NR. 11 7. 3. 2013 Deutschland € 3,50 Österreich € 3,80 / Schweiz CHF 6,50

Mein größter Triumph Wie Bernd Thränhardt und neun andere ihre Alkoholsucht € 4,– / Finnland: € 5,70 / Norwegen: NOK 55,– / Tschechien: CZK 160,– / Ungarn: HUF 1520,– HUF Ungarn: / 160,– CZK Tschechien: / 55,– NOK Norwegen: / Finnland: € 5,70 / € 4,– besiegten

Karriere eines Flüchtlingsmädchens Von auf den Laufsteg „Car of the Year“ 2013 So wurde der neue Golf das Auto des Jahres Außer Kontrolle Warumüberfordert Lebensmittelprüfer sind Frankreich, Italien, Spanien, Slowenien: € 4,60 / Portugal (cont.): € 4,90 / Kanaren: € 4,90 / Griechenland: € 5,30 / Benelux: / Griechenland: € 5,30 / € 4,90 Kanaren: / (cont.): € 4,90 Portugal / € 4,60 Slowenien: Spanien, Italien, Frankreich, TITELFOTO: THOMAS RABSCH; FOTOS: MARCUS VOGEL; OLAF BALLNUS; BENNY LAM/SOCO; BENNE OCHS; DAVID SLAMA/ZDF Nr. 11vom 7. März 2013 Q Zwischenruf Politik Targobank Wirtschaft aus einerderreichstenStädteWelt wieGefängniszellen–Fotoreportage winzig Hongkong Ausland unentdeckt bleiben sovieleBetrügereien wird–undwarum geprüft Lebensmittelskandale Deutschland Großbritannien Bilder der Woche te Managerschreck der Woche gedrängt wurden gedrängt wurden Mitarbeiter zumVerkauf von Finanzprodukten stern- Trends der Woche Ägypten Vatikan getötethabensoll.NunstehtsievorGeburt Gericht Kinder liebevoll umsorgteundfünfgleichnach der Verbrechen Niederlande USA Vatikan Lindner ziehtmehralsRösler der Papstwahl bis zumweißen Rauch: diewichtigsten Stationen 2 dieSchweizer Initiative gegendieAbzockerei Müllkippe in Schieflage MüllkippeinSchieflage

Umfrage Inhalt Von derZusammenkunft derKardinäle DerabgedanktePapst beimSpaziergang Gefährliche Arbeit im Steinbruch GefährlicheArbeitimSteinbruch LebeninWohnungen, InterneDokumentezeigen,wie Psychogramm ihrer einer Frau, diezwei EinBildvon KöniginBeatrix Schämteuch!Von Hans-Ulrich Jörges

O Durchbruch eines Maulwurfs einesMaulwurfs Durchbruch FDP-Politiker imRanking–

Was beiamtlichenKontrollen zurückzuerobern zurückzuerobern ihnen gelang,sichihrLeben gerieten –undwiees wie sieindieAbhängigkeit Leidens Alkoholsucht Titel konsum ungefährlich? Test: IstIhrAlkohol- Hilfe Betroffene So finden Ausstiegskonzepte: ThomasMinder:Erlancier-

genossen erzählen, Zehn

38 36 34 30 28 26 22 88 84 68 64 72 50 90 76 24 nischen Models des einzigen afgha- liche Geschichte Welt. Dieabenteuer- kontrollen versagen Warum dieLebensmittel- weiß letztlichkeiner: aber was drinist, Sieht auswieöko, Schweinereien 38 Düs Von Kabulüber Zohres Weg 134 seldorf indie

90 Hinter der Kultur Fassade Zweiter Weltkrieg „Unsere Mütter, unsere Väter“: Eine junge Mutter Der ZDF-Dreiteiler läutet eine neue Ära im muss sich in Husum Geschichtsfernsehen ein 116 wegen Totschlags an fünf ihrer Kinder Mélanie Laurent Die Schauspielerin betört nicht verantworten nur im „Nachtzug nach Lissabon“. Porträt einer Französin mit dem ganz besonderen Blick 124

Kulturmagazin O Bestseller Film „¡No!“ – smartes Politdrama über einen gewitzten PR-Profi im Chile der 80er Jahre 126 Musik Gelungen: David Bowies Rockalbum „The Next Day“ 128 Kunst: Großes Vergnügen: die Hans-Peter-Feldmann- Ausstellung in den Hamburger Deichtorhallen 131 Buch „Von Vätern und Söhnen“ – spannende Bilder- Reise ins männliche Selbstverständnis 132 Leute Zohre Esmaeli Wie es das afghanische Flüchtlingskind in den Jetset der Mode schaffte 134 Was macht eigentlich Jack Straw, der als 50 Außenminister die Beteiligung Großbritanniens Auf engstem am Irak-Krieg organisierte? 146 Raum Herr Cheung hat Humor 2,8 Quadratmeter zum Luftblasen, Haderer, Greser & Lenz 16, 21, 36 Leben. Bilder von Til Mette, Tetsche 74, 114 Kleinstwohnungen in Hongkong Rubriken Editorial Die Stunde der Populisten. Von Andreas Petzold 5 Neues vom stern 10 Briefe 18 Blick in die Welt 3 2 stern-Leserservice, Impressum 75 Journal: Auto Sieger Im Rahmen des Genfer Autosalons wurde das „Car of the Year“ 2013 gekürt. Alles über die acht Finalisten – 116 und welche Kriterien Wer Gewalt sät entscheidend waren 98 Eine neue ZDF- Licht Die verblüffenden Serie zeichnet das Autoscheinwerfer der Leben junger Zukunft. Eine Reportage Deutscher im Zweiten Weltkrieg nach. aus dem Labor von Audi 108 Mitfühlend, aber ohne sie freizusprechen Q2 Neues vom stern

Diese Woche im stern eMagazine

LANDWIRTSCHAFT Nicht legen, aber leben Der stern erscheint auch Die Landwirtschaft ist ins Gerede digital für iPads und gekommen, bei der Kontrolle liegt Android-Tablets, immer vieles im Argen (siehe Seite 38). mit exklusivem Zusatz- Das Videoteam des eMagazine hat material. Download einen Biohof in Schleswig-Holstein mittwochs ab 18 Uhr. besucht – und sich dabei auch Abonnenten des stern können das eMagazine erklären lassen, warum Eier teurer kostenlos laden, siehe sein müssen, wenn man nicht www.stern.de/eabo. möchte, dass die männlichen Einzelkäufer zahlen Küken der Legehennen gleich nach pro Ausgabe 2,69 Euro, dem Schlüpfen getötet werden. siehe www.stern.de/ emagazine MODE Den Taliban entkommen Als Zehnjährige musste sie einen Tschador tragen und durfte nicht allein draußen spielen. Nach ihrer Flucht aus wurde Zohre Esmaelis Traum von einem selbstbewussten Leben Wirklich- keit. Sie ist im Mode-Jetset zu Hause, arbeitet in London, Mailand und Paris (siehe Seite 134). Das eMagazine hat Fotos und Videos des Models zu einer animierten Sed-Karte zusammengestellt.

KLEINSTRECHERCHE Ganz nah herankommen an die Menschen, das stern wünschen sich Journalisten Die März-Ausgabe von VIEW Es stand im für ihre Recherchen. stern- FOTOGRAFIE Korrespondent Janis Vou- Gute-Laune-Paket gioukas (rechts) wäre alles Zum Frühjahr bringt VIEW eine starke andere schwergefallen, als Mischung aus den besten Bildern und er und die Mitarbeiterin spannendsten Geschichten des Monats. einer Hilfsorganisation Kiyu- Zum Beispiel: Marco Reus und Mario koto Toshikura besuchten. Götze, die Gute-Laune-Fußballer der Bun- Denn der wohnt samt Familie desliga; Einblicke in die geheimnisvolle auf 8,4 Quadratmetern. Welt des Vatikan; Neues von Mick Jaggers AUSGEZEICHNET Andere in Hongkong leben größtem Hit – seiner Tochter Georgia Engagierte Reportagen sogar noch enger (s. S. 50). Jetzt im Handel May, die ihren eigenen Weg geht. Ihre Geschichte über fünf afgha- nische Brüder spiegele das Lei- den eines ganzen Landes, lobte die Jury – und verlieh stern- Aktuell auf stern.de Autor Jan Christoph Wiechmann und Fotograf Seamus Murphy REISE den Hansel-Mieth-Preis 2013 für Faszination Indien ihre Reportage „Ein Leben in Ka- Kaum ein Land vereint so viele Gegen- bul“, erschienen in Nr. 34/2012. sätze wie Indien. Hier treffen Religionen Die Auszeichnung für „engagierte aufeinander, variiert die Landschaft Reportagen in Text und Bild“ vom Himalaya über Regenwald bis zu vergibt die Agentur Zeitenspiegel. Palmenstränden. Ein neuer Reise-Rat- Noch zwei weitere stern-Teams geber von stern.de hilft, die persönlichen prämierte die Jury dieses Jahr: Fesch für ein Fest: Traumziele zu finden, mit Reportagen, Andrea Schaper und Nele Inderin, kostümiert als interaktiven Karten und vielen Tipps. Martensen sowie Laura Himmel-

Hindu-Göttin Durga www.stern.de/indien reich und Michael Trippel. NARINDER NANU/AFP RUESCHENDORF; GRISCHA MAI; G.LACZ/WILDLIFE; FOTOS:EUGEN

10 stern 11/2013 Q2 Leute

Zohres langer Weg ins Licht Einen ganzen Winter lang floh sie mit ihrer Familie vor den Taliban. Heute läuft sie als einziges AFGHANISCHES über die Catwalks der Welt. Eine Geschichte von Selbstbehauptung – und Glück Warmer Frottee und Pizza am Set. Hunger und Frost sind ferne Erinnerungen der Zohre Esmaeli

11/2013 stern 135

FOTOS: HERB ALLGAIER; EUGEN MAI Sünde“ es wäre eine Ich dachte, alle so sehen. dass mich zuerst nicht, „Ich wollte 11/2013 Shooting fürUnter- Links: einShooting U-Boot-Kulisse in Zohre beieinem wäsche ineiner

Babelsberg. in stern

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11/2013 Fototermin in Köln. auf ihre eingegan- Pause beieinem Zohre schaut genen Mails stern

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PULLOVER VON TOMAS MAIER ÜBER MYTHERESA.COM Q2 Leute

Von BARBARA OPITZ, KUNO KRUSE (Text) und BENNE OCHS (Fotos)

ie wusch alles ab. Die Angst, den Gestank. Den Ekel vor dem Urin, vor Sdem Kot, den Menschen. Zohre Esmaeli erinnert sich noch genau an den Moment in der weißen Wanne, in dem Hotelzim- mer irgendwo in Moskau, Winter 1999. Sie war 13. Vier Wochen waren sie schon auf der Flucht aus Kabul, auf Kar- ren, in Autos, Bussen, Zügen. Weg aus Afghanistan, weg von den Taliban. , Turkmenistan, nun Russland. Bald würden sie in Deutschland sein. Die Hälfte der Strecke schien geschafft. Eigentlich sollten sie nur wenige Tage in dieser Hinterhaus moschee in einem Vorort von Moskau blei- ben. Ein Versteck, Übergabestelle der Schlepperorganisationen. So viele Flüchtlinge, an die 60, in dem kleinen Raum. Dunkelheit. Stickig und diese Enge, Kindergeschrei. „Und jeden Tag hieß es wieder: Morgen geht es weiter“, sagt Zoh- re. Egal, wo Zohre heute ist, die Bil- der sind immer da. Gerade ist Pause auf dem Set in Köln, Zohre hat ein wenig Zeit, bis sie wieder ihr Gesicht ins Licht halten muss, die vollen Lippen, ihre Mandelaugen. Sie ist heute 27, lebt in Düsseldorf und ist Model, das wohl einzige afghanische Model der Welt. „Das Schlimmste in der Mo- schee war der Geruch, der Dunst der Männer.“ Endlich, nach zwei Wochen, sagte ihr Vater zu dem Schlepper: „Schluss mit dem War- ten!“ Er brach die letzte Geld- reserve an, ihm war es jetzt egal, ob die Polizei sie entdecken würde. Er nahm Zohre, die Stief- mit Gewölben und mächtigen beim Vater erbettelt. Sie tauchte mutter, den Bruder, die Schwester Kronleuchtern. Afghanistan hat „Ich war unter, schluckte das Wasser, prus- mit ihrem Mann und den beiden keine Metro, nicht einmal Züge. tete es wieder aus. Bald würde sie Babys und führte alle zu dem Das war also der Westen. In Mos- nicht das, was in Deutschland sein, dachte Zohre Hotel. „Er hatte die Zustände kau trugen Mädchen kurze Röcke, noch. Dort würde auch sie so nicht mehr ertragen“, sagt Zohre, dass man die Knie sah, im Winter. afghanische frisch riechen wie der Besuch, der „er ist ein Mann der Würde.“ Und das Plakat – Mann oder Frau? damals zu ihnen nach Kabul ge- An dem Morgen, auf dem Weg So weiße Haut und diese langen Eltern sich von kommen war und dessen Kleider zu dem Hotel, war sie zum ersten Locken. Jemand sagte: „Das ist so anders rochen, so nach Europa. Mal durch Moskau gelaufen. Die Michael Jackson, ein Sänger.“ einem Mädchen In Moskau wusste Zohre nicht, vielen Autos, Rolltreppen tief Zohre durfte abends im Hotel als wie weit dieses Europa noch hinunter in diese U-Bahn-Paläste Erste in die Wanne. Das hatte sie erhoffen“ entfernt war. Einen Monat sollte

140 stern 11/2013 Haare, der Stylist zupft den blauen Blazer zurecht. „Diese entwaff- nende Natürlichkeit“, sagt eine Assistentin auf dem Set, sie mache gute Stimmung. Zohre steht auf dünnen Beinen und zwei Num- mern zu großen Plateauschuhen und posiert. Stundenlang. Gerader Rücken, wacher Blick. Zohre ist zäh. Aber da ist noch etwas anderes, das erklärt, warum das Mädchen aus Kabul es schaffte, nun im Jet- set der Mode zu Hause sein. Dieser Moment auf der Flucht, in dem wackeligen Boot, nachts, irgend- wann auf einem Fluss, irgendwo im Nebel waren die Grenzposten. Alle zitterten, niemand von ihnen hatte schwimmen gelernt. Da beugte sich Zohre über den Boots- rand und ließ das kalte Wasser durch die Finger gleiten. „Ich woll- te wissen, wie sich das anfühlt.“

ohre war immer schon neu- gierig. „Nicht unbedingt das, Zwas sich afghanische Eltern von einem Mädchen erhoffen“, sagt sie. Zohre ließ heimlich mit den Jungen Drachen steigen, ging, wenn niemand sie sah, in Jeans vor dem Spiegel auf und ab. Und sie wollte zur Schule. Zohre nervte so lange, bis der Vater der Jüngsten einen Hauslehrer be- sorgte. Sie half nicht gern in der Küche, hasste die Weiber, die im fettigen Muff tratschten. „Ich hat- te immer einen starken Willen!“ Zohre glaubt, sie hätte das von ihrer Mutter, von der sie nur von alten Fotos weiß, wie sie aussah. Modern, Pagenkopf – kein Tscha- dor. Zohre war zwei, als sie auf die Straße lief und ihre Mutter hinter- Die Spuren eines her. Die Stiefmutter gab Zohre spä- Arbeitstages: ter im Streit die Schuld daran, dass Zohre beim das Auto die Mutter totgefahren die Reise von Afghanistan nach Fuß im Schnee. Die sich langsam Abschminken hatte. Heute kann Zohre den Kum- am Abend des Deutschland dauern, das hatten in Hände, Füße, Beine und am mer ihrer Stiefmutter verstehen. Foto-Shootings die Schlepper versprochen. Kei- Ende in alle Sinne frisst. Auch ihre Eifersucht. „In Afgha- ner konnte ahnen, dass sich die Wenn Zohre heute friert, legt ihr nistan ist es normal, wenn ein Flucht ein halbes Jahr hinziehen ein Styling-Assistent einen Frot- Mann zwei Frauen hat“, sagt Zoh- sollte. Dass die Tage in der dunk- teemantel über die Schulter. Zohre re. „Und doch schwer für die erste, len Moschee harmlos waren muss sich wohlfühlen, damit sie die Neue im Haus zu akzeptieren.“ gegen das, was sie von nun an er- lächeln kann für „Vogue“ und Zohres Mutter war jünger, als sie warten würde. Und die Moskauer „Cosmopolitan“. Sie arbeitet in dazukam. Ihr Vater war verliebt. Kälte sanft war gegen die wirkli- London, Mailand, Paris. Heute ist Das hatte Zohre von einer Tante che Kälte, die sie begleiten sollte, sie in Köln. Die Visagistin pinselt erfahren. Nach ihrem Tod musste in Autowracks, Bretterbuden, zu ihr Gesicht, glättet die schweren die Stiefmutter auch die drei ➔

11/2013 stern 141 Q2 Leute

haben Glück. Es gibt Tausende Euro zu bezahlen. Zohre durfte mit tollen Körpern. Ich bin nur sich eine Tasche aussuchen, neon- die Einzige, die ihn zeigt.“ farben, die aussah wie der Westen. Anfangs fiel es ihr schwer. „Ich Und die kleine Teekanne aus wollte nicht, dass mich alle so ihrem Zimmer musste unbedingt sehen.“ Sie hatte Angst, dass ihr mit. Auf der Flucht versteckte Vater sie auf einem Plakat ent- Zohre sie in einer Hütte in der decken könnte. Sie wollte nicht , in der sie Unterschlupf in Unterwäsche gesehen werden, gefunden hatten. Zu schwer. nicht im Bikini. „Ich dachte, dass Manchmal denkt Zohre heute, sie das eine Sünde ist.“ Auf gar kei- könnte sie suchen gehen. nen Fall nackt. Sie hat nicht lange Nichts durften die Flüchtlinge daran festgehalten. „Ich lerne von einem Land ins andere mit- schnell. Die Welt am Set ist nicht nehmen. Kurz hinter Moskau, real.“ Es ist kein leichtes Lernen noch weit vor der Grenze nach für eine Afghanin. Es verlangt viel Weißrussland, nahmen ihnen die Feinabstimmung, die nur in der Schlepper alles ab. Die Pässe, die eigenen Kultur selbstverständlich Lebensmittel, Fotos, die Uhren. ist. Wann ist ein Oberteil elegant? Sie sagten, dass man daran ihren Wann sitzt das Dekolleté zu tief? Fluchtweg erkennen könnte. Ein zerrissener Strumpf – Punk Nur die Kanne haben sie bis oder schon pornografisch? zuletzt übersehen. Und für die Sich kleiden zu können, wie Nüsse, die sie auf der Flucht aßen, sie will, bedeutet Freiheit. „Ein hat Zohre gekämpft. Als es schnell selbstbestimmtes Leben führen, gehen musste, sie alle in das klei- das war mein Ziel.“ Zohre hat sich ne Auto geschoben wurden und eine Burka im Internet bestellt. der von der Mafia, so nennt „Zur Erinnerung“, sagt sie. Nie- Zohre die Schlepper, die Tasche mand könne sich vorstellen, wie mit den Nüssen haben wollte. Sie es darunter sei, „stickig, im Som- hat ihn geschubst. „Mein Vater mer unerträglich“. war damals sehr stolz auf mich.“ Was von der Flucht Alles in Kabul war wie unter so Zohre glaubt, die Nüsse hätten übrig blieb: Silber- einer Burka. Nur auf den Bolly- ihnen das Leben gerettet. schmuck, ein Foto wood-Videos trugen die Frauen Der Hunger wurde zum Beglei- Kinder der Rivalin versorgen, aus Kindheitstagen schöne Stoffe, man sah ihren ter und Durst zur Qual. Nicht zu und ein Stoffbeutel neben ihren vier eigenen. Bauchnabel. „Alle haben darüber viel trinken, nicht im Bus, wer Mit zehn durfte Zohre gar nicht geschimpft. Und alle haben sie wusste schon, wann er wieder mehr draußen spielen, sie trug gesehen.“ Zohre aber sah im Fern- hielt. Nicht in diesem Verschlag, einen Tschador. „Die Taliban ver- sehen am liebsten Rex. „Der Schä- ohne Klo. Einmal waren Zohres boten sogar Musik.“ Zohre sieht ferhund aus Europa.“ Das Bild Fingernägel blau, die Augen gelb. noch den Mann auf dem Karren, war schwarz-weiß und flimmerte. Der Vater organisierte Zitronen. der mit dem Megafon alle ins Zohre verstand kein Wort, aber Doch der Körper brauchte vor Stadion ruft, zur Steinigung. Sie sie sah alles: „Das Glas an den allem Wasser und Sauerstoff. hörte damals das anfeuernde Häusern und den schönen Kom- Laufen, wieder laufen, wieder Geschrei. Ihr Vater hatte den missar.“ Manchmal rief sie sogar verstecken, wieder warten. Kindern verboten, zu dieser Ver- in Europa an. Ihr großer Bruder Schutzlos im eisigen Wind. Ein- anstaltung zu gehen. „Aber ein lebte schon zehn Jahre in mal dachte Zohre, sie müssten Kind hat viel Fantasie.“ Deutschland. Zohre schlich sich erfrieren. Nachts in dem Wald, Überall waren die Taliban, „mit in einen der vielen Telefonläden. als der Vater ihren Bruder schlug, diesen Patronengürteln und Ge- Sie hatte herausgefunden, dass der so schwach war. „Ich habe wehren“. Zohres Tante wurde aus- man dort zweimal die Null vor mich erschreckt, habe ihn ange- gepeitscht, weil auf dem Markt in der Nummer wählen musste, schrien: Warum tust du das?“ Kabul ihre lackierten Fingernägel schon war man da. Der Inhaber Doch der Vater war froh, dass unter der Burka hervorlugten. hatte vergessen, die teuren Fern- sein Sohn schrie: Er lebte noch. Zohre trägt heute Ferrari-roten gespräche zu sperren. Zohre hör- Aushalten, bis die Schlepper sie Nagellack. Es macht ihr nichts te nur die Stimme des Bruders, von hier wegholen würden, auf mehr aus, wenn die Zuschauer sie dann legte sie ganz schnell auf. blankem Eis hockend, dass sie nie- auf den Laufstegen der Fashion- Sie war so aufgeregt, als ihr Va- mand sah. Einen Tag, noch einen Weeks mit den Blicken abtasten, ter sagte: „Wir gehen auch nach und noch einen. Wenn sie über- ihre langen Finger, ihren Po, ihr Deutschland.“ Er hatte alles ver- leben wollten, mussten sie das dichtes Haar. „Wir Afghaninnen kauft, um den Schleppern die 5000 Versteck verlassen. Sie wanderten

142 stern 11/2013 in den nächsten Ort, dort war eine „Kommissar Rex“. Sie sah ihn Sie war fast 17, als sie dann in Telefonzelle. Der Vater brüllte in dicht hinter der Scheibe, nur ganz einem H & M-Laden die Kleider den Hörer. Dann wurde er ruhig kurz. Sie rüttelte den Vater: „Ger- ansah. „Du bist schön“, sagte die und legte auf. „Der Boss ist tot“, many, wir sind da, wir haben es Frau, die plötzlich hinter ihr stand. sagte er. Russische Konkurrenten geschafft!“ Zohre streifte ihr „Du hast Model-Qualitäten.“ Zoh- hatten ihn in ein Wohnzimmer ge- Kopftuch ab, sie sagte: „Papa, wir re dachte nie, dass sie schön sei. Zu lockt, hinter dem Sofa wartete der fallen sonst auf.“ Sie band es nie dünn, zu groß, ihre Nase zu klein Schütze und schoss ihm dreimal in wieder um. Ihre Stiefmutter trug für eine Afghanin. Als Kind hatte den Kopf. In der Organisation eine Strickmütze, sie ließ nur sie sich vor dem Schlafen eine Wä- herrschte Chaos, sie hatten die eine Strähne herausfallen. Und scheklammer darauf geklemmt, Flüchtlinge einfach vergessen. Die schämte sich. damit sie länger würde. Die Frau Schlepper schickten einen Fahrer, war Miss Hessen, sie gab ihr die der sie zum Haus des toten Bosses s sollte noch dauern, bis Zoh- Nummer von einem Fotografen. fuhr. Auf der Trauerzeremonie las re wirklich ankam. Noch so „Ein afghanisches Mädchen lässt Zohres Vater noch Suren aus dem Eviele Hindernisse. Asylbe- sich nicht fotografieren“, sagte Koran. Der Bruder des Toten über- werberheim. Die Sprache, die sie Zohres Vater. nahm das Geschäft, dann erst ging anfangs nicht konnte, die dicken Als dann noch eine ihrer es weiter. schwarzen Haare, an denen jeder Schwestern aus Kanada anrief Es war nur noch der Dreck, der sah, dass sie nicht deutsch war. und sagte, sie habe einen afghani- an ihnen klebte, und der Schweiß Die Schule, nach der sie sich so schen Mann für Zohre gefunden, von den Märschen und ständigen gesehnt hatte und in der sie keine fielen böse Worte. „Solche“, sagt Ängsten, der alle Kleiderschichten Freunde fand. Und ihr neues Zohre, „wie sie hier in Deutsch- durchzog. Mehr als ein halbes Jahr Zuhause in , das für sie land niemand sagen würde.“ war seit Kabul vergangen. Zehn Afghanistan blieb. Nicht ins Kino Zohre packte eine Hose ein, zwei Länder hatten sie passiert. Zwei- gehen, nicht schwimmen, nicht Pullis und eine dicke Jacke. Sie mal hatten sie schon versucht, Fahrrad fahren. Brüder, die über hatte mit den Lehrern gesprochen über die Grenze nach Deutschland sie wachten. und die mit dem Jugendamt. zu kommen. Zohre sagt, sie wüss- Aber Zohre war nicht allein, da „Wenn du dein Leben nicht mehr te nicht, über welches Land sie war die Nachbarin, die ihr Mar- „Wenn du dein erträgst“, sagt sie, „bist du zu zuletzt gekommen seien. Flücht- melade schenkte. Die Lehrerin, allem fähig.“ Als sie die Wohnung linge reden nicht darüber. die ihr sagte, dass auch ein Mäd- Leben nicht am frühen Morgen verließ und Zohre erinnert sich nur noch chen Basketball spielen darf. Der nicht wiederkommen sollte, wa- an den Lastwagen, sie waren auf alte Computer, den ihr jemand mehr erträgst, ren die Bäume vor dem Haus der Autobahn. Zohre konnte aus überließ. Die Sprache, die sie bald noch mit Raureif überzogen. ihrem Versteck hinter dem Vor- besser konnte als ihre Eltern, die bist du zu Eine Schande für ihren Vater, hang durch die Scheibe sehen. Da sie nun auf Ämter begleitete. Und einfach wegzulaufen. Für diesen war er, der Adler! Fast wie aus zum Zahnarzt. allem fähig“ Löwen, der auf der Flucht für ➔ Q2 Leute

halal.“ Sie muss dann immer an den argwöhnischen Vater den- ken, der immer noch nicht im Supermarkt kauft, sondern beim Türken, aus Angst vor Schwein.

m Set in Köln gibt es Pizza. Zohre hat sich gleich zwei A bestellt. Sie isst viel, „ich muss, sonst nehme ich ab, ich verbrenne gut“. In New York ist sie oft mit Ju- den essen. So viele Juden leben in Manhattan, so viele Schwarze, und viele wie sie selbst: Models. Sie trifft sie morgens beim Cas- ting, mittags beim Job und abends in den Clubs zum Feiern. Sie fliegt mit ihnen nach Costa Rica, fünf Stunden, zur Party einer Hoteleröffnung. „Und dann merk- te ich, das bin nicht ich.“ Zohre ist oft in New York, sie hätte dort Erst war da Spott, sogar leben können. Sie wollte dann wuchs daraus nicht. „Ich denke dann immer, Liebe: Zohre das alles will ich meinem Vater sie um jeden Platz im Bus ge- Jahr noch. Dann ließ sie endlich und ihr deutscher zeigen, meinen Geschwistern, Freund Robert kämpft hatte, der seinen Stolz nie die Fotos von sich machen. Eine meiner Stiefmutter.“ Wirkliche verlor, auch nicht, als damals die große Agentur nahm sie auf. Freude sei die, die sie mit der russischen Polizisten alle Männer Heute werden jede Woche Familie teilen könne, „so sind wir aus der Moschee holten und sie Fotos von Zohre geschossen. Sie Afghanen nun einmal“. zwangen, sich im Schnee auszu- muss nirgendwo mehr warten Sie hat in Deutschland Freunde ziehen, um Schmiergeld zu er- wie damals auf die Schlepper. Sie gefunden. Und einen Mann. pressen. Der ihr so viel nachsah. wird an der Schlange vorbeige- „Glaubst du, du kannst dir alles Von dem sie gelernt hatte zu führt. Clubs suchen nach schö- erlauben, nur weil du ein Jude kämpfen. Und den sie jetzt schon nen Frauen, die einfach nur da bist?“, hatte sie in einer Stuttgar- vermisste. sein müssen. Ihre Promoter fin- ter Diskothek zu dem Angeber Ihre Brüder würden sie suchen. den sie unter den Models. So mit dem Davidstern um den Hals Zohre wusste, was afghanischen ergeht es Zohre in „The Box“ gesagt. Sie lebt heute mit ihm in Mädchen passieren kann, die aus in New York, dem angesagten Düsseldorf. dem Elternhaus flüchten. Brü- Nachtclub in der Lower East Side, Frieden ermöglichte ihr aber cken, von denen sie fallen, oder in dem das Topmodel Karolina dieses Ehepaar in Stuttgart, Afgha- Autos, die sie anfahren. „So etwas Kurkova plötzlich so natürlich ist. nen und trotzdem modern. Die passiert in meiner Kultur.“ Viel Vor dem „Butter“-Club, wo P. Frau war so alt, wie Zohres Mutter schlimmer als die Angst aber war Diddy auf dem Sessel lungert und jetzt wäre, und ihr Mann ein das entsetzliche Heimweh. „Ich Jay-Z selbst zu seinem neuen Song Nachkomme Mohammeds. Er war weiß nicht, wie ich es ausgehal- tanzt. Oder diesem so unschein- es, der das Treffen mit dem Vater ten habe, dass ich in der Nacht baren Imbiss, innen wie ein arrangierte. Vor Männern, deren nicht zurückgekehrt bin, es hätte Bienenstock, in dem Beyoncé ihr „Wenn ich Stammbaum bis zu dem Pro pheten mich beinahe kaputtgemacht.“ vom Nebentisch einen guten zurückreicht, hat jeder Afghane Die Familie bekam eine schrift- Abend wünscht. „Ich hatte gro- in New York Respekt. Ihm hat Zohre zu ver- liche Mahnung vom Jugendamt, ßen Durst nach diesem Leben“, danken, dass sie heute wieder zum wenn Zohre etwas zustoße, stün- sagt Zohre. bin, denke Tee zu ihren Eltern fährt, dass ihre de sie im Fokus der Ermittlungen. Die Häuserfluchten, alles so Brüder ihren Mann akzeptieren. Noch so eine Beschämung für groß. Und so viel zu kaufen, „viel ich immer nur, Als sie ihren Vater Mal ihren Vater. Zohre tauchte in zu viel“. 50 verschiedene Oran- wiedersah, liefen dem alten einer anderen Stadt unter, ver- gensäfte in einem Supermarkt- das will ich Löwen Tränen über das Gesicht. steckte sich bei der Familie eines regal, jede Packung riesengroß. Er nahm sie in den Arm. „Was hast deutschen Freundes, sie musste Aber auch koschere Speisen in alles meinem du mir angetan?“, fragte er. Sie 18 sein, um eine Arbeitsgenehmi- kleinen jüdischen Restaurants. sagte: „Ich bin es doch, Zohre. Ich gung zu bekommen. Ein ganzes „Koscher essen ist doch fast wie Vater zeigen“ lebe jetzt nur anders.“ 2 ÜBER MYTHERESA.COM JACOBS MARC BY MARC VON LEDERJACKE BRANSCHEID/LIGAWEST; PETRA STYLING:

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