Gesellschaft

STASI Das Leben des anderen Wolfgang Schwanitz war Stellvertreter Erich Mielkes, sein Leben gehörte der Staatssicherheit. Hans-Eberhard Zahn hat sieben Jahre lang unschuldig in Gefängnissen der DDR gesessen. 17 Jahre nach der Wende kreuzen sich ihre Wege. Und die Geschichte wiederholt sich. Von Matthias Geyer

anz ruhig sitzt er da, auf einer Prit- sprochen. Es gab ja niemanden sonst. Er Er hat das, was er erlebt hat, aufge- sche aus Holz, seine Haare sind wollte nicht verrückt werden. schrieben, die Landesbehörde für die Un- Gweiß, er ist 78 Jahre alt. Seine Hän- Zahn erhebt sich, klopft seine Hose aus, terlagen des Staatssicherheitsdienstes hat de liegen auf den Knien, er guckt auf den richtet die Krawatte, macht einen Schritt es als Broschüre gedruckt, 88 Seiten, man Boden und erzählt die Geschichte seines zur Tür, dreht sich um, sagt: „Die hat kann sie mitnehmen, sie kostet nichts. Lebens. niemanden körperlich gefoltert. Die Stasi Hans-Eberhard Zahn spricht leise, aber hat psychisch gefoltert. Und psychische rei Tage nach der Führung in Hohen- man kann ihn gut verstehen. Der Raum ist Folter ist schlimmer als körperliche Folter. Dschönhausen liegt die Broschüre auf nicht groß, eine Kammer eher, 2,80 Meter Ich bin Zeuge. Denn ich habe es erlebt.“ einem Couchtisch in der Wohnung von lang, 1,60 Meter breit, 2,30 Meter hoch. Dann geht er hinaus, Zahn, Hans-Eber- Wolfgang Schwanitz. Er wohnt in einem Sie hat keine Fenster, denn sie liegt unter hard, sieben Jahre lang politischer Häft- Hochhaus in Ost-, ganz oben, in der der Erde. Sie war früher eine Gefängnis- ling der DDR, ein Opfer. Eins von an- vorletzten Etage. Er kann immer alles sehen. zelle der Staatssicherheit. Und er, der nähernd 250 000 Opfern einer deutschen Er ist 76 Jahre alt und hat ein weiches, Mann auf der Pritsche, hat in so einer Zel- Diktatur. gutdurchblutetes Gesicht. Er trägt ein ge- le gelebt, mehr als ein halbes Jahr lang, damals, 1953. „Wissen Sie“, sagt er, „man musste dafür sorgen, dass man nicht verrückt wird.“ Er spricht in die Gesichter einer Besuchergruppe, Amerikaner, die gierig sind auf deutsche Ge- schichte. Das Gefängnis der Staatssicherheit ist heute eine Ge- denkstätte, ein letzter Rest der DDR, und er, der ehemalige Häft- ling, erklärt Fremden, wie es ge- wesen ist. Die Amerikaner stehen da, ihre Augen messen die Zelle ab, zwei achtzig, eins sechzig, zwei dreißig. Die Frage ist, wie das geht, nicht verrückt zu wer- den; wenn es niemanden gibt, der mit einem redet; wenn es nichts zu lesen gibt, nichts zu schreiben, nichts, woran man sich festhalten könnte; wenn langsam die Sinne austrocknen. Hans-Eberhard Zahn hebt den Kopf, er blickt auf die Wand und sagt einen Text auf, die Sätze fließen aus seinem Mund wie eine Melodie, es sind Sätze, die er nie vergessen hat: „Wenn sich mein müdes Aug’ im Schlafe schließt, erschaut es Dinge, die ich tags ersehnen, ent- behren muss, bis nachts, im Tau der Tränen, dein holdes Bild aus tiefen Träumen sprießt.“ Es ist das 43. Sonett von Wil- liam Shakespeare. Er hat es sich vorgesprochen, damals, als er in diesem Verlies saß, Hunderte Male. Er hat es der Wand vorge- Opfer Zahn: „Ich bin Zeuge, denn ich habe es erlebt“

58 der spiegel 33/2006 stärktes Oberhemd, eine Hose mit Bügel- den großen Momenten des Gestern er- Inhaftierung ist immer psychisch belastend, falte und Hauspantoffeln. Er sieht aus wie zählen. Schwanitz redet von seinen großen äußerst belastend. Ich kann das Herrn ein ganz normaler alter Mann. Momenten bei der Staatssicherheit, von Zahn nachfühlen.“ Wolfgang Schwanitz war der Stellver- der guten DDR. Er kennt den Autor ja. Er kennt ihn so- treter Erich Mielkes. Sein Leben gehörte „Die Beziehungen zwischen den Men- gar ganz gut, seit einiger Zeit. der Staatssicherheit, fast 40 Jahre lang. schen waren doch häufig von Kamerad- Er hat auch eine Bezeichnung für ihn. Er Schwanitz ist ein Täter, der höchstrangige schaftlichkeit geprägt“, sagt er. „Es gab nennt ihn „Museumsführer“. Wie jeman- von denen, die noch leben. eine von gegenseitiger Achtung erfüllte Zu- den, der Rundgänge durch das Schloss Er geht in sein Arbeitszimmer und setzt sammenarbeit.“ Neuschwanstein veranstaltet. sich auf eine Couch. Hinter ihm steht ein Wolfgang Schwanitz kennt die Broschü- Er steht auf, holt ein Blatt Papier und ei- Regal mit vielen Büchern und einem Kopf re, die Hans-Eberhard Zahn geschrieben nen Stift, schreibt ein paar Wörter darauf, von Karl Marx. Die meisten Bücher han- hat. Er kennt auch das, was Zahn über sei- Wörter, die seine eigene Wirklichkeit be- deln von Ost gegen West, vom Kalten ne Bewacher geschrieben hat, über die Be- schreiben. Krieg, von der Zeit, in der er groß gewor- ziehungen zwischen Menschen, wenn man Er braucht nur ein paar Sätze dazu. Die den ist. „Fotografie im Klassenkampf“ so will. Museumsführer behaupten, dass die DDR heißt ein Buch. Er hat auch Bücher über „,Komm’ Se, jehn Se, nehm’ Se rin, das ein Unrechtsstaat gewesen sei. In der DDR die Olympischen Spiele. Die Sammlung war das gesamte Repertoire an Worten, die galten wie in allen Staaten Gesetze, die geht bis 1988. Es ist, als hätte danach die ich von meinen Bewachern in diesen Mo- einzuhalten waren. Wer Strafgesetze ver- Zeit aufgehört. naten im Keller zu hören bekam. Solche letzte, war ein Täter, kein Opfer. Jetzt Seine Frau bringt zwei Gläser Mineral- soziale Deprivation führt dazu, dass sich macht Deutschland – Schwanitz sagt: „die wasser und schließt die Tür. Es wird ein der extrem vereinsamte Häftling bald nach BRD“ – Gesetzesbrecher zu Opfern und Gespräch über die DDR und die Staats- jedweder Zuwendung zu sehnen beginnt, Gesetzeshüter zu Tätern. Das ist für Mit- sicherheit, über Recht und Unrecht, Täter auch nach negativer Zuwendung, etwa nach arbeiter des MfS unerträglich. und Opfer, damals und heute. Prügel“, schreibt Zahn an einer Stelle. „Wir werden dagegen kämpfen, und Wolfgang Schwanitz hat die Beine über- Wolfgang Schwanitz hört den Sätzen zwar ausschließlich auf der Basis des einandergeschlagen, behaglich sitzt er da, hinterher. Dann nickt er und sagt: „Na ja, Grundgesetzes der BRD. Und mit unseren ein bisschen gerührt ist er auch, so wie Isolation, das trifft auf viele Haftanstalten geistigen Waffen“, sagt Wolfgang Schwa- man es von alten Männern kennt, die von dieser Welt zu, mehr oder weniger. Eine nitz. Wir. Er ist nicht allein. Und sie haben eine Idee.

ie Begegnungen mit Hans- DEberhard Zahn und Wolf- gang Schwanitz sind Begegnun- gen aus dem Frühsommer 2006, fast 17 Jahre nach dem Fall der Mauer. Es ist eine deutsche Zeit, es ist die Zeit, in der eine Regie- rungskommission ein Gutachten vorstellt, es soll das Gedenken an die Verbrechen der SED ordnen, gestalten, regulieren. Es ist auch eine Zeit, in der ein Film Preise gewinnt, über den Deutschland redet wie schon lan- ge nicht mehr über einen Film, „Das Leben der anderen“. Er er- zählt die Verwandlung eines Sta- si-Spitzels in einen guten Men- schen. Es ist eine anrührende Ge- schichte, die ein gutes Ende hat. Aber es bleibt eine Fiktion. Eine Erfindung über etwas, was für im- mer vorbei ist, tot. Aber es ist nicht tot. Die Täter sind älter geworden, Opas. Sie sehen milder aus und damit harmloser. Aber es gibt sie noch. Ihre Partei, die PDS, die Er- bin der SED, ist im Bundestag vertreten. Sie sammeln sich – in gemeinnützigen Vereinen, in In- ternet-Foren, auf Veranstaltungen, auch auf Veranstaltungen im Deutschen Bundestag. Sie verbreiten ihre Version der Wahrheit. Marianne Birthler, die

FOTOS: GERHARD WESTRICH FOTOS: Bundesbeauftragte für die Stasi- Täter Schwanitz: „Wir werden mit unseren geistigen Waffen kämpfen“ Unterlagen, sagt, das Auftreten

der spiegel 33/2006 59 Gesellschaft GERHARD WESTRICH (L.);GERHARD WESTRICH / VISUM (R.) C&M FRAGASSO Verhörzimmer, Wachturm, Zelle, Registrierungszimmer im ehemaligen Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen: „Eine Inhaftierung ist immer der alten Männer sei kaltschnäuzig und of- sität, Psychologie. Der Freund ist vor ein Dann wird er hinübergeführt zur Ver- fensiv. Sie bittet Politiker, etwas zu unter- paar Stunden von der Staatssicherheit ver- nehmung, ein Zimmer mit Teppich, Re- nehmen, aber man kann nur schwer etwas haftet worden, weil er ein Agent gewesen naissance-Bücherschrank, einer bequemen unternehmen gegen Leute, die sagen, was sein soll. Zahn hat eine Aktentasche dabei, Couch und dem Duft von Kaffee und Ta- sie denken. Man kann sie nicht mit ihren er transportiert darin 67000 Ostmark und bak. Ein Vernehmer erscheint. „Guten Tag, eigenen Mitteln bekämpfen. eine Liste mit Adressen aus Ost-Berlin. Es Herr Zahn.“ Sie sind plötzlich wieder da. ist das Geld von Kommilitonen, die ihre Hans-Eberhard Zahn schießen Tränen Ihr Kopf ist Wolfgang Schwanitz. Schwa- Verwandtschaft im Osten unterstützen. Sie in die Augen – weil ihn jemand mit seinem nitz ist schlauer als die anderen, ge- haben sich organisiert, wie einen kleinen Namen angesprochen hat. schmeidiger. Er erkennt, dass man nicht Wohltätigkeitsverband, sie geben das Geld Draußen gibt es ihn nicht mehr. weit kommt als Verbund von Gleichen, als in einer Zentrale ab, und einer von ihnen Draußen ist das Jahr 1954, Deutschland Gruppe, die isoliert ist. Er sucht Verbün- fährt manchmal rüber, in ein Ost-Berliner wird Weltmeister, der VW-Käfer wird das dete, Kronzeugen. Die besten Kronzeugen Postamt, und lässt das Geld an die Adres- Gesicht des Wirtschaftswunders. Es ist die sind die, die aus dem Lager der Gegner sen der Verwandten überweisen. Diesmal Zeit der Auferstehungen, und Zahn sitzt kommen. Das ist die Idee. hat Hans-Eberhard Zahn die Tour über- unter der Erde. Als hätte ihn die Welt ver- Er wartet auf eine Gelegenheit. Er war- nommen. Er macht nichts Illegales. Er ist schluckt. tet auf den Tag, an dem aus der Idee Wirk- ein ganz normaler Bote. Wolfgang Schwanitz ist in diesem Jahr lichkeit wird. Und er findet jemanden. Zwei Männer in langen Mänteln gehen schon drei Jahre bei der Staatssicherheit. Einen arglosen, alten Mann, der auf einer auf ihn zu, legen ihm Handschellen an, Er begann als Hauptwachtmeister, seine öffentlichen Veranstaltung einen eigentlich drängen ihn auf die Rückbank eines Autos, Karriere verläuft mit der Präzision eines harmlosen Satz sagen wird. Schwanitz wird drücken seinen Kopf zwischen die Knie, Metronoms. mit Hilfe seiner Freunde von damals diesen Schwanitz ist gerade Satz verfälschen, in sein Gegenteil ver- Hans-Eberhard Zahn denkt: „Schlag mir doch kommissarischer Leiter der kehren. Er wird diesen Mann für seine Kreisdienststelle Weißensee Zwecke missbrauchen, denn er weiß, dass in die Fresse, schlag mir bitte in die Fresse.“ in Berlin, als das Stadt-Ge- der Mann sich nicht wehren kann. Er richt Großberlin, Strafsenat macht aus einem Opfer der Staatssicher- fahren los, führen ihn in einen Raum, er 1 c, das Urteil gegen Hans-Eberhard Zahn heit jemanden, der die Methoden der Sta- muss sich ausziehen, er fragt, nackt, nach spricht, nach zwei Verhandlungstagen. Sie- si verteidigt. Er macht ihn zum Kronzeu- dem Grund seiner Verhaftung, sie sagen, ben Jahre. 2555 Tage. Zahn zählt rück- gen seiner Wirklichkeit. das wisse er selbst am besten. wärts von jetzt an, er weiß immer genau, Es ist Hans-Eberhard Zahn, der Mu- 67000 Mark und eine Liste mit Adres- wie viele Tage es noch sind. seumsführer. Er wird, 16 Jahre nach dem sen. Sie halten ihn für einen großen Spion, Ende der DDR, zum zweiten Mal Opfer. der den kleinen Spionen ihre Gagen bringt. ans-Eberhard Zahn führt die Besucher Sie vernehmen ihn drei Nächte hinter- Hüber einen Innenhof, sie gehen stumm arum sind Sie inhaftiert worden?“, einander. Wenn sie ihn bei Anbruch des hinter ihm her, bis er vor einer hohen Mau- Wfragt eine Frau aus der amerikani- Tages zurückführen in seine Kellerzelle, er stehenbleibt. Hinter der Mauer war das schen Besuchergruppe. legt er sich auf die Holzpritsche, schläft Haftarbeitslager der Staatssicherheit, er hat Zahn sagt: „Weil man sagte, ich sei eine ein, schreckt hoch, weil ein Knüppel an ein Jahr darin verbracht. Bedrohung für den Frieden Deutschlands seine Zellentür knallt: „Aufstehn!“ Als er ankommt in diesem Lager, am und der Welt.“ Er steht an den Stufen, die Die Vernehmungen führen zu nichts. 25. September 1958, wundert er sich dar- zum Kellergefängnis in Hohenschönhau- Tage vergehen, Wochen, Monate. Manch- über, dass die Häftlinge Kontakt mitein- sen führen, und lächelt fein. mal vergehen Wochen, in denen Zahn nur ander haben dürfen. Alles ist frei, man Es ist der 14. November 1953, als Hans- hingebellte Kommandos hört. darf reden, rauchen sogar, es gibt auch ein Eberhard Zahn mit einem westdeutschen Er denkt: „Schlag mir doch in die Fres- Schwimmbad. Zahn glaubt für ein paar Motorroller zu der Wohnung eines Freun- se, schlag mir bitte in die Fresse.“ Tage, dass es doch so etwas gibt wie einen des im Ost-Berliner Stadtteil Johannisthal Es ist die Sehnsucht nach einer mensch- humanen Umgang der DDR mit ihren fährt. Zahn studiert an der Freien Univer- lichen Regung. Feinden.

60 der spiegel 33/2006 FOTOS: GERHARD WESTRICH FOTOS: psychisch belastend, äußerst belastend“

Es ist ein großer Irrtum. Alles, was er Am 21. November 1960 wird der Entlas- durch zielstrebige Arbeit verhindert wer- Mithäftlingen erzählt in dieser Zeit, seine sungsschein ausgestellt, für Zahn, Hans- den konnten und in deren Ergebnis eine Ansichten über die DDR, seine Verachtung Eberhard. Darauf steht, dass er „auf der Reihe von Feinden der Deutschen Demo- für dieses Regime, landet bei der Lagerlei- ihm vorgeschriebenen Fahrstrecke in kür- kratischen Republik inhaftiert wurden.“ tung. Seine Mithäftlinge sind in Wirklich- zester Frist das Gebiet der Deutschen De- Ach, zeigen Sie doch mal, das ist aber in- keit Verräter. Das Lager züchtet seine eige- mokratischen Republik zu verlassen hat“. teressant, so etwas noch mal zu sehen, nen Spitzel, sie vermehren sich wie eine Sein Zug fährt um 16.23 Uhr. nach den ganzen Jahren, sagt Schwanitz. Pilzkultur. In West-Berlin macht er Karriere als Er hat sich auf dieses Gespräch einge- „Dieses Lager“, sagt Zahn vor der ho- Wissenschaftler. Er schreibt Aufsätze über lassen, weil er der Meinung ist, dass dieses hen Mauer, „war eine Denunziationshölle, das, was er in der DDR erlebt hat. Manch- Land, „die BRD“, ihn nicht anständig be- die DDR als Nussschale.“ mal hält er auch Vorträge. Er glaubt, dass handelt. Er sagt, dass die Gerichte festge- Wolfgang Schwanitz wird in dieser Zeit er die Staatssicherheit für immer hinter stellt hätten, dass die Staatssicherheit kei- kommissarischer Leiter der Verwaltung sich gelassen hat. ne verbrecherische Organisation gewesen Groß-Berlin, Abteilung II, Spionageab- sei. Dass es nämlich 25 000 Ermittlungs- wehr. In einer Beurteilung heißt es: „Er olfgang Schwanitz hat Jahre nach verfahren gegeben hat und nur 20 Verur- ist kritisch, unduldsam, bisweilen etwas im- Wdem Ende der DDR einen Leserbrief teilungen, davon nur eine mit Haft. pulsiv bei der Durchsetzung operativer geschrieben, er wurde in der „Super Illu“ Mit welchem Recht, fragt er, müssen wir Aufgaben.“ Ein Satz wie ein Prädikat. abgedruckt. Es hieß darin, er habe in seinem uns als Kerkermeister beschimpfen lassen, Hans-Eberhard Zahn darf jeden Monat Leben nie gefoltert oder eine Folterung ge- als Stasi-Knechte, als Verbrecher? Mit wel- einen Brief an seine Vertrauensperson leitet. „Das“, schrieb er, „widerspräche zu- chem Recht zahlt uns die BRD weniger schreiben, er schreibt an seine Freundin tiefst meiner humanistischen Gesinnung, ob Rente, als es die DDR getan hätte, wenn es Uschi. Sie haben, bevor er verschwand, in Sie das nun glauben oder nicht.“ sie noch gäbe? „Ich sage das nur mal so ne- Berlin gelebt, hatten eine gemeinsame Das Gespräch in seiner Wohnung geht benbei“, sagt er. Wohnung, gingen gern ins Theater, sie war um die Würde des Menschen, um Freiheit, Es gibt auch eine Anlage zum Urteil ge- das Herz dieser Beziehung, er der Kopf. und die Frage ist, ob es mit seiner Vorstel- gen Hans-Eberhard Zahn, die liegt jetzt „Wir gehören doch zusammen“, solche lung von Humanismus vereinbar ist, wenn ebenfalls auf dem Couchtisch von Wolf- Sätze schreibt er immer wieder. man Menschen ihre Freiheit nimmt. gang Schwanitz. Darin steht, dass der An- Im September 1959 wird er in die Kom- „Wissen Sie“, sagt er, „Sie betrachten geklagte sein Recht verliert, ein öffentli- mandantur gerufen, zwei Offiziere sitzen das mit Ihren Augen, mit westdeutschen ches Amt zu bekleiden; sein Recht verliert, da, blättern in seiner Akte. Einer sagt: Augen. Wenn man sich für einen revolu- eine Pension zu beziehen; sein Recht ver- „Glauben Sie doch nicht, dass Ihre Freun- tionären Weg entscheidet, und die DDR liert, sich irgendwie politisch zu betätigen; din Ihnen noch treu ist. Was meinen Sie, ist diesen Weg sehr mutig gegangen, dann sein Recht verliert, innerhalb von fünf Jah- von wie vielen Männern die schon gefickt darf man auch vor weiteren Konsequenzen ren nach der Freilassung einen Beruf aus- worden ist.“ Zahn verliert die Beherr- nicht zurückschrecken.“ zuüben; sein Recht verliert, ein Kraftfahr- schung. Er brüllt: „Ihr seid Arschlöcher, Auf dem Couchtisch liegen jetzt Papie- zeug zu halten. ganz miese Arschlöcher.“ Er bekommt 21 re, Auszüge aus seiner Personalakte, man Ho, sagt Wolfgang Schwanitz erstaunt, Tage verschärften Hausarrest. kann daraus herleiten, was das zu be- ho. „Das habe ich ja noch nie gehört.“ Er Nach ein paar Tagen öffnet ein Wächter deuten hat, wenn Wolfgang Schwanitz guckt lange auf das Papier. Ja, Herr Zahn die Tür, wirft einen Brief auf den Boden. nicht vor weiteren Konsequenzen zurück- war wohl ein Opfer, sagt er. Als wäre das Zahn hebt den Brief auf, erkennt, dass es schreckte. hier ein Unfall, ein Blechschaden der DDR- sein eigener ist. Der letzte, den er seiner „Unter unmittelbarer Anleitung des Ge- Geschichte. Freundin geschrieben hat. Er sieht einen nossen Major Schwanitz wurden durch die Er legt das Papier zurück. „Aber was Vermerk darauf, von Hand geschrieben. Abteilung II eine Reihe wichtiger operati- hat das mit mir zu tun?“ „Empfänger verstorben“. ver Vorgänge mit großer politischer Be- Seine Freundin hatte sich vor die S-Bahn deutung erfolgreich bearbeitet und liqui- s ist der 18. Oktober 2005, ein Dienstag, geworfen. Von diesem Moment an hört er diert. Es handelt sich hierbei um gewalt- Eals sich die Lebensgeschichten von auf, die Tage zu zählen. same Grenzdurchbrüche des Gegners, die Wolfgang Schwanitz und Hans-Eberhard

der spiegel 33/2006 61 Gesellschaft BERLIN PRESS / ACTION PRESS PRESS / ACTION BERLIN Früherer stellvertretender Stasi-Chef Schwanitz (Kreis)*: Schlauer als die anderen

Zahn miteinander verbinden. Zahn be- hausen ist nicht körperlich, sondern psy- sucht an diesem Tag eine Veranstaltung im chisch gefoltert worden. Wenn man Folter Bezirksamt von Hohenschönhausen. Er auf körperliche Schmerzzufügung redu- hat eine Notiz in der Zeitung gelesen, ein ziert, dann ist in der Tat nicht gefoltert Buch wird vorgestellt, es heißt: „Das Gru- worden. Und es ist auch nicht auszusch- selkabinett des Dr. (lari)“. ließen, dass einige Führer in der Exklusi- Der Titel bezieht sich auf die Gedenkstät- vität der Situation etwas behaupten, was te Hohenschönhausen und ihren Direktor, nicht stimmt.“ Hubertus Knabe. Das Buch beschreibt das Es gibt keine Belege für diese Sätze. ehemalige Stasi-Gefängnis als humane Aber es ist glaubhaft, dass Hans-Eberhard Vollzugsanstalt, es behauptet, in der Ge- Zahn sie so gesagt hat. Er ist stellvertre- denkstätte werde die Geschichte verfälscht. tender Vorsitzender im Beirat der Ge- 250 Männer sind da, alte Männer, grau denkstätte. Er hat sein Leben daran ge- geworden, ehemalige Mitarbeiter der bunden, an das Erinnern, an eine Diktatur. Staatssicherheit. Täter, die sich zu Opfern Aber er hat keine Zeugen für seinen umdeuten. Auch Wolfgang Schwanitz ist Auftritt bei den Stasi-Leuten. Er war nicht da, der Klügste, der Kopf – 250 und Zahn. einer neben 250 anderen, er war einer ge- Er ist gekommen, weil er hören will, was gen 250 andere. diese Leute sagen. Weil sie ihm sieben Jah- Hans-Eberhard Zahn hat in dieser Ver- re seines Lebens genommen haben. Er sammlung ein paar Wörter gesagt, die man empfindet keinen Hass. Er sagt, er sei der verdrehen kann, die man neu zusammen- Sieger der Geschichte. Es ist Neugierde, setzen kann, zu einem neuen Inhalt, zu ei- er möchte diese Männer betrachten, so wie ner Aussage, die aus einem Ankläger einen ein Sammler einen seltenen Schmetterling Verteidiger macht, einen Zeugen für die betrachtet. Er meint, der Schmetterling sei Täter, nicht für die Opfer. Es ist leicht, je- vertrocknet. manden in Verruf zu bringen, der sich Schwanitz steht am Rednerpult bei die- nicht wehren kann. Die Staatssicherheit ist ser Buchvorstellung, lebendig, wach, er tot, aber die Methoden haben die Zeit kann sehr gut reden. Er sagt, sinngemäß: überdauert. Hohenschönhausen war eine moderne Un- Es vergehen nur ein paar Tage, bis im tersuchungshaftanstalt, wie es sie in ande- Wohnzimmer von Hans-Eberhard Zahn ren Staaten auch gibt. Es gab keine Folter das Telefon klingelt. „Wolfgang Schwanitz. durch Mitarbeiter des Haftvollzugs, wie Wir sollten mal miteinander reden.“ das immer wieder behauptet wird. „Ja, warum nicht? Das könnten wir gern Als er fertig ist, läuft Hans-Eberhard tun“, sagt Zahn. Die beiden reden noch ein Zahn nach vorn. Er würde gern etwas paar Sätze, Belanglosigkeiten, sie verabre- anmerken dazu, sagt er. Denn es ist das den sich. Zahn geht durch seine Wohnung, Thema seines Lebens. Nach seiner eigenen interessant, denkt er, das ist ja interessant. Erinnerung sagt Zahn: „In Hohenschön- Er ist neugierig auf das Gespräch. Sie treffen sich im Reisezentrum am * Bei der Beisetzung des Ex-Stasi-Chefs im Bahnhof Friedrichstraße, 3. Februar, 18 Jahr 2000. Uhr, und gehen in ein vietnamesisches

62 der spiegel 33/2006 Restaurant. Sie reden über die DDR, über cherheit ihre Wirklichkeit verbreiten. Sie die Staatssicherheit. Schwanitz macht auf bezeichnen ihn da als „allseitsbekannten Zahn den Eindruck eines Biedermanns, Anti-Kommunisten“ und behaupten: „Er eines Neutrums. widersprach energisch den Märchen von Dass er sich täuscht, merkt er erst fünf den Folterzellen und Verhörmethoden Wochen später. Wieder gibt es eine Ver- des MfS.“ sammlung im Bezirksamt Hohenschön- Er findet sich in einem Buch wieder, in hausen, es ist der 14. März 2006, wieder dem die Versammlung aus Hohenschön- sind die alten Männer von der Staatssi- hausen noch einmal beschrieben wird. Er cherheit da, aber sie sind nicht allein, der liest den Satz: „Herr Zahn kehrte ans Mi- Saal ist voll mit Opfern der DDR-Justiz, krofon zurück und bekannte ohne Um- politisch Verfolgten, Inhaftierten. Es geht schweife: ‚Ja, es wird dort gelogen, auch darum, welche Gedenktafeln in Hohen- schlimm gelogen.‘“ schönhausen aufgestellt werden dürfen, wo Er schickt einen Brief an den Buchverlag, sie aufgestellt werden dürfen. darin schreibt er: „Mit derartigen Entstel- Jeder darf hier etwas sagen, das Mikro- lungen folgt man offenbar auch heute noch fon wird durch den Saal getragen, auch den alten MfS-Traditionen.“ Er zitiert aus nach hinten, wo die alten Männer sitzen, der „Richtlinie Nr. 1/76, MfS Nr. 100/76“, in als Gruppe, als Einheit, auch Schwanitz ist der es heißt: „Bewährte anzuwendende dabei. Einer von ihnen sagt, es gebe wel- Formen der Zersetzung sind: systematische che, „die sich leider immer wieder als Op- Diskreditierung des öffentlichen Rufes, des fer darstellen und uns als ehemalige Mit- Ansehens und des Prestiges.“ arbeiter des MfS als Täter deklarieren“. Ein anderer sagt, die Häftlinge der ganzen olfgang Schwanitz sitzt auf dem Sofa DDR hätten sich danach gedrängt, ins Ar- Wvor seiner Bücherwand, vier Stun- beitslager nach Hohenschönhausen zu den dauert das Gespräch jetzt, seine Frau kommen. Er meint das Lager, das Zahn war eben noch mal drinnen und sagte, er „eine Denunziationshölle“ nennt. müsse sich jetzt aber ausruhen. Das Ge- Ein Dritter steht auf, seine Stimme zittert, spräch geht gerade um die Frage des Miss- das Mikrofon in seiner Hand zittert: „Ich brauchs von Menschen. möchte nur erwähnen, dass hier im glei- „Sehen Sie“, sagt Schwanitz, als die Tür chen Saal der Ihnen bekannte Herr Zahn wieder geschlossen ist, „wir schätzen Herrn geäußert hat: In der Gedenkstätte wird ge- Zahn sehr. Er bemüht sich in Einzelfragen logen, und zwar sehr schlimm gelogen.“ um Objektivität. Wir führen vernünftige Es sind die Methoden der Zersetzung, Gespräche mit ihm, um ihn und seine die hier wieder funktionieren. Sie verdre- Freunde besser verstehen zu lernen.“ hen die Worte, die Zahn gesagt hat, sie Wir. Alles Opahafte ist verschwunden, setzen sie zu einem neuen Inhalt zusam- als Wolfgang Schwanitz „wir“ sagt. men, sie bringen einen Menschen in Ver- Wir, das sind die Übriggebliebenen eines ruf, der sich nicht wehren kann. Regimes, die dabei sind, deutsche Ge- Hans-Eberhard Zahn ist diesmal nicht schichte umzudeuten. Sie verstecken sich im Publikum. Er ist verreist, weit weg. nicht mehr. Als er zurückkehrt, findet er sich wieder „Wissen Sie“, sagt Wolfgang Schwa- in einer Welt, die er längst vergangen nitz, „wir wollen nicht provozieren. Es liegt nicht in unserer Ab- Folter, schrieb Schwanitz, „widerspräche sicht, Betroffene zu verhöh- nen. Es geht um Sachlich- zutiefst meiner humanistischen Gesinnung“. keit, Wahrheit und Objekti- vität.“ glaubte. Er ist ein Wehrloser im Griff sei- Er trinkt sein Mineralwasser aus, steht ner Gegner von damals. Der Satz, den er auf und sagt, er müsse sich jetzt ausruhen. angeblich gesagt haben soll, hat sich ver- breitet in Berlin, Freunde haben ihn an- ans-Eberhard Zahn öffnet einen gerufen, sie fragten: „Stimmt das? Was HSchirm, Regen fällt über das Gelände in machst du da? Warum lässt du dich ein mit Hohenschönhausen. Seine Besuchergruppe solchen Leuten?“ ist weg, er steht zwischen hohen Mauern Er will den Mann verklagen, der be- und sagt: „Die Methoden funktionieren hauptet hat, er habe gesagt, dass in Ho- noch, die Methoden der Zersetzung.“ henschönhausen gelogen wird. Es geht um Er hat es zu spät erkannt. Er dachte, seinen Ruf. Er fragt den Leiter der Ge- diese Leute seien harmlos. Er dachte: Sie denkstätte um Rat, wie macht man so et- haben doch keine Macht mehr, sie sind was? Wer könnte ihm helfen? Der Leiter doch tot. Er weiß jetzt, dass er sich geirrt sagt ihm: Wenn du zwei Zeugen findest, hat. Dass sie gar nicht tot sind, dass sie engagieren wir einen Anwalt. Aber Zahn leben, und er hat es nicht gemerkt. hat keine Zeugen. Zeugen haben nur die Der letzte Satz, den er den Amerika- anderen. Es ist aussichtslos. nern vorhin gesagt hat, war: „Freiheit ist es Überall begegnet er jetzt seinem eigenen wert, verteidigt zu werden.“ Er hat ihnen Namen. Er stößt auf ein Forum im Inter- alles aus der Vergangenheit erzählt und net, in dem die alten Kader der Staatssi- nichts aus der Gegenwart. ™

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