zumuten können? Zumuten müssen? Und was für ein Staat der Zukunft ist das, dessen Jugend Pfingsten so feiern und so in die Zukunft blicken kann wie bei uns! Guten Abend!“ (Ebd.) Die Diskurstrategie der Verknüpfung des Bereichs des Paranormalen mit Faschismus bzw. Nationalsozialismus und die damit einhergehende Moralisierung der entsprechenden Themen können insofern als besonders bedeutsam und auch wirkmächtig angesehen werden, da der der Antifaschismus ein wesentlicher Grundpfeiler im DDR-Selbstverständnis war und das Feld des Paranormalen somit aus politisch-moralischer Perspektive gleichsam zu einem politischen Tabu wurde.

55 Erik Jan Hanussen (1889-1933), der mit bürgerlichem Namen Hermann Chajm Steinschneider hieß, war ein als ‚Hellseher‘ bekannter österreichischer Autor und Trick- bzw. Zauberkünstler, der ab den 1920er Jahren in Deutschland einige Bekanntheit erlangte. Obwohl Steinschneider Jude war, sympathisierte er mit dem Nationalsozialismus und unterstützte in seinen Schriften Hitler. Steinschneider pflegte enge und gute Verbindungen zu ranghohen Vertretern der SA, denen er teilweise auch Geld lieh. Kurz nach der Machtergreifung 1933 wurde Steinschneider von einem SA-Kommando ermordet. Die Hintergründe für diesen Mord sind bis heute nicht vollständig aufgeklärt (vgl. etwa Kugel 1998). 167

Dramatisierung

Eine weitere, sehr häufig vorzufindende Strategie im öffentlichen Diskurs der DDR im Zusammenhang mit dem Untersuchungsfeld besteht in der Dramatisierung der Bedeutung und der Gefahren des Aberglaubens – vor allem in westlich-kapitalistischen Gesellschaften. Dazu werden vor allem dramatisch klingende Statistiken zitiert, um die angeblich massive Verbreitung des Aberglaubens in der BRD und anderen westlichen Staaten zu belegen. So heißt es z.B. in einem Artikel aus dem Neuen Deutschland aus dem Jahr 1981, in der BRD seien „33 Prozent der Befragten überzeugt, daß man die Zukunft, einschließlich der Lottozahlen, sicher voraussagen könne. 12 Prozent wollen mit eigenen Augen Gespenster gesehen haben. 18 Prozent glauben an Spuk verschiedener Art. Zwei Prozent sind sicher, daß es Hexen gibt, auch heute noch. Bei rund 60 Millionen Einwohnern gibt es also in der BRD 20 Millionen, die auf Wahrsagerei vertrauen. Bei mehr als zehn Millionen Menschen spukt es. Mehr als eine Million sucht unter den Mitbürgerinnen nach Hexen.“ (Kertzscher 1981: 4)

Ein Artikel aus dem Jahr 1985 mit dem Titel Blühender Aberglaube, erschienen in der Illustrierten Für Dich, greift diese Zahlen auf: „Experten schätzen, daß heute in der BRD etwa 12.000 Parapsychologen, Hellseher, Telepathen, Hexenaustreiber und Astrologen ihr Unwesen treiben“ (Klinke, 1985: 17). Als Ursache für dieses Situation wird auch hier die Krise des Kapitalismus genannt: „Denn in einem Gesellschaftssystem, in dem des Profits wegen auf Teufel komm raus rationalisiert wird und daher Millionen Menschen für ihre Zukunft schwarz sehen, da suchen sehr viele ihr Heil im Okkulten.“ (Ebd.) Es sei schon immer so gewesen, schreibt die Autorin weiter, dass „in Krisenzeiten der Aberglaube aufblüht […]“, doch Menschen, die „all ihre Hoffnung auf ‚übernatürliche Kräfte‘ setzen, verlieren den Blick für die Realität“, dafür, dass man „Massenarbeitslosigkeit nicht mit Kartenlegen bekämpfen kann, Sozialabbau nicht mit Glaskugeln und Atomwaffen nicht mit Pendeln“ (ebd.). In einem weiteren Artikel aus dem Jahr 1985 aus dem Neuen Deutschland mit dem Titel In der BRD floriert das Geschäft mit dem Aberglauben – Teufelsaustreibung, Hexenwahn spuken in vielen Köpfen wird ebenfalls nach diesem Muster argumentiert. Repräsentative Umfragen belegten, dass in der BRD „mehr als 28 Prozent der Bürger von übersinnlichen Kräften, von Hexen und Satanspriestern überzeugt sind. Fast 20 Millionen glauben an Wahrsagerei und ziehen bei Erkrankungen eher einen ‚Wundermann‘ zu Rate als einen Arzt“ (Neues Deutschland 1985: 5). Parapsychologen, Hexenaustreiber, Astrologen und andere

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„Quacksalber“ nutzten dabei „wachsende Unwissenheit, die Angst vor Arbeitslosigkeit, Sozialabbau und Perspektivlosigkeit besonders unter der Jugend rigoros aus“ (ebd.). In gleicher Weise wird die Lage in anderen kapitalistischen Gesellschaften beschrieben, wie beispielsweise in einem Artikel aus dem Jahr 1976 aus dem Neuen Deutschland, der sich mit der Situation in Frankreich beschäftigt. Dort gäbe es, so der Autor des Artikels mit der Überschrift „Zauberer, Wahrsager und Hexenmeister“, eine „Legion von Wahrsagern, Kartenlegerinnen, Leuten, die aus den Linien der Hand lesen, Magiern und Fakiren. Ihre Zahl wird für Frankreich auf mindestens 50.000 geschätzt, ihr Umsatz soll insgesamt 1 Milliarde Franc jährlich überschreiten.“ (Leo 1976: 16) Und auch in Frankreich liege die Ursache für diese Entwicklung in den Krisenerscheinungen des Kapitalismus, liest man in dem Artikel weiter: „Die Erfolgskurve der Wahrsager steht in unmittelbarem Zusammenhang mit den Krisenauswirkungen. In einer Zeit, in der die Sorge um Arbeitsplatz Millionen bedrückt, sich die soziale Unsicherheit – in Frankreich, wie auch in den anderen kapitalistischen Ländern Westeuropas – wie eine Epidemie verbreitet, Bankrotte an der Tagesordnung und die Zukunftsaussichten für große Teil der Bevölkerung trübe sind, strömen Hunderttausende, besonders Handwerker, kleine Gewerbebetreibende und Angestellte, zu den Astrologen und Kartenlesern. Sie suchen Trost, Rückhalt, eine optimistische Auslegung ihrer eigenen Zukunft, die aus den Informationen über die Entwicklung der Wirtschaft nicht mehr entnommen werden kann.“ (Ebd.)

Analog wird in der DDR-Presse die Situation in Italien (siehe z.B. Blüthner 1982) oder in den USA beschrieben, wo nach einem weiteren Artikel aus dem Neuen Deutschland aus dem Jahr 1979 ein unüberschaubares und wachsendes „Heer Zehntausender Wahrsager, Kartenleger, Hellseher, Sterndeuter, Teufelsaustreiber, Hexenjäger und Gesundbeter“ (Schäfer 1979: 16) existiere. Dies sei nur zu begreifen, wenn man „die Bildungsmisere in den USA kennt und weiß, in welchem Ausmaß religiöse Gefühle mißbraucht, zu Geld und auch zu politischer Macht umgemünzt werden“ (ebd.). 32 Millionen erwachsene US-Amerikaner, so der Autor weiter, glaubten an Astrologie, obwohl diese eindeutig widerlegt sei und „1270 von 1500 Tageszeitungen […] stellen den Astrologen täglich Platz zur Verfügung“ (ebd). Als letztes Beispiel soll ein Artikel der Wochenpost aus dem Mai 1989 mit dem Titel Vom Teufel besessen – Renaissance des Okkultismus in der BRD dienen. Auch dieses Beispiel knüpft an die übliche argumentative Struktur an. Nach der Schilderung eines Mordfalles aus der BRD, der angeblich im Zusammenhang mit einer okkulten Sekte stand, wird berichtet, dass in der BRD und anderen westlichen Ländern die „Hinwendung zum Okkulten“ eine neue Blütezeit habe. So heißt es: „In der BRD zum Beispiel glaubten 1973 elf Prozent der Bundesbürger ernsthaft an die Existenz von Menschen mit hexerischen Fähigkeiten. 1986 169 ergab eine Umfrage des Dortmunder Meinungsforschungsinstitutes FORSA, daß die Zahl der Hexengläubigen inzwischen auf 34 Prozent der erwachsenen Bürger gestiegen war.“ (Gast 1989: 12) Darüber hinaus sollen sich, heißt es in dem Artikel weiter, „sechs bis acht Millionen Bundesbürger […] abends regelmäßig zu okkulten Handlungen wie Tischrücken, Pendelschwingen und Gläserrücken bis hin zu Blutritualen zusammenfinden, um Geister zu beschwören, die Auskunft über ihre Zukunft geben sollen. Bereits Schulkinder beschäftigen sich mit diesem Hokuspokus. Auf über 200.000 wird die Zahl derer geschätzt, die schon im Kindesalter okkulte Erfahrungen sammeln“ (ebd.). Zur Erklärung dieser „Hinwendung zum Okkulten“ wird ein westdeutscher Experte zitiert, der die Ursachen für diese Entwicklung in den gesellschaftlichen Verhältnissen der BRD sieht und damit indirekt das Argumentationsmuster der DDR-Presse bestätigt. Die Jugendlichen in der BRD seien mit einer Welt konfrontiert, „die ihnen zu einem großen Teil sehr viele Ängste macht, mit einer Welt, die sie sehr verunsichert, die ihnen relativ wenig Zukunftschancen eröffnet, mit einer Welt, die ihnen notwendige Orientierungshilfe – sowohl was den moralischen, aber auch den geistigen Bereich betrifft – nicht gibt“ (ebd.). Die Funktion derartiger Statistiken ist dabei klar: Es wird mit angeblich objektiven Zahlen ein Bild gezeichnet, nach dem sich der Glaube an ‚Psi‘ aufgrund diverser krisenhafter Erscheinungen des kapitalistischen Wirtschaftssystems in den westlichen Gesellschaften geradezu ‚epidemieartig‘ ausbreiten würde. Diese Botschaft wird umso deutlicher vermittelt, je größer und dramatischer die entsprechenden Zahlen der Statistiken sind. In anderen Worten: „Je höher die behauptete Zahl der Betroffenen bzw. Opfer eines Ereignisses oder Zustandes, um so eher findet das Problem seinen Weg in die Massenmedien und umso wahrscheinlicher weckt es das Interesse (und das Engagement) der Subjekte.“ (Schetsche 2014: 129) In diesem Zusammenhang wird auch von der „Magie der großen Zahl“ gesprochen (vgl. Schetsche 1996: 89f.).

Politisierung bzw. Ideologisierung

Die dominanteste Diskursstrategie im öffentlichen Diskurs der DDR im Zusammenhang mit dem Themenfeld des Paranormalen ist die Politisierung bzw. Ideologisierung. Vor allem in der zweiten Hälfte des Diskursverlaufes (Agitationsphase) wurden entsprechende Themen und Ereignisse im Rahmen politischer Propaganda gegen den ‚System‘- bzw. ‚Klassenfeind‘ genutzt. Es wurde das Bild von einer von Okkultismus durchdrungenen BRD gezeichnet, deren politisches wie wirtschaftliches System kurz vor dem Kollaps stünde. Die politisch- ideologischen Rahmungen von Parapsychologie, Okkultismus und verwandten Themen 170 basierten, wie bereits dargelegt, auf einem festen Gerüst von Kernbehauptungen. Nochmals kurz zusammengefasst: Erstens: Der weit verbreitete Aberglaube (als Synonym für alles Okkulte, Übersinnliche, Paranormale) in westlich-kapitalistischen Gesellschaften ist Ausdruck krisenhafter Erscheinungen des (Spät-)Kapitalismus. Zweitens: Der Aberglaube wird von den herrschenden Klassen in kapitalistischen Ländern zum Zweck der Manipulation, Ablenkung und Disziplinierung der Bevölkerung systematisch ausgenutzt. Drittens: Skrupellose Geschäftemacher in kapitalistischen Ländern nutzen die mangelnde Bildung und Leichtgläubigkeit der Bevölkerung aus, um Profit zu machen. Viertens: Der Aberglaube ist Bestandteil einer überkommenen, revanchistischen, bürgerlichen oder gar faschistischen bzw. nationalsozialistischen Ideologie. Fünftens: Die Vermittlung einer wissenschaftlichen Weltanschauung sowie die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen in der DDR und in anderen sozialistischen Staaten haben dem Aberglauben den Nährboden entzogen. Ein besonders prägnantes Beispiel für die Politisierung bzw. Ideologisierung von Themen aus dem Gebiet des Paranormalen findet sich in dem bereits zitierten Artikel aus der Einheit aus dem Jahr 1975 mit dem Titel ‚Psi‘ in der bürgerlichen Ideologie. Hier behauptet der Autor einen Zusammenhang zwischen der „Verschärfung der allgemeinen Krise des Kapitalismus“ und dem „Kolportieren und Propagieren parapsychologischen Gedankenguts durch die Massenmedien kapitalistischer Länder“, wenn es heißt: „In der Tat besteht ein enger Zusammenhang zwischen zunehmenden Krisenerscheinungen des Kapitalismus und dem Aufblühen irrationalen Mystizismus in einer Vielfalt von Spielarten“ (Waltz 1975b: 569). Der Autor orientiert sich in Argumentation und Formulierung unverkennbar an einem bereits zitierten Artikel von Otto Prokop zum Thema Parapsychologie für das Wörterbuch Philosophie und Naturwissenschaften. Hier schreibt Prokop: „Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen den zunehmenden Krisenerscheinungen des Kapitalismus und dem Aufblühen irrationalen Mystizismus in einer Vielfalt von Spielarten.“ (Prokop 1978: 203) Hier zeigt sich also erneut, dass Prokop auch für die politisch-ideologisch begründete Ablehnung von Themen aus dem Bereich des Paranormalen Argumentationslinien vorgab. In der BRD treiben, so heißt es in dem Einheit-Artikel weiter, „gegenwärtig in nicht geringer Zahl“ „Hellseher, Pendler, Hexenbanner, Spukmenschen, Rutengänger, Astraltelepathen und wie sie alle heißen mögen ihr Unwesen“ (Waltz 1975b: 569). Die Ursachen dafür seien vor allem in der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation der BRD als „bürgerlicher Gesellschaft“ zu suchen: „Wer auf der Suche nach einem Halt, nach einer Erklärung für die Geschicke der Menschheit und der einzelnen sich dem ‚Psi‘ verschreibt, dem Glauben an imaginäre Mächte, wer befangen ist im Hexenwahn und Geisterglauben oder 171

sich und sein Tun gesteuert wähnt durch außerirdische Kräfte, der forscht kaum noch nach den gesellschaftlichen Ursachen und Gesetzmäßigkeiten, die dafür bestimmend sind, das Krise, Krieg und Massenelend Ausgeburten des Kapitalismus sind.“ (Ebd.)

Daneben wird „Psi“ abermals eine Ablenkungs- und Disziplinierungsfunktion in kapitalistischen Gesellschaften zugesprochen: „Deshalb die Geisterbeschwörung, die Orientierung auf das Irrationale – all das soll die Menschen in der kapitalistischen Welt weglenken von den Grundfragen unserer Epoche, soll sie abhalten, selbst aktiv zu werden bei der Lösung der realen Fragen und Probleme unserer Zeit. Und es ist offensichtlich: Das Geschäft mit dem ‚Psi‘, die Infiltration spiritistischen und okkultistischen Gedankenguts zur Manipulierung der Werktätigen im Herrschaftsinteresse des Kapitals, zeigt Wirkung.“ (Ebd.)

Bei der Proklamierung und Verteidigung von ‚Psi‘ ginge es jedoch nicht nur um die Manipulation und Ablenkung der Bevölkerung, sondern letztlich um die „Bekämpfung des dialektischen Materialismus, der wissenschaftlichen Weltanschauung der Arbeiterklasse“ (S. 571). Dieser Kampf sei „lebensnotwendig“ für das „imperialistische System“, insbesondere „im Zusammenhang mit der qualitativen Verschärfung der allgemeinen Krise, und er hat vor allem ein Ziel, die Erzeugung und Verfestigung eines ‚falschen Bewußtseins‘, d.h. eines gesellschaftlichen Bewußtseins, das die Werktätigen daran hindert, die entscheidenden Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten ihres gesellschaftlichen Lebens zu erkennen und gemäß dieser Erkenntnis bewußt und zielstrebig zu handeln“ (ebd.).

Dem wird die Situation in der DDR und in sozialistischen Gesellschaften im Allgemeinen gegenüber gestellt: Hier sei durch die Etablierung des Sozialismus „die Grundlage für okkultes Ideengut entzogen, hier ist kein Platz für Aberglauben in der Natur- und Gesellschaftswissenschaft“ (Ebd.) Weiter heißt es: „Als Marxisten-Leninisten negieren wir keineswegs den objektiven Erkenntnisfortschritt. […] Im Gegenteil. Doch um auf diesem Weg weiter voranzukommen, dazu leistet die Beschäftigung mit okkulten Phänomenen, mit ‚polternden Geistern‘ – mit dem Irrationalismus nichts.“ (Ebd.)

Ridikülisierung

Immer wieder werden Themen, Ereignisse oder Personen im Zusammenhang mit dem Themengebiet des Paranormalen im öffentlichen Diskurs der DDR systematisch ins Lächerliche gezogen. Verbunden ist damit stets die Absicht, entsprechende Inhalte abzuwerten, zu diskreditieren und als von der Norm oder dem Bereich des Ernsthaften und Ernstzunehmenden abweichend zu markieren. Konkret äußert sich die Ridikülisierung in der

172

Verwendung bestimmter rhetorischer Mittel wie zum Beispiel der Ironie, des Sarkasmus, pointenhaften Zuspitzungen etc. (vgl. Schetsche 2015: 65f.) Zu Illustration dieser Diskurstrategie eignet sich der Film Geisterstunde – Auge um Auge mit dem Mittelalter der bekannten DDR-Filmemacher Walter Heynowski und Gerhard Scheumann aus dem Jahr 1967 in besonderer Weise. Thema des Films ist die BRD-Bürgerin Margarethe Goussanthier, geb. Meerstein, besser bekannt als „Madame Buchela“, als „Wahrsagerin von Bonn“ oder als „Pythia vom Rhein“. Goussanthier erlangte ab den 1950er Jahren als ‚Wahrsagerin‘ eine gewisse Berühmtheit, da sie Gerüchten zufolge u.a. von ranghohen Politikern wie z.B. Konrad Adenauer aufgesucht und um Rat gefragt worden sein soll. Für ihren Dokumentarfilm besuchten Heynowski und Scheumann Goussanthier in der BRD und verbrachten nach eigenen Angaben einen ganzen Tag mit ihr. Sieht man sich den Film an, wird schnell deutlich, dass es darum geht, Goussanthier vorzuführen, als Betrügerin darzustellen und ihren Fall für Kritik am politischen System der BRD zu verwenden. Das Argument des sich in der BRD angeblich epidemieartig ausbreitendenden Okkultismus wiederspiegelnd, heißt es zu Beginn des Films, der Straßenszenen aus zeigt: „Allein auf diese Bürger Hamburgs warten in den Mauern der Hansestadt rund 6000 Hellseher, Kartenschläger, Gesundbeter, Astrologen und Hexenaustreiber mit ihren Ratschlägen zur Lebensgestaltung. Demoskopische Erhebungen haben ergeben, dass zwanzig Prozent des Bundesvolks dem Sternenglauben frönen, fünfzehn Prozent glauben an die leibliche Existenz von Teufeln, Hexen und bösen Geistern, zweiundzwanzig Prozent geben an, schon einmal einen Kartenschläger oder Hellseher befragt zu haben. Im großen Sabbat von Hexenwahn und Wunderglauben reitet Frau Buchela den ersten Besen. Jeder zweite Westdeutsche, so errechnete erst im November 1966 ein Meinungsforschungsinstitut, jeder Zweite glaubt an das zweite Gesicht.“ Im Folgenden wird Margarethe Goussanthier zu ihrer Arbeitsweise befragt und gibt offenherzig Auskunft. Offensichtlich ahnt sie nichts davon, in welcher Weise sie später in dem Film dargestellt wird. Über teils subtile, teils offene Fangfragen, extreme Nahaufnahmen ihres Gesichts, ihres Goldschmucks, ihres Dekolletees und ihrer Haustiere sowie Einspielungen grotesker Musik wird sie in dem Film systematisch der Lächerlichkeit preisgegeben. Diese Wirkung wird durch sarkastisch-ironische Zwischenkommentare verstärkt. Goussanthiers Weissagungen werden als Absurditäten präsentiert, Glaubwürdigkeit wird hingegen ihren Aussagen zugebilligt, dass sie regelmäßig von hohen Politikern aus Bonn besucht wird und politische Entscheidungen beeinflusst. Heynowski und Scheumann greifen diesen Punkt auf und nutzen ihn gleichsam als Beleg für die Dekadenz und den Irrationalismus des politischen Systems der BRD. Die Neigung, bei Okkultisten Rat zu

173 suchen, vermehre sich dabei mit der zunehmenden Unsicherheit im Kapitalismus, bedingt durch Zukunftsangst und Arbeitslosigkeit. „Arbeitslose“, heißt es, „diese Leute hat der blaue Brief ihrer Firma wie ein Blitz aus dem heiteren Himmel getroffen. Nun stehen sie da, fragen sich: ‚Wie konnte es geschehen?‘ Ihre Existenzkrise ist ihre Konjunktur. Wahrsager, Astrologen und Kartenschläger haben ihre große Zeit. Immer mehr Bundesbürger legen ihr Schicksal vertrauensvoll in die Hände von Okkultisten.“ In der DDR-Presse wurde der Film überaus positiv rezensiert, so etwa in der Ausgabe des Neuen Deutschland vom 17. April 1967. Heynowski und Scheumann, heißt es hier, enthüllen in ihrer Geisterstunde „mit scharfem Witz und beißender Satire den Mißbrauch, den die Herrschenden an den Schalthebeln der öffentlichen Meinungsbildung mit den von ihnen manipulierten Geschöpfen wie der Buchela treiben, um die Gedanken und Gefühle der Bundesbürger zu steuern“ (Neues Deutschland vom 17. April 1967: 2). Der Film zeige ein „finsteres Kapitel“ westdeutscher Wirklichkeit, die „Überlegenheit unserer Weltsicht, von Heynowski und Scheumann in geschickt und zielstrebig geführtem Gespräch deutlich gemacht, enthüllt es als Ausdruck einer historisch schon überlebten Epoche“ (ebd.). In der Berliner Zeitung vom 18. April 1967 wird unter dem Titel Mit Geist gegen Geisterei kommentiert: „Dies ist die Art, mit Hexen umzugehen! Unauslöschliches Gelächter war alles, was vom weltweiten Ruhm der legendären Bonner Pythia übrig blieb […].“ (Herrmann 1967: 14) Hinter den „listigen Augen“ und dem „Runzeln des Gesichts“ habe der Film das wahre Geheimnis der Bonner Prophetin entdeckt: „Da stank der ganze Moder einer verfaulten Gesellschaftsordnung auf.“ (Ebd.) Man würde der Buchela, liest man weiter, gerne das Material vom VII. Parteitag der SED überreichen, damit sie erfahre, „wie man heutzutage die Zukunft mit modernen wissenschaftlichen Mitteln vorbestimmt“ (ebd.). Im Neuen Deutschland vom 25. September 1967 wurden Heynowski und Scheumann zum Film interviewt. Auf die Frage, was die Motivation dafür gewesen wäre, diesen Film zu drehen, antwortet Scheumann, dass „der Okkultismus […] in Krisenzeiten der kapitalistischen Gesellschaft die tollste Blüte“ treibe, Existenzangst „und die Unterdrückung wissenschaftlicher Kräfte begünstigen seine Verbreitung. Seit dem Verbot der KPD ist der Okkultismus in Westdeutschland erheblich weiter angestiegen“ (Neues Deutschland vom 25. September 1967: 3). Der Film sei nicht nur deshalb entstanden, um westdeutsche Zustände zu demonstrieren, heißt es in dem Interview weiter, er sei auch ein „Beitrag im großen Kampf von wissenschaftlichem Denken und Prognose gegen die Metaphysik“ (ebd.). Alles in allem zeigt der Film in geradezu paradigmatischer Weise auf, wie der Themenbereich des Paranormalen im öffentlichen Diskurs der DDR für politische Propaganda gegen den

174 politischen Systemgegner genutzt wurde. Heynowski und Scheumann inszenieren ein Bild einer durch und durch von Okkultismus durchdrungenen BRD, in der wichtige politische Entscheidungen von Okkultisten mitbeeinflusst werden und die allgemeinen Krisenerscheinungen des Kapitalismus die Menschen in zunehmendem Maße für abergläubische Vorstellungen anfällig werden lassen. Letztlich wird in dem Film nicht nur die Buchela, sondern letztlich das gesamte politische System der BRD verspottet und ins Lächerliche gezogen.

Pathologisierung

Eine der effektivsten diskursiven Strategien, um die geltende Wirklichkeitsbestimmung gegen Abweichungen verschiedener Art zu schützen, besteht darin, letztere zu pathologisieren (vgl. Schetsche 2003; Schetsche 2015). Dabei werden abweichende Wissensbestände, unerwünschte, inkompatible oder inakzeptable Praktiken und Erfahrungen als Ergebnis einer (zumeist) psychischen Erkrankung gedeutet oder zumindest in die Nähe einer solchen gerückt. Dadurch wird suggeriert, dass die entsprechenden Inhalte, Erfahrungen und Praktiken nicht zum Bereich des Normalen, Gesunden, Ernstzunehmenden gehören. Gleichzeitig betrifft die Pathologisierung als Diskursstrategie die Protagonisten abweichender Auffassungen, die damit gleichsam aus dem „Kreis des vernünftigen Sprechens“ (Keller 2011: 8) verbannt werden. Eine Meinung, die als ‚krankhaft‘, ‚wahnhaft‘, ‚irre‘ etc. gilt, bedarf keiner ernsthaften Betrachtung mehr außer jener, in welcher Weise die entsprechenden Träger womöglich zu behandeln sind – etwa durch psychologische oder psychiatrische Maßnahmen. In den Worten Foucaults: „Seit dem Mittelalter ist der Wahnsinnige derjenige, dessen Diskurs nicht ebenso zirkulieren kann wie der der anderen: sein Wort gilt für null und nichtig, es hat weder Wahrheit noch Bedeutung, kann vor Gericht nichts bezeugen, kein Rechtsgeschäft und keinen Vertrag beglaubigen […].“ (Foucault 2003: 12). Die Pathologiserung ist allerdings nur auf den ersten Blick eine Strategie der Ausgrenzung, denn durch sie werden Abweichungen von der Norm letztlich ‚gebändigt‘ und in die bestehende weltanschauliche Ordnung inkludiert (vgl. Berger & Luckmann 2004: 119-124), wenn auch gleichsam am äußersten Rand. Insgesamt kann die Pathologisierung als eine der massivsten Formen der Diskreditierung und Delegitimierung von Inhalten und Personen bezeichnet werden. Im öffentlichen Diskurs der DDR drückt sich die Strategie der Pathologisierung im Zusammenhang mit dem Untersuchungsfeld vor allem in der häufigen Verwendung von Krankheitsmetaphern aus. Wie gezeigt, wird der sich in den westlich-kapitalistischen

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Gesellschaften angeblich rasant ausbreitende Aberglaube häufig mit dem medizinischen Begriff ‚Epidemie‘ beschreiben, wie beispielswese in dem bereits zitierten Artikel „Bürgerliche Ideologie im Zeichen der Krise – Was ist und was will der Irrationalismus heute?“ aus dem Neuen Deutschland vom 24. Januar 1981. Hier heißt es: „Über 500 Hellseher können gegenwärtig in der BRD amtlich anerkannt ihr Unwesen treiben. Darüber hinaus macht eine Vielzahl von Geistheilern, Wahrsagern, Astrologen, Hexenbannern, Teufelsaustreibern, Parapsychologen und anderen Scharlatanen mit dem sich wie eine Epidemie ausbreitenden Aberglauben unter der BRD-Bevölkerung ihr großes Geschäft.“ (Ihme 1981: 10)

Darüber hinaus seien in der BRD mehr als 200.000 Jugendliche „sektenabhängig“. Sektenwesen, Okkultismus, der Glaube an überirdische Kräfte und Drogenkonsum seien zu „Massenerscheinungen in der kapitalistischen Welt“ (ebd.) geworden. Die Pathologisierungsstrategie im Zusammenhang mit dem Paranormalen im öffentlichen Diskurs der DDR verfolgt dabei nicht nur das Ziel, den Aberglauben und seine Träger in den Bereich des Krank- bzw. Wahnhaften zu rücken, sondern die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, die es zulassen, dass die Bevölkerung massenhaft dem Aberglauben verfällt. Der Topos Aberglaube dient hier letztlich als eines von vielen möglichen Beispielen zur Veranschaulichung einer (aus Sicht der DDR-Propaganda) ‚pathologischen Gesellschaft‘.

Der Ausschluss von Sprechern aus dem Diskurs

Die Pathologisierung von Personen kann dazu führen, dass diese dauerhaft aus dem Diskurs ausgeschlossen werden. Im Anschluss an Foucault kann man in diesem Zusammenhang von einer ‚Verknappung der Subjekte‘ (vgl. Keller 2008b: 81) sprechen, die legitimerweise am öffentlichen Diskurs teilnehmen dürfen. Eine solche Verknappung der legitimen Sprecher in einem Diskurs kann jedoch freilich auch auf anderem Wege erfolgen, beispielsweise durch einen direkten Ausschluss. Im Zusammenhang mit dem Themenfeld des Paranormalen im öffentlichen Diskurs der DDR lässt sich ein derartiger Ausschluss anhand des Falles von Kurt Klein rekonstruieren, der, wie in Abschnitt 5.2 dargelegt, in der Anfangsphase der DDR in mehreren Zeitungsartikeln positiv über die Parapsychologie berichtete. Klein hatte, wie aus einem Brief an Pascual Jordan56 aus dem IGPP-Archiv hervorgeht, 1949 in Leipzig bei

56 Psacual Jordan (1902-1980) war ein deutscher theoretischer Physiker, der maßgeblich an der mathematischen Ausformulierung der Quantenmechanik mitwirkte. Er gilt darüber hinaus als Begründer der 176

Hermann August Korff zum Thema „Form und Funktion parapsychischer Phantome in Dichtungen der Romantik“ (Klein 1955: 1) promoviert. Danach habe er, so berichtet Klein weiter, „laufend Vorträge über die Methoden und Hypothesen der Parapsychologie“ (ebd.) gehalten. Durch seine positive Haltung zur Parapsychologie geriet Klein in Konflikt mit Wilhelm Gubisch, der zu jener Zeit, wie bereits dargelegt, in seinen öffentlichen Vorträgen massive Kritik an der Erforschung paranormaler Phänomene übte und über gute Kontakte zur Administration der SBZ und später der DDR verfügte. Folgt man Klein, nutze Gubisch seine Verbindungen, um gegen ihn ein Berufsverbot zu erwirken: „[Herr Gubisch] verschaffte mir dann Arbeitsverbot und unterband meine Vorträge mit Hilfe der kommunistischen Staatsorgane. Wenige Wochen später mußte ich die Zone verlassen, um nicht zu zweiten Mal in meinem Leben mit einem sowjetischen Stacheldrahtlager Bekanntschaft zu schließen.“ (Ebd.)

Freilich ist diesen Aussagen mit der nötigen quellenkritischen Skepsis zu begegnen. Fakt ist jedoch, dass Kurt Klein, der in der Frühphase der DDR mit seinen positiven Artikeln über die Parapsychologie deutliche Akzente setzte, plötzlich aus dem öffentlichen Diskurs verschwindet. In seinem Brief beschreibt Klein, dass er im Juni 1955 auf einem Vortrag von Gubisch in Bonn gewesen sei. Nach dem Vortrag habe er Gubisch auf die Vorkommnisse in der DDR angesprochen. Klein schreibt: „Ich habe Herrn Gubisch nach seinem Vortrag zur Rede gestellt und ihm die Frage vorgelegt, warum er damals die einzigen Ansätze der Parapsychologie mit Hilfe der Kommunisten unterband. (Wir waren praktisch nur zwei Herren, die sich an der Universität Leipzig kritisch mit diesen Fragen auseinandersetzen. Dr. Zedlitz, der als Dozent für physikalische Chemie lehrte, mußte mit mir die Zone verlassen und befindet sich heute in Chile.) Gubisch war sehr erregt und zu keiner sachlichen Aussprache zu bewegen.“ (S. 1f.)

Die Episode Gubisch vs. Klein ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zum einen zeigt sie erneut, welche Rolle einzelne Akteure wie Klein und Gubisch für den öffentlichen Diskurs der DDR zum Paranormalen einnehmen konnten (dazu später mehr). Kleins Positionierungen zur Parapsychologie in der Frühphase der DDR dürfen in ihrer Wirkung sicher nicht überbewertet werden, dennoch belegen sie in Bezug auf die interessierenden Themen einen gewissen Meinungspluralismus, der mit der Festigung des DDR-Mediensystems nach sowjetischem Vorbild schnell deutlich eingeschränkt wurde. Für die Frage, in welcher Weise der strukturierte öffentliche Diskurs der DDR mit der Parapsychologie umgehen sollte, waren Akteure wie Gubisch (und später vor allem Prokop) sicher von zentraler Bedeutung. In jedem

Quantenfeldtheorie. Jordan war Mitglied der CDU und von 1957 bis 1961 Mitglied des deutschen Bundestages. 177

Fall ist die Episode ein illustratives Beispiel, um die Effektivität des Ausschlusses einzelner Akteure zur Festigung und Durchsetzung einer spezifischen Haltung im öffentlichen Diskurs darzulegen.

Wiederholung

Im öffentlichen Diskurs der DDR zum Paranormalen lässt sich, im Anschluss an Foucault, das Prinzip des ‚Kommentars‘ erkennen. Der Kommentar stellt für Foucault die stetige Wiederholung bestimmter Sinngehalte in einem Diskurs dar. Will heißen: „Ich nehme an, bin aber nicht sicher, daß es kaum eine Gesellschaft gibt, in der nicht große Erzählungen existieren, die man erzählt, wiederholt, abwandelt; Formeln, Texte, ritualisierte Diskurssammlungen, die man bei bestimmten Gelegenheiten vorträgt; einmal gesagte Dinge, die man aufbewahrt, weil man in ihnen ein Geheimnis oder einen Reichtum vermutet.“ (Foucault 2003: 18)

Durch die häufige Wiederholung von bereits Geäußertem durch legitimierte Sprecher im Diskurs soll die Plausibilität der Aussagen erhöht werden und ihnen im besten Fall der Status der Selbstverständlichkeit zuteilwerden. Die vorangestellte Analyse des öffentlichen Diskurses der DDR über das Paranormale zeigt, dass die Aussagen der einzelnen Diskursfragmente in Bezug auf bestimmte Inhalte nahezu identisch sind, es handelt sich also um Wiederholungen, Vervielfachungen der gleichen Aussagen in unterschiedlichen Kontexten. In einigen Fällen lässt sich dabei die Primärquelle der Aussagen ausmachen. Wie dargelegt, dienten häufig Positionen von Otto Prokop zu einschlägigen Themen als Vorlagen für weitere Aussageereignisse. Ein weiteres Beispiel soll dies verdeutlichen: In ihrem Band Stimmen aus dem Jenseits aus dem Jahr 1984 schreiben Andreas Gertler und Wolfgang Mattig, dass 53 Prozent der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland an das ‚zweite Gesicht‘ glauben würden (Gertler & Mattig 1984: 7). Die Autoren beziehen sich dabei auf den Band Medizinischer Okkultismus – Paramedizin von Otto Prokop aus dem Jahr 1973. Hinterher wurde diese Zahl in verschiedenen Diskursbeiträgen immer wieder wiederholt (z.B. bei Waltz 1975a oder bei Weinreich 1984). Prokop hatte die Zahl aus einem Text von Hans Bender aus dem Jahr 1964. Bender wiederum bezog sie aus einer Allensbach-Umfrage aus dem Mai 1958 (vgl. Bender 1964: 83; vgl. auch Schneider & Anton 2014: 167). Bei der Veröffentlichung des Buches von Gertler und Mattig ist diese Zahl also bereits über ein Viertel Jahrhundert alt. Dieses Beispiel weist auf einen weiteren Umstand hin: Die sehr begrenzte Diskursgemeinschaft derer, die in der DDR zu Themen aus dem Untersuchungsfeld

178 publizierten, bildete ein mehr oder weniger in sich geschlossenes Zitierkartell – man könnte auch von einer ‚geschlossenen Gesellschaft‘ sprechen. Vergleicht man die Literaturverzeichnisse der Bücher zu den interessierenden Themen, fällt auf, dass immer wieder dieselben Autoren auftauchen, die sich gegenseitig zitieren. Bei Gertler und Mattig sind dies Beispielsweise: Otto Prokop, Wolf Wimmer, Wilhelm Gubisch, Maximilian Meischke, Alexander Kitaigorodski und Christian Heermann. Freilich könnte man argumentieren, dass in der DDR eben nur die Bücher dieser Autoren erhältlich waren, doch in den Literaturverzeichnissen finden sich auch Bücher aus der BRD, z.B. von Hans Bender, weshalb davon ausgegangen werden kann, dass die Autoren durchaus Zugriff auf Westliteratur zu den entsprechenden Themen hatten. Letzteres wurde von Wolfgang Mattig bestätigt, der im Rahmen der Studie interviewt werden konnte: „Es ist ja nicht so einfach gewesen, die internationale Fachliteratur in der DDR zu beschaffen. Prokop durfte. Und ich kriegte aus Amerika ganz viele Bücher, ganz viel Literatur. Und aus Westdeutschland, Österreich, also aus dem deutschsprachigen Raum. Prokop hatte die Genehmigung von der Staatssicherheit, diese Literatur zu importieren. Ich hab die über ihn bezogen.“ (Interview 15: 42f.)

Wie in den Abschnitten 5.2 und 5.3 dargelegt, wurde westliche Literatur zu Themen des Untersuchungsfeldes im öffentlichen Diskurs der DDR jedoch nahezu ausschließlich im Sinne von Negativreferenzen behandelt, weshalb sie die Selbstbezüglichkeit und apologetische Geschlossenheit des Zitierkartells zum Paranormalen nicht aufweichte. In positiver Weise wurde nur auf jene Autoren Bezug genommen, die bereits zum Zitier- und Meinungskartell gehörten oder deren Beiträge in das vorgefertigte Deutungsmuster passten. Die Beziehungsgeflechte innerhalb der Diskursgemeinschaft wurden darüber hinaus zur gegenseitigen Autorisierung und zur Absicherung der Aussagen genutzt.

5.6 Zentrale Akteure: Otto Prokop und die Urania

Es wurde deutlich, dass im öffentlichen Diskurs der DDR über das Paranormale einzelne Akteure herausragende Rollen einnahmen – allen voran Otto Prokop und die Urania. Sie besetzten Sprecherpositionen im Diskurs, die mit der Befähigung und den Ressourcen verbunden waren (z.B. mit symbolischem, ökonomischem oder sozialem Kapital), legitime Inhalte zu definieren, Sichtweisen vorzugeben, aber vor allem auch: Ab- und Ausgrenzungen vorzunehmen. Es erscheint nicht übertrieben, Prokop und die Urania (als kollektiver

179

Produzent von Aussagen) als die Hauptakteure des themenbezogenen öffentlichen Diskurses zu bezeichnen, daher sollen sie im Folgenden näher beleuchtet werden.

Otto Prokop

Otto Prokop hatte, was Parapsychologie, Okkultismus und verwandte Themen anbelangt, einen unangreifbaren Expertenstatus, gab Argumentationslinien vor und präge somit in entscheidender Weise den öffentlichen Diskurs. Nicht zu vernachlässigen ist sicher auch, dass Prokop mit seiner ablehnenden Haltung gegenüber Themen aus dem Gebiet des Paranormalen nahtlos an den in der DDR propagierten Szientismus anknüpfen konnte. Die herausragende Rolle Otto Prokops für den Umgang mit dem Paranormalen im öffentlichen Diskurs der DDR bestätigte indes auch sein Schüler Wolfgang Mattig im Interview: „Ich bin ja immer skeptisch, wenn man sagt, der Heerführer, der hat die Weltgeschichte bestimmt. Wenn Herr Hitler nie geboren worden wäre? Mein Gott, was die Leute sich vorstellen an einer Figur. Hitler ist eben auch groß geworden mit dem Chauvinismus, das war im Volke drin. Und er ist Kind des Volkes gewesen, aber das wollen die Menschen nicht hören. Aber hier, da gab es wirklich nur den einen, der dieses Thema konsequent aufgriff. Und wenn man einen zitieren wollte, kam man an Prokop nicht vorbei. […] Es liegt einfach daran, dass es keine anderen Leute gab, auf die man sich hätte beziehen können. Da hatte keiner Lust, sich damit auseinanderzusetzen. Und wenn der Staat oder die Staatsführung zu diesem Thema etwas brauchte, dann kamen sie an ihm nicht vorbei. Insofern war er immer jemand, den man brauchte […].“ (Interview 15: 61f.)

Prokop verfügte über beste Kontakte zur DDR-Staatsführung und über ein weitreichendes Netzwerk persönlicher Verbindungen zu etlichen Wissenschaftlern – in der DDR, der BRD und vielen anderen Ländern. Besonders intensive Kontakte pflegte er, wie dargelegt, zur westdeutschen DEGESA, deren Argumentationsweisen in Bezug auf Themengebiete des Paranormalen er teilte und in den öffentlichen Diskurs der DDR implementierte. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang sicher auch die Frage nach Prokops Motivation hinter seinem Engagement gegen alles Übersinnliche und Okkulte. Wie bereits erwähnt, sah er in der Wissenschaftslandschaft der DDR die „Tendenz zur ausschließlich naturwissenschaftlich begründeten Arbeit, frei von Mystik und Spekulation“ (Neues Deutschland 1957: 4), konnte sich mit der Ausrichtung der DDR auf die wissenschaftliche Weltanschauung also offensichtlich bestens anfreunden. Mit seiner Übernahme des Lehrstuhls für Gerichtliche Medizin an der Ostberliner Charité im Jahr 1957 war Prokop einer der ganz wenigen Wissenschaftler, die nicht aus der DDR ausreisten, sondern sich freiwillig in die DDR begaben. Vor diesem Hintergrund kann durchaus die Frage gestellt werden, inwieweit Prokop 180 ein politisch motivierter Mensch war. 2013 legte der bekannte deutsche Kriminalbiologe Mark Benecke die bislang einzige Biographie über Prokop vor. Benecke zeichnet dort das Bild eines ganz und gar unpolitischen Otto Prokop, dem es letztlich nur um die Wissenschaft gegangen sei. Ein Beispiel: „Prokop arrangierte sich als Professor zwar mit Menschen und Strukturen, aber er sympathisierte nie mit politischen Bewegungen. Dazu war er viel zu misstrauisch. Nach dem Krieg hat er nie mehr eine Partei oder Ideologie offen unterstützt. Der Sozialismus als solcher interessierte ihn nicht. Prokop wollte forschen, er war ehrgeizig, und er nutzte die Chance, diese beiden Lebensinhalte mit Wucht und Verve in Ostberlin zu nutzen“ (Benecke 2013: 15).

Diese Einschätzung vermag jedoch nicht recht zu überzeugen. Nur zwei Seiten später findet sich eine Auflistung diverser Ehrungen, Belobigungen und Preise, die Prokop im Laufe seines Lebens erhielt – darunter der Nationalpreis der DDR II. und I. Klasse. Benecke kommentiert, dass Prokop auch „nach dem Mauerfall keinen Hehl aus den Belobigungen und Preisen machte, die er von sozialistischer Seite erhielt. Für ihn hatten die Ehrungen nichts mit dem politischen System oder gesellschaftlichen Grundeinstellungen zu tun. Er sah darin einfach die Anerkennung seiner wissenschaftlichen Arbeit“ (S. 17). Auch bei Prokops Übersiedlung in die DDR spielten nach Benecke politische Motive keine Rolle: „Dass Prokop nach Ostdeutschland ging, hatte viele Gründe. Vor allem schmeichelte es ihm, mit Mitte dreißig einen prestigeträchtigen Lehrstuhl zu erhalten, an dem sein Forschungsdrang anders als am kleinen Bonner Institut durch nichts mehr eingeschränkt war“ (S. 87) Ging es Prokop also tatsächlich nur um seinen „Forschungsdrang“? Wenn dem so gewesen wäre, stellt sich die Frage, warum er später nicht an einen Lehrstuhl in der BRD gewechselt hat, wo er wesentlich bessere Bedingungen für seine Forschungen vorgefunden hätte als in Ostberlin (vgl. Anton 2014b: 107). Hier konnte sich sein Labor ab Ende der 1970er Jahre aufgrund der schlechten finanziellen Ausstattung wichtige Chemikalien allmählich nicht mehr beschaffen, was Prokop dazu veranlasste, in der DDR hergestellte Seren an Westkontakte zu verkaufen: „Prokop reiste mit einem Koffer voller Substanzen los und übergab den Inhalt gegen bare D-Mark.“ (Benecke 2013: 141) Das so eingenommene Geld leitete er an die Ostberliner Charité weiter. Ein Informant des MfS schätzte „den von Prokop allein im Jahr 1982 mit den Firmen Biotest und Fresenius erwirtschafteten Betrag auf 12000 Westmark“ (S. 142). Damit ließ Prokop die für sein Labor begehrte Ausrüstung kaufen. Das Ganze ging so weit, dass das MfS eine Scheinfirma beauftragte, die Geldeingänge abzuwickeln (vgl. Anton 2014b: 108) Prokops Verbindungen mit dem MfS ging jedoch noch viel weiter, wie der

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Medizinhistoriker Florian Mildenberger in seinem Aufsatz Otto Prokop, das Ministerium für Staatssicherheit und die Parapsychologie in der Zeitschrift für Anomalistik festhält: „Bereits kurz nach seiner Einreise in die DDR 1957 war das MfS zu dem Schluss gelangt, Ermittlungen gegen ihn seien ‚nicht nötig‘. Im Laufe der Zeit vertieften sich die Kontakte. Im Jahr 1976 teilte die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Groß-Berlins auf eine interne Anfrage mit: ‚Prof. Prokop hat bereits in mehreren Fällen Gutachten für das MfS erarbeitet oder solche veranlaßt. Zu ihm besteht seitens der HA IX enger offizieller Kontakt. Zum 25. Jahrestag des MfS wurde Prof. Prokop durch den Genossen Minister mit dem Kampforden in Gold ausgezeichnet‘“ (Mildenberger 2013: 70).

Zum 60. Geburtstag Prokops würdigte das MfS die enge Zusammenarbeit: „Auch bei der beruflichen Qualifizierung der Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit engagierte sich Prof. Dr. Prokop persönlich und hatte für alle von uns vorgetragenen Probleme immer einen praktikablen Lösungsweg gefunden“ (zitiert nach Mildenberger 2013: 70). Für Mark Benecke hatte Prokop ein „nonchalantes Verhältnis zum MfS“ (Benecke 2013: 128). Es sei ihm besser als anderen gelungen, sich mit dem Ministerium zu arrangieren, was auch daran gelegen habe, dass Prokop die DDR für Reisen in den Westen jederzeit verlassen konnte. Er hätte das MfS nicht „vorwiegend als ihn bedrängendes Überwachungsorgan“ (ebd.) gesehen. Das leuchtet ein, da Prokop neben seiner Reisefreiheit noch eine ganze Reihe weiterer Privilegien genoss, die ihm das MfS zubilligte. Er konnte morgens von Ost- nach Westberlin spazieren und die in der DDR offiziell nicht geduldete Bild erwerben, wenn er „baden oder Wasserski fahren wollte, wurde schon einmal der ganze See vor seiner Datsche für ihn gesperrt“ (S. 133). Man kann zu Recht fragen, ob jemandem derartige Privilegien zuerkannt worden wären, der sich nicht in irgendeiner (die DDR-Führung überzeugenden) Form zur DDR-Staatsräson und damit auch zum MfS bekannt hat. Benecke sieht jedenfalls auch in Prokops engen Verbindungen zum MfS keinen Hinweis auf politische Motivstrukturen. Auch bei der Zusammenarbeit mit dem MfS sei es ihm letztlich immer nur um seine wissenschaftlichen Ziele gegangen, nie um politische. Prokop habe dabei auch immer wieder ausgeblendet, dass er „unter dem Schutz des MfS“ (S. 129) stand. Der spielerische Umgang mit den Mächten sei aber auf der anderen Seite auch eines der Markenzeichen Prokops gewesen (vgl. ebd.). Aus Sicht des MfS hatte sich Prokop jedenfalls als treuer Staatsdiener erwiesen. Er erhielt mehrere hohe (oder höchste) Auszeichnungen, darunter das „Ehrengeschenk des Ministers für Staatssicherheit“ oder die „Medaille der Waffenbrüderschaft in Gold“. Als Begründung für derart hohe Auszeichnungen gab der Leiter der Abteilung IX des MfS an, dass die Gerichtsmediziner des Institutes für Gerichtliche Medizin der Humboldt-Universität zu Berlin

182 unter der Leitung von Prokop im Zusammenwirken mit dem MfS und den Justizorganen „durch ihre vorbildliche persönliche Initiative und umfangreiche Arbeitsleistungen zur weiteren Stärkung der sozialistischen Rechtsordnung beigetragen, sich hohe Verdienste im Kampf gegen den Feind und um die Gewährleistung der Sicherheit der DDR erworben sowie offensiv die Politik von Partei und Regierung unterstützt“ (zitiert nach Benecke 2013: 135) haben. Dass Benecke in alldem keinen Hinweis auf politische Motivlagen Prokops sieht, wundert umso mehr, als Volkmar Schneider, von 1983 bis 2006 Leiter des Instituts für Rechtsmedizin an der Freien Universität Berlin, in einem Interview mit Benecke, welches er, neben fünf weiteren Interviews, seiner Biographie anhängt, eine Möglichkeit ausführt, die Benecke selbst konsequent ausspart: „Als Rechtsmediziner hat man natürlich zwangsläufig Kontakt zu staatstragenden Organen. Es ist allerdings ein Unterschied, ob man den beruflichen Kontakt auf das Notwendige beschränkt oder ob die Kontakte darüber hinaus einen freundschaftlichen Charakter annehmen. Einen Major der Stasi zu duzen, würde ich schon bedenklich finden, insbesondere wenn sich aus dieser Freundschaft Privilegien (zum Beispiel Geschenke, Reisen) ergeben. […] Ich selbst wurde immer wieder mal gefragt: Wie hätten Sie denn gehandelt, wenn Sie in einem System vergleichbar der DDR gelebt hätten? Dazu muss ich sagen, dass es einen Unterschied macht, ob man in ein solches System hineingeboren wird und praktisch keine Chance hat, ihm zu entkommen, oder ob man aus freien Stücken einem Ruf an die Charité (DDR) folgt – wohlgemerkt aus Bonn. Möglicherweise hat der eine oder andere damals in der DDR vielleicht doch das bessere Deutschland gesehen“ (Benecke 2013: 270).

Noch Mitte der 1980er Jahre bemühte Otto Prokop seine engen Verbindungen zum MfS, um gegen Hans Bender vorzugehen. Es ging ihm dabei darum, „Hans Bender und mit ihm die gesamte Parapsychologie als nationalsozialistisch induziertes Konstrukt zu verwerfen“ (Bauer, Hövelmann & von Lucadou 2013: 93). Das Ministerium unterstützte Prokop bei seinen Recherchen zu Benders mutmaßlichen NS-Verwicklungen und übernahm „sogar die schriftliche Koordinierung der verschiedenen Erkenntnisse aus dem Zentralen Staatsarchiv Potsdam“ (Mildenberger 2013: 71). In der entsprechenden Akte des MfS zu Bender aus dem Jahr 1985 findet sich der Vermerk: „Unter Einbeziehung von Prof. Prokop haben progressive forensische Mediziner in der BRD vor, Prof. Bender die wissenschaftliche Befähigung im Bereich der Psychologie abzusprechen bzw. nachzuweisen, daß er ein Hasardeur ist und sich durch seine Vergangenheit im naturwissenschaftlichen Bereich der Psychologie überhaupt nicht auskennt.“ (MfS HA IX/11, Nr. AV 1/86: 124)

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Dass Prokop bei seiner „Bekämpfung der experimentellen Methoden der Parapsychologie“ auf Erkenntnisse des MfS zurückgriff, liegt für Eberhard Aurich, bis 1989 Mitglied im Zentralkomitee der SED und 1. Sekretär des Zentralrates der FDJ, in der Natur der Sache, wie er in einem Kommentar zu Mildenbergers Aufsatz über Prokop dargelegt: „In diesem Zusammenhang muss man wissen, dass in der DDR das Ministerium für Staatssicherheit für die nachträgliche Erforschung von Naziverbrechen zuständig war und deshalb nicht nur Globcke und Oberländer als Nazis entlarvte, sondern naturgemäß auch Fakten zur Parapsychologie zusammentrug. […] Hinzu kam, dass im amerikanischen Geheimdienst parapsychologische Tests genutzt wurden, um außersinnliche Wahrnehmungen für Spionagezwecke einzusetzen, was dem MfS gewiss nicht verborgen geblieben ist. […] Und so simpel es klingen mag, das MfS ermittelte auch neben der Kriminalpolizei stets in allen Mordfällen mit. Es lag also auf der Hand, dass Prokop als führender Repräsentant der Gerichtsmedizin der DDR in all diesen Fragen Kontakt mit dem MfS bekam.“ (Aurich 2013: 88. Hervorhebung wie im Original)

In der Tat: Prokop hatte es auch mit Mordfällen zu tun, beispielsweise mit den sog. ‚Mauertoten‘, über die in der DDR Stillschweigen bewahrt werden sollte. „Prokop arrangierte sich mit diesem Problem“ (Benecke 2013: 91), hält Benecke fest. Die Fälle der Mauertoten bearbeitete grundsätzlich das MfS. Dabei wurden „Tatortberichte, Sterbeurkunden und Zeugenaussagen […] je nach politischer Deutung gefälscht. Auch die Leichenschau und die Beisetzungen – oft nach Einäscherung – wurden vom MfS gesteuert und überwacht. Sogar die Angehörigen der Mauertoten mussten über Todesumstände entweder schweigen oder erfuhren von vornherein nur Lügengeschichten“ (S. 120). Prokop war durch seine Arbeit also mit den düstersten Seiten der DDR konfrontiert, berichtete aber, dass er seine Arbeit an den Mauertoten „sauber“ durchgeführt habe: Seine Leichenschauen seien „ordentlich und unbeeinflusst durchgeführt und protokolliert worden“, anschließend seien die Akten „dann dem MfS übergeben worden. Die Sektionsberichte waren also sauber. Bloß die Einbettung in geheimdienstliche Verfahren war es nicht“ (S. 121), schreibt Benecke. Dies ändert freilich nichts an der Tatsache, dass Prokop direkt – gleichsam ‚körperlich‘ – damit konfrontiert wurde, dass das politische System, in dem er lebte und arbeitete, Menschen tötete, die aus politischen Gründen fliehen wollten. Dennoch blieb Prokop in der DDR. Spätestens hier wird Beneckes Argument, dass es Prokop immer nur um die Wissenschaft gegangen sei, ausgesprochen fragwürdig (vgl. Anton 2013: 114). Prokop zog sich hier aus der Verantwortung, wie Gabriele Goettle in einem Interview mit Benecke festhält: „Sein Gutachten war in Ordnung, aber er hat kein Einspruch erhoben gegen die Verfälschungen der Stasi, die die Sache politisch vollkommen anders dargestellt hat. Er fand auch nicht, dass das 184 seine Aufgabe ist, weil er als Gerichtsmediziner getan hat, was er tun musste.“ (Benecke 2013: 209) So sehr es Prokop bei seinen Beurteilungen der Parapsychologie und des Okkultismus um die ‚reine Wahrheit‘ gegangen war, so flexibel war er offensichtlich, wenn medizinische Fakten vom MfS aus politischen Gründen manipuliert wurden. Insgesamt vermag Beneckes These von dem völlig unpolitischen Menschen Otto Prokop nicht zu überzeugen und die Vermutung erscheint berechtigt, dass bei wesentlichen Entscheidungen in Prokops Leben auch politische Motivationsstrukturen eine Rolle spielten, die bei Benecke im Dunkeln bleiben und vielleicht auch nicht mehr zu rekonstruieren sind. Prokop verfasste eine Autobiographie, doch seine Familie unterband (aus welchen Gründen auch immer) deren Veröffentlichung und tut dies bis heute (vgl. S. 16 und S. 105-108). Dies alles soll jedoch nicht über die wissenschaftlichen Verdienste hinwegtäuschen, die Prokop – vor allem im Bereich der Gerichtsmedizin und der Blutgruppenforschung – zweifelsohne erbracht hat. Sein publizistisches Schaffen umfasst über 600 Schriften, darunter 66 Bücher, die Nachauflagen eingerechnet (vgl. Schurich 1996: 12), sein Atlas der gerichtlichen Medizin gilt bis heute als absolutes Standardwerk. Eine erhebliche Zahl seiner Schriften widmete sich Themen aus den Bereichen Paramedizin, Parapsychologie und Okkultismus. Als Auslöser für die Beschäftigung mit diesen Themengebieten gibt Prokop gerichtliche Auseinandersetzungen an, bei denen er als Sachverständiger fungierte: „Angefangen hat alles mit den Wünschelrutengängern und mit einem Prozess in Bonn gegen den Hersteller eines Abschirmgerätes gegen ‚Erdstrahlen‘, in dem ich als Sachverständiger berufen worden war. […] Und seit dieser Zeit war meine Animosität gegen die Pseudoerfinder und Geschäftemacher besonders akzentuiert“ (zitiert nach Benecke 2013: 82). Prokop habe, so Benecke, durch derartige Scharlatane die gesamte experimentelle Medizin angegriffen gesehen und sei darin „sehr fortschrittlich“ gewesen (ebd.). Wolfgang Mattig, einer der Schüler Prokops, bekräftigt dies im Interview. Auf die Frage nach Prokops Motivation hinter seinem Engagement gegen Okkultismus, Paramedizin etc. antwortet er: Vielleicht war es ein Schlüsselerlebnis. Er hat mal erzählt, dass er in Bonn einen Gutachtenauftrag hatte zu irgendeinem Betrüger, Scharlatan. Und da hätte er sich ganz intensiv mit dem Thema beschäftigt und wäre von mehreren Seiten hart attackiert worden und hat sich dann wohl sehr intensiv damit auseinandersetzen müssen. Zwangsläufig, um nicht als Depp dazustehen. […] Jetzt hat er sich damit beschäftigt, jetzt hat er Sachkunde gehabt und zwar viel mehr als alle anderen Kollegen in der Gerichtsmedizin. Das ist ja eigentlich kein typisch gerichtsmedizinisches Thema. […] Seine Motive hat er nie genannt, aber dass er dieses Gutachten hatte, das hat er oft erwähnt, dass ich

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das Gefühl bekam, das könnte ein Schlüsselerlebnis gewesen sein, was ihn bestimmt hat. (Interview 15: 66f.) Die kritische Auseinandersetzung mit Paramedizin, Parapsychologie, Okkultismus etc. kann zu Recht als Prokops „großes Thema“ (Benecke 2013: 77) bezeichnet werden, das ihn bis zuletzt beschäftigte. Im öffentlichen Diskurs der DDR zu entsprechenden Themen war er gleichsam omnipräsent. Er hielt nicht nur unzählige Vorträge, publizierte Bücher, wissenschaftliche Aufsätze, Lexikonbeiträge und Zeitungsartikel zu den interessierenden Themen, sondern prägte sogar Spezialdiskurse wie beispielsweise innerhalb der Szene der Zauberkünstler in der DDR durch Beiträge in den entsprechenden Publikationsorganen (siehe etwa Prokop 1976, 1977). Ob hinter diesem Engagement (auch) eine wie auch immer geartete politische Motivation lag, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Fest steht allerdings, dass Prokop der bedeutendste Einzelakteur im Zusammenhang mit dem öffentlichen Diskurs der DDR über das Paranormale war und darüber hinaus ein überaus wirkmächtiger ‚Wächter‘ der orthodoxen Wirklichkeitsbestimmung der DDR.

Die Urania

Wie in Abschnitt 3.2 bereits dargestellt, agierte die Urania in der DDR als szientistischer Akteur. Bereits unmittelbar nach dem organisatorischen Aufbau der Urania in der DDR war das Hauptziel klar definiert: „Während die herrschenden Kreise in den imperialistischen Ländern und im Westen unserer Heimat bemüht sind, den werktätigen Massen den Zugang zur wissenschaftlichen Erkenntnis zu versperren, werden wir neue Möglichkeiten erschließen, unseren Werktätigen Wissen zu vermitteln. Während die Feinde des Fortschritts mit unwissenschaftlichen, menschenfeindlichen Theorien die Volksmassen zu verwirren suchen, um sie für Zerstörung und Krieg missbrauchen zu können, werden wir die wahren Zusammenhänge des Geschehens in Natur und Gesellschaft darlegen.“ (zitiert nach Schmid-Lux 2008a: 244) Eng damit verbunden war die Ablehnung von allem, was als irrational, abergläubisch oder pseudowissenschaftlich galt. Die entsprechenden Themen wurden jedoch nicht nur kritisch betrachtet, sondern aktiv bekämpft. Das Ziel bestand darin, mittels Schriften und Vorträgen die Reste abergläubischer Vorstellungen in der DDR-Bevölkerung systematisch zu tilgen und darüber hinaus den Aberglauben in westlichen Gesellschaften zu verpönen. In diesem Zusammenhang sind die Bände Magie, Sternenglaube, Spiritismus – Streifzüge durch den Aberglauben von Gerhard Zwerenz (1956), Wünschelrute, Erdstrahlen und Wissenschaft, herausgegeben von Otto Prokop (1957) sowie Hexeneinmaleins – Medien, Mythen,

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Manipulation, Hintergründe des Aberglaubens von Ursula Bergmann (1988) zu sehen, die alle im Verlag der Urania erschienen sind. Ebenfalls in diese Reihe zählt die besprochene TV- Dokumentation Gibt es übernatürliche Erscheinungen? der neuen Fernseh-Urania. Welchen Einfluss Vorträge der Urania zu entsprechenden Themen in der DDR-Bevölkerung hatten, lässt sich anhand der Quellenlage schwer rekonstruieren. Bemerkenswert sind allerdings die allgemeinen Größenordnungen der Urania in der DDR: „Die Urania erfuhr einen schnellen und umfassenden Aufbau und stellte im Ergebnis alle Vorläufer in den Schatten. Mitte der 70er Jahre erreichten die Eckdaten mit über 350.000 Vorträgen und fast 12 Millionen Besuchern ihren Höhepunkt und blieben seitdem auf ungefähr gleichem Niveau. Die Zahl der Mitglieder der Urania belief sich zum Ende der 80er Jahre auf 57.000. Finanziert wurde dieses umfangreiche Programm über Mitgliedsbeiträge und Eintrittsgelder, größtenteils aber durch staatliche Zuschüsse.“ (Schmidt-Lux 2008b: 61) Und an anderer Stelle: „Generell kann festgehalten werden, dass die Urania im Laufe ihrer Tätigkeit ein bemerkenswert großes Publikum fand. Selbstverständlich nicht jeder, aber doch weite Teile der DDR-Bevölkerung kamen über die Teilnahme an Vorträgen, den Kauf von Magazinen oder Büchern mit ihr in Kontakt.“ (S. 286) Schmidt-Lux folgert daraus, dass szientistische Ideen (und damit auch die kritische Haltung gegenüber dem Aberglauben) in der DDR eine weite Verbreitung fanden. Durch die finanzielle und organisatorische Ausstattung der Urania hätte der Szientismus in der DDR gleichsam ‚offiziellen Status‘ gewonnen. (vgl. Schmidt-Lux 2008a: 283). Das Agieren der Urania im Sinne des Szientismus bzw. der „atheistischen Bewusstseinsarbeit“ kann dabei vor allem für die Anfangszeit der DDR als „zentrales Aufgaben- und Arbeitsfeld bezeichnet werden“ (S. 284). Semantisch in einen „Kampf gegen den Aberglauben gekleidet, nahm die Urania alles in den Fokus ihrer Aktivitäten, was nicht der wissenschaftlichen Weltanschauung und einem radikalen Materialismus entsprach“, wobei sich „szientistische und politische Argumentationen verschränkten“ (ebd.) Deutlich wird dies beispielsweise in einer Rede des Vorsitzenden Werner Rothmaler bei einer Präsidiumstagung der Urania am 27. April 1956: „Es genügt nicht, nur Wissenslücken auszufüllen. […] Es ist unmöglich, wenn heute ein Herrscher über moderne Automaten und modernste Maschinen an einem Freitag den 13. sich mit dem Gefühl bevorstehenden Unglücks an seinen Arbeitsplatz begibt. Moderne Maschinerie und Vorstellungen, die dem Wissensniveau einer lägst überwundenen Vorzeit entstammen, sind unvereinbar und hemmen. Die unseren Aufbau hemmenden Vorstellungen sind nicht alle so alt, dass sie bis in die Uhrzeit zurückverfolgt werden können. Sehr viele stammen aus der jüngsten Vergangenheit, aus dem Kapitalismus, aus der Zeit des Faschismus. […] Es gibt gerade in Westdeutschland mehrere populärwissenschaftliche Werke über das Gebiet ‚Weltall, Erde, Mensch‘, in denen eigentlich fast durchgängig behauptet wird, dass es unerkennbare Dinge 187

gibt und unlösbare Probleme gibt, die die Macht und das Können der Wissenschaft übersteigen, Probleme, bei denen man sich am besten an die Bibel, an die Sagen, Legenden der primitiven Völker halten soll, d.h. die alten Vorstellungen in den Köpfen unserer Menschen sind die Verbündeten unserer Gegner. Wollen wir diese hemmenden Vorstellungen beseitigen, heißt es nicht, dass wir uns nur mit diesen auseinandersetzen. Wir müssen das Alte intensiver dadurch verdrängen, dass wir das Neue an seine Stelle setzen. Legen wir unsere wissenschaftliche Weltanschauung offener dar, erläutern wir sie gründlicher.“ (zitiert nach Schmidt-Lux 2008a: 258f.) In einem Brief aus dem Mai 1958 an alle Urania-Mitglieder, die mit der „weltanschaulichen Erziehungsarbeit, insbesondere auf naturwissenschaftlichem Gebiet“ (S. 261) betraut waren, ist zu lesen, dass die Notwendigkeit bestünde, ein sozialistisches Bewusstsein zur Lösung der komplizierten gesellschaftlichen Aufgaben zu entwickeln. Die Grundlage dafür sei ein wissenschaftlich begründetes Weltbild und der dialektische Materialismus als Weltanschauung, „die den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Natur und der Gesellschaft entspricht“ (zitiert nach Schmidt-Lux 2008a: 261). Die Unkenntnis naturwissenschaftlicher Grundlagen bereite einen „günstigen Boden für Aberglaube, Mystizismus und Fatalismus“ (ebd.). Die Arbeit der Urania wurde über einen zentral strukturierten Aufbau der Organisation koordiniert. Das höchste Organ war der Kongress, der all fünf Jahre zusammen trat. Zwischen den Kongressen war das zweijährlich tagende Präsidium das höchste Entscheidungsgremium. Das Präsidium bestand aus rund 100 Personen und wurde nach außen von dem Präsidenten der Urania vertreten. Die Mitglieder des Präsidiums stammten in der Regel aus dem akademischen Feld. Unter ihnen waren hauptsächlich Professoren und Mitarbeiter an wissenschaftlichen Einrichtungen. Getragen wurde die Urania aber vor allem von untergliederten Vorständen und Sekretariaten auf den verschiedenen Gliederungsebenen: „So bestanden auf allen administrativen Ebenen – Bezirke, Kreise, später Stadtbezirke – Vorstände, die die Urania-Arbeit zusammen mit den hauptamtlichen Bezirks- und Kreissekretariaten organisierten […].“ (Schmidt-Lux 2008a: 224) Darüber hinaus bestanden thematische Sektionen, in denen alle Referenten der jeweiligen Fachgebiete organisiert waren. Sie stellten somit die ‚Fachleute‘ dar, „die mit den hauptamtlich angestellten politischen und wissenschaftlichen Urania-Mitarbeitern die Vortragstätigkeit inhaltlich abstimmten. 1988 umfasste die Urania 18 thematische Sektionen aus Natur- und Geisteswissenschaften“ (ebd.). Durch diese feingliedrige Struktur konnte die Urania potenziell die gesamte Bevölkerung der DDR erreichen.

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Auch wenn die Urania eine für DDR-Verhältnisse relativ autonome Stellung für sich beanspruchen konnte, blieb sie letztlich doch eng an die politische Machtzentrale angebunden: „Im Institutionen- und Machtgefüge nahm die Urania eine intermediäre Stellung ein. Daraus leiten sich sowohl ihr Einfluss, aber auch die Restriktionen ab, denen ihre Arbeit unterlag. Inhaltlich war die Urania zu keiner Phase ihrer Existenz eigenständig. Maßgeblich waren immer die offiziellen ZK-Beschlüsse bzw. die entsprechenden Ansprechpartner im ‚Großen Haus‘, wie das ZK parteiintern genannt wurde.“ (S. 285) Sämtliche relevanten Funktionäre der Urania waren SED-Mitglieder, somit, folgert Schmidt- Lux weiter, „arbeitete die Urania engagiert und in zweifelloser Übereinstimmung mit der offiziellen Ideologie als Agentin einer wissenschaftlichen Weltanschauung. Ausgesprochen selten kam es zu Konflikten über Programm oder Einzelveranstaltungen, die Urania erwies sich als zuverlässiger Teil der sozialistischen Gesellschaft (ebd).“ Offen bleibt allerdings die Frage, ob sich die Urania auch ohne diese institutionellen Verflechtungen, gleichsam aus sich heraus, explizit am Szientismus orientiert hätte. In der öffentlichen Wahrnehmung hatte die Urania jedenfalls eine Stellung als nicht unmittelbar zum Machtapparat gehörende Organisation, was sicher einen Teil ihrer Popularität erklärt. Darüber hinaus dürfte nicht zuletzt ein Mangel an Alternativen, sich populärwissenschaftlich zu informieren, zur Attraktivität der Urania beigetragen haben (vgl. S. 286). Insgesamt war die Urania eng mit der DDR-Staatsführung verflochten und kann als einer der wichtigsten Akteure bei der Vermittlung der wissenschaftlichen Weltanschauung in der DDR betrachtet werden. Dabei gingen von Anfang an wissenschaftliche und politische Argumentationen und Stoßrichtungen Hand in Hand. Zum szientistischen Programm der Urania gehörte explizit auch die Bekämpfung des Aberglaubens. Unzählige Diskursfragmente, die sich kritisch oder ablehnend mit Themen aus dem Untersuchungsfeld befassen, stammen aus dem Kontext der Urania, weshalb ihr im öffentlichen Diskurs der DDR zum Themengebiet des Paranormalen eine zentrale Bedeutung zukommt.

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6. Die institutionelle Ebene

Das folgende Kapitel beleuchtet die Frage nach institutionellen Festlegungen, Zuständigkeiten, Regelungen etc. in Bezug auf das Paranormale. Sofern es in verschiedenen Institutionen wie z.B. bei der Polizei, im Ministerium für Staatssicherheit oder im Gesundheitswesen Bezüge zum Untersuchungsfeld gab, in welcher Weise wurde mit den entsprechenden Themen umgegangen? Welcher Logik bzw. Stoßrichtung folgten Anordnungen oder Gesetze, die einen Bezug zum hier interessierenden Themenfeld hatten? Zur Beantwortung dieser Fragen werden zunächst einige Maßnahmen (und deren gesetzliche Grundlagen) der Deutschen Volkspolizei in der SBZ und der frühen DDR analysiert, die sich gegen Wahrsager, Spiritisten und Astrologen richteten. Anschließend wird es um die Frage gehen, ob und inwieweit sich das MfS für Themen aus dem Bereich des Paranormalen interessierte. Konkret gefragt: Waren Themen wie Parapsychologie, UFOs, Okkultismus etc. relevant für die Staatssicherheit? Falls ja, gab es im Ministerium gesonderte Zuständigkeiten für diese Themengebiete? Im darauf folgenden Abschnitt wird der Umgang mit verschiedenen alternativen bzw. paramedizinischen Heil- und Diagnoseverfahren im DDR- Gesundheitswesen betrachtet. Welche Regelungen gab es z.B. in Bezug auf Homöopathie oder Akkupunktur? Durften in der DDR Heilpraktiker praktizieren? Der letzte Abschnitt des Kapitels bezieht sich auf verschiedene Maßnahmen zur Kontrolle bzw. Zensur von Literatur im Zusammenhang mit dem Untersuchungsfeld, die in erheblichem Maße dazu beitrugen, die offizielle Wirklichkeitsbestimmung in Bezug auf das Paranormale abzusichern und zu reproduzieren.

6.1 Verbot und Verfolgung in der SBZ und der frühen DDR

Am 10. Mai 1941 flog Rudolf Heß, der ‚Stellvertreter des Führers‘, mit einer Messerschmitt 110 nach Schottland, um mit britischen Militärs Verhandlungen über einen Sonderfrieden mit den westlichen Alliierten aufzunehmen. Heß, der schon länger in dem Ruf stand, sich für Okkultismus, Astrologie und ähnliche Themen zu interessieren, hatte seine Aktion zuvor nicht mit der NS-Führung abgestimmt. Die – abgesehen von Ausnahmen wie Heinrich Himmler – dem Okkultismus sehr kritisch gegenüber stehende NS-Führung nutze diesen Alleingang von Heß, um anschließend massiv gegen Astrologen, Okkultisten etc. vorzugehen (vgl. Schellinger, Anton und Schetsche 2010: 292). Adolf Hitler soll sich am Nachmittag des 13. Mai in einer eilig einberufenen Besprechung mit sämtlichen NSDAP-Reichs- und -Gauleitern

190 auf dem Obersalzberg wutentbrannt geäußert haben: „Heß ist vor allem ein Deserteur, und wenn ich ihn je erwische, büßt er für diese Tat als gemeiner Landesverräter. Im übrigen scheint mir dieser Schritt stärkstens mitveranlasst zu sein von dem astrologischen Klüngel, den Heß um sich in Einfluss hielt. Es ist daher Zeit, mit diesem Sterndeuterunfug radikal aufzuräumen.“ (zitiert nach Frank 1953: 401) Bereits zwei Tage später erließ Joseph Goebbels eine Anordnung, in der er „jedwede okkultistischen, hellseherischen, telepathischen oder astrologischen Vorführungen untersagte“ (Schellinger, Anton & Schetsche 2010: 293). In sein Tagebuch notierte Goebbels: „Diese [sic] ganze obskure Schwindel wird nun endgültig ausgerottet. Die Wundermänner, Heß‘ Lieblinge, werden hinter Schloß und Riegel gesetzt.“ (Fröhlich, 1998: 311, 315) Am 9. Juni 1941 kam es schließlich, geplant und durchgeführt von der Geheimen Staatspolizei (Gestapo), dem Sicherheitsdienst (SD) der SS und der Kriminalpolizei, zu einer groß angelegten „Razzia gegen die dem Regime bekannt gewordenen Geheimwissenschaftler und Okkultisten, insbesondere aber gegen zahlreiche Astrologen und Astrologinnen im gesamten Reichsgebiet. […] Im Verlauf dieser Aktion wurden durch Gestapo und Kriminalpolizei zahlreiche Personen verhört, in Haft genommen sowie ihre Bibliotheken und Unterlagen beschlagnahmt. Nicht wenige Betroffene wurden in Konzentrationslager verschleppt.“ (Schellinger, Anton & Schetsche 2010: 294) Goebbels kommentierte die Aktion zynisch: „Alle Astrologen, Magnetopathen, Anthroposophen etc. verhaftet und ihre gesamte Tätigkeit lahmgelegt. Damit ist diesem Schwindel endgültig ein Ende gemacht. Sonderbarerweise hat nicht ein einziger Hellseher vorausgesehen, dass er verhaftet wurde. Ein schlechtes Berufszeichen.“ (Fröhlich, 1998: 370) Bereits einige Jahre vor dieser Aktion – später auch ‚Aktion Heß‘ oder ‚Heß-Aktion‘ genannt – wurden Wahrsagen, Astrologie, Kartenlegen etc., sofern entgeltlich betrieben, im ‚Dritten Reich‘ unter Strafe gestellt. In der 37. Polizeiverordnung vom 13. August 1934, „betreffend das Wahrsagen“, heißt es: „§ 1. Das entgeltliche Wahrsagen, die öffentliche Ankündigung entgeltlichen oder nicht entgeltlichen Wahrsagens sowie der der Handel mit Druckschriften, die sich mit Wahrsagen befassen, ist verboten. § 2. (1) Wahrsagen im Sinne der Polizeiverordnung ist das Voraussagen künftiger Ereignisse, das Wahrsagen der Gegenwart und der Vergangenheit und jede sonstige Offenbarung von Dingen, die dem natürlichen Erkenntnisvermögen entzogen sind. (2) Hierzu gehört insbesondere das sogenannte Kartenlegen, die Stellung des Horoskops, die Sterndeuterei und die Zeichen- und Traumdeutung. […] § 4. Für jeden Fall der Nichtbefolgung dieser Polizeiverordnung wird hiermit die Festsetzung eines Zwangsgeldes in Höhe bis zu 50.- RM, im Nichtbeitreibungsfalle die Festsetzung von Zwangshaft bis zu einer Woche angedroht.“ (37. Polizeiverordnung 1934: 1)

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In der SBZ und später in der DDR wurde diese Regelung nahezu unverändert übernommen (vgl. Korzilius 2005: 45). So ist in einer Rundverfügung von Artur Hofmann, dem Chef der sächsischen Polizei, vom August 1946 zu lesen: „Das Wahrsageunwesen hat in letzter Zeit wieder stark zugenommen. Es wird bedingt durch die große Ungewißheit vieler Deutscher über das Schicksal ihrer Angehörigen, die sich an jede Nachricht klammern, selbst wenn sie von Kartenlegern stammt. Die auf diese Weise erzeugten Illusionen sind nachteilig für den Wiederaufbau und müssen daher entschieden bekämpft werden.“ (Hofmann 1946: 1) Weiter heißt es: „Die gewerbliche Ausübung der Wahrsagerei, Chiromantie, Phrenologie und Astrologie ist verboten. Daneben ist besonders bei der Wahrsagerei zu überwachen, daß unter dem Deckmantel von ‚Gratisauskünften‘ nicht eine gewerblich betriebene Einnahmequelle steckt, da ‚freiwillige‘ Spenden angenommen werden.“ (Ebd.) Wer trotzdem Wahrsagerei betreibt, sei dem „Arbeitsamt für Wiederaufbau zuzuleiten. Daneben können Geldstrafen bis zu 150,- RM verhängt werden.“ (Ebd.) Ein Schreiben (Rundverfügung Nr. 185) des sächsischen Innenministers Kurt Fischer vom 1. Juli 1947 an alle Polizeibehörden ergänzte die Rundverfügung vom August 1946 und übernahm beinahe wörtlich die Verordnung gegen das Wahrsagen aus dem Jahr 1934. Hier wurde festgehalten: „In Ergänzung zur Rundverfügung I 2 A:2-62/46 vom 08.4.46 wird darauf aufmerksam gemacht, daß die Verordnung des Ministeriums des Inneren vom 25.10.34 nicht aufgehoben, sondern noch gültig ist.“ (Fischer 1947: 1) Anschließend folgt der Wortlaut der Verordnung von 1934, die lediglich in § 4, also bei der Festlegung des Strafmaßes, abgeändert wurde. Dies wiederum wurde in einem Vermerk der Deutschen Verwaltung des Inneren in der sowjetischen Besatzungszone mit dem Betreff „Verbot des Wahrsagens, der Sterndeuterei usw.“ aus dem Mai 1948 festgelegt: „Die neue Verordnung hat wörtlich die Polizeiverordnung vom 13.08.1934 übernommen, mit Ausnahme des § 4 (s. Anl. 2). Hierin wird die Festsetzung eines Zwangsgeldes anstatt bisher 50 RM jetzt mit 150 RM festgesetzt, im Nichtbeitreibungsfalle die Festsetzung von Zwangshaft anstatt von 1 Woche, jetzt bis 3 Wochen angeordnet […]. (Deutsche Verwaltung des Inneren 1948: 1) Auch in der DDR wurde die Regelung von 1934 übernommen, das Strafmaß bei Zuwiderhandlungen aber drastisch erhöht, wie aus einem Schreiben des Justizministeriums an das Innenministerium, Hauptabteilung staatliche Verwaltung, hervorgeht, in dem es heißt: „Das entgeltliche Wahrsagen, zu dem außer dem sogenannten Kartenlegen die Sterndeuterei, das Stellen von Horoskopen und die Traumdeuterei zählen, wird in aller Regel als Betrug gemäß § 263 StGB mit Gefängnis bis zu 5 Jahren und mit Geldstrafe bis zu 10 000 ,- DM zu

192 bestrafen sein.“ (Ministerium der Justiz 1950: 1) Zum unentgeltlichen Wahrsagen wird ausgeführt, dass es als „grober Unfug nach § 360 Ziff. 11 StGB mit Geldstrafe bis zu 150.- DM oder mit Haft bis zu 6 Wochen bestraft werden“ (ebd.) kann. Die „ungenügende Bekämpfung des Wahrsageschwindels“, heißt es weiter, sei nicht auf den angeblich unzulänglichen Strafschutz zurückzuführen, vielmehr sei „sie wohl eine Folge der ungenügenden Überwachung des in Betracht kommenden Personenkreises durch die zuständigen Verwaltungsbehörden“ (ebd.). In den Akten des DDR-Innenministeriums und der Polizei im Bundesarchiv finden sich auch Hinweise auf konkrete Überwachungs- und Sanktionsmaßnahmen im Zusammenhang mit den entsprechenden Praktiken, wie z.B. im Fall eines „astrologischen Instituts“ in Stendal im Jahr 1948. Der Betreiber dieses ‚Instituts‘ soll, vermerkt ein Schreiben des Zentralsekretariats der SED, Abteilung Arbeit und Sozialfürsorge, an das Innenministerium, „mit Vorliebe Horoskope über vermißte ehemalige deutsche Soldaten“ (SED-Schreiben 1948: 1) ausstellen. Im Anschluss wird aus einem solchen Horoskop zitiert: „Der an 14.11.09 im Zeichen ‚Skorpion‘ geborene Sohn lebt. Sein Geburts- Horoskop meldet den Tod nicht! Etwaige Todesmeldungen von irgendwoher entbehren ihr [sic] sicheren Anhaltspunkte. Der Sohn geriet 1943 schwer verwundet in russ. Gefangenschaft. Es wird gemeldet: Zur Zeit noch in ärztl. Behandlung. Nicht reisefähig. Bei dem Verwundeten tritt jetzt langsam Heilung ein. Soll nach seiner Genesung entlassen werden. Briefe von ihm sind durch elementare Wirkung verloren gegangen. Es ist zu empfehlen, sich bei ‚Rotes Kreuz in Moskau‘ Erkundigungen einzuziehen!“ (Ebd.) Tatsache sei jedoch, dass der Betreffende, für den das Horoskop gestellt wurde, „seinen Angehörigen noch vor der Kapitulation als gefallen gemeldet wurde.“ Es wird empfohlen, den Betreiber des ‚Instituts‘ „näher anzusehen und uns entsprechenden Bescheid zukommen zu lassen“ (ebd.). Das Innenministerium leitete den Vorgang an die zuständige Landespolizeibehörde (Sachsen-Anhalt) weiter. Diese wiederum meldet kurze Zeit später an das Innenministerium, dass die Ermittlungen in diesem Fall durch die Kriminalpolizei übernommen wurden. Es wurde „ein Strafverfahren bei der Staatsanwaltschaft Stendal wegen Betrugs eingeleitet. Jede Tätigkeit des Beschuldigten ist untersagt worden“ (Landespolizeibehörde Sachsen-Anhalt 1948: 1). Die Polizeibehörden der DDR ermittelten nicht nur gegen Wahrsager und Astrologen, sondern gleichermaßen gegen ‚Spiritisten‘. 1950 wurden seitens der Deutschen Volkspolizei in der gesamten DDR Ermittlungen eingeleitet, die klären sollten, ob spiritistische Gruppen existieren oder ob Pläne bestehen, solche zu gründen. In einem Schreiben des Chefinspekteurs Lust an die Landespolizeibehörden heißt es: „Es sind Bestrebungen im Gange, in den

193 einzelnen Ländern der DDR spiritistische Zirkel zu bilden. Die Landesbehörden der Volkspolizei werden angewiesen, Ermittlungen einzuleiten, ob Gruppen dieser Art bereits bestehen oder ob versucht wurde, diese zu gründen.“ (Deutsche Volkspolizei 1950a: 1) In den entsprechenden Antwortschreiben ist von mehreren spiritistischen Zirkeln zu lesen, die von der Volkspolizei oder vom MfS überwacht oder direkt verboten wurden. So meldet beispielsweise die Landespolizeibehörde Brandenburg an die Hauptverwaltung: „Die Ermittlungen im Lande Brandenburg ergaben, daß nur in Kromlau, Kr. Spremberg eine Gruppe von 4 Personen älteren Jahrgangs besteht. Dieser Gruppe ist jede Tätigkeit untersagt worden.“ (Landepolizeibehörde Brandenburg 1950: 1) Die Landespolizeibehörde Sachsen meldet einen spiritistischen Zirkel in Weißwasser in der Oberlausitzt (Landespolizeibehörde Sachsen 1950a: 1f), woraufhin der Chefinspekteur Lust fordert: „Dem spiritistischen Zirkel in Weißwasser ist die Ausübung jeder weiteren Tätigkeit sofort zu untersagen und zu überwachen [sic].“ (Deutsche Volkspolizei 1950b: 1) Weiterhin meldet die Landespolizeibehörde Sachsen: „In Lauter findet einmal im Monat ein spiritistischer Zirkel statt an dem hauptsächlich ältere Frauen teilnehmen. 8 Anhänger der Sekte wurden festgestellt. […] Das Referat VA 3 wurde angewiesen, den Zirkeln in Lauter und Bockau jede weitere Tätigkeit zu untersagen und die Einhaltung dieses Verbots strengstens zu überwachen.“ (Landespolizeibehörde Sachsen 1950b: 1) Ähnliche Berichte finden sich für weitere spiritistische Zirkel in verschiedenen Städten und Gemeinden, beispielsweise für Crottendorf im Erzgebirge: „In Crottendorf/Erzgeb. wurde festgestellt, daß einige Anhänger des Spiritismus unregelmäßig zusammen kommen. Als Medium tritt eine unbekannte Person auf […]. Ermittlungen sind noch im Gang.“ (Ebd.) Ein weiterer Bericht stammt aus Schöneck im westlichen Erzgebirge. Hier würden alle drei bis vier Wochen „illegale Zusammenkünfte von Spiritisten stattfinden (ebd.)“. Die Ämter wurden angewiesen, „laufend genaue Ermittlungen über die Tätigkeit der Spiritisten anzustellen unter speziellem Einsatz des Sektionsdienstes. Charakteristiken von den führenden Spiritisten und Medien werden, soweit noch nicht vorhanden, nachgereicht. Die Überwachung der Spiritisten soll dazu führen, alle Beteiligten zu erfassen, um im gegebenen Moment den gesamten Zirkel zu verbieten.“ (ebd.) Die Akten geben keine Auskünfte über die Frage, ob die beteiligten Akteure über ein Verbot der spiritistischen Zirkel hinaus strafrechtlich belangt wurden. Dennoch machen sie deutlich, dass Aktivitäten auf diesem Gebiet missbilligt und rigoros unterbunden wurden. Ein hohes Strafmaß erhielt im Jahr 1957 eine ‚Kartenlegerin‘ aus dem Kreis Zossen in Brandenburg, wie das Hamburger Abendblatt vom 19. Juli 1958 berichtet. Sie hatte einer 194

Diebin die Karten gelegt und gewahrsagt, dass ihre Taten aufgedeckt würden und sie dafür ins „Zuchthaus“ käme. Die Kartenlegerin wurde wegen „Staatsverleumdung“ nach Paragraf 131 StGB angeklagt und am 9. August 1957 vom Kreisgewicht Luckenwalde zu 10 Monaten Gefängnis verurteilt. Der Grund für die Verurteilung war, dass sie der Diebin gesagt hatte, „daß ihr ‚Zuchthaus‘ drohe, obgleich es wegen so leichter Vergehen nur ‚Gefängnis‘ gibt.“ (Hamburger Abendblatt 1958) Die Begründung für die Verurteilung lautete wörtlich: „Die Staatsverleumdung besteht darin, daß die Angeklagte die Tatsache, daß Bürger, die gegen Gesetze verstoßen, bestraft werden, entstellt und damit unsere Staatseinrichtungen verächtlich gemacht hat.“ (zitiert nach Hamburger Abendblatt 1958) Überregionale Bekanntheit erlangte der Fall von Charlotte Marquardt, auch bekannt als die „Kartenlegerin von Suhl“, der detailliert in dem Band Die Kartenlegerin von Suhl: „Ich bin bei der Stasi gefangen…“ von Baldur Haase rekonstruiert wurde. Marquardt hatte in den 1950er-Jahren mehrere Jahre lang DDR-Bürgern die Karten gelegt. Da sie laut Polizei und MfS mehreren Personen empfohlen habe, die DDR zu verlassen, wurde sie aufgrund systematischer „Verleitung mehrerer Familien zum illegalen Verlassen der DDR durch ‚Weissagungen‘ einer Kartenlegerin als Boykotthetze i. S. des Art. 6 der Verfassung“ (zitierte nach Haase 1998: 9) zu zwölf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. In der entsprechenden Urteilsschrift des Bezirksgerichtes Suhl vom 5. August 1956 ist zu lesen: „Die 53jährige Angeklagte bestritt seit 1945 ihren Lebensunterhalt dadurch, daß sie gegen Entgelt Karten legte. Sie hatte einen großen Besucherkreis und empfing oftmals mehrere Personen pro Tag. Ein in Westberlin wohnender Bruder der Angeklagten, der den Verhältnissen in der DDR feindlich gegenüberstand und der die Einheit Deutschlands im westlichen Sinne erstrebte, riet ihr, ihre Besucher durch das Kartenlegen zum Verlassen der DDR zu bestimmen. Diesem Ansinnen kam die Angeklagte nach. […] Aus einer gewissen Feindschaft gegen den Staat der Arbeiter und Bauern hat sie die Zurückgebliebenheit oder die schwankende Haltung ihrer im Aberglauben befangenen Besucher ausgenutzt und sie zur Abwanderung nach Westdeutschland bewogen.“ (zitiert nach Haase 1998: 9) Laut Ermittlungsakten wurde Charlotte Marquardt am 26. November 1955 auf dem Bahnhof in Suhl von Beamten der Kriminal- und Volkspolizei verhaftet, nachdem mehrere Anzeigen gegen sie wegen ‚Kartenlegerei‘ eingegangen waren. U.a. wurde Marquart von einer Frau angezeigt, deren Mann nach einem Besuch in Westberlin nicht zurückgekommen sei. Als Grund für die Flucht ihres Mannes in den Westen hatte die Frau „Einflüsterungen der Kartenlegerin“ (Haase 1998: 21) angegeben. Die Verhaftung erfolgte auf der Grundlage von Artikel 6 der DDR-Verfassung vom Oktober 1949 über „Boykott- und Kriegshetze“. Dort heißt es:

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„Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen, Mordhetze gegen demokratische Politiker, Bekundung von Glaubens-, Rassen-, Völkerhaß, militaristische Propaganda sowie Kriegshetze und alle sonstigen Handlungen, die sich gegen die Gleichberechtigung richten, sind Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches.“ (Verfassung der DDR 1949) Dieser Artikel war im Sinne einer Generalklausel derart weit gefasst und offen formuliert, dass sich darunter letztlich alles subsummieren ließ, was sich gegen die Interessen der DDR- Führung richtete. Nach ihrer Verhaftung wurde Marquardt ausgiebig zu den Vorwürfen verhört und gab zu, dass sie mehreren Personen die Karten gelegt und sie zur Ausreise in den Westen bewogen hatte. In dem Vernehmungsprotokoll der Volkspolizei ist zu lesen: „Seit 1944 befasse ich mich mit dem Kartenlegen. Ich lernte es 1944 von einer polnischen Staatsangehörigen. Als ich 1945 wieder nach Suhl zurück kam, wurde ich von der Frau eines Kameraden meines geschiedenen Mannes aufgesucht. Dieser Frau legte ich die Karten. Was ich ihr erzählt habe, weiß ich nicht mehr. Durch diese Frau wurde es dann in Suhl bekannt, daß ich mich mit dem Kartenlegen befasse. […] Ich muß auf Vorhalt zugeben, daß die aufgeführten Personen durch mein Kartenlegen schließlich so weit gebracht worden sind, nach Westdeutschland zu gehen. Wohl lag der Gedanke bei den meisten schon vor, nach drüben zu gehen. Jedoch den letzten Rest, dem Gedanken die Tat folgen zu lassen, habe ich ihnen erst gegeben.“ (zitiert nach Haase 1998: 27f.) Nach den Vernehmungen bei der Volkspolizei wurde Charlotte Marquardt an das MfS übergeben und kam bei der Bezirksverwaltung Suhl in Untersuchungshaft. Hier wurde sie erneut intensiv verhört. Aus den entsprechenden Vernehmungsprotokollen wird, so Haase, „die Manipulierung der Gefangenen auch bis in die mündliche Ausdrucksweise hinein sichtbar“ (Haase 1998: 33). Marquardt wurde stundenlang ohne Unterbrechung verhört, teilweise auch nachts, ihr wurden Suggestivfragen gestellt, ihre Aussagen vermutlich verfälscht. Ihre Angehörigen erhielten über Wochen keine Auskunft über sie, Rechtsbelehrungen wurden unterlassen (vgl. S. 29-34). Diese enorme Härte erklärt sich aus dem Umstand, dass der Fall von Anfang an eine politische Dimension hatte. Marquart wurde vorgeworfen, durch ihr Verhalten dem Aufbau der DDR zu schaden. So heißt es in einem Bericht des der Bezirksverwaltung Suhl des MfS: „Sie hat den Personen, denen sie die Karten legte, die westdeutschen Verhältnisse verherrlicht, wenn diese ein Interesse für die westdeutschen Verhältnisse zeigten oder die Absicht hatten, nach Westdeutschland zu gehen. Sie nutze den Aberglauben dieser Personen, aus und log ihnen vor, daß sie aus den Karten ersehe, daß sie Schwierigkeiten in der Deutschen Demokratischen Republik haben werden und ihnen eine Gefahr drohe.“ (zitiert nach Haase 1998: 52)

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Mehr noch: Ihr wurde vorgeworfen, ein ‚Agent des Klassenfeindes‘ zu sein, sich bei ihrer „Boykott- und Kriegshetzte“ von ihrem in die BRD geflohenen Bruder leiten zu lassen, womit der Fall zu einer ‚imperialistischen Aggression‘ und gleichsam zu einem Schauplatz des Kalten Krieges hochstilisiert wurde. Die entsprechenden Begründungen in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft des Bezirkes Suhl lesen sich wie eine marxistisch-leninistische Propaganda-Schrift und verdienen es, ausführlicher zitiert zu werden. Wörtlich heißt es: „Der Kampf gegen die fortschrittliche Entwicklung unseres Arbeiter- und Bauernstaates wird von den imperialistischen Kräften seit Jahren mit allen Mitteln geführt. Haupttriebkraft dieses Klassenkampfes ist das amerikanische Monopolkapital, das unablässig bemüht ist, jede fortschrittliche Erscheinung zu zerstören. Willige Hilfe hierfür leistet das deutsche Monopolkapital, der Juniorpartner des amerikanischen Kapitals. […] Neben der Spionage auf wirtschaftlichem, politischem und kulturellem Gebiet, neben den mit hinterhältigen Mitteln durchgeführten Sabotage- und Diversionsakten, neben einer gemeinen politischen Hetze gegen alle fortschrittlichen Maßnahmen und Politiker sind die Strategen des kalten Krieges auch dazu übergegangen, in organisierter Form Bürger der Deutschen Demokratischen Republik abzuziehen. […] Deshalb versuchen sie, mit allen Mitteln Fachkräfte und Arbeiter durch ihre Agenten im großen Maße abzuziehen. […] Die Hauptagenten der auf westlichem Gebiet in zahlreicher Menge vorhandenen Verbrecherzentralen führen diese organisierten Abwerbungen aber nun nicht persönlich aus, sondern sie suchen sich verbrecherische Elemente im Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik, denen sie Aufträge zur organisierten Abwerbung erteilen. Dazu erwählen sie sich solche Personen, deren feindliche Einstellung ihnen hinlänglich bekannt ist. Also solche Kreaturen, die diese Verbrechen gerne schon aus Feindschaft gegenüber unserem Arbeiter- und Bauernstaat betreiben, die nur auf den erforderlichen Anstoß warten. Ein solches verbrecherisches Element ist die Beschuldigte Marquardt. In raffinierter Weise wurden Bürger durch die Kartenlegerei der M. unter Versprechungen und Drohungen ihres in West-Berlin wohnhaften Bruders von 1953 bis 1955 zur Republikflucht bewegt. […] Die Abwerbung ist ein Mittel der Kriegsvorbereitung der in Westdeutschland lebenden aggressiven Kräfte gegen die DDR und das Lager des Friedens und stellt in Anbetracht der Gefährlichkeit ein schweres Verbrechen gegen die DDR dar.“ (zitiert nach Haase 1998: 63-65) Der Prozess gegen Charlotte Marquardt sollte von Anfang an ein politischer Schauprozess sein, in dem es darum ging, „jedem der Zuschauer einzubleuen, daß es ihm ebenso (und vielleicht) noch schlimmer ergehen könne“ (Haase 1998: 6). Das MfS gab eine klare politische Zielstellung vor, wie aus einem Protokoll zum Prozess hervorgeht: „Politische Zielstellung: Durch den Prozeß soll der Beweis erbracht werden, daß der Flüchtlingsstrom von der Deutschen Demokratischen Republik nach Westdeutschland vorwiegend von imperialistischen Mächten geschürt wird und keine Folgeerscheinung der Deutschen Demokratischen Republik ist. Besonders soll dabei herausgestellt werden, daß sich der Gegner dabei jeder Methode, so auch des besonders im Thüringer Wald vorhandenen

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Aberglaubens bedient, um Personen nach Westdeutschland abzuziehen und dadurch der Deutschen Demokratischen Republik wirtschaftlich sowie politisch Schaden zuzufügen.“ (zitiert nach Haase 1998: 56f.) Diese Argumentation wurde schließlich in der DDR-Presse übernommen. So heißt es in einem Artikel aus dem Freien Wort vom 20. April 1956, dass Charlotte Marquardt, die, statt einer „geordneten Tätigkeit“ nachzugehen, ihren Lebensunterhalt lieber mit dem Kartenlegen verdiente, der Wirtschaftskraft der DDR aus „vorsätzlich staatsfeindlicher Absicht“ wertvolle Arbeitskräfte entzogen habe und sie jenen Kräften zugeführt habe, die „keine Mittel unversucht lassen, unsere Republik zu schädigen und seit Monaten mit Nachdruck bemüht sind, die westdeutsche Jugend für einen neuen Ostfeldzug in der NATO-Uniform reifzumachen“ (zitiert nach Haase 1998: 16). Weiter heißt es: „Unter Ausnutzung des Aberglaubens, der mit der materialistischen Wissenschaft nichts gemein haben kann und nur zur Vernebelung des gesunden Menschenverstandes geeignet ist, schädigte die M. das Wirtschaftsgefüge unserer Republik. Ihr Verbrechen verdiente eine harte Strafe.“ (Ebd.) Am 14 Juni 1956 wurde Charlotte Marquardt in die Strafvollzugsanstalt Hoheneck bei Stollberg im Erzgebirge überführt. Ein Gnadengesuch auf vorzeitige Entlassung aus dem Jahr 1959 scheiterte. Im Jahr 1963 befand die Staatsanwaltschaft, dass „die bisher verbüßte Strafe von 7 Jahren und 3 Monaten Zuchthaus […] der Gesellschaftsgefährlichkeit“ (zitiert nach Haase 1998: 90) entspricht und daher eine Freilassung in Frage kommt. Allerdings müsste Marquardt überwacht werden, „damit sie nicht erneut ihre Tätigkeit als ‚Wahrsagerin‘ aufnimmt. Solche Menschen sind ständig geneigt, wieder in ihre alte Tätigkeit zu verfallen, zumal es viele Menschen gibt, die auf ‚Hellseher‘ schwören“ (ebd.). Schließlich wurde Charlotte Marquardt nach sieben Jahren und vier Monaten Haft entlassen. Derartige Maßnahmen scheinen durchaus Wirkung gezeigt zu haben. Durch die Verfolgung und Bestrafung einzelner Akteure und die soziale Stigmatisierung entsprechender Themen durch den öffentlichen Diskurs entstand ein sehr realer Verfolgungsdruck, der dazu führte, dass verschiedene okkulte Praktiken in der Bevölkerung immer weniger – oder nur im Modus des Geheimen und Verborgenen – ausgeübt wurden. In den Akten jedenfalls finden sich immer weniger Hinweise auf die Überwachung und Verfolgung entsprechender Aktivitäten. Das Ziel, dem ‚Aberglauben‘ den Nährboden zu entziehen, scheint in dieser Hinsicht tatsächlich erreicht worden zu sein. Die dargelegten Maßnahmen gegen okkulte Praktiken stehen für die allgemeinen politischen Steuerungsmechanismen, die den tiefgreifenden Transformationsprozess in der jungen DDR begleiteten. Historische Untersuchungen zeigen, dass von den späten 1940ern bis in die 1960er Jahre von der Partei- und Staatsführung härtere

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Repressionen und tiefere Eingriffe in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur ausgingen als in den 1970er und 1980er Jahren: „Bis in die sechziger Jahre hinein war das System sehr brüchig, nur allmählich etablierte es sich, und zwar schrittweise, mit teilweise gewaltsamen Mitteln, großer diktatorischer Energie und harten Konflikten. In der ‚Ära Honecker‘ hatte es sich dagegen einigermaßen etabliert.“ (Kocka 1998: 437) Dies gilt insbesondere auch für das MfS, wie Heydemann festhält: „Während das Vorgehen der Staatssicherheit in den 1950er Jahren häufig von Terror und ausgesprochen repressiven Maßnahmen geprägt gewesen ist, trug die innere Konsolidierung der DDR infolge des Mauerbaus dazu bei, dass zumindest die physische Gewaltanwendung allmählich zurückging.“ (Heydemann 2003: 84) Dessen ungeachtet wirft der Fall der Charlotte Marquardt und dessen Bearbeitung durch die Staatssicherheit die Frage auf, welche Rolle die interessierenden Themen im MfS spielten. Wurden okkulte Praktiken in der Bevölkerung systematisch erfasst und überwacht? Falls ja, wer war innerhalb des MfS dafür zuständig? Gab es gar eine Abteilung oder ein Referat, das sich speziell mit Okkultismus, Parapsychologie und verwandten Themen beschäftigte? Diesen Fragen widmet sich der nächste Abschnitt.

6.2 Das Ministerium für Staatssicherheit und das Paranormale

Das Ministerium für Staatssicherheit der DDR wurde am 08. Februar 1950 gegründet und fungierte gleichzeitig als politische Geheimpolizei, Überwachungsinstrument, Untersuchungsorgan bei Straftaten und geheimer Nachrichten- bzw. Spionagedienst. (vgl. Vollnhals 1994: 498) Dementsprechend weitgefächert waren die konkreten Aufgaben des Ministeriums, die von Auslandsspionage, Funkaufklärung und Spionageabwehr über die Sicherung der Staatsgrenze, Pass- und Zollkontrollen bis hin zur Devisenbeschaffung und zur Überwachung der eigenen Bevölkerung reichten (vgl. S. 500). Das weit verzweigte Netzwerk des MfS umfasste 1989 rund 90.000 hauptamtliche und 200.000 inoffizielle Mitarbeiter (IM) ohne Dienstverhältnis. Somit kamen am Ende der DDR auf 180 Bürger ein hauptamtlicher und zwei inoffizielle Mitarbeiter (vgl. Heydemann 2003: 85). Mit den IM als „Hauptwaffe im Kampf gegen den Feind war eine totale flächendeckende Überwachungsarbeit möglich gewesen“ (Müller-Engbers 2010: 439). Das im Fahneneid beschworene Selbstverständnis der MfS-Mitarbeiter bestand darin, die DDR „auf Befehl der Arbeiter- und Bauern-Regierung gegen jeden Feind zu schützen“ und „die Feinde des Sozialismus auch unter Einsatz [ihres]

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Lebens zu bekämpfen“ (zitiert nach Giesecke 1996: 3). Richtlinie für das MfS waren die Vorgaben der SED. Als „Schild und Schwert der Partei“ war das MfS ausschließlich dem Politbüro der SED und der ZK-Abteilung für Sicherheitsfragen rechenschaftspflichtig (vgl. Vollnhals 1994: 499). Die Berliner Zentrale des MfS gliederte sich in fünf Geschäftebereiche, denen jeweils eine unterschiedliche Zahl von „Hauptabteilungen, selbständigen Abteilungen, zentralen Arbeitsgruppen, Stäben und Verwaltungen zugeordnet“ (S. 501) waren. Darüber hinaus bestanden 14 Bezirks- und 217 Kreisverwaltungen und Objektdienststellen, sodass eine flächendeckende Präsenz erreicht wurde und jedem Ort innerhalb der DDR eine MfS- Diensteinheit zugeordnet war (vgl. Müller-Engbers 2010: 438). Das Ausmaß und die umfangreichen Befugnisse des MfS erklären sich auch aus dem Umstand, dass es der wichtigste und zuverlässigste Garant für das Herrschaftssystem der SED war (vgl. Giesecke 1996: 3). Anders ausgedrückt: „Die stete Sorge der SED-Führung um den Erhalt ihrer Herrschaft führte zu einer maßlosen Aufblähung des Staatssicherheitsdienstes, dessen Aufgaben, Kompetenzen und Sonderbefugnisse ständig anwuchsen.“ (Vollnhals 1994: 501) Die flächendeckende Überwachung der Bevölkerung durch IM sollte vor allem dem rechtzeitigen „Erkennen und Beseitigen bzw. Unterbinden von Mißständen, Schlamperei, Unordnung, Planmanipulation, Fehlinformationen, Gefahren, personellen Unsicherheitsfaktoren, sich anbahnenden feindlich-negativen Handlungen“ sowie zum „Einschränken des Einflusses feindlich-negativer Personen und Personenkreise, Zersetzen feindlich-negativer Gruppen und Gruppierungen im Inneren der DDR“ (Richtlinie 1/79: 12) dienen. Die IM berichteten aus allen Bereichen des gesellschaftlichen bzw. sozialen Lebens. Im Mittelpunkt ihrer Tätigkeit stand dabei die zuverlässige Informationsgewinnung über mögliche subversive, oppositionelle Kräfte. Hartnäckige Opponenten sollten mit Hilfe der „operativen Psychologie“ „zersetzt“ werden. Mit ‚Zersetzung‘ war konkret gemeint: „Maßnahmen der Zersetzung sind auf das Hervorrufen sowie die Ausnutzung und Verstärkung solcher Widersprüche bzw. Differenzen zwischen feindlich- negativen Kräften zu richten, durch die sie zersplittert, gelähmt, desorganisiert und isoliert und ihre feindlich-negativen Handlungen einschließlich deren Auswirkungen vorbeugend verhindert, wesentlich eingeschränkt oder gänzlich unterbunden werden.“ (Richtlinie 1/76: 42) Zu den „bewährten Formen der Zersetzung“ zählten u.a. die „systematische Diskreditierung des öffentlichen Rufes, des Ansehens und des Prestiges auf der Grundlage miteinander verbundener wahrer, überprüfbarer und diskreditierender sowie unwahrer, glaubhafter, nicht widerlegbarer und damit ebenfalls diskreditierender Angaben“, die „systematische Organisierung beruflicher und gesellschaftlicher Misserfolge zur Untergrabung des 200

Selbstvertrauens einzelner Personen“ oder die „zielstrebige Untergrabung von Überzeugungen im Zusammenhang mit bestimmten Idealen, Vorbildern usw. und die Erzeugung von Zweifeln an der persönlichen Perspektive“ (S. 43). Mit derartigen Maßnahmen wurden „kritische und aufsässige Geister an Schulen, Bildungseinrichtungen oder Arbeitsstellen entweder diszipliniert oder ins soziale Abseits geschoben“ (Wolle 1998: 154). „Das Ministerium für Staatssicherheit zersetzte die Gesellschaft bis in die Primärgruppen hinein“, resümiert Vollnhals, „um die stets brüchige Stabilität der SED-Herrschaft“ zu sichern. Es war das Herrschaftsinstrument eines ‚sanften‘ Totalitarismus, genannt ‚real existierenden Sozialismus‘ in den Farben der DDR“ (Vollnhals 1994: 514). Angesichts des dichtgewobenen Netzes hauptamtlicher und inoffizieller Mitarbeiter des MfS, das Informationen über die allgemeine gesellschaftliche Stimmungslage, Berichte über betriebliche Engpässe, Nachbarn, Arbeitskollegen oder gar Familien lieferte und jedes Aufkeimen von Opposition und Dissidenz schon präventiv verhindern wollte, stellt sich die Frage, ob und wenn ja in welcher Weise sich die Staatssicherheit auch für das Untersuchungsfeld des Paranormalen interessierte. Konkret gefragt: Gab es innerhalb des MfS eine systematische Beschäftigung – vielleicht sogar in Form einer gesonderten Abteilung, eines Referats oder einer Fachgruppe – mit Themen wie Parapsychologie, Okkultismus, Astrologie, Spiritismus etc.? Dass diesen Themen eine ideologische Brisanz innewohnte, ist vor dem Hintergrund der Logik des skizzierten Szientismus der DDR unstrittig, denn analog zu religiösen Überzeugungen provozierten sie die Grundlagen der wissenschaftlichen Weltanschauung des Marxismus-Leninismus. Im Hinblick auf den strukturellen Aufbau des MfS käme für die Bearbeitung derartiger Themen vor allem die Hauptabteilung XX in Frage. Diese Hauptabteilung bildete den „Kernbereich des Systems der politischen Repression und Überwachung des Ministeriums für Staatssicherheit“ (Braun 2008: 3), sie überwachte „wichtige Teile des Staatsapparates (u.a. Justiz und Gesundheitswesen), die Blockparteien, den Kulturbereich, die Medien und die Kirchen. Federführend war die Hauptabteilung auch bei der Bekämpfung des ‚politischen Untergrundes‘, also der Opposition.“ (Ebd.) In einem der ersten Interviews im Rahmen des Forschungsprojektes mit Herrn Müller,57 der sich zu DDR-Zeiten für das UFO-Thema und Grenzwissenschaften im Allgemeinen interessierte und selbst Mitarbeiter des MfS war, wurde die Vermutung, es könnte innerhalb des MfS eine spezielle Abteilung für die entsprechenden Themen gegeben haben, zunächst gestützt. Herr Müller führte aus: „Ich kann’s nicht

57 Name geändert. 201 beweisen, aber ich denke mal, es gab auch bei uns im Ministerium eine Abteilung, die sich mit diesen Außerirdischen, also sagen wir mal mit diesen Grenzphänomenen beschäftigt hat.“ (Interview 2: 20) Die anschließende Frage nach der möglichen Zugehörigkeit einer solchen Abteilung weist der Interviewte mit einem Verweis auf die Geheimhaltungspolitik innerhalb des MfS zurück: „Herr Müller: Es war bei uns in der Firma58 so, ist ja auch nachzulesen in der Literatur, die heutzutage veröffentlicht wurde: Du hast nur das gewusst, was du zu deiner Arbeit brauchst. Du kanntest deine Abteilungsbezeichnung und die Hauptabteilung, du wusstest in etwa, was es sonst noch alles gibt an groben Abteilungen…“ Andreas Anton: „Need-to-know-Prinzip sagt man doch heute?“ Herr Müller: „Richtig.“ (Ebd.) Die Recherchen im Rahmen des Forschungsprojektes bei der BStU erbrachten hingegen zwar einzelne Sach- und Personenakten des MfS, in denen die interessierenden Themen (Parapsychologie, UFOs etc.) eine Rolle spielten, diese ergaben jedoch keine klaren Hinweise auf organisatorische Sonderstrukturen oder personengebundene Zuständigkeiten. Vieles weist allerdings darauf hin, dass sich das MfS zumindest nebenbei auch mit den Themen wie Aberglaube, Parapsychologie, Okkultismus und ähnlichen heterodoxen Wissenssystemen beschäftigte, wie die folgenden Beispiele zeigen sollen.

Parapsychologie

Bei einer der bei der BStU recherchierten Akten des MfS handelt es sich um ein Dossier aus dem August 1972 der Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe zum „Problemkreis Parapsychologie“. Anlass für die Erstellung des Dossiers war eine im Juli 1972 in der Westberliner Zeitung BZ erschienene Artikelserie mit dem Titel Die unheimlichen Mächte in uns. Ein MfS-Offizier erteilte anschließend einen „Analyse-Auftrag“, bei dem es darum ging, „die Aussagen dieser Serie zu analysieren unter dem Aspekt ihrer Wirkung in der politisch- operativen Arbeit.“ (MfS ZAIG 10876: 58) Konkret sollte geklärt werden, inwieweit „die Erlangung von Geheimnissen durch den Feind auf diese Weise möglich“ ist bzw. wie „Möglichkeiten dieser Art abgewehrt“ (ebd.) werden können. Diese Formulierungen sind bemerkenswert, geht es doch letztlich um nichts anderes als um die Frage nach der Möglichkeit der geheimdienstlichen Nutzung der Parapsychologie. Weiter heißt es, dass das

58 ‚Firma‘ war zu DDR-Zeiten eine gängige alltagssprachliche Bezeichnung für das Ministerium für Staatssicherheit. 202

Thema Parapsychologie „mindestens in Teilbereichen sehr umstritten ist, da es zweifellos auch der Manipulierung der Massen vom Gesichtspunkt der Magie und des Okkultismus“ diene (ebd.). Darüber hinaus müsse angenommen werden, dass Probleme, die im Zusammenhang mit der Parapsychologie genannt werden, „einen substanziellen wissenschaftlich fundierten Kern“ haben. Dieser Satz steht interessanterweise im völligen Gegensatz zur allgemeinen Bewertung der Parapsychologie im öffentlichen Diskurs der DDR. Es verstehe sich von selbst, führt der MfS-Offizier weiter aus, dass das MfS in Bezug auf die aufgeworfenen Fragen „zur totalen Entscheidungsfindung“ nicht spezialisiert genug sei, es sei jedoch möglich, „aus den dem Konglomerat von Behauptungen nach den Gesichtspunkten der Logik und der Feststellbarkeit die Probleme herauszufiltern, die effektiv feststellbar sind“ (ebd.). Es folgt ein 25-seitiger Bericht mit der Überschrift Zu einigen Publikationen über ‚Parapsychologie‘. Darin wird zunächst festgehalten, dass in der erwähnten Artikelserie der Westberliner BZ in einigen Beiträgen in „z.T. aufgeregter Diktion auf einen Rückstand des ‚Westens‘ im Verhältnis zum ‚Ostblock‘ auf dem Gebiet der Erforschung und Nutzbarmachung der ‚Parapsychologie‘“ (S. 4) hingewiesen wurde. Die Hauptquelle für diese Behauptungen sei eindeutig das Buch PSI von Sheila Ostrander und Lynn Schroeder, das im Jahr 1970 in deutscher Übersetzung erschienen ist. Das Buch (mit dem sperrigen Untertitel Die Geheimformel des Ostblocks für die wissenschaftliche Erforschung und praktische Nutzung übersinnlicher Kräfte des Geistes und der Seele) beschäftigt sich mit Forschungen in den Bereichen Parapsychologie und Anomalistik in der Sowjetunion und postuliert eine Überlegenheit der „Sowjets“ gegenüber dem Westen auf diesem Gebiet. Ein Auszug: „Allem Anschein nach scheinen die Sowjets uns auf dem Sektor der technischen Parapsychologie um viele Jahre voraus zu sein. Sie sind dank konzentrierter Spurensicherung der unbekannten Energiequelle von Psi gewiß näher als wir. Sie haben ferner einen Vorsprung bei den Versuchen, bestimmte Faktoren (z.B. elektromagnetische Wettereinflüsse) während der Psi-Tests unter Kontrolle zu bringen. Und sie scheinen uns auch in der Erforschung und Schaffung von Konditionen voraus zu sein, die das in jedem Menschen vorhandene Psi-Potential erschließen.“ (Ostrander & Schroeder 1972: 219) Das Buch wurde in etliche Sprachen übersetzt und avancierte zum internationalen Beststeller, wurde jedoch von Anfang an höchst kontrovers diskutiert. Vor allem westliche Parapsychologen kritisierten das Buch, das im Wesentlichen auf den persönlichen Eindrücken der beiden Autorinnen basiert, die sie auf einer Reise durch die Sowjetunion und verbündete Staaten gewannen, als reißerisch und übertrieben (vgl. Bauer, Hövelmann & Lucadou 2013: 113f.)

203

In dem MfS-Dossier wird dem Buch ein propagandistischer Zweck unterstellt. Es ordne sich in die Bestrebungen des „aggressivsten Klüngels in den USA und anderen imperialistischen Staaten“ ein, „die UdSSR als potentiellen Aggressor hinzustellen, den Erfolgen ihrer konsequenten Politik zur Verteidigung und Festigung des Friedens entgegen zu wirken und gleichzeitig zu erreichen, daß neue Steuergelder für Grundlagenforschungen und praktische Versuche auf Gebieten freigemacht werden, die erst in jüngster Zeit in das Blickfeld imperialistischer Politiker, Militärs und Geheimdienste gerückt sind.“ (MfS ZAIG 10876: 7) Nach diesem Verständnis hätte ‚der Westen‘ die Überlegenheit der Sowjetunion in Sachen PSI-Forschung also behauptet, um so eigene Forschungen in diesem Bereich zu legitimieren. An anderer Stelle wird ausgeführt: „Den Autoren von ‚PSI, die offenkundig stellvertretend für viele ‚Parapsychologen‘ stehen und möglicherweise entsprechende Interessen des US-Geheimdienstes öffentlichen Ausdruck geben, geht es darum, die zerstreuten Kräfte der ‚PSI‘-Forschung zu konzentrieren, sie auf politisch- strategische Richtungen zu orientieren, eine noch umfassendere Spionage gegen die sozialistischen Staaten anzuregen und die erforderlichen staatlichen Mittel freizusetzen.“ (S. 10f.) Die politisch-operative Relevanz der im Buch behandelten Themen hänge letztlich davon ab, ob sie einer wissenschaftlichen Überprüfung standhielten. Insgesamt sei das Buch mit „größter kritischer Distanz zu lesen und einzuschätzen“ (S. 14). Es folgen ausführliche Darlegungen der bei Ostrander und Schroeder beschriebenen angeblichen sowjetischen PSI- Versuche zu Phänomenen wie Telepathie, Psychokinese, psychische Fotografie, „biophysikalische Effekte (Rutengängerei)“ und Farbsehen, die von dem Autor des Dossiers jedoch nicht bewertet werden, wie aus einer Fußnote hervorgeht (S. 15). Besonders interessant sind die Schlussfolgerungen nach der Darlegung des Inhaltes des Bandes von Ostrander und Schroeder. Zunächst heißt es: „Wissenschaftler beider Weltsysteme befassen sich gegenwärtig ernsthaft mit der Erforschung und Freisetzung von Kräften im Menschen, die bisher höchstens zufällig und spontan Gegenstand wissenschaftlichen Interesses waren. […] Offensichtlich befindet sich das Studium der ‚ASW‘ noch im Stadium der Grundlagenforschung und angesichts der Kompliziertheit des Forschungsgegenstandes in einem Prozeß der Absonderung einer Fülle spekulativer Elemente von bisher unbekannten, aber wissenschaftlich faßbaren, erkennbaren, schließlich in die Praxis überführbaren Realitäten.“ (S. 20) Dann folgt, was höchst erstaunlich ist, ein Seitenhieb gegen den westdeutschen Parapsychologie-Kritiker Wolf Wimmer, der gemeinsam mit Otto Prokop den Band Der moderne Okkultismus verfasst hat. So heißt es: „Wenn z.B. ein BRD-Staatsanwalt schrieb, der

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‚Okkultismus‘ (sei) keineswegs ausgestorben; er nennt sich jetzt ‚Parapsychologie‘,59 so schüttet er das Kind mit dem Bade aus.“ (S. 22) Dies ist nicht nur deshalb bemerkenswert, da hier gleichsam zu einer differenzierten Betrachtung der Parapsychologie gemahnt wird, sondern auch, weil damit indirekt auch Otto Prokop kritisiert wird, der die Parapsychologie in der gleichen Weise kritisierte wie Wolf Wimmer. Anschließend wird, was nicht minder beachtenswert ist, eine marxistisch-leninistisch orientierte Erkenntnistheorie umrissen, in dem die Erforschung von ASW durchaus einen Platz hätte: „Auf kaum einem Wissensgebiet kann so viel spekuliert werden wie auf dem Gebiet der sog. ‚außersinnlichen Wahrnehmungen‘. Gerade hier erweist sich die tiefe Richtigkeit der Leninschen Feststellung über die menschliche Erkenntnis, die keine gerade Linie, sondern eine Kurve beschreibt, ‚die sich einer Reihe von Kreisen, einer Spirale unendlich nähert‘, wobei jedes ‚Bruchstück, Teilchen, Stückchen dieser Kurve‘ einseitig verwandelt werden kann ‚in eine selbstständige, ganze, gerade Linie, die (wenn man vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht) dann in den Sumpf, zum Pfaffentum führt, (wo sie durch das Klasseninteresse der herrschenden Klassen verankert wird).‘“ (S. 23) Hier zeigt sich also insgesamt eine völlige andere Perspektive auf die Parapsychologie als im öffentlichen Diskurs der DDR. Und interessanterweise wird auch diese – genau wie die Ablehnung der Parapsychologie im öffentlichen Diskurs – ideologisch fundiert. Hinzu kommt eine, man könnte sagen, ‚pragmatische‘ Logik, die sich aus dem Konkurrenzverhältnis des Kalten Krieges ergibt: Da man nicht ausschließen möchte, dass an verschiedenen parapsychologischen Phänomenen etwas dran sein könnte und der Gegner vielleicht deren militärische oder geheimdienstliche Nutzbarmachung prüft, tut man gut daran, auf diesem Gebiet wachsam zu sein. Deutlich wird diese Haltung in folgendem Zitat: „Doch ungeachtet der Tatsache, daß sich der Gegner durch seine ideologischen Klassenschranken selbst erkenntnistheoretische Barrieren aufrichtet, zwingt ihn sein politisches Machtinteresse, auch seinerseits den erwähnten Prozeß der Absonderung des real Erfaßbaren und Möglichen von Spekulation und Aberglauben im Interesse nicht zuletzt des Klassenkampfes gegen das sozialistische Weltsystem zu forcieren. Deshalb erscheint es von vitalem Interesse, die einschlägigen Forschungen und Maßnahmen des Gegners systematisch zu verfolgen.“ (Ebd.) Insgesamt ergebe sich aus der Analyse der Literatur zum Thema Parapsychologie der Eindruck, dass die „Periode der Grundlagenforschung noch längst nicht beendet ist und daß praktische gegnerische Konsequenzen aus dem Studium der ‚ASW‘, insbesondere auf dem geheimdienstlichen Sektor, noch nicht in unmittelbarer Aussicht stehen.“ (S. 24)

59 An dieser Stelle ist in der MfS-Akte eine Fußnote, die auf eine okkult-kritische Publikation von Wimmer verweist. 205

Das Dossier schließt mit der Einschätzung, dass es sinnvoll erscheine, „wissenschaftliche Publikationen zur behandelten Problematik, aus sozialistischen sowie aus imperialistischen Staaten, auch weiterhin auszuwerten“ (S. 25). Allerdings ergab die Recherche bei der BStU in diesem Zusammenhang keine weiteren Akten, sodass bezweifelt werden kann, ob im MfS tatsächlich weitere Analysen dieser Art zur Parapsychologie oder verwandten Themen durchgeführt wurden. Vielmehr deutet die Akte darauf hin, dass es sich hier um einen Einzelvorgang handelte, der mit der Artikelserie in der Westberliner BZ einen konkreten Anlass hatte, aber nicht in eine systematische Auseinandersetzung mit diesem Themenbereich eingebettet war. Darauf deutet auch die Aussage des MfS-Offiziers in dem Analyse-Auftrag hin, dass man „nicht spezialisiert genug […] zur totalen Entscheidungsfindung“ (S. 58) sei. Als höchst bemerkenswert bleibt festzuhalten, dass in der Akte die Parapsychologie dahingehend ernstgenommen wird, dass ein negatives Pauschalurteil über sie als nicht sinnvoll erachtet wird und etwaige Möglichkeiten der praktischen Nutzung parapsychologischer Phänomene in Militär und Geheimdiensten als potenzielle Bedrohung eingestuft werden. Damit wird, im völligen Kontrast zum öffentlichen Diskurs der DDR, die Möglichkeit eingeräumt, dass es sich (zumindest bei manchen) parapsychologischen Erscheinungen um reale Phänomene handeln könnte.

Die UFO-Akten des MfS

Wie bereits dargelegt, tauchte das UFO-Thema im öffentlichen Diskurs der DDR nur insoweit auf, als es als ein weiterer irrationaler Auswuchs des kapitalistischen Systems galt (vgl. hierzu Härtel 2001: 102). In anderen Worten: „In der vier Jahrzehnte bestehenden ostdeutschen Republik war das Phänomen nach offizieller Lesart nicht vorhanden, und so wurden auch keinerlei Sichtungen publiziert. Die zentral gesteuerte Presse widmete sich ab den siebziger Jahren dem Thema nur dergestalt, daß das UFO-Thema als ‚technische Religion des Westens‘ und ‚Beweis für Meinungsmanipulation‘ bezeichnet wurde. Ein im Geiste des wissenschaftlichen Sozialismus erzogener Mensch glaubte nicht an umherschwirrende Untertassen.“ (Mehner 1996: 189) Die DDR war gleichsam eine „UFO-freie Zone“ (S. 191) und es galt im Allgemeinen die Auffassung, dass es sich bei UFO-Sichtungen im Ausland ausnahmslos um Fehlinterpretationen diverser Objekte am Himmel (Flugzeuge, Asteroiden, die Venus etc.), Täuschungen, Unsinn oder „psychologische Probleme“ (Lehnert 1955: 345) handle. Daher erscheint es (auf den ersten Blick) umso überraschender, dass es im Aktenbestand des MfS mehrere Unterlagen zum Thema ‚Unidentifizierte Flugobjekte‘ bzw. ‚UFOs‘ gibt. Konkret

206 handelt es sich dabei um Dokumente aus den Beständen der Hauptabteilung I (NVA und Grenztruppen) und des Zentralen Operativstabes (ZOS), die vier verschiedene Fälle von ‚UFO‘-Sichtungen durch Grenztruppen und Polizisten schildern. Die erste Akte stammt vom 04. März 1978 und dokumentiert eine „Verletzung des Luftraumes der DDR durch ein unbekanntes Flugobjekt im Abschnitt des GR-1 Mühlhausen“60 (MfS HA I 5008: 37) Der Akte ist zu entnehmen, dass am 03. März 1978 um 20.10 Uhr von Grenztruppen des Grenzkommandos Süd gemeldet wurde, „dass durch Flugüberwachung ein unbekanntes Luftziel im Raum Gerstungen-Eisenach festgestellt wurde. Im betreffenden Grenzabschnitt wurde sofort verstärkte Luftraumbeobachtung an alle Grenzposten befohlen.“ (Ebd.) Das Objekt war den Angaben der Grenztruppen zufolge „in der Mitte rot, rechts und links gelb“ und bewegte sich in einer Höhe von ca. „800 900 m aus Richtung Neuendorf über Crausburg in Richtung Falken, Kreis Eisenach, Bezirk Erfurt“ (ebd.). Weitere Angaben zum Objekt finden sich in der Akte nicht. Als Maßnahme wird die „Fortführung der verstärkten Luftraumbeobachtung“ (ebd.) im entsprechenden Grenzabschnitt empfohlen. Der zweite Fall stammt aus dem Jahr 1983. Am 08. Dezember sahen mehrere Grenzsoldaten ein ungewöhnliches Flugobjekt, dass die DDR-Staatgrenze in Richtung BRD überquerte. Die Akte enthält die handschriftlichen Original-Berichte der Soldaten. In einem der Berichte heißt es: „An diesem Tage sah ich gegen 19.00 Uhr, links aus dem eigenen Hinterland kommend, ein Flugobjekt. Zwischen den Postenpunkten 35 und 37 überflog dieses die Staatsgrenze. Durch Beobachtungen mit dem DF war zu erkennen, daß am Bug des Objektes zwei Scheinwerfer angebracht waren. Weiterhin sah man noch deutlich eine rote Blinkleuchte. Am Heck (des Leitwerkes) leuchtete eine grüne Lampe. Tragflächen oder Flügel konnte ich nicht erkennen. Motorengeräusche konnte ich auch nicht erkennen, obwohl die Richtungsfenster geöffnet waren.“ (MfS HA I 14207: 73) Die anderen Berichte bestätigen diese Schilderung. Auch hier ist davon zu lesen, dass ein nicht identifiziertes Flugobjekt die Staatsgrenze überquerte. Es habe eine „recht große Beschleunigung“ aufgewiesen, doch trotz dieser „Beschleunigung und der klaren Luft, die an diesem Tag herrschte, […] nicht das geringste Geräusch“ (S. 75) verursacht. Nach dem Überfliegen der Staatsgrenze hätten an dem Flugkörper rote Leuchten geblinkt (vgl. ebd.). Abgesehen von den Berichten der Grenzsoldaten enthält die Akte keine weiteren Unterlagen.

60 Einige MfS-Akten verzichten auf Großschreibung und sind vollständig klein geschrieben. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde dies in den folgenden Zitaten abgeändert und die korrekte Schreibweise verwendet. 207

Auch beim dritten Fall handelt es sich um die Meldung einer Überquerung der DDR-Grenze durch ein unbekanntes Flugobjekt: „Am 27. 11. 1983, gegen 3.00 Uhr, meldeten Grenzposten, daß sie im Bereich des GR 34, Sichtungsabschnitt IV, am B-Turm Kienhorst ein unbekanntes Flugobjekt feststellten. Ausmaße: 5 m Länge, 5 m Tragfläche, zigarrenförmig. Das Flugobjekt flog in ca. 25 m Höhe über die Grenze in Richtung des Verwaltungsgebietes Spandau. Es wurden keine Motorengeräusche, kein Licht festgestellt. Aktivitäten auf Westberliner Gebiet wurden nicht beobachtet. Durch den ZGS wurde keine Bestätigung gegeben, daß sich ein Flugkörper in der Luft befand. Anderweitige Meldungen und Ergänzungen zu dem Sachverhalt liegen nicht vor.“ (MfS ZOS 1214: 117) Ergänzend wurde festgehalten, dass die Sichtungsmeldung durch den Diensthabenden der Grenztruppen kurze Zeit später zurückgezogen wurde (vgl. ebd.) Am 05. Februar 1985 ging beim Zentralen Operativstab die Meldung über „die Beobachtung eines unbekannten Flugobjektes durch Angehörige der DVP über dem Stadtgebiet von Halle“ (S. 109) ein. Fünf Mitarbeiter der Volkspolizei hätten, ist einem Bericht über den Vorfall zu entnehmen, am Sonntag, den 03. Februar 1985 in der Zeit zwischen 23.40 und 00.00 Uhr „von 4 unterschiedlichen Standtorten unabhängig voneinander unerklärbare Erscheinungen im Luftraum über dem Stadtgebiet von Halle beobachtet, die sie als ein ‚Flugobjekt‘ charakterisierten“ (S. 113). Zur Überprüfung dieser Meldung wurden die „5 Angehörigen der DVP durch Mitarbeiter der BV Halle, Abt. ROEM, zum Sachverhalt befragt“ (ebd.). Diese Befragung durch MfS-Mitarbeiter erbrachte, so ist weiter zu lesen, folgende Ergebnisse: „Zum Zeitraum der Wahrnehmung wurden unterschiedliche Angaben gemacht, die sich zwischen 23.40 Uhr und 23.50 Uhr bewegen. Die Erscheinungen wurden durch alle Angehörigen der VP unterschiedlich beschrieben, so als - ausschließlich Lichterscheinung - zigarrenähnlich - länglicher viereckiger Körper. Übereinstimmend gaben alle Befragen an, dass es sich um eine lautlose Erscheinung handelte, mit einem Feuerschweif, die sich aus südlicher Richtung kommend nach Norden in einer unbestimmten Höhe bewegte. Während 3 Angehörige der DVP ein bloßes ‚Überfliegen‘ des Stadtgebietes feststellten, wurde durch einen Angehörigen bemerkt, daß der ‚Flugkörper‘ über oder hinter dem GSSD-Objekt Halle-Wörlitz ‚geräuschlos zerplatzte‘.“ (Ebd.) Das MfS stellte in diesem Fall weitere Nachforschungen an. Die Beobachtung, dass das Flugobjekt „zerplatzt“ sei, wurde offensichtlich ernst genommen, denn das MfS suchte in der Region (erfolglos) nach Trümmerteilen. Darüber hinaus wurden Recherchen bei Instituten der Martin-Luther-Universität Halle durchgeführt, die „Beobachtungen des Himmels und physikalischer Erscheinungen durchführen“ (ebd.). Diese ergaben jedoch „keine Hinweise zur Klärung der Erscheinung“ (ebd.). Erfolg brachte schließlich eine Zeitungs-Recherche. Die

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MfS-Akte enthält mehrere Artikel aus westdeutschen Tageszeitungen, die über Meteroiten- Sichtungen im Bundesgebiet in der betreffenden Nacht berichten. Hier ein Auszug aus einem Artikel im Tagesspiel vom 05. Februar 1985: „Mindestens ein bis zwei erkennbare Meteroiten haben in der Nacht zum Montag Teile des Bundesgebietes von Süden nach Norden überflogen und sind in der Atmosphäre verglüht. […] Mehrere Polizeidienststellen in Rheinland- Pfalz und Baden-Württemberg sowie Flughäfen und Wetterstationen hatten von Anrufen aufmerksamer Beobachter berichtet, die kurz vor Mitternacht grün schimmernde unbekannte Himmelskörper gesehen hatten.“ (S. 110) In diesem Fall wurde also ein vergleichsweise großer Aufwand betrieben, um die Sichtungen zu klären. Insgesamt zeigen die Akten, dass das MfS kein originäres Interesse am UFO-Thema hatte, sondern lediglich Berichte dokumentierte oder in einem Fall auch eine Untersuchung vornahm, wenn Soldaten oder Polizisten unerklärliche Beobachtungen am Himmel schilderten. Dies erscheint vor dem Hintergrund des Kalten Krieges auch in keiner Weise verwunderlich, da unbekannte Flugobjekte – zumal, wenn sie die Staatsgrenze überflogen – immer auch ein neuartiges militärisches Fluggerät des Gegners oder gar ein Angriff auf den Warschauer Pakt bedeuten konnten. So gesehen erscheint es eher erstaunlich, dass es in den MfS-Aktenbeständen nicht viel mehr derartige Fälle gibt, denn wenn man berücksichtigt, dass das Ministerium seit dem Jahr 1950 operierte, könnte man annehmen, dass es in der gesamten Zeit wesentlich mehr Fälle dieser Art gegeben haben müsste (vgl. Härtel 2001: 118). Mit der weit verbreiteten Deutung, dass es sich bei UFOs um Raumschiffe außerirdischer Wesen handeln könnte, die im öffentlichen Diskurs der BRD und anderen Ländern (vor allem in den USA) im Zusammenhang mit ungeklärten Himmelserscheinungen immer wieder für Furore sorgte, haben diese Vorgänge jedoch nichts zu tun. Zur gleichen Schlussfolgerung kommt ein Artikel aus der Mitteldeutschen Zeitung über die UFO-Akten des MfS vom 30. April 2013, in dem zu lesen ist: „Die Staatssicherheit hingegen war am Übersinnlichen nicht sonderlich interessiert. In seltsamer lagerübergreifender Übereinkunft mit den bundesdeutschen Diensten, die keine Anstalten machten, Ufo-Akten anzulegen, beschränkten sich das MfS auf Untersuchungen in den wenigen Fällen, in denen glaubwürdige Zeugen vermeintlich wirklich beunruhigende Kunde brachten. Vor Aliens hatte die Staatssicherheit dabei stets weniger Furcht als vor dem Klassenfeind. Unbekannte Flugobjekte in der Nähe von militärischen Einrichtungen deuteten nach Stasi-Lesart nicht auf Besucher vom Mars oder Venus, sondern allenfalls auf ein besonders raffiniertes Täuschungsmanöver des ‚Gegners‘.“ (Könau 2013)

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Utopische Literatur und Prä-Astronautik

In der DDR existierte eine reiche und bis heute geachtete Szene von Schriftstellern utopischer Literatur, wie das Science-Fiction-Genre in der DDR genannt wurde (siehe etwa Spittel 2000). Autoren wie Günter Krupkat, Michael Szameit, Gert Prokop und Angela und Karlheinz Steinmüller feierten mit ihren Büchern große Erfolge und zeichneten sich durch eine enorme Themenvielfalt aus. Bei der Auswahl der Themen, berichtete Karlheinz Steinmüller, einer der erfolgreichsten Science-Fiction-Autoren der DDR im Interview, habe es seitens der DDR-Administration nur wenige Vorgaben gegeben. Dennoch habe man sich an gewisse „Grundprinzipien“ halten müssen: „Nein, wir haben keine Vorgaben bekommen, aber es gab eine gut etablierte Literaturgenehmigungsprozedur, d.h. ein Manuskript ging immer durch mehrere Hände. […] Und es war so, es gab gewisse Grundprinzipien und wenn man gegen die nicht verstoßen hat, ging das. […] Grundprinzip für die DDR-Science-Fiction war also, jede hochentwickelte Zivilisation ist kommunistisch, nur friedliche Zivilisationen können den Weltraum erobern, also sozusagen dieses Zukunftsbild übertragen auf die Außerirdischen.“ (Interview 14: 25) Außerirische Zivilisationen waren in der DDR-Science-Fiction ein beliebtes Thema. So sind beispielsweise mehrere Werke Günter Krupkats stark von den Ideen der Prä-Astronautik beeinflusst. Sein Werk Als die Götter starben handelt von dem Versuch einer außerirdischen Zivilisation, in grauer Vergangenheit Kontakt mit Menschen aufzunehmen (vgl. Simon & Spittel 1988: 183f.). Die fiktionale Bearbeitung dieser Themen in Form von Science-Fiction- Erzählungen war in der DDR – wenn auch mit bestimmten Auflagen verbunden – also relativ problemlos möglich, anders verhielt es sich jedoch, wenn die Beschäftigung mit Prä- Astronautik den fiktionalen Rahmen verließ, also ‚ernsthaft‘ betrieben wurde. Ein Beispiel hierfür stellt eine privat organisierte Gruppe dar, die sich – in Form eines Bücher- oder Leseclubs – Ende der 1970er Jahre hobbymäßig mit Science-Fiction-Literatur befasste. Herr Kurz61, der Initiator der Gruppe, pflegte Korrespondenzen ins westliche Ausland, beschäftigte sich mit den populären Prä-Astronautik-Thesen Erich von Dänikens und wollte darüber im Rahmen von Urania-Veranstaltungen auch öffentlich vortragen, was jedoch von der zuständigen Urania-Dienststelle abgelehnt wurde. Die Begründung für die Ablehnung, die aus einer Korrespondenz zwischen Herrn Kurz und einem Urania-Vertreter hervorgeht, ist überaus aufschlussreich. Hier heißt es: „Sie bestreiten zwar gelegentlich, daß sie sich keinesfalls nur auf frühere Besuche von ‚Außerirdischen‘ orientierten – aber sie kommen durch Nutzungen von Zitaten solcher Autoren, die das behaupten, immer wieder in

61 Name geändert. 210

die Lage eines Sympathisanten (Däniken). Ob die das nun sind oder nicht, es kommt so heraus, durch die ‚Neutralität‘, mit der Sie an die Interpretation fremder Autoren heran gehen… URANIA ist aber nicht neutral!“ 62 Hier wird die weltanschauliche Gebundenheit der Urania betont, die eine positive Bezugnahme auf die Thesen Erich von Dänikens verbietet. Noch deutlicher wird dies an anderer Stelle: „Blieben Sie doch nur bei der utopischen Literatur und verzichteten Sie doch nur darauf, daß diese Vorträge (Sie wissen, welche ich meine!) als wissenschaftlich zu akzeptieren wären. Gerade auf jenen Gebieten, denen Sie Ihr Herz und Ihren Verstand gewidmet haben, sollte der Wissenschaftler auch parteilich handeln. Parteilich im Sinne eines konsequenten Materialismus, der erkanntes und bewiesenes anerkennt.“ (Ebd.) Neben der klaren weltanschaulichen Ausrichtung wird hier offenkundig, dass bestimmte Themen, zu denen offensichtlich auch die Thesen Erich von Dänikens bzw. die Prä- Astronautik gehörten, im Rahmen von Fiktionalisierungen63 im öffentlichen Diskurs der DDR zwar zulässig waren, als Vorstellungen mit Realitätsanspruch jedoch deutlich die Grenze des Akzeptablen überschritten. Die Auseinandersetzungen von Herrn Kurz mit der Urania ließen das MfS auf ihn aufmerksam werden. In einem Schreiben der zuständigen MfS-Bezirksverwaltung (HA XX) an die Kreisdienststelle heißt es: „Inoffiziell wurde unserer Diensteinheit bekannt, daß die durch uns bearbeitete Person […] dem Bezirksvorstand der URANIA Dresden populärwissenschaftliche Vorträge angeboten haben soll. Die Vorträge seien wegen ihrer Unwissenschaftlichkeit und nichtmarxistischer Aussage […] zum Einsatz im Rahmen der URANIA-Vorträge abgelehnt worden. […] Im Interesse der weiteren operativen Bearbeitung […] bitten wir Sie, die obengenannten Sachverhalte auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Bei entsprechender Möglichkeit bitten wir um die Übergabe eines offiziell verwertbaren Berichtes zu diesen Vorkommnissen.“ (Schreiben vom 16. August 1978) Die Kreisdienststelle antwortete mit einem ausführlichen Bericht über Herrn Kurz. Darin ist u.a. zu lesen, dass er mit einem westdeutschen Vertreter der Prä-Astronautik korrespondierte, der Mitglied der AAS ist, der Forschungsgesellschaft für Archäologie, Astronautik und SETI,

62 Schreiben vom 26. April 1976. Es handelt sich hierbei und bei den im Folgenden zitierten Dokumenten um Auszüge aus Privatkorrespondenzen und einer personenbezogenen MfS-Akte aus der BStU, die nicht öffentlich einsehbar ist, von der betroffenen Person für das Forschungsprojekt aber freundlicherweise zur Verfügung gestellt wurde.

63 Die Fiktionalisierung kann als weitere Diskursstrategie im Umgang mit dem Paranormalen in der DDR gesehen werden. Zur Fiktionalisierung paranormaler Themen siehe Schetsche 2015: 67-70. 211 die sich, im Sinne der Thesen Erich von Dänikens, mit der Frage nach ehemaligen Besuchen außerirdischer Zivilisationen auf der Erde beschäftigt. In dem MfS-Bericht heißt es hierzu: „Diese Gesellschaft […] verbreitet wissenschaftliche bzw. pseudowissenschaftliche Theorien des Schweizers Erich von Däniken. Der D. ist im Weltmaßstab der Hauptvertreter und Begründer der sogenannten ‚Besuchertheorie‘. Hauptinhalt dieser Theorie ist, daß die Entwicklung des menschlichen Lebens und der menschlichen Gesellschaft nicht durch evolutionäre Prozesse vonstatten gegangen ist, sondern daß die Entwicklungen der menschlichen Gesellschaft und der Produktivkräfte Ergebnis des Besuches von Vertretern außerirdischer Zivilisationen in der frühen Vergangenheit der Erde sei. Die durchgeführten Ermittlungen und Überprüfungen ergaben, daß [Herr Kurz] schon seit mehreren Jahren sich mit solchen Theorien befaßt.“ (Bericht vom 25. August 1978) Weiter ist zu lesen, dass Herr Kurz „seine Anhänger (es soll sich dabei um ca. 30 Personen handeln) organisiert zu Provokationen bei populärwissenschaftlichen Vorträgen der URANIA einsetzt. Es handelt sich dabei um solche Vorträge, die auf der Basis der marxistischen Geschichtswissenschaft die historische Entwicklung der Menschheit propagieren“ (ebd.). Dies reichte offenbar aus, um weitere ‚operative Maßnahmen‘ gegen Herrn Kurz einzuleiten. Zur Begründung heißt es: „Der bisherige Stand des vorhandenen operativen Materials läßt die Einschätzung zu, daß [Herr Kurz] im Interesse der Bearbeitung der [sic] Schwerpunktproblems ‚Politischer Untergrund‘ von operativer Bedeutung ist. Es gibt Anzeichen für eine Gruppenbildung bzw. politisch negative Verbindungen und Kontakte ins NSW. Mit seiner ‚wissenschaftlichen Theorie‘ begibt sich [Kurz] in erheblichem Maße in Widerspruch mit der marxistischen Ideologie.“ (Ebd.) Um die Aktivitäten von Herrn Kurz unter „operative Kontrolle“ zu bringen, wurde seine Post kontrolliert, seine Kontakte ins ‚NSW‘ (nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet) „mit Hilfe der Speicher des MfS“ (ebd.) überprüft und es wurde versucht, einen IM in die Gruppe der Science-Fiction-Fans einzuschleusen. Bei mindestens einem der URANIA-Vorträge, bei denen Herr Kurz laut MfS-Akten ‚provozierte‘, handelte es sich um einen Vortrag von Burchard Brentjes, wie aus einem weiteren Schreiben der MfS-Bezirksverwaltung hervorgeht. Der Vortragstitel lautete „Der Mensch – ein ‚heruntergekommener‘ Astronaut oder ein ‚aufgestiegener‘ Affe?“ (Schreiben vom 25. August 1978) Herr Kurz und Mitglieder seiner Gruppe hätten den Vortrag besucht, um „die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhenden Ausführungen des Referenten als unwahr hinzustellen und zu versuchen die Theorien Denekens [sic] als die Wahrheit hinzustellen“ (ebd.).

212

Beim letzten Dokument aus der MfS-Akte handelt es sich um einen Bericht eines IMs, der Herrn Kurz im Auftrag des Ministeriums ausspionierte. In dem Bericht wird Herrn Kurz bescheinigt, dass er sich „gewandelt“ hätte und nun nicht mehr den Theorien Dänikens anhängen würde. Wörtlich heißt es: „Er war ruhig, sachlich und sagte, dass er sich gewandelt hätte und von den damaligen ‚Däniken-Vorstellungen‘ und westlichen Vorstellungen eines ‚prähistorischen‘ Zeitalters mit Astronauten auf der Erde landend – vollkommen getrennt hätte […]. Er wäre über diesen ‚Däniken-Schock‘ hinweg und würde jetzt zu einer sachlichen Diskussion fähig sein […].“ (Bericht vom 27. Mai 1980) Damit war der Fall offensichtlich abgeschlossen. Jedenfalls finden sich in den Akten keine weiteren Hinweise auf Aktivitäten des MfS gegenüber Herrn Kurz. Bemerkenswert an dieser Episode ist, dass das MfS in diesem Fall bei einer vergleichsweise unbedeutenden weltanschaulichen Abweichung einen derart großen Aufwand betrieb. Dies demonstriert in eindrücklicher Weise einmal mehr, wie rigide die bestehende Wirklichkeitsbestimmung der DDR gegen ‚Angriffe‘ aus der eigenen Bevölkerung abgesichert wurde. Sicher spielten in diesem Fall die Umstände eine entscheidende Rolle, dass Herr Kurz eine Gruppe bildete und Korrespondenzen in die BRD und andere westliche Länder unterhielt – was aus Sicht des MfS grundsätzlich verdächtig war –, doch der bestimmende Faktor in den Akten ist die Beschäftigung mit den Thesen Erich von Dänikens, die „im erheblichen Maße in Widerspruch mit der marxistischen Ideologie“ stünden und operative Maßnahmen im Bereich „Politischer Untergrund“ rechtfertigten. Im selben Jahr ereignete sich ein sehr ähnlich gelagerter Fall in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz), der in einer MfS-Akte der Hauptabteilung XX festgehalten wurde. Ein Sammler von Science-Fiction-Werken verschickte einen Fragebogen an andere Science-Fiction- Begeisterte in der DDR. Sein Ziel war es, wie aus dem entsprechenden Anschreiben hervorgeht, das in der MfS-Akte enthalten ist, einen Katalog von DDR-Science-Fiction- Literatur zu erstellen und den „Austausch von Bestandlisten, Suchlisten und Angebotslisten, Rundschreiben mit aktuellen Informationen“ (MfS HA XX 1852: 2) zu fördern. Darüber hinaus leitete er eine private Gruppe, die sich, wie im Fall der Gruppe von Herrn Kurz, mit Science-Fiction beschäftigte. Das Versenden der Fragebögen an Gleichgesinnte brachte das MfS auf den Plan, das in einem Schreiben an die zuständige Bezirksverwaltung fragt, ob der Sammler „zu solch einem Unternehmen berechtigt ist und ob über ihn operative Informationen vorliegen“ (S. 1). Einige Zeit später folgt ein ausführlicher Bericht einer KP (Kontaktperson) über den Sammler, in dem es u.a. heißt, er habe eine „private Interessengruppe aufgebaut. Es kommen recht viele Leute zu ihm […].“ (S. 6) Der Science- 213

Fiction-Sammler sei ein Vertreter der Theorien Erich von Dänikens: „Er bekennt sich in vielen Dingen zu Däniken, beschwert sich, daß der XXX (geschwärzt) sich auf 4 Bücher D.s bezieht, man es aber nicht kontrollieren kann, da diese Bücher nicht im Angebot sind. [Er] schreibt auch, daß Däniken zwar nicht verlegt ist bei uns aber doch im Umlauf ist.“ (Ebd.) Auch hier spielen die Theorien Erich von Dänikens also wieder eine wichtige Rolle. Insgesamt wird die Gruppe von der Kontaktperson jedoch als ‚ungefährlich‘ eingestuft, was u.a. damit zusammen hängt, dass sie nicht in die Öffentlichkeit tritt. Wörtlich heißt es in dem Bericht: „Es gibt bei […] keine negativen Diskussionen, die gefährlich wären. Es ist in gewissem Maße eine unglaubwürdig dastehende private Interessengruppe, die keine Position gefunden hat, sich auf Däniken bezieht und seine Theorien vertritt. Natürlich gibt es auch bestimmte Ansätze, die gegen staatliche Dinge gerichtet sind, z.B. meint er, daß ‚auf unsere Post kein Verlaß ist, daß die Post nicht vertrauenswürdig ist‘.“ (S. 8) Ob weitere operative Maßnahmen gegen die Gruppe oder den Science-Fiction-Sammler unternommen wurden, geht aus der Akte nicht hervor. Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass die beiden Gruppen (zumindest oberflächlich) in Verbindung standen. So geht aus einem Telegramm der Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt an die für die erste Gruppe zuständige Kreisdienststelle hervor, dass Herr Kurz in dem „Privatclub in Karl-Marx-Stadt zu außerirdischen Problemen“ (S. 9) vortragen wollte. Die Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt ist darüber informiert, dass der Gründer der ersten Gruppe „operativ unter Kontrolle gehalten“ wird und erbittet „Hinweise für das Auftreten in Karl-Marx-Stadt, über Form, Inhalt und Zielsetzung und über die Initiatoren der Zusammenkünfte […] (ebd.)“. Dies zeigt einmal mehr, dass die Staatssicherheit durchaus ein gewisses Interesse an derartigen Themen hatte – zumal, wenn sie in Form von privat veranstalteten Gruppentreffen verhandelt wurden – und intern Informationen über die betreffenden Personen und Gruppen austauschte. Zu dem genannten Vortrag kam es übrigens nicht, wie eine persönliche Nachfrage bei Herrn Kurz ergab. Er sei geplant gewesen, hätte aber letztlich nicht stattgefunden. Bei der Gruppierung rund um den Science-Fiction-Sammler hätte es sich nach der Erinnerung von Herrn Kurz um eine „Arbeitsgemeinschaft von Science-Fiction-Fans [gehandelt], die irgendwann, da sie nicht dem Kulturbund angehörte (angehören wollte) beendet wurde.“64

64 Persönliche E-Mail von Herrn Kurz an Andreas Anton vom 30. Juni 2016.

214

Ein weiterer Fall, der einer ähnlichen Logik folgt, ist der Stanislasw-Lem-Klub65 in Dresden, mit dessen früheren Mitgliedern im Rahmen des Forschungsprojektes Interviews geführt wurden. Auch dieser Klub, 1969 als „Interessengemeinschaft wissenschaftlich-phantastischer Literatur‘ gegründet“ (Krämer, Simon & Hutschenreuther 1994: 8) befasste sich hobbymäßig mit utopischer Literatur bzw. Science Fiction. Im Gegensatz zu den beiden zuvor beschriebenen Gruppen fügte sich der Stanislaw-Lem-Klub in bestehende institutionelle Strukturen ein und war an die Hochschulgruppe Dresden des Deutschen Kulturbundes angegliedert. Der Klub, der anfangs vor allem aus Studenten der Technischen Universität Dresden bestand, wuchs rasant und hatte 1972 bereits 120 Mitglieder, gründete verschiedene Arbeitskreise, richtete eine eigene Bibliothek ein, übersetzte Science-Fiction-Werke, die bis dahin in der DDR noch nicht veröffentlich waren und veranstaltete Lesungen und Vorträge. Darüber hinaus begannen einige Mitglieder, eigene Science-Fiction-Geschichten zu schreiben. Bei klubinternen Diskussionen, aber auch bei öffentlichen Veranstaltungen spielten neben naturwissenschaftlich-technischen und philosophischen auch anomalistische Themen wie die Thesen Erich von Dänikens bzw. die Prä-Astronautik oder UFOs eine Rolle. Veranstaltungen mit derartigen Themen seien, schreibt ein früheres Mitglied rückblickend, Höhepunkte der Klubarbeit gewesen: „Veranstaltungshöhepunkte waren Veranstaltungen mit DDR-Schriftstellern und Vorträge zur Paläoastronautik66; legendär geworden sind Günther Krupkats-Dia-Vortrag über die Terrasse von Baalbek, wo ich in einem brechend überfüllten Raum zusammen mit zwei anderen Fans auf einem Fensterbrett stand (innen), und eine Veranstaltung zur Däniken-Thematik im Dezember 1972, wo wir von etwa zweihundert Besuchern die Hälfte wieder nach Hause schicken mußten.“ (S. 11) Dies wird durch eine Veranstaltungschronik des Stanislaw-Lem-Klubs bestätigt, in der die Themen von Vorträgen und Lesungen sowie die Zahl der Teilnehmer festgehalten wurden. Es fällt auf, dass Veranstaltungen mit prä-astronautischen Themen überdurchschnittlich gut besucht waren, so z.B. ein Vortrag von Karl-Ludwig Richter am 19. Januar 1972 zum Thema „Erinnerungen an die Zukunft“ (der Titel von Dänikens erstem Buch) mit ca. 125 Teilnehmern, der erwähnte Vortrag von Günther Krupkat zur „Terrasse von Baalbek“ vom 21. September 1972 mit 165 Teilnehmern oder ein Vortrag zum Thema „Waren die Götter

65 Benannt nach dem polnischen Philosophen und Science-Fiction-Autor Stanislaw Lem (1921-2006), der zahlreiche, weltweit erfolgreiche Science-Fiction-Romane schrieb, von denen einige auch verfilmt wurden. Lem zählt weltweit zu den meistgelesenen Science-Fiction-Autoren.

66 Synonym für Prä-Astronautik. 215

Astronauten?“ (von Wolfgang Schilf und anderen) am 14. Dezember 1972 mit 105 Teilnehmern (siehe Krämer 2009). Der Stanislaw-Lem-Klub hatte sich zwar in die institutionelle Struktur der DDR eingefügt, blieb aber, da er auf privater Initiative basierte und schnell an Größe gewann, dennoch ‚verdächtig‘ und stand unter staatlicher Beobachtung. So hatte das MfS von Anfang an ein „wachsames Auge auf den Lem-Klub, hielt sich über einen ‚Inoffiziellen Mitarbeiter‘ (IM) auf dem Laufenden. Von Interesse waren vor allem Kontakte in den Westen“ (Girmond 2016). Im Herbst 1972 war eines der Mitglieder an der Technischen Universität Dresden durch „unbequeme Fragen im Seminar für Marxismus-Leninismus“ (Krämer, Simon & Hutschenreuther 1994: 12) aufgefallen, was zum Anlass genommen wurde, um gegen den gesamten Klub vorzugehen. Sämtliche Aktivitäten wurden bis auf Weiteres untersagt, viele Mitglieder zum Austritt genötigt, gegen einige von ihnen wurden zusätzlich Partei- oder Disziplinarstrafen ausgesprochen. Dem Mitglied, das in dem Seminar aufgefallen war, wurde „destruktives, politisch-provokatorisches Verhalten in mehreren Fällen“ (zitiert nach Lienert 2011: 195) unterstellt, was zu einem lebenslangen Ausschluss vom Studium in allen Hoch- und Fachhochschulen der DDR führte (vgl. Krämer, Simon & Hutschenreuther 1994: 12). 1973 wurde der Klub wiederbelebt, diesmal jedoch unter der Kontrolle linientreuer Parteifunktionäre. Von den früheren Mitgliedern waren „fast keine mehr dabei. Einige hatten wohl nun Angst, sich wieder in diesem Klub zu betätigen, anderen schien der ‚neue‘ Klub als unter Kontrolle stehend suspekt“ (S. 13). Von nun an mussten alle „Klubveranstaltungen vorher inhaltlich angemeldet, Einladungsplakate vor dem Aushang von der FDJ-Kreisleitung der Technischen Universität genehmigt werden, bürokratische Hindernisse wurden errichtet“ (S. 15). Dieser Versuch der Wiederbelebung des Klubs schlug jedoch fehl. Durch ständigen Mitgliedschwund wurde er zu einem „‚Zombie‘-Klub, der zum Schluß noch vier Mitglieder hatte (davon 3 Leitungsmitglieder) und sich schließlich Ende März 1977 selbst auflöste (ebd.)“. Insgesamt machen die Vorgänge um den Stanislaw-Lem-Klub und seine Auflösung deutlich, schlussfolgert Matthias Lienert, „dass auch innerhalb der gesellschaftlichen Organisationen der TU Dresden bis hinein in die SED-Gruppen unkonventionelles Denken verbreitet war, was wiederum auf den erbitterten Widerstand orthodoxer Funktionäre stieß, die Liberalismus und Opposition unterstellten und befürchteten“ (Lienert 2011: 196). Die Hauptgründe für das Vorgehen gegen den Klub waren, berichten die früheren Mitglieder im Interview, die Tatsache, dass über den Klub westliche Science-Fiction-Literatur übersetzt und verbreitet wurde und dass man mit dem schnell wachsenden Klub eine Konkurrenz zu FDJ-Veranstaltungen etablierte. Darüber hinaus wurden die Science-Fiction-Schriften, die

216 von einzelnen Klubmitgliedern geschrieben und verbreitet wurden, als problematisch erachtet. Die Texte wurden von Hochschullehrern und der SED-Leitung der Technischen Universität Dresden geprüft. Sie kamen zu der Auffassung, sie seien in der Art westlicher Science Fiction geschrieben und daher Ausdruck einer „feindlichen objektivistischen Haltung“ (zitiert nach Lienert 2011: 195). Ob im Zusammenhang mit den drastischen Maßnahmen gegen den Klub auch die klubinterne Beschäftigung mit anomalistischen Themen eine Rolle spielte, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Insgesamt gilt für den Stanislaw-Lem-Klub und die Science Fiction in der DDR im Allgemeinen jedoch dasselbe, was Matthias Schwartz für Science Fiction für die UdSSR konstatiert: Sie war eine der wichtigsten ‚legalen‘ Spielräume für die Beschäftigung mit grenzwissenschaftlichen, okkulten Themen und erfüllte damit eine Art ‚Ventilfunktion‘ (vgl. Schwartz 2011: 212). Die im Zusammenhang mit utopischer Literatur und Prä-Astronautik geschilderten Beispiele stehen im Kontext dessen, was empirische Untersuchungen zu anderen Feldern ‚abweichenden‘ Verhaltens in der DDR – etwa zu religiösen oder subkulturellen Szenen – verdeutlichen: Gruppenbildungen waren generell verdächtig, sofern sie sich nicht in die Struktur staatlicher Institutionen eingliederten, die beispielsweise unter dem Dach der Großbetriebe oder der Massenorganisationen fast immer auch weltanschauliche Gemeinschaften waren. In solchen Fällen wurden staatliche Instanzen und Kontrollorgane (vor allem das MfS) in der Regel schnell aktiv und setzen systematisch Überwachungs- und Einschüchterungsmittel ein. Erschwerend kam in den geschilderten Fällen hinzu, dass in den Gruppierungen (zumindest teilweise) Inhalte ausgetauscht wurden, die von der herrschenden Weltanschauung abwichen. In diesem Kontext scheinen insbesondere die Thesen Erich von Dänikens ein ‚Reizthema‘ gewesen zu sein. Im Ensemble mit anderen ‚verdächtigen Aktivitäten’ wie Korrespondenzen ins westliche Ausland oder der Lektüre von Westliteratur reichte die Beschäftigung mit Themen wie der Prä-Astronautik allemal aus, um seitens des MfS ‚operative Maßnahmen‘ zu rechtfertigen.

„Wir hatten sonst noch ein paar Probleme außer Parapsychologie“ – Interview mit Wolfgang Schmidt

Weitere Erkenntnisse in Bezug auf das Verhältnis des MfS zu Themen aus dem Bereich des Paranormalen konnten durch Aussagen des ehemaligen MfS-Offiziers Wolfgang Schmidt gewonnen werden, der für das Forschungsprojekt interviewt wurde. Schmidt ist Jahrgang 1939, machte nach seinem Schulabschluss zunächst für zwei Jahre einen MfS-Lehrgang,

217 studierte anschließend Kriminalistik und arbeitete danach in der Hauptabteilung XX, wo er zuletzt in leitender Funktion tätig war. Im Interview betonte Schmidt, dass die Hauptabteilung XX mit großer Wahrscheinlichkeit zuständig gewesen wäre, wenn sich das MfS in systematischer Weise mit Themen wie Parapsychologie, Okkultismus, Spiritismus etc. auseinander gesetzt hätte: „Das67 war natürlich die politischste der Hauptabteilungen, in der alles gelandet ist, was in andere Bereiche nicht mehr reinpasst, also was weder Volkswirtschaft, was weder Spionageabwehr war, was auch keine Grenzsicherung war, was keine Sicherung der Armee war. Alles, was nirgendwo rein passt, landete in der Hauptabteilung. Deshalb kann ich mit gutem Gewissen sagen, wenn die Staatssicherheit sich mit ihrem Thema beschäftigt hätte, dann wäre das in unserer Hauptabteilung gelandet. Und in der Funktion, in der ich tätig war, schon als Planungsoffizier in der Hauptabteilung, 1970, hätte ich da auf jeden Fall Kenntnisse davon erhalten.“ (Interview 7: 4) Schmidt führt weiter aus, dass dies nicht bedeute, dass es Paranormales in der DDR nicht gegeben hätte. Er selbst hatte als Kind bzw. Jugendlicher Berührung mit diesem Themenkreis, der jedoch kein originäres Problem der Staatssicherheit gewesen sei: „Wenn ich es so sage, bedeutet es ja nicht, dass es in der DDR solche Erscheinungen nicht gegeben hat. Ich habe selbst als Kind oder Jugendlicher erfahren, dass es Wünschelrutengänger gibt, die die Bauern hergeholt haben, um dann Wasseradern zu finden. Oder auch ins Schlafzimmer, ob da eine Wasserader durchgeht, die dann zu Rheuma oder irgendwas führt. Oder ich weiß auch noch, mein Großvater war ein außerordentlich abergläubischer Mensch, der hat mich als Kind dann eingewiesen in diese ganzen wichtigen Dinge, die man wissen musste. Wenn man mit dem linken Bein stolpert, dass man dann zurück geht und ringsherum laufen muss. Ich meine, nicht, dass Sie jetzt denken, ich leugne, dass es so was in der DDR gegeben hat, ich sage nur, das war kein Problem der staatlichen Sicherheit der DDR. Also, das MfS hat sich nicht ernsthaft mit dem Thema… interessiert vielleicht schon, aber nicht beschäftigt als Aufgabe zur Sicherheit der DDR.“ Auffällig erscheint die zunächst ambivalent erscheinende Äußerung, dass das MfS sich zwar für das Paranormale interessiert, sich aber nicht systematisch damit beschäftigt hätte. Diese vermeintliche Ambivalenz löst sich jedoch im Verlauf der weitere Darlegungen Schmidts auf und entspricht letztlich voll und ganz der Logik der Arbeitsweise des MfS. Insgesamt sei der Themenbereich des Paranormalen nicht sonderlich ernst genommen worden, wie Schmidt mehrfach betont. Im Allgemeinen hätten damit verbundene Themen als „Humbug“ gegolten und seien „an der Grenze zum Spaßfaktor“ (S. 8) angesiedelt worden. Darüber hinaus hätten

67 Gemeint ist die Hauptabteilung XX. 218 die allgemeinen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dazu geführt, dass derartige Themen letztlich keine gesellschaftliche Relevanz mehr besessen hätten: „Das Entscheidende ist, […], dass die gesellschaftlichen Bedingungen für diesen ganzen Humbug natürlich nicht ideal waren, ganz vorsichtig ausgedrückt. Also, man konnte – und das ist glaube ich das Wichtigste – kein Geld damit verdienen. […] Dass Politiker sich haben von Wahrsagern beraten lassen oder dass ganze Lehrstühle für Parapsychologie entstehen konnten, oder auch im privaten Bereich, oder dass Leute ihr Geld damit verdienten, wenn sie Horoskope an Zeitungen verkauften, das fiel ja alles weg. […] Insofern war von den objektiven Zuständen her eine größere Wirkung schon gar nicht möglich.“ (Ebd.) Alles in allem sei dem Themengebiet keine besondere Bedeutung beigemessen worden, weshalb sich das MfS auch nicht in systematischer Weise damit beschäftigt habe. Die Staatssicherheit hätte „sonst noch ein paar Probleme außer Parapsychologie“ (S. 28) gehabt, fasst Schmidt zusammen. Dennoch konnten Themen aus dem Gebiet des Paranormalen für das MfS relevant werden, vor allem dann, wenn damit in irgendeiner Weise „staatsfeindliche Aktivitäten“ verbunden waren, wie Schmidt weiter ausführt: „[Diese Themen] wurden interessant, wenn im Allgemeinen staatsfeindliche Aktivitäten daraus entwickelt wurden, hauptsächlich natürlich politischer Art, also Meinungsäußerungen, die gegen die vorherrschende und gewünschte Meinung und dann öffentlichkeitswirksam waren.“ (S. 9f.) Auch Westkontakte und Westliteratur seien in diesem Zusammenhang (wie in anderen Bereichen auch) grundsätzlich verdächtig gewesen: „Alles, was vom Westen kam, war natürlich suspekt, weil im Hintergrund immer der Verdacht lauerte, das könnte genutzt werden, um hier Einfluss oder um Leute auch zu rekrutieren für staatsfeindliche Aktivitäten oder so was. Also dort, wo diese Verbindungen zum Westen da waren, ist natürlich auch das Ministerium für Staatssicherheit munter geworden, also das ist klar.“ (S. 18) Dies galt, wie Schmidt an anderer Stelle betont, beispielsweise für Bücher von Erich von Däniken, die prinzipiell „Verdachtsware“ gewesen seien: „[…] Däniken, das war sicher Verdachtsware, was passiert hier, was wird hier inszeniert. Es ist nicht alles, was dann beobachtet wurde, […] darin gemündet, dass Leute eingesperrt wurden oder was, es ist ja oft einfach bloß versucht worden, herauszufinden, was hier tatsächlich Fakt ist. Ja, und natürlich auch, wenn unerwünschte Kontakte waren und unerwünschte Wirkungen erwartet wurden, diese Sachen möglichst frühzeitig zu paralysieren, also aufzulösen und sich damit auseinanderzusetzen.“ (S. 21) Diese Passagen verdeutlichen erneut, dass die Bearbeitung von Themen aus dem Gebiet des Paranormalen durch das MfS im Rahmen der allgemeinen Auftragsstruktur zur

219

Staatssicherung zwar gelegentlich auftauchten, jedoch kein eigenständiges Aufgabenfeld definierten. Das Interview beinhaltete auch die Frage nach parapsychologischen Forschungen in der Sowjetunion. Von derartigen Aktivitäten hätte man zwar Kenntnis genommen, so Schmidt, sie seien seitens des MfS jedoch nicht ernst genommen worden: „Ja, wir hatten, also nicht als Ministerium, sondern als Normalbürger, schon Kenntnis, also, ich meine, auch diese Zeitschrift Sputnik, die dann in der DDR verboten wurde, die hat solche Schlenker drin gehabt. Also, das haben wir im Grunde belächelt. Da war die Sowjetunion für uns nicht führend. Das haben wir auch nicht so richtig verstanden. Also, da gab es doch Unterschiede. Wir haben diesen Humbug nicht, überhaupt nicht groß ernst genommen.“ (S. 16) Nach diesem Verständnis war die DDR – zumindest in dieser Hinsicht – gegenüber der Sowjetunion der fortschrittlichere Staat. Dies galt auch für das Verhältnis der DDR zur BRD. Die Berichterstattung der DDR-Medien über diverse okkulte Themen, die in der BRD für Furore sorgten, hatte, so Schmidt, das Ziel, die Überlegenheit der DDR in Sachen Fortschrittlichkeit und wissenschaftlicher Denkweise zu demonstrieren: „Es wurde nicht nur dieser ganze Humbug bloßgestellt, sondern es wurde auf diese Weise auch System, das so etwas zulässt, dass so etwas mit aufbaut, angegriffen. Das war eher die wahre Auseinandersetzung mit Erscheinungen im Westen und die DDR aus den Volksschulbüchern in dem Fall auch wirklich fortschrittlicher und wissenschaftlicher […].“ (S. 15) Die Orientierung der DDR an einer (natur-)wissenschaftlich fundierten Weltanschauung habe schließlich auch für die Arbeit des MfS gegolten, wie Schmidt an anderer Stelle des Interviews betont: „Wir haben schon versucht, nach allen Möglichkeiten zur Wahrheit zu kommen, aber eben keine unwissenschaftlichen Methoden, also kein, wie gesagt, Humbug irgendwie akzeptiert. […] Die Praxis ist der Prüfstein jeder Theorie, also wir hatten bestimmte Erkenntnisse oder angebliche Erkenntnisse immer verglichen mit dem tatsächlichen Effekt. Das war nie so, dass jemand bloß eine fixe Idee hatte, sondern der musste dann schon erklären und beweisen, dass das auch zu irgendeinem Ergebnis nachprüfbar und verifizierbar und wiederholbar vor allen Dingen führt […].“ (S. 22)

Zwischenfazit

Insgesamt festigt sich nach der Analyse der dargelegten Fälle der Eindruck, dass sich das MfS – schon aufgrund seiner allgemeinen Aufgabenstruktur – auch mit Themen aus dem Bereich des Paranormalen beschäftigte, es aber keinerlei Sonderzuständigkeit im Sinne einer speziell für diese Themenbereiche verantwortlichen Abteilung, eines Referats oder auch nur einer

220 zuständigen Einzelperson gab. Das MfS hatte also, in anderen Worten, kein genuines Interesse an dem Paranormalen. Bei entsprechenden Vorgängen handelte es sich um anlassbezogene Einzelfälle, die nicht im Zusammenhang mit einer systematischen Bearbeitung der interessierenden Themenfelder standen. Bemerkenswert erscheinen im Hinblick auf die Analyse der themenbezogenen MfS-Akten vor allem zwei Aspekte: Zum einen die von der Tendenz des öffentlichen Diskurses deutlich abweichende Beurteilung der Parapsychologie in dem MfS-Dossier über den Band von Ostrander und Schroeder und zum anderen der hohe Aufwand der Überwachung und die rigide Absicherung der geltenden Weltanschauung im Zusammenhang mit den Science- Fiction-Fans, die sich mit den Thesen Erich von Dänikens beschäftigten. Beides erklärt sich jedoch ohne weiteres aus der allgemeinen Arbeitsweise des MfS. Im ersten Fall muss die Beurteilung der Parapsychologie in dem Dossier der ZAIG vor dem Hintergrund des alles dominierenden Systemkonfliktes in Form des Kalten Krieges gesehen werden. Zu den Aufgaben der ZAIG zählte die allgemeine „Auslandsaufklärung“, die Berichterstattung über „Probleme der internationalen Klassenauseinandersetzung“ und „gegen die sozialistischen Staaten gerichteten Pläne“ und „Methoden des Imperialismus“ (Engelmann & Joestel 2009: 7). Die entsprechende Aufklärungsarbeit folgte oftmals einer pragmatischen Logik, die zumindest partiell über ideologischen Grundüberzeugungen und politischen Ausrichtungen stand. Diese Logik scheint in dem Dossier auch bei der Beurteilung der Parapsychologie zum Tragen gekommen zu sein: Da sich der Systemgegner mit Parapsychologie beschäftigte und damit zumindest theoretisch einen Vorteil im Wettrüsten erlangen könnte, galt es, diesem Thema wenigstens eine gewisse Aufmerksamkeit zu widmen. Der zweite Aspekt erklärt sich alleine schon aus dem umfassenden Herrschafts- und Geltungsanspruch des politischen Systems der DDR (in diesem Fall durch das MfS umgesetzt), in dem letztlich kein Bereich, auch nicht im Privaten, frei von staatlicher Kontrolle sein sollte. Private Gruppenbildungen waren per se verdächtig, potenziell staatsgefährdende Aktivitäten sollten möglichst frühzeitig erkannt und verhindert werden. In den dargelegten Fällen der Science-Fiction-Fans war die Beschäftigung mit Erich von Däniken nicht der Auslöser für deren Überwachung durch das MfS, sondern Westkontakte, die Verbreitung von Westliteratur etc. Allerdings wurde die Beschäftigung mit den prä- astronautischen Vorstellungen Dänikens durchaus als zusätzliches Vergehen gewertet, da sie, wie in einer der MfS-Akten von Herrn Kurz festgehalten, als in „erheblichem Maße“ von der marxistischen Weltanschauung abweichend eingestuft wurden.

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Angesichts dieser Befunde und den Ausführungen von Wolfgang Schmidt im Interview kann geschlussfolgert werden, dass Themen aus dem Bereich des Paranormalen aus Sicht des MfS schlichtweg zu marginal waren, als dass sie intensiverer Aufmerksamkeit bedurft hätten – und dies aus mehrere Gründen: Zum einen galten sie, wie im Interview mit Wolfgang Schmidt deutlich wurde, als nicht ernstzunehmender ‚Humbug‘, der einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhielt und dem in der DDR durch die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen in großen Teilen die Grundlage genommen war. Die abweichende Beurteilung der Parapsychologie in dem Dossier über den Ostrander-Schroeder-Band folgte wohl am ehesten einer pragmatisch orientierten Logik vor dem Hintergrund der Konkurrenzsituation des Kalten Krieges und zog, der Aktenlage nach zu urteilen, keine weiteren Aktivitäten seitens des MfS auf diesem Gebiet nach sich. Darüber hinaus galt der entsprechende Themenkomplex im Sinne der staatlichen Sicherheit als nicht sonderlich brisant bzw. relevant, sondern diente dem MfS in der Regel als zusätzliche Legitimation für Überwachungs- und Repressionsmaßnahmen im Zusammenhang mit ‚staatsfeindlichen‘ Aktivitäten.

6.3 Paramedizin im DDR-Gesundheitswesen

Anders als es die Bezugnahmen im öffentlichen Diskurs der DDR zu diversen alternativ- bzw. paramedizinischen Heil- und Diagnoseverfahren zunächst vermuten lassen, folgten verschiedene institutionelle Regelungen (insbesondere im Gesundheitswesen der DDR) zu entsprechenden Themen nicht immer primär ideologischen Anforderungen, sondern waren zumindest teilweise auch von Pragmatismus geprägt. Insgesamt lässt sich keine einheitliche Linie im Umgang mit Alternativ- und Paramedizin erkennen. Die Rahmenbedingungen für verschiedene alternativmedizinische Lehren und Anwendungen reichten von strikter Ablehnung bzw. Verbot bis hin zu staatlicher Förderung. Dies soll anhand der Beispiele Homöopathie, Heilpraktiker, Akupunktur und Yoga verdeutlicht werden.

Homöopathie

Die Geschichte der Homöopathie in der DDR wurde ausführlich in dem Band Homöopathie in der DDR von Anne Nierade rekonstruiert. Allgemein lässt sich zunächst einmal feststellen, dass die Homöopathie in der DDR zwar nicht explizit verboten war, aber letztlich als nicht vereinbar mit den Grundprinzipien des Marxismus-Leninismus galt und durch mangelnde

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Ausbildungs- bzw. Fortbildungsmöglichkeiten gegen Ende der DDR in Ostdeutschland mehr oder minder ausgestorben war. Dabei war Leipzig, neben Berlin und Stuttgart, bis zum Zweiten Weltkrieg eine der Hochburgen der Homöopathie in Deutschland, wie Nierade ausführt: „Hier wirkte Hahnemann von 1811 bis 1821, erschien 1832 die erste Ausgabe der Fachzeitschrift Allgemeine Homöopathische Zeitung (AHZ), hier eröffnete 1833 die erste ‚Homöopathische Heil- und Lehranstalt‘ Deutschlands. Trotz der Zerstörung der Homöopathischen Poliklinik des Deutschen Zentralvereins homöopathischer Ärzte (DZVhÄ) durch einen Fliegerangriff im Dezember 1943 bestanden in Leipzig auch nach dem Zweiten Weltkrieg die personellen und strukturellen Voraussetzungen für die Fortführung der homöopathischen Tradition.“ (Nierade 2012: 201. Hervorhebungen wie im Original) Tatsächlich praktizierte in der SBZ und in der frühen DDR zunächst eine nicht unerhebliche Zahl homöopathischer Ärzte, durch Abwanderungen in die BRD veränderte sich bis Mitte der 1950er Jahre das Verhältnis der homöopathischen Ärzte Ost zu West allerdings schnell auf 1:10 (vgl. S. 31). Anfangs existierten in der DDR grundsätzlich weiterhin Möglichkeiten zur Ausbildung homöopathisch praktizierender Ärzte, wenn auch nur sehr eingeschränkt. So bestand in Leipzig bis 1951 ein Prüfungsausschuss, der homöopathische Zusatzqualifikationen für Ärzte anbot. Ärzten mit einer solchen Zusatzqualifikation war es, wie eine Mitteilung des Ministeriums für Gesundheitswesen aus dem Jahr 1954 festhält, möglich, ihre homöopathische Qualifikation auszuweisen: „Allgemeinärzte und Internisten dürfen auf ihren Schildern den Zusatz ‚Homöopathie‘ führen, wenn sie eine genügende Ausbildung in der Homöopathie nachweisen können und sich im Wesentlichen auf die Anwendung dieses Heilverfahrens beschränken.“ (zitiert nach Nierade 2012: 32) Versuche homöopathischer Ärzte an den Universitäten Leipzig und Greifswald, die Homöopathie in das Medizinstudium zu integrieren, schlugen fehl. Die beiden Vereinigungen homöopathischer Ärzte Sächsisch-Anhaltischer Ärzteverein und Sächsischer Verein homöopathischer Ärzte, die bis zum Krieg in Ostdeutschland bestanden, vermochten ihre Tätigkeit nicht wieder aufzunehmen. Der homöopathische Prüfungsausschuss in Leipzig stellte mit dem Tod des homöopathischen Mediziners Hans Heinrich Walper (1866-1951) seine Tätigkeit ein (vgl. 27- 32). Somit gab es ab 1951 in der DDR keine Möglichkeit der homöopathischen Weiterbildung mehr. Danach nutzen einige Mediziner aus der DDR den Weg, in Westberlin die homöopathische Prüfung zu absolvieren, der jedoch mit dem Mauerbau 1961 ebenfalls wegfiel. Damit wurde die Homöopathie in der DDR gleichsam de-institutionalisiert. In anderen Worten: „Wenn die Homöopathie auch nicht verboten war, so wirkten doch viele äußere Einflüsse erdrückend, zu denen einerseits das vom dialektischen Weltbild geprägte

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Weltbild ihrer Kritiker zählte, andererseits die sich selbst limitierende Wirtschaftsplanung der DDR“. (S. 205) In den 1960er Jahren verstarben viele der homöopathischen Ärzte in der DDR, die „Aktivitäten der wenigen verbliebenen Ärzte nahmen drastisch ab, homöopathische Fortbildungen, wissenschaftliche Veröffentlichungen zur Homöopathie oder Wortmeldungen zum Thema innerhalb von Leserdiskussionen fehlten. Die Beschäftigung mit der Homöopathie wurde zunehmend zur Privatangelegenheit. Dafür notwendige Grundlagenliteratur und Fachzeitschriften waren beschränkt […]“. (Ebd.) Ungeachtet dessen wurden in der DDR erstaunlicherweise bis zuletzt homöopathische Heilmittel hergestellt und jeder approbierte Arzt hatte grundsätzlich das Recht und die Möglichkeit, homöopathische Arzneimittel entsprechend dem im Arzneimittelverzeichnis der DDR enthaltenen Sortiment zu verordnen. Die Koordination von Bedarf und Produktion oblag dem Institut für Arzneimittelwesen in der DDR. Die Hauptproduzenten homöopathischer Arzneimittel waren der VEB Homöopharm Dr. Willmar Schwabe Leipzig, später VEB Leipziger Arzneimittelwerk, die Firma Anthroposan Geraberg, der VEB Arzneimittelwerk Dresden und der VEB Bombastus-Werke Freital (vgl. S. 93). Die Fortführung der Produktion homöopathischer Arzneien stand im offensichtlichen Gegensatz zu deren wissenschaftlicher Ablehnung – insbesondere durch Otto Prokop. Die Ursachen für die Weiterführung der Produktion waren jedoch vor allem pragmatischer Natur: Durch die Abwanderung zahlreicher Ärzte in die BRD und den dadurch entstandenen Ärztemangel (insbesondere auf dem Land), Versorgungslücken bei herkömmlichen Medikamenten und die niedrigen Produktionskosten waren homöopathische Mittel eine attraktive Ergänzung des Angebots der medizinischen Versorgung. Doch auch hier kam es zu Engpässen: „Die Verfügbarkeit der von Ärzten und Heilpraktikern als notwendig erachteten und in der ‚Leipziger Liste‘ von 1957 verankerten rund 130 homöopathischen Mittel in Niedrigpotenzen war laut Arzneimittelverzeichnis der DDR gegeben, stellte sich im Alltag der Apotheken jedoch anders dar. Fehlende homöopathische Mittel oder Potenzen führten zum Selbstpotenzieren. Der Mangel beeinträchtigte vor allem die Tätigkeit der Heilpraktiker, die im Verhältnis zu den homöopathisch tätigen Ärzten in weitaus größerer Zahl komplementär therapierten und damit wesentlich am Fortbestand der Homöopathie in der DDR beteiligt waren.“ (S. 206) Im Zusammenhang mit der Wanderausstellung Aberglaube und Medizin wurde bereits auf die bedeutende Rolle Otto Prokops in Bezug auf die Beurteilung der Homöopathie in der DDR hingewiesen. Prokop, für den die Homöopathie eine ganz und gar unwissenschaftliche, dem Aberglauben zuzurechnende Heilmethode war, nahm in der DDR „in der offiziellen und inoffiziellen Auseinandersetzung um die Homöopathie eine über die Grenzen der DDR

224 hinweg herausragende Rolle ein und fungierte als Sachverständiger der Regierung der DDR zu Fragen der Homöopathie und anderer therapeutischer Außenseitermethoden.“ (S. 53) 1958 veranlasste Prokop den Fakultätsrat der Berliner Charité zu einer negativen Stellungnahme gegenüber der Homöopathie. Diese Stellungnahme muss nach Nierade als Zäsur betrachtet werden, da „von nun an die Verurteilung alternativer Heilmethoden nicht mehr abriss“ (S. 63). Der Einfluss Prokops und anderer Gegner der Homöopathie auf das Ministerium für Gesundheitswesen der DDR war ausschlaggebend für die offizielle Beurteilung der Homöopathie und hielt bis zuletzt an. In einer „Stellungnahme zu Außenseitermethoden“ des Ministeriums für Gesundheitswesen aus dem Jahr 1988 wird deutlich, dass sich auch in der Spätphase der DDR nichts an der ablehnenden Haltung gegenüber der Homöopathie geändert hat. Hier heißt es: „Die Diskussionen über die wissenschaftlichen Grundlagen der Homöopathie sind eigentlich seit Jahrzehnten ausgestanden, d.h. zu einem klaren Ergebnis geführt worden. Die wesentlichen ‚Säulen‘ der Homöopathie-Lehre […] sind widerlegt.“ (Stellungnahme 1988: 1) Wenn das Thema Homöopathie von deren Anhängern immer wieder zur Diskussion gestellt werde, müsse dem entgegen gehalten werden, dass es keine neuen Gesichtspunkte gebe. Die Erfahrung zeige, dass „die Diskussionen nicht enden werden, da entweder neue (z.T. ‚hochwissenschaftlich‘ verkleidete)´Theorien geboren werden oder alte Konzepte kritiklos weitervertreten werden“ (ebd.). Schließlich wird auf die 1958 von Prokop angeregte Stellungnahme der Charité hingewiesen: „Der Erklärung der Medizinischen Fakultät der HU zu Berlin (Oktober 1958) ist nichts hinzuzufügen.“ (Ebd.) Die Akten des Ministeriums für Gesundheitswesen der DDR belegen, dass es im Rahmen der politischen Wende in den Jahren 1989 und 1990 ein gesteigertes Interesse der ostdeutschen Bevölkerung an der Homöopathie gab. Angesichts der politischen Veränderungen hofften offenbar viele DDR-Bürger, dass es zu einer Neubewertung der Homöopathie kommen würde, was sich in zahlreichen Eingaben ausdrückt, die dem Ministerium zugingen. Exemplarisch sei aus einer Eingabe vom November 1989 zitiert, in der eine DDR-Bürgerin schreibt: „Als medizinisch interessierte Bürgerin möchte ich um eine Stellungnahme bitten zu folgender Frage: Weshalb ist in der DDR die Homöopathie verboten oder wird in keiner Form unterstützt? Es gibt nur die bekannten Mittel D4 und D6, keine Hochpotenzen, abfällige Äußerungen, keinen Lehrstuhl an der Humboldt-Universität, der doch früher existierte. Es ist etwas unverständlich, was eine medizinische Methode z.B. mit unserer sozialistischen Gesellschaftsordnung zu tun hat. […] Aber bei der zunehmenden Öffnung unseres sehr festgefahrenen medizinischen Denkens haben wir völlig vergessen, daß auch für die Homöopathie der wissenschaftliche Beweis 225

vorliegt. […] Es wird also Zeit, daß wir unseren offiziellen Standpunkt zur Homöopathie überdenken. […] In meinem Freundeskreis kann ich mindestens 20 Familien und mehr nennen, die homöopathische Mittel verwenden.“ (Eingabe vom 10. November 1989: 1f.) Das große Interesse der ostdeutschen Bevölkerung während und nach der politischen Wende deutet für Nierade auf den einen großen Bedarf bei Patienten und Therapeuten und spiegelt die „Kraft einer tief verwurzelten Tradition wider“ (S. 207). Homöopathisch praktizierende Ärzte und an Homöopathie interessierte Laien hätten sich „ein Stück Individualität im Gesellschaftssystem der DDR erhalten und […] auf diese Weise die Homöopathie, bewusst oder unbewusst, vor ihrem Vergessen in der DDR“ (ebd.) bewahrt.

Heilpraktiker

Nach anfänglichen Wirren in Bezug auf die rechtliche Situation der Heilpraktiker in der SBZ setzte in sich in der Verwaltung des Gesundheitswesens schon bald die Haltung durch, dass Heilpraktiker als nichtapprobierte Heilkundige mit „eher wissenschaftsferner Prägung nicht in das dem wissenschaftlichen Fortschritt verschriebene Weltbild der SBZ“ (Nierade 2012: 191) passten. Zuvor hatte das Heilpraktikergesetz vom 17. Februar 1939 den rechtlichen Rahmen für die Ausübung des Heilpraktikerberufs gebildet. Dieses Gesetz beendete die davor herrschende Kurierfreiheit und bestimmte, dass jeder, der berufsmäßig als Heilpraktiker arbeiten wollte, einer Erlaubnis bedurfte. Die Ausübung der Heilkunde sei dabei im Sinne des Gesetzes „jede berufs- oder gewerbsmäßig vorgenommene Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Krankheiten, Leiden oder Körperschäden bei Menschen, auch wenn sie im Dienste von anderen ausgeübt wird“ (Reichsgesetzblatt vom 17. Februar 1939: 1). Eine Erlaubnis zur Ausübung der Heilkunde konnte nach dem Gesetz nur derjenige erhalten, der zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes bereits Heilpraktiker war. Darüber hinaus sollten Genehmigungen nur in „besonders begründeten Ausnahmefällen“ (ebd.) erteilt werden. § 4 des Gesetzes verbot die Ausbildung künftiger Heilpraktiker: „Es ist verboten, Ausbildungsstätten für Personen, die sich der Ausübung der Heilkunde im Sinne des Gesetzes widmen wollen, einzurichten oder zu unterhalten“ (S. 2). Bei Zuwiderhandlungen drohten Geld- und Gefängnisstrafen. Dieses Gesetz hätte, fasst Janine Freder in ihrem Buch Die Geschichte des Heilpraktikerberufs in Deutschland zusammen, „auf lange Sicht […] zur Beseitigung der Heilpraktiker und damit zu einem Ärztemonopol geführt“ (Freder 2003: 77). Im Kern sei es bei dem Gesetz darum gegangen, eine Übergangsregelung zu schaffen, die „in

226 einigen Jahrzehnten zum ‚Aussterben‘, zum ‚Ende‘, zum ‚Abtreten‘ des Berufsstandes der Heilpraktiker geführt hätte“ (ebd.). In der SBZ wurde diese Gesetzeslage zunächst weitestgehend übernommen. So heißt es in der Heilpraktiker-Verordnung vom 18. Dezember 1946, dass als Heilpraktiker nur arbeiten dürfe, wer „vor dem 09. Mai 1945 die „Erlaubnis zur Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung erhalten hat“ (Heilpraktiker-Verordnung vom 18. Dezember 1946: 1). Neue Genehmigungen würden nicht erteilt. Faktisch konnten damit in der SBZ nur Heilpraktiker arbeiten, die ihre Erlaubnis schon vor dem Heilpraktikergesetz von 1939 erhalten hatten. Darüber hinaus wurde die Deutsche Heilpraktikerschaft, die bisherige Berufsvertretung der Heilpraktiker, aufgelöst und die in der SBZ verbliebenen Heilpraktiker in den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) eingebunden. Die Heilpraktiker hatten damit „keine rechtlich selbstständige Stellung als Verbandsperson mehr, sondern bildeten – wie auch andere Berufe – einen unselbstständigen, nur organisatorisch gesonderten Zweig“ (Freder 2003: 94) Am 16. Februar 1949 erließ die Deutsche Wirtschaftskommission für die sowjetische Zone (DWK) die Anordnung über die Approbation der Ärzte (Approbationsordnung für Ärzte, Abkürzung ÄApprO). Im Kern bestätigte die Anordnung das Heilpraktikergesetz von 1939. Neue Genehmigungen zur Ausübung der Heilkunde wurden nicht erteilt, Zuwiderhandlungen mit bis zu zwei Jahren Gefängnis und hohen Geldstrafen bestraft. Letztlich sollte damit – „genau wie im Dritten Reich, wenn auch unter etwas anderen ideologischen Gesichtspunkten – der Berufsstand der Heilpraktiker endgültig beseitigt und das Behandlungsmonopol der Ärzte gesichert werden“ (S. 96). Diese Bestimmungen galten schließlich auch für die DDR, wie in einem Rundschreiben des Ministeriums für Gesundheitswesen vom 17. Oktober 1950 festgehalten: „Über die Anwendung des Heilpraktikergesetzes vom 17. Februar 1939 unter Berücksichtigung der Approbationsordnung für Ärzte vom 16. Februar 1949 wird bekanntgemacht: 1. Nach § 14 der Approbationsordnung vom 16. Februar 1949 […] üben Heilkunde auch Heilpraktiker aus, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der ÄApprO (16. März 1949) bereits die Erlaubnis zur berufsmäßigen Ausübung der Heilkunde besaßen. Im Besitze der Erlaubnis […] waren Heilpraktiker, a) die einen Antrag auf Berufserlaubnis bis zum 1. April 1939 gestellt haben […] und die Erlaubnis erhalten haben […]. “ (Rundschreiben vom 17. Oktober 1950: 1) Weiter heißt es: „Neue Berufserlaubnisse zur Ausübung der Heilkunde als Heilpraktiker werden gemäß § 14 ÄApprO nicht mehr erteilt.“ (Ebd.) Konkret bedeutete dies, dass jeder, der in der DDR als Heilpraktiker arbeiten wollte, bereits 1939 eine Berufserlaubnis haben musste. Eine Neuerteilung war praktisch ausgeschlossen. In einem Werk über rechtliche

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Bestimmungen für Ärzte und andere Heilberufe in der DDR findet sich die ideologische Begründung für diese Stoßrichtung. Hier ist zu lesen: „Die Tätigkeit des Heilpraktikers hat im Gesundheitsweisen eines sozialistischen Staates keinen Raum. Sie ist, soweit sie noch ausgeübt wird, ein Überbleibsel bürgerlicher Verhältnisse. […] Die Heilpraktikertätigkeit steht dem Neuaufbau des Gesundheitswesens und dem Streben nach ständiger Verbesserung medizinischer Betreuung entgegen. Sie bringt weder in wissenschaftlicher noch in technisch-aparativer Sicht diejenigen Voraussetzungen mit, die sie befähigen könnte, Aufgaben einer modernen Gesundheitspflege durchzuführen.“ (Hansen & Vetterlein 1959: 22) Mit den gesetzlichen Richtlinien in Bezug auf den Heilpraktikerberuf war die Grundlage dafür geschaffen, dass Heilpraktiker in der DDR mittelfristig völlig verschwinden würden. Die in der DDR zugelassenen Heilpraktiker (Anfang der 1950er Jahre rund 600) organisierten sich in der Zentralen Kommission der Heilpraktiker beim Zentralvorstand der Gewerkschaft Gesundheitswesen im FDGB (vgl. Nierade 2012: 193), doch schon ab den 1970er Jahren war der Berufsstand durch Überalterung bedroht. Im Rechenschaftsbericht der Kommission der Heilpraktiker aus dem Jahr 1978 ist zu lesen: „In absehbarer Zeit wird es innerhalb der DDR keine Vertreter der einst so großen Naturheil- und lebensreformerischen Bewegung mehr geben. […] Wir sind fast nur noch eine ‚Rentnerbrigade‘. Das ist sehr bedauerlich.“ (zitiert nach Nierade 2012: 195) Bis zum Ende der DDR gab es so gut wie keine Heilpraktiker mehr. In einem Positionspapier des Ministeriums für Gesundheitswesen zum Thema Heilpraktiker aus dem Jahr 1990 wird festgehalten: „In der DDR ist aufgrund des § 15 der Approbationsordnung für Ärzte die Ausübung der Heilkunde als Heilpraktiker (seit 1949) untersagt. […] In der DDR sind zur Zeit nur noch wenige Heilpraktiker tätig (Anzahl nicht bekannt).“ (Positionspapier vom 29. April 1990) „In der Heilpraktikerfrage“, fasst Janine Freder zusammen, „machte die DDR dort weiter, wo das Dritte Reich aufgehört hatte. […] Das Ziel, den Beruf des Heilpraktikers aussterben zu lassen, wurde weiterhin verfolgt. […] Das gesetzte Ziel wurde fast erreicht. 1960 gab es in der DDR noch schätzungsweise 78 praktizierende Heilpraktiker. Aus der Tatsache, dass nach 1939 keine Heilpraktiker mehr zugelassen wurden […] ergibt sich, dass alle in der DDR tätigen Heilpraktiker spätestens 1921 geboren wurden. Dies führte im Laufe der Zeit zu der vom Staat erwünschten ‚biologischen Lösung‘ des Problems: Zum Zeitpunkt der Wende 1989/1990 waren dem Fachverband der Heilpraktiker gerade noch 10 Heilpraktiker bekannt, alle damals in einem Alter zwischen 70 und 85 Jahren.“ (Freder 2003: 116)

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Akupunktur

Die Akupunktur wurde von Wissenschaftlern in der DDR zwar immer wieder vehement kritisiert, blieb aber dennoch offiziell geduldet und wurde von vielen Ärzten (auch unter der Bezeichnung ‚Neuraltherapie‘ oder ‚Reflextherapie‘) praktiziert. Nachdem die Presse in der BRD und in der DDR das Thema Ende der 1970er Jahre vermehrt aufgegriffen hatte, sah sich die Klasse der Medizin der Akademie der Wissenschaften der DDR dazu veranlasst, eine Stellungnahme zur Akupunktur abzugeben. Darin wird der Akupunktur jeder wissenschaftliche Wert abgesprochen. Die Akupunkturpunkte, die für die Anwendung zentral sind, seien der Wissenschaft unbekannt und ihre Existenz sei „noch nicht einmal wahrscheinlich gemacht worden“ (Baumann 1981). Weiter heißt es: „Der Akupunktureffekt ist punktunabhängig. Er liegt im Rahmen der Effekte, die auch durch andere suggestive Verfahren erreichbar sind, und ist daher mit der Erwartungshaltung der Kranken korreliert.“ (Ebd.) Es gäbe daher insgesamt keine Veranlassung, „eine Bereitstellung von Mitteln zur Akupunkturforschung zu empfehlen, wie auch eine Unterrichtung der Akupunktur bei der Ausbildung der Ärzte absolut entbehrlich ist“ (ebd.) Zuvor warnte Otto Prokop im Neuen Deutschland gar vor den Gefahren der Akupunktur. Die Nadeln der Akupunkteure könnten, so Prokop, leicht abbrechen und in innere Organe eindringen, im Körper umher wandern und Schmerzen erzeugen. In einzelnen Fällen sei es zu schweren Schädigungen von Rückenmark, Ohren oder Augen gekommen (vgl. Neues Deutschland vom 25. September 1976) In dem Band Medizinischer Okkultismus bezeichnete Prokop die Akupunktur als typischen Vertreter eines „okkulten Systems“ und als „parawissenschaftliche Praktik“ (Prokop & Stelzer 1973: 330), deren gelegentlich berichtete Erfolge ausschließlich auf (Auto-)Suggestion zurückzuführen seien. Derartige öffentliche Stellungnahmen gegen die Akupunktur änderten jedoch nichts daran, dass sie als mögliches Therapieverfahren bei bestimmten Krankheitsbildern erlaubt war und es Ärzten, die die Akkupunktur nutzen, sogar gelang, sie auf eine institutionelle Basis zu stellen: 1977 wurde die Arbeitsgruppe Neuraltheraphie geründet, die jährliche Arbeitstagungen veranstaltete und 1980 als Arbeitsgemeinschaft Neuraltheraphie in die Gesellschaft für Klinische Medizin der DDR eingegliedert wurde, wie eine Stellungnahme zur Akupunktur aus den Akten des Ministeriums für Gesundheitswesen festhält (Stellungnahme zur Akkupunktur vom 21. Mai 1985). Einem Schreiben der Gesellschaft für Klinische Medizin aus dem Januar 1988 ist zu der Arbeitsgemeinschaft zu entnehmen: „Die zur Zeit ihrer Gründung aus 35 Mitgliedern bestehende AG umfaßt jetzt über 750 Mitglieder, darunter 40 Professoren, viele Chefärzte und hat enge

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Kontakte zur Sportmedizin. Den vielfältigen Aktivitäten der Leitung der AG ist es gelungen, über die Akademie für Ärztliche Fortbildung Lehrgänge für Akupunktur zu organisieren, die sehr zahlreich besucht werden.“ (Schreiben der Gesellschaft für Klinische Medizin vom 14. Januar 1988) Im Jahr 1983 beschäftigte sich sogar das ZK der SED mit dem Thema Akupunktur, wie aus einem entsprechenden Schreiben an das Ministerium für Gesundheitswesen hervorgeht. Ziel war es, eine allgemeine Stellungnahme zur Akupunktur zu entwickeln. Dabei sollten u.a. folgende Aspekte in die Überlegungen mit einbezogen werden: „Die Reflextherapie (Manualtherapie, Neuraltherapie, Akupunktur; einzeln angewandt oder in Kombination) - wird in allen sozialistischen Ländern – jedoch in unterschiedlichem Umfang – angewandt […] - wird in der DDR bereits von schätzungsweise mindestens 600 Ärzten beim Patienten angewandt - ist offenbar in der Lage, bei ausgewählten Erkrankungen die AU-Dauer zu senken - ist offenbar in der Regel bei Anwendung durch den erfahrenen Facharzt bei bestimmten Indikationen weniger mit Komplikationen belastet als die Arzneimitteltherapie […]“ (Schreiben zur Reflextherapie vom 6. Juni 1986: 1) Dennoch sei die Wirkungsweise der Reflextherapie „wissenschaftlich nicht nachgewiesen“ (ebd.). Zur weiteren Meinungsbildung sollte im Ministerium für Gesundheitswesen eine Arbeitsgruppe aus Experten gebildet werden, die dem Gesundheitsminister einen „Vorschlag zur Leitungsentscheidung“ (S. 2) unterbreiten sollte. Diese Arbeitsgruppe, zusammengesetzt aus medizinischen Experten verschiedener Einrichtungen, darunter auch das Deutsche Hygiene Museum, kam im Juli 1984 zusammen und erarbeitete Leitlinien zur „weiteren Entwicklung der Akupunktur“ (Protokoll vom 12. Juli 1984: 1). Darin heißt es u.a., dass die Methode der Akupunktur „in der Hand des erfahrenen Facharztes“ (S. 6) akzeptiert werde. Sie sei „existent, erfolgreich, verkürzt AU-Dauer, kostengünstiger, eventuell zeitsparender; Anwendung muß in den richtigen Rahmen und geordnet werden“ (ebd.). Der schmerzhemmende Effekt der Akupunktur sei vielfach beobachtet und unter Testbedingungen belegt worden, daher scheine es sich dabei um mehr zu handeln als ein „rein hypno- suggestives Phänomen“ (S.7). Die Weiterbildung bzw. Qualifikation zur Akupunktur für Ärzte sollte staatlich geregelt werden, anfangs unter „Einbeziehung tschechischer und/oder sowjetischer Experten“ (S. 6), später dann in Fachgruppen. Die Versorgung mit „Nadeln, Geräten, Akupunkturtafeln und eventuell Literatur“ müsse „staatlich gesichert sein“ (ebd.). Die Anwendung der Akupunktur sei darüber hinaus im Wesentlichen auf funktionelle Störungen wie z.B. therapieresistene chronische Schmerzen zu beschränken. Hier könne sie

230 eine sinnvolle, risikoarme und kostengünstige Ergänzung schulmedizinischer Verfahren darstellen. Allerdings sollte sie von ihrem „philosophisch-theoretischen Überbau“ im Rahmen der traditionellen chinesischen Medizin befreit werden, da dieser „nur aus seiner historischen Entstehung erklärbar ist und in weiten Teilen wissenschaftlichen Kriterien nicht standhält“ (S. 7). Die Vorschläge der Arbeitsgruppe wurden in den folgenden Jahren zu großen Teilen umgesetzt. So geht aus einem Schreiben des Ministeriums für Gesundheitswesen vom 17. März 1986 hervor, dass die Akademie für Ärztliche Fortbildung gemeinsam mit Vertretern der Arbeitsgemeinschaft Neuraltherapie eine „Konzeption zur Qualifikation von Ärzten auf dem Gebiet der Akupunktur“ (Schreiben vom 17. März 1986: 1) erarbeitet hat. Die entsprechenden Weiterbildungskurse wurden von der Akademie für Ärztliche Fortbildung organisiert und endeten, bei erfolgreicher Teilnahme, mit einem Qualifikationsnachweis. Der erste Kurs dieser Art fand vom 30. Juni bis zum 4 Juli 1986 in Berlin statt (vgl. ebd.). Somit wurde die Akupunktur als mögliches Therapieverfahren in der DDR nicht nur offiziell anerkannt, sondern auch eine staatliche getragene Aus- bzw. Weiterbildungsstruktur etabliert, die den Fortbestand dieser Methode sicherte. Dies führte jedoch nicht dazu, dass die Kritik an der Akupunktur in der DDR verstummte. So schließen die Prokop-Schüler Wolfgang Mattig und Andreas Gertler ihr Kapitel über Akupunktur in ihrem Band Wunderheiler? Medizin mit Pendel, Nadel, Strahlen aus dem Jahr 1989 mit den Worten: „Wir meinen jedoch nicht, daß ein generelles Verbot der Akupunktur angestrebt werden sollte, weil dadurch ihr Mythos höchstens erhöht würde. Seit 1986 werden einige Ärzte in der DDR trotz wissenschaftlicher Kritik in der Methode ausgebildet, um den Patienten die bei einigen Leiden möglichen Erfolge nicht vorzuenthalten. […] Solange jedoch Akupunktur noch auf Medizinmannebene, das heißt ohne Beweis ihrer Ausgangsbedingungen über Punkte, Meridiane und das darin eingeschlossene Energiesystem Chi sowie ohne spezifischen Wirksamkeitsnachweis im Sinne der unterstellten Punkt- Organ-Beziehung betrieben wird, kann die aus der Feder eines scharfzüngigen irischen Kritikers stammende Bezeichnung ‚Quakupunktur‘ wohl nicht ganz abgetan werden.“ (Mattig & Gertler 1989: 150)

Yoga

Die Rezeption von Yoga in der DDR durchlief, wie Mathias Tietke in seinem Buch Yoga in der DDR erläutert, drei Phasen: Ächtung, Duldung und Förderung (vgl. Tietke 2014: 16). In der ersten Phase spielte wieder einmal Otto Prokop eine wichtige Rolle, der Yoga regelrecht pathologisierte. In einem Aufsatz über Yoga, verfasst mit zwei Co-Autoren, der bezeichnenderweise den Titel „Psychiatrie, psychopathologische Probleme und Grenzfragen

231 des okkulten und paramedizinischen Denkens“ (1973) trägt, bringen Prokop und seine Kollegen Yoga mit Geisteskrankheiten wie Epilepsie und Schizophrenie in Verbindung und führen aus: „Wenn wir in der Folge den Yoga-Kult etwas näher betrachten, so deshalb, weil wir meinen, daß er ein gutes Modell für den Einfluß geisteskranken Gedankenguts auf Kulturen, kultische Handlungen und den Okkultismus ist.“ (Prokop, Reimann & Dietz 1973: 297) Und an anderer Stelle: „Die Yoga-Anhänger üben sich in bestimmten Atemtechniken und machen allerlei Verrenkungen, um zu höheren Erkenntnissen zu kommen – zweifellos oft eine Sonderform der Psychopathie (‚Abweichen von der Norm‘).“ (S. 302) Auch andere Publikationen aus der DDR aus den 1970er und 1980er setzen sich kritisch mit Yoga auseinander, wenn auch im Ton weniger scharf als Prokop (vgl. Tietke 2014: 24). Aus dem Jahr 1979 liegt ein Beschluss des Deutschen Turn- und Sportbundes (DSTB) zum Thema Yoga vor. Yoga wird hier als ein (weiteres) Mittel reaktionärer Kräfte in westlichen Gesellschaften beschrieben, um die Bevölkerung zu manipulieren und von den Unzulänglichkeiten des kapitalistischen Systems abzulenken. Wörtlich heißt es: „Von religiösen und reaktionären Vertretern westlicher Länder wird die Verbreitung des Yoga zur zielgerichteten Manipulation der Bevölkerung, zur Ablenkung von Hauptproblemen, wie Arbeitslosigkeit und anderer sozialer Mißstände, benutzt. Leitsätze wie ‚Yoga – ein Weg zur vollkommenen Versöhnung des Menschen mit sich selbst‘, ‚Yoga, der Weg zur inneren Erkenntnis‘, aber auch eindeutig politisch akzentuierte Ziele wie ‚Yoga, eine Lösung der Probleme des Westens‘ unterstreichen diese Tendenzen.“ (zitiert nach Tietke 2014: 37) Auch in der DDR habe es Bemühungen gegeben, hält das Dokument weiter fest, Yoga zu verbreiten. So habe es in einigen Kliniken, z.B. in Dresden und Leipzig, in Zusammenarbeit mit Kreissportlehrern, Sportmedizinern und Physiotherapeuten Übungsgruppen gegeben, in denen Yoga, zum Teil unter der Bezeichnung ‚Yoganastik‘, praktiziert worden sei. Einer Popularisierung von Yoga bzw. Yoganastik sei entgegenzuwirken, da die „enge Bindung der Yogalehre an Religiosität und Mystizismus“ eine Verbreitung „im Bereich der sozialistischen Körperkultur in genereller Weise“ (zitiert nach Tietke 2014: 38) verbiete. Die Vorstände und Leitungen des DTSB seien darüber zu informieren, „daß in den Sportgemeinschaften keine Sportgruppen oder Sektionen für Yoga oder Yoganastik gebildet werden (ebd.)“. Das Thema Yoga beschäftigte gelegentlich auch das MfS. Für das Jahr 1963 ist ein Vorgang dokumentiert, bei dem ein SED-Mitglied aus der Partei ausgeschlossen wurde, da er laut der entsprechenden MfS-Akte „einer Sekte (Joga) [sic] angehört und als Mitglied der Partei eine undurchsichtige Rolle spielt“ (zitiert nach Tietke 2014: 30). Er habe, heißt es in der Akte weiter, „in einem bestimmten Personenkreis die Yoga-Lehre verbreitet. Dabei werden in

232 diesem Kreis auch negative Diskussionen geführt.“ (S. 30f.) Dies sei jedoch, so Tietke, bislang der „einzige belegbare Vorgang, bei dem die Beschäftigung mit Yoga zum Ausschluss aus der Partei führte.“ (Tietke 2014: 31) Mit weitaus härteren Strafen war der begeisterte Yoga-Anhänger Gerd Scheithauer konfrontiert. Da er sein Leben voll und ganz dem Yoga widmen wollte und dafür in der DDR keine Möglichkeit sah, wollte Scheithauer nach Indien oder in die BRD ausreisen und stellte im Jahr 1981 einen entsprechenden Antrag. Dies reichte aus, um in den Augen des MfS als ‚negative Kraft‘ zu gelten. Die Staatsicherheit leitete operative Maßnahmen gegen Scheithauer ein, die zwei übergeordnete Ziele haben sollten: „1) Zerschlagung der Rolle des […] als ‚Leitfigur‘ für andere ideologisch ähnlich gelagerte Personen und 2. ihn entsprechend eines Strafbestandes der allgemeinen Kriminalität zu kriminalisieren.“ (zitiert nach Tietke 2014: 50). Im Juli 1983 kam es schließlich zur Verhaftung und zur Verurteilung. Das festgelegte Strafmaß betrug dreieinhalb Jahre Gefängnis. Tietke bewertet diesen Fall anschließend als „erschreckendes Zeitzeugnis, wie heimtückisch das MfS der DDR gegen Abweichler und jene Staatsbürger vorging, die das Land verlassen wollten“ (Tietke 2014: 52). 1985 wurde Scheithauer von der BRD freigekauft. Dies darf jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass andere Aktivitäten im Zusammenhang mit Yoga in der DDR zur selben Zeit durchaus geduldet wurden – die von Tietke postulierten Rezeptionsphasen greifen also zeitlich ineinander. So war es dem Indologen Heiz Kucharski (1919-2000), zur Zeit des Nationalsozialismus Mitglied der Widerstandsgruppe Weiße Rose, 1979 trotz der der negativen Stellungnahme des DTSB gelungen, einen Arbeitskreis für Yoga und traditionelle altindische Medizin zu gründen, dessen Ziel es war, interessierte Wissenschaftler zusammen zur bringen, die sich jährlich treffen, um „ihre Erfahrungen in Bezug auf Yoga aus wissenschaftlicher Sicht auszutauschen und sich weiterzubilden“ (S. 69). Zu den Tagungen kamen zwischen 200 und 500 Teilnehmer, von denen die meisten Mediziner, Physiotherapeuten und Wissenschaftler waren. Dem Manuskript eines Vortrages von Kucharski auf einer der Tagungen des Arbeitskreises ist, wie Tietke festhält, anzumerken, dass das Thema an das politische System und dessen Sprachgebraucht angepasst wurde. Im Rahmen einer „‚sozialistischen Gesundheitserziehung‘, ‚jenseits aller Mystifikationen‘ und auf ‚solidem wissenschaftlichen Fundament‘ sollte der ‚rationelle Kern‘ des Yoga freigelegt werden. Kucharski verwies in diesem Zusammenhang auf die zahlreichen Untersuchungen und Publikationen in den sozialistischen Bruderländern, die nun in der DDR kritisch zu überdenken und weiterzuentwickeln wären“ (S. 75).

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Insgesamt trug die Arbeit von Kucharski und seinem Arbeitskreis dazu bei, dass im Laufe der Zeit eine gewisse Öffnung staatlicher Institutionen der DDR für Yoga einsetzte. Es sollte jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass Kucharski eng mit dem MfS zusammen arbeitete und, so Tietke, „27 Jahre lang sein gesamtes Umfeld bespitzelte und dabei sämtliche Kollegen am Museum für Völkerkunde in Leipzig sowie Künstler und Schriftsteller der DDR, Familienangehörige, Freunde und Yogaübende denunzierte“ (S. 83). Seine Aktivitäten im Rahmen des Arbeitskreises seien letztlich nur deshalb möglich gewesen, „weil er sich als Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), als Parteisekretär und als anerkannter ‚VdN‘ (Verfolgter des Naziregimes) ganz opportun auf der politischen Linie der Staatsführung der DDR bewegte und zudem unermüdlich für das MfS tätig war“ (S. 84). Im Verlauf der 1980er Jahre erschien eine Reihe von Publikationen, in denen Yoga durchaus positiv dargestellt wurde. Allerdings wurde stets darauf geachtet, Yoga nicht mit spirituellen oder religiösen Vorstellungen in Verbindung zu bringen. In einer Ausgabe der Zeitschrift Deine Gesundheit aus dem Jahr 1986 z.B. wird Yoga definiert als: „System von Kenntnissen und Erfahrungen über die eigenen körperlichen, physischen und geistigen Funktionen, Fähigkeiten und Möglichkeiten, wie man diese aktiviert und reguliert, über ihre ständige Entwicklung und Vervollkommnung.“ (zitiert nach Tietke 2014: 116) Da auch Yoga nicht vor Missbrauch durch „äußere Zwänge, Ritualisierungen, Mystifizierungen, Vortäuschungen und illusionäre Versprechungen“ sicher sei, solle sich der Mensch so verhalten, dass „seine Gesundheit, seine Leistungen und sein Wohlbefinden auf dem Boden der modernen Wissenschaft gefördert werden“ (ebd.). Trotz derartiger positiver Bezugnahmen gab es in der DDR jedoch zu keinem Zeitpunkt ausgebildete Yogalehrer, offizielle Yogakurse oder gar Yogaschulen (vgl. S. 123). Im Vergleich zur Akupunktur hatte Yoga in der DDR also bis zuletzt keine stabile institutionelle Basis.

Zwischenfazit

Die angeführten Beispiele machen deutlich, dass der Umgang mit verschiedenen alternativmedizinischen Heil- und Diagnoseverfahren in der DDR keiner einheitlichen Logik folgte. Die Homöopathie und das Heilpraktikerwesen galten als ‚okkult‘, pseudowissenschaftlich und abergläubisch und waren durch eine systematische Deinstitutionalisierung faktisch zum Absterben verurteilt. Dies, so könnte man meinen, entsprach voll und ganz der marxistischen Vorstellung, dass in den veränderten Bedingungen der sozialistischen Gesellschaft, die sich nach den Grundprinzipien des dialektischen

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Materialismus ausrichtet, letztlich sämtliche irrationalen Überzeugungen (zu denen vor allem die Religion gehört) absterben würden. Bei genauem Hinsehen stellt sich die Situation doch etwas komplexer dar: Bei der Ablehnung der Homöopathie und der Übernahme der NS- Gesetzgebung in Bezug auf Heilpraktiker spielten ideologische Aspekte mit Sicherheit eine Rolle. Fraglich ist allerdings, ob sie am Ende ausschlaggebend waren. Im Fall der Homöopathie muss Otto Prokop als ein entscheidender Faktor gesehen werden. Ob und inwieweit Prokop dabei politisch-ideologisch motiviert war, lässt sich, wie in Abschnitt 5.6 aufgezeigt, nur schwer rekonstruieren. Seine Einflussnahme auf das Ministerium für Gesundheitswesen prägte die offizielle Haltung der DDR jedenfalls nachhaltig und es kann mit Recht gefragt werden, ob die DDR-Staatsführung ohne Otto Prokop eine andere, vielleicht pragmatischere Haltung zur Homöopathie eingenommen hätte – ähnlich wie im Fall der Akupunktur. Auch im Hinblick auf die Heilpraktiker stellt sich die Frage, inwieweit tatsächlich politisch- ideologische Erwägung hinter der Übernahme der NS-Gesetzgebung standen oder ob sie nicht eher nachgeschoben waren, um die Gesetzesübernahme im Nachhinein zu rechtfertigen. Es lässt sich jedenfalls festhalten, dass sowohl bei der Homöopathie als auch bei den Heilpraktikern der ideologisch-politische Rahmen des Marxismus-Leninismus als Interpretationsfolie im Hintergrund zwar immer präsent war und Argumente und Begründungszusammenhänge lieferte, aber nicht zwingend die determinierende Größe in Bezug auf dem Umgang mit diesen Themen bildete. Dass ideologische Prämissen nicht zwangsweise zu negativen, ablehnenden Umgangsweisen mit alternativmedizinischen Ansätzen führen mussten, belegen die Beispiele Akupunktur und Yoga. Obwohl sich beide Themenbereiche – analog zur Homöopathie und den Heilpraktikern – mit einer strengen Auslegung der wissenschaftlichen Weltanschauung des Marxismus- Leninismus nicht vereinbaren ließen, erfolgte der Umgang in der DDR mit ihnen in einer völlig anderen Weise. Statt von einer systematischen Deinstitutionalisierung wie bei der der Homöopathie und den Heilpraktikern kann man hier durchaus von einer gewissen Institutionalisierung sprechen – insbesondere im Fall der Akupunktur. Das Beispiel Akupunktur verweist darüber hinaus darauf, dass in den oberen Ebenen der DDR- Administration nicht nur ideologische, sondern auch pragmatische Überlegungen handlungsanleitend sein konnten: Die Akupunktur galt zwar als wissenschaftlich nicht nachweisbar, da sie im Zusammenhang mit bestimmten Krankheitsbildern aber Erfolge zu erzielen schien, wurde die Methode anerkannt, eine entsprechende Fort- bzw. Weiterbildung

235 für Ärzte eingeführt und sogar die Produktion der benötigten Akupunkturnadeln sichergestellt – trotz ideologischer und wissenschaftlicher Einwände mancher Kritiker. Auch im Zusammenhang mit den sehr unterschiedlichen Umgangsweisen mit verschiedenen alternativmedizinischen Verfahren in der DDR zeigt sich, dass letztlich einzelne Akteure von großer Bedeutung sind. So wie Otto Prokop entscheidend für die ablehnende Haltung der DDR in Bezug auf die Homöopathie war, waren es einige engagierte Ärzte für die Anerkennung der Akupunktur oder Heiz Kucharski für die Öffnung der DDR für Yoga. Obschon die Beurteilung einzelner medizinischer ‚Außenseitermethoden‘ nicht immer primär ideologisch geprägt war, bildeten die ideologisch-politischen Grundlagen der DDR am Ende doch immer die entscheidende Bezugsgröße. Egal ob das Urteil positiv oder negativ ausfiel, es musste letztlich immer ideologisch begründet (oder zumindest begründbar) sein, was teilweise zu eigentümlichen Argumentationslinien führte. So mussten Akupunktur und Yoga zunächst von ihrem ‚spirituellen Rahmen‘ befreit werden, um zumindest halbwegs mit dem Marxismus-Leninismus kompatibel zu sein.

6.4 Kontrolle und Zensur von Literatur

Wie bereits in Abschnitt 5.1. dargestellt, existierte in der DDR ein umfassendes Kontroll- und Zensursystem, das der SED potenziellen Zugriff auf jedes gedruckte oder gesendete Wort ermöglichte. Offene Kritik am System, Abweichungen von der herrschenden Meinung oder alternatives Gedankengut waren nicht erwünscht und geduldet. Die Zensoren der DDR, hält Stefan Wolle fest, fahndeten unermüdlich nach „kritischen Andeutungen in schwer verständlichen schöngeistigen Werken oder unerlaubten Zwischentönen in dickleibigen wissenschaftlichen Bänden“ (Wolle 1998: 141). Jede Veröffentlichung unterlag einer (teilweise mehrfachen) Kontrolle und Gegenkontrolle. Einfuhren von Druckerzeugnissen aus dem westlichen Ausland wurden streng kontrolliert. Die so erzeugte ‚staatlich verordnete Öffentlichkeit‘ (S. 135) bedurfte zu ihrer eigenen Aufrechterhaltung ein engmaschiges institutionelles Netz. Die verschiedenen Mittel der Kontrolle und Zensur fanden auch in Bezug auf den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit Anwendung, was exemplarisch anhand der Bereiche Druckgenehmigungsverfahren, Zollverwaltung und den sog. ‚Giftschränken‘ dargelegt werden soll.

236

Druckgenehmigungsverfahren

Auf der Grundlage der Verordnung über die Entwicklung fortschrittlicher Literatur vom 16. August 1951, die festlegte, dass jedes in der DDR veröffentlichte Buch zuvor zur Begutachtung vorgelegt werden musste, wurde im selben Jahr das Amt für Literatur und Verlagswesen geründet, das die Begutachtungen vornehmen sollte. Später wurde das Amt in das Ministerium für Kultur eingegliedert und in Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel umbenannt. Diese Institution, so Simone Barck, „war das Zentrum der Zensur, die es offiziell nicht gab und deren Tätigkeit in der DDR deshalb mit dem umständlichen Begriff ‚Druckgenehmigungsverfahren‘ eher vornehm und verschleiernd umschrieben wurde“ (Barck 2002). Die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel arbeitete dabei eng mit der Kulturabteilung des Zentralkomitees der SED und dem Schriftstellerverband der DDR zusammen (vgl. Emmerich 2000: 52). Die für die Druckgenehmigungsverfahren zuständigen Gutachter hatten insbesondere auf die politische Eignung eines Textes zu achten. Entsprach er nicht den politischen Vorgaben, wurde er ausgesondert oder abgeändert. Da die Kriterien der Zensur „grundsätzlich abhängig waren von der jeweiligen gerade als verbindlich geltenden Interpretation des Marxismus-Leninismus, den wechselnden kulturpolitischen Kampfkonzepten und Losungen sowie den sich ändernden politischen Ereignissen und internationalen Groß- oder innerstaatlichen Kleinwetterlagen, kam es immer wieder auch bei ‚Parteischriftstellern‘ und ganz ‚staatstreuen‘ Büchern zu Konflikten, textlichen Eingriffen und zum von den Parteiinstanzen verfügten Verbot bereits ausgedruckter Bücher.“ (Barck 2002) Damit ein Text eine Druckgenehmigung erhielt, bedurfte er neben der Zustimmung eines Verlages und der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel auch noch „zwei Außengutachten von Literaturwissenschaftlern, Philosophen oder anderen einschlägig tätigen Fachleuten“ (Wolle 1998: 143). Dieses umfassende Instrumentarium der Kontrolle von Literatur hatte neben den faktischen Zensurmaßnahmen ein erhebliches Maß an Selbstzensur zur Folge. Aus Kenntnis der strengen und langwierigen Begutachtungsverfahren reichten etliche Autoren ihre Texte nicht ein oder schrieben sie gar nicht erst. Über das Ausmaß der so verhinderten Literatur kann freilich nur spekuliert werden (vgl. Emmerich 2000: 53). Wolle notiert hierzu: „Angesichts des komplizierten Genehmigungsverfahrens von einer ‚Schere im Kopf‘ oder einem ‚inneren Zensor‘ zu sprechen, ist gelinde gesagt eine Untertreibung.“ (Wolle 1998: 145) Diese Selbstzensur wirkte, so Wolle weiter, insbesondere bei Entscheidungsträgern in den Verlagen

237 und in der Hauptverwaltung, die sich „im Zweifelsfalle lieber ein wenig zu vorsichtig als zu kühn“ (ebd.) verhielten. Einige der Gutachten im Rahmen der Druckgenehmigungsgutachten können im Bundesarchiv im Bestand des Ministeriums für Kultur eingesehen werden. Zwei Beispiele im Zusammenhang mit dem Untersuchungsfeld ergeben interessante Rückschlüsse auf die Begutachtungspraxis im Hinblick auf Themen wie Parapsychologie, Okkultismus etc. Beim ersten Beispiel handelt es sich um Gutachten bzw. Stellungsnahmen zu dem Band Stimmen aus dem Jenseits – Parapsychologie und Wissenschaft der Prokop-Schüler Andreas Gertler und Wolgang Mattig. In der Stellungnahme eines Lektors des Verlages Neues Leben wird zunächst die übliche, im öffentlichen Diskurs der DDR dominierende Rahmung einschlägiger Themen reproduziert, wenn es heißt: „Die sogenannte Parapsychologie, der Okkultismus im modernen Gewand, gewinnt in westlichen Ländern zunehmend an Popularität. Hellsehern, Teufelsaustreibern, Astrologen und anderen Scharlatanen bietet sich infolge der Ausweglosigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung in den Ländern des Kapitals ein weites Feld der Betätigung für ihre betrügerischen Manipulationen. So wird geschätzt, daß in der BRD, in Österreich und in der Schweiz etwa 500.000 Menschen dem Spiritismus verfallen sind und 53 Prozent der Bevölkerung an das ‚zweite Gesicht‘ glauben. Selbst anerkannte Wissenschaftler zeigen oft einen Hang zum Mystischen, zum Spiritismus oder Geisterglauben.“ (Stellungnahme des Lektorats vom 27. Mai 1983) Es fällt auf, dass hier in exakt der gleichen Weise wie im öffentlichen Diskurs argumentiert wird. Allerdings findet sich in der Stellungnahme auch noch ein Argument, welches im öffentlichen Diskurs jener Zeit nur sehr selten auftaucht: Im Gegensatz zu den offiziellen Verlautbarungen, nach denen in der DDR sämtlichen Formen des Aberglaubens der Nährboden entzogen sei, hält die Stellungnahme fest: „Solche Entwicklungstendenzen machen bekanntlich an unseren Grenzen nicht halt. Besonders junge Menschen sind für ‚Neues‘ stark empfänglich, auch wenn es alte Unwahrheiten sind. So gibt es auch in der DDR noch Vorstellungen von ‚Außersinnlichem und ‚Übernatürlichem‘, die jeder wissenschaftlichen Grundlange entbehren.“ (Ebd.) Der Aberglaube wird nach diesem Verständnis also nicht nur als Erscheinung westlicher Gesellschaften gesehen, sondern durchaus auch als Problem innerhalb der DDR-Gesellschaft, weshalb ein Buch wie jenes von Gertler und Mattig notwendig sei. Hauptanliegen der Autoren sei es, „den pseudowissenschaftlichen Theorien der verschiedenen Teilgebiete der Parapsychologie den unerbittlichen Kampf anzusagen“ (ebd.). Die Ursachen für abergläubische Vorstellungen in der DDR-Bevölkerung werden allerdings im Folgenden ausschließlich in der BRD ausgemacht:

238

„Ein besonderer Vorzug des Buches ist es, daß die Autoren vor allem auch solche Beispiele aufgreifen, die vielen Jugendlichen unserer Republik durch westliches Fernsehen oder Rundfunk bekannt sind, wie Prominentenhoroskope oder Wünschelrutengänger, wie Löffelbieger Uri Geller oder Zahnarzt- Chopper. Die Autoren demaskieren solche geschäftstüchtigen Okkultisten, wie sie in großer Zahl in der BRD auftreten und die aus der Unwissenheit und Leichtgläubigkeit der Menschen ihren Gewinn ziehen.“ (Ebd.) Auch in politisch-ideologischer Hinsicht eigne sich das Buch zur Veröffentlichung, da es veranschauliche, „wie notwendig dialektisches Denken ist“ (ebd.). Es sei ein gutes Beispiel dafür, „wie die allgemeinen Gesetze des dialektischen Materialismus in den Naturwissenschaften zutage treten, und zeigt, daß sie der entscheidende Schlüssel für die philosophische Interpretation naturwissenschaftlicher Tatsachen sind“ (ebd.). Insgesamt habe das Werk einen „hohen Bildungsfaktor besonders hinsichtlich des Themas ‚Aberglauben und Gesellschaft‘“ (ebd.). Als externer Gutachter für das Manuskript fungierte kein geringerer als Otto Prokop, dessen Kompetenz als Gutachter auf diesem Gebiet in der Lektorats-Stellungnahme betont wird: „Unser Gutachter, Prof. Dr. Otto Prokop, ist Direktor des Instituts für gerichtliche Medizin der Humboldt-Universität und selbst Verfasser mehrerer Werke, die sich gegen parapsychologische und paramedizinische Theorien richten“ (ebd.). Dies unterstreicht einmal mehr die bedeutende Rolle Prokops im Hinblick auf den Umgang mit Themen aus dem Bereich des Paranormalen in der DDR. Als Gutachter in Druckgenehmigungsverfahren hatte er direkten Einfluss auf die inhaltliche Ausgestaltung des öffentlichen Diskurses zu entsprechenden Themengebieten. In seinem Gutachten zu dem Buch seiner Schüler Gertler und Mattig lobt er diese in höchsten Tönen. Das Buch sei „inhaltlich streng naturwissenschaftlich und zeugt von großer Sachkunde“ (Prokop 1983: 1). Weiter heißt es: „Der Stoff ist sehr gut leserlich aufbereitet und verständlich dargeboten. Die einzelnen Kapitel sind nicht lose aneinander gehängt, sondern trotz der Heterogenität aufeinander abgestimmt. Das Buch schreit geradezu nach einem weiteren, das sich an akademisch Gebildete richtet. Es ist in seiner jetzigen Form aber für Jugendliche hervorragend geeignet.“ (Ebd.) Insbesondere sei das Buch dazu geeignet, „okkultistischen Einflüssen“ aus anderen Ländern entgegenzuwirken: „Das Buch ist didaktisch gut und es wäre wünschenswert, wenn es eine weite Verbreitung bekäme, insbesondere in allen Bereichen, welche zweifelhafte Fernsehsendungen aus anderen Ländern empfangen können oder okkultistischen Einflüssen anderer Art unterliegen“ (S. 2).

239

Auch beim Druckgenehmigungsverfahren für den Band Geheimwaffe Fliegende Untertassen von Christian Heermann war Prokop externer Sachverständiger, wie im Gutachten des Verlages festgehalten wurde: „Die Arbeit an diesem Manuskript war nicht einfach, sie zog sich über Jahre hin, neben Sprachproblemen gab es gestalterische Schwierigkeiten. Außerdem war es kompliziert, für ein derart umfassendes Thema einen sachverständigen Gutachter zu finden. Vor dieser Gesamteinschätzung lagen Teilgutachten und Beratungen zum Beispiel mit Professor Prokop für die Fragen, die im okkultistischen Bereich lagen, mit Professor Brentjes über den Däniken- Komplex […].“ (Stellungnahme des Lektorats vom 06. August 1980) Heermanns Band, urteilt der Verlagsgutachter, enthüllt „das Sektenunwesen mit seinen Auswüchsen, die wissenschaftliche Unhaltbarkeit der Parapsychologie, Okkultismus, Exorzismus (ebd.)“. Auch die (unverzichtbare) politische Ebene fehlt nicht in dem Band, wie im Gutachten weiter ausgeführt wird. Das Buch „sollte in jedem Fall politisch sein, ohne vordergründig zu politisieren oder zu agitieren. Die ausgewählten Fälle, so unterschiedlich sie in ihrer Wertigkeit auch sein mögen, mußten den Beweis erbringen, daß es die kapitalistischen Gesellschaft erlaubt, mit Möglichem und Unmöglichem zu manipulieren, Geschäfte zu betreiben, alles zur Ware zu machen. Alle vorgestellten Täter oder Tätergruppen arrangieren sich mit den ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen dieser Klassengesellschaft, sind also systemimmanent“ (ebd.). Prokop lobt den Band in seinem Gutachten als „starkes ideologisches Schwert“ und „wissenschaftliches Quellenwerk“, welches seine Vorbilder in Bezug auf sachliche Details bei weitem überrage (Prokop 1979: 1f.). Alles in allem, fasst Prokop zusammen, „kann ich Ihnen zu dem Werk und dem Autor nur gratulieren und anraten, das Buch nicht liegen zu lassen […]“ (S. 2). Diese beiden Beispiele mögen genügen, um aufzuzeigen, dass die Beurteilung der für das Untersuchungsfeld relevanten Themen im Rahmen der Druckgenehmigungsverfahren im Allgemeinen derselben Logik folgten wie die Bezugnahmen im öffentlichen Diskurs der DDR. Auffallend ist, dass die Argumentationslinien bzw. das Deutungsmuster ‚Aberglaube‘ aus dem öffentlichen Diskurs in den Gutachten und Stellungnahmen gedoppelt wurden und als Grundlage für die Beurteilung neuer potenzieller Diskursbeiträge dienten. Hier lässt sich beobachten, wie sich der öffentlich Diskurs der DDR zum Paranormalen selbst absichert, stabilisiert und reproduziert. Die Wirkmächtigkeit der Druckgenehmigungsverfahren muss dabei als äußerst hoch eingestuft werden, da sie den Zugang für Bücher zum öffentlichen Diskurs regelten, also gewissermaßen ‚Türwächter‘ bildeten. Bemerkenswert ist darüber hinaus der Umstand, dass auch hier Otto Prokop als Gutachter wieder eine entscheidende

240

Rolle einnahm, was einmal mehr zeigt, dass Prokops Haltung zu Themen aus dem Gebiet des Paranormalen in der DDR gleichsam zur ‚Institution‘ wurde.

Giftschränke

Als ‚Giftschränke‘ werden umgangssprachlich Sonder- oder Sperrbereiche innerhalb von Museen, Archiven und vor allem Bibliotheken bezeichnet, die Material enthalten, das nur unter ganz bestimmten Bedingungen einsehbar ist. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden von den Alliierten in ganz Deutschland Giftschränkte eingerichtet, da ein gemeinsames Anliegen darin bestand, „die öffentlichen Bibliotheken von der faschistischen, militaristischen und zu Gewalt und Völkerhass aufrufenden Literatur zu säubern“ (Waligora 2008: 191). Während jedoch in den westlichen Besatzungszonen entsprechende Maßnahmen schnell einschliefen und die Befehle zur Einrichtung der Giftschränke mit Gründung der BRD außer Kraft gesetzt wurden, galten in der DDR strenge Regeln zum Umgang mit „Literatur der Volksfeinde“ und der „Gegner des Sozialismus“ (S. 193). In den sog. Leipziger Listen wurde bis Anfang der 1950er Jahre ‚auszusondernde Literatur‘ benannt, die sich anfangs vornehmlich auf faschistische und nationalsozialistische Werke beschränkte und später auf diverse ‚antisozialistische‘ Schriften ausgedehnt wurde68 (vgl. ebd.). Die unerwünschten Bücher wurden zusammengefast und als ‚Sperrbibliotheken‘ separat aufbewahrt. Eingliederungen in die Giftschränke und Neuerwerbungen von Westliteratur wurden von Fachreferenten in den Bibliotheken entschieden, die aufgefordert waren, „politische Wachsamkeit gegenüber dem Bestand und dessen Zugangsmöglichkeiten auszuüben“ (Bärwinkel 2008: 225). Die Nutzungsbestimmungen waren nicht einheitlich geregelt, folgten aber in einigen Fällen einem komplizierten „System von blauen Kreuzen, roten Punkten und anderen Katalogvermerken“ (Wolle 1998: 149). Zur Einsicht in Bücher aus den Giftschränken benötigte man in jedem Fall ein Zertifikat, das die Notwendigkeit der Benutzung ‚feindlicher Literatur‘ bescheinigte, welcher Personenkreis jedoch „die Berechtigung erhielt, derartige – umgangssprachlich als ‚Giftscheine‘ bezeichneten – Zeugnisse zu nutzen, blieb unklar “ (ebd.). Da es keine einheitliche verbindliche Vorschrift gab, hatten die Bibliotheken jeweils eigene Nutzungsrichtlinien. Die Benutzungsordnung der Staatsbibliothek Berlin (die als vergleichsweise moderat galt) sah beispielsweise vor:

68 Die Listen sind online einsehbar unter: http://www.polunbi.de/bibliothek/1953-nslit.html (letzter Zugriff: 17.08.2016). 241

„Es dürfen Einsicht nehmen, in besonderen Fällen auch nach Hause entleihen: Das Zentralkomitee und seine Einrichtungen, […] Professoren und Dozenten, die durch Institute der Akademien, Universitäten und Hochschulen mit gesellschaftswissenschaftlicher Forschung beauftragt sind und führende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, […] wissenschaftliche Mitarbeiter von wissenschaftlichen Einrichtungen sowie von zentralen Einrichtungen der Parteien und Massenorganisationen, zentraler staatlicher Dienststellen der öffentlichen Meinungsbildung, der Betriebe, die für diesen Zweck einen Dienstauftrag vorweisen, […] Studenten, die einen Nachweis des wissenschaftlichen Verwendungszwecks vorlegen, der vom Institutsdirektor unterzeichnet ist […].“ (zitiert nach Waligora 2008: 196) Die unklare rechtliche Situation in Bezug auf die Nutzungsbestimmungen erzeugte, so Roland Bärwinkel, bei den Verantwortlichen „eine hohe Rechtsunsicherheit“ und einen „vorauseilenden Gehorsam“ (Bärwinkel 2008: 227). Insgesamt sei das Giftschrank-System ein potentes Mittel zur Zensur gewesen: „Zensur, genauer Nachzensur ist Bestandteil der Arbeit aller bibliothekarischen Einrichtungen der DDR gewesen, Bestandteil des mittels Repression und Kampagnen geführten Kampfes im Namen einer Weltanschauung. Diese Form der Zensur meint die Kontrolle der literarischen Distribution, die auf die Multiplikatoren, also Drucker, Verleger, Händler und Bibliothekare zielt. Unter Nachzensur an Bibliotheken verstehen wir die Kontrolle der literarischen Aufnahme. Hier werden die Leser ins Visier benommen, um dem vorliegenden Gedankengut entgegenzutreten und eine weitere Verbreitung zu verhindern.“ (S. 225) Das System der Giftschränke blieb bis 1989 ohne wesentliche Änderungen erhalten. Nach der deutschen Wiedervereinigung wurden die Giftschränke aufgelöst und deren Bestände in die Gesamtbestände der jeweiligen Bibliotheken eingegliedert. Sofern sie in den DDR-Bibliotheken vorhanden waren, waren in der Regel auch westliche Werke zu Themen aus dem Untersuchungsfeld von den Giftschrank-Bestimmungen betroffen, wurden aber teilweise trotzdem stark nachgefragt, wie beispielsweise die Bücher von Erich von Däniken oder Schriften über Yoga (vgl. Lokatis 2008: 14f.) Der bereits zitierte Herr Müller, der im Rahmen dieser Untersuchung befragt wurde, beschrieb im Interview, wie es ihm gelang, Dänikens Bücher in der Staatsbibliothek Berlin einzusehen. Er nutze seine Mitgliedschaft in einer Arbeitsgruppe zum Thema Astronomie, die dem Kulturbund der DDR angehörte, um über diesen Einsichtnahme in entsprechende Literatur zu beantragen: „Däniken stand zwar auf der Liste, aber da war ein Vermerk, nur im Lesesaal auszuleihen bzw. mit Genehmigung. Du musstest ein Schreiben vorlegen von irgendeiner Institution, dass du eben für bestimmte Nachforschungen, Analysen, wie auch immer, bestimmte Literatur einsehen darfst. […]“Und da war ich dann natürlich bei meiner Chefin im Kulturbund und hab mir so ein Schreiben aufsetzen lassen. Ich habe mir das allgemein formulieren lassen, somit bin an die Literatur gekommen, die ich mir ausgesucht habe. Ich bin zu 242

der gegangen und hab gesagt, ich brauche Literatur, ich will darüber mit den Leuten diskutieren und komme aber nicht dran, weil sie gesperrt ist. Und da sagt sie: Machen wir so ein Schreiben fertig. […] Mit diesem Schreiben gab es dann keine Probleme, ich habe mein Stempelchen gekriegt, konnte mir die Literatur aussuchen und hab dann im Lesesaal gesessen und was mich interessiert hat und wo es keinen Vermerk gab, habe ich mir Kopien gemacht.“ (Interview 2: 15f.) Herr Müller bewahrte dieses Schreiben auf und stellte es dankenswerterweise zur Verfügung, sodass im Folgenden daraus zitiert werden kann.69 Unter dem Briefbogen des Kulturbundes der DDR heißt es hier: „Hiermit bitten wir für den Bundesfreund […] um die Möglichkeit der Einsichtnahme bzw. des Studiums von ausländischen Literaturerzeugnissen zum Thema ‚Außerirdische Zivilisationen‘ und angrenzende Themenbereiche. Herr […] ist seit 1987 Mitglied des Kulturbundes und arbeitet in einer Arbeitsgemeinschaft der Fachgruppe Astronomie mit. Für die Fortführung seines Selbststudiums zu diesem Thema ist die Einsichtnahme in die entsprechende Literatur erforderlich. Ebenso benötigt er dieses Quellenstudium als Grundlage seiner Vortragstätigkeit. Wir bitten um die Realisierung dieses Antrages.“ Angesichts der Tatsache, dass die Bücher Dänikens in westlichen Ländern millionenfach verkauft und gelesen wurden, mag diese Episode durchaus bizarr anmuten, doch sie dokumentiert die alltägliche Praxis der Zugriffsbeschränkung auf unerwünschte Bücher in der DDR. Für große Teile der Bevölkerung der DDR waren diese Regelungen eine Zumutung, die zu allerlei heimlichen, teilweise auch gefährlichen Beschaffungsmaßnahmen (etwa Schmuggel, heimliche Vervielfältigung, Tausch etc.) von verbotenen Büchern und zu „klandestinen Lektüre-Strukturen“ (Lokatis 2008: 13) führten, die ein erhebliches Ausmaß annahmen (vgl. ebd.). In den im Rahmen dieses Forschungsprojektes durchgeführten Interviews finden sich mehrere Hinweise auf derartige Strukturen heimlichen Lesens im Zusammenhang mit den interessierenden Themenfeldern. So berichtete beispielsweise Herr Lang,70 der sich zu DDR-Zeiten für diverse grenzwissenschaftliche Themen interessierte, wie Bücher von Erich von Däniken in seinem Freundes- und Bekanntenkreis kursierten: „Also, ich bin [an Däniken-Bücher] gar nicht rangekommen, ich hab die irgendwann mal gekriegt, ausgeliehen. Also, deshalb sahen die auch so zerfleddert aus, die sind halt schon durch hunderte Hände vorher gegangen, wurden zwanzigtausendmal gelesen. Das war definitiv aus einem Westverlag, die sind nicht in der DDR erschienen.“ (Interview 9, S. 19f.)

69 Eine anonymisierte Version des Schreibens befindet sich in dem projektbezogenen Bestand im Archiv des IGPP und kann hier eingesehen werden. 70 Name geändert. 243

Die Bücher seien, gewissermaßen zur ‚Tarnung‘, mit Klebeband beklebt oder mit einem anderen Umschlag umhüllt worden, damit sie nicht erkannt wurden:

„Herr Lang: Ach so, und zu DDR-Zeiten, zur Lehrzeit, das weiß ich noch, ist bei uns die ‚Reise nach Kiribati‘ von Däniken und irgendein anderes Buch kursiert. Die sahen aus, schon alles beklebt mit Klebeband.

Andreas Anton: Die waren aber reingeschmuggelt sozusagen?

Herr Lang: Ja, ja, die waren eigentlich auch verboten. Und ich weiß auch nicht, warum das verboten war. Man hat das aber so behandelt, man hat in der S- Bahn gesessen und hat sich einen anderen Schutzumschlag drum gemacht […].“ (S. 11f.) Derartige Schutzmaßnahmen erscheinen wenig verwunderlich angesichts der bisweilen harten Strafen, die bei Zuwiderhandlungen gegen die Bücher-Zensur der DDR verhängt wurden. Hier reicht das Spektrum „von der willkürlich verhängten hohen Zuchthausstrafe, wie sie in der frühen DDR ohne Vorwarnung Baldur Haase traf und gegenüber Zeugen Jehovas noch lange die Regel blieb, über die Stasi-Erpressung bis zur routinemäßigen Beschlagnahme ohne ‚Spitzenmeldung‘. Dabei wurde sowohl die Absicht der Weiterverbreitung und die Menge der beschlagnahmten Exemplare als auch die politische Brisanz der Lektüre in Anschlag gebracht.“ (S 22)

Zollverwaltung

Der Zoll der DDR war, fasst Jörn-Michael Goll zusammen, staatliches Schutz- und Sicherheitsorgan und damit „Repräsentant und zugleich Herrschaftsinstrument der Staats- und Parteiführung. Er hatte Aufgaben zu erfüllen, die eindeutig die Handschrift einer kommunistischen Doktrin trugen“ (Goll 2008: 90) und sich deutlich von denen der Zollbehörden westlicher Länder unterschieden (vgl. Suwalski 1998: 577). Neben dem Schutz des „Außenhandels und Valutamonopols“ (ebd.), Personen- bzw. Passkontrollen und der Verhinderung von Fluchtversuchen bestand der Auftrag des Zolls vor allem darin, als Zensurbehörde für Literatur, Bild- und Tonträger zu fungieren. Zur Erfüllung seiner Aufgaben hatte der Zoll der DDR weitreichende Befugnisse: Er durfte sämtliche Fahrzeuge, Behältnisse, Gepäckstücke etc. von Reisenden kontrollieren, anlasslose Leibesvisitationen und Vernehmungen durchführen und Waren und Beförderungsmittel ersatzlos beschlagnahmen. Es bestand eine enge Zusammenarbeit mit dem MfS, das auch Mitarbeiter in den Grenz- und Postzollämtern hatte (vgl. Goll 2008: 90). Für die Kontrolle und Zensur von Druckerzeugnissen aus dem Ausland bestanden in der DDR-Zollverwaltung weit ausdehnbare Grundsätze: 244

„Periodisch erscheinende Presseerzeugnisse, die nicht in der Postzeitungsliste der Deutschen Post aufgeführt wurden, waren ebenso zur Einfuhr verboten wie Adressverzeichnisse, Kalender, Almanache, Jahrbücher und Kataloge. Für Literatur galt der Grundsatz, dass alle Druckerzeugnisse, die ‚gegen die Erhaltung des Friedens‘ gerichtet waren, sogenannte Hetze enthielten oder auf andere Art und Weise den ‚Interessen des Staates widersprachen‘, nicht eingeführt werden durften.“ (S. 92) Zudem gab es seit den 1960er Jahren konkrete Vorgaben des Ministeriums für Kultur, welche Literatur eingeführt werden durfte und welche nicht. Als besonders schädlich wurde sog. ‚Hetzliteratur‘ eingestuft, zu welcher Schriften von Regimekritikern wie z.B. Wolf Biermann zählten. Rigoros beschlagnahmt oder zurückgewiesen wurden auch religiöse Schriften (etwa der ‚Wachturm‘ der Zeugen Jehovas) oder Schriften im Zusammenhang mit westdeutschen Parteien. Für die Prüfung wissenschaftlicher Literatur war bis 1957 die Zentralstelle für wissenschaftliche Literatur, danach das Zolltechnische Institut zuständig. Fachliteratur mit unklarem Status wurde dort geprüft und an den Empfänger weitergeleitet oder einbehalten (vgl. Frohn 2014: 75). Mitarbeiter der Zollverwaltung hatten sich laut Dienstlaufbahnordnung durch „einen festen Klassenstandpunkt, hohe Disziplin, ausgeprägte revolutionäre Wachsamkeit und sozialistische Denk- Lebens- und Verhaltensweisen“ (zitiert nach Goll 2008: 96) auszuzeichnen. Darüber hinaus durften weder die Zollbeamten selbst noch ihre Angehörigen Kontakte gleich welcher Art ins westliche Ausland unterhalten, westliche Fern- und Radiosender empfangen oder Westliteratur lesen (vgl. ebd.). Für die teils ausgiebigen und aufwändigen Zollkontrollen standen diverse technische Hilfsmittel wie Sonden, Endoskope und Röntgenanlagen zur Verfügung. Die Bedienung erfolgte durch speziell ausgebildete Kontrolleure, die „unter anderem auch dafür ausgebildet wurden, versteckte Literatur zu erkennen“ (Goll 2008: 94). Wurden Druckerzeugnisse gefunden, wurden diese von speziell geschulten ‚Literaturoffizieren‘ begutachtet, denen verschiedene Karteien zur Verfügung standen, mit deren Hilfe die Schriften klassifiziert werden konnten. So gab es „erstens eine Autorenkartei, die nach Autoren geordnet Einschätzungen über die Einfuhrfähigkeit von Werken des jeweiligen Autors enthielt. Des Weiteren lag eine Zeitschriftenkartei vor. Sie gab Auskunft über die Titel jener Presseerzeugnisse, die in der Postzeitungsliste aufgeführt und somit einfuhrfähig waren. Drittens hatten Zöllner Zugriff auf eine Operativkartei. Darin enthalten waren Anschriften und Hinweise zu internationalen Organisationen und Vereinigungen, Verlagen und Buchdiensten, deren Druckerzeugnisse unter bestimmten Bedingungen zur Einfuhr zugelassen waren.“ (S. 95)

245

Personen, die bei dem Versuch, Literatur zu schmuggeln, entdeckt wurden, hatten je nach Art und Umfang der Schmuggelware mit Konsequenzen von „einfachen Belehrungen über ausgiebige Vernehmungen bis zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens“ (S. 93) zu rechnen. Es versteht sich gleichsam von selbst, dass auch Literatur zu den Themenbereichen im Zusammenhang mit dem hier interessierenden Untersuchungsfeld von den Einfuhrbeschränkungen betroffen waren. Postsendungen mit einschlägigem Material wurden oftmals an den Absender zurück geschickt oder beschlagnahmt. Bücher waren dabei eher betroffen als Sonderdrucke oder Kopien von Artikeln aus Fachzeitschriften, wie aus etlichen Schreiben von DDR-Bürgern aus dem Archiv des IGPP hervorgeht, die sich aufgrund des Mangels an Fachliteratur über Parapsychologie an Hans Bender und seine Mitarbeiter wandten und um Informationen baten. In einem Schreiben aus dem Jahr 1971 heißt es beispielsweise: „Sehr geehrter Herr Professor, vor einiger Zeit brachte der Deutschlandfunk von Ihnen eine 6-teilige Vortragsserie, die sich mit den Problemen der Parapsychologie beschäftigte. Leider gab es zu den Sendezeiten sehr viele Unterbrechungen und Störungen, sodass mir vieles von den Inhalten der Vorträge verloren gegangen ist. [...] Können Sie mir hier behilflich sein? Ich möchte gern über den heutigen Stand der Parapsychologie unterrichtet sein. Hier bei uns ist einschlägige Literatur leider nicht erhältlich.“ (Schreiben an Hans Bender vom 30. Dezember 1971) In einem weiteren Anschreiben aus dem Jahr 1974 ist zu lesen: „Ich befasse mich mit dem Studium der Parapsychologie, einstweilen allerdings nur mit der Durcharbeitung der einschlägigen Literatur soweit mir diese hier zugänglich ist. […] Die mir zugängliche Literatur ist, mit wenigen Ausnahmen, leider recht alt. Umstehend habe ich einige der Werke angegeben, die ich bisher studiert habe. Könnten Sie mir Literatur aus neuerer Zeit nennen? Dabei besteht natürlich für mich noch das Problem an dieses Material heranzukommen. Wie weit können Sie mein Vorhaben unterstützen?“ (Schreiben an Hans Bender vom 25. Februar 1974) Bücher, die nach derartigen Anfragen an die Absender versandt wurden, kamen in vielen Fällen nicht an. Der Psychologe Eberhard Bauer, langjähriger Assistent von Hans Bender und Mitarbeiter im IGPP, berichtete im Interview, wie er Mitte der 1970er Jahre versuchte, für eine Gruppe Ostberliner Physiker, die sich für Parapsychologie interessierten, Literatur aus der BRD nach Ost-Berlin zu schmuggeln: „Wir haben ja auch eine Gruppe von Ostberliner Naturwissenschaftlern gefunden, mit denen ich […] Kontakte hatte. Das hatte dann, um das vorwegzugreifen, auch so leicht konspirative Elemente. […] Ich versuchte dann […] natürlich auch, Material dorthin zu schmuggeln. […] Also mit anderen Worten, denen zumindest das Material zur Verfügung zu stellen, was 246

wir im Institut in Freiburg selbst produziert hatten. Das war zu diesem Zeitpunkt hauptsächlich die rote Zeitschrift für Parapsychologie.“ (Interview 18: 15f.) Die Einfuhr des Materials wurde Eberhard Bauer nach der Kontrolle durch eine DDR- Zollbeamtin verweigert, es sei denn, er würde die Adresse der Empfänger preisgeben: „Ich hatte das eben in einer Aktentasche – da haben die natürlich rein geguckt. Und dann sah sie ‚Zeitschrift für Parapsychologie‘ und ist dann irgendwohin verschwunden […] und sagte dann, das Material müssen sie da behalten oder es müsse zurückgehen. Und dann sagte sie: ‚Es sei denn, Sie lassen die Adresse von demjenigen da, der das zugeschickt bekommt, wenn wir das geprüft haben‘. Und ich sagte ‚ne‘, dann bin ich wieder zurückgegangen […], unverrichteter Dinge sozusagen. […] Das war eben schon klar, dass es für die betreffenden immer ein gewisses Risiko bedeutete.“ (S. 24) So trug die Zollverwaltung der DDR dazu bei, dass westliche Literatur zu Parapsychologie, Okkultismus und verwandten Themen im wahrsten Sinne des Wortes Mangelware blieb.

Zwischenfazit

Was bleibt festzuhalten? Druckgenehmigungsverfahren, Giftschränke und die Bestimmungen zur Einfuhr ausländischer Literatur der DDR-Zollverwaltung bildeten in ihrer Kombination ein umfassendes und in großen Teilen auch wirksames Instrumentarium zur Kontrolle und Zensur des Literaturangebots und damit eines wesentlichen Teils des öffentlichen Diskurses. Themen wie Parapsychologie, Okkultismus, Astrologie etc. galten als von der offiziellen Wirklichkeitsbestimmung abweichend und wurden daher von den Zensur- und Kontrollmaßnahmen erfasst und ausgesondert. Dies galt freilich nicht für negative, kritische Bezugnahmen, die mit der offiziellen Haltung der DDR zu entsprechenden Themen kompatibel waren. Der diskursive Abwehrkampf gegen den Aberglauben in der DDR war demnach im Rahmen der Maßnahmen zur Kontrolle des Buchangebotes institutionalisiert und verselbstständigt und erzeugte einerseits eine gewisse Leerstelle bzw. eine gewünschte Tendenz und Einschränkung des Informationenangebotes zu Themen aus dem Bereich des Paranormalen, andererseits aber auch Praktiken zur Unterwanderung dieses eingeschränkten öffentlichen Diskurses, wie z.B. den Schmuggel, Tausch und das ‚heimliche Lesen‘ unerwünschter, verbotener Literatur. Otto Prokops herausragende Rolle in Bezug auf dem Umgang mit den hier interessierenden Themen in der DDR wurde durch seine Funktion als Gutachter im Rahmen von Druckgenehmigungsverfahren einmal mehr bestätigt. Prokops Expertenstatus auf dem Gebiet des Paranormalen verhalf ihm dazu, den öffentlichen Diskurs der DDR in Bezug auf die

247 entsprechenden Themen entscheidend zu prägen, er trug aber auch dazu bei, dass Prokop als Sachgutachter in direkter Weise an der institutionell getragenen Absicherung des öffentlichen Diskurses mitwirkte. Somit war Prokop in der DDR gleichzeitig Produzent und Hüter der offiziellen Wirklichkeit im Hinblick auf das Paranormale.

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7. Das Paranormale in der DDR-Lebenswelt

7.1 Die Verbreitung des Paranormalen

Wie im zweiten Kapitel dargelegt, prägten der offizielle Diskurs und institutionelle bzw. gesetzliche Regelungen nur zu einem Teil die Alltagsrealität der DDR-Bevölkerung. In fast allen gesellschaftlichen Bereichen nutzten DDR-Bürger Möglichketen, sich den umfassenden Machtansprüchen der Partei- und Staatsführung zu entziehen. Trotz Agitation, Kontrolle und Repression hielten oder etablierten sich auf privater Ebene eine Vielzahl nonkonformer, abweichender, eigen-sinniger Verhaltenswesen und Vorstellungen. In anderen Worten: Der tendenziell auf sämtliche Lebensbereiche der Bevölkerung angelegte Anspruch der DDR- Staatsführung blieb im Alltag begrenzter, als es die universalistisch formulierten Ambitionen des öffentlichen Diskurses nahe legten. Faktisch existierte eine Aufspaltung der DDR- Gesellschaft in eine offizielle politische Kultur und Wirklichkeitsbestimmung auf der einen und eine inoffizielle Sphäre diverser ‚Nischen‘, subkultureller Milieus, systemferner Vorstellungen und Alltagswirklichkeiten auf der anderen Seite. Bezogen auf den Untersuchungsgegenstand stellt sich die Frage, ob verschiedene Vorstellungen, Erfahrungen und Praktiken im Zusammenhang mit dem Untersuchungsfeld trotz der explizit ablehnenden Haltung seitens des öffentlichen Diskurses gleichsam im Untergrund weiterexistierten. Anders gefragt: Gab es in der DDR-Bevölkerung jenseits der szientistischen Wirklichkeitsbestimmung so etwas wie einen ‚okkulten Untergrund‘, eine ‚okkulte Szene‘ oder ‚okkulte Nischen‘? Welche Rolle spielten Themen wie Astrologie, paranormale Erscheinungen, UFOs und Dergleichen mehr im Alltagsleben der DDR-Bevölkerung? Wie weit verbreitet war der Glaube an paranormale Phänomene in der DDR-Gesellschaft? Diese Fragen lassen sich nicht ohne weiteres beantworten, da in der DDR so gut wie keine Daten – beispielsweise in Form von Repräsentativumfragen – zu diesem Themenbereich erhoben wurden. Hinweise finden sich allerdings in einer repräsentativen Umfrage des Zentralarchivs für empirische Sozialforschung in Köln, die direkt nach der Wiedervereinigung Deutschlands durchgeführt wurde. Die Basisdaten der Studie beziehen sich auf das Jahr 1991. Thema der Umfrage war die „Situation von Glauben und Kirche im vereinigten Deutschland“. Neben Items zu klassischen christlichen Glaubensinhalten enthielt der Fragebogen der Studie interessanterweise auch Fragen zu paranormalen Vorstellungen. Ein zentraler Befund der Untersuchung bestand darin, dass es zwar große Unterschiede in Bezug auf konfessionelle Glaubensinhalte und Kirchenmitgliedschaften zwischen der ost- und

249 der westdeutschen Bevölkerung gibt, die Differenzen in Bezug auf paranormale Phänomene jedoch weitaus geringer ausfallen: „Kirchliche Partizipation, Gottesglauben und Glaube an weitere vorwiegend christliche geprägte Glaubensvorstellungen werden in den neuen Bundesländern sehr viel seltener angegeben als in den alten. Geringere Unterschiede ergeben sich hinsichtlich der Verbreitung von Glauben an andere paranormale Phänomene.“ (Terwey 1992: 59) Schon bei der grundsätzlichen Frage nach dem Glauben an Gott liegen Ost- und Westdeutsche weit auseinander. Während in Westdeutschland 57,9 Prozent der Aussage ‚Ich glaube an Gotte und habe immer an ihn geglaubt‘ zustimmen, sind es in Ostdeutschland lediglich 19.4 Prozent. Noch deutlicher sind die Unterschiede in Bezug die Mitgliedschaft in einer Glaubensgemeinschaft bzw. Kirche: In Westdeutschland gaben lediglich 10,6 Prozent der Befragten an, keiner Religionsgemeinschaft anzugehören, in Ostdeutschland hingegen 64,7 Prozent (vgl. S. 61). Dies entspricht zunächst den Erwartungen im Hinblick auf einen Effekt der in der DDR staatlich forcierten Säkularisierung. In der folgenden Tabelle finden sich Zustimmungswerte zu traditionellen Inhalten des christlichen Glaubens in der West- und der Ostdeutschenbevölkerung. Die Prozentangaben geben dabei die addierten Werte für die Antwortmöglichkeiten ‚Ja, ganz sicher‘ und ‚Ja, wahrscheinlich‘ an. Auch hier fallen zunächst erwartungsgemäß die Zustimmungswerte in Ostdeutschland wesentlich geringer aus als in Westdeutschland. West Ost Glauben Sie, dass es ein Leben nach dem Tod gibt 44,4% 12,2% Glauben Sie, dass es einen Teufel gibt 20,1% 5,7% Glauben Sie, dass es den Himmel gibt 35,0% 17,4% Glauben Sie, dass es die Hölle gibt 20,3% 5,7% Glauben Sie, dass es Wunder gibt 51,2% 34,9% Tabelle 1: Zustimmung zu traditionellen christlichen Glaubensinhalten (nach Terwey 1992: 67)

Bemerkenswert sind jedoch die vergleichsweise hohen Zustimmungswerte zur Möglichkeit von Wundern bei den Ostdeutschen. Terwey merkt dazu an: „Während im Westen 51,2 Prozent zum Wunderglauben neigen, sind es im Osten immerhin 34,9 Prozent. Weitere Berechnungen zeigen: 26,4 Prozent der Atheisten aus den neuen Bundesländern akzeptieren Wunder als wenigstens wahrscheinlich (alte Bundesländer: 32,8 Prozent). Gibt es somit auch in dem Bereich der ehemaligen DDR einen vergleichsweise beachtlichen Bevölkerungsanteil, in dem losgelöst von zentralen christlichen Vorstellungen an übernatürliche Phänomene geglaubt wird?“ (S. 66) Dies scheint in der Tat der Fall zu sein. Schaut man sich die Umfrageergebnisse im Zusammenhang mit paranormalen Phänomenen an, die in der nächsten Tabelle enthalten sind, zeigen sich nur geringe Unterschiede im Glauben an paranormale Phänomene zwischen West- 250 und Ostdeutschen. Bei manchen Items, wie zum Beispiel der Frage, ob es Wunderheiler gibt, die tatsächlich übernatürliche Kräfte besitzen, fanden sich in der ostdeutschen Bevölkerung sogar höhere Zustimmungswerte als in der westdeutschen. Die angegebenen Werte sind die zusammengefassten Prozentanteile für die Antwortmöglichkeiten ‚Stimmt sicher‘ und ‚Stimmt wahrscheinlich‘.

West Ost Glücksbringer bringen manchmal tatsächlich Glück 27.0% 29,6% Es gibt Wahrsager, die wirklich die Zukunft vorher sagen können 27,9% 19,0% Manche Wunderheiler verfügen wirklich über übernatürliche Kräfte 32,5% 33,7% Das Sternzeichen eines Menschen hat einen Einfluss auf sein Leben 27,8% 20,5% Tabelle 2: Zustimmung zur Möglichkeit paranormaler Phänomene (nach Terwey 1992: 69)

Es ist erstaunlich, dass es trotz des sehr unterschiedlichen Umgangs mit dem Themenbereich des Paranormalen in der BRD und der DDR kaum Unterschiede in Bezug auf die Vorstellbarkeit entsprechender Phänomene zwischen West- und Ostdeutschen gibt. Dies erscheint umso verblüffender, da die Differenzen im Zusammenhang mit klassischen religiösen Überzeugungen erwartungsgemäß hoch sind. Sowohl paranormale als auch religiöse Überzeugungen galten im Sinne der in der DDR propagierten wissenschaftlichen Weltanschauung als überholter Aberglaube und sollten im Zuge einer staatlicherseits systematisch vorangetriebenen Säkularisierung überwunden werden. Die dargelegten Befunde lassen jedoch die Frage aufkommen, warum das Säkularisierungsprogramm im Bereich religiöser Überzeugungen zu deutlichen Effekten führte, im Hinblick auf paranormale Überzeugungen und Vorstellungen aber offenbar nicht. Die in der DDR staatlich geförderte Säkularisierung zeigt in Bezug auf die Religiosität in der ostdeutschen Bevölkerung bis heute Wirkung. So haben sich die statistischen Werte im Zusammenhang mit religiösen Überzeugungen und Kirchenmitgliedschaften so gut wie nicht verändert. „In Westdeutschland gehören 11% im Jahr 1991 und 18% im Jahr 2012 keiner Religionsgemeinschaft an, in Ostdeutschland sind es 65 % (1991) beziehungsweise 68% (2012). […] Die Ostdeutschen wurden in der DDR ‚entkirchlicht‘ und finden auch in der neuen Bundesrepublik nicht wieder zu den Kirchen zurück.“ (Datenreport 2016: 379) Die westdeutsche Bevölkerung nähert sich der ostdeutschen zwar an, dennoch ist damit zu rechnen, dass „die Ost-West-Unterschiede bei der Religionszugehörigkeit auch in den nächsten Jahrzehnten weiter bestehen und sich, wenn überhaupt, nur langsam angleichen werden“ (Goldstein et al. 2010: 16). Die antireligiöse bzw. antikirchliche Erziehung der DDR zeigt also einen nachhaltigen Effekt in Bezug auf religiösen Glauben in der ostdeutschen Bevölkerung. 251

Interessanterweise bestätigen sich die Befunde des Zentralarchivs für empirische Sozialforschung aus dem Jahr 1991, nach denen die Unterschiede beim Glauben an paranormale Phänomene zwischen ost- und westdeutscher Bevölkerung verhältnismäßig gering ausfielen, auch in späteren Umfragen. In einer Repräsentativumfrage aus dem Jahr 2000 zur Vorstellbarkeit paranormaler Phänomene wie etwa Geistererscheinungen, Telepathie, Wahrträume oder auch UFO-Sichtungen zeigten sich relativ geringe Unterschiede zwischen Ost und West (ganz im Gegensatz zu den großen Unterschieden in Bezug auf Religiosität). So konnten sich in Westdeutschland beispielsweise 16 Prozent der Befragten vorstellen, dass Psychokinese existiert, in Ostdeutschland 15 Prozent (vgl. Schmied-Knittel & Schetsche 2003: 24). Die folgende Tabelle listet die Ergebnisse im Einzelnen auf.

West Ost Psychokinese 16% 15% UFO 25% 25% Telepathie 51% 40% Präkognition 57% 47% ASW bei Tod und Krisen71 74% 68% Tabelle 3: Vorstellbarkeit paranormaler Phänomene (nach Schmied-Knittel & Schetsche 2003: 24)

Geringe Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschen zeigten sich aber nicht nur bei der Vorstellbarkeit paranormaler Phänomene, sondern auch in Bezug auf das Auftreten eigener paranormaler Erfahrungen. 76 Prozent der westdeutschen Befragten gaben an, eine (oder mehrere) paranormale Erfahrungen gemacht zu haben, im Osten lag der Anteil bei 73 Prozent. Bezogen auf einzelne Erfahrungstypen fielen die Ergebnisse wie folgt aus:

West Ost Déjá-vu 52% 46,5% Fügung 41,6% 35,2% Wahrtraum 38,5% 39,2% Ankündigung 20,6% 22,2% Erscheinung 18,4% 15,3% Spuk 13,7% 13,9% UFO 2,9% 3,1% Tabelle 4: Auftreten paranormaler Phänomene in West- und Ostdeutschland (nach Deflorin & Schmied 2001: 78)

Insgesamt hatte die Herkunft der Befragten bzw. der Ost-West-Vergleich „keinen signifikanten Einfluss auf das Auftreten außergewöhnlicher Erfahrungen“ (Schmied-Knittel & Schetsche 2003: 28. Hervorhebungen wie im Original). Zu betonen ist dabei, dass ein

71 Gemeint ist damit die Vorstellung, dass es Menschen gibt, die spüren, wenn irgendwo eine nahe stehende Person stirbt oder in Gefahr ist. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von ‚Krisentelepathie‘ (vgl. Schmied-Knittel & Schetsche 2003: 21). 252

Großteil der berichteten Erfahrungen schon zu DDR-Zeiten gemacht wurde. Das bedeutet: Trotz des Umstandes, dass paranormale Phänomene in der DDR im öffentlichen und im wissenschaftlichen Diskurs höchst despektierlich verhandelt wurden, hatte dies keinen merklichen Einfluss auf das Vorkommen solcher individueller Grenzerfahrungen. Dies gilt auch für das Phänomen der Nahtoderlebnisse, also Berichten über außergewöhnliche Bewusstseinszustände von Menschen, die sich in einer lebensbedrohlichen Situation befunden haben. In einer gesamtdeutschen Bevölkerungsumfrage Mitte der 1990er Jahre gaben genauso viele Ost- wie Westdeutsche an, schon einmal eine Nahtoderfahrung gehabt zu haben. Auch hier fanden die Erfahrungen der Ostdeutschen in den allermeisten Fällen vor der Wiedervereinigung Deutschlands statt. Selbst die wiederkehrende Kernmotivik dieser Erfahrungen, etwa die typischen Tunnel-, Licht- und Schweberfahrungen, wurden relativ häufig auch von den ostdeutschen Nachtod-Erlebenden berichtet (vgl. Schmied, Knoblauch & Schnettler 1999: 228-239; Knoblauch 2008: 677f.). Geringe Unterschiede zwischen ostdeutscher und westdeutscher Bevölkerung existieren sogar in Bezug auf Inhalte klassischen Volksaberglaubens, wie zum Beispiel den Glauben an die Bedeutung von schwarzen Katzen, Schornsteinfegern oder der Zahl 13, wie eine Umfrage des Instituts für Demoskopie in Allensbach aus dem Jahr 2005 belegt. In dem Erläuterungstext zu der Umfrage heißt es: „Während die Bevölkerung in Ostdeutschland im allgemeinen in Glaubensfragen sehr viel weniger aufgeschlossen ist als die Bevölkerung in Westdeutschland, unterscheidet sie sich in puncto Aberglauben so gut wie gar nicht. Hier wie dort lehnen es nur jeweils 32 Prozent aller Erwachsenen ab, den Zeichen aus der Welt des Aberglaubens überhaupt irgendeine Bedeutung zukommen zu lassen.“ (Allensbacher Berichte 2005: 4) Den Befragten wurde eine Liste mit Items im Zusammenhang mit abergläubischen Vorstellungen vorgelegt, verbunden mit der Frage: „Bei was davon glauben Sie, daß es vielleicht eine Bedeutung haben könnte, worauf geben Sie selbst auch immer acht?“ (Ebd.) Im Folgenden ein Ausschnitt aus den Einzelergebnissen:

West Ost Vierblättriges Kleeblatt 42% 40% Sternschnuppen 41% 37% Schornsteinfeger 36% 34% Die Zahl 13 28% 25% Schwarze Katze von links 24% 32% Ein Hufeisen finden 16% 19% Die Zahl 7 6% 5% Salt borgen bringt Unglück 4% 13% Wenn man stolpert, wieder zurücklaufen 4% 8% 253

Nichts davon 31% 32% Tabelle 5: Aberglaube in West- und Ostdeutschland (Allensbacher Berichte 2005: 4)

Wie ist es zu interpretieren, dass sich sowohl der Glaube an Paranormales als auch das berichtete Auftreten entsprechender Phänomene zwischen West und Ost nur geringfügig unterscheiden – zumal im Bereich religiöser Überzeugungen nach wie vor erhebliche Unterschiede vorliegen? Deuten diese Zahlen auf einen relativ weit verbreiteten heterodoxen Überzeugungs- und Erfahrungsbereich, kurz: einen ‚okkulten Untergrund‘ in der DDR hin? Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen in der DDR dazu führten, dass einzelne Interessen und Praxisformen im Zusammenhang mit dem Paranormalen nur in äußerst klandestiner Form existierten. Dies mag einer der Gründe dafür sein, dass die Resonanz auf die Aufrufe zur Interviewteilnahme im Rahmen des Forschungsprojektes hinsichtlich der lebensweltlichen Ebene unerwartet schwach ausfiel. Dennoch lieferten die durchgeführten Interviews mit lebensweltlichen Akteuren interessante Einblicke in die Verhandlung paranormaler Wissensbestände, Erfahrungen und Praktiken in der DDR-Lebenswelt. Im Folgenden wird eine Auswahl der entsprechenden Interviews in Form von Einzelfallskizzen dargestellt.

7.2 Einzelfallskizzen

Gläserrücken mit der Stasi

Die Schriftstellerin Anne Hahn, 1966 in Magdeburg geboren, machte in der DDR zunächst eine Ausbildung zur Krankenschwester und arbeitete später im Kulturkabinett des Rates der Stadt Magdeburg, wo sie u.a. Konzerte organisierte. Ende der 1980er Jahre war Anne Hahn Mitglied einer Jugendclique, die sich zur DDR-Punk-Szene rechnete. Punk existierte in der DDR etwa seit Anfang der 1980er Jahre. Zu Beginn war die Punk-Szene teilweise massiver politischer Repression ausgesetzt. Dies lockerte sich ab Mitte der 1980er Jahre. Dennoch galt Punk als politisch verdächtig und die entsprechende Szene daher mindestens als überwachungsbedürftig (vgl. etwa Hahn 2009). Ihre Anstellung beim Kulturkabinett habe Anne Hahn, wie sie im Interview berichtete, „ganz frech ausgenutzt“ (Interview 8: 2), um Punkkonzerte zu veranstalten. Dies sei ein paarmal gut gegangen, doch schließlich habe sie dadurch ihren Job verloren, „weil das natürlich überhaupt nicht auf der Linie des Staats lag und ich eben beim Staatsapparat angestellt war. Ich hatte auch schon einen Studienplatz für Kulturwissenschaften an der Humboldt-Uni. Auch der wurde mir

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weggenommen und ich war 1988, also mit 22, von einem Tag auf den anderen arbeitslos, hab dann Klamotten genäht und verkauft und geguckt, wie ich aus dem Land heraus komme“ (S. 2f). Nach dem Verlust ihres Arbeitsplatzes verbrachte Anne Hahn bis zur Wende viel Zeit mit ihrem Freundeskreis, einer „bunten Truppe“ aus Theaterleuten, Punks, „Freaks“ und „Aussteigern“. Innerhalb der Clique entstand irgendwann ein Interesse an Okkultismus und Spiritismus: „Wir haben sehr viel Zeit miteinander verbracht, gelesen, Schach gespielt und Geisterbeschwörungen gemacht. Da ging das eigentlich los, so in dieser Phase, dass wir so ein bisschen über Okkultismus geredet haben und was gibt es und was kann man machen und irgendwann kam man drauf: Ach, wir kennen doch diese Frau, die kann das. Dann haben wir uns das beibringen lassen und recht schnell gemerkt, dass ich aus irgendeinem Grund sehr empfänglich dafür war. Also, wir haben diese übliche Geisterbeschwörungsanordnung gemacht, dass man eine Kerze auf den Tisch stellt, ein Glas in die Mitte, die Zettel, Gläserrücken.“ (S. 3) Jene Frau, von der Anne Hahn und ihre Freunde das Gläserrücken erlernten, hatten sie in einer Kneipe kennen gelernt. Sie wird als eine Art ‚Hexe‘ oder ‚Esoterikerin‘ beschrieben: „Ich weiß gar nicht mehr, was die gemacht hat. Die hatte viel Zeit. Ich nehme an, die hatte keine Arbeit oder jedenfalls auch nichts Reguläres. Die kam mir wirklich […] ein bisschen wie eine weisere Frau vor. War sie aber wahrscheinlich gar nicht. Die war ein paar Jahre älter als wir und hatte tausend bunte Klimperreifen und Räucherstäbchen halt so eine Aura um sich und an sich, die irgendwas Besonderes war. Der haben wir das alles geglaubt.“ (S. 25f.) Das Interesse für Themen im Bereich des Okkulten bzw. Paranormalen begann bei Anne Hahn jedoch bereits in ihrer Kindheit. Sie schildert, dass es in ihrem Heimatdorf eine „Heilerin“ gegeben hätte, zu der die Menschen mit verschiedenen gesundheitlichen Problemen gegangen seien. Auch ihre Mutter, eine Krankenschwester, sei zu jener Heilerin gegangen, um sich von einer Schuppenflechte befreien zu lassen und sei, trotz ihrer Ausbildung zur Krankenschwester, davon überzeugt gewesen, dass die Schulmedizin manchmal versagt und die Fähigkeiten der Heilerin echt sind. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen in der eigenen Familie habe sie, so Anne Hahn weiter, ein Interesse und eine prinzipielle Offenheit gegenüber Themen dieser Art entwickelt. Später, ca. seit ihrem zwölften Lebensjahr, habe sie dann viel gelesen, darunter einige Klassiker der Weltliteratur, in welchen sie weitere Anregungen in Bezug auf paranormale Themen fand: „Gerade bei den Russen kommen ja unheimlich viele Geschichten vor, wo dann außergewöhnliche Dinge passieren und Vorahnungen. Und durch die Weltliteratur angeregt, […] habe ich das dann abgeglichen mit dem, was mir so passiert und was eben meine Mutter in der Familie so

255 meinte.“ (S. 26) Ca. ab dem siebzehnten Lebensjahr habe sie sich dann verstärkt mit okkulten Praktiken beschäftigt: „Und als ich dann selber so siebzehn oder achtzehn war, merkte ich, dass Dinge eintreffen, die ich geträumt oder geahnt habe. Ich habe das für etwas Besonderes gehalten und dann versucht, auszuprobieren, wie weit das geht oder wie weit das möglich ist, dass ich Dinge spirituell erfahren kann.“ (S. 11f.) Innerhalb ihres Freundeskreises sei die Beschäftigung mit Okkultismus und Spiritismus dann immer intensiver geworden, vor allem in Form des Gläserrückens. Irgendwann hätten sie und ihre Freunde es „echt ein bisschen übertrieben, das war dann so wie das tägliche Glas Wein, das tägliche Gläserrücken“ (S. 13). Es folgte eine ganze Reihe von für die Jugendclique verblüffenden und teilweise auch verängstigenden Erlebnissen im Zusammenhang mit dem Gläserrücken. Bei einer Sitzung beispielsweise hätte ein per Gläserrücken kontaktierter ‚Geist‘ die Koordinaten eines kurz zuvor verunglückten Schiffes mitgeteilt: „Ich erinnere mich, so der erste Aufreger, was, was wirklich erstaunlich war, war eines Nachmittages, da haben wir zu viert einen Geist gerufen, nur mal so mit der Frage ‚Wer bist du?‘, wo dann mehr oder weniger Unfug dabei heraus kam, aber dann kam ein ungarischer Name. Und er war ein Königssohn, er war neunzehn und hat uns seine komplette Biographie beschrieben. Und dann haben wir gefragt: ‚Willst du uns was sagen? Ist irgendwas wichtig für dich?‘ Und dann hat er geschrieben ‚SOS‘, ‚SOS‘, und hat immer Zahlen durchgegeben. Und ich habe die auch aufgeschrieben […]. Und wir haben das erst mal so hingenommen. Und am nächsten Tag habe ich in einer Zeitung, es gab ja auch Auslandsmeldungen in der DDR, im neuen Deutschland, gelesen, dass ein Schiff vor Südamerika in Seenot geraten war und nicht gerettet werden konnte. Und die haben die ganze Nacht gefunkt und um Hilfe gerufen. Und dann haben wir das verglichen, das weiß ich noch, mit den Zahlen, die ich hatte. Und die stimmten! Also, dieser Längen- und der Breitengrad, das waren die Koordinaten. Und da ist es uns natürlich total anders geworden. Da haben wir uns gedacht: ‚Okay, an was für Informationen sind wir heran gekommen?‘ Wir konnten uns das nicht erklären, wie war das möglich? Weil, man hat ja immer versucht, das über unser Unterbewusstsein oder so zu erklären, aber es musste offensichtlich noch einen anderen Kanal geben, wo Informationen reinkamen. Und an dem Punkt habe ich dann beschlossen: Okay, jetzt versuchen wir Informationen abzuschöpfen – woher auch immer.“ (S. 4) Eine weitere Episode schildert eine merkwürdige Begegnung der Clique Anne Hahns mit einer Frau, die sie für eine MfS-Mitarbeiterin hielten. Diese Geschichte ist unter dem Titel „Gläserrücken mit der Stasi“ in dem Band Die Gespenster von Berlin von Sarah Khan veröffentlicht, der 2009 im Suhrkamp-Verlag erschien. Da ihr Freundeskreis aus unangepassten Jugendlichen bestand, wurde vermutet, so schildert Anne Hahn, dass die Staatssicherheit bereits auf die Clique aufmerksam geworden sei: „Wir waren halt wirklich so auffällig, also auch für die Stasi, also es war ja auch klar, dass jemand versuchen würde, über 256 uns Informationen zu beschaffen, nah heranzukommen.“ (S. 5) Auf Flohmärkten, auf denen Anne Hahn ihre selbstgenähten Kleider verkaufte, wurden sie und ihre Freunde mehrfach von einer fremden Frau angesprochen und zu sich nach Hause eingeladen. Dies kam Anne Hahn und ihrer Clique von Anfang an verdächtig vor: „Und dann hab ich gesagt: ‚Du, die hat was vor. Die kann eigentlich nur eine Wohnung haben, wo abgehört wird und würde uns da irgendwas fragen.“ (Ebd.) Dennoch ließen sich die Jugendlichen von der fremden Frau in ihre Wohnung einladen – allerdings nur, um ihr einen Streich zu spielen: „Wir haben uns noch einen Freund mitgenommen, der auch Bescheid wusste und dann haben wir uns einladen lassen an einem Abend. Wir sind hin, haben uns bewirten lassen und ich hab dann gesagt: ‚So, jetzt machen wir Gläserrücken.‘ Glas raus, Buchstaben raus. […] Und dann haben wir das gemacht und es kam auch ganz flott jemand und hat die Fragen beantwortet und so. Und da hab ich gefragt: […] ‚Ist hier im Raum jemand bei der Staatssicherheit?‘ ‚Ja!‘ Aber zack, da ist sie schon aufgesprungen und hat gesagt: ‚Das ist ein Scheißspiel, da mache ich nicht mehr mit!‘ Und dann […] habe ich gefragt: ‚Hört uns jemand ab?‘ ‚Ja.‘ Und: ‚Ist hier eine Wanze im Raum?‘ ‚Ja.‘ Und um das herauszukriegen bin ich dann aufgestanden und hab gesagt: ‚Ich gehe jetzt alle vier Ecken des Zimmers ab. Wo die Wanze ist, schreib ‚Ja‘ rein‘. ‚Ja!‘ Da stand ein altes Radio.“ (S. 6) Danach habe die Frau Anne Hahn und ihre Freunde aus der Wohnung geworfen. Nach diesem Abend war jene Frau für die Clique „gestorben“: „Also, das haben wir dann auch herumerzählt überall. Die ist bei der Stasi und da wirst du abgehört, wenn du in die Wohnung gehst. Und die ist dann auch weg gewesen. Also, die haben sie aus dem Verkehr gezogen, weg aus dieser Szene.“ (S. 7) Dieser Vorfall hatte zunächst keine weiteren Konsequenzen, berichtet Anne Hahn weiter. Nach einem gescheiterten Versuch, aus der DDR zu fliehen, kam sie von Mai bis November 1989 ins Gefängnis. Zuvor wurde sie durch Mitarbeiter des MfS verhört. Dabei sei auch die geschilderte Episode zur Sprache gekommen. Die MfS-Mitarbeiter hätten ihr geraten, dass „ich über dieses ganze Thema nichts sage bei der Verhandlung und dass sich das günstig aufs Urteil auswirken“ (S. 8) würde. Durch Erlebnisse wie die beiden geschilderten bekam das Gläserrücken im Leben von Anne Hahn eine immer größere Bedeutung. Doch dann erlebte sie Dinge, die sie als paranormale Phänomene deutete und die sie stark verängstigten: „[Ich] habe dann aber einen ziemlichen Dämpfer durch das Gläserrücken bekommen, weil dann Phänomene aufgetaucht sind. Ich habe viel Deutschlandfunk gehört und habe dann tatsächlich einen Bericht über das Freiburger Institut gehört, dass Menschen auch Klopfgeräusche erzeugen können, wenn sie sich zu sehr damit beschäftigen und da habe ich Angst bekommen. Da habe ich richtig Angst bekommen. Jemand sagte dann noch: ‚Du musst aufpassen mit dem Gläserrücken. Mach das nicht in deiner eigenen Wohnung, weil Du rufst die Geister und du musst es auch schaffen, die wieder

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wegzuführen oder nach Haus zu bringen‘. Und das ist mir dann ganz schlagartig bewusst geworden, dass meine Bude voller Geister sein muss und dann passierte eines nach dem anderen. Also, es klopfte an der Türe, wo keiner war. […] Die Dielen haben sich gebogen. Also, es ging jemand mit Gewicht hinter mir lang. Ich habe mich dann auch nicht umgedreht. Und dann bin ich krank geworden. Ich habe dann eine schwere Angina bekommen, mit hohem Fieber und dann hab ich auch irgendwann zu Matthias, der mein bester Kumpel war, gesagt: ‚Du musst mir helfen. Ich steigere mich da zu sehr hinein.‘ Dem war klar, dass das nicht real ist. Und der war dann bei mir, hat zwei Wochen bei mir gewohnt. Und wir haben viel laute Musik gehört und ein paar Partys gemacht und dann war gut. Und dann habe ich aber auch gesagt: Kein Gläserrücken mehr bei mir.“ (S. 12)

Hinterher hat sich Anne Hahn immer weniger mit dem Gläserrücken beschäftigt. Die für sie überaus verstörenden und verängstigenden Erlebnisse hätten bei ihr „heftige Spuren“ hinterlassen und sie „beinahe paranoid“ (S. 14) werden lassen. Auch ihre Freunde wollten nichts mehr damit zu tun haben: „Also, es war mir alles zu heikel und zu heiß und meine Freunde haben dann auch versucht, das von sich weg zu schieben. Also, es hat uns alle erschüttert. Und auch einigen Angst gemacht.“ (S. 15) Nach der Wende versuchte sie, durch die Lektüre von zu DDR-Zeiten nicht erhältlicher Literatur Erklärungen für ihre Erlebnisse zu finden. Irgendwann sei sie zu der Haltung gelangt, dass das Gläserrücken „halt ein Anzapfen von Unterbewusstsein ist und dass es nicht eine Botschaft von Verstorbenen ist. Sonst hätte ich das auch nicht ertragen“ (S. 14). Anne Hahns Schilderungen liefern überaus interessante Einblicke im Hinblick auf die Frage nach der Bedeutung und der Verhandlung okkulter bzw. paranormaler Themen in der Alltagswelt der DDR-Bürger. Es fällt auf, dass ihre Beschäftigung mit Themen aus dem Bereich des Paranormalen vor allem durch die persönliche Begegnung mit lebensweltlichen Akteuren geprägt war. Zunächst erzeugte die ‚Heilerin‘, bei der sich ihre Mutter behandelt ließ, bei ihr eine gewisse Offenheit gegenüber entsprechenden Themen, später wurden sie und ihre Freunde von einer in Okkultismus bzw. Esoterik bewanderten Dame in das Gläserrücken eingeführt. Zusätzliche Informationen zum Themenfeld des Paranormalen bezog Anne Hahn aus Klassikern der Weltliteratur, nicht jedoch aus Fachliteratur der DDR, wie sie betonte: „Literatur war ja schwierig. Also, in der Bibliothek hätte man nichts bekommen. Im Buchhandel auch nicht. Klar, wir haben immer Leute gefragt, ob jemand was weiß und ob jemand ein Buch hat dazu. Aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich irgendein Buch gelesen hätte darüber.“ (S. 15) Somit fand Anne Hahns Beschäftigung mit Themen aus dem Gebiet des Paranormalen fast ausschließlich auf der lebensweltlichen Ebene statt und basierte

258 auf Informations- und Kommunikationskanälen jenseits des öffentlichen Diskurses – gleichsam in ‚okkulten Nischen‘. Nach ihrer Einschätzung gefragt, welche Bedeutung Themen im Zusammenhang mit Okkultem und Übersinnlichem im Allgemeinen in der DDR-Bevölkerung spielten, gab Anne Hahn folgende bemerkenswerte Antwort: „Ich bin nicht davon ausgegangen, dass das in der DDR ausgemerzt ist oder nicht möglich ist oder so, sondern es hat weiter existiert. Wie die Leute gesagt haben: ‚Kommunisten, die haben doch eine Macke, die gehen auch wieder.‘ Also, das war im Alltag viel weniger als sich das heute darstellt umgesetzt, was man sich gewünscht hat in der Presse oder laut Gesetz, was dieser DDR- Überbau geglaubt hat, wie das funktioniert, das hat in der Praxis viel weniger existiert als man heute annimmt, wenn man nur diese Schriftstücke liest.“ (S. 20) Im wiedervereinigten Deutschland holte Anne Hahn das Studium nach, das ihr in der DDR verwehrt wurde. Sie studierte Kunstgeschichte, Geschichte und Germanistik an der Humboldt-Universität in Berlin. Heute arbeitet sie als freie Schriftstellerin in Berlin.

Herr Müller

Herr Müller, der bereits mehrfach zitiert wurde, wurde 1959 in Thüringen geboren. Als er ein Jahr alt war, zogen seine Eltern mit ihm nach Berlin, wo er seither durchgängig wohnt. Hier ging er zur polytechnischen Oberschule und machte 1978 sein Abitur. Nach der Schule ging Herr Müller direkt zur NVA, wo er schon bald vom Ministerium für Staatssicherheit angeworben wurde, sodass er seine dreijährige militärische Dienstzeit bei einem Wachregiment der Staatssicherheit ableistete. Hinterher arbeitete er weiterhin für das MfS im Bereich Personen- und Objektschutz. Das MfS ermöglichte ihm schließlich ein Studium im Bereich des Staats- und Militärrechtes, das er im Jahr 1986 abschloss. Herr Müller war darüber hinaus Mitglied der SED. Er begann schon früh, sich für Astronomie, außerirdisches Leben und später für verschiedene grenzwissenschaftliche Themen zu interessieren. Ausgelöst wurde dieses Interesse durch die Lektüre von Science-Fiction-Literatur aus dem Bücherregal des Vaters, wie Herr Müller im Interview berichtete: „Und wie gesagt, mein Vater hatte viele Bücher und da habe ich mir eines heraus gegriffen, einfach willkürlich. Das hieß ‚Das Erbe der Phaetonen‘. Das war ein russischer Autor und ein Science-Fiction-Roman. Und ich habe mir gedacht: Klingt erstmal ganz gut der Umschlag und habe das gelesen. Ja, das war dann eigentlich der Initialpunkt, mich mit dieser Thematik Astronomie und außerirdisches Leben zu beschäftigen, weil da ging es darum, dass man auf der

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Venus Reste eines Raumschiffes gefunden hat, was nicht von der Erde stammt.“ (Interview 2: 6) Herr Müller las im Folgenden vieles über Astronomie. Im Hinterkopf hatte er dabei immer die Frage nach der Möglichkeit außerirdischen Lebens. Irgendwann stieß er dann auf den Namen Erich von Däniken: „Ja, und das hat sich dann so entwickelt, dass ich mich mit Astronomie beschäftigt habe als Grundlage und dann natürlich auch n bisschen links und rechts geguckt habe. Wie sieht’s denn nun aus? Hat man schon irgendwelche Anzeichen von außerirdischen Zivilisationen gefunden? Gibt’s irgendwo Informationen darüber? Und dann kam natürlich der Punkt, wo man ein bisschen weiter gucken musste, über den Tellerrand, also nicht nur bei uns in der DDR. Und dann fiel auch das erste Mal irgendwann der Name Erich von Däniken. Und das war aber erst mal nur der Name, denn Bücher von Däniken hast du bei uns nicht bekommen.“ (S. 7) Herr Müller schildert weiter, dass er zum ersten Mal durch einen Zeitungsartikel auf Erich von Däniken gestoßen ist, in dem es um seinen Film Erinnerungen an die Zukunft ging. Der Film, der zu jener Zeit gerade in den DDR-Kinos anlief, sei, „wie es für die DDR-Presse damals üblich war“, zerrissen worden und Däniken „nicht gut weggekommen“ (S. 7) Herr Müller jedoch war klar: „Mensch, den musst du dir unbedingt angucken!“ (S. 8) Dazu kam es allerdings nicht, da der Film wieder aus dem Programm genommen wurde, bevor Herr Müller ihn sich im Kino ansehen konnte. Danach wollte Herr Müller sich Informationen über Erich von Däniken beschaffen, ging dabei jedoch äußerst vorsichtig vor: „Also, er [der Film] lief nur ein einziges Mal im Kino Kosmos soweit ich weiß. Also, hier bei uns in Berlin. Aber das war die erste Begegnung mit dem Namen und dann hat man natürlich so versucht, in der Zeit sich noch so ein bisschen zu informieren, allerdings war es für mich dann ja schon schwer, weil das war ja noch die Schulzeit und danach hab ich dann ja bei der Armee, also im Ministerium angefangen und da musste man sowieso vorsichtig sein, dass man sich da nicht irgendwo soweit raus hängt, gerade was ausländische Literatur betrifft und Filme, Fernsehen usw.“ (S. 8) Die in der DDR erhältliche Literatur zu Grenzwissenschaften und Parapsychologie hat Herr Müller zur Kenntnis genommen, wie z.B. den Band Geheimwaffe fliegende Untertassen von Wolfgang Heermann. Er erinnert sich: „Also, da waren mehrere Themen drin, unter anderem wie gesagt Däniken. Den haben sie runtergemacht, also der hat damals wohl Kellner gelernt und da gab’s wohl Unregelmäßigkeiten, wo der wohl angeklagt wurde usw. […] Dann diese Verbindung mit den Paraphänomenen, dass das eben ein Scharlatan ist usw. Dann war da drin Charles Manson mit seiner Sekte […] und auch noch Paraphänomene, die da so abgehandelt wurden. […] Klar, es gab auch noch andere kleinere Sachen, die sich so ein bisschen mit diesen Phänomenen, also mit der Thematik außerirdisches Leben befasst haben. Das waren so kleine Bücher, so kleine Bänder am Rande. Also, wenn man wusste, dass es die gibt, 260

hat man sie trotzdem schwer gefunden. Also, die wurden ja nicht irgendwie große beworben oder so.“ (S. 11) Herr Müller war dabei klar, dass die in der DDR erhältliche Literatur zu Parapsychologie, außerirdischem Leben etc. ideologisch gefärbt war und dass diese Themen an der wissenschaftlichen Weltanschauung und der in deren Sinne erfolgenden Sozialisation in der DDR rührten: „Na ja, wenn man jetzt einmal von dem Schulsystem ausgeht, ja? Also, du hast deine polytechnische Oberschule gemacht, dein Abitur gemacht, du hast also immer, sagen wir mal, das Fortschrittliche mitbekommen. Ob jetzt nun die Politik, die normale Wissenschaft, Biologie, Astronomie, Mathematik und so. Es war immer das, was benutzt wurde und was allseits anerkannt wurde. […] Und da war eben kaum Spielraum für solche Phänomene wie Wahrsagen, Hellsehen, die UFO-Thematik. Also, das ganze Spektrum, kann man sagen. Ja? Du hast eben deine ganz normalen allseits bekannten Themen und Regeln und danach wurde gearbeitet und gelebt.“ (S. 21f.) Herr Müller berichtet weiter, dass er sich zu DDR-Zeiten gerne intensiver über entsprechende Themen informiert hätte, dies aber äußerst schwierig war, da Westliteratur kaum zu bekommen war und Interessengruppen, themenspezifische Zeitschriften oder Ähnliches nicht existierten. Allerdings wurden in der dem Kulturbund angegliederten Arbeitsbereitschaft für Astronomie, die in Abschnitt 6.4 bereits beschrieben wurde und der Herr Müller angehörte, neben klassischen astronomischen Themen auch im weitesten Sinne grenzwissenschaftliche Fragen wie jene nach der Möglichkeit außerirdischen Lebens diskutiert. Dabei sei auch hin und wieder der Name Erich von Däniken gefallen, allerdings seien Diskussionen über dessen Thesen aufgrund mangelnder Informationen kaum aufgekommen: „Ja, [Däniken] wurde auch angesprochen. Allerdings eben durch die geringen Informationen über dieses Thema Paläo-SETI, die Prä-Astronautik und Däniken an sich gab es da keine großen Diskussionen weiter, weil man wusste nur, das ist ein Scharlatan, also das, was man hier gelesen hat und man hat über seine Thesen dann mehr oder weniger gelächelt, weil er war wie gesagt als Scharlatan verrufen und seine Thesen hat man hier gar nicht genau gekannt, also konnte man auch gar nicht so darüber diskutieren.“ (S. 15) Dessen ungeachtet hatte Herr Müller Kontakt zu einer Person, die sich in der DDR intensiv mit der UFO-Thematik beschäftigte. Im Zusammenhang mit dem Austausch mit dieser Person zum UFO-Thema befürchtete Herr Müller, dass dies negative Konsequenzen für ihn haben könnte: „Weil das war damals natürlich für mich auch so ein, wie soll ich sagen, so ein Grat am Abgrund.“ (S. 18) Herr Müller schätzte das UFO-Thema als politisch brisant bzw. relevant ein und fühlte sich als MfS-Mitarbeiter in der Pflicht, eine Meldung über die UFO- Interessen jener Person zu machen, mit der er im Kontakt stand. Dabei spielte auch Selbstschutz eine gewisse Rolle: 261

„Wie gesagt, ich hatte ja nun Kontakt mit ihm und es gab dann auch so ein paar Sachen… Ich meine, gut, heute, im Nachhinein, ist es natürlich Scheiße gelaufen, aber damals war es eben so. Man war in der Firma und man hat das Gefühl gehabt, wer beschäftigt sich mit solchen Themen, die gerade auch die BRD interessant findet? Was passiert, wenn sie sich jetzt an ihn wenden? Und da musste ich, auch um mich ein bisschen zu schützen, Meldung absetzen, ne?“ (S. 18) Nachdem Herr Müller einen kurzen Bericht beim MfS eingereicht hatte, passierte zunächst für mehrere Monate nichts. Dann jedoch suchten ihn zwei Mitarbeiter der Staatssicherheit auf und erkundigten sich nach der gemeldeten Person und deren Interesse für das UFO-Thema, wie Herr Müller weiter berichtete: „Ich sollte noch einmal kurz einschätzen, ob meine Verbindung zu der Person eng ist und ob es mögliche Ansatzpunkte für ein Eingreifen gab. […] Dann ging es auch, es hat mich schon ein bisschen stutzig gemacht, etwas weiter in die Thematik rein. Dann haben die auch so Fragen gestellt, mit was beschäftigt sich der denn so oder die Gruppe dort. Na ja, und dann ging das halt so in der Diskussion um das UFO-Phänomen […]. Und die haben aufmerksam zugehört.“ (S. 19) Herr Müller erfuhr nicht, von welcher Abteilung die Kollegen vom MfS kamen, die ihn zum UFO-Thema befragten, vermutete jedoch (wie bereits dargelegt) aufgrund ihrer interessierten Nachfragen, dass es innerhalb des MfS (und ggf. auch in anderen Ministerien) eine Abteilung gab, die sich mit UFOs und anderen grenzwissenschaftlichen Themen beschäftigte: „Ich kann’s nicht beweisen, aber ich denke mal, es gab auch bei uns im Ministerium eine Abteilung, die sich mit diesen Außerirdischen, also sagen wir mal mit diesen Grenzphänomenen beschäftigt hat.“ (Ebd.) An einer anderen Stelle im Interview betont Herr Müller diese Einschätzung noch einmal und stellt Überlegungen zum Umgang des Militärs und der Sicherheitsbehörden der DDR mit dem UFO-Thema an: „Aber es ist klar, wenn es in anderen Ländern [das UFO-Phänomen] ein Thema ist, […] dann ist es unabdinglich, dass es in irgendeiner Art und Weise, in welchem Ministerium auch immer, eine Abteilung gegeben haben muss oder Personen gegeben haben muss, die das irgendwie aufnehmen, archivieren und vergleichen. Gibt es Ähnliches vielleicht auch hier bei uns oder so und gab es zu DDR-Zeiten auch UFO-Sichtungen, also nicht nur zur Wende hin, sondern auch viel früher. […] Und dann gab es natürlich auch Leute, die das das untersuchen mussten und das war denn nicht nur die Polizei, sondern dass kam da sicherlich teilweise die Armee aus dem Bereich der Luftwaffe. Wenn man feststellt, dass es nichts Eigenes war, was da oben geflogen ist, muss man dem natürlich nachgehen: Ist überhaupt was geflogen und wenn ja, was ist geflogen? Und dann kommt natürlich der Punkt, denn die Sicherheit des Staates hat dann wieder das Ministerium gemacht und deshalb gehe ich davon aus, so eine Abteilung hat es gegeben, muss es gegeben haben.“ (S. 25)

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Herr Müllers Sicht auf den Themenbereich des Paranormalen in der DDR ist insofern besonders interessant, weil sie sowohl eine lebensweltliche als auch eine systemische Perspektive enthält: Als SED-Mitglied und MfS-Mitarbeiter hat er die marxistisch- leninistische bzw. die wissenschaftliche Weltanschauung der DDR verinnerlicht und kennt genauestens das davon abgeleitete ablehnende Deutungsschema in Bezug auf paranormale Themen. Im privaten Bereich jedoch interessiert sich Herr Müller, angeregt durch Science- Fiction-Bücher seines Vaters, für außerirdisches Leben, UFOs und andere grenzwissenschaftliche Themen und hinterfragt die Verlautbarungen des öffentlichen Diskurses der DDR zu seinem Interessengebiet. Damit ist er ein gutes Beispiel für das, was Konrad Jarausch als in der DDR-Gesellschaft häufig vorzufindende „Spaltung des Bewusstseins zwischen offizieller Rhetorik und privaten Meinungen“ (Jarausch 1999: 11) bezeichnete. Bei Herr Müller geht diese ‚Spaltung‘ jedoch noch weiter: Aufgrund des mangelnden Informationsangebotes verschafft er sich über den Kulturbund Zugang zu ‚Giftschrank-Literatur‘ zu außerirdischen Zivilisationen, UFOs etc. und versucht sich mit anderen Interessierten über jene Themen auszutauschen. Doch als er mit einer Person in Kontakt kommt, die sich, wie er, intensiv mit dem UFO-Thema beschäftigt, verfasst er für das MfS einen Bericht, was für diese Person ggf. negative Konsequenzen nach sich zieht. Herr Müller bewegte sich demnach in einem massiven Spannungsfeld zwischen seinem in der Lebenswelt angesiedelten Interesse an UFOs, Außerirdischen etc. und den an ihn gestellten Anforderungen im Zusammenhang mit seiner Position als MfS-Mitarbeiter. In Bezug auf die Frage nach der Verbreitung des Glaubens an paranormale Phänomene sieht Herr Müller eine eklatante Diskrepanz zwischen den Systemvorgaben und lebensweltlichen Vorstellungen und beschreibt dabei auch, wie der öffentliche Diskurs der DDR (teilweise systematisch) unterwandert wurde: „Dass es so etwas gab, das wussten eigentlich alle. Ja, man hat das irgendwo her, jeder hat das irgendwo her, aus der Familie oder wie gesagt, wenn man die Möglichkeit hatte, an westliche Zeitschriften zu kommen. Oder ein Großteil hat ja Westfernsehen gesehen, da wurden ja diese Themen wieder bekannt gegeben. Also, außer im Tal der Ahnungslosen, wie man immer zu DDR- Zeiten gesagt hat, war eigentlich jeder in der Lage, sich entsprechend auf den Kanälen, ob das nun Radio oder Fernsehen war, in dem Sinne zu informieren. Also, da war die Möglichkeit gegeben und wie gesagt, jeder hatte eigentlich von irgendwelchen Phänomenen schon einmal gehört. Ob man sich damit befasste oder nicht, das blieb jedem selbst überlassen. Und wer eben eine grundlegende, allseitige Ausbildung hatte, der hat sich eben weniger damit beschäftigt, weil das war nie Gegenstand und wenn es irgendwo mal erwähnt wurde, wurde es als Unfug abgetan. Und dann hat sich eben nicht damit befasst. Aber dann gab es eben doch welche, die wollten ein bisschen mehr wissen: Ist das wirklich Unfug? Und die haben sich dann so wie ich mich jetzt 263

über diese oder in diese SETI-Thematik eingearbeitet […] und dann auch versucht, aus allen möglichen Richtungen Informationen zu bekommen.“ (S. 22) Zum Abschluss dieser Fallskizze soll eine interessante Stelle des Interviews zitiert werden, in der Herr Müller darlegt, dass der Austausch über paranormale Themen in der DDR- Bevölkerung vornehmlich privat und im Modus des Verborgenen erfolgte, um nicht aufzufallen oder anzuecken:

„Und das ist eben das große Problem zu DDR-Zeiten gewesen. Das viele eben, um ihren Job gut zu machen und nicht anzuecken, die geforderte Linie gehen und dann vielleicht rechts und links nur gucken, wenn sie in einer kleinen Runde sitzen, wo man davon ausgehen kann, dass es ihnen nicht schadet. Das war in großen Teilen sicherlich so gewesen. Das ist das Negative dabei. Aber wie gesagt, man hat sich beschäftigt mit solchen Themen.“ (S. 27)

An der Schwelle zum Tod

Frau Peters72 wurde 1963 in Dresden geboren. Nach der polytechnischen Oberschule studierte sie Ökonomie und arbeitete bis zur deutschen Wiedervereinigung als Sekretärin. In ihrem Elternhaus ist sie, wie sie im Interview beschreibt, atheistisch erzogen worden. Dabei galt: „Dieses absolute ‚wir sind Körper, wir sind Leben‘ Also, die Zeugung ist das A und O, dann sind wir hier, leben, werden alt, werden krank und sterben. Das war’s. Meine Mutter würde das heute noch mal so erzählen. […] Für die ist das ganz klar. Wir liegen dann mal in der Kiste und das war’s, dann kommen die Würmer und das war’s.“ (Interview 5: 40) Trotz ihrer atheistischen Erziehung habe sie sich ab ihrem dreizehnten Lebensjahr vermehrt spirituelle Fragen gestellt und eine „höhere Sache“ hinter den Dingen vermutet: „Ich habe mit dreizehn Jahren zum Beispiel bei meinen Eltern auf dem Balkon nächtelang gesessen und die Sterne angeguckt und gefragt. Immer. Das kam wie aus mir selbst heraus. […] Der Sinn des Lebens. Also, ich habe da immer was dahinter vermutet, also eine höhere, eine andere Sache, ohne das in Worte fassen zu können.“ (S. 5) Im Alter von 21 Jahren kam Frau Peters aufgrund starker Schmerzen im Unterleib ins Krankenhaus. Die Diagnose war schockierend: In ihrem Unterleib befand sich eine große eitrige Entzündung, die dringend operiert werden musste. Bei der Operation, bei der sowohl die Eierstöcke als auch die Gebärmutter entfernt werden mussten, gab es schwerwiegende Komplikationen. Die Situation wurde lebensbedrohlich. Schließlich musste Frau Peters reanimiert werden. Sie selbst geht davon aus, dass sie die Schwelle zum Tod bereits

72 Name geändert. 264

überschritten hatte: „Am 30.07.1985 bin ich gestorben […] und wieder aufgewacht. […] Also, das ist mein zweiter Geburtstag. Ich weiß das Datum immer noch.“ (S. 9) Während der Operation machte Frau Peters eine tiefgreifende Erfahrung, die sie später als Nahtoderlebnis bezeichnete. Das folgende Zitat gibt Frau Peters‘ eindrückliche Schilderung dieses Erlebnisses wieder: „Ich versuche es mal. Ne, für mich ist das wichtig, dass ich mal darüber rede, mal so am Stück. Ich mache das auch ein bisschen für mich. Also, woran ich mich noch erinnern kann in Anführungsstrichen, ist, ich hab meinen Körper verlassen. Auf einmal weiß ich, dass ich meinen Körper verlassen habe. Und dann kam etwas anderes, eine andere Dimension. Aber ich habe da jetzt auch kein Bild dafür. Es war dunkel, möchte ich behaupten. […] Und dann wurde das Dunkle immer heller und es wurde immer schöner. Und dann wurde ich leicht. Das ist vielleicht falsch ausgedrückt. Also ich war es, aber ich war es auch nicht. […] Ich bin dann immer weiter hoch. Hoch ist auch nicht richtig ausgedrückt, so vor oder weg. Das ging dann immer weiter und das wurde immer schöner, immer schöner das Licht. Am Anfang sah es aus so wie jetzt das Wetter draußen, so nebulös. Und dann war es aber vorne ganz hell, aber ich wusste, es geht noch heller, das wusste ich. Aber es war gut. Und dann war das so herrlich. Ein traumhafter Zustand. Das ist, man ist, es ist einfach alles herrlich und traumhaft schön. Ich bin ich. Aber ich bin mit allem eins. Und alles bin ich und… Ich weiß gar nicht, wie ich das ausdrücken soll. Also, man spürt sich schon noch, aber auch irgendwie gar nicht. Und dann gibt es auf gar keinen Fall irgendeine Begrenzung oder Einengung. Es ist alles leicht. Also, überhaupt kein Gewichtsgefühl und auch kein Zeitgefühl. […] Dann hab ich auch meine Großeltern gesehen und ich glaube auch meine Urahnen. Das war so, aber so zeitgleich, aber raumgleich, also das war jetzt auch nicht raumgleich wirklich, weil ich war auch mal ganz woanders. Also, es ging alles in Sekundenschnelle. Wobei, das ist auch falsch ausgedrückt, also zeitgleich. Und raumgleich. Und trotzdem nicht durcheinander. Also, ich konnte es trennen. Also, nicht, dass man sich ins Karussell setzt und die Lichter drehen sich so schnell, dass man gar nichts mehr mitkriegt. So nicht. Sondern… Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. […] Ich habe dort beobachtet, was noch gar nicht sein konnte. Dass meine Eltern trauern. Ich hab die Ärzte gesehen, meinen Körper dort gesehen und hab gedacht: ‚Ach Gott, du armes Mädel.‘ […] Und dann hab ich gedacht, die Ärzte fummelten dort rum und machten und ich hab gedacht: ‚Ach, hört doch auf. Lasst es doch gut sein.‘ […] Und zu meinen Eltern hab ich gesagt: ‚Heult nicht. Ihr braucht nicht heulen. Wir sehen uns bald wieder und ich freue mich drauf und wisst ihr, wie schön das ist! Heult bloß nicht! Macht euer Ding, lebt eure Zeit, seid fröhlich. Nicht so viel Traurigkeit. Und es ist alles herrlich, es ist ein Spiel. Es ist eine Erfahrung. Und macht es euch schön, macht euch schöne Erfahrungen‘. Das klingt jetzt blöd, aber ich kam mir vor wie so ein großer Schwan, der dann so die Flügel über die decken will oder so was, der beschützen will. Vielleicht wie ein Engel. Könnte auch hinkommen. […] Und das wurde immer schöner. Also, es war richtig saugut. […] Dann waren da kleine Gestalten, die wie so an einem Tisch sitzen, wie im Studium, wie wenn man eine mündliche Prüfung hat. […] Und die fragten mich, […] ob ich mein Leben richtig gelebt habe oder wie ich das einschätze, wie ich mein Leben einschätze. Da hab ich geantwortet, dass ich

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mein Leben verplempert hab. Da hab ich mich furchtbar geschämt. Und hab mich aber auch vor mir selber sehr geschämt eigentlich. Also es war ein richtiges Scheißgefühl. Und dann hab ich erkennen müssen, […] dass ich mein Leben verplempert habe, dass ich immer lieb war, immer angepasst war, immer allen alles recht machen wollte, aber nie das gemacht habe, was ich will. […] Und das war die Hölle. […] Und dann, die Konsequenz daraus war, dass ich da eben noch einmal runter muss, weil ich beschlossen hatte für mich, ich weiß gar nicht, wie ich das ausdrücken soll, dass ich dort weiter mache.“ (S. 10-13) Nach dieser Erfahrung hatte Frau Peters das Bedürfnis, ihr Leben anders, intensiver zu leben: „Von da ab gab es eine Phase, da habe ich sehr wild gelebt. Da habe sich so gedacht, jeden Tag muss ich intensiv leben. […] Aber auch richtig leben. Da habe ich auch viele Dinge mitgenommen. Ja, viel Party und alles Mögliche und Unmögliche.“ (S. 16f.) Kurze Zeit nach der Nahtoderfahrung trennte sie sich von ihrem Mann. Da sie aufgrund der Operation keine Kinder mehr bekommen konnte, bemühte sie sich um die Adoption eines Kindes. Obwohl sie dem Erlebnis während ihrer lebensbedrohlichen Operation eine lebensverändernde Bedeutung zumaß, sprach Frau Peters jahrelang mit niemandem darüber, da sie eine „Höllenangst“, eine „panische Angst“ gehabt hätte, als verrückt abgestempelt zu werden und dadurch den Wunsch, ein Kind zu adoptieren, verwehrt zu bekommen: „Da ist Angst vor diesem, ja, dass man eine Abstufung erfährt, weil man als spinnend hingestellt wird und dann eben andere Dinge mir nicht geglaubt werden, so dass mein Intellekt in Frage gestellt wird, mein Urteilsvermögen, meine Klarheit und so was alles. Und ich sag mal so, Kinder adoptieren, da muss man schon sehr auf dieser Erde leben. Da geht man durch viele Behördengänge, da legt man viel Rechenschaft ab und das wüsste ich gar nicht… Also, ich hätte wahrscheinlich kein Kind gekriegt, wenn ich so was erzählt hätte.“ (S. 32) An anderer Stelle betont Frau Peters, dass sie ihr Erlebnis zu DDR-Zeiten nicht einmal einem Pfarrer erzählt hätte: „Es wäre einfach ein No go gewesen. Ein absolutes No go. Ich hätte nicht einmal zum Pfarrer gehen können damit. Also, das weiß ich nicht mal. Ja gut, ich weiß es nicht, ist jetzt eine Unterstellung. Aber ich wäre nicht auf die Idee gekommen.“ (S. 40) Lediglich mit ihrem Vater führte Frau Peters ein kurzes Gespräch über das, was sie während ihrer Operation erlebte. Dieser versuchte, ihre Erfahrung als Effekt biochemischer Prozesse zu erklären: „Und mit [meinem Vater] habe ich dann halt mal so kurz darüber gesprochen und er hatte mir gesagt, dass, wenn man tot ist, manchmal biochemische Vorgänge ablaufen.“ (S. 24). Frau Peters glaubte jedoch nicht an diese Erklärung und fühlte sich als Außenseiter: „Ich habe mich dann geschämt und das nicht geglaubt und habe mich umso mehr geschämt. Ich habe mich als Außenseiter gefühlt.“ (Ebd.) Sie schildert weiter, dass sie große Schwierigkeiten hatte, das Erlebte in das in ihrer Sozialisation erlernte Weltbild einzuordnen:

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„Ich habe eigentlich gedacht, ich habe eine Meise […], dass das nicht sein kann. Das passte nicht mit meinem Bild von der Welt zusammen. Das passte mit dem, wie ich groß geworden bin, einfach nicht zusammen.“ (S. 25) Den Begriff ‚Nahtoderfahrung‘ hörte Frau Peters zum ersten Mal nach der Wende. Zu DDR-Zeiten wusste sie nicht, dass „es den Begriff Nahtoderfahrung gibt“ (S. 31). Bedingt durch ihr Nahtoderlebnis entwickelte Frau Peters religiöse Vorstellungen, die im starken Kontrast zu ihrer atheistischen Erziehung standen und die sie wie folgt beschreibt: „Ich möchte mich als hoffenden Menschen bezeichnen, der am Ende des Hoffens gläubig ist. Und wenn man sagen kann, dass das Glaube ist, bin ich fest überzeugt, dass es um die Seele geht, dass […] Gott für mich nicht in dieser Menschengestalt, sondern in dieser anderen Gestalt, also, dass es diesen Gott gibt und viele Götter.“ (S. 37) Die Schilderungen von Frau Peters enthalten mehrere bemerkenswerte Aspekte: Im Zuge einer für sie lebensbedrohlichen Operation machte sie eine tiefgreifende Erfahrung, die für sie einen religiös-spirituellen Charakter hatte und dadurch mit ihrer atheistisch geprägten familiären Erziehung und Sozialisation in der DDR kollidierte. In Frau Peters‘ Umgang mit ihrem Erlebnis offenbart sich die Tiefenwirkung des szientistisch orientierten öffentlichen Diskurses der DDR bis in die Lebenswelt hinein. Dies zeigt sich zunächst an einer diskursiven Leerstelle im Zusammenhang mit ihrer Erfahrung: Der öffentliche Diskurs bietet keine Informationen, Deutungen, nicht einmal einen Begriff für Frau Peters‘ Erlebnis an. Ferner verdeutlicht sich die machtvolle Wirkung des szientistischen Diskurses in Frau Peters Angst vor Pathologisierung. Um nicht als verrückt abgestempelt zu werden, spricht sie jahrelang mit niemandem über ihre Erfahrung. Als sie sich schließlich ihrem Vater anvertraut, bietet dieser ihr eine Erklärung für ihr Erlebnis an, welche mit der vorherrschenden Weltanschauung kompatibel ist: Ihre Nahtoderfahrung ist das Ergebnis biochemischer Prozesse. Frau Peters stimmt dieser Erklärung zwar nicht zu, ihre eigene Interpretation des Erlebten ist im Rahmen der gültigen Wirklichkeitsbestimmung in der DDR aber letztlich nicht diskursivierbar, sie zählt, in anderen Worten, zum öffentlich ‚Unsagbaren‘ und bleibt damit gleichsam im Schatten des Szientismus.

Die Hexe vom Prenzlauer Berg

Mona Stein, bekannt als die ‚Hexe vom Prenzlauer Berg‘,73 wurde 1951 in Ostberlin geboren. Nach der Schule machte sie zunächst eine Friseurlehre und danach eine Gesangs- und Schauspielausbildung. Anschließend arbeitete sie als Schauspielerin im Theater, in

73 Siehe etwa Broder 2002. 267 verschiedenen Film- und Fernsehproduktionen und als Fotomodell. Insgesamt wirkte sie nach eigenen Angaben als Nebendarstellerin in über 70 DEFA- und DDR-TV-Produktionen mit, darunter in dem Musik-Film Zille und ick (1983), in dem Spielfilm Hilde, das Dienstmädchen (1986) und zuletzt in der Kriminalkomödie Der Bruch (1988) mit Götz George (vgl. auch Weirauch 1999: 92). Im Jahr 1987 plante das Kulturhaus Erich Weinert eine Silvestershow, bei der zu Unterhaltung der Gäste eine Schauspielerin als ‚Wahrsagerin‘ auftreten sollte. Die Wahl fiel auf Mona Stein. Dabei habe, wie sie im Interview berichtet, ihr Äußeres eine Rolle gespielt. Durch ihre langen schwarzen Locken habe sie „ins Bild“ einer Wahrsagerin gepasst: „Dann haben die [vom Fernsehen] gesagt, nehmen sie die Mona Stein, die hat lange schwarze Haare und die macht das, die nimmt jede Rolle. […] Ich hab einfach ins Bild gepasst.“ (Interview 6: 4) Für Mona Stein war dieser Auftritt jedoch nicht einfach eine weitere Rolle. Bereits seit ihrer Kindheit interessierte sie sich für Paranormales und Übersinnliches, ausgelöst durch ein Erlebnis in der Kindheit: „Mein erstes Erlebnis war […], kann sein, dass ich da fünf war, dass ich eine Vision hatte. Ich habe manchmal solche Visionen. Ich habe auch Wahrträume und so. […] Ich habe in der Vision mit meinem Vater den Weihnachtsbaum geschmückt. Er stieg auf den Tisch und ich habe ihm alles zugereicht. Und dann habe ich gesehen, dass er runter fällt, nach hinten runter fällt und wieder aufstand als wenn nichts war, hat sich nichts getan. […] Und vier Wochen später kam dann der Tag, wo wir zusammen den Baum geschmückt haben und da dachte ich, na ja, jetzt müsste er ja bald runter fallen, wie ich es gesehen habe. […] Und dann kam es auch so, er fiel plötzlich nach hinten und stand wieder auf, wie ich es in der Vision gesehen hatte. Und dann habe ich gedacht, das wusste ich ja, dass das so kommt.“ (Ebd.) Es folgten weitere Erlebnisse, die Mona Stein als „paranormal“ bezeichnet und die sie zu der Ansicht brachten, sie besitze die Gabe des ‚Hellsehens‘: „Und ich habe mir dann Gedanken gemacht, dass ich doch irgendwas sehe, was dann eintritt. Aber als Kind denkt man ja nicht wissenschaftlich und man denkt völlig flach. Na ja, und so ging das dann weiter, dann kam jemand zu Besuch und ich habe gesehen, dass diese Frau stirbt. Und das habe ich meiner Mutter erzählt und meinem Vater und die haben mir gesagt, ach so ein Blödsinn. Ja, und vier Wochen später war die Frau wirklich gestorben und das sind so die Dinge, die mich dann als Kind erschreckt haben.“ (S. 5) Mit sechzehn habe sie dann, zunächst nur zum Spaß, angefangen, Freunden die Karten zu legen. Dabei nutze sie eine spezielle Technik, die sie von ihrem Großvater erlernt hatte: „Der [Großvater] war Schauspieler und Seher. Der war immer unterwegs und hat alles gesehen und von dem habe ich das geerbt. Von dem habe ich gelernt, dieses Kartenlegen, dieses besondere System.“ (S. 32) Schließlich seien Dinge, die sie mittels Kartenlegen vorhergesagt hatte, tatsächlich eingetroffen. Obwohl sie dies stark verängstige, habe sie sich im privaten Umfeld

268 immer wieder dazu überreden lassen, Menschen ihre Zukunft vorher zu sagen – wenn auch nur im Geheimen –, was sich aber schließlich bei ihren Arbeitgebern aus Film und Fernsehen herumgesprochen hatte: „Also beim Fernsehen und bei der DEFA, die wussten, dass ich lege und dass ich das kann. Aber immer unter der Hand. Das war ja nicht öffentlich, das war verboten. In der DDR war alles Okkulte strafbar direkt. Das war schlimm.“ (S. 6) Daher habe sie, betont sie an anderer Stelle, anfangs immer darauf geachtet, dass ihr Interesse für Paranormales verborgen bleibt: „Offen habe ich gar nicht darüber gesprochen, nur heimlich. Das war alles nur im Geheimen, weil solche Sachen, auch Horoskope, das war alles verpönt. Es gab ja auch keine Literatur darüber.“ (S. 16) Ihre Informationen über Astrologie, Wahrsagen und ähnliche Themen bezog Mona Stein teilweise aus geschmuggelter Westliteratur: „Ich habe auch Bekannte, die mir dann mal eine Zeitung oder Horoskope rüber geschmuggelt haben, […] da habe ich mich dann informiert und habe mir so allmählich das Wissen angeeignet, also das, was ich dringend brauchte. Das habe ich gemacht, auf jeden Fall. Und das war dann auch immer ein Risiko. […] [Literatur] habe ich mir dann besorgen lassen von Leuten, die dann immer rüber konnten. Und die haben das dann geschmuggelt. Das war ja nichts Politisches, das waren ja eben wissenschaftliche Sachen und eben okkulte Sachen, Horoskope, wie man das berechnet, das hat mich ja alles interessiert. […] Man war ja eigentlich irgendwie hinterm Mond mit Wissen. Also, man durfte ja nur das lesen, was die einem geboten haben und das war mini, mini. Also, für jemanden, der geistig arbeitet und sich weiterbilden will, also für mich war das eine Katastrophe.“ (S. 20) Ihren Auftritt im Kulturhaus im Jahr 1987 wollte Mona Stein nutzen, um nicht nur eine Wahrsagerin zu spielen, sondern den Menschen tatsächlich die Zukunft vorher zu sagen. „Ich hatte da einen Raum und dann kamen die Leute zu mir und dann hab ich denen weisgesagt. Die hatten dann was auf dem Herzen und ich hab denen gesagt, so und so. Und na ja, Problemlösungen. Und dann waren die zufrieden und dann sind die wieder gegangen. Also, die standen bei mir an, mindestens achtzig, hundert Leute. War ja Silvester, da waren mehrere hundert Leute auf der Feier.“ (S. 7) Somit wurde dieser Abend, betont Mona Stein, ihr erster öffentlicher Auftritt als Wahrsagerin. Auch in der DDR-Presse war sie von nun an als ‚Wahrsagerin‘ bekannt: „Über Nacht war ich dann bekannt als Wahrsagerin, nicht mehr als Schauspielerin. Leider.“ (Ebd.) Es folgten weitere Auftritte als ‚Wahrsagerin‘ Mona Stein. Schließlich sei sie, berichtet sie im Interview weiter, sogar offiziell als Wahrsagerin „eingetragen“ gewesen: „Ja, und dann wurde ich öffentlich eingetragen als Wahrsagerin, als erste Wahrsagerin der DDR, von der

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Gastspieldirektion,74 und hatte laufend zu tun, überall.“ (S. 9) Ihr Publikum habe dabei stets offen und interessiert auf sie reagiert: „Ja, die waren alles sehr interessiert, alle. Die waren so, ach, du kannst Karten lesen, ach, guck doch auch mal bei mir und so. Also, das Publikum war offen, das Volk war offen dafür. Ich habe ja dann auch viele Veranstaltungen gehabt, ich habe einmal drei Silvesterveranstaltungen von achtzehn Uhr bis am nächsten Morgen gehabt an verschiedenen Stellen.“ (S. 17) Im Zuge ihrer öffentlichen Auftritte als Wahrsagerin sei auch das MfS an sie heran getreten und habe sie gebeten, die Staatssicherheit zu informieren, sofern sie bei ihren Auftritten Kenntnisse von Fluchtabsichten von DDR-Bürgern erhielte. Dies habe sie jedoch vehement abgelehnt, obschon das MfS ihr bei einer Zusammenarbeit bessere Karrierechancen in Aussicht gestellt habe: „Dann kamen die auf mich zu und haben gesagt, ‚Sie wollen doch sicher größere Rollen haben? […] Und Sie wollen doch sicher auch einen Passierschein nach drüben?‘ ‚Ja, den hätte ich gerne, auch größere Rollen‘ habe ich gesagt, na ja gut, ‚was bieten Sie denn an, was muss ich denn tun?‘ ‚Ja, Sie müssen uns nur sagen, wie Leute, die rüber wollen, wie sie rüber wollen, was die für Pläne haben und so‘. Ich hab gesagt, ‚ich soll Leute verraten, die mir gegenübersitzen, mir vertrauen? Das können Sie nicht verlangen von mir, kann ich nicht […]‘. Ich sollte das anzeigen, weitergeben. Dann bin ich ja ein Denunziant. Und damit kann ich nicht leben. Wissen Sie, damit könnte ich nie wieder in den Spiegel sehen und ich bin froh, dass ich das so gehandelt hab, obwohl, ich habe mich gesehnt nach größeren Rollen nach allem, was man mir da angeboten hat. Aber nicht für diesen Preis. […] Ja, die haben mich zwar jedes viertel Jahr aufgesucht, ‚haben Sie es sich überlegt, wollen Sie nicht doch die Vorteile und mit uns arbeiten?‘ Ich sage, ‚ich kann es nicht mit meinem Charakter vereinbaren, geht nicht.‘“ (S. 9f.) Um Mona Stein doch noch als inoffizielle Mitarbeiterin zu gewinnen, griff das MfS anschließend zu recht drastischen Mitteln: „Ich bin ja oft verhört worden, hier in Hohenschönhausen.75 […] Ob ich irgendwelche Verwandten im Westen habe oder Verbindungen oder ob ich weg will. Das war ja nur Misstrauen. Der ganze Staat war ja Misstrauen. Alles war ja registriert, jeder einzelne Mensch, ob er was macht oder nichts macht. Das war schlimm. […] Und dann haben sie mich eingeladen in ein Auto und haben mich nachts durch die Wildnis gefahren […], aber ich bin ganz ruhig geblieben. Also, die wollten unbedingt, dass ich für die was mache, unbedingt, wie gesagt. Ich bin froh, dass ich hart geblieben bin.“ (S. 14)

74 Die sog. Konzert- und Gastspieldirektion der DDR (KGD) war eine Einrichtung zur Entwicklung und Förderung der Unterhaltungskunst und des Konzertwesens in der DDR und als Künstleragentur für die Vermittlung von Schauspielern und Künstlern zuständig.

75 Gemeint ist die zentrale Untersuchungshaftanstalt des MfS in Berlin Hohenschönhausen, die von 1951 bis 1989 in Betrieb war.

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All diese Vorgänge müssten sich in einer umfangreichen Akte des MfS über Mona Stein niedergeschlagen haben. Allerdings hat sie nie Einsicht in ihre Akte verlangt: „Ich habe meine Akte nie verlangt, weil ich weiß, wer mich von meinen Freunden beschattet hat und weil ich das nicht schriftlich sehen will. Ich will das nicht sehen.“ (S. 24) Auch nach der Wende arbeitete Mona Stein als Wahrsagerin, beispielsweise in Form von astrologischen Beratungen im Fernsehen und im Radio. Bis heute lebt sie in Berlin-Prenzlauer Berg und bietet u.a. astrologische Beratung und auf Hellsehen, Kartenlegen und Pendeln basierende Prognosen an.76 Ihre Geschichte ist in mehrfacher Hinsicht erstaunlich und beachtenswert, vor allem aber im Zusammenhang mit ihrem öffentlichen Auftreten als Wahrsagerin in der DDR, wo derartige Themen ansonsten öffentlich massiv diskreditiert wurden. Der Ausganspunkt für diese Auftritte war zwar ein Engagement als Schauspielerin, die eine Wahrsagerin spielt, doch es finden sich in der DDR-Presse in der Tat Anzeigen für Auftritte von Mona Stein, in denen sie ausschließlich als ‚Wahrsagerin‘, nicht als Schauspielerin angekündigt wird, wie z.B. in der Berliner Zeitung vom 5. November 1988 (S. 12):

Abbildung 2: Ankündigung eines Auftritts von Mona Stein als ‚Wahrsagerin‘ aus der Berliner Zeitung vom 5. November 1988.

76 Siehe die Homepage von Mona Stein: http://www.monastein.info/ (letzter Zugriff: 30.03.2017). 271

Dennoch stellt das Beispiel Mona Stein insgesamt keine Ausnahme in Bezug auf den Umgang mit Themen aus dem Bereich des Paranormalen im öffentlichen Diskurs der DDR dar, denn in Artikeln über sie wurde stets betont, dass es sich um eine Schauspielerin handelt, die eine Wahrsagerin spielt, wie etwa in der Neuen Zeit vom 31. Dezember 1988 über den in der Berliner Zeitung angekündigten Auftritt im Berliner Prater. Hier heißt es, nicht ohne ironischen Unterton: „Der ‚Prater‘, das traditionsreiche Kulturhaus in Berlins Stadtbezirk Prenzlauer Berg, scheint auf dem besten Wege, so etwas wie eine ‚magische Zentrale‘ der Hauptstadt zu werden. Zunächst zog der BRD-Hypnotiseur Cally die Schaulustigen mit seinen frappierenden Darbietungen an, und nur wenig später versprach der Prater-Ball-Titel ‚Sag mir, wieviel Sternlein stehn‘ mit der Gruppe ‚Horoskop‘ und der Wahrsagerin Mona Stein weitere Spannungszulagen. Eine ‚Wahrsagerin‘ hierzulande? Da galt es, sich vor Ort kundig zu machen […]. Wie sie zum Kartenlegen gekommen sei, will ich wissen, und erfahre das wahre Berufsgeheimnis: Schauspielerin ist sie, die Mona Stein, einem Kreiskulturhaus-Chef vom DEFA-Besetzungsbüro für die Wahrsage-Rolle empfohlen, als jener für eine Silvestershow vor Jahresfrist noch eine Programmnummer suchte. […] Probiere es jeder selbst und bilde sich ein Urteil: Hokuspokus, Toleranz mit Zweifeln oder was? Gelegenheit hat er beim Silvesterball in Pankow oder in den Folgewochen. Kennenlernen wird er eine interessante Frau mit vielen Gesichtern und Rollen – ohne Anspruch darauf, in der Rolle der ‚Wahrsagerin‘ tierisch ernst genommen zu werden.“ (Wiese 1988: 6) Der Text markiert gleich zu Beginn, dass eine Wahrsagerin, die in der DDR öffentlich auftritt, ein Kuriosum darstellt, welches jedoch dadurch erklärt werden kann, dass es sich um eine Schauspielerin und nicht um eine ‚echte‘ Wahrsagerin handelt. Folgerichtig wird der Begriff ‚Wahrsagerin‘ in dem Text in Anführungszeichen gesetzt. Damit werden Mona Steins Auftritte gleichsam kompatibel mit der offiziellen Wirklichkeitsbestimmung der DDR: Es handelt sich lediglich um ein Schauspiel zur Unterhaltung, nicht um ‚echtes Wahrsagen‘. Dies deckt sich mit der Erinnerung von Gregor Gysi, von 2005 bis 2015 Fraktionsvorsitzender der Partei Die Linke im Deutschen Bundestag, an eine Veranstaltung für DDR-Anwälte im Jahr 1989, bei der Mona Stein auftrat und ihm die Karten legte: „Frau Stein arbeitete als Schauspielerin und war eingeladen zu einem Anwaltsvergnügen, um uns allen die Karten zu legen – zur Unterhaltung. Natürlich gehe ich nicht zu Astrologen und glaube auch nicht daran.“ (Broder 2002: 2) Es kann davon ausgegangen werden, dass die Ankündigung Mona Steins als ‚Wahrsagerin‘ von den Veranstaltern bewusst erfolgte, um durch die Besonderheit einer ‚Wahrsagerin‘ in der DDR Besucher anzulocken. Mona Stein selbst nutzte die Möglichkeit ihrer Auftritte als Wahrsagerin, um ihr zuvor im Verborgenen gehaltenes Interesse an Okkultem und Paranormalem öffentlich auszuüben. Die Folge war allerdings,

272 dass sie mehr und mehr auf diese ‚Rolle‘ reduziert wurde, was sie rückblickend bedauert, da sie – statt als Wahrsagern aufzutreten – lieber größere Rollen in Film- und Fernsehproduktionen bekommen hätte.

„Die UFOs, die haben doch nicht den Sozialismus gemieden!“

Frau Mayer77 wurde 1961 in der DDR (im heutigen Sachsen-Anhalt) geboren, stammte, wie sie im Interview berichtet, „aus einfachen Verhältnissen“ (Interview 3: 1) und wurde ihren Angaben zufolge in ihrem Elternhaus im Gegensatz zur atheistischen Erziehung in der Schule „weltanschaulich neutral“ erzogen. Direkt nach der Wende wurde Frau Mayer Mitglied einer privaten UFO-Forschungs-Organisation und engagiert sich dort bis heute als sog. ‚Fallermittlerin‘, d.h., sie untersucht UFO-Sichtungsfälle in ihrer Wohnregion, wozu Zeugeninterviews, die Ermittlung möglicher Erklärungen für die Sichtung (z.B. astronomische Phänomene etc.) und die Dokumentation der untersuchten Fälle zählt. Ihr Interesse für dieses Themengebiet entstand jedoch schon wesentlich früher, ausgelöst durch eine Unterrichtstunde in der Schule, in der eine Lehrerin, abweichend vom Lehrplan, über die Thesen Erich von Dänikens berichtete: „Da ging es um die Däniken-Dinger, zum Beispiel diese Tassili-Höhlen, wo die Figur drin ist, die wie ein Marsmensch aussieht oder die Terrassen von Baalbek. […] Das fand ich eben spannend und interessant. Das war auch das, was diese Frau [die Lehrerein] inspiriert hat.“ (S. 3) Bei der Lehrerin wurde das Interesse für derartige Themen vor allem durch den Film Erinnerungen an die Zukunft von Erich von Däniken geweckt, den sie im Kino gesehen hatte. Später versuchte Frau Mayer, sich über Erich von Däniken und vor allem über das Thema UFOs zu informieren und stellte fest, dass es in der DDR kaum Literatur zu dem Thema gab und sie sich in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis kaum mit jemandem über derartige Themen unterhalten konnte: „Also, es hat keinen Menschen interessiert, man konnte kaum jemanden dafür interessieren, so dass ich mich mal mit einem darüber unterhalten konnte. Wir hatten damals einen Kumpel, mit dem was das schön, mit dem haben wir abends philosophiert, viele Abende, das war schön. Aber die meisten Menschen wollten davon nichts wissen, interessierte die nicht. UFOs? Quatsch! Außerirdische? Uäh…“ (S. 9) Darüber hinaus sei das Thema, wenn sie es bei Bekannten angesprochen hatte, immer wieder ins Lächerliche gezogen worden: „Also, ich habe das Thema öfter angesprochen, wenn wir bei Leuten waren, aber wie gesagt, man prallt da ab. Interessiert keinen. Nur Lustigmachen, ja, Lustigmachen.“ (S. 10)

77 Name geändert. 273

Die Berichterstattung in der DDR-Presse über UFOs und verwandte Themen empfand Frau Mayer als stark ideologisch geprägt und undifferenziert: „[Es gab] ganz, ganz wenig und dann immer nur negativ, wie: ‚Es ist alles Unsinn‘, ‚die haben einen an der Waffel, die so etwas sehen‘ oder ‚Kapitalisten machen halt Geld damit‘.“ (S. 12) Generell hätte das UFO-Thema in den DDR-Medien als „paranormaler Unsinn“ gegolten: „Na ja, weil es eben wirklich als paranormaler Unsinn galt. Praktisch offiziell so, ‚alles nur Unsinn‘ und ‚Kapitalisten machen damit Geld‘. Das war die öffentliche Meinung.“ (S. 4) Frau Mayer betont darüber hinaus, dass es in der DDR-Bevölkerung ihrer Meinung nach UFO-Sichtungen gab, die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen jedoch keine öffentliche Kommunikation über derartige Erlebnisse erlaubte. Sie begründet diese Haltung u.a. damit, dass ihr direkt nach der Wiedervereinigung Deutschlands mehrere UFO- Sichtungen auf ostdeutschem Gebiet bekannt wurden. Im Interview bemerkt sie ironisch: „Das Eigenartige ist, es haben auch keine Leute UFOs gesehen oder man hat nichts davon gehört. Das Komische war, nach der Wende, kurz nach der Wende, ungefähr 1992, hatte ich von mehreren Leuten Berichte über UFOs! Das ist ganz komisch! Ja, wie kann das sein? Die UFOs, die haben doch nicht den Sozialismus gemieden (lachend).“ (S. 4) Und an anderer Stelle: „Es war ja wirklich nichts [keine UFO-Sichtungen]. Keine einzige in DDR-Zeiten. Wie gesagt, 1992, dann hatte ich auf einmal mehrere Fälle. Na, das UFO-Phänomen, das kann doch nicht die Gesellschaftsordnung mitberücksichtigen (lachend). Das ist doch Quatsch.“ Frau Mayer verweist damit erneut auf eine diskursive Leerstelle im Zusammenhang mit dem Themenfeld des Paranormalen: Informationen zum Thema UFOs waren im öffentlichen Diskurs der DDR kaum erhältlich und wenn, dann lediglich in Form negativer, despektierlicher Bezugnahmen. Der ablehnende diskursive Umgang mit der Thematik wurde – zumindest in Frau Mayers Umfeld – weitestgehend lebensweltlich gedoppelt: UFOs galten als nicht ernstzunehmendes, lächerliches Thema. Darüber hinaus vermutet Frau Mayer, dass es die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen in der DDR verhinderten, dass Menschen mit UFO-Sichtungserfahrungen öffentlich darüber berichteten. Dies entspricht der bereits zitierten Einschätzung Thomas Mehners, dass das UFO-Phänomen in der DDR „nach offizieller Lesart nicht vorhanden“ war und daher auch „keinerlei Sichtungen“ (Mehner 1996: 189) publiziert wurden. Erst nach der deutschen Wiedervereinigung wurden einige Sichtungsfälle aus dem ostdeutschen Gebiet bekannt (vgl. Mehner 1996 sowie Härtel 2001). Dies betrifft auch eine rätselhafte Himmelserscheinung, die im Jahr 1978 von Dirk Dimavid und seinen damaligen Mitschülern in der Uckermark in Brandenburg beobachtet wurde. Herr Dimavid, der im Rahmen der vorliegenden Studie interviewt wurde, bezeichnet diese

274

Beobachtung heute als ‚UFO-Sichtung‘. Er wollte nicht, dass das Interview aufgezeichnet wird. Allerdings veröffentlichte er seine Erinnerungen an die Sichtung im Jahr 2007 in einer Zeitschrift für Grenzwissenschaften. Im Folgenden wird aus diesem Bericht zitiert. „An einem Sommermorgen des Jahres 1978 standen meine Klassenkameraden, ich und andere Schüler vor dem Schuleingang der Polytechnischen Oberschule in Warnitz. Es war ca. 7.05 Uhr. […] Ich war gerade an der Westtreppe mit einem Freund in eine Unterhaltung vertieft, als ein Schüler rief: ‚Seht mal, was da fliegt! Ein UFO!‘ Jetzt sahen alle erstaunt in Richtung des Pokolower Sees, der nordwestlich hinter dem Oberuckersee liegt. Alle, die an jenem Morgen auf dem Vorplatz standen, erblickten jene ungewöhnlicher [sic] Erscheinung: Es war über drei Meter (wahrscheinlich 7 bis 11 Meter) länglich groß, ohne erkennbare Ruder oder Tragflächen. Eine klassische fliegende Untertasse – wie eine waagerecht zerschnittene Ellipse, schätzungsweise wesentlich größer als ein Modellflugzeug, aber ein wenig kleiner als ein Segelflugzeug (Spannweite). […] Es schien silbern, stand eine ganze Weile fast starr schwebend in der Luft und war völlig lautlos. […] Nach einer Weile stieg es langsam circa 10-20 Meter höher und verharrte wieder. Dann sank es wieder genauso senkrecht ab, dieses Mal aber etwas tiefer als in der ursprünglichen Schwebeposition. Da geschah es! Mit einem Mal war der Winkel zwischen uns, dem Objekt und der Sonne so günstig, dass das reflektierende Sonnenlicht auf der Objektoberfläche uns blendete, circa 2 Sekunden lang. […] Wir wurden wie von einem großen Spiegel geblendet bzw. von einer chromähnlichen Oberfläche. Dann mussten wir in den Unterricht. 7.25 Uhr mit dem ersten Klingelzeichen trotteten wir brav ins Schulgebäude. Ich glaube, wir hatten Zeichenunterricht, weil wir vom Klassenraum (2. Etage) noch einmal einen Blick erhaschen wollten. Nach der Stunde bin ich gleich noch einmal raus auf den Vorplatz. Aber leider war diese fantastische Erscheinung verschwunden. Noch heute könnte ich mich ärgern, da ich so brav erzogen wurde und nicht die Schule geschwänzt und mich auf meinen Drahtesel geschwungen habe. […] Erklärungen wie evtl. Flugzeug, Wolken, Segelflugzeug – oder Modell sind wegen dem Fehlen von Propellern, Tragflächen, Rudern, Geräuschen und Bewegungsart auszuschließen.“ (Dimavid 2007: 17-19) Herr Dimavid kann sich seine Beobachtung aus dem Jahr 1978 bis heute nicht erklären. In der Lokalzeitung war seinerzeit nichts über das mysteriöse Flugobjekt zu lesen. Seinen Bericht über seine Beobachtung veröffentlichte Herr Dimavid erst nach der Wiedervereinigung Deutschlands. Zu DDR-Zeiten hatte er dazu, wie er im Interview schilderte, keine Möglichkeit gesehen. Das UFO-Thema wurde, analog zu anderen Themen aus dem Untersuchungsfeld, im öffentlichen Diskurs der DDR marginalisiert. Eine öffentliche Auseinandersetzung mit diesem Themenkomplex, welcher in westlichen Gesellschaften immer wieder ein hohes Maß an medialer Aufmerksamkeit auf sich zog, fand in der DDR nicht statt. In den Worten von Frau Mayer: „Das Thema UFOs gab es nicht“ (Interview 3: 5). Dennoch beobachteten Menschen in der DDR Erscheinungen am Himmel, die sie zunächst oder auch dauerhaft mit

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Hilfe konventioneller Erklärungsrahmen nicht deuten konnten und daher bereits zum Zeitpunkt der Sichtung oder später als ‚UFO‘ interpretieren, wobei eine öffentliche Kommunikation über derartige Vorfälle in der DDR nicht möglich war, was auch der Fall von Dirk Dimavid zeigt. Beim Thema UFOs, wie bei anderen Themen aus dem Bereich des Paranormalen, standen lebensweltlichen Erfahrungen keine diskursiven Kommunikationsrahmen gegenüber, sodass sie letztlich im Verborgenen blieben.

7.3 Übergreifende Aspekte

Die angeführten Beispiele belegen, dass sich die Bürger in der DDR in ihrem Alltagsleben jenseits der offiziellen Wirklichkeitsbestimmung durchaus mit paranormalen Themen beschäftigten, entsprechende Erfahrungen machten und auch dazugehörige Praxisformen ausübten; über die zahlenmäßige Verbreitung sagen sie jedoch freilich nichts aus. Neben den Einzelfallskizzen sollen im Folgenden noch einige herausragende übergreifende Gesichtspunkte dargestellt werden, die sich aus der Querschnittsanalyse des Interviewmaterials ergeben haben. Besonders berücksichtigt wurden hierbei Passagen in den Interviews, die Rückschlüsse auf das Verhältnis zwischen dem öffentlichem Diskurs und der Lebenswelt der DDR-Bevölkerung im Zusammenhang mit dem Untersuchungsfeld ermöglichen.

Das Unsagbare

In mehreren Interviews wurde deutlich, dass paranormale Themen und Erfahrungen nicht öffentlich kommunizierbar waren, sie überschritten gleichsam die Grenze dessen, was in legitimer Weise öffentlich sag- und verhandelbar war. Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür ist die Nahtoderfahrung von Frau Peters. Aus dem öffentlichen Diskurs in der DDR kannte sie keinerlei Erklärungsmodelle oder Deutungsrahmen für das, was ihr wiederfahren war – sie hatte nicht einmal einen Begriff dafür. Das von ihr Erlebte kollidierte in frappierender Weise mit der offiziellen Wirklichkeitsbestimmung, die Frau Peters qua familiärer Erziehung und gesellschaftlicher Sozialisation internalisiert hatte. Ihre Nahtoderfahrung hatte für sie eine explizit spirituelle bzw. transzendente Dimension, die sie nicht mit ihrer atheistischen Erziehung in Einklang bringen konnte. Die vom Vater angebotene Erklärung, dass es ihr Erlebnis durch biochemische Prozesse in ihrem Gehirn zu erklären sei, befriedigte sie in keiner Weise. Aus massiver Angst vor Pathologisierung sprach

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Frau Peters jahrelang mit niemandem über die für sie tiefgreifende Erfahrung, sie hielt sie im Verborgenen, betrieb eine Art Selbstzensur. Mona Stein, die ‚Hexe vom Prenzlauer Berg‘, betont, dass sie vor ihrem öffentlichen Auftreten als ‚Wahrsagerin‘ stets darauf achtete, nicht zu offen über ihr Interesse an Okkultem, Übersinnlichem zu sprechen. Die entsprechende Stelle aus dem Interview sei hier noch einmal zitiert: „Offen habe ich gar nicht darüber gesprochen, nur heimlich. Das war alles nur im Geheimen, weil solche Sachen, auch Horoskope, das war alles verpönt. Es gab ja auch keine Literatur darüber.“ (Interview 6: 16) Erst durch eine Art Fiktionalisierung ihrer okkulten Praktiken konnte Mona Stein öffentlich als Wahrsagerin auftreten: Sie wurde als Schauspielerin gebucht, die zur Unterhaltung der Gäste lediglich eine Wahrsagerin spielt und nicht wirklich wahrsagt. Dies war mit geltenden Wirklichkeitsbestimmung kompatibel – ein ‚echte Wahrsagerin‘ wäre es nicht gewesen. Wie gezeigt, spielten die Veranstalter mit ihrem Status und kündigten sie – mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Werbezwecken – als ‚echte Wahrsagerin‘ an, hinterher wurde jedoch aufgeklärt, dass es sich um eine Schauspielerin handelt und damit diese ‚Irritation der Wirklichkeit‘ wieder gebannt. Der Umstand, dass Mona Stein sich im Vorfeld tatsächlich mit Wahrsagepraktiken beschäftigt hatte und bei ihren Auftritten nach eigenem Bekunden nicht nur spielte, sondern ‚ernsthaft wahrsagte‘, erzeugte eine Art ‚Hybrid‘ aus einer Schauspielerin, die eine Wahrsagerin spielt und einer ‚echten Wahrsagerin‘. Dieser eigentümliche Status ermöglichte ihr etwas, was in der DDR zuvor undenkbar war: öffentliches Wahrsagen. Ein weiteres Beispiel bilden UFO-Sichtungen, bei denen es sich ja zunächst lediglich um die Beobachtung von Himmelserscheinungen handelt, die vorerst nicht geklärt sind. Die dargelegten UFO-Akten der Staatssicherheit zeigen, dass es in der DDR mehrfach Beobachtungen im Luftraum gab, die von NVA-Soldaten als ‚UFO‘ bezeichnet wurden, hier allerdings im militärischen und auch wörtlichen Sinne als ‚unidentifiziertes Flugobjekt‘. Landläufig wird der Begriff ‚UFO‘ mit der Deutung ‚außerirdisches Raumschiff‘ assoziiert, was im öffentlichen Diskurs der DDR jedoch – analog zu anderen Themen aus dem Bereich des Paranormalen – als (westlicher) Irrationalismus bzw. Mystizismus galt und entsprechend despektierlich behandelt wurde. Während in der BRD und in anderen westlichen Gesellschaften in Zeitungen und dem Fernsehen immer wieder über UFO-Sichtungen berichtet wurde, unzählige Bücher zum Thema erschienen und das UFO-Thema auch zu einem popkulturellen Topos wurde, waren UFOs in der DDR offiziell kein Thema. Auch DDR-Bürger beobachteten Himmelserscheinungen, die sie als ‚UFO‘ deuteten, diese Beobachtungen wurden aber in keiner Weise öffentlich aufgegriffen und diskutiert, sie

277 blieben ein rein lebensweltliches Phänomen, welches keinerlei Resonanz im öffentlichen Diskurs erzeugte und auch nicht erzeugen konnte. Kurzum: Auch UFO-Sichtungen zählten in der DDR zum öffentlich Unsagbaren. Insofern, um noch einmal die prägnante Formulierung von Frau Mayer aufzugreifen, die dem letzten Abschnitt die Überschrift gab, haben die UFOs zwar nicht den Sozialismus gemieden, aber der Sozialismus (zumindest in der DDR) die UFOs. Eine weitere Episode aus dem Interviewmaterial stützt diesen Befund: Herr Müller berichtete im Interview von Piloten der DDR-Fluglinie Interflug in seiner Verwandtschaft und Bekanntschaft, die „hinter vorgehaltener Hand“ über das UFO-Phänomen und UFO- Sichtungen von Piloten diskutiert, diese Themen aber aus Angst vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes nie öffentlich angesprochen hätten: „Wir haben in der Verwandtschaft und in der Bekanntschaft Piloten gehabt, die bei der Interflug gearbeitet haben. Und hinter vorgehaltener Hand gab es auch eine Diskussion und Erzählungen. Aber es wird keiner offiziell gesagt haben, er hat so was gesehen, weil dann war die so genannte, wie bei Autofahrern, MPU notwendig und da wollte natürlich keiner rein. […] Ja, weil wenn du erst einmal so einen schwarzen Punkt drin hast, ob das nun wahr ist oder nicht, das ist dann dahingestellt, wenn du so was erst einmal erzählst, dann ist deine weitere Fluglizenz natürlich in Gefahr.“ (Interview 2: 27) Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in allen angesprochenen Beispielen die als im weitesten Sinne paranormal gedeuteten Erfahrungen und damit einhergehende Evidenzerlebnisse im Rahmen der offiziellen Wirklichkeitsbestimmung lediglich ontologisch negierenden und diskreditierenden Deutungsrahmen gegenüberstanden, wodurch es zu einer Diskrepanz zwischen subjektiven und offiziellen Ereignisinterpretationen kam. Die institutionell gestützte Machtwirkung (im Sinne eines Dispositivs) des szientistisch orientierten Diskurses in der DDR markierte paranormale Erfahrungen, Praktiken und Wissensbestände nicht nur als heterodox, sondern verhinderte – abgesehen von Thematisierung innerhalb des szientistischen Deutungsrahmens – auch systematisch ihre öffentliche Kommunikation und exkludierte sie damit (dauerhaft) aus dem Bereich des ‚Normalen‘, ‚Vernünftigen‘, in legitimer Weise Sag- und Denkbaren.78

78 Damit könnten lebensweltliche paranormale Erfahrungen und Wissensbestände in der DDR als ein Beispiel für eine aktuell im wissenssozilogischen Diskurs diskutierte, von dem Soziologen Michael Schetsche entwickelte Kategorie mit der Bezeichnung Kryptodoxie gelten. Die Kryptodoxie befindet sich gleichsam eine Ebene unter der Heterodoxie, wird also von der geltenden Wirklichkeitsordnung in keiner Weise adressiert und ist für diese gleichsam unsichtbar oder verborgen. In den Worten Schetsches: „Wenn ich hier im Anschluss an die Unterscheidung von Orthodoxie und Heterodoxie (mit aller Vorsicht) von Kryptodoxie spreche, meint dies die Gesamtheit all jenes Wirklichkeitswissens einer Kultur, das aus der Perspektive der herrschenden Wissensordnung so unsichtbar ist, als würde es nicht existieren. Dabei spielt es für dessen Phänomenologie zunächst keine Rolle, ob dieses Wissen kulturell unsichtbar bleibt, weil es nicht diskursivierbar ist, oder ob es nicht diskursfähig ist, weil es unsichtbar bleibt.“ (Schetsche 2012a: 7. Zur Kategorie Kryptodoxie siehe auch: Schetsche 2012b sowie Biebert & Schetsche 2016) 278

Geschützte Kommunikation

Eng damit verbunden ist der folgende Aspekt: Die Wirksamkeit des szientistischen Diskurses in der DDR hatte auch zur Konsequenz, dass ein Austausch über paranormale Phänomene, okkulte Erfahrungen, grenzwissenschaftliche Themen etc. fast ausschließlich im lebensweltlichen Bereich, also im privaten, informellen Rahmen erfolgte und auch hier noch besonderer Schutzmaßnahmen bedurfte: So wurde in mehreren Interviews deutlich, dass paranormale Themen in der DDR selbst im Privaten oftmals nicht offen kommuniziert wurden, sondern lediglich ‚hinter vorgehaltener Hand‘, im Kreise eng vertrauter Personen, im Modus des Verbergens und Geheimhaltens oder zumindest mit einer gewissen Vorsicht. In sehr ähnlicher Weise gilt dies auch für den Umgang mit entsprechenden Themen in der BRD, wie Schetsche und Schmied-Knittel (2003) in einer Studie mit Personen herausfanden, die nach eigenem Bekunden paranormale Erfahrungen hatten. Die Berichte über das Erlebte folgten erstaunlich häufig einer spezifischen Kommunikationsstruktur, die die Autoren „geschützte Kommunikation“ nennen und wie folgt beschreiben: „Nach unseren befunden gibt es ein spezifisches Merkmal, das, wenn nicht schon für das Erleben in diesem Bereich, so aber doch für die Interpretation und Kommunikation dieser Erfahrungen charakteristisch ist. […] Dieses überindividuelle Charakteristikum besteht darin, dass über diesen Typ von Erfahrungen – zwar nicht durchgängig, aber regelmäßig – in einem besonderen, abgesicherten Sprachmodus kommuniziert wird. Dieser Modus signalisiert in der Kommunikation (sich selbst und dem Gegenüber), dass man sich in einen Bereich von ‚Sonderwissen‘ vorgewagt hat, dessen Austausch spezifische Schutzmaßnahmen notwendig macht. […] Wenn über solche Geschehnisse in einem abgesicherten Modus gesprochen wird, liegt das nicht daran, dass diesen außergewöhnlichen Erfahrungen von den Alltagssubjekten automatisch ein besonderer Stellenwert zugesprochen würde. […] Die Betroffenen wissen vielmehr, dass man über solche Erlebnisse anders als in der im Alltag üblichen Weise kommunizieren muss - im sozialen Umfeld uns erst recht mit neugierigen Wissenschaftlern.“ (Schetsche & Schmied-Knittel 2003: 180f. Hervorhebungen wie im Original) Die geschützte Kommunikation sei dabei, so die Autoren weiter, „eine lebensweltliche Reaktion auf eine spezifische wissenschaftliche Zuordnung der betreffenden Erfahrungen […], in deren Zentrum die – von den Wissenschaften in aller Regel negativ beantwortete – Frage nach deren ontologischem Status steht: Den entsprechenden Erlebnissen wird von den meisten Wissenschaften der ‚objektive Realitätsgehalt‘ aberkannt“ (S. 182. Hervorhebungen wie im Original). Es gehe dabei darüber hinaus um die systematische Exklusion weltanschaulich ‚unpassender‘ Erfahrungen und Wissensbestände. Ideelle Basis sei die „Unterscheidung des wissenschaftlich-rationalen von einem magisch-irrationalen Wissen; durch die soziale

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Stigmatisierung (Stichwort: Aberglaube) der letzteren wird die Hegemonie des wissenschaftlichen über das lebensweltliche Denken zunächst her- und dann sichergestellt“ (S. 184). Was für eine pluralistische Gesellschaft wie die BRD gilt, in der das Paranormale zumindest als Heterodoxie durchaus seinen Platz hat, gilt für die szientistisch geprägte Gesellschaft der DDR in besonderer Weise: Hier wird dem Bereich des Paranormalen nicht nur der Realitätsgehalt abgesprochen (im Sinne der Nihilierung bei Berger und Luckmann), sondern ihm wird gänzlich die Daseinsberechtigung entzogen, er soll, in anderen Worten, vollständig neutralisiert bzw. liquidiert werden. Entsprechend kann man für die Kommunikation einschlägiger Themen in der DDR-Gesellschaft von einer gesteigerten Form der geschützten Kommunikation sprechen, die bisweilen gleichsam paranoische Züge beinhaltet, wie einige Interviewpassagen verdeutlichen. Erinnert sei an Frau Peters, die zu DDR-Zeiten aus Angst vor Pathologisierung jahrelang niemandem von ihrer Nahtoderfahrung berichtete und in diesem Zusammenhang gar von einem gesellschaftlichen Tabu spricht: „Ich wäre ja nicht mal auf die Idee gekommen, zu einem Pfarrer zu gehen [...]. Das war ein absolutes Tabu. Geht nicht. Ich weiß nicht, ob es im Westen anders gewesen wären [...]. Aber hier, gar nicht.“ (Interview 5: 40) Ein anderes Beispiel ist Herr Schulze, der zu DDR-Zeiten Bücher über Parapsychologie und Grenzwissenschaften sammelte, die er vor allem über Antiquariate bezog, und im Interview berichtet, dass er sich seine Gesprächspartner, mit denen er sich über entsprechende Themen austauschte, sorgsam aussuchte: „Wenn du eine gewisse Sensibilität an den Tag gelegt hast, hast du schon die Menschen erkannt, mit denen du darüber reden konntest. Ich habe da nicht mit jedem darüber geredet. Aber es gab schon Personen, wo ich mir gesagt hab, ‚Mensch, die sind für solche Dinge auch empfänglich‘.“ (Interview 11: 25) Ein weiteres Beispiel ist die bereits zitierte Beschreibung von Herrn Müller in Bezug auf die Kommunikation paranormaler Themen. Herr Müller betont, dass derartige Themen aus einer gewissen Angst und Vorsicht meist nur im Rahmen vertraulicher Gesprächsrunden angesprochen wurden. Zur Erinnerung noch einmal das entsprechende Zitat aus dem Interview: „Und das ist eben das große Problem zu DDR-Zeiten gewesen. Das viele eben, um ihren Job gut zu machen und nicht anzuecken, die geforderte Linie gehen und dann vielleicht rechts und links nur gucken, wenn sie in einer kleinen Runde sitzen, wo man davon ausgehen kann, dass es ihnen nicht schadet. Das war in großen Teilen sicherlich so gewesen. Das ist das Negative dabei. Aber wie gesagt, man hat sich beschäftigt mit solchen Themen.“ (S. 27) Es wird deutlich, dass die Kommunikation paranormaler Themen alles andere als problemlos möglich war, sondern absichernder Rahmenbedingungen bedurfte. Dies verweist einmal mehr 280 darauf, dass sich die offiziellen weltanschaulichen Vorgaben in Bezug auf den Themenkomplex des Paranormalen bis tief in den lebensweltlichen Bereich hinein manifestierten und in Form von kommunikationsstrukturierenden Regeln und Legitimationszwängen machtvoll Wirkung zeigten. In anderen Worten: Hier offenbart sich der ‚Druck‘ des szientistischen Diskurses auf die lebensweltliche Verhandlung paranormaler Themen.

Die szientistische Persönlichkeit

Ein weiterer übergreifender Befund bei der Queranalyse der Interviews besteht darin, dass die offizielle, politisch-ideologische Rahmung des hier interessierenden Themenbereichs auf der Basis der in der DDR qua Sozialisation vermittelten wissenschaftlichen Weltanschauung nahezu in allen Interviews auftauchte – entweder als positive oder als negative Referenz. Dies weist auf die tiefe Verankerung des entsprechenden Deutungsrahmens im Alltagswissen der DDR-Bevölkerung hin. Die Ablehnung diverser Formen des Aberglaubens war, wie bereits dargelegt, fester Bestandteil des großangelegten Versuchs der Erzeugung einer am Marxismus-Leninismus bzw. Materialismus orientierten sozialistischen Persönlichkeit. In dem spezifischen Kontext des hier untersuchten Themenfeldes könnte man auch von einer szientistischen Persönlichkeit sprechen. Die in das DDR-Bildungssystem integrierte umfassende Erziehung der Bevölkerung zur sozialistischen (oder eben szientistischen) Persönlichkeit blieb letztlich Utopie (vgl. Lemke 1991: 276), war jedoch mindestens insofern ‚erfolgreich‘, als die entsprechenden politisch-ideologischen Vorgaben von der Bevölkerung mehrheitlich internalisiert wurden und somit als potenzielle Handlungsanleitungen, Erklärungs- und Deutungsmuster zur Verfügung standen. In den für diese Studie durchgeführten Interviews bildete die offizielle, auf Basis der wissenschaftlichen Weltanschauung ablehnende Haltung der DDR in Bezug auf das Untersuchungsfeld des Paranormalen jedenfalls immer wieder einen zentralen Bezugspunkt, vor dessen Hintergrund die entsprechenden Themen interpretiert bzw. eingeordnet wurden. So führte beispielsweise der bereits zitierte ehemalige MfS-Offizier Wolfgang Schmidt aus: „Das war [gemeint sind paranormale Themen] bei uns immer auch an der Grenze zum Spaßfaktor. Das Entscheidende ist, […], dass die gesellschaftlichen Bedingungen für diesen ganzen Humbug natürlich nicht ideal waren, ganz vorsichtig ausgedrückt. Also, man konnte – und das ist glaube ich das Wichtigste – kein Geld damit verdienen. […] Dass Politiker sich haben von Wahrsagern beraten lassen oder dass ganze Lehrstühle für Parapsychologie an Lehrstühlen entstehen konnten, oder auch im privaten Bereich, oder dass Leute ihr Geld damit verdienten, wenn sie Horoskope an 281

Zeitungen verkauften, das fiel ja alles weg. […] Insofern war von den objektiven Zuständen her eine größere Wirkung schon gar nicht möglich. […] Dazu kommt, dass der ganze Staat säkular ausgerichtet war […]. Wir haben zwar keinen aggressiven Atheismus betrieben, die Kirchen hatten ja ihre Rechte und Möglichkeiten, […] sie konnten sich hier legal bewegen. Es wurde kein Kirchenkampf in dem Sinne geführt. Es hat ganz einfach auch von der Schulbildung her immer wieder Orientierung auf Naturwissenschaften, auf Wissenschaften schlechthin dazu geführt, dass der Einfluss der Kirche sukzessive zurückging. […] Und das ist auch natürlich die Wirkung der wissenschaftlichen Bildung, der der naturwissenschaftlichen Orientierung und so weiter.“ (Interview 7: 8f.) Interessant ist an dieser Stelle auch die (dem öffentlichen Diskurs der DDR entsprechende) Koppelung von paranormalen und religiösen Themen, gegen die sich die DDR nach diesem Verständnis mittels gesellschaftspolitischer Rahmenbedingungen und eines (natur- )wissenschaftlichen bildungspolitischen Programms zur Wehr setzte. Herr Berg,79 der zu DDR-Zeiten als Naturwissenschaftler im Wissenschaftssystem tätig war und sich damals und heute auch mit Themen aus dem Bereich der Anomalistik beschäftigt, legte im Interview in prägnanter Weise die dominierende wissenschaftliche Weltanschauung und die Bedeutung des Bildungssystems für deren Vermittlung dar. Er spricht dabei in Bezug auf das Themenfeld des Paranormalen auch Dogmen des in der DDR vorherrschenden Wissenschaftsverständnisses an und greift den Begriff ‚Szientismus‘ auf: „Also, die DDR hat ja sehr stark auf Wissenschaft gesetzt, insbesondere auf Naturwissenschaft und da war sie auch stark, da war sie ja von früh an, Kindergarten, Schule, Physik ab der fünften Klasse. Wo wir dann gemerkt haben als der Westen kam, ‚Mensch, sag mal, die sind schon in der siebten Klasse und haben noch gar nicht Physik gehabt, was ist denn das hier?‘ Also, das war alles sehr viel stärker auf Naturwissenschaften fixiert. Ich glaube, das ist jedenfalls die These mancher Leute, die über die Urania geschrieben haben, dass es so eine Art Szientismus gab. Also, wir haben sehr stark das wissenschaftliche Weltbild vertreten und haben damit natürlich ausgeblendet, was diesem wissenschaftlichen Weltbild unserer Meinung nach nicht entsprach. Also, nicht differenziert genug gesehen, dass natürlich Wissenschaft selbst gar kein in sich geschlossenes Weltbild liefern kann, sondern immer nur einen momentanen Status, der sich immer entwickelt. Und dass es in der Wissenschaft viele Fragen und Zweifel gibt. Das war alles ein bisschen ausgeblendet.“ (Interview 1: 34f)

Diese beiden ersten Beispiele stammen von Personen, die zu DDR-Zeiten mit der staatlich propagierten wissenschaftlichen Weltanschauung konform gingen. Doch die Wirkmächtigkeit eines Weltbildes zeigt sich vor allem auch an seiner Verbreitung bzw. Bekanntheit unabhängig von dem Grad der Zustimmung in der betreffenden Gesellschaft. So zeigten sich

79 Name geändert. 282 im Interviewmaterial Referenzen auf die wissenschaftliche Weltanschauung bzw. auf die offizielle Rahmung des Themenbereichs des Paranormalen in der DDR auch bei Interview- Partnern, die die entsprechenden Deutungen nicht teilten, wie beispielsweise die bereits erwähnte Frau Mayer, die auf die Frage, warum es in der DDR nur sehr wenig Literatur zum UFO-Thema gab, antwortete: „Na, weil es eben wirklich als paranormaler Unsinn galt. Praktisch offiziell so: ‚Alles nur Unsinn!‘ und ‚Kapitalisten machen damit Geld‘. Das war die öffentliche Meinung.“ (Interview 3: 4). An anderer Stelle: „Es gab ganz, ganz wenig und dann immer nur so negativ, wie, ‚Es ist alles Unsinn. Also, die haben einen an der Waffel, die das sehen‘ oder ‚Kapitalisten machen halt Geld damit‘.“ (S. 12) Diese Deutungen überzeugten Frau Mayer nicht und sie entwickelte in Bezug auf das Thema UFOs und Außerirdische Überzeugungen, die nicht mit den Vorgaben des öffentlichen Diskurses übereinstimmten: „Also, mir gefiel der Gedanke von Däniken, dass Außerirdische uns hier kontaktiert haben und unsere Kultur beeinflusst haben. Dieser Gedanke erschien mir logisch.“ (S. 13) Sie führt weiter aus: „Ja, man macht sich ja seine eigenen Gedanken. Musste man ja sowieso in der DDR. Die haben ja viel Mist erzählt, den man nicht geglaubt hat […].“ (Ebd.) Im Verlauf des Interviews greift Frau Mayer diesen Gedanken noch einmal auf: „Aber, wie gesagt, egal, was die dazu geschrieben haben, das hab ich nicht geglaubt. Ich fand es spannend [gemeint sind die Thesen Erich von Dänikens] und fand, das ist nicht ausgeschlossen. Man muss sich halt selber seine Gedanken machen. Und wir waren es ja gewöhnt, da skeptisch damit umzugehen, was die DDR uns da so erzählte. Wir waren ja nun keine Mitläufer.“ (S. 15) Es zeigt sich, dass Frau Mayer die offiziellen Deutungen in Bezug auf die sie interessierenden Themen UFOs und Außerirdische zwar sehr bewusst zur Kenntnis nahm, sie jedoch innerlich ablehnte und eine individuelle, vom öffentlichen Diskurs abweichende Meinung zu den entsprechenden Themen entwickelte. Eine noch deutlichere Diskrepanz zwischen der vorherrschenden Weltanschauung und individuellen Überzeugungen in Bezug auf die hier interessierenden Themen dokumentiert das Interview mit Frau Peters, dir zu DDR-Zeiten eine Nahtoderfahrung machte. Frau Peters stellte sich schon als Jugendliche im weitesten Sinne spirituelle Fragen nach dem Sinn des Lebens, wurde jedoch in der Schule und in ihrem Elternhaus materialistisch-atheistisch erzogen und internalisierte das entsprechende Weltbild, welches sie, wie bereits zitiert, mit den folgenden Worten beschreibt: „Dieses absolute ‚wir sind Körper, wir sind Leben‘ Also, die Zeugung ist das A und O, dann sind wir hier, leben, werden alt, werden krank und sterben. Das war’s. […]Wir liegen dann mal in der Kiste und das war’s, dann kommen die Würmer und das war’s.“ (Interview 5: 40) Obschon Frau Peters immer gewisse Zweifel an dieser 283

Weltsicht hatte, war sie fest in ihr verankert. Ihre Nahtoderfahrung allerdings war für sie ein Erlebnis, dass in massiver Weise mit dem kollidierte, was sie in der Schule und im Elternhaus gelernt hatte. Sie geriet in eine regelrechte Wirklichkeitskrise und hatte enorme Schwierigkeiten, das Erlebte in das ihr vermittelte Weltbild einzuordnen. In den Worten von Frau Peters: „Ich habe eigentlich gedacht, ich habe eine Meise […], dass das nicht sein kann. Das passte nicht mit meinem Bild von der Welt zusammen. Das passte mit dem, wie ich groß geworden bin, einfach nicht zusammen.“ (S. 25) Die Tatsache, dass Frau Peters nach ihrer Nahtoderfahrung aus Angst vor Pathologisierung jahrelang mit niemandem über ihr Erlebnis sprach, verweist in besonders deutlicher Weise auf die Macht der vorherrschenden Weltanschauung: Die Dominanz und Tiefenwirkung des szientistischen Diskurses erzeugt bei Frau Peters einen Mechanismus der Selbstzensur, der verhindert, dass sie ihr Erlebnis kommuniziert. Frau Peters Zweifel am materialistischen Weltbild entwickelten sich im Zuge ihrer Nahtoderfahrung zu einer festen Überzeugung, die jedoch aufgrund der diskursiven Rahmenbedingungen lediglich latent blieb. Es lässt sich zusammenfassen: Die szientistische Welterklärung, die sämtliche Themen aus dem Bereich des Paranormalem dem Aberglauben zuordnet, war in der DDR-Bevölkerung mehrheitlich internalisiert. Dies lässt sich alleine schon durch die Tatsache begründen, dass die wissenschaftliche Weltanschauung fester Bestandteil im Bildungssystem war und somit qua primärer Sozialisation vermittelt wurde. Eine andere Frage ist jedoch, in welchem Maße die Vermittlung auch mit der Akzeptanz des entsprechenden Weltbildes einherging. Hier zeigen sich Abweichungen vom Erziehungsziel, welches eine Gesellschaft aus szientistischen Persönlichkeiten vorsah. In anderen Worten: Die szientistische Deutung des Paranormalen war in der DDR-Bevölkerung allgemein bekannt, aber nicht allgemein anerkannt. Die Abweichungen von den Vorgaben erfolgten trotz oder aufgrund der Dominanz des szientistischen Diskurses, der vielen Individuen als undifferenziert, ideologisch ausgerichtet oder politisch motiviert erschien und in manchen Fällen (wie bei Frau Peters) auch mit subjektiven Evidenzerlebnissen kollidierte. Dennoch blieb der staatlich vermittelte Deutungsrahamen in Bezug auf das Paranormale die zentrale Bezugsgröße zur Einordnung und Interpretation entsprechender Phänomene.

Diskursöffnung nach der Wende

Nach der Wiedervereinigung Deutschlands veränderten sich die politischen Rahmenbedingungen für die ostdeutsche Bevölkerung grundlegend. Dazu zählte auch, dass

284 sich nun ein pluralistischer öffentlicher Diskurs nach dem Vorbild der BRD etablierte, der sich in eklatanter Weise von dem System der staatlich kontrollierten Öffentlichkeit der DDR unterscheidet. Wo zuvor das Meinungsmonopol der SED herrschte, gab es nun eine bunte Medienlandschaft mit einem breiten Spektrum konkurrierender Meinungen, Weltanschauungen, politischer Überzeugungen etc. Das reglementierte Bücherangebot der DDR war dem freien Büchermarkt der BRD gewichen, der so gut wie keiner Zensur unterliegt. Diese schlagartige Vervielfältigung der verfügbaren Informationen betraf natürlich auch den hier interessierenden Bereich des Paranormalen: Während das Informationsangebot zu den entsprechenden Themen in der DDR sehr eingeschränkt war und dem vorgegebenen Deutungsrahmen entsprach, war nun eine unüberschaubare Menge an Informationen erhältlich, die unterschiedlichste Meinungen, wissenschaftliche Theorien und Kontroversen, Überzeugungssysteme, Glaubensvorstellungen etc. enthalten. Die Öffnung des Diskureses im Zusammenhang mit dem hier interessierenden Themengebiet wurde interessanterweise von den meisten im Rahmen dieser Studie interviewten Personen übereinstimmend als ambivalent wahrgenommen – und zwar unabhängig davon, ob sie paranormalen Themen positiv oder negativ gegenüberstehen. Positiv hervorgehoben wurde die Tatsache, dass von nun an ein freier Zugriff auf unzensierte Informationen möglich war. Auf der anderen Seite wurde jedoch auch oftmals eine gewisse Überforderung bzw. Schwierigkeit der Selektion qualitativ hochwertiger Quellen angesichts der Masse der verfügbaren Informationen betont, wie z.B. in dem Interview mit Herrn Müller, der berichtete: „Im Prinzip war ja nun die Möglichkeit gegeben, an diese Quellen heran zu kommen ohne Probleme. Und da war dann erst einmal der Punkt erreicht, wo du zu viel Input hast. Da musstest du schon wieder bremsen. Du warst am Anfang bestrebt, so viel wie möglich Literatur zu bekommen. Dann hat man sich durchgearbeitet, hat aber an einer bestimmten Stelle gemerkt: Hier ist auch viel, viel Schrott dabei! […] Jetzt hat man die Möglichkeiten und dann hast du da solche Nasen dabei, wo der gesunde Menschenverstand sich sträubt, das überhaupt zu lesen. Aber das ist nun mal die Sache, die freie Meinungsäußerung. Jeder, der sich mit so einer Thematik beschäftigt, kann seine Gedanken in Buchform oder wie auch immer herausbringen. Und natürlich ist dann die Frage gewesen, das zu trennen, die Spreu vom Weizen. Hat man dann natürlich auch irgendwann gemacht, weil sonst hätte man bald gar nicht mehr gewusst, wo hinten und vorne ist.“ (Interview 2: 28) In sehr ähnlicher Weise berichtet der bereits mehrfach zitierte Herr Lang, der sich zu DDR- Zeiten mit verschiedenen grenzwissenschaftlichen Themen beschäftigte, über das plötzliche Informationsangebot über seine Interessensgebiete nach der Wende:

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„Wo die Wende kam habe ich ja erst einmal alles aufgesaugt, was es zu kaufen gab. Ich glaube, ich habe mir von dem Begrüßungsgeld, von den hundert D- Mark, eine Büchse gekauft und mit dem Rest Bücher. […] Ja, nach der Wende, das war so ein Mörder-Input, den man eigentlich gar nicht verarbeiten konnte. An dem Zeitpunkt, wo ich angefangen habe, über dieses Thema nachzudenken und zu lesen, da hätte ich mir das gewünscht. Danach war so ein riesen Input und du konntest eigentlich nichts damit anfangen. Das war zu viel und du konntest das nicht im Kopf umsetzen und nachprüfen […]. Also, das kam für mich relativ spät erst dieses Nachprüfen, ob das für mich stimmt, was da geschrieben steht. Erzählen kann man ja viel. Ich wollte es für mich nachprüfen. Da hat es natürlich viele Sachen gegeben, mit denen ich nicht einverstanden war.“ (Interview 9: 16f.) Ein weiteres Beispiel stammt aus dem Interview mit Herrn Schulze, der zu DDR-Zeiten Literatur über Parapsychologie und verwandte Themengebiete sammelte, die er über Antiquariate bezog. Auch bei ihm wich die Anfangseuphorie über den nun freien Büchermarkt bald einer gewissen Ernüchterung: „[Nach der Wende] ist dann folgendes passiert: Da habe ich mir erst einmal gedacht, Mensch, jetzt hast du alle Möglichkeiten! Da habe ich mich mit Numerologie und Ufologie und was weiß ich nicht alles, mit was ich greifen konnte, beschäftigt. Und plötzlich habe ich mir überlegt, stimmt das denn alles, was die erzählen? Da habe ich mir gedacht, also Moment, hier musst du erst einmal das Wahre von dem Falschen scheiden, darum prüfe! Und dann habe ich mir überlegt, das könnte stimmen, das eher nicht und war so ein bisschen skeptisch könnte man sagen. Und noch schlimmer, als dann das Internet bei uns im Osten Einzug hielt, da habe ich mir gedacht, um Gottes Willen, was kommt denn jetzt alles für ein Scheiß auf dich zu! Und da musstest du eben wieder das Wahre von dem Falschen unterscheiden.“ (Interview 11: 52f) Diese ersten drei Beispiele stammten von Interview-Partnern, die dem Themenfeld des Paranormalen zu DDR-Zeiten grundsätzlich aufgeschlossen bis positiv gegenüberstanden. Ergänzend wird die Bewertung von Herrn Berg hinzugefügt, der in der DDR als Naturwissenschaftler tätig war und gegenüber dem Paranormalen skeptisch eingestellt war. Bis zur deutschen Wiedervereinigung schrieb Herr Berg für eine DDR-Zeitung eine monatliche (natur-)wissenschaftliche Kolumne. Nachdem die Zeitung im Zuge der Wiedervereinigung privatisiert wurde, wurde diese Kolumne gestrichen. Stattdessen fanden sich nun Horoskope in der Zeitung, was Herrn Berg dazu veranlasste, einen protestierenden Leserbrief zu schreiben, welcher wiederum zahlreiche Beschwerdebriefe von Lesern nach sich zog: „Ich habe dann also einen riesen Brief geschrieben an die Zeitung. Den haben sie auch gedruckt. Einen öffentlichen Brief. Natürlich in dieser Manie, die man in der DDR gelernt hatte: Diese Verblödung [gemeint ist die Astrologie] und so weiter brauchen wir eigentlich nicht. Wir brauchen naturwissenschaftliche Kenntnisse. Also, das war natürlich ein großer Fehler. Daraufhin hagelte es

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Proteste. Dieser [Herr Berg] soll uns doch nun endlich mal gönnen, was uns vierzig Jahre vorenthalten wurde. So war der Tenor. Ich habe noch alle die Leserbriefe.“ (Interview 1: 18) Daraufhin habe bei ihm, so berichtet Herr Berg weiter, eine Art ‚Umdenken‘ stattgefunden. Statt politischen Vorgaben von „oben“ seien es nun eben die Bedürfnisse der Leser, die das Angebot bestimmen: „Mensch, habe ich dann gesagt, um Gottes Willen, jetzt halt bloß die Schnauze. Es hat keinen Sinn, die Leute wollen das, also sollen sie es haben. […] Das sind alles so paradoxe Vorgänge damals gewesen. Aber ich habe dabei ja etwas gelernt: Ich habe gesagt, ja, natürlich, also es hat den Leuten schon gefehlt, dass sie diesen Zugang nicht haben durften. Und dass es von oben festgelegt wurde, was man lesen konnte und was man nicht lesen sollte. Das war, glaube ich, der Punkt. […] Das habe ich aber so nicht verstanden damals zunächst einmal. Das habe ich aber dann gelernt.“ (S. 18f.) Diese Auszüge aus dem Interviewmaterial dokumentieren verschiedenartige Anpassungsschwierigkeiten an die grundlegend veränderten Diskursbedingungen im wiedervereinigten Deutschland: Die ersten Beispiele illustrieren die Hoffnung auf einen befreiten Zugang zu einer ‚anderen Wirklichkeit‘, die der Bevölkerung zuvor verwehrt wurde. Diese Hoffnung wurde jedoch angesichts des Übermaßes der nun verfügbaren Informationen, zu denen auch große Mengen Zweifelhaftes, Fragwürdiges oder schlicht Unwahres zählen, relativiert. Die als unzulänglich beurteilten Bewertungskriterien des öffentlichen Diskurses der DDR in Bezug auf das Paranormale wurden nun von einem System frei zugänglicher Informationen abgelöst, welches von seinen Rezipienten ein hohes Maß an Urteilsvermögen und Selektionskompetenz erfordert, um die Qualität der angebotenen Informationen adäquat einschätzen zu können. Die letzte Episode veranschaulicht eine gewisse Frustration eines früheren Protagonisten des DDR-Wissenschaftssystems angesichts der Tatsache, dass es unter den neuen Bedingungen des Mediensystems keine staatlich abgesicherte Vorrangstellung der wissenschaftlichen Weltanschauung mehr gibt, sondern wissenschaftliche Inhalte in den Medien mit anderen, unwissenschaftlichen Inhalten um Aufmerksamkeit konkurrieren müssen (und dabei oftmals unterliegen).

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8. Resümee

8.1 Zusammenfassung der empirischen Befunde

Gefahrendiskurs

Fasst man die wesentlichen Befunde der Analyse des öffentlichen Diskurses der DDR in Bezug auf den Themenbereich des Paranormalen zusammen, lässt sich von einem ideologisch aufgeladenen Gefahrendiskurs sprechen, der über den gesamten Zeitraum der DDR existierte und sich inhaltlich und strukturell anhand von fünf Einflussgrößen charakterisieren lässt:

(1) Szientismus: Der öffentliche Diskurs der DDR war von einem zentral gelenkten Mediensystem getragen, dessen Hauptaufgabe darin bestand, als Sprachrohr für die politische Führung zu fungieren und möglichst sämtliche Informationen im Sinne der weltanschaulichen Vorgaben der SED zu deuten. Das staatliche Meinungsmonopol war durch ein umfassendes Kontroll- und Zensursystem gesichert, welches im Sinne einer verordneten Öffentlichkeit so gut wie keine Abweichungen von politischen, ideologischen oder begrifflichen Normen duldete. Die Folgen dieser strukturlogischen Voraussetzungen des öffentlichen Diskurses in der DDR lassen sich anhand des gewählten Untersuchungsgegenstandes des Paranormalen überaus deutlich rekonstruieren: Nahezu jede Bezugnahme zu entsprechenden Themen im öffentlichen Diskurs der DDR erfolgte vor dem Hintergrund der Axiome der szientistischen Wissenschaftsauffassung des Marxismus-Leninismus, welche die Existenz jeglicher Formen paranormaler Phänomene grundsätzlich und vehement verneint. Verbunden mit dieser ontologischen und epistemischen Positionierung im Sinne des Szientismus war die Vorstellung der schrittweise erfolgenden ‚Ausrottung‘ oder eines ‚Absterbens‘ alles (vermeintlich) Nichtwissenschaftlichen, Irrationalen, Abergläubischen als Ergebnis einer systematischen Aufklärung der Bevölkerung bzw. der staatlich getragenen Erziehung hin zur sozialistischen (oder eben: szientistischen) Persönlichkeit. (2) Nihilierung: Der Szientismus als weltanschaulicher Fluchtpunkt der Bezugnahmen des öffentlichen Diskurses der DDR auf das Paranormale sowie als elementarer Teil der geltenden Wirklichkeitsordnung determiniert gleichzeitig ein spezifisches Stützkonzept zur Aufrechterhaltung und Sicherstellung der orthodoxen Wirklichkeitskonstruktion, welches, in Anlehnung an Berger und Luckmann, als Nihilierung bezeichnet werden kann. Die Bedrohung bzw. Herausforderung der dominierenden Wirklichkeitsbestimmung durch das Paranormale wird durch dessen systematische Negierung liquidiert. Anders ausgedrückt: Dadurch, dass dem Paranormalen (kontinuierlich) ein negativer ontologischer bzw.

288 irrationaler Status zugeschrieben wird, wird die geltende Wirklichkeitsordnung im Sinne einer ‚negativen Legitimierung‘ gestützt. Konkret manifestiert sich diese Stützfunktion in Form von wiederkehrenden Diskursstrategien, mittels derer versucht wurde, die der wissenschaftlichen Weltanschauung zuwiderlaufenden Wissensbestandteile, Praktiken oder Erfahrungen zu exkludieren. Diese Diskursstrategien reichen von der Pathologisierung paranormaler Deutungen und ihrer Anhänger über die Ridikülisierung entsprechender Inhalte und Protagonisten bis hin zum schlichten Verschweigen und Ausschließen bestimmter Vorstellungen und Akteure aus dem öffentlichen Diskurs. Letzteres erklärt auch, warum der Themenbereich des Paranormalen – beispielsweise im Vergleich zur BRD – marginal blieb und es nur sehr wenige Sach- und Fachbücher, TV- und Radiosendungen, öffentliche Vorträge und sonstige Diskursfragmente gab, die sich in wissenschaftlicher oder informativer Art explizit mit Themen wie Aberglaube und Okkultismus, Wünschelruten und Astrologie, Parapsychologie, Nahtoderfahrungen oder Wunderheilern beschäftigten. (3) Das Deutungsmuster Aberglaube: Die wenigen Thematisierungen des Paranormalen, die es im öffentlichen Diskurs der DDR dennoch gab, folgen fast gänzlich einer einheitlichen Deutungs- und Argumentationsstruktur in Form eines sozialen Deutungsmusters, mittels dessen die gemeinten Einzelthemen konstant und systematisch diskreditiert und zugleich die geltende Wirklichkeitsbestimmung reproduziert wurde. Kennzeichnend für dieses Deutungsmuster ist, ausgehend von den Implikationen des Marxismus-Leninismus bzw. der wissenschaftlichen Weltanschauung, die Bestimmung, dass diverse Themen aus dem Bereich des Paranormalen – subsummiert unter dem Begriff ‚Aberglaube‘ – nicht nur unwissenschaftlich bzw. irrational, sondern darüber hinaus gefährlich sind, ans Pathologische grenzen können und Bestandteil einer bourgeoisen, revanchistischen oder gar faschistischen Ideologie sind. Ferner sei der Aberglaube im westlichen Ausland ein Indikator für krisenhafte Zustände in kapitalistischen Gesellschaften und würde von den herrschenden Klassen gezielt zur Manipulation der Bevölkerung genutzt. Abgesehen von sehr wenigen Ausnahmen gab es im öffentlichen Diskurs der DDR über das Paranormale keine konkurrierenden Deutungsmuster, so dass mit dem Deutungsmuster Aberglaube auch die Deutungshoheit über entsprechende Themen verbunden war. (4) Zwei Diskursphasen: Darstellungen im öffentlichen Diskurs, die den Aberglauben negativ, gleichsam als Form ideologischer Devianz bestimmen, prägten die offizielle Sichtweise zwar auf erstaunlich einhellige Weise, gleichwohl lassen sich im zeitlichen Verlauf des Diskurses gewisse inhaltliche Unterschiede ausmachen. Konkret konnten zwei Diskursphasen identifiziert werden: Die Aufklärungsphase umfasst die Zeitspanne von der

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Gründung der DDR bis Mitte der 1960er Jahre. Der Diskurs über das Paranormale war in dieser Phase tendenziell nach innen gerichtet, da er die Bekämpfung der ‚Reste‘ des Aberglaubens in der eigenen Bevölkerung fokussierte. Es ging, in anderen Worten, um die Beseitigung historischer Residuen abergläubischer Vorstellungen und Praktiken, die nach dem Verständnis der Staatsführung den Aufbau des Sozialismus in der jungen DDR behinderten. Mittel zu diesem Zweck war eine umfassende Aufklärung der Bevölkerung und eine ‚Erziehung‘ bzw. ‚Umerziehung‘ der Gesellschaft im Sinne der wissenschaftlichen Weltanschauung bzw. der ‚sozialistischen Persönlichkeit‘. Ab Mitte der 1960er war der Diskurs über das Paranormale in der DDR von einer zunehmenden politischen Funktionalisierung der entsprechenden Themen geprägt. Im Fokus standen dabei nicht mehr abergläubische Vorstellungen in der eigenen Bevölkerung – diese galten als weitestgehend überwunden. Aberglaube, Mystizismus und Irrationalismus waren von nun an vor allem Merkmale westlich-kapitalistischer Gesellschaften und Anlass für nach außen gerichtete, politisch-ideologisch gerahmte Kritik – vornehmlich am unmittelbaren ‚Systemkonkurrenten‘ BRD. Der aufgeklärt-fortschrittlichen Gesellschaft der DDR (und anderer sozialistischer Länder) wurde der vermeintliche Irrationalismus westlicher Gesellschaften kapitalistischer Prägung gegenüber gestellt. Es ging, anders ausgedrückt, darum, die DDR als ‚besseren‘, da ‚rationaleren‘ und ‚aufgeklärteren‘ Staat zu konstituieren. Aus dem aufklärerischen Programm gegen den Aberglauben in der eigenen Bevölkerung wurde eine ideologische Waffe im politischen Kampf der Systeme. Entsprechend ihrer dezidiert politisch-ideologischen und propagandistischen Stoßrichtung kann diese Phase als Agitationsphase bezeichnet werden. Die nach außen gerichtete Agitation hat dabei selbstredend auch eine innenpolitische Funktion: Es geht um die Immunisierung der eigenen Bevölkerung gegenüber den ‚irrationalen Versuchungen‘ des westlichen Gesellschaftssystems, seiner Lebensweise und pluralistischen Ausrichtung. (5) Prägende Akteure: Bei der Analyse des öffentlichen Diskurses der DDR konnten zwei Akteure identifiziert werden, die den Diskurs in besonderer Weise prägten: Otto Prokop und die Urania. Prokop, einer der renommiertesten Wissenschaftler der DDR und darüber hinaus politisch gut vernetzt, war mit seiner vehementen Kritik an Parapsychologie, Okkultismus und verwandten Themen im öffentlichen Diskurs der DDR über entsprechende Themen nahezu omnipräsent. Mit unzähligen wissenschaftlichen Publikationen, Vorträgen, Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln prägte er wie kein anderer die inhaltliche Auseinandersetzung mit Themen aus dem Bereich des Paranormalen in der DDR. Seine skeptische bzw. explizit ablehnende Grundhaltung gegenüber entsprechenden Themen schloss dabei nahtlos an die

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Grundsätze der in der DDR propagierten wissenschaftlichen Weltanschauung an. Mehr noch: Wie am Beispiel der Parapsychologie oder auch der Homöopathie aufgezeigt werden konnte, war es in manchen Fällen Prokop, der für den öffentlichen Diskurs wirksam bestimmte, welche Themen mit einer wissenschaftlichen Weltanschauung vereinbar waren und welche nicht. Prokop hatte das soziale Kapital, das Renommee und auch die Ressourcen, Deutungen vorzugeben, öffentlichkeitswirksame Bewertungen vorzunehmen und damit in entscheidender Weise den öffentlichen Diskurs zu beeinflussen. Vor diesem Hintergrund kann mit einiger Gewissheit gefolgert werden, dass der öffentliche Diskurs der DDR über das Paranormale ohne Otto Prokop anders ausgesehen hätte. Die Urania fungierte in der DDR als einer der wichtigsten Akteure bei der Vermittlung der wissenschaftlichen Weltanschauung und sah letzteres als Teil ihres politischen Auftrages. Aufgrund ihres klaren Bezuges zum szientistischen Wissenschaftsverständnis der wissenschaftlichen Weltanschauung erscheint es berechtigt, die Urania als szientistischen Akteur zu bezeichnen. Durch die flächendeckende Organisationsstruktur, ihr Ansehen in der DDR-Gesellschaft und die staatlicherseits großzügig zu Verfügung gestellten Mittel hatte die Urania eine enorme Reichweite, die große Teile der DDR-Bevölkerung umfasste. Im Zusammenhang mit dem Diskurs über das Paranormale in der DDR ist die Urania in zweierlei Hinsicht ein zentraler Akteur: Zum einen vermittelte sie großflächig die wissenschaftliche Weltanschauung als Grundhaltung, welche eine Ablehnung sämtlicher religiöser oder nicht- religiöser ‚Irrationalismen‘ implizierte. Darüber hinaus stammten aus dem Kontext der Urania unzählige Diskursbeiträge, die sich explizit mit Themen aus dem Bereich des Paranormalen beschäftigen und deren Unvereinbarkeit mit der wissenschaftlichen Weltanschauung propagierten.

Institutionelles Handeln und soziale Kontrolle

Die eindeutige Stoßrichtung des öffentlichen Diskurses der DDR über das Paranormale ging mit einem institutionell gestützten Abwehrkampf gegen die propagierten Gefahren des Aberglaubens einher, der insbesondere in der Anfangszeit der DDR mit einem erheblichen Aufwand realisiert wurde. Das gesetzliche Verbot von Wahrsagerei und Astrologie, welches weitestgehend aus der NS-Zeit übernommen wurde, sah bei Zuwiderhandlungen drastische Geld- und Freiheitsstrafen vor und bildete die rechtliche Grundlage für Überwachungs- und Verbotsmaßnahmen im Zusammenhang mit verschiedenen spiritistischen und astrologischen Gruppen und Einzelpersonen durch die Polizeibehörden. Mit welcher Härte hier teilweise

291 vorgegangen wurde, dokumentiert eindrücklich der Fall der ‚Kartenlegerin von Suhl‘ (Charlotte Marquardt), die nach Artikel 6 der DDR-Verfassung („Boykotthetze“) zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Ihre Verurteilung wurde bewusst als politischer Schauprozess inszeniert und sollte eine abschreckende Wirkung erzielen. Derartige Maßnahmen der sozialen Kontrolle erzeugten einen hohen Verfolgungsdruck, der dazu beitrug, dass okkulte bzw. abergläubische Praktiken (und dazugehörige Wissensbestände) in der DDR-Bevölkerung sukzessive verschwanden. Das teils drakonische Vorgehen gegen Wahrsager, Spiritisten, Astrologen etc. kann dabei im Kontext der tiefgreifenden politischen ‚Umstrukturierungsmaßnahmen‘ der Staatsführung der frühen DDR gesehen werden, welche zum Ziel der Entwicklung des Sozialismus drastische Eingriffe in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur vorsahen und abweichendes Verhalten massiv kriminalisierten. Ab Mitte der 1960er Jahre schien das Ziel, dem Aberglauben in der sozialistischen Gesellschaft den Nährboden zu entziehen, weitestgehend erreicht. Jedenfalls finden sich in den Akten der Sicherheitsbehörden kaum noch Hinweise auf Überwachungs- und Repressionsmaßnahmen im Zusammenhang mit den entsprechenden Themen. Die ‚Reste‘ okkulter Aktivitäten fanden, wenn überhaupt, nur noch sehr verborgen statt, drangen aus dem privaten Lebensbereich nicht heraus und stellten für Polizei und MfS kein relevantes Sicherheitsproblem dar. Zwar dokumentieren mehrere MfS-Akten eine gelegentliche Beschäftigung mit Themen wie Parapsychologie, UFOs etc., diese erfolgte jedoch nicht im Rahmen einer behördlich festgelegten Zuständigkeit im Sinne einer speziell für diese Themenbereiche verantwortlichen Abteilung, eines Referats oder auch nur einer verantwortlichen Einzelperson. Vielmehr handelte es sich bei entsprechenden Vorgängen um anlassbezogene Einzelfälle, bei denen bestimmte Akteure aufgrund verschiedener verdächtiger Aktivitäten wie z.B. Kontakte ins ‚nichtsozialistische Ausland‘ oder die ‚Verbreitung von Westliteratur‘ ins Visier des MfS gerieten. Die ‚okkulten Aktivitäten‘ jener Akteure dienten dem MfS in diesen Fällen meist als zusätzliche Legitimation für Überwachungs- und Repressionsmaßnahmen im Zusammenhang mit ‚staatsfeindlichem Handeln‘, standen bei den entsprechenden Ermittlungen jedoch nicht im Vordergrund. Kurzum: Das MfS hatte kein genuines Interesse an Themen aus dem Bereich des Paranormalen und befasste sich, wenn überhaupt, nur nebenbei mit diesem Themenfeld, da es in Bezug auf Fragen der staatlichen Sicherheit als marginal galt. Der als marginal empfundenen Bedeutung des Paranormalen in der DDR-Bevölkerung ab Mitte der 1960er Jahre stand allerdings eine bemerkenswerte Vehemenz und Kontinuität des öffentlichen Diskurses in Bezug auf jene Themen gegenüber: Die Delegitimierung von

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Parapsychologie, Okkultismus und ähnlichen Themen, ihre Diskreditierung und politische Instrumentalisierung im Kontext eines einheitlichen Deutungsmusters können als institutionalisierte Handlungsform bezeichnet werden. Der staatlich betriebene Abwehrkampf gegen den Aberglauben manifestierte sich schließlich auch im Rahmen von Druckgenehmigungsverfahren, dem Giftschrank-System und Zollbestimmungen, die in Kombination ein äußerst wirksames Instrumentarium zur Kontrolle und Zensur von Informationen waren und positive Darstellungen in Bezug auf Themen aus dem Bereich des Paranormalen systematisch verhinderten. Die dargestellten institutionellen Handlungsweisen in Bezug auf das Paranormale folgten letztlich allesamt der politisch-ideologischen Bewertung dieses Themenbereiches, wie sie im szientistisch geprägten öffentlichen Diskurs der DDR vorzufinden ist. Anders ausgedrückt: Die institutionalisierten Maßnahmen gegen den Aberglauben setzten den diskursiven Abwehrkampf gegen alles ‚Irrationale‘ mit anderen Mitteln fort. Allerdings gibt es auch Ausnahmen: Der staatliche Umgang mit alternativen Heilverfahren in der DDR folgte keinem einheitlichen Schema. Sowohl das Heilpratikerweisen als auch die Homöopathie waren durch gesetzliche Regelungen praktisch zum Absterben verurteilt. Eine völlig andere Umgangsweise zeigt sich allerdings im Umgang mit Yoga und Akkupunktur. Auch diese Themen wurden im öffentlichen Diskurs zwar immer wieder dem Bereich des Aberglaubens und Irrationalismus zugeordnet, doch Yoga wurde in der Endphase der DDR zumindest geduldet und im öffentlichen Diskurs teilweise positiv bewertet, die Akkupunktur als kostengünstige und teilweise durchaus wirksame (wenn auch wissenschaftlich nicht unbedingt nachgewiesene) Therapiemethode sogar offiziell anerkannt und staatlich gefördert. Dies bedeutet, dass entgegen der sonstigen institutionellen Regelungen und diskursiven Praxis, sämtliche im weitesten Sinne paranormalen Glaubens-, Erfahrungs- und Praxisformen unterschiedslos als ‚Aberglaube‘, ‚Irrationalismus‘ und ‚Mystizismus‘ zu bezeichnen und entsprechend abzulehnen, im Bereich alternativer Behandlungsmethoden durchaus eine Differenzierung erfolgte. Dabei spielten neben politisch-ideologischen Bewertungskriterien auch pragmatische Überlegungen eine Rolle.

Okkulter Untergrund?

Die Befunde dieser Studie belegen für die gesamte DDR-Zeit das Vorhandensein diverser okkulter Praktiken, paranormaler Erfahrungen und Akteure auf diesem Gebiet: Wünschelrutengänger, Wahrsager, Astrologen, Wunderheiler, Gläserrücken, Pendeln, UFO-

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Beobachtungen, Nahtoderfahrungen und etliches mehr gab es auch in der DDR – ebenso eine gewisse Nachfrage nach entsprechender Literatur. Gleichwohl darf nicht übersehen werden, dass okkulte Themen und Praktiken nur noch höchst verborgen existierten und ihre Verbreitung alles andere als hoch war – bezogen auf die Gesamtbevölkerung, aber auch auf andere weltanschaulich abweichende Überzeugungs- und Praxisformen. Insgesamt kann von einem zahlenmäßig ins Gewicht fallenden okkulten Untergrund oder von einer zumindest teilweise zusammenhängenden, vernetzen okkulten Szene, die sich (in welcher Weise auch immer) mit paranormalen Themen beschäftigte, spätestens ab Mitte der 1960er Jahre (also nach den teilweise umfangreichen Repressionsmaßnahmen gegen Einzelpersonen und Personengruppen im Zusammenhang mit entsprechenden Themen und Praktiken) nicht (mehr) die Rede sein. Dies scheint zunächst dem empirischen Befund zu widersprechen, dass sowohl der Glaube an Paranormales als auch das Auftreten entsprechender Erfahrungen in der ostdeutschen Bevölkerung ähnlich häufig verbreitet waren wie in der westdeutschen – ganz im Gegensatz zu religiösen Überzeugungen, wo sich sehr deutliche Unterschiede zeigen. Eine mögliche Erklärung bietet die Tatsache, dass lebensweltliche Erfahrungen, Praktiken und Wissensbestände im Bereich des Paranormalen in der DDR letztlich keinerlei positive gesellschaftliche bzw. kulturelle Resonanz erzeugten bzw. erzeugen konnten, somit lediglich in äußerst individuellen und marginalisierten Formen vorkamen und gleichsam ‚folgenlos‘ blieben. Dies wiederum hängt im Wesentlichen mit zwei Ursachenkomplexen zusammen: (1) Gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen: Die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen in der DDR sorgten dafür, dass es so gut wie keine Möglichkeiten einer wie auch immer gearteten Institutionalisierung paranormaler Überzeugungssysteme und Praxisformen gab – weder in der offiziellen noch in der inoffiziellen Kultur. Vereine, Gesellschaften oder Interessensverbände im Zusammengang mit Themen aus dem Untersuchungsbereich, die in der BRD zu Hauf existierten und existieren, waren in der DDR undenkbar. Aufgrund der restriktiven Publikationsbestimmungen in der DDR gab es so gut wie keine Literatur zu Themen aus dem Bereich des Paranormalen, geschweige denn themenspezifische Zeitschriften, Magazine etc. ‚Okkulte Besteller‘, die es in der BRD und anderen westlichen Gesellschaften immer wieder gab, konnten in der DDR nicht erscheinen. Die Beschäftigung mit Paranormalem, außergewöhnliche Erfahrungen oder okkulte Praktiken spielten sich in der Regel in Form von voneinander unabhängigen Einzelfällen ab. Eine Vernetzung von Interessierten – und sei es lediglich anhand von Korrespondenzen – war, wie einige der dargelegten Fälle demonstrierten, nicht nur schwierig, sondern konnte durchaus riskant sein. Hinzu kommen die ‚Erfolge‘ der Aufklärungskampagnen im Sinne der

294 wissenschaftlichen Weltanschauung und der administrativen Regelungen im Kampf gegen den Aberglauben in der Frühphase der DDR und in der Folge das ‚Absterben‘ entsprechender Interessenten, Akteure, Tradierungswege und Überzeugungs- bzw. Glaubenssysteme. (2) Auswirkungen des szientistisch geprägten Diskurses: Der öffentliche Diskurs über das Paranormale in der DDR ist nicht nur durch ein einheitliches Deutungsmuster und – damit verbunden – durch einen Mangel an alternativen Deutungsangeboten gekennzeichnet, sondern entfaltete eine nicht zu unterschätzende Tiefenwirkung bis in die Lebenswelt der DDR- Bevölkerung hinein. Diese Tiefenwirkung offenbart sich – wie die dargelegten Beispiele aus dem Interviewmaterial eindrucksvoll belegen – an der Internalisierung szientistischer Denkrahmen, an den Anpassungsschwierigkeiten vieler Interviewter an die veränderten Diskursbedingungen in der BRD, in kommunikationssteuernden oder -unterbindenden Strukturen wie beispielsweise der geschützten Kommunikation, Mechanismen der Selbstzensur, Tabuisierungen oder gar in Form von handfesten Ängsten vor Pathologisierung. Die Machtwirkung des szientistischen Diskurses der DDR exkludierte den Bereich des Paranormalen auch in der Lebenswelt der DDR-Bevölkerung aus dem Bereich des ‚Normalen‘, ‚Rationalen‘, in legitimer Weise Sag- und Denkbaren. Insofern könnte in diesem Zusammenhang auch von einer erfolgreichen ‚Kolonialisierung‘ der DDR-Lebenswelt durch den szientistischen Diskurs gesprochen werden. Diese Umstände führten dazu, dass die lebensweltliche Beschäftigung mit dem Paranormalen oftmals keinerlei überindividuellen, intersubjektiven Formen annahm, somit lediglich ein verborgenes Interesse oder Glaubens- bzw. Überzeugungssystem Einzelner blieb und sich keine ‚okkulten Szenen‘, Subkulturen oder Ähnliches bildeten. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass statt einem ‚okkulten Untergrund‘ vielmehr verstreute kleine ‚okkulte Flecken‘ gefunden wurden, die nicht miteinander verbunden waren und damit letztlich eine Randerscheinung bildeten. Um ein anderes Bild zu bemühen: Im Schatten des Szientismus gediehen oder überlebten nur sehr wenige ‚okkulte Pflänzchen‘. Das Paranormale in der DDR kann daher als Beispiel für eine erfolgreich marginalisierte Heterodoxie gelten, die am Ende so gut wie keine gesellschaftliche oder kulturelle Relevanz mehr besaß. Die gesellschaftspolitischen und diskursiven Rahmenbedingungen sorgten darüber hinaus dafür, dass das Paranormale als Feld abweichender Erfahrungen, Praktiken und Wissensbestände so gut wie keine historisch verwertbaren Spuren hinterließ, was seine nachträgliche Rekonstruktion und Beurteilung umso schwieriger macht.

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Exkurs: Sowjetische Parapsychologie?

Über die eigentlichen Forschungsfragen hinaus ergab sich im Rahmen der vorliegenden Studie der interessante Befund, dass sich der Umgang innerhalb der DDR mit dem Themenbereich des Paranormalen nicht ohne weiteres auf andere sozialistische Länder übertragen lässt. So gab es beim ‚großen Bruder‘ Sowjetunion praktisch zu allen Zeiten durchaus in nennenswertem Ausmaß staatlich geförderte parapsychologische Forschung – oftmals unter der Bezeichnung ‚Psychotronik‘ (vgl. etwa Menzel 2016, Kernbach 2013, Ebon 1977, Werthmann 1971). Bis Anfang der 1960er Jahre fand diese weitgehend unter Geheimhaltungsbedingungen statt, was nicht verwundert, da es hierbei auch um die Frage ging, inwieweit sich Erkenntnisse aus parapsychologischer Forschung militärisch, geheimdienstlich und politisch nutzen lassen könnten (vgl. hierzu May, Rubel & Auerbach 2014). Mit dem Ende der Stalin-Ära änderten sich nach und nach die Rahmenbedingungen für die Wissenschaft und das öffentliche Leben in der UdSSR. Dies betraf auch die Parapsychologie: Nach einer Phase der geheimen Forschungen auf parapsychologischem Gebiet findet sich ab den 1960er Jahren eine ganze Reihe von Veröffentlichungen, in denen über Aspekte paranormaler Phänomene und deren Erforschung diskutiert wird. Einen Überblick über diverse Publikationen zu grenzwissenschaftlichen Themen in der UdSSR bietet die Bibliografie von Naumov und Vilenskaya (1981), in der über 700 themenbezogene Titel aufgeführt sind. Zu betonen ist in diesem Zusammenhang, dass in entsprechenden Veröffentlichungen sowohl Befürworter als auch Kritiker parapsychologischer Forschung zu Wort kommen und es damit zumindest in Teilen einen kontroversen Diskurs zu parapsychologischen Themen gab. Auch in der Bevölkerung scheinen grenzwissenschaftliche und paranormale Themen in der Zeit nach Stalin einen Bedeutungszuwachs erfahren zu haben. Birgit Menzel kennzeichnet die Phase nach der Stalin-Ära als eine bewusste Abwendung vom „atheistic cult of the rational“ und spricht gar von einer „occulture“ in der Sowjetunion (Menzel 2012: 151). Von besonderem Interesse im Hinblick auf die Frage nach dem Umgang mit paranormalen Themen in der Sowjetunion ist der bereits erwähnte Aufsatz der sowjetischen Psychologen Sintschenko et al. aus dem Jahr 1974 mit dem Titel Parapsychologie – Fiktion oder Realität, auf Deutsch erschienen in der Zeitschrift Sowjetwissenschaft – Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge. Anlass für den Artikel, der den Autoren zufolge die „Haltung der Psychologen der UdSSR zur Parapsychologie“ (S. 55) zum Ausdruck bringt, war unter anderem das Erscheinen des bereits beschriebenen Bandes PSI von Sheila Ostrander und Lynn Schroeder,

296 in welchem eine umfängliche Parapsychologie-Forschung in der UdSSR und deren Überlegenheit gegenüber der westlichen Parapsychologie behauptet wird. Sintschenko et al. weisen dies als maßlose Übertreibung zurück und lehnen die Parapsychologie als eigenständige Forschungsdisziplin generell ab: „Für die Anerkennung der Parapsychologie als eine besondere Wissenschaft gibt es keinen besonderen Grund, denn das einzige, was die Parapsychologen verbindet, ist das Geheimnisvolle, das Rätselhafte der von ihnen untersuchten Phänomene.“ (S. 65) Interessanterweise unterstreichen die Autoren allerdings die Legitimität der Erforschung behaupteter parapsychologischer Phänomene, auch wenn sie der Auffassung sind, dass dafür kein eigenständiges Forschungsgebiet nötig sei. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass es an der Zeit sei, „die Forschung zu den realen Erscheinungen, die von der Parapsychologie beschrieben werden, in geregelte Bahnen zu lenken“ und dass „die Aufmerksamkeit“ solider wissenschaftlicher Organisationen für die von der Parapsychologie beschriebenen Phänomene dazu beitragen wird, ihr wirkliches Wesen aufzudecken und Scharlatanen den Boden zu entziehen.“ (S. 64. Hervorhebung A.A.) Damit würde auch „der Mythos von der Existenz einer ‚parapsychologischen Bewegung‘ in der UdSSR verschwinden“ (ebd.). Die Bewertung der Parapsychologie durch die Autoren ist also ambivalent: Sie erkennen die Parapsychologie zwar nicht als wissenschaftliche Disziplin an, halten parapsychologische Phänomene aber durchaus für real und erforschenswert. Nicht nur dadurch, sondern auch durch den überraschend unpolitischen und unideologischen Ton unterscheidet sich dieser Artikel sehr deutlich von der Stoßrichtung des öffentlichen Diskurses der DDR in Bezug auf paranormale Themen. Insgesamt, so lässt sich zusammenfassen, zeigt sich in der UdSSR eine völlig andere Umgangsweise mit Themen aus den Gebiet des Paranormalen. Mögliche Erklärungen für diesen Unterschied werden im nächsten Kapitel diskutiert.

8.2 Diskussion

Aus den dargelegten empirischen Befunden lassen sich Erkenntnisse im Hinblick auf die beiden übergeordneten Fragestellungen dieser Studie gewinnen: Es geht zum einen um die sozialgeschichtliche Einordnung des gewählten Themenbereichs des Paranormalen, wozu indirekt auch die Frage zählt, in welcher Weise sich das Paranormale in der DDR in heutigen Erinnerungsdiskursen über die DDR widerspiegelt. Zum anderen erlauben die Befunde Schlussfolgerungen in Bezug auf die wissenssoziologische Frage nach dem Umgang mit dem Paranormalen als Beispiel für eine gesellschaftliche Heterodoxie innerhalb einer Gesellschaft 297 mit einer strikten Wirklichkeitsordnung. Dessen ungeachtet werfen die empirischen Befunde im Rahmen dieser Untersuchung weitergehende Fragen auf, die im Folgenden ebenfalls diskutiert werden:

(1) War die leidlich erfolgreiche Marginalisierung des Paranormalen in der DDR tatsächlich hauptsächlich ein Effekt gesellschaftspolitischer Maßnahmen oder müssen zu ihrer Erklärung weitere Faktoren hinzu gezogen werden?

(2) Wie genau lässt sich das Verhältnis des Paranormalen zu dem Feld religiöser Überzeugungen bestimmen? Gehören diese beiden Bereiche nicht nur in der Logik des öffentlichen Diskurses als unterschiedliche Formen des ‚Irrationalismus‘, sondern auch in ihren lebensweltlichen Ausprägungen inhaltlich zusammen oder definieren sie voneinander zu trennende Sphären mit unterschiedlichen Charakteristika?

(3) Wie lässt es sich erklären, dass in der UdSSR das Paranormale in verschiedenen (und teilweise auch institutionalisierten Formen) eine mehr oder minder konstante Erscheinung war, während jener Bereich in der DDR vollständig abgelehnt wurde und eine akademische parapsychologische Forschung geradezu undenkbar war?

Das Paranormale zwischen Durchherrschung und Eigen-Sinn

Das Paranormale als Feld abweichender Überzeugungen, Erfahrungen und Praxisformen in der DDR verweist auf das komplexe Wechselverhältnis zwischen einer Herrschaftspraxis mit umfassenden Geltungsansprüchen einerseits und widerständigem Verhalten in der Bevölkerung andererseits. Seine konkreten Erscheinungsformen lassen sich weder mittels einer totalitarismustheoretischen Perspektive noch mit Ansätzen der Struktur- bzw. Alltagsgeschichte befriedigend erfassen, die nonkonformes, herrschaftsabgewandtes, widerständiges Verhalten in den Fokus ihrer Analyse rücken. Auf den ersten Blick scheint das Paranormale in der DDR durchaus eine gesellschaftliche Teilzone zu beschreiben, die sich leidlich erfolgreich der Herrschaftslogik und der geltenden Wirklichkeitsbestimmung widersetzte: Hier finden sich abweichende Wirklichkeitskonzepte, nonkonforme Verhaltensweisen, informelle Gruppenbildungen, alternative Denk- und Deutungsmuster, eigensinnige und -willige Selbstbilder sowie verbotene oder zumindest unerwünschte Praxisformen. Die Machtausübung und die Geltungsansprüche der SED stießen hier in ihrer Reichweite scheinbar auf Grenzen. Das Durchherrschungsprogramm der DDR-Staatsführung, welches die Gesellschaft als ‚Objekt und Ziel‘ ansah, scheiterte auch im Bereich des 298

Paranormalen an eigen-sinnigen Subjekten, die die Herrschaftsansprüche und politisch- ideologischen Vorgaben nicht passiv hinnahmen, sondern eben nur teilweise oder gar nicht akzeptierten. Bei näherem Hinsehen eignet sich das Exempel des Paranormalen aber gerade nicht, um eindeutige Grenzen der Herrschaft in der DDR-Gesellschaft zu definieren: Betrachtet man zunächst die unmittelbaren Auswirkungen der gesellschaftspolitischen Steuerungs- und Formierungsprogramme der Staatsführung der DDR in Bezug auf das Paranormale, zeigen sich hier eine hohe Wirksamkeit und erhebliche Effekte der entsprechenden Maßnahmen. Besonders deutlich wird dies bei einem direkten Vergleich mit der Situation in der BRD: Während das Paranormale in der BRD durchaus eine gewisse gesellschaftliche und kulturelle Resonanz und Relevanz erreichte, war es in der DDR spätestens ab Mitte der 1960er Jahre praktisch bedeutungslos. Das Paranormale in der DDR war, in den Worten Sigrid Meuschels (1992, 1993) ausgedrückt, tatsächlich weitestgehend ‚abgestorben‘ und ‚sillgelegt‘. Sofern in der DDR überhaupt eine wie auch immer geartete Beschäftigung mit dem Paranormalen erfolgte, war diese letztlich immer auf die Herrschaftsausübung des politischen Systems bezogen, von dieser geprägt, begrenzt und bestimmt. Die empirischen Befunde aus den qualitativen Interviews, die für diese Studie durchgeführt wurden, belegen die Durchdringungstiefe der weltanschaulichen Vorgaben der DDR-Staats- und Parteiführung in Bezug auf den Bereich des Paranormalen. Zwar determinierte die staatlich propagierte Haltung in Bezug auf das Paranormale den Umgang der DDR-Bevölkerung nicht in Gänze, als unumgängliche Bezugsgröße war sie jedoch bis tief in die Lebenswelt präsent; sie bildete gleichsam den Rahmen, in welchem überhaupt eine Auseinandersetzung mit dem Paranormalen möglich war. Im Hinblick auf Christiane Lemkes These der ‚Doppelkultur‘ (Lemke 1991) der DDR kann der Bereich des Paranormalen durchaus als Bestandteil einer inoffiziellen Sphäre abweichender Überzeugungen identifiziert werden. Seine Bedeutung muss jedoch aufgrund der Marginalität der entsprechenden Themen als (äußerst) gering eingestuft werden. Dennoch birgt das Feld des Paranormalen im Sinne von Detlef Pollacks (1998) Konzept der konstitutiven Widersprüchlichkeit der DDR durchaus das Potenzial für eine weitere gesellschaftliche Spannungslinie, da hier die offizielle Wirklichkeitsbestimmung dauerhaft mit individuellen Lebenswirklichkeiten im Konflikt stand. Die gesellschaftspolitische Sprengkraft dieser Spannungslinie muss jedoch – vor allem im Vergleich zu anderen von Pollack identifizierten ‚Bruchlinien‘ der DDR-Gesellschaft – als vernachlässigbar gelten. Gleichwohl liefert sie einen weiteren Beleg für die von Jarausch (1999) konstatierte, in vielen

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Bereichen der DDR-Bevölkerung vorzufindende „Spaltung des Bewusstseins zwischen offizieller Rhetorik und privaten Meinungen“ (S. 11). Alles in allem weist das Feld des Paranormalen in der DDR-Gesellschaft eine dialektische Verschränkung von Herrschaft und Kontrolle, Anpassung und Widerstand auf, die jedoch insgesamt in Richtung einer erheblichen Durchdringungsmacht und -tiefe der offiziellen Wirklichkeitsbestimmung bis in die ‚untersten Ebenen‘ der Lebenswelt hinein weist. Vom Ergebnis her kann man in Bezug auf das Paranormale in der DDR durchaus von einer mehr oder minder erfolgreichen ‚Auslöschung‘ sprechen. Diese wiederrum kann, je nach gesellschaftspolitischem Standpunkt, als legitime Weiterführung und Umsetzung des Aufklärungsgedankens der Moderne oder als zwanghafte Durchsetzung der dogmatischen Wirklichkeitsbestimmung eines ‚real existierenden Sozialismus‘ interpretiert werden.

Das Paranormale im sozialen Gedächtnis

Im Hinblick auf die Frage, in welcher Weise sich eine in der DDR-Gesellschaft derart verborgene ‚Schattenzone‘ in heutigen DDR-Erinnerungsdiskursen wiederspiegelt, ist zunächst auf die Besonderheit zu verweisen, dass das Paranormale nicht nur in der DDR ein höchst negativ besetztes Thema war, sondern auch im wiedervereinigten Deutschland eine gesellschaftliche Heterodoxie bildet und Marginalisierungsprozessen und Ausgrenzungsdiskursen unterworfen ist (vgl. z.B. Schetsche 2013), die zwar nicht zwingend persönliche Erinnerungen beeinträchtigen, aber zumindest die Entstehung eines themenspezifischen kulturellen Gedächtnisses erschweren. Vor diesem Hintergrund mag es kaum verwundern, dass der Bereich des Paranormalen innerhalb der DDR- Erinnerungsdiskurse weitgehend ausgespart bleibt. Im Gegensatz zu anderen (politischen, religiösen und kulturellen) Heterodoxien in der DDR, die ins Zentrum der nach dem Zusammenbruch der DDR gleichsam ideologisch verordneten Erinnerungskultur des wiedervereinigten Deutschlands gerückt sind, bildet die Heterodoxie des Paranormalen eine Leerstelle im kulturellen DDR-Gedächtnis. Geändert haben sich lediglich (und dies auch nur zu einem Teil) die diskursiven Strategien, mittels derer sie aus dem legitimen Themenspektrum der jeweiligen Leitkultur ausgeklammert werden. Dieser Umstand verweist auf ein grundsätzliches methodisches Problem historischer Sozialforschung: Die Rekonstruktion historischer Wissens- und Erfahrungsfelder hängt letztlich nicht nur von der Wirklichkeitsordnung der untersuchten vergangenen Gesellschaft ab, sondern auch von jener der gegenwärtigen Gesellschaft.

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Für die Träger von Erinnerungen an das Paranormale in der DDR bedeutet dies, dass das ‚kulturelle Urteil‘ über die konkreten Inhalte ihrer Erinnerungen letztlich bestehen bleibt, wenn auch unter geänderten Rahmenbedingungen. Dies führt, was ihm Rahmen dieser Studie teilweise deutlich zu spüren war, auch heute noch zu gewissen ‚Kommunikationshemmungen‘ in Bezug auf paranormale Erfahrungen, Praktiken etc. in der DDR, weshalb der Bereich des Paranormalen in der DDR im Allgemeinen im Hinblick auf Sabrows (2009b) Unterscheidung verschiedener Formen der kollektiven Erinnerungen weder deutlich sichtbarer Bestandteil des Diktaturgedächtnisses noch des Arrangementgedächtnisses werden konnte. In anderen Worten: So wie der Bereich des Paranormalen in der DDR-Gesellschaft nur im Schatten der offiziellen Wirklichkeitsbestimmung existierte, existiert er heute lediglich im Schatten der kollektiven Erinnerung an die DDR und bleibt damit im wahrsten Sinne des Wortes ‚okkult‘. Eine Konsequenz dieser mangelnden Motivation des Sich-Erinnerns auf diesem Gebiet ist, dass eine wissenschaftliche Rekonstruktion der entsprechenden Erfahrungen und Überzeugungssysteme stärker auf Zufallsfunde und Zufallsbegegnungen angewiesen ist als es in der zeitgeschichtlichen Forschung üblicherweise der Fall ist. All dies gilt jedoch nicht für Erinnerungsträger, die zu Zeiten der DDR mit der weltanschaulich begründeten Ablehnung des Paranormalen konform gingen. Hier zeigen sich teilweise sehr klare Erinnerungen an den gesellschaftlichen Umgang mit den entsprechenden Themen, der auch heute noch zustimmend kommentiert wird und oftmals mit der Vorstellung einer weltanschaulichen Überlegenheit der DDR in Sachen Rationalismus und Aufklärung verbunden ist. Aus jener Sichtweise, die im Sinne Sabrows dem Fortschrittsgedächtnis zugeordnet werden kann, stellt der heutige Umgang mit paranormalen Themen im Vergleich zur DDR, in der es derartigen Aberglauben (glücklicherweise) nicht gegeben hätte, einen deutlichen Rückschritt dar. Als Exempel für diese Sichtweise kann der bereits zitierte Kommentar von Eberhard Aurich (bis 1989 Mitglied im Zentralkomitee der SED und 1. Sekretär des Zentralrates der FDJ) zu einem Aufsatz des Medizinhistorikers Florian Mildenberger über die Zusammenarbeit Otto Prokops mit dem MfS in der Zeitschrift für Anomalistk gelten. Aurich schreibt: „Im Off des Artikels geht es um eine Auseinandersetzung zwischen Prof. Otto Prokop, dem weltweit anerkannten Chef der Gerichtsmedizin in Ost-Berlin, und Prof. Hans Bender, dem Nestor der bundesrepublikanischen parapsychologischen Forschung. In ihr ging es wohl letztlich darum, zu verhindern, dass parapsychologisch beeinflusste Gutachten, nach Meinung Prokops höchst unwissenschaftliche Verfahren wie Hellseherei, Telepathie, parapsychologische Tests, Okkultismus, Einfluss auf das deutsche Gerichtswesen in Ost und vor allem in West erlangen. Dieser Streit ist seit langem zugunsten Prokops und seiner Mitstreiter entschieden. Seit 1978 sind 301

Parapsychologen durch ein Urteil des BGH von der Gutachtertätigkeit vor bundesdeutschen Gerichten ausgeschlossen (in der DDR waren sie niemals zugelassen). […] Nicht unerwähnt bleiben darf in diesem Zusammenhang auch, dass zu Beginn der 1960er Jahre in der Bundesrepublik verstärkt auch Auffassungen publiziert wurden, die versuchten, den ganzen Hitlerfaschismus parapsychologisch zu deuten, um so von den gesellschaftlichen Ursachen der Nazi-Zeit abzulenken. […] Etwas böse kann man sagen, dass diese Kooperation [zwischen Prokop und dem MfS] offensichtlich dazu beigetragen hat, dass heute vor bundesdeutschen Gerichten keine Hellseher, Telepathen und andere Geister als Gutachter und Zeugen mehr gehört werden. Daran wird hoffentlich auch ein Frankfurter Professor nichts mehr ändern können, selbst wenn er es wollte.“ (Aurich 2013: 87ff.) Ein weiteres Beispiel stammt aus einem Leserbrief eines ehemaligen DDR-Bürgers, welcher in der Zeitschrift Skeptiker als Reaktion auf einen kurzen Artikel über die vorliegende Studie veröffentlicht wurde. Hier heißt es: „Es gibt keinen Wissenschaftler, der ernsthaft behauptet, Astrologie wäre eine Wissenschaft. Aber Tag für Tag steht in der Tageszeitung mein ganz persönliches Horoskop und das für alle anderen Leser natürlich auch. Das ist nur ein marginaler Teil der systematischen Verblödung der Gesellschaft. Der Artikel untersucht also eine im DDR-Alltag banale Randerscheinung ohne jegliche gesellschaftliche Relevanz. Es soll von einem tatsächlich wichtigen Thema abgelenkt werden: dem Okkultismus etc. in der Bundesrepublik. Was ist dagegen einzuwenden, wenn ein Staat versucht, seine Bürger vor Okkultismus, Esoterik und dergleichen zu schützen? Zur grundlegenden Verpflichtung des Staates gehört aus meiner Sicht die Aufklärung seiner Bürger. Davon sind wir heute weiter denn je entfernt!“ (Fischer 2015: 102) Derartige Überzeugungen spiegeln die offizielle Haltung der DDR zu paranormalen Themen wider, nach der die DDR zumindest in dieser Hinsicht der fortschrittlichere, da aufgeklärtere und rationalere Staat war. Alles in allem kann die kollektive Erinnerung an den Themenbereich des Paranormalen in der DDR als eine Art negativer Erinnerungsdiskurs gekennzeichnet werden: Die kulturelle und gesellschaftliche Verdrängung des Paranormalen innerhalb der DDR wirkt auch heute unter veränderten Bedingungen fort, sei in Form nicht thematisierter paranormaler Erfahrungen und Überzeugungen oder als Erinnerung an die als legitim und fortschrittlich erachtete Ausgrenzung des Aberglaubens in der DDR-Gesellschaft. Immerhin hat dies in theoretischer Hinsicht zum dem Erkenntnisgewinn geführt, dass es so etwas wie ‚negative Erinnerungen’ zu geben scheint, eine spezielle Form von kulturellem Nichtwissen und individuellem Ausblenden, dem aber aus methodologischen Gründen empirisch nur schwer auf die Spur zu kommen ist (vgl. Anton, Schmied-Knittel, Schetsche 2017).

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Heterodoxien in Gesellschaften mit strikter Wirklichkeitsordnung

Von einer wissenssoziologischen Warte aus betrachtet verweist der Bereich des Paranormalen in der DDR zunächst auf ein wesentliches Merkmal der DDR-Gesellschaft: Im Vergleich zu pluralistisch orientierten Gesellschaften zeichnete sich die DDR-Gesellschaft durch eine sehr strikte Wirklichkeitsordnung aus. Diese Wirklichkeitsordnung war von einer in sich geschlossenen Weltanschauung bestimmt, die einen umfassenden Welterklärungsanspruch formulierte und gleichermaßen eindeutig wie generell festlegte, was als ‚wahr‘ und was als ‚unwahr‘ zu gelten hat. Derartige Denkgebäude existieren freilich auch in pluralistischen Gesellschaften, der Unterschied besteht jedoch darin, dass sie dort Teil eines heterogenen, dezentral organisierten Diskurses sind, in dem Kämpfe um Wahrheitsbestimmungen und Deutungsmacht ausgefochten werden, während die Deutungshoheit der Wirklichkeitsbestimmung innerhalb der DDR institutionell abgesichert war, rigoros durchgesetzt wurde und so gut wie keine Abweichungen oder Ambivalenzen duldete. Kurzum: Während es in pluralistischen Gesellschaften eine Konkurrenz um Wirklichkeitsbestimmungen gibt, war die DDR-Gesellschaft durch die Hegemonie einer spezifischen Wirklichkeitsbestimmung charakterisiert – den Marxismus-Leninismus und die dazugehörige wissenschaftliche Weltanschauung. Dieses Verhältnis bestimmte auch den Umgang mit Heterodoxien: Während Heterodoxien in pluralistischen Gesellschaften im Sinne einer gewissen Meinungsfreiheit und -vielfalt zum kulturellen Selbstverständnis zählen, war in der DDR in einer Art ‚Grenzmanagement‘ der Umgang mit Heterodoxien verschiedener Art dezidiert geregelt, eindeutige Zuständigkeiten von Instanzen sozialer Kontrolle sowie Art und Umfang staatlicher Bekämpfungsmaßnahmen festgelegt. Dass dogmatische Wirklichkeitsbestimmungen nach Möglichkeiten der institutionellen Absicherung und Durchsetzung ihrer Ansprüche suchen, liegt, so Berger und Luckmann, gewissermaßen in der ‚Natur der Sache‘. Sie schreiben: „Die zuständigen Theoretiker müssen abstrakt argumentieren, statt sich praktisch zu bewähren. Theoretische Argumentation hat aber nicht die Überzeugungskraft des praktischen Erfolges. Was den einen überzeugt, kann den anderen ganz kalt lassen. Wer wollte es den Theoretikern ernstlich übelnehmen, wenn sie sich nach kräftiger Unterstützung umsehen, als die Zerbrechlichkeit des bloßen Arguments sie zu geben vermag: wenn sie also zum Beispiel versuchen, die bewaffnete Macht des Staates zur Verteidigung einer Theorie gegen ihre Nebenbuhler einzusetzen. Mit anderen Worten: die Bestimmung der Wirklichkeit kann durch Polizei erhärtet werden. Das muß übrigens nicht bedeuten, daß die Wirklichkeitsbestimmungen selbst weniger überzeugend wären als die ‚freiwillig‘ akzeptierten. Macht in der Gesellschaft schließt die Macht ein, über Sozialisationsprozesse zur verfügen und damit die

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Macht, Wirklichkeit zu setzen.“ (Berger & Luckmann 2004: 128. Hervorhebung wie im Original) Dies liest sich beinahe wie eine Beschreibung der Verhältnisse in der DDR. Hier wurden zur Durchsetzung, Stabilisierung und Absicherung der orthodoxen Wirklichkeitsbestimmung umfangreiche institutionelle Regelungen in Form von konkreten Verboten und Strafen getroffen und darüber hinaus ein umfassendes System der Kontrolle des in der Gesellschaft zirkulierenden Wissens etabliert. Langfristiges Ziel war hierbei letztlich eine Gesellschaft ohne Heterodoxien.80 Die genannten Rahmenbedingungen der DDR-Wirklichkeitsordnung spiegeln sich in der Struktur des öffentlichen Diskurses wider, welcher als weitestgehend homogenisiert bezeichnet werden kann. Will heißen: In der Regel existierten keine konkurrierenden Deutungsmuster, Argumentationslinien und Meinungen, sondern einheitliche, staatlich vorgegebene Haltungen. Dies bedeutet freilich nicht, dass im öffentlichen Diskurs der DDR nicht auf Heterodoxien Bezug genommen wurde. Ganz im Gegenteil: Ein nicht unwesentlicher Teil der Inhalte des öffentlichen Diskurses bestand aus Abgrenzungen, Delegitimierungen, Problematisierungen, Diskreditierungen etc. von Themen, die von der geltenden Weltanschauung abwichen. Diese negativen Bezugnahmen stellten einen westlichen Teil des diskursiv vermittelten Identifikationsangebotes der DDR-Meta-Erzählung dar. Allerdings waren diese Bezugnahmen auf Heterodoxien im öffentlichen Diskurs der DDR ausschließlich monodirektional, d.h. auf sie wurde (in negativer Weise) zwar immer wieder verwiesen, es gab im öffentlichen Diskurs aber keinerlei Möglichkeiten der Eigendarstellung heterodoxer Glaubens- und Wissenssysteme. Das hier gewählte Exempel des Paranormalen in der DDR dokumentiert eine weitestgehend erfolgreiche Marginalisierung einer Heterodoxie innerhalb einer strikten Wirklichkeitsordnung. Die institutionellen und diskursiven Bedingungen der DDR- Gesellschaft haben dazu beigetragen, dass paranormale Wissen-, Erfahrungs- und Praxisformen keinerlei gesellschaftliche bzw. kulturelle Relevanz erlangen konnten und damit mehr oder minder verschwanden. Damit ist nicht gemeint, dass das Paranormale in der DDR als Heterodoxie nicht existent war. Es bestand beispielsweise in Form von vereinzelten esoterischen Überzeugungssystemen, okkulten Praktiken, paranormalen Erfahrungen etc., die mit der vorherrschenden Wirklichkeitsbestimmung nicht vereinbar waren. Diese Formen der

80 Die Verwirklichung dieses gesellschaftspolitischen Ziels würde dabei die wissenssoziologisch interessante Frage aufwerfen, ob man in einer Gesellschaft ohne Heterodoxien überhaupt noch von einer ‚Orthodoxie‘ sprechen könnte, da in der wissenssoziologischen Bestimmung des Begriffs Orthodoxie das Vorhandensein abweichender Wirklichkeitsvorstellungen gleichsam per definitionem vorausgesetzt wird. 304

Abweichung bildeten jedoch gleichsam eine Heterodoxie ohne Infrastruktur. Gemeint ist damit das nahezu vollständige Fehlen von Möglichkeiten der Institutionalisierung, Vergemeinschaftung, Kommunikation, Publikation, Kommerzialisierung etc. paranormaler Themen sowohl innerhalb als auch außerhalb dieses heterodoxen Feldes, wodurch es weitestgehend ohne gesellschaftliches Wirkungspotenzial blieb. Der relativen Bedeutungslosigkeit des Paranormalen in der DDR-Gesellschaft spätestens ab Mitte der 1960er Jahre steht der über die gesamte Zeit der Existenz der DDR verlaufende Abwehrdiskurs gegen das Paranormale gegenüber. Dies erscheint auf den ersten Blick paradox, da ein solcher Abwehrdiskurs angesichts der gesellschaftlichen Irrelevanz des Paranormalen seine Funktion erfüllt hatte und damit überflüssig erscheint. Erklärt werden kann dies, wie bereits dargelegt, durch den Umstand, dass sich paranormale Themen, auch wenn deren Bedeutung in der DDR-Gesellschaft vernachlässigbar geworden war, für Propaganda gegen westlich-kapitalistische Gesellschaften eigneten und daher dauerhaft im öffentlichen Diskurs der DDR auftauchten. Darüber hinaus weist die Kontinuität des Abwehrdiskurses gegen das Paranormale in der DDR auf eine gewisse institutionelle Verselbständigung des Kampfes gegen den Aberglauben hin; diskursive Maßnahmen wurden auch dann noch ergriffen, als die anfänglich konstatierte Häresie faktisch und empirisch schon bedeutungslos war. Insgesamt belegt das Beispiel des Paranormalen in der DDR eindrucksvoll, dass auf Heterodoxien in strikten Wirklichkeitsordnungen generell ein wesentlich höherer diskursiver und insbesondere dispositiver ‚Druck‘ ausgeübt wird als auf Heterodoxien in pluralistischen Gesellschaften. Die geltende Wirklichkeitsordnung in der DDR war – und dies kann generell als Merkmal strikter Wirklichkeitsordnungen betrachtet werden – letztlich durch die gesamte Staatsmacht abgesichert. Für Heterodoxien unterschiedlicher Art hatte dies nicht nur zur Folge, dass sie im öffentlichen Diskurs keinerlei Raum für sich beanspruchen und sich auch in keiner Weise institutionalisieren konnten, sie mussten, gleichsam in einer Art ‚Überlebenskampf‘, verborgene, besonders geschützte, abgesicherte Formen und Strategien der Kommunikation und Organisation entwickeln, um durch das Netz staatlicher Bekämpfungsmaßnahmen zu fallen. Diese konnten von Unterwanderungspraktiken (wie beispielweisen dem Schmuggeln von Westliteratur und dem ‚heimlichen Lesen‘) über Geheimhaltungsgebote und konspirative Absprachen bis hin zu Mechanismen der Selbstzensur und des vordergründigen Einhaltens von Tabus reichen. Derartige Schutzmaßnahmen bezeugen gleichzeitig das teilweise hohe persönliche Risiko, dem sich

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Akteure heterodoxer Felder in Gesellschaften mit einer strikten Wirklichkeitsordnung aussetzen.

Ein szientistisches Dispositiv?

Unter den geschilderten gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen war in der DDR eine Institutionalisierung paranormaler Überzeugungen und Praxisformen so gut wie ausgeschlossen (vgl. Schmied-Knittel, Anton & Schetsche 2016). Die institutionalisierten Maßnahmen gegen den Aberglauben setzten dabei den diskursiven Abwehrkampf gegen alles ‚Irrationale‘ mit anderen Mitteln fort. Anders ausgedrückt: Zwischen den diskursiven und den institutionellen Maßnahmen gegen den Aberglauben bestand ein hohes Maß an Übereinstimmung. Die institutionellen Regelungen gegen das Paranormale waren dabei sowohl Effekt des öffentlichen Diskurses über entsprechende Themen als auch dessen Voraussetzung. Beide Bereiche, sowohl Diskurs als auch institutionelle Regelungen gegen das Paranormale, waren dabei in den in den umfassenden Versuch der Entwicklung einer sozialistischen Gesellschaft eingebettet, der seine Legitimation aus der sozialistischen und einer DDR-spezifischen Metaerzählung bezog. Der wichtigste Bezugspunkt bei der Beurteilung paranormaler Themen war die wissenschaftliche Weltanschauung als Element der marxistisch-leninistischen Ideologie. Angesichts der festen institutionellen Verankerung der wissenschaftlichen Weltanschauung in der DDR – beispielsweise im Bildungssystem, als gesellschaftspolitische Zielgröße der SED oder im Programm der Urania – lässt sich in diesem Zusammenhang von einem szientistischen Dispositiv in der DDR sprechen und der institutionell geführte Kampf gegen den Aberglauben als Teil dieses Dispositivs bestimmen. Sicher ist: Der szientistische Diskurs in der DDR alleine, also ohne ‚flankierende‘ institutionelle Maßnahmen, wäre nicht in der Lage gewesen, das Paranormale derart zu marginalisieren, wie es in der Realität erfolgte. Abstrakt auf den Punkt gebracht: Das szientistische Dispositiv der DDR manifestierte sich in Form von konkreten Objektivationen, welche in etlichen Zusammenhängen den Szientismus als Leitkategorie und -differenz für institutionelles und diskursives Deuten und Handeln prozessierten. Der Szientismus definierte in der DDR eben nicht nur ein Wirklichkeitsangebot, sondern durch seine institutionell abgesicherte Machtwirkung letztlich die einzige gesellschaftliche Wirklichkeitsmöglichkeit. Das szientistische Dispositiv als Kombination aus diskursiven und institutionellen Maßnahmen regelte eindeutig, was als wirklich zu gelten hatte und was nicht, was öffentlich sagbar und was unsagbar war, was

306 machbar und was nicht machbar war, welche Informationen zugänglich und welche versperrt waren, in welcher Weise über bestimmte Themen gedacht werden sollte und in welcher Weise über sie nicht gedacht werden durfte; es bestimmte und exekutierte Sanktionsmaßnahmen gegen ‚Abtrünnige‘ und bildete den Rahmen für konkrete, spezifische Subjektivierungsweisen, anderen Ende eine sozialistische und eben auch szientistische Persönlichkeit mit einem ‚rationalen‘ Welt- und Wirklichkeitsbezug stehen sollte. Das szientistische Dispositiv bezog sich dabei freilich nicht nur, aber eben auch auf den Bereich des Paranormalen, welcher, ebenso wie alle anderen ‚Irrationalismen‘, langfristig gänzlich aus der Gesellschaft verschwinden sollte.

Säkularisierung und soziale Trägerschichten

Die dargelegten gesellschaftspolitischen und diskursiven Bedingungen, die die Marginalisierung des Themenbereichs des Paranormalen in der DDR bewirkten, trafen grundsätzlich auch auf andere Formen der Abweichung in der DDR-Gesellschaft zu, die jedoch durchaus gesellschaftliche Relevanz erlangten oder behielten wie z.B. der Bereich politisch abweichender Meinungen. Daher muss gefragt werden, ob die leidlich erfolgreich verlaufende Aussonderung des Paranormalen aus der DDR-Gesellschaft ausschließlich das Ergebnis politisch-administrativer sowie diskursiver Maßnahmen der DDR-Führung war oder ob zusätzliche Aspekte eine Rolle spielten. In diesem Kontext soll auf drei mögliche Einflussfaktoren verwiesen werden: (1) Die Entzauberung der Welt: Okkulte, paranormale oder magische Themen werden in modernen Gesellschaften vor dem Hintergrund der spätestens mit der Aufklärung einsetzenden Prozesse der Rationalisierung, Säkularisierung und Verwissenschaftlichung unabhängig von der jeweils geltenden Wirklichkeitsordnung tendenziell immer als heterodox markiert und entsprechend marginalisiert. In seinem berühmten Vortrag Wissenschaft als Beruf aus dem Jahr 1917 beschrieb Max Weber diese Prozesse als fortschreitende „Entzauberung der Welt“: „Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: Die Entzauberung der Welt. Nicht mehr, wie der Wilde, für den es solche Mächte gab muss man

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zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern technische Mittel und Berechnung leisten das.“ (Weber 1994: 9)

Hans Bender sieht in ähnlicher Weise seit Beginn der Aufklärung einen „Verdrängungsprozess in bezug auf das Okkulte“, welcher lediglich in der Phase der Romantik eine kurze Unterbrechung erfahren habe: „Mit den Anfängen der Aufklärungsphilosophie (John Locke, 1632-1704) begann ein säkularer Verdrängungsprozess in bezug auf das Okkulte, der von der enthusiastischen Zuwendung der Romantik zu den ‚Nachtseiten der Natur‘ unterbrochen wurde, um dann von der Mitte des 19. Jahrhunderts an durch das Tabu der materialistischen Naturwissenschaft erneut zu wirken.“ (Bender 1971: 3) Neuere Forschungen weisen allerdings darauf hin, dass ‚das Okkulte‘ nicht lediglich als Gegenhorizont zur Aufklärung betrachtet werden kann, sondern dass Okkultismus und Wissenschaft historisch gesehen in einer dynamischen Wechselbeziehung standen, sich gegenseitig beeinflusst haben und daher keine scharf trennbaren Dimensionen darstellen (vgl. etwa Sziede & Zander 2014). Wichtig ist im Zusammenhang mit der Exkludierung des Paranormalen aus der DDR-Gesellschaft in Form des ‚Kampfes gegen den Aberglauben‘ aber vor allem, dass dieser Prozess kein Alleinstellungsmerkmal der DDR war, sondern wesentlicher Bestandteil eines übergeordneten säkularen Wissens- und Erkenntnissystems, welches sich historisch aus Implikationen der Aufklärung und des Humanismus speist, in sämtlichen modernen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts in verschiedener Weise umgesetzt wurde und im Anschluss an Michel Foucault als epistemische Ordnung81 bezeichnet werden kann. Die Wirklichkeitsordnung der DDR befand sich mit ihrer Bekämpfung des Aberglaubens aus einer Metaperspektive betrachtet also nicht in Opposition, sondern in Übereinstimmung mit den Wirklichkeitsordnungen anderer moderner Gesellschaften. Unterschiede zeigen sich allerdings in Bezug auf die Vehemenz und den Dogmatismus, mit denen der Abwehrkampf gegen alles ‚Irrationale‘ in der DDR geführt wurde. (2) Die säkulare Tradition Ostdeutschlands: Ein weiterer Aspekt besteht in der säkularen Tradition ostdeutscher Regionen. Ostdeutschland ist historisch betrachtet wesentlich stärker von Säkularisierungsprozessen geprägt als andere Regionen in Deutschland und zählt heute zu den Gebieten mit der niedrigsten Rate an Kirchenmitgliedschaften und dem höchsten Anteil

81 Nach dem Verständnis Michel Foucaults strukturieren epistemische Ordnungen bzw. Episteme das Wissen, die Erkenntnisweisen und die Wahrheitsbestimmungen jeweiliger Epochen. Als historisches Apriori stehen sie noch vor Diskursen und begründen diese. Es geht um fundamentale Codes wie Sprache, Wahrnehmungsschemata, Wahrheitskriterien, Normen etc., die die Möglichkeiten von Wissen und Erkennen determinieren. Foucault fragt: „Was aber, wenn empirisches Wissen zu einer gegebenen Zeit und innerhalb einer gegebenen Kultur wirklich eine wohldefinierte Regelmäßigkeit besäße? […] Wenn Irrtümer (und Wahrheiten) […] in einem gegebenen Augenblick den Gesetzen eines bestimmten Wissenscodes gehorchten?“ (Foucault 1974: 9f) 308 an Personen, die sich selbst als Atheisten bezeichnen (vgl. Wohlrab-Sahr, Karstein & Schmidt-Lux 2009: 13). Diese Tendenz setzte, folgt man Schmidt-Lux (2008a), bereits Mitte des 18. Jahrhunderts ein und bereitete gleichsam einen optimalen Nährboden für die forcierte Säkularisierung innerhalb der DDR: „Speziell die Regionen Sachsens, Thüringens und nicht zuletzt Berlin waren seit dem 19. Jahrhundert ein weltanschaulich besonders intensiv umkämpftes Gebiet, und, so meine These, diese Vorbedingungen trugen zum späteren Erfolg der anti-religiösen Politik und szientistisch-atheistischen Propaganda in der DDR bei.“ (S. 127). Demnach sind die Säkularisierungsprozesse in Ostdeutschland während der Existenzzeit der DDR nicht ausschließlich ein Resultat politischer Machtverhältnisse und gesellschaftspolitischer Steuerungs- und Formierungsmaßnahmen, sondern die SED konnte „positiv anschließen an Traditionen der Religionskritik und des Szientismus; sie konnte sich stützen auf desillusionierende Erfahrungen im Krieg und auf den Drang, nach dem Nationalsozialismus in der ‚neuen Gesellschaft‘ auch die eigene Biographie neu aufzubauen oder die Laufbahn der Kinder nicht zu behindern.“ (Wohlrab-Sahr, Karstein & Schmidt-Lux 2009) In der DDR existierte folglich ein in seiner Größenordnung nicht unerhebliches gesellschaftliches Milieu, in welchem Kirchen- und Religionskritik, Wissenschaftsoptimismus und eine generelle Orientierung an ‚Rationalität‘ ein fest verankertes und teilweise auch familiär tradiertes Überzeugungssystem bildeten. Es erscheint unmittelbar einleuchtend, dass diese sozialstrukturellen Rahmenbedingungen eine geeignete Voraussetzung für die erfolgreiche (fortlaufende) Säkularisierung der DDR-Bevölkerung im Hinblick auf religiöse Überzeugungssysteme bildeten. Schwieriger zu klären ist allerdings die Frage, inwieweit sie auch zur Marginalisierung des Paranormalen beitrugen. Dies würde eine gewisse Verknüpfung religiöser und paranormaler Überzeugungen implizieren, die allerdings nicht fraglos voraus gesetzt werden kann. Festgehalten werden kann aber zumindest, dass durch die tief greifenden Säkularisierungsprozesse in der ostdeutschen Bevölkerung in weiten Teilen ein gesellschaftliches Klima herrschte, in dem Themen mit einem wie auch immer gearteten ‚Transzendenzbezug‘ mit großer Skepsis begegnet wurde. (3) Fehlende soziale Trägerschichten: Die umfangreichen gesellschaftlichen Transformierungsmaßnahmen der DDR-Administration im Sinne der Entwicklung eines sozialistischen Staates führten zu einer Zusammensetzung der DDR-Gesellschaft, die sich eklatant von den Sozialstrukturen westlich-kapitalistischer Gesellschaften unterschied. Traditionelle gesellschaftliche Eliten wie z.B. (Groß-)Unternehmer, Bankiers, hohe Beamte und Angestellte, Wissenschaftler, Militärs etc. wurden systematisch von ihren Machtpositionen entfernt und durch eine staatsloyale Führungsriege ersetzt. Verschiedene

309 gesellschaftliche Milieus wurden nach dem Bild eines sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaates homogenisiert, sodass die ‚Arbeiterklasse‘ 1965 nach offiziellen Angaben „78,4 und fünfzehn Jahre später sogar 89,9 Prozent der Berufstägigen“ (Bauerkämper 2005: 27) stellte. Hinzu kam eine massive Ausdünnung klassisch bürgerlich-akademischer Schichten durch Millionen von ‚Republikflüchtigen‘, die überverhältnismäßig häufig aus bürgerlich geprägten Milieus stammten – wie z.B. Ärzte, Apotheker, Rechtsanwälte, Notare, Hochschullehrer, Lehrer, Ingenieure etc. (vgl. S. 91). Einer Studie zu den Sozialmilieus der DDR zufolge bestand die DDR-Gesellschaft im Jahr 1960 zu über 70 Prozent aus un- oder angelernten Arbeitern, einer traditionellen Facharbeiterschaft und Arbeitern bzw. Angestellten mit kleinbürgerlichem Hintergrund (vgl. Hofmann 2010). Die gesellschaftliche Verbreitung und Etablierung von Okkultismus, Parapsychologie, Spiritismus und ähnlichen Themen wurde im 20. Jahrhundert vornehmlich von bürgerlich geprägten Schichten vorangetrieben (vgl. etwa Lux & Paletschek 2013 sowie Lux und Paletschek 2016). Daher kann die These lauten, dass die erfolgreiche Marginalisierung des Paranormalen in der DDR auch ein Ergebnis der transformierten Sozialstruktur ist, in welcher schlichtweg die sozialen Trägerschichten für paranormale Überzeugungs- und Wissenssysteme fehlten und sowohl die Mehrheit des dominierenden Arbeitermilieus als auch die gesellschaftlich-politischen Eliten die ideologischen Vorgaben im Sinne eines materialistischen Weltbildes vertraten.

Die Gleichförmigkeit des Okkulten

Eine bislang ungelöste Diskrepanz im Zusammenhang mit den Befunden über das Paranormale in der DDR besteht in den sich in verschiedenen Bevölkerungsfragen abzeichnenden hohen Zustimmungswerten zur Vorstellbarkeit paranormaler Phänomene in der ostdeutschen Bevölkerung im Gegensatz zur niedrigen Zustimmung in Bezug auf religiöse Vorstellungen. Hier muss gefragt werden: Warum hat auf der Ebene individueller Überzeugungen das ‚szientistische Programm‘ der DDR im Hinblick auf Religiosität nachhaltigen ‚Erfolg‘ gezeitigt und zu deutlichen Unterschieden zur westdeutschen Bevölkerung geführt, während sich der Bereich paranormaler Einstellungen den Umfragen zufolge als leidlich ‚resistent‘ erwiesen hat und sich hier so gut wie keine Differenzen zur westdeutschen Gesellschaft zeigen? Ein möglicher Erklärungsansatz könnte in dem insbesondere von Hans Bender immer wieder thematisierten kulturhistorischen Befund von der Gleichförmigkeit des Okkulten liegen. Gemeint ist damit, dass paranormale Phänomene wie Hellsehen, Telepathie, Präkognition,

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Spuk, Psychokinese etc. unabhängig von historischen Epochen in allen Kulturkreisen und Regionen der Welt berichtet werden und damit gewissermaßen eine anthropologische Konstante darstellen. Bender schreibt: „Erscheinungen, die wir ‚parapsychisch‘ nennen, werden seit der Frühzeit der Menschen berichtet. In legendärer Einkleidung ranken sie sich um die Gestalten von Helden und Heiligen; niedergelegt sind sie in den Schriften ältester Kulturvölker. Die in die Heilsgeschichte eingebetteten Wahrträume, Prophezeiungen und Erscheinungen des Alten Testaments, die Aufklärern als Mythologie anmuten, entsprechen in ihrem Geschehenstypus den Erfahrungen der Parapsychologie. Im religiösen wie im profanen Bereich zeigt sich eine auffällige ‚Gleichförmigkeit des Okkulten“: dieselben ‚Muster‘, die auch heute noch in Berichten über ‚spontane Phänomene‘ sichtbar werden, sind schon in Quellen der Antike nachweisbar. Auch magische Praktiken, die der Provokation parapsychischer Phänomene dienen, haben eine säkulare Tradition.“ (Bender 1971b: 1) Folgt man diesem Gedanken, wäre davon natürlich auch die DDR nicht ausgenommen – und die Befunde dieser Untersuchung bestätigen ja genau dies: Auch in der durch die wissenschaftliche Weltanschauung geprägten DDR-Gesellschaft machten die Menschen Erfahrungen, die sie als paranormal interpretierten. Diese Erfahrungen könnten zumindest einen Teil der hohen Zustimmungswerte hinsichtlich der Vorstellbarkeit paranormaler Phänomene in der ostdeutschen Bevölkerung erklären. Unabhängig von der gesellschaftlichen Negierung des Paranormalen könnten persönliche Erlebnisse von DDR-Bürgern in diesem Bereich subjektive Evidenzen erzeugt haben, die womöglich auch innerfamiliär oder innerhalb von Freundes- und Bekanntenkreisen kolportiert wurden und so zur prinzipiellen Vorstellbarkeit derartiger Phänomene in einem Teil der ostdeutschen Bevölkerung beitrugen. Damit wäre auch ein Unterschied zum religiösen Feld markiert, welches sich vor allem aus der Vermittlung religiöser Glaubensinhalte speist und weniger erfahrungsgebunden ist. Die Vermittlung religiöser Vorstellungen konnte die Partei- und Staatsführung der DDR relativ erfolgreich unterbinden – man denke in diesem Zusammenhang beispielsweise an die Einführung der Jugendweihe. Spontane Erfahrungen, damit verbundene Evidenzerlebnisse und daraus resultierende individuelle Überzeugungssysteme lassen sich staatlicherseits jedoch kaum oder gar nicht kontrollieren. Unter den genannten gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen konnte das Paranormale in der DDR zwar keinerlei gesellschaftliche Relevanz entwickeln, entsprechende Überzeugungen bildeten jedoch eine Art stille, verborgene, unsichtbare, gesellschaftlich und kulturell ‚verdrängte‘ Sinnwelt.

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Der doppelte Eiserne Vorhang

Wie bereits dargelegt, kann der Umgang innerhalb der DDR mit dem Paranormalen keineswegs als typisch für sozialistische Gesellschaften betrachtet werden, sondern beschritt, wie der direkte Vergleich mit der UdSSR zeigt, eine Art Sonderweg. So stellt sich die Frage, weshalb die parapsychologischen Forschungen der UdSSR in der DDR weitestgehend unbekannt und unkommentiert blieben und vor allem weltanschaulich keinerlei Konsequenzen daraus abgeleitet wurden. In diesem Kontext kann zunächst darauf verwiesen werden, dass Russland in der Zeit vor 1917 stark von religiösen, okkulten und spirituellen Bewegungen geprägt wurde, welche in ihren Folgewirkungen den späteren Umgang mit paranormalen Themen geprägt haben könnten (vgl. hierzu ausführlich: Schneider & Anton 2014). Ein weiterer potenzieller Erklärungsfaktor wird durch die antifaschistische Staatsräson der DDR gebildet: Wie angedeutet, wurde in den öffentlichen Bezugnahmen im DDR-Diskurs zu paranormalen Themen immer wieder deren geistige Nähe zu nationalsozialistischem bzw. faschistischem Gedankengut konstatiert. In den Augen der politischen Führung der DDR galten (zumindest) Teile der personellen Spitze des NS-Regimes als ‚Okkultisten‘ – insbesondere die okkulten Affinitäten Heinrich Himmlers wurden in diesem Zusammenhang immer betont. Da die Bekämpfung des Faschismus und Nationalsozialismus zu den Grundsäulen der DDR-Staatsideologie zählte, wurde die Ablehnung der Parapsychologie und ähnlicher Themengebiete gleichsam in den rhetorischen Kampf gegen den politischen Gegner eingebettet. Schließlich ist im Hinblick auf die verschiedenen Umgangsweisen mit dem Paranormalen in der DDR und der UdSSR erneut auf die Rolle einzelner Akteure, allen voran Otto Prokop, zu verweisen. Man kann so weit gehen, zu behaupten, dass Prokop systematisch den Transfer des kontroversen wissenschaftlichen Diskurses über Parapsychologie der UdSSR in die DDR verhinderte, etwa indem er in einem Interview betonte, Behauptungen über die Existenz einer sowjetischen Parapsychologie seien nichts als „journalistischer Unsinn“ (Prokop 1981: 220). Die führenden sowjetischen Fachkollegen seien, so Prokop weiter, an „den ‚umstürzenden‘, die Naturgesetze angeblich aufhebenden Phänomenen der Parapsychologie nicht interessiert“ (ebd.), parapsychologische Experimente wie jene des Leningrader Physiologen Leonid Leonidowitsch Wassiliew seien nichts als „abergläubisch“ (Prokop, Hoffmann & Schirmer 1973: 72). Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kommt auch Prokops Professoren-Kollege Burchard Brentjes, der in seinem Band Rätsel aus dem Altertum aus dem Jahr 1980 schreibt:

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„Auch die Protagonisten der Parapsychologie behaupten immer wieder, in der UdSSR sei ihre ‚Wissenschaft‘ erfolgreich angewandt und entwickelt worden. Dazu ist zunächst einmal grundsätzlich zu sagen: Dieses an eine religiöse Mystifikation erinnernde Verhältnis zu phantastischen Publikationen über angebliche wissenschaftliche Erkenntnisse auf dem Gebiet der Parapsychologie tritt eigenartigerweise nur bei Phantasten auf, bei Leuten, die weder Wissenschaftler sind noch internationale wissenschaftliche Publikationen im Original lesen.“ (Brentjes 1980a: 93) So lässt sich insgesamt festhalten, dass in der DDR in Bezug auf den Umgang mit dem Paranormalen eine Art doppelter Eiserner Vorhang existierte, welcher den öffentlichen Diskurs der DDR nicht nur gegenüber weltanschaulich unpassenden Inhalten aus dem kapitalistischen Westen, sondern auch gegen entsprechende Informationen vonseiten des ‚großen Bruders‘ UdSSR abschottete. Die Sowjetunion galt in dieser Hinsicht nicht als Vorbild oder wurde gar, um noch einmal den ehemaligen MfS-Offizier Wolfgang Schmidt zu zitieren, „belächelt“: „Also, das haben wir im Grunde belächelt. Da war die Sowjetunion für uns nicht führend. Das haben wir auch nicht so richtig verstanden. Also, da gab es doch Unterschiede. Wir haben diesen Humbug nicht, überhaupt nicht groß ernst genommen.“ (Interview 7: 16)

8.3 Gesamtfazit und Ausblick

Die Ausgangspunkte dieser Studie waren zum einen sozialgeschichtliche Ansätze der historischen DDR-Forschung, die das komplexe Verhältnis zwischen Herrschaft und Gesellschaft innerhalb der DDR reflektieren. Die verschiedenen Forschungsperspektiven reichen dabei von totalitarismustheoretischen Erklärungsmodellen, die von einem „Absterben“ der DDR-Gesellschaft (Meuschel 1992) bzw. von einer institutionell getragenen totalen „Durchherrschung“ (Kocka 1994) ausgehen bis hin zu struktur- und alltagsgeschichtlichen Arbeiten, die Grenzen der Herrschaftsausübung analysieren und unangepasstes, nonkonformes Verhalten als „Eigen-Sinn“ (Lüdke 1993) innerhalb von privaten, abgeschotteten „Nischen“ (Gaus 1983) untersuchen. Beide Stoßrichtungen stehen gleichberechtigt nebeneinander, können aber jeweils für sich genommen nicht das dynamische Wechselverhältnis zwischen politischer Machtausübung und widerständigen Potenzialen in der DDR-Gesellschaft auflösen. Vielmehr waren Herrschaft- und Widerstandspraxis immer aufeinander bezogen und bedingten sich gegenseitig. Damit existierte in der DDR ein permanentes Spannungsfeld zwischen Politik und Bevölkerung, welches mangels eines unzensierten öffentlichen Diskurses unsichtbar blieb, zu dauerhaften

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Widersprüchlichkeiten und ‚Bruchlinien‘ (Pollak 1998) und zu einer Spaltung zwischen einer offiziellen politischen Ziel- bzw. Leitkultur und einer inoffiziellen, aber womöglich mehrheitlich vertretenen Nebenkultur (vgl. Lemke 1991) führte. Zum anderen beinhaltete diese Untersuchung eine wissenssoziologische Perspektive, die, aufbauend auf dem sozialkonstruktivistischen Verständnis der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit (Berger & Luckmann 2004), nach dem Verhältnis von orthodoxen und heterodoxen Wirklichkeitskonzepten in der DDR fragt. Die DDR-Gesellschaft erwies sich diesem Zusammenhang als ein besonders geeignetes Beispiel für die empirische Rekonstruktion der Beziehung zwischen dominierenden und abweichenden Wirklichkeitskonstruktionen, da die orthodoxe Wirklichkeitsbestimmung der DDR, basierend auf den verschiedenen Ideologemen des Marxismus-Leninismus, zum einen den Anspruch erhob, ohne Ausnahme die gesamte Wirklichkeit abzubilden und sich zum anderen in besonders vehementer Weise gegen Heterodoxien verschiedener Art wehrte. Als Exempel für eine Heterodoxie innerhalb der DDR-Gesellschaft diente das Themenfeld des Paranormalen. Das Hauptmerkmal dieser spezifischen Heterodoxie, zu welcher Parapsychologie, Okkultismus und Astrologie ebenso zählten wie UFO-Sichtungen und alternativmedizinische Heilverfahren, bestand darin, dass hier Überzeugungen, Erfahrungen und Wissensbestände geteilt wurden, die aus Sicht der Partei- und Staatsführung der DDR mit der gesellschaftlich dominierenden Ideologie des Marxismus-Leninismus und der damit verbundenen wissenschaftlichen Weltanschauung nicht vereinbar waren. Folgt man den (natur-)wissenschaftlichen Axiomen der in der DDR geltenden szientistischen Wissenschaftsauffassung, konnten paranormale Phänomene nicht existieren – sie galten als Aberglaube und wurden im öffentlichen Diskurs systematisch negiert. Neben dieser szientistisch begründeten Ablehnung des Paranormalen spielten – vor allem ab den 1960er Jahren – auch politisch ausgerichtete Diskreditierungen entsprechender Themen eine wichtige Rolle. Diese dienten primär zur positiven Absetzung der eigenen, als höchst rational empfundenen Gesellschaftsordnung von der konstatierten Irrationalität und Dekadenz westlicher Gesellschaften. Der Glaube an Paranormales galt in dieser Diktion als Ausdruck einer rückständigen, irrationalen, bourgeoisen oder gar faschistoiden Ideologie. Die wissenssoziologische Untersuchung des Paranormalen in der DDR offenbarte charakteristische Eigenschaften der DDR-Wirklichkeitsordnung: Anders als in pluralistisch orientierten Gesellschaften wurden hier sämtliche Formen der Abweichung rigoros bekämpft und hierzu umfangreiche institutionelle und diskursive Maßnahmen ergriffen. Bezogen auf das Themenfeld des Paranormalen konnte für die DDR ein szientistisches Dispositiv

314 rekonstruiert werden, welches einerseits aus konkreten gesetzlichen Regelungen wie Verboten, Zensur sowie Kontroll-, Repressions- und Sanktionsmaßnahmen bestand und zum anderen aus einem szientistisch orientierten Diskurs, welcher durch ein einheitliches Deutungsmuster (‚Aberglaube‘), durch spezifische Diskursstrategien und zentrale Einzelakteure gekennzeichnet war. Nach Kriegsende noch rezente Formen des Aberglaubens, die sich hauptsächlich in verschiedenen magischen, aber auch volksmedizinischen Praktiken manifestierten, wurden so innerhalb von zwei Jahrzehnten weitgehend eliminiert. Auch danach konnte das Paranormale aufgrund gesetzlicher Bestimmungen und diskursiver Abwehrmaßnamen keinerlei gesellschaftliche oder kulturelle Relevanz mehr entwickeln und existierte lediglich in Form vereinzelter individueller Überzeugungssysteme und dazugehöriger Praxisformen in der Lebenswelt weiter – von einem ‚okkulten Untergrund‘ kann somit keine Rede sein. In anderen Worten: Anhand des Beispiels des Paranormalen in der DDR konnte der Nachweis der potenziellen Wirksamkeit der Top-Down-Implementierung einer spezifischen Wirklichkeitskonstruktion erbracht werden. Zusätzliche Faktoren für den Erfolg des Kampfes gegen das Paranormale bzw. den Aberglauben in der DDR waren allgemeine Rationalisierungs- bzw. Verwissenschaftlichungstendenzen in modernen Gesellschaften, die szientistisch-atheistische Prägung der ostdeutschen Bevölkerung bereits vor Gründung der DDR, fehlende (groß-)bürgerliche Trägerschichten für ‚okkultes‘ Gedankengut sowie die Verknüpfung entsprechender Wissensbestände und Praxisformen mit der antifaschistischen Staatsräson der DDR. Aus historischer Perspektive weist der Bereich des Paranormalen in der DDR-Bevölkerung nur auf den ersten Blick Charakteristika einer eigensinnigen, widerständigen, nonkonformen gesellschaftlichen Teilzone auf, die sich staatlichen Herrschaftsansprüchen und Wirklichkeitsvorgaben zu widersetzen vermochte. Eine tiefergehende Analyse zeigt vielmehr die erhebliche Durchdringungsmacht und -tiefe der weltanschaulichen Vorgaben bis in die Lebenswelt der DDR-Bürger hinein. Die für diese Studie durchgeführten Interviews verdeutlichten, dass der szientistische Deutungsrahmen des öffentlichen Diskurses entweder direkt lebensweltlich reproduziert wurde oder indirekt selbst dort Wirkung zeigte, wo er eigentlich abgelehnt wurde: Beispielsweise in Form von Tabus, Mechanismen der Selbstzensur, Pathologisierungsängsten oder spezifischen Thematisierungs- und Kommunikationsregeln. Der ‚Sieg‘ des Szientismus über den Aberglauben in der DDR war so vollständig und nachhaltig, dass selbst nach dem Zusammenbruch der DDR die Grundannahmen der wissenschaftlichen Weltanschauung tief im Bewusstsein der

315 ostdeutschen Bevölkerung verankert blieben. Individuelle paranormale Überzeugungen, Erfahrungen und Wissensbestände mögen im Sinne Lemkes These der DDR-Doppelkultur (1991) durchaus einen kleinen Teil einer inoffiziellen Sphäre oder Nebenkultur gebildet haben, erzeugten aber aufgrund der diskursiven und institutionellen Rahmenbedingungen keinerlei gesellschaftliche Resonanz und Relevanz und trugen daher auch keinerlei gesellschaftliches Emanzipationspotenzial in sich. Die insgesamt sehr erfolgreich sozialisierte Abneigung gegen jede Beschäftigung mit im weitesten Sinne paranormalen Fragen hat – dies ist eine zusätzliche methodologische Erkenntnis – zu erheblichen Limitierungen bei der historischen Rekonstruktion entsprechender Wissens- und Praxisformen in der Lebenswelt geführt: Es ließen sich nur wenige noch lebende Personen finden, die überhaupt Auskunft über diesen Themenbereich geben konnten bzw. wollten. Dies wirft die generelle Frage nach der historischen und soziologischen Rekonstruierbarkeit weitestgehend marginalisierter Wissensbestände und Praxisformen in vergangenen Gesellschaften auf. Der Prozess der kulturellen Verdrängung des Paranormalen in der DDR war mit strukturellen Bedingungen gekoppelt, die dafür sorgten, dass die wenigen weiterexistierenden Formen der Beschäftigung mit einschlägigen Themen so gut wie keine historischen Spuren hinterlassen konnten, somit rückblickend kaum noch zu rekonstruieren sind und historisch gänzlich zu verschwinden drohen. Die methodologische (aber auch wissenssoziologische) Konsequenz daraus ist ernüchternd: Gesellschaften mit strikter Wissensordnung sind nicht nur in ihrer Gegenwart dazu in der Lage, unerwünschte Wissensbestände auszugrenzen, sie können diese durch Prozesse des systematischen Vergessens auch für die Zukunft unsichtbar machen. Alles in allem belegt die Untersuchung des Paranormalen in der DDR vor allem eines: Im Gegensatz zu anderen gesellschaftspolitischen Maßnahmen der DDR-Führung erwies sich der Kampf gegen den Aberglauben als überaus erfolgreiches gesellschaftspolitisches und weltanschauliches Projekt. Ob dieses Ergebnis als nachzuahmende gesellschaftspolitische Handlungsausrichtung gelten kann oder als warnendes und in Teilen auch erschreckendes Beispiel staatlicher Repression interpretiert wird, ist letztlich von der sozialethischen Perspektive abhängig. Die empirischen Befunde und theoretischen Einordnungen dieser Studie werfen eine Reihe wissenssoziologischer sowie sozialgeschichtlicher Anschlussfragen auf, die sich in drei Fragenkomplexe unterteilen lassen: (1) Die Anwendung der wissenssoziologischen Kategorien ‚Orthodoxie‘ und ‚Heterodoxie‘ auf die DDR-Gesellschaft erwies sich zwar als fruchtbar, demonstrierte aber auch eine unvollständige theoretische Ausarbeitung dieser Begriffe. Die spezifischen Charakteristika

316 der DDR-Gesellschaft, in welcher, wenn man Lemkes (1991) These der Doppelkultur folgt, neben der offiziellen politischen Kultur eine inoffizielle, zahlenmäßig ggf. dominante inoffizielle Kultur existierte, lassen sich mit dem Konzept von Orthodoxie und Heterodoxie nur schlecht fassen. Konkret gefragt: Kann von einer Orthodoxie die Rede sein, wenn eine spezifische Wirklichkeitsbestimmung zwar institutionell und diskursiv gestützt ist, aber von der Mehrheit der Bevölkerung nicht geteilt wird? Lässt sich, anders herum gefragt, von einer gesellschaftlichen Orthodoxie sprechen, wenn diese zwar mehrheitlich vertreten, aber von zentralen gesellschaftlichen Deutungsinstanzen nicht anerkannt wird? Das Paranormale in der DDR wurde als eine Heterodoxie ohne Infrastruktur beschrieben. Gemeint war damit, dass es für paranormale Inhalte jenseits des offiziellen Deutungsrahmens letztlich keinerlei Möglichkeiten der öffentlichen Kommunikation und Institutionalisierung gab. Im Anschluss daran kann gefragt werden, ob gesellschaftliche Heterodoxien und Orthodoxien nach ihren (gesellschaftlichen, medialen, politischen) Wirkungsmöglichkeiten unterschieden werden könnten – etwa in Heterodoxien und Orthodoxien unterschiedlicher ‚Grade‘. Eine theoretische Ausdifferenzierung der Kategorien ‚Orthodoxie‘ und ‚Heterodoxie‘ erscheint jedenfalls geboten. Hilfreich wäre z.B. die Ausarbeitung weiterer konkreter Unterscheidungskriterien, aber auch von Binnen- bzw. Strukturmerkmalen, gesellschaftlichen Funktionen etc. (2) Weiterhin harren die Befunde in Bezug auf den Umgang mit dem Paranormalen in der DDR des systematischen Vergleiches mit den historischen Forschungsergebnissen zu anderen Formen der Abweichung in der DDR. Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten zeigen sich hier? Wie lassen sich diese erklären? Auch systematische Vergleiche mit anderen (sozialistischen und nicht-sozialistischen Ländern) erscheinen sinnvoll. Wie aufgezeigt, unterschied sich die Situation in der DDR deutlich von dem Umgang mit entsprechenden Themen in der UdSSR, wo einzelne parapsychologische Forschungsgruppen und -projekte (zumeist unter dem Stichwort ‚Psychotronik‘) unter dem Dach von Universitäten durchaus geduldet und gefördert, wo diverse wissenschaftliche Publikationen verlegt und wissenschaftliche Kongresse organisiert wurden. Warum und wie ließ sich dieser vergleichsweise offene Umgang in der UdSSR und anderen ‚sozialistischen Bruderländern‘ mit den ideologischen Richtlinien des Marxismus-Leninismus vereinbaren, während dies in der DDR undenkbar schien? Interessant wäre darüber hinaus ein direkter Vergleich der Befunde zum Paranormalen in der DDR mit der Situation in der BRD, aber auch mit jener in der NS-Zeit. Auch in der BRD gab und gibt es einen vor allem von Spektikerorganisationen getragenen Abwehrdiskurs gegen das Paranormale, dessen inhaltlichen Argumentationslinien dem für den DDR-Diskurs rekonstruierten Deutungsmuster auffallend ähneln. In Bezug auf

317 die NS-Zeit wäre nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Hinblick auf den Umgang mit dem Themenbereich des Paranormalen zu fragen, denn, anders als in populärwissenschaftlichen Werken immer wieder dargestellt, zeichnete sich das ‚Dritte Reich‘ nicht durch eine besondere ‚Okkultaffinität‘ aus, sondern durch einen äußerst ambivalenten Umgang mit paranormalen Themen, zu welchem neben okkulten Einzelinteressen einzelner Vertreter des NS-Systems auch drastische Repressionsmaßnahmen gegen Okkultisten, Spiritisten, Astrologen etc. zählten. (3) Schließlich erscheint die weitergehende Einordnung des Themenkomplexes des Paranormalen in der DDR in einen religionswissenschaftlichen bzw. -soziologischen Rahmen notwendig. Es konnte gezeigt werden, dass der Bereich des Paranormalen in der DDR- Bevölkerung zwar ein eigenes Feld mit spezifischen Überzeugungen, Wissensbeständen und Praktiken konstituiert, dieses scheint auf der anderen Seite aber auch einen mehr oder weniger stark ausgeprägten Zusammenhang mit religiösen Überzeugungssystemen aufzuweisen. Bei der näheren Bestimmung dieses Verhältnisses wäre konkret zu fragen, ob und inwieweit paranormale Erfahrungen und Praktiken in der DDR-Bevölkerung zu im weitesten Sinne religiösen Vorstellungen führen konnten oder ob, umgekehrt, religiöse Überzeugungen eine gewisse Offenheit gegenüber paranormalen Themen erzeugen konnten. Wichtig wäre in diesem Zusammenhang darüber hinaus die Frage, welchen Einfluss die in der DDR forcierte religiöse Desozialisation bzw. Säkularisierung (und auch die szientistische Vorprägung) der Bevölkerung auf den Bedeutungsverlust des Paranormalen hatte. Anders ausgedrückt: Ist die erfolgreiche Marginalisierung des Paranormalen in der DDR auch ein direktes Ergebnis der antiklerikalen, antikirchlichen und antireligiösen Ausrichtung der dominierenden marxistisch- leninistischen Weltanschauung in der DDR oder davon eher unabhängig?

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Abkürzungsverzeichnis

ADHM: Archiv des Deutschen Hygienemuseums ÄApprO: Ärztlich Approbationsordnung ASW: Außersinnliche Wahrnehmung AU-Dauer: Dauer der Arbeitsunfähigkeit BArch: Bundesarchiv BRD: Bundesrepublik Deutschland BStU: Archiv des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR DDR: Deutsche Demokratische Republik DEFA: Deutsche Film AG (Filmunternehmen in der DDR) DEGESA: Gesellschaft Schutz vor Aberglauben DFG: Deutsche Forschungsgemeinschaft DRA: Deutsches Rundfunkarchiv DTSB: Deutscher Turn- und Sportbund DVP: Deutsche Volkspolizei DWK: Deutsche Wirtschaftskommission für die sowjetische Zone DZVhÄ: Deutscher Zentralverein homöopathischer Ärzte FDGB: Freier Deutscher Gewerkschaftsbund Gestapo: Geheime Staatspolizei (‚Drittes Reich‘) HA I: Hauptabteilung I, NVA und Grenztruppen des MfS HA IX: Hauptabteilung IX, Untersuchungsorgan des MfS HA XX: Hauptabteilung XX, Staatsapparat, Kultur, Kirchen, Untergrund des MfS IGPP: Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene IM: Inoffizieller Mitarbeiter des MfS der DDR KGD Konzert- und Gastspieldirektion der DDR MfS: Ministerium für Staatssicherheit der DDR NSW: Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet NVA: Nationale Volksarmee SAPMO: Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv SBZ: Sowjetische Besatzungszone SED: Sozialistische Einheitspartei Deutschlands SMAD: Sowjetische Militäradministration in Deutschland DDR: Deutsche Demokratische Republik UFO: Unidentifiziertes Flugobjekt VEB: Volkseigener Betrieb ZAIG: Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe des MfS ZEFYS: Zeitungsinformationssystem der Staatsbibliothek zu Berlin ZK: Zentralkomitee ZGA: Zeitgeschichtliches Archiv Berlin

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Danksagung

An erster Stelle möchte ich meinem Doktorvater Prof. Dr. Michael Schetsche sowie Dr. Ina Schmied-Knittel, der Leiterin des DFG-Projektes, in dessen Rahmen die vorliegende Dissertation entstand, danken. Beide begleiteten mit kompetentem Rat, konstruktiver Kritik, unendlicher Geduld und großem Vertrauen die gesamte Zeit der Entstehung dieses Textes. In unzähligen Sitzungen, persönlichen Gesprächen und hunderten E-Mails beantworteten sie unermüdlich Fragen, gaben entscheidende Hinweise und Anregungen und standen mir stets unterstützend, ermutigend und inspirierend zur Seite. Ganz herzlichen Dank dafür. Besonders bedanken möchte ich mich auch bei Prof. Dr. Sylvia Paletschek von der Universität Freiburg für die Übernahme des Zweitgutachtens. Weiterer Dank gilt Prof. Dr. Dieter Vaitl, dem Direktor des Instituts für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene in Freiburg, welches die Trägerinstitution meines Dissertationsprojektes war und hier – auch dafür großen Dank – von Beate Baumgartner verwaltet wurde. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft danke ich für die großzügige finanzielle Unterstützung, durch die meine Dissertation zu diesem Thema überhaupt erst möglich wurde. Ganz besonderer Dank gebührt auch allen studentischen Hilfskräften und Praktikanten, die an dem Projekt mitwirkten: Martin Schneider für unschätzbar wertvolle Archivrecherchen und eine tolle gemeinsame Zeit in Freiburg und Berlin, Nikola Roth, Martina Biebert und Viola Priss für unermüdliches Transkribieren der Interviews und vielfältige Recherchearbeiten, Justus Pötzsch für seine außerordentlich bemühten und ergiebigen Recherchen in Dresden, Julius Engelhard für seine Nachforschungen in Leipzig, Elia Burczyk für seine Recherchen zum ‚okkulten Polen‘. Darüber hinaus danke ich Sebastian Oschwald und Nahrin Lahdo für ihre Mitarbeit an dem Forschungsprojekt. Eberhard Bauer und Dr. Gerhard Mayer danke ich herzlich für unzählige wertvolle Hinweise und etliche inspirierende und motivierende Gespräche über Themen rund um mein Dissertationsprojekt. Unschätzbare Hinweise erhielt ich auch von Gerd Hövelmann, durch dessen Tod im Februar 2017 die wissenschaftliche Anomalistik einen ihrer kompetentesten, produktivsten und kreativsten Vertreter verloren hat – und ich persönlich einen guten Freund, Förderer und ein Vorbild. Prof. Dr. Dieter Herrmann danke ich für unheimlich interessante und anregende Gespräche – im wahrsten Sinne über ‚Gott und die Welt‘ – in der Archenhold- Sternwarte in Berlin, die mir unvergesslich bleiben werden. Uwe Schellinger danke ich für seine Archivrecherchen im Zeitgeschichtlichen Archiv, Thorsten Mann für das Korrekturlesen meiner Dissertation.

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Überaus dankbar bin ich überdies für alle Interviews, die ich im Rahmen der Dissertation führen durfte und die mich quer durch Ostdeutschland führten. Diese Gespräche waren für mich großartige, ungemein bereichernde Erfahrungen. Ich danke allen Interviewpartnern, ohne deren offene, vertrauensvolle Auskünfte meine Dissertation in dieser Form nicht möglich gewesen wäre. Stefan Diehl und Franziska Benkert danke ich ganz herzlich für etliche geruhsame Nächte auf dem bequemsten Sofa in ganz Berlin, Maria Ott für Übernachtungsmöglichkeiten und unglaublich leckere russische und chinesische Gerichte. Bedanken möchte ich mich auch vielmals bei meinen Eltern, meinem Bruder und meiner Großmutter, deren Vertrauen, Unterstützung und Zuspruch mir immer einen starken Rückhalt, Kraft und Mut gaben. Last but not least danke ich Julia. Für alles. Ihr widme ich diesen Text.

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Anhang A: Prototypischer Interviewleitfaden

Block I: Biografischer Abschnitt

„Erzählen Sie doch vielleicht zunächst ein bisschen etwas über sich, d.h. wo sind Sie aufgewachsen, auf welche Schule sind Sie gegangen, welchen Beruf haben Sie erlernt etc.“

Inhaltliche Aspekte Aufrechterhaltungsfragen Konkrete Nachfragen (optional)  Biografische Hintergrundsituationen: Sozialisation,  Fällt Ihnen sonst noch was dazu  Wann sind Sie geboren? Wo sind sie Bildung, familiärer Hintergrund ein? aufgewachsen? Was für eine Schule  Spezifika der Sozialisation in der DDR  Gibt es sonst noch was? haben Sie besucht? Was haben Sie nach  Politische Prägung/Haltung zur Zeit der DDR  Und dann? der Schule gemacht?  Religion/Religiosität  Und sonst?  Waren Sie zu DDR-Zeiten in irgendeiner  Eingebundenheit in DDR-Strukturen  Und wie ging es weiter? Weise politisch aktiv? Waren Sie z.B.  Verhältnis zur DDR Mitglied der SED?  Beurteilung der Wende/Wiedervereinigung  Waren Sie zu DDR-Zeiten in irgendeiner Weise kirchlich aktiv bzw. waren Sie damals religiös?  Waren Sie damals in (anderen) staatlichen Organisationen aktiv?  Wie würden Sie Ihr Verhältnis zur DDR beschreiben?  Wie haben Sie persönlich die Wende/Wiedervereinigung erlebt?

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Block II: Spezifizierung des Themas

Mit welchen Themen aus dem Bereich des Paranormalen bzw. der Parapsychologie haben Sie sich beschäftigt und wie kamen Sie dazu?

 Mit welchen (paranormalen) Themen hat sich die  Fällt Ihnen sonst noch was dazu  Wann haben Sie begonnen, sich mit Person genau beschäftigt/welche Erfahrungen hat ein? diesen Themen zu beschäftigen? sie gemacht?  Gibt es sonst noch was?  Was hat Sie an diesen Themen  Woher kam das Interesse?  Und dann? interessiert?  Bedeutung der Themen/Erfahrung(en)  Und sonst?  Wie lange/intensiv haben Sie sich mit  „Material“  Und wie ging es weiter? diesen Themen beschäftigt?  Welche Bedeutung haben diese Themen für Sie?  Wann hatten Sie diese/die erste Erfahrung?  Welche Bedeutung hatte diese Erfahrung für Sie?  Gibt es in irgendeiner Form themenbezogenes „Material“ aus dieser Zeit, z.B. Briefe, Tagebücher, Fotos, Zeitschriften, etc.?

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Block III: Austausch/Kommunikation

Wie offen konnten Sie zu DDR-Zeiten über diese Themen/Erfahrungen sprechen?

 Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der  Fällt Ihnen sonst noch was  Haben Sie sich mit anderen Personen Kommunikation / Offenheit vs. geschützte dazu ein? darüber ausgetauscht? Wenn ja, mit Kommunikation  Gibt es sonst noch was? wem?  Kontakt zu weiteren Personen aus dem Feld  Und dann?  Hatten Sie Angst, über derartige  Verbreitung der Themen/Erfahrungen in der  Und sonst? Themen/Erfahrungen zu sprechen? Bevölkerung  Und wie ging es weiter?  Kennen Sie Leute, die ähnliche Interessen  Interessengruppen etc. hatten/ähnliche Erfahrungen in der DDR gemacht haben? (Kontakte)  Was glauben Sie, wie weit waren derartige Erfahrungen in der DDR verbreitet?  Gab es so etwas wie (informelle) Interessengruppen oder Ähnliches, in denen man sich über diese Themen austauschen konnte?

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Block IV: Information/ (offizielle Medien)

Wie gut konnte man sich zu DDR-Zeiten über solche Themen/ Erfahrungen informieren?

 Informationsangebot in Bezug auf die  Fällt Ihnen sonst noch was  Woher bezogen Sie Informationen über entsprechenden Themen dazu ein? diese Themen/Erfahrungen?  Literatur aus anderen Ländern  Gibt es sonst noch was?  Gab es darüber hinaus irgendwelche  Umgang mit den interessierenden Themen in  Und dann? Möglichkeiten, sich über derartige anderen Ländern, z.B. BRD und UdSSR  Und sonst? Themen zu informieren?  Darstellung der interessierenden Themen in  Und wie ging es weiter?  Gab es darüber Literatur in der DDR? Büchern, Zeitschriften und im Rundfunk  Gab es Sendungen im Fernsehen zu  Veränderungen in der Darstellung der Themen solchen Themen?  Hatten Sie Literatur zu diesen Themen aus anderen Ländern des ‚Ostblocks‘?  Haben Sie aus den Medien der DDR je etwas darüber erfahren, wie in anderen sozialistischen Ländern mit diesen Themen umgegangen wurde?  Hatten Sie Literatur aus dem Westen zu diesen Themen?  Wie haben Sie die Darstellung dieser Themen in den Medien der DDR empfunden?  Hat sich die Darstellung dieser Themen in den Medien Ihrer Meinung nach im Laufe der Zeit verändert? Wenn ja, wie?

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Block V: Soziale bzw. staatliche Kontrolle

Können Sie etwas darüber sagen, ob und wenn ja in welcher Weise die Beschäftigung mit derartigen Themen in der DDR kontrolliert/überwacht wurde?

 Interesse staatlicher Instanzen für den  Fällt Ihnen sonst noch was  Hatten Sie den Eindruck, dass die DDR Themenbereich dazu ein? besonders ablehnend mit diesen Themen  Überwachung  Gibt es sonst noch was? /Erfahrungen umging? Wenn ja, warum?  Welche Staatsorgane?  Und dann?  Glauben Sie, dass sich staatliche Instanzen  Stasi-Akte?  Und sonst? überhaupt für diese Themen interessiert  Maßnahmen sozialer Kontrolle  Und wie ging es weiter? haben? Wenn ja, warum könnten diese  Folgen Themen von Interesse gewesen sein?  Wurden Sie überwacht? Hatten Sie das Gefühl, überwacht zu werden?  Hatten Sie im Zusammenhang mit Ihrer Beschäftigung mit diesen Themen irgendwann einmal Kontakt mit einer Sicherheitsbehörde? Wenn ja, mit welcher und warum?  Gibt es über Sie eine Stasi-Akte? (Kopie?)  Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht? Wie wurde damit umgegangen, dass Sie sich mit solchen Themen beschäftigt haben/solche Erfahrungen gemacht haben?  Welchen Einfluss hatte das auf Ihre Beschäftigung mit diesen Themen?

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Block VI: Zeiten + Wende

Hatte die Wende eine Bedeutung für Ihre Beschäftigung mit diesen Themen?

 Fällt Ihnen sonst noch was dazu  Haben Sie sich nach der Wende verstärkt  Bedeutung der Wende für die Beschäftigung mit ein? mit diesen Themen auseinandergesetzt? den interessierenden Themen  Gibt es sonst noch was? (z.B. publizistisch)  Anhaltendes Interesse an den entsprechenden  Und dann?  Interessieren Sie sich immer noch dafür? Themen?  Und sonst?  Welchen Eindruck hatten Sie, wie in  Der Umgang mit dem Paranormalen im Westen  Und wie ging es weiter? Westdeutschland mit diesen Themen  Organisationen/Vereine umgegangen wurde?  Sind Sie einer entsprechenden Organisation bzw. einem Verein beigetreten?

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Anhang B: Eidesstattliche Versicherung

Eidesstattliche Versicherung gemäß § 7 Absatz 1 Satz 3 Nr. 6 der Promotionsordnung der Albert-Ludwigs-Universität für die Philologische Fakultät und die Philosophische Fakultät.

(1) Bei der eingereichten Dissertation zu dem Thema „Das Paranormale im Sozialismus. Zum Umgang mit heterodoxen Wissensbeständen, Erfahrungen und Praktiken in der DDR“ handelt es sich um eine eigenständig erbrachte Leistung. (2) Ich habe nur die angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt und mich keiner unzulässigen Hilfe Dritter bedient. Insbesondere habe ich wörtlich oder sinngemäß aus anderen Werken übernommene Inhalte als solche kenntlich gemacht. (3) Die Dissertation oder Teile davon habe ich bislang nicht an einer Hochschule des In- oder Auslands als Bestandteil einer Prüfungs- oder Qualifikationsleistung vorgelegt. (4) Die Richtigkeit der vorstehenden Erklärungen bestätige ich. (5) Die Bedeutung der eidesstattlichen Versicherung und die strafrechtlichen Folgen einer unrichtigen oder unvollständigen eidesstattlichen Versicherung sind mir bekannt.

Ich versichere an Eides statt, dass ich nach bestem Wissen die reine Wahrheit erklärt und nichts verschwiegen habe.

Freiburg im Breisgau, den 11.04.2017

Andreas Anton

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