2.2013 www.libmag.de 7,90 euro

Debatten zur Freiheit

Ausweitung der Toleranzzone TITA VON HARDENBERG SCHWERPUNKT: AUF DEM WEG ZUR VOLLBESCHÄFTIGUNG MIT BEITRÄGEN VON PETER GLASER KARL-HEINZ PAQUÉ SASCHA TAMM

JOSEF JOFFE: Wie sich die liberalen Positionieren müssen CHRISTIAN ULMEN: Warum iNNERE FREIHEIT VERNUNFT ist 02 JOACHIM HUNOLD: wieso DEUTSCHLAND abzustürzen droht 007907 198256 4 Lassen Sie doch mal wieder die Kinder gewinnen – mit Ihrer Pfl ege- Zusatzversicherung

Wenn im Pfl egefall Kosten von mehreren Tausend Euro im Monat zusam- menkommen, reicht die gesetzliche Pfl egeversicherung nicht aus. Dann müssen unsere Kinder für die Rechnung der Eltern geradestehen. Gut, dass der Staat jetzt die zusätzliche private Pfl egevorsorge fördert. Sie hilft Jung und Alt. Erfahren Sie mehr unter www.pkv.de EDitorial

ie Debatten des Jahres lassen erah- Air , Joachim Hunold – nicht nur ihm nen, welcher Tonfall den Bundes- schuldet die Politik Antworten. tagswahlkampf bestimmen wird. Man kann an zwei Berliner Kiezen die ganz DDas Übermaß an vermeintlich mo- unterschiedliche Problemwahrnehmung der ralischer Empörung bei gleichzeitiger aggres- breiten Bevölkerung einerseits und der Me- siver intellektueller Unredlichkeit legt nahe, dienschaffenden andererseits aufzeigen. Im dass wir einen Wahlkampf erleben werden, der Prenzlauer Berg sorgt der grüne Bezirksstadt- weniger denn je von Argumenten getragen sein rat Jens-Holger Kirchner mit dem Verbot von Lassen Sie doch wird. Vordergründig scheint das ein Nachteil „Luxussanierungen“, also der Renovierung von zu sein für eine pluralistische Partei starker „vielleicht Badezimmern oder dem Anbau von Balkonen, Charaktere, die einerseits ihre internen Mei- für wohlwollende Schlagzeilen. Sein neuester mal wieder die nungsverschiedenheiten laut und vernehmlich ist eine Vorstoß zielt darauf, Restaurantgründungen zu austragen, dabei aber andererseits in der Kon- verbieten. Die in den vergangenen 20 Jahren kurrenz mit dem anderen politischen Lager auf gewisse Ge- zugezogene Medien-Bohème goutiert das: Man Kinder gewinnen – dessen Tonfall der Auseinandersetzung nicht gentrifiziert seine Umgebung, bis man sich eingehen – dem Rat der Bibel folgend: „Antwor- lassenheit die wohlfühlt und das Ergebnis erhält unter einer te dem Narren nicht nach seiner Narrheit, dass gesetzlichen Käseglocke Bestandsschutz. Zu- mit Ihrer Pfl ege- du ihm nicht auch gleich werdest!“ einzig richtige gleich hat der Rechtsstaat in Neukölln, wo die Doch vielleicht ist eine gewisse Gelassen- Reaktion der migrantische Bevölkerung sich nicht primär Zusatzversicherung heit die einzig richtige Reaktion der FDP. Selbst aus europäischen und amerikanischen Akade- hartgesottene Politredakteure schütteln inzwi- mikern rekrutiert, Hausverbot. Die Freiheits- schen den Kopf über die Unsachlichkeit der FDP.“ preisträgerin Necla Kelek schildert das Phäno- nur vermeintlich politischen Auseinanderset- men der „Friedensrichter“ ab Seite 80. zungen. Den meisten Menschen geht es wohl david harnasch Zwar neigt die deutsche Volksseele zu ir- nicht anders. Sie diskutieren andere Themen Chefredakteur rationalen Überreaktionen, wie die Mehr- als die Talkshows. Zumal es wirklich politische heitsmeinung zu Gentechnik, Fracking oder Fragen gibt, die dringend geklärt werden müs- Kernkraft zeigt. Aber in der Bevölkerung ist sen: Wie große Infrastrukturprojekte erfolg- mehr gesunder Menschenverstand vorhan- reich umgesetzt werden können, ist nicht nur den als unter den Medienschaffenden, die mit Blick auf Flughäfen und Bahnhöfe von zuerst den garantierten Rauswurf der FDP aus Bedeutung, sondern wird im Rahmen der dem Niedersächsischen Landtag vorab beju- Energiewende jeden Haushalt betreffen. Jene belten, um dann dem Wähler vorzuwerfen, Hunderttausende, die ihre Stromrechnungen dass er seine Stimmen taktisch wohlüberlegt schon jetzt nicht mehr begleichen können vergab. Wäre nicht die FDP Nutznießerin die- oder im Schatten einer Windturbine oder ei- ses klugen Handelns gewesen, hätte man es nes neu zu errichtenden Hochspannungsmas- als Sternstunde der politischen Mündigkeit tes wohnen mehr – diejenigen mit hohem gefeiert. Gut beraten wäre die FDP, wenn sie Einkommen weniger respektive eher in Form im Gegensatz zu den schlauen Wahlanalysten Wenn im Pfl egefall Kosten von mehreren Tausend Euro im Monat zusam- der Frage, ob die Solarmodule auf dem Dach die einzige Lehre beherzigte, die man wirklich menkommen, reicht die gesetzliche Pfl egeversicherung nicht aus. Dann auch in 20 Jahren noch rentieren. Die Frage aus der Niedersachsenwahl ziehen kann: dass müssen unsere Kinder für die Rechnung der Eltern geradestehen. Gut, dass nach der Zukunftsfähigkeit des Landes stellt man die Demoskopie nicht zu ernst nehmen

Illustration: E. Merheim nach einem Foto von A. Meissner von E. Merheim nach einem Foto Illustration: in dieser Ausgabe ab Seite 74 der Gründer von sollte. Was zählt, ist an der Urne. ● der Staat jetzt die zusätzliche private Pfl egevorsorge fördert. Sie hilft Jung und Alt. Erfahren Sie mehr unter www.pkv.de

liberal 2.2013 3 standards

3 editorial 4 inhalt 6 #liberalmagazin 8 fremdsehen 40 mierschs mythenlese Klima und Meinungsklima 42 Zentralmotiv Internationaler Frühschoppen 44 Wutprobe Lufthoheit 46  autoren der freiheit Tanja Dückers 47 schwerpunkt „Zukunft der Arbeit“ Freidenker Kreuzworträtsel Auf dem Weg zur Vollbeschäftigung 60 Versprachen Politiker in vergangenen Jahrzehnten Vollbeschäftigung, mutete das angesichts Millionen Lagebericht Arbeitsloser wie blanker Hohn an. Der Glaube daran war ungefähr so fest wie an Norbert Blüms Diktum: Prohibition weltweit „Die Rente ist sicher.“ Doch nun, da die Babyboomer aus dem Erwerbsleben ausscheiden, werden­ 62 ­Arbeitskräfte langsam rar. Vollbeschäftigung ist keine Utopie mehr – sichere Renten umso mehr. Duell/Duett Herzinger trifft Abdel-Samad 75 10 20 IMPRESSUM Zukunftsmodell Ballast abwerfen 79 Deutschland ist im Umbruch: Die Bevölke­­­ In einer Marktwirtschaft sind Gewerkschaften steuerversenkung rungsstruktur des Landes verändert sich in den legitime Akteure. Faktisch missbrauchen des quartals kommenden Jahrzehnten massiv. Am stärksten sie jedoch Mitgliedsbeiträge, um ihre staats­ davon betroffen ist der Arbeitsmarkt. gläubige Haltung zu propagieren. Das könnte sich 92 Von Kapka Todorova ändern – wenn es unter den Organisationen zitate der FreiheiT Christian Ulmen stärkere Konkurrenz gäbe. Träumerei vom Ende 16 eines Quasi-Monopols. Von Sascha Tamm 93 BÜCHER schöne neue Arbeitswelt In der Arbeitswelt der Zukunft werden die 22 96 Arbeitnehmer am längeren Hebel sitzen, glaubt The Kids are Alright Wolfgang Gerhardt Trifft Karl-Heinz Paqué. Der frühere Finanzminister Die Chefs der Startups im Silicon Valley werden Matthias Horx von Sachsen-Anhalt erwartet als Folge des immer jünger. Denn niemand weiß so gut wie demografischen Wandels eine Renaissance der diese Teenager, was ihre Altersgenossen in der

Vollbeschäftigung. Ein Interview. Onlinewelt wollen. Von Peter Glaser eiffenbach

Von Boris Eichler im W liberal im Abonnement

Alles dazu auf Seite 45 T llustration:

4 2.2013 liberal gesellschaft wirtschaft kultur

28 Wohlsein 64 nehmen ist seliger denn geben 80 beim Barte des Propheten Das Pflegeheim Öjendorf bietet alko­ Sie sind die größten Arbeitgeber des Nicht nur Familienangelegenheiten schlich­ holkranken Menschen ein Zuhause. Das ­Landes. Und wo immer in den Wachs­ ten die sogenannten „Friedensrichter“ – sie Besondere: Jeder darf so oft und so viel tumsfeldern des Sozialstaats etwas zu mischen sich auch in Strafsachen ein. Der trinken, wie er will. Von Frank Burger holen ist, sind die Wohlfahrtsverbände Folgen dieser muslimischen Schattenjustiz vorn mit dabei. Von Konrad Fischer scheint sich der deutsche Rechtsstaat nicht 34 Reifeprüfung bewusst zu sein. Von Necla Kelek Rechtes Denken lässt sich nicht durch 70 Himmelsstürmer ein Verbot der NPD eliminieren. Eine Früher war Solomon Passy Außenminister 84 die Neue Sangeslust freiheitliche Gesellschaft muss auch diese Bulgariens. Heute will der Liberale Ordnung Im Dritten Reich ideologisch missbraucht, Gesinnung aushalten. Von Stefan Ruppert in das Weltall bringen. Von Kapka Todorova war das gemeinschaftliche Singen aus dem Alltag verschwunden. Nun erleben 36 helen gegen Goliath 74 Absturzgefahr Chöre ihre Wiederauferstehung – in urba­ Helen Zille ist die Großnichte des Berliner Deutschland droht der Regulierungswut nen Szenekneipen. Von Ralf Kalscheur Milieumalers Heinrich Zille. Die liberale seiner politischen Klasse wegen zum Politikerin kämpft dafür, dass die Demo­ ­Globalisierungsverlierer zu werden. 90 kein Schwein geworden kratie in Südafrika nicht scheitert. Ein Von Joachim Hunold Im Deutschland der 70er-Jahre war der Porträt Von Wolfgang Drechsler Mainstream links – trotzdem fühlte man 76 orgien der Illegalität sich als Rebell. Diese Haltung haben sich 48 die ZUKUNFT KOMMT – BESTIMMT Griechenlands Problem sind nicht allein viele Journalisten bis heute bewahrt. Der Deutschen liebste Prognosen sind seine Staatsschulden. Die Sanierung des Von jan Fleischhauer finster. Und der Lust an Dystopien folgt die Landes wird nur gelingen, wenn der Staat Lust an dirigistischen Eingriffen. es schafft, die Korruption in den zu Griff 94 Urbane Lebensblüten Von JAN-PHILIPP HEIN bekommen. Von ellen Madeker Das ARD-Magazin „Polylux“ ist fünf Jahre nach seiner Einstellung Legende. 50 upgrade zum erfolg Markenkern der Sendung war es, die Die FDP hat ein Angebots- und Stand­ Grenz­bereiche der Freiheit auszuloten. ortproblem. Beide sind in Wahrheit eins. Von Boris Eichler Das Problem heißt: Positionierung im politischen Markt. Von Josef Joffe

54 die groSSe ernüchterung Wie ein Freiheit liebendes Land wie die App-VERSION . E rnst USA dazu kam, den Alkohol zu verbieten: zur Geschichte eines teuren und gefährli­ Wenn Sie noch tiefer in die Debatten zur Freiheit eintauchen wollen, empfehlen wir Ihnen die App-Version von liberal. Sie ist als iPad- und otolia; RBB / T otolia; chen politischen Fehlers. Von Oliver Jeges Androidversion für Abonnenten gratis erhältlich (Zugangscode auf dem Adressetikett) und enthält multimediales Zusatzmaterial: . Jonkmanns; F Video Bildergalerie Audio(slide) Leseprobe otos: B otos: F

liberal 2.2013 5 #liberal

Ranking

Tschad Bevölkerungsanteil 1 80 unter der Haiti Armutsgrenze 2 80 Liberia Als armutsgefährdet gilt jeder, der 3 80 weniger als 60 Prozent des soge- nannten Nettoäquivalenzeinkom- Demokratische mens zur Verfügung hat. Diese Republik Kongo #liberalmagazin #liberalmagazin 4 Schwelle liegt in Deutschland für 71 Alleinstehende bei etwa 850 Euro, Sierra Leone für eine Familie mit zwei Kindern 5 70.2 bei gut 1.780 Euro. Liberale Ökono- Nigeria men kritisieren diesen relativen 6 70 Armutsbegriff. Denn wenn alle Einkommen in einer Gesellschaft … stark steigen – ja selbst bei einer Verdoppelung –, bleibt der Anteil Malediven der „Armen“ oder „Armutsgefähr- 16 119 deten“ unverändert. Der relative Deutschland Armutsbegriff hat daher weniger Green living 120 15.5 mit Armut, sondern mehr mit der Belgien Verteilung von Wohlstand zu tun. 121 15.2 Deshalb ist er bei jenen besonders Kein Fleisch mehr essen? Allein auf die Natur- beliebt, die gerne den Wohlstand Chile heilkunde vertrauen? Auf dem Land in Kom- umverteilen, den sie selbst gar nicht 122 15.1 munen leben? Prinzipien des modernen „Bio- erwirtschaftet haben. Es kommt ja Vereinigte Staaten nicht einmal darauf an, wie viel nade-Biedermeier“ und zugleich Maximen der 123 15.1 Wohlstand vorhanden ist – nur die Lebensreform­bewegung, die sich Mitte des Marokko Verteilung zählt. Danach ist eine 19. Jahrhunderts entwickelte. Aus der ging Au- 124 15 Gesellschaft reich, in der alle gleich viel haben; so wird es versprochen. gust Engelhardt hervor, der 1902 seine Vorstel- … In der Realität läuft dieses Verspre- lungen von naturverbundener Lebensführung­ chen jedoch auf eine Gesellschaft Frankreich in die Realität umsetzte: Die Kokosnuss sei die hinaus, in der alle gleich wenig 151 6.2 Frucht, die der Sonne am nächsten wachse, haben (real existierender Sozialis- Österreich mus). So bestätigt dieses internati- und darum die vollkommenste Nahrung. So 152 6 onale Ranking jedermanns Bauch- gründete Engelhardt in der Südsee eine Ko- Irland gefühl: Bei uns geht’s so gerecht zu kosrepublik und lebte dort mit Gleichgesinn- 153 5.5 wie auf den Malediven, aber Tunesi- en ist schon heute besser dran als Litauen ten getreu den Regeln seines Kokosevangeli- Deutschland. 4 ums. Mehr als fünf Genossen konnte er nicht 154 Malaysia Quelle: indexmundi.com versammeln, vier Jahre später wog er noch 155 3.8 39 Kilo. Nun, 100 Jahre später, verhalf ihm der Tunesien Schriftsteller Christian Kracht zu posthumem 156 3.8 Ruhm: Er hat Engelhardts Geschichte in sei- Taiwan nem aktuellen Roman „Imperium“ verarbeitet. 157 1.16

6 liberal 2.2013 1 2 3 4 5 6

Volkes Stimme „Wie stehen sie zu unserem ziemlich besten Freund Frankreich?“

1 ­meiner Vorstellungskraft lag, überkam mich 5 Martin Schubert (34), Autor: Scham – und ich begann, die Franzosen für Christine Schüßler (42), Trotz allen Geredes über europäische ihre Art heimlich zu bewundern. Projektkoordinatorin: ­Krisenzeiten gibt es mir stetig Hoffnung zu Ich finde es wunderbar, einen Nachbarn mit wissen, dass man tatsächlich mit Abkom- 3 so großer landschaftlicher Vielfalt und men wie dem Elysée-Vertrag einen wahren Ralf Bönt (49), Schriftsteller und Physiker: Schönheit, dieser wunderbar klangvollen Frieden zwischen Nachbarn erreichen kann, Diese Freundschaft, so funktionell sie ist, Sprache und dem unverwechselbaren der die vergangene Zwietracht als absurden­ gehört zum Besten, was das sonst so düste- „Savoir-vivre“ zu haben. Schade finde ich, Albtraum erscheinen lässt. re 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Sie dass auf beiden Seiten abnehmende Inter- beweist, dass der Mensch Vorurteile, die er esse am Erlernen der anderen Sprache. 2 leicht heiligspricht, überwinden kann. Thomas Regensburger (52), 6 Selbstständiger: 4 Georg Mellert (34), Dramaturg: Mit 18 besuchte ich einen Vorort von Paris. Evelyn Rehm (57), Für mich persönlich war die Begegnung mit Ehe ich meine Gastmutter näher kennen­ Membership and Circulation Manager: der französischen Kultur, vor allem dem lernen konnte, händigte sie mir die Schlüs- Für mich bedeutet die deutsch-französische Kino und der Literatur, prägend. Eigentlich sel von ihrem Peugeot aus, in dem mich Freundschaft eine tiefe kulturelle Verbun- absurd, dass die deutsch-französische ihre minderjährige Tochter zu den Sehens- denheit. Filme der Nouvelle Vague, Musik Freundschaft nach Jahrhunderten des würdigkeiten navigieren sollte. Weil ein von Serge Gainsbourg oder Bücher von Austauschs und der gegenseitigen Befruch- solches Angebot im umgekehrten Fall eines Simone de Beauvoir möchte ich nicht tung erst zwischen Politikern vertraglich ­Besuchs in meiner Familie außerhalb missen. Fernsehen ohne : undenkbar. vereinbart werden musste. phrasometer Wie oft finden sich bestimmte Schlüsselwörter auf den Webseiten der Parteien? 191 LINKE.de 225 250 275 200 300 175 325 118 FDP.de 150 350 125 325 CDU.de Es gibt ein paar Begriffe in 100 der Politik, die geradezu inflationär 400 76 gebraucht werden. Das Phrasometer ermittelt 75 sie genau – diesmal: GRÜNE.de 425 fordert Rücktritt SPD.de 35 50 450 Fotos: A. Engelhardt; privat A. Engelhardt; Fotos: CSU.de (Stand: 1. Januar 2013) 451 26 25 475 7 0 500 Fremdsehen

Was das Ausland titelt

Welche Ereignisse als wesentlich gelten, hängt vom jeweiligen Land und seiner politischen und gesellschaftlichen Situation ab. Wir zeigen in jeder Ausgabe von liberal die Titelseite einer ausländischen Zeitschrift und reißen in kurzen Übersetzungen die Themen an. Diesmal die 1989 gegründete Noticias aus Argentinien, Ausgabe vom 5. Januar 2013

1

2

„Noticias“ aus Argentinien Die regierungskritische, unabhän­ gige Zeitschrift steht ­keiner Opposi­ tionspartei ­beziehungsweise -grup­ pierung direkt nahe. Sie gilt mit einer ­Auflage von 63.000 Exemplaren als wichtigste politische Zeitschrift ­Argentiniens. Zu ihren Autoren zählen 3 hauptsächlich dem Liberalismus ­nahestehende Journalisten. Politik in Argentinien ist, wie an diesem Titelblatt deutlich wird, vor allem der Kampf um die Medienmacht.

4 6 5

8 liberal 2.2013 1 Luxus im Osten (Ciudad del Este, Uruguay): „Nariga“ Núñez Carmona, Kernelement im Fall Ciccone – Die Yacht des Partner-Freundes von Amado Boudou

Die argentinische Regierung hatte der Druckerei Ciccone im Herbst 2011 den Generalauftrag zum Druck der staatlichen Banknoten übertragen; dies inmitten einer Situation galoppierender Inflation und einer Ausweitung der Geldmenge. Nun stellt sich heraus, dass das Unternehmen dem Vizepräsidenten Argentiniens, Amado Boudou, gehören soll, der einen seiner besten Freunde, Núñez Carmona, als Strohmann eingesetzt hatte. Inzwischen hat die Regierung die Firma Ciccone enteignet.

2 Chávez: Die Nachfolgeidee, an die niemand gedacht hat

3 Alle gegen Alle 4 Fall Hadad: Die bedrohliche Lanata, Longobardi, Gelblung, Oro und der Krieg der Berichte „Operation Colonia“ und die Radio und Wahlen 2013 Ratschläge zur Bevorzugung der Mediengruppe Clarín

Wie nie zuvor brennt es auf dem Trans- sich geweigert hatte, auf die neue, Daniel Hadad ist der ehemalige Besitzer fermarkt für Journalisten. Verträge in regierungstreue Linie einzuschwenken. von Radio 10 und des TV-Senders C5N, die Millionenhöhe: 700.000 argentinische Der Journalist Gelblung kündigte und er an den der Regierung Kirchner naheste- Pesos im Monat nur für die Morgensen- arbeitet nun bei dem weiterhin regie- henden Unternehmer Cristóbal López dung von Mitre. Spannungen auf Radio rungskritischen Sender „Radio Mitre“, verkauft hat. Obwohl Hadad im Rahmen 10 und Continental. Die Zweifel von welcher der Mediengruppe der opposi- des Deals untersagt wurde, bis 2015 neue Nelson Castro. Magdalena wachsam. tionellen Tageszeitung „Clarín“ ange- Projekte im Medienbereich zu starten, Victor Hugo, Kampagne K und der hört. Die landesweit bekannten Journa- führt er wohl ein geheimes Projekt im Faktor Majul. listen Lanata und Oro sind weiterhin bei Schilde. Hadad will – wie das in den Auf Druck des Kirchner-Regimes muss- „Radio 10“, es ist aber zweifelhaft, in ­70er-Jahren aus Uruguay gesteuerte te Inhaber Daniel Hadad den Sender welcher Form sie ihre Sendungen Programm des Journalisten Héctor „Radio 10“, ursprünglich von gemäßig- werden fortführen können – ob sie also ­Ricardo Carmona – über eine Internet- ter politischer Ausrichtung, verkaufen. aufgefordert werden, der Regierungsli- plattform für Schlagzeilen sorgen. In der Folge wurde der liberale Journa- nie zu folgen oder ihre Unabhängigkeit list Longobardi entlassen, nachdem er beibehalten können.

5 Die Garfunkels: Schuld und Treffen mit Szpolski Ausgeraubter Magnat: 6 Ungebremstes Leben des Herrn Fiat Matías Garfunkel und Sergio Szpolski sind der Regierung naheste- hende Unternehmer, beide sind Eigentümer der regierungstreuen Lapo Eduard Elkann, einer der Erben des Automobilherstel- Mediengruppe „Grupo Veintetres“. Auf der Webpage der zu dieser lers Fiat, ist in Ciudad del Este in Uruguay beraubt worden. Mediengruppe zugehörigen Zeitung „El Sensacional“ war das Aus seinem Haus sollen Schmuck und Geld im Wert von Video zu einer Affäre der argentinischen Schauspielerin Florencia insgesamt 3,5 Millionen Euro gestohlen worden sein. Nun Peña publiziert worden. Garfunkel und Szpolski hatten sich in Punta könnte der Magnat zur Zahlung einer Geldbuße in Höhe von del Este im Hause Garfunkel getroffen, angeblich privat – in Wahr- 25.000 Euro verurteilt werden, weil er bei Einreise nach heit wohl, um über die Veröffentlichung des Videos zu sprechen. Uruguay das Bargeld nicht deklariert hatte.

liberal 2.2013 9 ARBEIT IM WANDEL GENERATION ALTERSLOS

Zukunftsmodell Deutschland ist im Umbruch. In den nächsten Jahrzehnten verändert sich die ­Bevölkerungsstruktur des Landes massiv: Die Menschen werden immer ­älter, die neugeborenen Kinder immer weniger und die Gesellschaft wird immer vielfältiger. Vom Wandel am stärksten betroffen ist der Arbeits- markt. Wie lange ­sollen, wollen und können die Deutschen künftig arbeiten? Und was tun die Unternehmen, um die Herausforderung zu ­meistern?

// Text // Kapka Todorova // ILLUSTRATIONEN // Tim Weiffenbach

Thomas Meyer ist 68 Jahre alt. tingfirma. Jetzt arbeitet er wieder im Verlags- Mit seiner Frau Karin wohnt er in geschäft und berät Unternehmen. einer geräumigen Vier-Zimmer- Mit Mitte 60 noch arbeiten zu wollen – Eigentumswohnung in Essen. Seit drei damit ist Thomas Meyer nicht allein. Die Jahren ist er Rentner. Den Ruhestand hat er Zahl der arbeitenden Rentner steigt. 2010 nur die ersten Monate genossen – dann gingen laut Bundesarbeitsministerium rund wollte er wieder etwas tun. „Den ganzen Tag 660.000 Menschen im Alter zwischen 65 zu Hause zu sitzen wurde mir langweilig. und 74 Jahren einer Beschäftigung oder Meine Frau arbeitet noch, und ich war oft einem Minijob nach. Das sind etwa 250.000 stundenlang allein. Golfen und spazieren mehr als noch vor zehn Jahren. gehen reichen mir einfach nicht“, erzählt der Eine Umfrage des Bundesinstituts für ehemalige Manager. Bevölkerungsforschung unter älteren Arbeit- 40 Jahre lang hat er in einem großen nehmern zeigt: Golfen und Weltreisen Verlag im Ruhrgebiet gearbeitet, übernahm finden viele gar nicht so erstrebenswert. Sie Verantwortung für die Tochterfirmen im wollen lieber arbeiten – so wie Thomas Ausland, war ständig unterwegs. Das Rent- Meyer. Knapp jeder zweite Berufstätige nerleben kam ihm vor wie eine Krankheit. zwischen 55 und 65 Jahren plant, auch im „Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Die Ruhestand aktiv zu bleiben. Vom tatenlosen Umstellung war weitaus schwieriger, als ich Rentnerdasein halten die meisten wenig, es mir je vorgestellt hatte“, gibt Thomas denn die aktuelle Generation der Best Ager Meyer zu. Irgendwann hatte er genug von zeigt sich gesünder, betriebsamer und leis- den langen Frühstückstreffen mit anderen tungsfähiger als bisherige Jahrgänge. Zudem Rentnern und wollte wieder aktiv werden. haben sie offenbar den Wunsch nach berufli- 2011 gründete Thomas Meyer eine Consul- cher Herausforderung noch nicht begraben.

10 liberal 2.2013 liberal 2.2013 11 ARBEIT IM WANDEL GENERATION ALTERSLOS

„Bislang war es eher so, dass Weiterbildungs­ maßnahmen die Älteren nicht mehr oder nur im geringen Masse erreicht haben. Das wird sich ändern.“

Holger Schäfer, Arbeitsmarktexperte des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW).

Für ein Land wie Deutschland ist das Alter zent weniger als im Vorjahr. „Die Jahrgänge eine gute Nachricht, da in etwa 50 Jahren 100 der Babyboomer sind noch auf dem jeder dritte Deutsche über 50 Jahre alt sein ­Arbeitsmarkt und stellen einen großen Teil wird. Statistisch hat heute jeder Senior bei 90 der Arbeitnehmer dar“, sagt der Wissen- Renteneintritt eine Lebenserwartung von 18 schaftler. Wenn aber ab 2020 die geburten- Jahren, im Jahr 2050 werden es 25 Jahre 80 starken Jahrgänge aus dem Arbeitsmarkt sein. Um 1900 hatte der durchschnittliche ausscheiden, wird der zweite Effekt einset- Ruheständler nach Renteneintritt nur acht 70 zen: der Rückgang der Zahl der verfügbaren Jahre zu leben. Die Rentner von heute leben Arbeitskräfte. aber nicht nur länger, zudem werden es 60 Aufgrund des demografischen Wandels auch immer mehr. Eine Freude für den MÄNNER FRAUEN und des drohenden Fachkräftemangels wird 50 Einzelnen, aber ein Last für das Sozialsys- es für die deutschen Unternehmen immer tem. Deutschland muss sich an eine älter wichtiger, ältere Beschäftigte möglichst 40 werdende Gesellschaft anpassen. lange zu halten. Immer mehr Personalchefs 30 handeln in dem Bewusstsein, dass ihnen Alternde Belegschaften bald die Fachkräfte ausgehen. Die deut- Viele Firmen tun dies schon, indem sie auf 20 schen Unternehmen müssen aber künftig ältere Belegschaftsmitglieder nicht verzich- einiges mehr tun, um die Herausforderung ten, weiß Holger Schäfer, Arbeitsmarktexper- 10 des demografischen Wandels bewältigen zu te des arbeitgebernahen Instituts der deut- können. Vor allem müssen sie die Arbeits- schen Wirtschaft (IW). Der demografische 0 prozesse an die alternden Belegschaften 400 200 200 400 Wandel hat nach Analyse des Wissenschaft- Personen in Tausend anpassen und die Weiterbildung besser lers zwei wesentliche Folgen für den Arbeits- pflegen. „Bislang war es eher so, dass Weiter- Deutschland, Staat der Alten: Das Durch- markt in Deutschland, die sukzessive auftre- schnittsalter der Bevölkerung wird bis 2050 bildungsmaßnahmen die Älteren nicht ten. Der Effekt, der sich jetzt schon zeigt, ist von derzeit 43 Jahren auf 50 Jahre ansteigen. mehr oder nur im geringen Maße erreicht die Alterung der Belegschaften: Das Durch- Der Alten­quotient, der das Verhältnis der über haben. Das wird sich ändern“, glaubt Schäfer. schnittsalter der Arbeitnehmer steigt an. 65-Jährigen zur Bevölkerung im Erwerbsalter Überdies ist für den Wissenschaftler eine (20- bis 65-Jährige) abbildet, wird sich bei Die demografische Krise in Deutschland einem angenommenen Zuwanderungssaldo Änderung an den Entgeltstrukturen unver- ist charakterisiert durch eine Reihe gebur- von 200.000 Menschen von derzeit 32 bis 2050 meidlich: „Wir haben eine starke Tendenz tenstarker Jahrgänge. Vom Ende der 50er- auf 60 fast verdoppeln. Eine Anhebung des zur Senioritätsentlohnung. Das heißt, der bis Ende der 60er-Jahre wurden bis zu 1,4 Rentenbeginns auf 67 Jahre hätte einen etwas Ältere verdient mehr, ohne dass er notwen- geringeren Altenquotienten von 52 zur Folge. Millionen Personen pro Jahr geboren. Diese Dadurch würden dem Arbeitsmarkt bis zum digerweise mehr produziert. Das können wir Zahl geht ab Anfang der 70er-Jahre stark Jahr 2050 automatisch etwa zwei Millionen uns nicht mehr leisten.“ Ein weiterer Punkt zurück bis auf nur noch 700.000 Neugebo- mehr Erwerbstätige zur Verfügung stehen. betrifft die Gesundheit der Arbeitnehmer. rene pro Jahr. Im Jahr 2012 wurden nur Quelle: 11. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung Schaffen es wirklich alle, die es auch wollen, des Statistischen Bundesamtes 2006 noch 691.800 Kinder eingeschult, 2,7 Pro- bis 67 und länger zu arbeiten?

12 liberal 2.2013 Foto: Werner Schuering/imagetrust liberal 2.2013 für dieEntscheidung für eineehrenamtliche „Das Alter alleinist nicht ausschlaggebend Arbeit von Sportvereinen einzubinden. Know-how älterer Menschenverstärkt indie dazu beitragen soll,Fähigkeiten und für dieehrenamtliche Tätigkeit“ durch, das „Gewinnung von SeniorinnenundSenioren Deutsche SportbunddasModellprojekt bemühungen. SeitEnde1999führtder Generation indenFokus derRekrutierungs - Zumindest rückt nunauchdieältere Die Frage ist schwierig zubeantworten. wollen? ihre Zeit undihrWissen selbstlos schenken Menschen inDeutschland,dieauchkünftig nachkommen. Gibtesabergenügend viele Vereine ihren Tätigkeiten nicht bezahlen muss undkann. Ohne siekönnten mehr als10Milliarden Euro, dieniemand gesellschaftliche Wertschöpfung von weit Bevölkerung. Sieschaffen einesoziale und Verbänden. Dassindfast 11Prozent der ehrenamtliche ArbeitinSportvereinen und pro Jahrbiszu700 MillionenStunden 4,5 MillionenMenscheninDeutschlandleisten Antwort gibt. Zauberwort, dasaufdiegenannten Ängste Sportvereine. „Ehrenamt“ lautet ihr So denken wenigstens dieFunktionäre vieler kann manseinganzes Leben langgewinnen. irgendwann stellt. Nun,zumindest Freunde Das sindFragen, diesichjederMensch Partner oderdiePartnerin nicht mehrdaist? Freunde immerweniger werden undder mehr fürmichhaben? Was, wenn die Kinder ihreigenesLeben lebenundkeine Zeit wird siegrößer: Was macheich,wenn die ist eineverbreitete Angst. MitdenJahren bleiben undaußerhalbdesLebens zustehen der größte Wunsch vielerÄlterer. Alleinzu Mit 70 nochgebraucht zuwerden – Alt undgebraucht Ehrenamt dasist lich tätigen OpazuseinemSport. auch mancherEnkel überseinen ehrenamt gewinnen vermögen.“ Womöglich findet aber Jugendliche fürdenSportbetrieb zu zu haben,weil sieihrerseits wieder wichtig, auchJüngere indeneigenenReihen sowieso schonalsüberaltert. „Überdies ist es gelten Funktionsträger inSportvereinen Ehrenamtlichen aufgeben sollten. Zum einen erst recht nicht dieSuchenachjüngeren ausdrücklich umdieZielgruppewerben und Gleichwohl glaubtEngelsnicht, dass Vereine Zeitmanagement. Lebenserfahrung, zumanderen ihrflexibleres ren aufweisen: zumeinenihre umfassende Vorteile imVergleich zujüngeren Funktionä- können ältere Ehrenamtler zwei gewichtige Begegnung mitGleichgesinnten. Überdies tun, sindauchstarke Argumente. Ebensodie Altruismus oderdasGefühl,etwas Gutes zu Kompetenz sinnvoll einzubringen.Freude, Möglichkeit haben,ihre imBeruferworbene ehrenamtlich, Die „Golden A Ruhestand erfolgt.“ aber, dass die,Akquise‘ bereits vor dem Alter, ist derExperte überzeugt. „Wichtig ist erfolgreich sein–und zwar unabhängigvom sorgt, kann dasWerben umKandidaten und füreinehohepersönliche Zufriedenheit Einsatz gerade fürdiesenVerein Sinnstiftet Menschen davon zuüberzeugen, dass ein des Tuns.“ Undnurwenn esgelingt, das Engagement ist aberdieSinnhaftigkeit Engagement erübrigenmuss. Wichtiger für richtig, dass jederEhrenamtliche Zeit fürsein generell übervielZeit verfügten. „Esist zwar sei dieAnnahmetrügerisch,dass Senioren Personalentwicklung undManagement. Auch Berater von Sportvereinen zuThemen wie Tätigkeit“, betont Rolf Engels,langjähriger ger“ engagieren sichger“ weil siedadurch die - leisten pro Jahrbiszu Menschen inDeutschland 4,5 Millionen und Verbänden. Arbeit inSportvereinen Stunden ehrenamtliche 700 Millionen 13 ARBEIT IM WANDEL GENERATION ALTERSLOS

„Je höher die Kompetenz vor dem spezialisieren sich immer mehr Vermitt- lungsportale auf die raren Senioren, die Renteneintritt, desto wahrscheinlicher ist die helfen sollen, die vakanten Positionen in Unternehmen zum Beispiel mit Exmana- Vermittlung zurück in die Wirtschaft.“ gern als Interimsfachkräften zu besetzen. Dabei gilt laut Steffen Haas, Geschäftsführer Steffen Haas, Geschäftsführer des des Portals ASE Automotive Senior Experts: Portals ASE Automotive Senior Experts „Je höher die Kompetenz vor dem Renten- eintritt, desto wahrscheinlicher ist die Vermittlung zurück in die Wirtschaft.“

Brachliegendes Wissen Zurzeit verfügt ASE über ein Netz von mehr als 1.500 Führungskräften aus der Automo- bilbranche sowie dem Anlagen- und Maschi- Seit 2001 bearbeitet das Fraunhofer- länger. 800.000 Senioren sind derzeit als nenbau im Ruhestand. „Unsere Senioren Institut für Arbeitswirtschaft und Organisati- Minijobber weiter tätig, 120.000 davon sind sind finanziell unabhängig und ihre Bereit- on (IAO) in Stuttgart mit 13 weiteren Institu- älter als 75. Warum wächst die Zahl der schaft, nochmals eine Führungsposition als ten Projekte zum demografischen Wandel. Rentner, die arbeiten wollen? Sind die Manager auf Zeit auszufüllen, gründet sich „Künftig werden wir uns die Frage stellen deutschen Rentner etwa arm? primär auf Passion, da sie ihren Beruf immer müssen, wie wir die Mitarbeiter möglichst Holger Schäfer weiß keine eindeutige auch als Berufung gesehen haben“, führt lange in der Arbeit halten können. Die Antwort. Statistisch sind die Ursachen nicht Haas aus. Es gibt handfeste ökonomische physische und psychische Leistungsfähig- erforscht. Das Existenzminimum der deut- Gründe, die für längeres Arbeiten besonders keit bleibt dann erhalten, wenn körperliches schen Rentner ist allerdings gesichert. Wer in den technischen Branchen sprechen. „In und geistiges Training über die gesamte eine niedrige Rente bezieht und darüber Zeiten des zunehmenden internationalen Erwerbsspanne stattfindet. Für seinen Wert hinaus Wünsche hat, muss vielleicht arbei- Wettbewerbs und der Globalisierung kön- am Arbeitsmarkt ist jeder einzelne Beschäf- ten. Zurück in den Arbeitnehmeralltag nen wir es uns nicht erlauben, das Wissens­ tigte zumindest mitverantwortlich“, schreibt gehen aber auch viele Ruheständler wie potenzial der Senior-Führungskräfte im Hartmut Buck, Leiter des Competence Thomas Meyer, die einfach wieder unter Ruhestand brachliegen zu lassen“, sagt Haas. Teams „Kompetenzmanagement“ im IAO in Menschen sein wollen. Der gravierende Fachkräftemangel ist der Studie „Öffentlichkeits- und Marke- Auf dem Arbeitsmarkt sind demzufolge insbesondere für den deutschen Mittelstand tingstrategie demografischer Wandel“. zwei Gruppen von Ruheständlern anzutref- schon heute bittere Realität. Mittelständische Die Anforderung an die Unternehmen fen. Einerseits ihre Rente aufpolsternde Firmen haben neben ihrem geringen Be- besteht darin, die Arbeitsabläufe altersge- Minijobber, die überwiegend einfache kanntheitsgrad häufig auch standortbeding- recht zu gestalten und die Arbeitnehmer Tätigkeiten ausüben. Andererseits Selbst- te Nachteile. So sind viele der sogenannten darin zu unterstützen, ihre Gesundheit zu ständige oder Freiberufler, die in ihrem „Hidden Champions“ im ländlichen Bereich pflegen. „Große Unternehmen kümmern bisherigen Job weitermachen wollen. Ein zu Hause. „Der demografische Wandel sich teilweise schon um diese langfristige typisches Beispiel für die zweite Gruppe ist kommt insbesondere in diesen Regionen Aufgabe. Mittelständische Unternehmen, der Anwalt, der mit 70 oder 75 Jahren noch zum Tragen. Immer mehr mittelständische die viel stärker im Tagesgeschäft verhaftet Mandanten betreut. Auf beide Gruppen Firmen sind gezwungen, sich an den Elite­ sind, haben hier noch erheblichen Nachhol- wird die deutsche Wirtschaft künftig immer universitäten mit großen Konzernen um die bedarf“, meint Buck. stärker angewiesen sein – spätestens, wenn Gunst der besten Studenten zu messen – mit Doch nicht allein die Unternehmen der letzte Babyboomerjahrgang in den eher geringen Erfolgsaussichten. müssen sich an die neue Zeit anpassen. Ruhestand gegangen sein wird. Großunternehmen können in der Regel Auch Arbeitnehmer spüren die Folgen des Für eine dritte Gruppe ist die Zeit des bessere finanzielle Rahmenbedingungen demografischen Wandels: Die Renten wer- Mangels schon gekommen – die der hoch- und interessantere Sozialleistungen anbie- den immer knapper – die Arbeitszeit immer qualifizierten Führungskräfte. Deshalb ten“, weiß der Geschäftsführer. Dieses Prob-

14 liberal 2.2013 lem wird sich in den kommenden Jahren Interesse an einer Festanstellung“, sagt der mit dem altersbedingten Ausscheiden Vermittler. Die Senior-Experten sind durch- Tausender Akademiker aus dem Arbeits- schnittlich sechs Monate im Unternehmen. markt weiter verschärfen. „Unsere Kunden Zudem erwartet man einen Mangel von über sind Unternehmen vornehmlich aus dem einer Million Fachkräften auf dem deut- Mittelstand der Automobilbranche sowie schen Arbeitsmarkt. „Der Fachkräftemangel dem Maschinen- und Anlagenbau. Sie ste- wird Deutschland stärker verändern als die hen unter enormem Wettbewerbsdruck vergangenen Krisen“, ist Haas überzeugt. und müssen ihre Prozesse und Strukturen Zurzeit betrifft Deutschlands Führungs- permanent verbessern und anpassen“, Die Senior-Experten sind kräftemangel nicht nur die Autoindustrie. erklärt Haas. Dazu benötigen sie keinen Auch in Schiffswerften und in der Luft- und Theorieberater, sondern einen umsetzungs- in der Regel teurer Raumfahrt fehlen verstärkt erfahrene Exper- starken Experten, der ohne lange Erklärung ten und Manager. Laut Forsa-Umfrage bestä- das Problem erkennt und löst – verbunden als ihre jüngeren Kollegen, tigen acht von zehn Personalchefs, dass die mit einer kurzfristigen Verfügbarkeit im In- Rekrutierung von Fachkräften und Füh- und Ausland. „Das ist die Stärke unseres aber sie werden von rungskräften in den letzten Jahren schwieri- Netzwerkes“, so der Portalbetreiber. ger geworden ist. Vor einigen Jahren wurden Unternehmen trotzdem Führungspositionen in rund ein bis zwei Kritische Vakanzen überbrücken Monaten besetzt. Heute suchen Unterneh- Warum aber soll ein Manager im Rentenalter häufig bevorzugt. men nicht selten länger als ein Jahr nach der weiter arbeiten, und zwar für mittelgroße richtigen Besetzung. Lange Rekrutierungsbe- Unternehmen? mühungen behindern besonders kleine und Der typische Ruheständler im Netzwerk mittlere Unternehmen in ihrer Entwicklung von ASE übernimmt nur dann eine Aufgabe, Die Senior-Experten sind in der Regel und schwächen deren Innovationskraft. wenn er selbst fest davon überzeugt ist, die teurer als ihre jüngeren Kollegen, werden Immer öfter passiert es darum, dass führen- gestellten Anforderungen voll und ganz aber trotzdem oft bevorzugt. Sie blicken auf de Manager einfach auf ihren Posten bleiben erfüllen zu können. „Am Ende eines Projekt- mehrere Jahrzehnte Berufserfahrung auf oder als Berater weiterarbeiten. einsatzes möchte er ein Erfolgserlebnis Führungsebene zurück, sind finanziell unab- Wie der frühere Verlagsmanager Tho- verzeichnen können“, hat Steffen Haas hängig und haben größtenteils schon für mas Meyer. Er hat viel zu tun – seine Bera- gelernt. Und diese sind natürlich nicht verschiedene Projekte gearbeitet. Im aktiven tung ist gesucht. Seine Expertise ist für viele selten, da die Experten im Ruhestand über Ruhestand müssen sie nicht mehr arbeiten. kleinere Verlage kostbar. Immerhin verfügt viel Erfahrung verfügen. Sie übernehmen Verantwortung, weil es der ehemalige Rentner über eine 40-jährige Die Kunden von ASE brauchen in der ihnen Spaß macht. Sie sind besonders Erfahrung, ist topfit und hat Spaß daran, die Regel schnelle Unterstützung. Bei Anfragen qualifiziert, hoch motiviert und verschaffen Probleme seiner Kunden zu lösen. Seitdem werden Experten gesucht, die ohne große sich in kürzester Zeit einen Überblick, Meyer wieder im Geschäft ist, fühlt er sich Einarbeitungszeit sofort in das jeweilige wodurch die Einarbeitungszeit sich margi- wie neugeboren. Er würde gern so lange Projekt einsteigen und Veränderungen nalisiert. Gerade ihre Unabhängigkeit, arbeiten, wie er kann. Denn ohne eine herbeiführen können. „Der primäre Grund Neutralität und On-the-job-Mentalität ma- sinnhafte Tätigkeit wäre sein Leben leer. ● für einen ASE-Einsatz ist vordergründig, chen sie zu besonders wertvollen Projekt- dass das vom Kunden geforderte Know-how treibern, die nicht nach Lösungen und Kapka Todorova ist Europa-­ nicht oder nicht ausreichend im Unterneh- Ansprechpartnern suchen, sondern einen Korrespondentin der bulgarischen men zur Verfügung steht. Der zweithäufigste Werkzeugkasten mit Lösungen und wichti- Tageszeitung 24 Tschasa und des Bulgarischen Nationalradios. Die Grund ist, dass ASE-Experten weltweit ohne gen Branchenkontakten mitbringen. 38-Jährige arbeitet seit 16 Jahren als großen Aufwand kritische Vakanzen und Aber von einer Konkurrenz mit dem Journalistin. Sie ist in Deutschland Personalengpässe auf der Führungsebene ersten Arbeitsmarkt kann keine Rede sein, versichert und hat ausgerechnet, dass sie mindestens noch 29 Jahre arbeiten temporär überbrücken können“, zählt Haas betont Haas: „Unsere Experten lassen sich wird. Oder vielleicht auch länger … die Vorteile seiner Experten auf. nur befristet engagieren und haben kein [email protected]

liberal 2.2013 15 ARBEIT IM WANDEL vollbeschäftigung

Schöne neue Arbeitswelt

Sein neues Buch hat Karl-Heinz Paqué „Vollbeschäftigt: Das neue deutsche ­Jobwunder“ betitelt.­ Der ehemalige Finanzminister von Sachsen-Anhalt beschreibt darin die Arbeitswelt der Zukunft. Eine Arbeitswelt, in der aus demografischen ­Gründen die Arbeitnehmer am längeren Hebel sitzen. liberal hat den Wirtschafts­ wissenschaftler an seinem Lehrstuhl in Magdeburg besucht und nachgefragt, was es mit dem Wunder auf sich hat. // Interview // Boris Eichler

liberal: Herr Paqué, Vollbeschäftigung, Aderlass im Umfang von etwa vier Millionen Arbeits- das ist ein Begriff, der bis in die kräften. Hinzu kommt: Die „Generation Babyboomer“ 70er-Jahre die politischen Debatten ist die am besten qualifizierte Generation, die der prägte und dann wohl wegen Aussichtslosigkeit deutsche Arbeitsmarkt je gesehen hat. Eine ganze verschwunden ist. Nun legen Sie den Begriff Generation von Ingenieuren wird aus dem Arbeitsle- wieder neu auf – nicht als Wunschziel, sondern als ben ausscheiden. Die Unternehmer reagieren schon Prognose. darauf, die Politik hat das überhaupt noch nicht ver- Paqué: Das hat seinen Grund. In der 2009er-Krise standen. Deswegen habe ich mein Buch geschrieben. haben wir etwas erlebt, was anders war als in den vorherigen Krisen. Die Unternehmen haben gesehen: Der angesprochene Anstieg der Sockel-Arbeitslo- Im Gegensatz zu früher kommen junge Fachkräfte sigkeit galt doch immer als schicksalhaft, so wie nicht nach. Wir müssen also versuchen, die älteren die Grippewelle, die jeden Winter kommt … Mitarbeiter irgendwie durch die schwierige Zeit zu Das beruht auf der Erfahrung der vorherigen Krisen: bringen, damit sie danach noch bei uns sind. Der 1973/1975, 1981/1982 und 1993. Da lief es immer so: Die Sachverständigenrat nannte das „Horten von Arbeits- Arbeitslosigkeit stieg drastisch, vor allem Ältere wur- kräften“. Interessanterweise haben dennoch nahezu den entlassen – und blieben außen vor. Denn in der . Weiffenbach alle Experten prognostiziert, dass wir nach dem Ende Erholungsphase wurden die Stellen mit Jüngeren der 2009er-Krise wieder fünf Millionen Arbeitslose besetzt. Massenarbeitslosigkeit hatten wir nicht zuletzt T ignette: haben werden … gerade wegen der Babyboomer-Generation, die auf den Arbeitsmarkt strömte. Diese Phase, die seit 1973 … also das übliche Ansteigen der sogenannten und somit seit 40 Jahren anhält, kommt nun zu einem Sockel-Arbeitslosigkeit. Ende. Man kann das sehr gut erkennen, wenn man Genau. Warum haben die Unternehmen diesmal einen Blick auf das Jahr 2009 wirft. Damals, nach der Arbeitskräfte gehortet? Das ergibt sich aus der Demo- Weltfinanzkrise, verzeichneten wir einen Zusammen- grafie: Das Arbeitskräftepotenzial wird schrumpfen, ab bruch des Bruttoinlandsprodukts um etwa fünf 2020 – wenn die Babyboomer aus dem Arbeitsmarkt ­Prozent. Daran gemessen war dies das schlimmste V Merheim; I llustration . E ichler; I llustration: oto: B oto: ausscheiden – sogar dramatisch. Uns erwartet ein Wirtschaftsjahr in Deutschland seit 1931. Die F

16 liberal 2.2013 ZUR PERSON

Karl-Heinz Paqué (FDP), geboren 1956 in Saarbrücken, ist Dekan der Fakultät für Wirtschaftswis- senschaft der Otto-von-Guericke- Universität Magdeburg und dort Inhaber des Lehrstuhls für Volks- wirtschaftslehre. Er studierte Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Saarbrücken und Kiel sowie an der University of British Columbia. Von 2002 bis 2006 war er Finanzminister von Sachsen-Anhalt.

Arbeitslosen­zahl ist aber trotz Krise kaum gestiegen. Das war ungewöhnlich. So etwas hat es zuletzt wäh- rend des Konjunktureinbruchs 1967 gegeben, zu den goldenen Zeiten der Vollbeschäftigung.

Die von Ihnen vorhergesehene Vollbeschäftigung ist also das Resultat des Schrumpfens des Ange- bots an Arbeitskräften? Nicht alleine. Das geringere Angebot an Arbeitskräften trifft auf eine deutsche Wirtschaft, die durch zwanzig Jahre harter Restrukturierung gegangen ist, vor allem in Ostdeutschland, aber auch im Westen. Wir haben eine Zeit hinter uns, in der wir mehr flexibilisiert haben, als es uns bewusst ist. Da ist eine ganze Menge passiert, und zwar ganz im Geiste der Liberalen: Befris- tete Arbeitsverträge, Zeitarbeit, Hartz IV, flexiblere Flächentarife, niedrigere Lohnstückkosten – all das hat uns wettbewerbsfähiger gemacht.

Der lange vorhergesagte Umbau Deutschlands zur Dienstleistungsgesellschaft ist hingegen aus- geblieben … Zum Glück. Wir haben unsere Industrien erhalten – an- ders als die Länder Südeuropas oder Großbritannien, die heute entsprechende Probleme haben. Deutschland hat genau das Richtige gemacht. Wir sind jetzt wettbe- werbsfähig, auch wenn die Löhne natürlich wieder

liberal 2.2013 17 ARBEIT IM WANDEL vollbeschäftigung

steigen werden. Kurzum: Das Angebot an Arbeitskraft schrumpft, auf der Nachfrageseite haben wir eine sehr gesunde Situation. Das kommt jetzt zusammen.

Eine schöne neue Arbeitswelt? Nicht unbedingt. Die aktuellen Diskussionen zeigen, dass die soeben durch die Flexibilisierung erreichten Wettbewerbsvorteile auch schnell wieder verschwin- den können. Stichworte sind Mindestlohn und Ein- schränkung der Zeitarbeit. An allem wird geknabbert, ohne dass wir die Früchte schon geerntet hätten.

Fortschritt und Zukunft sind verknüpft mit Prog- unserer Gesellschaft, der einen so deutlichen Zuwachs nosen – und die liegen nicht selten daneben. Was verzeichnen kann wie der Staat. Eigentlich müsste er sind Prognosen, insbesondere Ihre Prognosen, inzwischen ordentliche Überschüsse erwirtschaften. wert? Doch prompt, als das Geld floss, haben Frau von der Prognosen haben oft etwas mit dem Zeitgeist zu tun, in Leyen und andere in der Großen Koalition neue teure dem die Prognostiker befangen sind. Ein Trend wird Programme aufgelegt und Peer Steinbrück hat sie dann einfach fortgeschrieben. In meinem Buch geht es widerstandslos finanziert. Hinzu kommen die massi- in diesem Sinne gerade nicht um Prognosen. Es geht ven Energiesubventionen. Die Erfahrung zeigt: Wenn vielmehr darum, ein Gefühl für die Analyse des Neuen Geld da ist, wird es weggenommen. Es ist sehr schwie- Die zu entwickeln, also für die Brüche in den großen rig, solchen Begehrlichkeiten entgegenzutreten. Bis- Trends. Für die Generation der Babyboomer – zu der lang können die neuen Ausgaben relativ mühelos Erfahrung auch ich gehöre – ist dies natürlich schwierig. Sie finanziert werden. Sollte die Konjunktur aber nachlas- bestimmt das Meinungsklima in diesem Land. Sie sitzt sen, drohen Steuererhöhungen. zeigt: auch in den Chefredaktionen der Medien. Ihr gesamtes Arbeitsleben hat sie in Zeiten der Massenarbeitslosig- Ein weiterer wichtiger Faktor für den Arbeitsmarkt Wenn Geld keit verbracht und damit in einer Zeit, in der es das sind die Energiepreise. Hier scheinen sich gerade Wichtigste war, einen Job zu finden. Da hört sich das die USA durch die neue Technik des Fracking gut da ist, wird Wort Vollbeschäftigung grotesk an, wie aus einer in Position zu bringen. Man schwimmt dort bald in Traumwelt. Aber es gibt handfeste Indizien, und die Gas und Öl. Niedrige Energiepreise­ dort, hohe bei es weg­ habe ich beschrieben. uns. Wird uns das Probleme bereiten? Wenn’s dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis. Diese genommen. Wir sprachen von steigenden Löhnen und einer Neigung gibt es auch in Deutschland. Unsere Ener- arbeitnehmerfreundlichen Entwicklung am giepolitik ist ein Hochrisikospiel, geboren aus dem Arbeitsmarkt. Das dürfte auch Begehrlichkeiten Glauben, wir hätten eine unendliche Innovationskraft beim Staat wecken, da ist künftig mehr zu holen … und könnten eine grandiose globale Vorreiterrolle auf Das ist schon so. Ich musste bis 2006 als Finanzminis- diesem Gebiet spielen – was wir aufgrund unserer ter von Sachsen-Anhalt mit sinkenden oder stagnieren- geringen klimapolitischen Bedeutung natürlich nicht den Steuereinnahmen kämpfen. Später sind die Staats- können. Ob die Welt klimapolitisch gerettet wird oder einnahmen überall kräftig und nachhaltig gestiegen. nicht, entscheidet sich in China oder Indien. Wir stür- Für mich als Finanzminister, der aus der Politik aus- zen uns derzeit energiepolitisch ins Abenteuer – das schied, war das gewissermaßen sportliches Pech. Für hat schon etwas Absurdes. Da lugt der deutsche Idea- die Gesellschaft war es ein großes Glück. Es geht dabei lismus durch. um riesige Summen: In den zehn Jahren von 2005 bis 2015 steigen die Staatseinnahmen laut mittelfristiger Das sind aber Abenteuer, die von den Medien und Finanzplanung des Bundes um 50 Prozent, das sind Teilen der Bevölkerung begeistert aufgenommen über 200 Milliarden Euro! Es gibt keinen Bereich in werden.

18 liberal 2.2013 So lange, bis das alles bezahlt werden muss. Bis dahin politischen Baustein zu nehmen und bei uns wie ein soll erst mal wieder am deutschen Wesen die Welt verändertes Gen einzusetzen. Ein lebendiges Beispiel genesen. Man glaubt, Deutschland könne der Welt liefern die Schwierigkeiten, die in der Universitätspoli- zeigen, wie man’s macht – mich beunruhigt das sehr. tik aus dem Bologna-Prozess resultieren. Ich hoffe, dass in diesen Fragen langsam Pragmatismus einkehrt. … oder Frankreich, wo Präsident Hollande den Neo-Sozialismus probt. Nicht allein in Energiefragen, auch beim Thema Dort begeht man alle Sünden, die in einer Marktwirt- Mindestlohn spielt Deutschland eine Sonderrol- schaft tabu sind. Frankreich widerlegt zum Beispiel le – rund um uns herum gibt es ihn. Die öffentli- alle, die den Mindestlohn für segensreich halten. 25 che Meinung in Deutschland tendiert ebenfalls in Prozent Jugendarbeitslosigkeit sind unter anderem das diese Richtung … Ergebnis dieser Politik. Frankreich ist ein etatistisches Zwei prominente Länder mit vergleichsweise niedriger und überreguliertes Land. Der Mindestlohn ist zu Arbeitslosigkeit und relativ starkem Gewerkschaftsein- hoch, und es gibt auch keine dezentrale Dynamik, die fluss haben keine Mindestlöhne: Schweden und das auffangen könnte. Deutschland. Das sage ich auch allen Sozialdemokra- ten. Schweden hat keine Mindestlöhne und Schweden Das sagen Sie. Sozialistische Politiker behaupten braucht auch keine Mindestlöhne. In Großbritannien das Gegenteil – und man schenkt ihnen Glauben. werden die Mindestlöhne von einer royal commission Wenn ein Land einen Anpassungsprozess durchge- festgelegt, einem recht unpolitischen Fachgremium. In macht und sich die Lage gebessert hat, meint man Deutschland würde letztlich das Parlament entschei- schnell, man sei auf Flexibilität nicht mehr angewiesen. den, was die Angelegenheit hochpolitisch macht. Es sind die Liberalen, die das Gegenteil deutlich machen Damit politisieren Sie die Tarifverhandlungen und den müssen. Am besten frühzeitig, denn es gibt Entschei- gesamten Lohnfindungsprozess. dungen, die erst in 15 oder 20 Jahren wirksam werden.

Verfechter des Mindestlohns würden sagen: Das In Zeiten vermeintlich großer Probleme wie funktioniert überall, warum nicht bei uns? Klimawandel und Globalisierung haben jedoch Wenn man eine Marktwirtschaft ohne starke organi- eher große Lösungen Konjunktur. Brauchen wir sierte Interessengruppen hat, dann ist ein staatlicher keinen Masterplan?­ und niedriger Mindestlohn nach dem Beispiel Großbri- Deutschland war im Denken nie ein wirklich liberales tanniens akzeptabel. Doch so sieht es in Deutschland Land, sondern stets eher idealistisch. Man sehnt sich nicht aus. Ich erinnere daran, dass die Post ihre kleinen nach dem großen Entwurf und schaut verächtlich auf Konkurrenten mittels Mindestlohn richtiggehend pragmatische Lösungen. Der Sozialismus als Entwurf kujoniert hat. Solange ich wie in Deutschland ein ist insofern ein sehr deutsches Phänomen, und er ist System mit starken und unabhängigen Tarifparteien als visionäre Ideologie spätestens 1990 in Ostdeutsch- habe, passt der Mindestlohn nicht dazu. land und Osteuropa endgültig gescheitert. Viele seiner Karl-Heinz Paqué Vollbeschäftigt: ehemaligen Anhänger suchen nach diesem Scheitern Das neue deutsche Wenn die Löhne sowieso steigen, eine neue Vision. Sie finden sie derzeit in einer dezi- Jobwunder was kann dann ein Mindestlohn noch schaden? diert grünen Vorstellung der Rettung der Welt. Dabei Carl Hanser Verlag, Der Mindestlohn bringt das Problem der Vermischung wird die Freiheit durchaus als großer Entwurf geliebt, 280 Seiten von Systemen mit sich, ein urliberales Thema übrigens. doch es gibt keine Demut vor den Konsequenzen der Jede Tarifverhandlung beginnt dann mit Forderungen Freiheit. Es verbietet sich nämlich in einer freien nach einem Lohn, der soundso hoch über dem Min- Gesellschaft, ein Ziel dogmatisch vorzugeben – und die destlohn liegen soll. In Großbritannien haben wir einen Menschen müssen ihre Wünsche und Träume diesem stark liberalisierten Arbeitsmarkt – dort ist der Mindest- Ziel unterordnen. Der Liberalismus kennt keine totali- lohn nur ein Stöckchen im sonst gut funktionierenden tären Ziele. Er hat nur das Ziel, dass es möglichst vielen marktwirtschaftlichen Getriebe. Doch auch wenn das Menschen gut geht und sie ihr Leben frei gestalten im Vereinigten Königreich halbwegs klappt – wir sollten können. Der Rest ist pragmatische Güterabwägung. oto: picture-alliance / dpa picture-alliance oto:

F uns hüten, einfach aus einem anderen Land einen Liberalismus ist eben eine optimistische Haltung. ●

liberal 2.2013 19 ARBEIT IM WANDEL Gewerkschaften

Ballast abwerfenbeiträge, um ihre In einer Marktwirtschaft sind Gewerkschaften als Interessenvertreter der Arbeitnehmer legitime Akteure. Faktisch missbrauchen sie jedoch die Mitglieds­ linke und staatsgläubige Haltung zu propagieren. Das könnte sich ändern – wenn es unter den Organisationen stärkere Konkurrenz gäbe. Träumerei vom Ende eines Quasi-Monopols …

alisiert, überhaupt, sich Gedanken über die Zukunft der großen kollektiven Kampforgani- die meine Mitgliedsbeiträge dazu missbrau- sationen zu machen, denen tendenziell noch chen, ihre eigene politische Haltung zu immer die Mitglieder davon laufen? propagieren. Dafür, dass ich mir trotzdem Gedanken Die Wasserversorgung in Euro- Doch träumen ist erlaubt. Gerade für über ihre Zukunft mache, gibt es gute Grün- pa darf nicht privatisiert wer- Anhänger der freien Marktwirtschaft, denn de. Zunächst einen ganz einfachen: Sie sind den – nur die öffentliche Hand sie vertrauen darauf, dass jene Menschen, heute einflussreiche Organisationen mit garantiert Wasser für alle. Eine entspre- die frei und verantwortlich handeln, prak- starken Eigeninteressen, und es wird auf chende Kampagne wird von Verdi unter- tisch unbegrenztes Potenzial haben, ihre absehbare Zeit weiter mit ihnen zu rechnen stützt. Kaffee und vieles andere muss „fair“ Probleme zu lösen und immer neue Mög- sein. Es hat außerdem Sinn, dass diejenigen, gehandelt werden. Entsprechende Kampa- lichkeiten finden, ihre Träume wahr werden die ihre Arbeitsverträge nicht selbst in jedem gnen werden von Verdi mit dem Geld der zu lassen. Sie sind überzeugt, dass Vertrags- Detail aushandeln wollen, dafür die Dienste Mitglieder gefördert. Das Steuersystem freiheit und die Durchsetzung von Verträgen eine Organisation in Anspruch nehmen, die muss „gerechter“ werden – die da oben die Rahmenbedingungen sind, die das das für sie tut. Es ist für viele auf der Arbeit- müssen mehr bezahlen, damit der Staat ermöglichen. Sie glauben, dass sich Wettbe- nehmer-, aber auch auf der Arbeitgeberseite mehr einnimmt. Das fordern praktisch alle werb und freiwillige Kooperation nicht einfach wirtschaftlich sinnvoll, sich vertreten deutschen Gewerkschaften. ausschließen, sondern gegenseitig bedingen. zu lassen. Außerdem sind Gewerkschaften Diesen Forderungen mag man zustim- Doch wie könnten die Gewerkschaften auch ein legitimes Ergebnis der Vereini- men oder nicht. Als Anhänger der freien meiner Träume aussehen? Sind Gewerk- gungsfreiheit. Eine Organisation, die Interes- Marktwirtschaft stehe ich ihnen sehr skep- schaften nicht per se das Gegenteil von sen vertritt, ist kein Fremdkörper, sondern tisch gegenüber. Doch mein Hauptproblem marktwirtschaftlich und freiheitlich, auch ein logischer Akteur in einer freien Markt- mit den deutschen Gewerkschaften ist, ohne linke ideologische Schlagseite? Beruht wirtschaft. dass sie sich überhaupt in fast jede politi- ihre Stärke nicht darauf, dass sie vom Gesetz- Doch es gibt natürlich einiges, das sich sche Debatte einmischen – und dann geber eine Waffe in die Hand bekommen so gar nicht mit der Vertragsfreiheit verträgt. eiffenbach

reflexartig in den Chor der Staatsgläubigen haben, mit der sie bestehende individuelle Zunächst gibt es die Möglichkeit, neue . W auf der linken Seite des politischen Spekt- Arbeitsverträge kollektiv zu brechen vermö- Tarifverträge auch Unternehmen aufzuzwin- rums einstimmen. Ich möchte meine gen – das Streikrecht? Und schließlich: Lohnt gen, die gar nicht den Verbänden angehö- spezifischen Interessen als Arbeitnehmer es angesichts einer Arbeitswelt, die sich ren, die sie geschlossen haben – die soge-

nicht von Organisationen vertreten lassen, immer stärker ausdifferenziert und individu- nannte Allgemeinverbindlichkeitserklärung. T Vignette: Illustration

20 liberal 2.2013 Wahlfreiheit einziehen. Gewerkschaften Dieses Instrument ist mit Vertragsfreiheit sollten das Recht bekommen, sich das und Marktwirtschaft nicht zu vereinbaren Streikrecht „abhandeln“ zu lassen. Das – auch wenn es von nicht wenigen Arbeitge- klingt zunächst wie eine abstruse Idee – die die Einkommen leistungsabhängig sind, bern verteidigt wird. Allerdings nimmt jedoch Sinn bekommt, wenn man sich inwieweit eher Flexibilität bei Arbeitszeit seine Bedeutung ab. Teilbereiche der Wirtschaft anschaut, in und anderen Bedingungen gewünscht wird. denen einzelne Berufsgruppen ein außer- So könnte sich der alleinstehende, flexible Hohes Erpressungspotenzial gewöhnlich hohes Erpressungspotenzial VW-Arbeiter von einer anderen Gewerk- Viel wichtigere Privilegien der Gewerk- haben, wie zum Beispiel die Lokführer oder schaft vertreten lassen als sein Kollege in der schaften resultieren jedoch aus zwei Prinzi- Fluglotsen. Zusätzlich zu den Tarifverträgen gleichen Position, der als Familienvater pien und ihrer Auslegung, die in Deutsch- und der mit ihnen verbundenen Friedens- andere Prioritäten hat. land fast sakrosankt sind: der pflicht sollten hier freiwillige Vereinbarun- Die Gewerkschaften der Zukunft, so Tarifautonomie und dem Streikrecht. Um gen mit deutlich längerer Laufzeit möglich mein Traum, brauchen die Privilegien gar mich mit meiner Träumerei nicht allzu weit werden, die Arbeitsniederlegungen aus- nicht, die ihnen das deutsche Recht heute von der Realität und dem politisch Denkba- schließen. gibt. Es gibt einen großen Markt für kompe- ren zu entfernen, hier zwei eher vorsichtige Auf einem anderen Gebiet sollten die tente Interessenvertretung, für das Aushan- Ideen: Gewerkschaften jedoch mehr Möglichkei- deln von Tarifverträgen im Sinne der eige- Der aus der Tarifautonomie abgeleitete ten erhalten – wiederum im Namen der nen Mitglieder. Auch dabei belebt Vorrang von zentral zwischen den Tarifpar- Vertragsfreiheit. Gewerkschaften sollten Konkurrenz das Geschäft. Dass viele, gerade teien ausgehandelten Tarifverträgen vor exklusiv für ihre Mitglieder zusätzliche große Unternehmen, lieber mit den betrieblichen Vereinbarungen muss weit Leistungen oder höhere Einkommen ­heutigen quasi-monopolistischen Gewerk- über das erreichte Maß hinaus gelockert aushandeln können. Diese stehen dann schaften zusammenarbeiten und es sich mit werden. Tarifverträge sollte nur noch Nichtmitgliedern nicht automatisch offen – diesen bequem eingerichtet haben, sollte Rahmen oder Mindeststandards setzen, die von Tarifverträgen kann dann durch indivi- gerade den Arbeitnehmern, die auf ihre die Akteure auf betrieblicher Ebene mit duellen Vertrag nach oben und unten eigene Leistung vertrauen, zu denken Leben erfüllen. abgewichen werden. Es sollte auch möglich geben. ­ ● Das Streikrecht macht einen organisier- sein, in einem Unternehmen oder wenigs-

ten Bruch von Arbeitsverträgen legal – mit tens in einer Branche mehrere parallele Sascha Tamm ist Mitarbeiter des dem Argument der asymmetrischen Tarifverträge zu haben, die die Mitglieder Liberalen Instituts und derzeit mit der Machtverteilung. Abgesehen davon, dass konkurrierender Gewerkschaften betreffen. Stiftungsinitiative zum Themen- schwerpunkt „Freiheit und Fortschritt“ die Machtverteilung oft gar nicht mehr so So könnten sich Gewerkschaften in ihrem befasst. asymmetrisch ist, sollte auch hier mehr Angebot danach differenzieren, inwieweit [email protected]

liberal 2.2013 21 ARBEIT IM WANDEL Junge gründer

The Kids are alright

Mit 15 Jahren stellen sie den ersten Mitarbeiter ein, mit 16 verkaufen­ sie die erste App, mit 18 melden sie ein Patent an. Die Chefs der Startups im Silicon Valley werden immer jünger. Denn niemand weiß so gut wie sie, was ihre Altersgenossen in der Onlinewelt wollen.

// Text // Peter Glaser // Illustrationen // Ernst Merheim

Steve Jobs war 22, als er seinen kömmlich herangereifter Hierarchien führ- Freund Steve Wozniak 1976 ten zu skurrilen Konfrontationen. Als IBM überredete, seine Anstellung bei und die damals kleine Firma Microsoft im Hewlett-Packard aufzugeben und mit ihm November 1980 einen Vertrag über die eine eigene Firma zu gründen. Drei Jahre Entwicklung eines Betriebssystems für den später war Apple Computer ein Milliarden- geplanten IBM-PC unterzeichneten, sah Bill Dollar-Unternehmen. 1983 holte Jobs den Gates‘ Sekretärin Miriam Lubow ihren 44-jährigen Pepsi-Manager John Sculley in jungen Boss eines Morgens in einem dreitei- die Firma – als Vorstandsvorsitzenden und ligen Anzug ins Büro kommen. Gewöhnlich als „Erwachsenen vom Dienst“. Was als war Gates äußerst lässig gekleidet, gelegent- Dreamteam begann, endete zwei Jahre lich hatte er Pizzareste am T-Shirt und später dramatisch: Jobs, der ebenso inspirie- ständig verschmierte Brillengläser. Kurz rend wie unlenkbar war, wurde von Sculley darauf trafen drei Männer in Jeans und aus dem Unternehmen expediert. Der Sneakers mit dicken Aktentaschen ein. Sie Apple-Standardwitz („Was ist der Unter- sagten, sie kämen von IBM. Die Ingenieure schied zwischen Apple und den Pfadfin- hatten versucht, sich an den Stil von Gates dern? - Die Pfadfinder haben erwachsene anzupassen – und Bill Gates sich an den Aufseher“) funktionierte nicht mehr. ihren. Als sie sich in seinem Büro begegne- Die Unterschiede zwischen einer neuen ten, fingen alle an zu lachen. Generation junger Unternehmensgründer, Wobei den Leuten von IBM bald das die das anbrechende digitale Zeitalter Lachen verging. Was sich angesichts der

hervorbrachte, und den Vertretern her- schieren Größe des Unternehmens Weiffenbach T. Vignette: Illustration

22 liberal 2.2013 liberal 2.2013 23 ARBEIT IM WANDEL Junge gründer

­niemand hatte vorstellen können, geschah: meras gebaute Gerät löscht Festplatten, die Seither hat sich der Trend zunehmend Anfang der 90er-Jahre verlor IBM, das die entsorgt werden sollen, so zuverlässig, dass verjüngt. Viele sehen heute das ideale Alter Bezeichnung PC quasi als Markenbezeich- keinerlei persönliche oder geschäftliche für Gründer („Peak Age“), ähnlich wie für nung einkassiert hatte, die Marktführer- Daten mehr ausgelesen werden können. 100 Sportler, bei Anfang bis Mitte 20. Den im schaft an seine Mitbewerber. Und das Jün- Dollar, die ihm seine Großmutter zum Silicon Valley ansässigen Risikokapitalge- gelchen mit den Turnschuhen war plötzlich Geburtstag geschenkt hatte, verwendete er, bern der Firma SV Angel zufolge hatten der reichste Mann der Welt. um seine Erfindung beim Patentamt anzu- mehr als zwei Drittel aller Startups, die melden. später für 500 Millionen Dollar oder mehr Patentgebühr von Oma Die Diskussion über das ideale Alter für verkauft wurden, Firmengründer, die jünger Während die Kids, die heute ganz selbstver- Unternehmensgründer hat im letzten waren als 30. ständlich mit Computer und Netz aufwach- Jahrzehnt einen neuen Verlauf genommen. sen, von Soziologen, Analysten und Trend- 1999 hatte der ehemalige Wall-Street-Com- Nicht von der Familie abgelenkt forschern noch unter dem Mikroskop puterexperte und heutige Innovationsfor- Sind junge Entrepreneure besser, weil sie studiert werden wie eine interessante neue scher Vivek Wadhwa mit seiner These für unbekümmerter loslegen? Michael Moritz Lebensform, gründen die lieben Kleinen Aufsehen gesorgt, die erfolgreichsten Unter- von Sequoia Capital, zu deren Beteiligungen bereits Firmen und melden ihre ersten nehmen würden von „alten Hasen“ gegrün- unter anderem Google, YouTube und PayPal Patente an. det. Seinen Untersuchungen zufolge waren gehörten, sieht als neue Mitspieler „sehr William Morse war 18, als er sich seinen es Männer über 40 - verheiratet und mit junge Talente mit leidenschaftlichem Unter- „Hard Drive Zapper“ schützen ließ. Das aus Kindern -, bei denen die Chance auf einen nehmergeist, die noch nicht durch Familie recycelten Bestandteilen von Wegwerfka- Unternehmenserfolg am höchsten sei. oder Kinder abgelenkt werden“. Nach An-

„Ein Internet-Startup ist wie eine Band. ­Jeder möchte so was gründen – vor allem, weil es richtig Spaß macht.“ . Wilson/Corbis PA; D D PA; Alliance/ Picture Fotos:

24 liberal 2.2013 sicht des vormaligen Google-CEOs Eric Schmidt sind es diese „sehr niedrig bezahl- ten Jungunternehmer“, die dafür sorgen, dass „die richtigen Dinge geschehen, indem sie sich halb zu Tode schuften“. Als Zaid Farooqui das Webdesign-Unter- nehmen Cyquester Technologies mitgründe- te und einen ersten Mitarbeiter einstellte, war er gerade mal 15. „Ein Internet-Startup ist wie eine Band“, befindet der heute 25-Jäh- rige, „jeder möchte so was gründen – vor allem, weil es richtig Spaß macht.“ So hat Farooqui sich unter anderem an einem Social-Media-Portal namens „iJigg“ versucht, auf dem die Nutzer per Abstimmung aus zahllosen Songs ihre eigenen Charts erstel- len konnten. Dass es der Konkurrenz von Musikangeboten wie Last.fm und Pandora nicht standhalten konnte, hindert ihn kei- neswegs daran, mit etwas Neuem weiterzu- machen. Ein Foto in seinem Blog („Me, office and bed“) zeigt die klassische Netzpionier- Grundausstattung: einen Schreibtisch, einen Rechner und eine Schlafmatte daneben auf dem Teppichboden. Vorbilder I Wenn es um Internetunternehmen mit jungen Gründern geht, wird gern auf Larry Steve Jobs (oben rechts) war Page und Sergey Brin von Google (beide 22, als er seinen Freund Steve Jahrgang 1973) und Mark Zuckerberg von Wozniak (l.) 1976 überredete, mit Facebook (Jahrgang 1984) verwiesen. Aber ihm eine eigene Firma zu ­gründen. Mit seinem Schulfreund diese Wunderboys erscheinen fast schon Paul Allen gründete Bill Gates wieder wie Senioren, wenn man die aller- (unten) im Alter von 14 Jahren jüngste Gründergeneration ins Auge fasst seine erste Firma „Traf-O-Data“. – willkommen im Zeitalter der Teenager- Unternehmer. 2007 war er das Highlight der Technolo- giekonferenz Tiecon im kalifornischen Santa Clara: Anshul Samar, der 13-jährige Gründer und Boss des Spiele-Startups Alchemist Empire. „Wir injizieren Spaß in die Bildung“, fasst der Jüngstunternehmer die Grundidee seines Fantasy-Rollenspiels Elementeo zusammen, mit dem Kinder und Jugendliche

liberal 2.2013 25 ARBEIT IM WANDEL Junge gründer

auf neue Art etwas über Chemie lernen sollen. Jedes chemische Element besitzt in dem Spiel eine eigene Persönlichkeit – aus Natrium wird der Natrium-Drache, Sauer- stoff verwandelt sich in den „Lebensspen- der“ und Jod in die Jod-Meerjungfrau. Der ehemalige Präsident der American Chemical Society, Dr. Tom Lane, begeisterte sich „Mit meinem jungenhaften darüber, dass „dieser junge Erfinder da über etwas gestolpert ist, das den Leuten auf Aussehen habe ich anregende Weise Wissenschaft näherbringt“. schon mal Probleme bei „The New Face of Entrepreneurship“ – nie- Kino­filmen mit einer mand repräsentierte das Motto der Veran- staltung besser als Samar. Inzwischen hält er Altersbeschränkung Vorträge bei Innovations-Events wie den ab 18 Jahren.“ TED-Konferenzen, und sein Spiel gibt es natürlich längst auch als App.

Big Business: I can has Katzenfotos! Vor vier Jahren folgte der Hawaiianer Erik Nagakawa der gerade aufkommenden Mode, mit absichtlich verdrehtem Englisch betexte- te Katzenfotos im Netz zu verbreiten („I can has Cheezburger?“). Er richtete für die nach dem Akronym für „Laughing Out Loud“ sogenannten „LOLcats“ ein eigenes Blog ein – Icanhascheezburger.com. Die Zugriffszah- len explodierten sofort, das Blog war von Anfang an in den schwarzen Zahlen. Wenig später lieferte der koreanischstämmige US-Jungunternehmer Ben Huh ein Meister- Dollar Umsatz im Jahr. Während die Zeit- ortsbezogenen Dienst, der Handynutzern stück an Überredungskunst ab: Er brachte schrift GQ ihn auf die Liste der schlechtest- auf einer Karte zeigt, wo ihre Freunde ­gerade Silicon-Valley-Investoren dazu, ihm 2,25 Milli- gekleideten Menschen im Silicon Valley sind oder wo in der Umgebung ein Restau- onen Dollar zu geben, um diese Website zu setzte, wählte ihn das Magazin Fast Company rant zu finden ist. Nach einer kleinen An- kaufen, die zwar täglich eine halbe Million 2010 zu einem der „Most Creative People in schubfinanzierung hatte Altman sich daran Klicks erbrachte, auf der aber nichts als Business“. gemacht, 5 Millionen Dollar einzusammeln hochgradig albern beschriftete Katzenfotos und über eine Zusammenarbeit mit dem zu sehen waren. Heute herrscht Huh über Direkt das große Geschäft ansteuern Telekommunikationsunternehmen Sprint zu ein „Cheezburger Network“ aus mehr als 50 Andere Jungunternehmer steuern ebenfalls verhandeln – wobei ihn seine Geschäftsrei- Blogs und Websites und beschäftigt 75 ohne den Umweg über kleinere Projekte sen öfters über seine Heimatstadt St. Louis Mitarbeiter. Mit Onlinewerbung und Mer- direkt das große Geschäft an. Sam Altman führten, wo er sich von seiner Familie ein

chandising macht er geschätzte 4 Millionen etwa, Anfang 20, rief „loopt“ ins Leben, einen Auto ausborgte, da er damals noch nicht alt K. R iegler D PA; Alliance/ Picture Fotos:

26 liberal 2.2013 genug war, um sich eines mieten zu können. Sein jungenhaftes Aus­sehen bereitet ihm Junge Leute, grosses Geld manchmal immer noch Probleme, „etwa Je jünger die Gründer von Startups sind, desto höher ist der tatsächliche wenn ich mir im Kino einen Film ansehen oder potenzielle Wert der Firma beim Verkauf. Denn keiner kennt die Interessen will, der erst ab 18 freigegeben ist“. junger Menschen besser als die Jungunternehmer. Für Altman verläuft ein Grenzlinie zwi- schen der Generation der „alten“ Netznutzer, die noch ihre Privatsphäre verteidigen, und den nach 1981 Geborenen, die sich bereits Unter 30 Jahre 53 33 daran gewöhnt haben, dass ihr Leben im Über 30 Jahre 25.000 $ 500.000 $ Netz ein offenes Buch ist. Jugendliche kom- und mehr und mehr men inzwischen früh mit den sozialen 47 67 Netzen in Berührung, und sobald sie sich darin heimisch fühlen, erscheint ihnen die Vorstellung, man könne Dinge für sich behal- Quelle: techcrunch.com ten, sonderbar. Richtig einschätzen zu kön- nen, was die Nutzer an Transparenz akzep- tieren, kann über Wohl und Wehe neuer Geschäftsmodelle entscheiden, die wie bei „loopt“ aus den Daten der Nutzer eine neu- artige, reizvolle oder nützliche Erfahrung zu formen versuchen. Die ältere Generation versucht dem digitalen Wertewandel manchmal etwas hilflos Einhalt zu gebieten. So erläuterte etwa Melinda Gates in einem Interview die stren- gen Erziehungsregeln für ihre Kinder: „Wir setzen alles daran, dass die drei so normal wie möglich aufwachsen“, sagt die Frau von Bill Gates. Die Kinder müssten mit etlichen Einschränkungen leben, iPhone oder iPod etwa seien verboten. „Unsere große Tochter hat gesagt: Mama, erzähl bloß nicht, was wir alles nicht dürfen. Das ist total peinlich.“ ● Vorbild II Peter Glaser lebt als Publizist und Schriftsteller in Berlin, er ist Ehrenmit- MARK ZUCKERBERG war 20, als glied des renommierten Chaos Computer er 2004 Facebook gründete. 2006 Clubs. Zu der Beobachtung, dass ameri- gab er sein Studium ohne kanische Internetunternehmer immer ­Abschluss auf. Im September 2011 jünger werden, gesellte sich eine weitere Erkenntnis: Nicht das Alter ist ausschlag- schätzte das Wirtschaftsmagazin gebend für Erfolg, sondern harte Arbeit. Forbes sein Vermögen auf rund [email protected] 17,5 Milliarden US-Dollar.

liberal 2.2013 27 Gesellschaft Grenzbereiche der Freiheit Wohlsein In normalen Pflegeheimen heißt es: Wir wissen schon, was gut für dich ist. Und Alkohol gehört nicht dazu. In einer Hamburger Einrichtung für Suchtkranke sagt man den Bewohnern: Entscheide selbst, was du möchtest – und wenn es der tägliche Rausch ist, geht das in Ordnung.

// Text // Frank Burger // Fotos // Bernd jonkmanns

s ist drei Uhr nachmittags an einem Montag Muskulatur, kann nicht mehr gut auf den Beinen stehen Ende Januar. Draußen liegt Schnee, aber der und immer wieder plagen mich Krampfanfälle“, sagt Winter hat beschlossen, eine zehn Grad warme Penning. Langzeitfolgen des täglichen Alkoholkonsums. EPause einzulegen. Drinnen, im Heim „Pflegen & „Hier in Öjendorf muss ich mir keine Gedanken um Wohnen Öjendorf“ im äußersten Hamburger Osten, irgendetwas machen, hier bin ich unter Kontrolle.“ haben Peter Penning und sein Kumpel Simon Firmenich Wenn er spricht, wirkt er sehr konzentriert und ist gut beschlossen, es sich gemütlich zu machen. Sie sitzen in zu verstehen, auch wenn sein Sprachfluss manchmal Ende der Walz: Firmenichs Zimmer an einem Tisch, die Heizung wärmt, abrupt bremst und dann wieder beschleunigt. Werner Osthöfer, das Radio spielt „Sweet Home Alabama“. Zeit für noch Seinem Freund Simon Firmenich bereitet es größere 65, hat 18 Jahre auf ein Glas Wein und eine Selbstgedrehte. Und für Auszüge Probleme, sich zu artikulieren. Jeder Antwort geht eine der Straße gelebt aus zwei Lebensgeschichten, die in den Details variieren, Pause voran, er spricht verwaschen und stockend. Sein und ist dabei durch halb Europa deren Dreh- und Angelpunkt den gleichen Namen trägt: Gesicht ist maskenhaft, sein Alter schwer zu schätzen. 47 gereist – bis der Alkohol. ist er, so alt wie Penning, kommt aus -Wilhelms- Körper der Belas- Peter Penning stammt aus Emden. Der 47-Jährige hat burg und hatte auch einmal einen Beruf. „Bis vor zehn tung nicht mehr gewachsen war. schon als Jugendlicher begonnen zu trinken. Und, wie er Jahren habe ich als Maurer gearbeitet, nein als Hoch- Öjendorf ist nun sagt: „Eigentlich nie wieder so richtig damit aufgehört.“ und Tiefbaufachmann“, sagt er. Auch bei der Bundes- seine vorerst letzte Penning hat eine Ausbildung als Tischler absolviert, wehr sei er früher gewesen, verpflichtet für vier Jahre, Etappe. doch Fuß fassen konnte er in der Arbeitswelt nie. Die aber wegen Befehlsverweigerung im Suff entlassen Sucht hat ihm immer wieder einen Strich durch die worden. Seine letzte Station vor Öjendorf: vier Jahre in Rechnung gemacht. Und ihn gezeichnet. In seinem einem Pflegeheim für Suchtkranke in Reinbek, das schmalen Gesicht wohnen noch letzte Züge eines jun- Abstinenz zur Bedingung für den Aufenthalt macht. Er gen Mannes, der wahrscheinlich einmal gut aussah. sei die ganze Zeit trocken gewesen, sagt Firmenich. Das Doch jetzt ist seine Miene verzerrt. Die Brauen streben Problem: „Irgendwann wollte ich mir mal wieder richtig in unterschiedliche Richtungen, als wolle die eine einen auf den Zeiger geben.“ Da war er seinen Platz los. Staunen, die andere Missbilligung ausdrücken. Falten Firmenich und sein Heimgenosse versuchten über furchen Wangen und Stirn, die Augen blicken starr. die Jahrzehnte schon oft, von ihrer Sucht loszukommen. Seit vier Jahren lebt der Ostfriese im Pflegeheim, Haben den Entzug durchgemacht, waren eine Weile davor hatte er eine eigene Wohnung in Emden, wo ihn trocken: bis die Gier zu groß wurde, ein Kumpan feierte, Mitarbeiter der Diakonie betreuten. Das ging aber ir- für kurze Zeit Geld da war, die Traurigkeit überhand- gendwann nicht mehr. „Ich habe Probleme mit der nahm – tausendundein Grund, wieder anzufangen.

28 liberal 2.2013 liberal 2.2013 29 Gesellschaft Grenzbereiche der Freiheit

Heute trinkt jeder von ihnen, so Penning, „drei bis hängigkeit, eine vom Medizinischen Dienst der Kranken- vier Liter Wein“ – pro Tag. Nicht heimlich, auf einer kassen festgestellte Heimpflegebedürftigkeit – und der Parkbank oder auf der Straße. Sondern ganz offen, in selbst gefasste Entschluss einzuziehen. ihrem Zuhause, dem Heim. Hier dürfen sie das. Hier verlangt niemand, dass sie damit aufhören. Es erwartet Männer kippten betrunken auf der Straße um auch keiner. Sie und die anderen Bewohner werden als Freiheit ist der Kern des öjendorfschen Pflegekonzepts. diejenigen angenommen, die sie sind: Alkoholabhängige, Die Freiheit eines Menschen, seinen eigenen Weg zu die – fast immer – ihrer Sucht erlegen sind. wählen, selbst wenn er in den Verfall führt und Umkehr Auf diese Klientel hat sich das private Heim speziali­ nur in den seltensten Fällen die längerfristig eingeschla- siert – im Fachjargon heißen sie „chronisch mehrfach gene Richtung ist. Ein Weg, der toleriert wird, selbst beeinträchtigte, abhängigkeitskranke Menschen“. Die wenn Außenstehende ihn kaum begreifen können und Einrichtung ist einzigartig. Zwar gestatten mittlerweile ablehnen. Auch die Mitarbeiter des Heims müssen die einige Pflegeheime im Land abhängigen Insassen den Entscheidung der Bewohner nicht gutheißen – aber kontrollierten Konsum von Alkohol. Menge und Fre- akzeptieren. Sie müssen die Konsequenzen der Freiheit quenz legt aber ein Arzt fest. In Öjendorf entscheiden ertragen. die Bewohner selbst, was, wie viel und wann sie trinken Einer, der sie schon seit 30 Jahren aushält, ist Pflege- – die Grenzen setzt ihnen dabei vor allem ihr Budget. dienstleiter Andreas Meyer. Nach dem Zivildienst und Fans unter sich: Peter Das Haus bietet Menschen, denen ein eigenständiges der Pflegeausbildung fing er 1983 als Betreuungskraft an Penning (links) ist Wer- Leben unmöglich erscheint, einen Platz, den sie in der – und blieb: „Weil ich großen Spaß an der Arbeit habe der-Bremen-Anhänger, Normalgesellschaft nicht mehr finden und in anderen und mir nichts Schöneres vorstellen kann“. Der 53-Jäh- Simon Firmenich hält Heimen nicht bekommen. Die Kosten für den Aufenthalt rige kennt sich in der Geschichte des Hauses aus, das zum HSV – trotzdem trinken sie auf Firme- übernimmt fast immer das Sozialamt. Voraussetzung für nach dem Krieg als Auffangstätte für gestrauchelte nichs Zimmer gern mal die Aufnahme ist eine ärztlich diagnostizierte Alkoholab- Männer gegründet wurde, und hat die Entwicklung der ein Glas zusammen.

30 liberal 2.2013 Einrichtung hin zu ihrem jetzigen Schwerpunkt mitge- staltet. „Bis vor 15 Jahren war Alkohol hier offiziell verbo- ten, obwohl wir das nie ganz unterbinden konnten“, sagt Meyer. „Vor allem aber haben wir uns gedacht: Die Leute gehen raus, wenn sie trinken wollen, kippen völlig betrunken um und kommen mit dem Krankenwagen zurück – das ist doch Quatsch. Also haben wir ein Pilot- projekt gestartet, das unseren Bewohnern erlaubt, in der Einrichtung zu trinken.“

Drei Bewohner im Substitutionsprogramm Dabei ist die Toleranz gegenüber dem Alkoholkonsum zwar der ungewöhnlichste Aspekt des Heims, aber nicht das ausschlaggebende Argument für die Betreuten: „Nur zum Trinken müssten sie ja nicht hierher kommen“, sagt Meyer. „Entscheidend ist die Einsicht, dass sie allein nicht mehr klarkommen. Weil sie sozial völlig isoliert sind, unter körperlichen und psychischen Erkrankungen leiden oder sich nicht mehr selbst versorgen können. monatlich bar und zur freien Verfügung vom Sozialamt Egal, ob sie vorher in einer eigenen Wohnung, im Män- ausgezahlt bekommt, höher wäre als 100 Euro. „Da nerwohnheim oder auf der Straße gelebt haben.“ sagen sich viele Süchtige: ,Draußen habe ich 350 Euro Die Nachfrage nach den 131 Pflegeplätzen in zehn Sozialhilfe – 100 Euro reichen mir nicht fürs Rauchen Wohngruppen – acht Plätze sind für Frauen reserviert – und Trinken.‘ Wenn sie die Wahl haben zwischen re- ist groß, das Heim immer voll belegt. Der jüngste Be- gelmäßigen Mahlzeiten und einer Flasche Korn, wählen wohner zählt 30, der älteste 79 Jahre, der Durchschnitt Suchtkranke eben meistens den Schnaps“, so Meyer. liegt bei ungefähr 55 Jahren. Viele von ihnen haben Damit keiner seinen Entschluss leichtfertig fasst, zusätzlich zu ihrem Alkoholkonsum auch Erfahrungen sind ein Besichtigungstermin und ein Vorgespräch mit mit illegalen Drogen wie Heroin oder Kokain – drei der dem jeweiligen Wohnbereich Pflicht – denn auch Meyer Bewohner nehmen sogar an einem Substitutionspro- und seine Kollegen müssen einverstanden sein mit dem gramm teil, bei dem sie die Ersatzstoffe Polamidon oder neuen Bewohner. Die Hälfte der Interessenten sagt Subutex erhalten. „Die sind allerdings schon substituiert anschließend ab, mancher kommt mehrmals vorbei, zu uns gekommen“, sagt Meyer, „Da wir aber nicht garan- bevor er den letzten Schritt wagt. tieren können, dass sie die Finger vom Alkohol lassen, ist So wie Werner Osthöfer. Der 65-Jährige büchste mit das für uns ein auslaufendes Modell. In Zukunft nehmen 14 Mal aus seinem Elternhaus in Duisburg aus, wir keine Substituierten mehr auf.“ saß einige Zeit im Knast – wie rund 80 Prozent der Genügend Anwärter für einen Pflegeplatz gibt es Bewohner irgendwann in ihrem Leben –, schloss dort auch so, fünf bis zehn Bewerber stehen immer auf eine Schreinerlehre ab und lebte insgesamt 18 Jahre auf Abruf. Wenn der Andrang so groß ist, warum existieren der Straße. Warum? „Ja, wie kommt so was? Ich bin dann nicht mehr Einrichtungen dieser Art? Meyer nennt durch ganz Europa gereist, immer mit 30 Kilo auf dem zwei wesentliche Gründe: „Zum einen ist es die Freiheit, Rücken. Die schönste Zeit meines Lebens“, sagt der die wir den Bewohnern gewähren. Viele Menschen aus große, kräftige Mann mit dem grauen Bart. Doch mit der Pflegebranche und in den Wohlfahrtsverbänden Arthrose, Wirbelsäulenschaden, Schwerhörigkeit sowie haben damit ein großes Problem, weil sie es gewohnt künstlichem Knie- und Hüftgelenk „geht man da sind, dass man Kranken vorschreibt, was gut für sie ist. draußen kaputt“, sagt Osthöfer. Ein Sozialarbeiter zeigte Zum anderen geht es ums Geld: Unsere Bewohner ihm das Pflegeheim, nach sechs Monaten Bedenkzeit haben in der Regel Pflegestufe null, damit kann ein zog er im Oktober 2006 in Öjendorf ein. Heimträger kaum Geld verdienen – ein Pflegeheim muss Er hat ein ruhiges Einzelzimmer im ersten Stock, gut mindestens Stufe eins oder zwei als Standard haben, zwölf Quadratmeter groß, zwei Tische und Stühle, Bett, damit sich das wirtschaftlich lohnt.“ Waschbecken, Schrank, Regal, Fernseher, Musikanlage, Die Wartelisten für einen Platz in Öjendorf wären Kühlschrank. An den Wänden Landschaftsbilder, vor noch länger, wenn das Taschengeld, das jeder Bewohner dem Fenster ein Wäldchen. Das Ensemble der Endsta-

liberal 2.2013 31 Gesellschaft Grenzbereiche der Freiheit

wohl das oft unendliche Geduld erfordert. Beispiels- weise wenn ein Bewohner den Wunsch hat, wieder in eine eigene Wohnung zu ziehen. Dafür braucht er unter anderem einen Personalausweis, und wenn er keinen hat, muss er einen neuen beantragen. Dazu benötigt er Passbilder. „Es kann Monate dauern, bis er das hinkriegt. Mal ist das Wetter zu schlecht, mal wird ihm auf dem Weg zum Automaten das Geld gestohlen, mal verliert er es, mal biegt er unterwegs in den Discounter seiner Wahl ab und investiert in Schnaps.“ Süchtige setzen nun mal andere Prioritäten. Wer in Öjendorf arbeitet, braucht daher eine hohe Frustra- tionstoleranz. Gegenüber vielen Dingen. Kein Wunder, dass sich nur wenige Pflegekräfte für einen Job hier interessieren. „Man muss hierhergehören, sonst passt das nicht“, sagt Wohnbereichsleiter Oliver Rausch, der seit 1996 dabei ist. „Manche Kollegen sagen, sie würden es keine halbe Stunde hier aushalten, wegen des Geruchs und des Aussehens der Bewohner. Und die sind ja auch nicht immer nett. Da gibt es sexistische Be- merkungen gegenüber Frauen, ein anderer provoziert tion des Wanderers, das weiß Osthöfer selbst. „Aber mit radikalen politischen Ansichten. Dann kriegt er eine warum sollte ich auch wegwollen?“, fragt er. Vom klare Rückmeldung, denn auch wer schwer alko- Alkohol? „Zigmal habe ich es versucht.“ Aus dem holkrank ist, kann sich wie ein zivilisierter Mensch Heim? „Hier ist es besser als in den normalen Häusern. benehmen. Und wenn er das nicht tut, hat er ein Recht Dein eigenes Ich wird dir nicht genommen. Niemand darauf, dass man ihm das sagt.“ bekehrt dich.“ Rausch strahlt große Ruhe aus und lacht viel, auch wenn er von den unangenehmen Seiten seiner Menschen nehmen, wie sie sind ­Schütz­linge erzählt, etwa von Streits, bei denen sich die „Das gehört zu unserer Grundhaltung“, sagt Andreas ­Kontrahenten Gesicht an Gesicht anbrüllen: „Für unsere Meyer. „Der Süchtige ist krank – das ist zwar theoretisch Klientel ist das eine relativ konstruktive Form der Kon­ überall bekannt, aber wenn in der Familie einer anfängt fliktbewältigung. Da gehen wir auch mal dazwischen. zu trinken, heißt es: Hör doch auf. Wir dagegen nehmen Aber wenn sie sich prügeln, holen wir die Polizei. Nah- die Menschen, wie sie sind. Auch wenn ich ihre Ent- kampf gehört nicht zu unserem Job“, sagt der 41-Jährige. scheidung nicht unbedingt toll finde, akzeptiere ich sie.“ Wer sich von solchen Widrigkeiten nicht abschre­ In Öjendorf geht es konsequent um Suchtbeglei- cken lässt, wird wohl bald verstehen, was Rausch an tung – wer von Anfang an einen Entzug anstrebt, ist seiner Arbeit so mag: „Man hat als Betreuungskraft ganz fehl am Platz. „Das können andere Einrichtungen weit andere Möglichkeiten als bei Menschen, die in eine besser als wir“, sagt der Pflegedienstleiter. Was das Pflegeeinrichtung kommen, weil sie völlig hilflos sind. Heim seinen Bewohnern dagegen bietet, ist die Rück- Das sind unsere Leute ja nicht. Der Reiz ist, gemeinsam kehr zu einer Art Normalität. Eine Struktur. Durch mit ihnen herauszufinden, was funktioniert und was simple Dinge wie feste Mahlzeiten, durch Freizeit­ nicht. Wir diskutieren hier über alles, von der Körperp- Gute Stimmung: aktivitäten wie eine Hafenrundfahrt oder den jährli- flege über Arztbesuche bis hin zum Mittagessen. Wer Wenn sich Jörg chen Paddelausflug auf der Trave. Durch die Planung Lust darauf hat, findet hier eine erfüllende Aufgabe – wer Markgraf (links) und von Terminen und Aufgaben. Wer will und kann, darf Menschen einfach nur versorgen will, ist hier verkehrt.“ Meiko ­Jahnke im heimeigenen Café arbeiten: Schnee räumen, ein frei gewordenes Zimmer Die Richtigen stoßen in der Regel nach einer mehr­ Regenbogen treffen, streichen oder, wie der Handwerker Werner Osthöfer, tägigen Hospitation zum Team, das aus rund 40 Mit­ gibt es Kaffee, Bier in der kleinen Werkstatt die Gartenmöbel für das arbei­tern besteht, davon zwei Drittel Frauen. Und wer und Zigaretten – Frühjahr abschleifen und ein Vogelhaus bauen. kommt, bleibt lang: Die Fluktuation geht gegen null, die geraucht wird im Pflegeheim fast „Unsere Leute wollen wie Erwachsene behandelt letzte neue Mitarbeiterin wurde vor fünf Jahren überall. werden, und daran halten wir uns“, sagt Meyer. Ob- eingestellt. Worin sich übrigens eine Parallele zur Ver-

32 liberal 2.2013 weildauer der Bewohner zeigt: Fast alle bleiben Jahre, noch anfällt. Wenn ich allein in der Stadt leben würde, manche Jahrzehnte. 2012 verließ einer das Heim, der wüsste ich nicht, wie ich einen Job bekommen sollte.“ 1976 eingezogen war. Eigentlich eine ganz normale Geschichte für Öjen- „Mancher fängt sich hier wieder und findet dorfer Verhältnisse. Aber es gibt etwas, das Andreas ­zusätzlich vielleicht Gefallen am Arbeitstrott. Der steigt Ilgmann aus der Schar der harten Konsumenten her- in der internen Hierarchie auf, der ist Einäugiger unter aushebt: Seinem Einzug ging ein Entzug voraus – er kam Blinden“, sagt Meyer zur Erklärung der langen Aufent- als trockener Alkoholiker ins Heim und ist es geblieben. halte. Und eine Rückkehr in die Gesellschaft jenseits des Trotz der täglichen Versuchung durch den Suff der Heims kann schiefgehen, wie das Beispiel eines Be- großen Mehrheit. Ihr Schicksal, sagt er, habe ihn am wohners zeigt, der nach Jahren in Öjendorf auszog und Ende noch in seinem Entschluss bestärkt. schon sehr kurze Zeit später zurückkehrte, mit der Ilgmann ist einer von derzeit vier Abstinenzlern im Begründung: „Hier drin bin ich der König, da draußen Pflegeheim. Dass sie durchhalten, dafür würde keiner die bin ich ein herzkranker, alkoholabhängiger Sozialhilfe- Hand ins Feuer legen. Schließlich haben es während empfänger.“ Andreas Meyers 30 Berufsjahren „maximal zehn ge­ Andreas Ilgmann will auch nicht mehr weg. Die schafft, dauerhaft vom Alkohol loszukommen“, schätzt Paradiesvogel: Vorgeschichte des 53-Jährigen Hamburgers ist ein der Pflegedienstleiter. Andreas Ilgmann ist eine Ausnahme unter Klassiker: 1997 stirbt seine Frau, von da an säuft er sechs­ Die Enthaltsamen sind in seinen Augen denn auch den Bewohnern, aber einhalb Jahre exzessiv, verkracht sich mit den Kindern keine besseren Menschen. Sie gehen einfach einen nicht seiner Tätowie- und dem Rest der Familie, erleidet einen Schlaganfall. anderen Weg. Nicht, weil sie jemand dazu gezwungen rungen wegen – seit Im August 2004 kommt er nach Öjendorf, und wenn es hätte. Sondern weil sie ihn frei gewählt haben. ● er vor achteinhalb Jahren einzog, hat nach ihm geht, wird er für immer bleiben. er keinen Tropfen „Die Arbeit hält mich hier, die ist mir sehr wichtig“, FRANK BURGER, freier Journalist aus Hamburg, war Alkohol getrunken. sagt der gelernte Teilesetzer im Schiffbau. „Ich sitze überrascht und beeindruckt, wie freimütig die Ebenso ernst wie die jeden Tag von sieben bis vier an der Pforte, kümmere Bewohner des Pflegeheims aus ihrem Leben und von Abstinenz nimmt er ihrer Sucht erzählten – die Erklärung lautete fast immer seinen Job an der mich in zwei Wohnbereichen um die Getränke und gleich: „Ich muss mich hier ja nicht verstellen.“ Pforte des Heims. helfe im Heimladen aus. Und mache alles, was sonst [email protected]

liberal 2.2013 33 gesellschaft NPD-Verbot

Reifeprüfung Kein wahrhaft demokratisch denkender Mensch hegt Sympathien für die NPD. Entsprechend viel Zuspruch erntet der erneute Versuch, die Partei zu verbieten. Doch das rechte Denken lässt sich nicht per Gerichtsbeschluss eliminieren. Und eine mündige freiheitliche Gesellschaft muss auch diese Gesinnung aushalten.

Drei Thesen zum NPD-Verbot von Stefan Ruppert.

Die Freiheit ist immer in der Defensive und daher in 1. Rechtsextremistisches Gefahr“, schrieb der deutsche Philosoph Karl Theodor Gedankengut kann man Jaspers und fuhr fort: „Wo die Gefahr in einer Bevölke- nicht verbieten rung nicht mehr gespürt wird, ist die Freiheit fast schon verloren.“ Ein Verbot träfe lediglich die Parteiorganisa- Die NPD ist als rechtsextreme und verfassungsfeindliche Partei tion der NPD, nicht jedoch rechtsextreme zweifelsohne eine Gefahr für unsere liberale Gesellschaft. Rassis- Gesinnungen in unserer Gesellschaft. Es mus steht gegen Toleranz, „völkisches“ Denken gegen individuelle steht fest: Die NPD ist eine widerliche und Freiheit, Nationalismus gegen Weltoffenheit. zutiefst undemokratische Partei. Aber das die Partei tragende Gedankengut wie Aber folgt man den Worten Jaspers' und denkt diese konse- ­Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus und quent zu Ende, dann muss eine freiheitliche Gesellschaft die ­Zuneigung zu autoritären Strukturen reicht rechtsextreme Bedrohung eher aushalten, als sie durch einen bis in die Mitte der Gesellschaft hinein. Verbotsantrag symbolisch aus dem Blickfeld der Bürger zu entfer- Gegen diese Tatsache hilft kein Verbot. nen. Der Schmerz, den uns die NPD mit ihren Worten und Taten Vielmehr sind umfassendere Maßnahmen bereitet, muss gleichzeitig unser Ansporn sein, sich ernsthaft und gegen den Rechtsextremismus erforderlich: mit Nachdruck dem Problem und der Verteidigung einer freiheit- Staatliche Programme, die Prävention und lichen Gesellschaft zu widmen. Aufklärung stärken, sind nur ein erster Schritt. Leider hat es diese liberale Perspektive schwer, sich dem Wir brauchen das Bewusstsein, dass die Zeitgeist zu widersetzen, der sein Heil in einem Verbot sucht und Verteidigung der Freiheit vornehmste sich davon eine schnelle Genesung verspricht. In den vergange- ­Bürgerpflicht wird. Ich bin überzeugt, dass nen Monaten wurde vermehrt über das richtige juristische Vorge- eine freiheitliche Verfassung, die soziale hen bei einem neuen Verbotsantrag diskutiert. Die Frage des Marktwirtschaft und eine starke Bürgerge- „Wie“ stand dabei im Mittelpunkt. sellschaft die beste Prävention erreichen. Zudem muss rechtsextremen Straftaten mit Zweifelsohne ist diese Frage bedeutsam, wenn man überlegt, einer konsequenten Anwendung des politi- wie überhastet die Politik 2001 ohne einen Moment der kritischen schen Strafrechts begegnet werden. Ein Reflexion in den ersten Versuch eines NPD-Verbots gerannt ist. Ich Verbotsantrag wäre Ausdruck des Scheiterns habe als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsge- der argumentativen Auseinandersetzung mit richt das Versagen von Politik und Verfassungsschutzämtern noch rechtsextremen Ideologien. Wir sollten in schlechter Erinnerung. Bedauerlicherweise gerät bei der Verfah- stattdessen jeden Tag aufs Neue für Freiheit, rensdiskussion die viel wichtigere Frage des „Ob“ in den Hinter- Toleranz und das demokratische Miteinan- grund. Aus liberaler Sicht ist sie mit einem klaren „Nein“ zu beant- der werben und rechter Propaganda scharf

worten, wie die folgenden drei Thesen belegen sollen: entgegentreten. Privat Kneffel/DPA; P. Fotos:

34 liberal 2.2013 2. Ein NPD-Verbot trifft den 3. Ein Verbotsverfahren schwer vorstellbar, welch schlimme Folgen organisierten Rechtsextremismus nutzt der NPD eher, als ein erneutes Scheitern in Karlsruhe hätte. Es nur zu einem kleinen Teil dass es ihr schadet kann nur ein Fehler sein, den Wunsch der Die NPD ist als Partei nur einer unter mehre- Die Debatten der vergangenen Monate NPD nach neuem öffentlichem Zulauf zu ren Anlaufpunkten des organisierten Rechts- haben der NPD, die am Rande des finanziel- erfüllen. extremismus. Große Teile der Szene sind in len Ruins und der politischen Bedeutungslo- Unsere freiheitliche Gesellschaft schüt- freien Bünden und Kameradschaften zusam- sigkeit stand, neues Leben eingehaucht. zen wir nicht durch symbolhafte Parteiver­ mengeschlossen, die von einem Verbot nicht Geschickt hat die Partei schon früher das bote. Wir sollten die tieferen Ursachen des berührt würden. Zudem bereiten sich Teile Licht der Öffentlichkeit für ihre Propaganda Rechtsextremismus bekämpfen. Der Ruf der NPD auf ein Verbotsverfahren vor. Einige benutzt. Nun gibt es eine neue öffentliche nach dem Staat delegiert das Problem und Kräfte haben nahezu unbemerkt von der Plattform. So reichte die Partei im November bietet nur Scheinlösungen, die Verantwor- Öffentlichkeit im Mai 2012 die neue Partei 2012 beim Bundesverfassungsgericht einen tung des Einzelnen ist auch hier gefragt. Das „Die Rechte“ gegründet. Sie dürfte bei einem verfassungsrechtlich abstrusen Antrag auf ist die unbequeme Botschaft des Liberalis- Verbot als Sammelbecken für alte Anhänger Überprüfung ihrer Verfassungsmäßigkeit ein. mus zum Erhalt einer freiheitlichen Gesell- der NPD fungieren. Andere Funktionäre Auf eigene Initiative hin will sich die NPD die schaft – hier wie überall sonst. ● würden in rechte Untergrundorganisationen Verfassungstreue durch Karlsruhe oder abwandern, deren Treiben unter Ausschluss notfalls den Europäischen Gerichtshof für Stefan Ruppert ist habilitierter Rechtswissenschaftler und war zur Zeit der öffentlichen Beobachtung stattfindet. Die Menschenrechte bescheinigen lassen. des ersten NPD-Verbotsverfahrens Strukturen des Rechtsextremismus würden There is no such thing as bad publicity. Mitarbeiter des Bundesverfassungsge- durch ein NPD-Verbot kaum geschwächt. Dies scheint zumindest das Kalkül einer richts. Heute ist er Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Bundestags- Informelle Kreise, die sehr schwer kontrollier- Partei zu sein, die auf eine neue Solidarisie- fraktion. bar sind, würden hingegen Zulauf erhalten. rungswelle aus der rechten Szene hofft. Es ist [email protected]

liberal 2.2013 35 Gesellschaft PortrÄt Helen Zille

Helen gegen Goliath Helen Zille befindet sich auf einer Mission. Das Ziel der Premierministerin der Provinz Westkap: zu verhindern, dass Südafrika eine der gescheiterten Demokratien wird, von denen es auf dem afrikani- schen Kontinent schon so viele gibt. Um seine Macht zu sichern, diffamiert der ANC ihre liberale ­Demokratische Allianz (DA) als „weiße Partei“. Dabei macht die Großnichte des Berliner Milieumalers

Heinrich Zille Politik jenseits aller Hautfarben. // Text // Wolfgang Drechsler

damit kämpfen, dass ihre Gegner und vor allem der seit nunmehr fast 20 Jahren am Kap allein regierende ANC die von ihr ge- führte liberale Demokratische Allianz (DA) unentwegt als eine „weiße“ Partei denunzie- ren, die angeblich nur am Wohl der Weißen interessiert sei und in Südafrika eine neue Apartheid durchsetzen wolle. Zille selbst ist vor allem über den Hass und die Wut der Angriffe bestürzt – und davon, wie unverfroren der ANC nun die Rassenkarte spielt. Ausgerechnet ihr, der Triumph: Mit 786 zu 228 Stimmen gegenüber ihrem nächsten christlich erzogenen Jüdin, die lange Jahre an Konkurrenten wählte die DA Helen Zille 2007 zur Vorsitzenden. vorderster Front gegen die Rassentrennung gekämpft hat und unter Gefährdung ihrer eigenen Sicherheit ANC-Mitglieder vor der Apartheidpolizei versteckte, wirft dieser ANC ir befinden uns im Jahre 2013. Jahre vorher die weiße Landnahme begann, heute vor, Vorsitzende einer Partei weißer Ganz Afrika wird von frühe- regiert heute Afrikas letzter weißer Premier: Rechtsextremisten zu sein. Wer die DA ren schwarzen Widerstands- Helen Zille. wähle, so warnte der ANC seine oft sehr W bewegungen oder ihren Seit fast vier Jahren regiert die mit dem traditionell denkenden Anhänger, erzürne Nachfolgern regiert … Ganz Afrika? Nein! An berühmten Berliner Milieumaler und Karika- seine Vorfahren, werde nicht in den Himmel der äußersten Südspitze des Kontinents turisten Heinrich Zille verwandte Chefin der kommen und beschleunige den Tod des verharrt eine kleine liberale Enklave. Wie liberalen südafrikanischen Opposition das weithin verehrten Gründervaters Nelson Sand zwischen den Händen ist den Weißen Westkap als Ministerpräsidentin – und würde Mandela. „Dabei haben fast alle Mitglieder die Herrschaft in Afrika über die letzten 50 die Erwähnung ihrer weißen Hautfarbe in unserer Parteispitze engagiert gegen die Jahren zerronnen: von Kenia über Rhodesien diesem Zusammenhang gar nicht mögen. Apartheid gekämpft“, sagte Zille im Dezem- und Namibia bis nach Südafrika und – nach Schließlich ist Helen Zille von gänzlich „far- ber vergangenen Jahres in einem Interview der Machtübernahme des Afrikanischen benblinden“ Eltern aufgezogen worden und mit dem Handelsblatt. „Der ANC benutzt das Nationalkongresses (ANC) im Jahre 1994 – bis wünscht sich nichts sehnlicher, als die alten billige Rassenargument, weil er keine ande- in dessen westliche Kapprovinz mit der Rassenschablonen und das damit verbunde- ren hat. Die Rasse und die koloniale Vergan- Küstenmetropole Kapstadt. Ausgerechnet ne Schwarz-Weiß-Denken in Südafrika zu genheit werden immer wieder von Befrei- am Kap der Guten Hoffnung, dort, wo 350 knacken. Zum anderen muss sie seit Jahren ungsbewegungen politisch

36 2.2013 liberal Fotos: Picture Alliance/DPA zu Endegeht undder ANC umNelson Man- Als in Südafrika 1994 die weiße Vorherrschaft Wehrpflicht inder Apartheidsarmee wendet. Campaign“,Conscription diesichgegen die siesich inder„End Daneben engagiert selbst als„Anwälteeinegerechtere für Welt“. Frauen getragenen Bewegungsehensich Heimat. von DieMitgliederdieser politische Mutter findetsie eineerste Milaaktiv ist, Sash“ (Schwarze diebereits Schärpe),für ihre politisch. Achtzigerjahre sich hinundengagiert alles der bequem sieAnfang zumachen,wirft bringen. sichimJournalismus es Dochstatt weiße Sicherheitspolizei ansTageslicht zu Freiheitskämpfers Steve Biko durch die heit überdieErmordung schwarzen des tragen 1977 maßgeblich dazubei,dieWahr dielinksliberale für rin Rand Daily Mail DieRecherchennalistin. derjungen Reporte Engagement. Zunächstarbeitet siealsJour ckelt sieschonsehrfrühgesellschaftliches ihren aktiven politisch - Eltern geprägt, entwi lungen gegen sieundihre Partei sind:Von wieabsurdHelen Leben, Zilles dieUnterstel- schoneinflüchtigerDabei zeigt Blick auf Absurde Unterstellungen und Tony Blair.“ Mugabe nochimmergegen Großbritannien versagen. InSimbabwe Robert kämpft etwa dieinderRegierung instrumentalisiert, liberal 2.2013 Bei derBürgerrechtsorganisationBei „Black - - - später dieliberale Partei stärkste ist im Kraft der neuformierten DA auf. SechsJahre bedarf. ImJahr siezurVizechefin 2000steigt Demokratie dringend einiger Gegengewichte junge Demokratie werden könnte unddiese dass derANCzueinemMühlstein die für kleine liberale Opposition, weil siespürt, die Karriere siesichfür zumachen,engagiert neue Kehrtwende:imANCschnell Statt dela andieMacht vollzieht gelangt, sieeine ­betrachtet während desPräsidentschaftswahlkampfs 2009einBusplakat von HelenZille. Von liberal gesinnten Schwarzen unterstützt: EineAnhängerinderDemocratic Alliance Statt konstruktiveStatt Oppositionsarbeit zu versucht umZillezustürzen. alles, fortan zuhaben,die ganzeMacht und imLand derKüstenmetropolerin gewählt. Stimmen Mehrheit zurneuenBürgermeiste sensationellen Abstimmung mitnur drei Koalitionunmögliche –undwird ineiner kleineren Parteien schmiedetZilleeinefast Stadtparlament von Mitsechs Kapstadt. Der ANC ist wutentbrannt,Der ANCist nicht mehr 37 - Gesellschaft PortrÄt Helen Zille

betreiben, beschäftigt er sich lange Zeit allein damit, Helen Zille mittels Intrigen, Tricks und gekaufter Parlamentarier aus dem Amt zu drängen. Die frühere Wider- standsbewegung kann es einfach nicht Auszeichnung verwinden, dass sich mit Kapstadt eine einzige Stadt im Land nicht in ihrer Hand Im Dezember 2012 ist Helen befindet. Dabei kontrolliert der ANC zu Zille in Stuttgart mit der diesem Zeitpunkt acht der neun Provinzen Reinhold-Maier-Medaille und hält im nationalen Parlament eine völlig ausgezeichnet worden. Der Vorschlag kam von Jürgen unangefochtene Zweidrittelmehrheit. Morlok, Vorsitzender des Kuratoriums der Friedrich- Wählen nach Hautfarbe Naumann-Stiftung für die Die Rechnung für seine destruktive Politik Freiheit, deren Partner Helen erhält der ANC im April 2009, als die DA mit Zilles Democratic Alliance seit vielen Jahren ist. Helen Zille als Spitzenkandidatin neben Kapstadt nun auch in der umliegende Provinz Westkap die absolute Mehrheit erringt und den eigenen Stimmenanteil von 27 auf fast 53 Prozent verdoppelt. Für Südaf- verdrängt worden. Aber auch auf nationaler Druck richtig auf“, kokettiert die 62-Jährige, rika ist ihr Triumph eine tiefe, wenn auch im Ebene kann die DA ihr Ergebnis unter Zille wenn man sie auf ihren extrem dichten Ausland kaum wahrgenommene Zäsur: kontinuierlich verbessern. In einem Land, in Terminkalender, die wenigen U­rlaubstage Erstmals in der Geschichte der jungen dem fast 80 Prozent der 50 Millionen Men- und ihre langen Arbeitszeiten anspricht. Demokratie am Kap ist der schier über- schen schwarz, neun Prozent weiß, weitere Gleichzeitig ist sie für einen ­gewissen Hang mächtige ANC durch den Sieg Zilles in einer neun Prozent farbig (Mischlinge) und drei zur Perfektion, aber ebenso für ihre Unge- Provinz aus der Regierungsverantwortung Prozent indischstämmig sind, gelingt es der duld bekannt: „Da geraten deutsches Tempe- immer stärker gemischtrassigen DA, ihr rament und afrikanische Gemütlichkeit Wahlergebnis in praktisch jeder Kommune manchmal in Konflikt“, scherzt sie. zu verbessern. Dass sie die hohe Doppelbelastung als Bei den jüngsten Lokalwahlen vor zwei Premierministerin und DA-Chefin durch- Jahren erhalten die Liberalen fast 25 Prozent steht, hat viel mit dem Mann zu tun, mit dem der Stimmen (2006: 16 Prozent) und erobern sie seit über 25 Jahren verheiratet ist: dem auch in Kapstadt die absolute Mehrheit. inzwischen emeritierten Soziologieprofessor Zwar gewinnt die DA wieder nur knapp fünf Johann Maree. Zusammen mit ihren Söhnen Prozent der schwarzen Stimmen. Gegenüber Paul und Thomas lebten die Zilles fast 30 dem einen Prozent, das Zilles Partei bei den Jahre lang in einem bescheidenen Haus in nationalen Wahlen 2009 unter schwarzen Kapstadts Vorort Rosebank, gleich neben Wählern errang, bedeutet dies jedoch eine einer Bahnlinie – ehe sie nach ihrer Wahl vor deutliche Verbesserung. „Das Wählen nach drei Jahren unter den Tafelberg zogen, in Hautfarbe ist unser größtes Hindernis“, den offiziellen Wohnsitz der Ministerpräsi- räumt die DA-Chefin ein, „aber es ändert dentin des Westkaps. sich. Und fünf von unseren sieben Parteifüh- Wer nach den Wurzeln von Zilles bei- Berühmter Großonkel: Milieumaler rern sind schwarz.“ spielloser Arbeitsethik und ihrem sozialen Heinrich Zille, unter anderem be- Hilfreich für ihre Arbeit ist, dass sie Einsatz sucht, stößt immer wieder auf ihre kannt für seine „Hurengespräche“. schwierige Herausforderungen weit mehr Eltern. Beide waren in den 30er-Jahren

schätzt als leichte Siege: „Ich blühe erst unter unabhängig voneinander vor den Nazis aus Wikicommns Alliance/DPA; Picture Harrsion; D. Fotos:

38 2.2013 liberal Deutschland geflohen. Der inzwischen verstorbene Vater Wolfgang engagierte sich in der liberalen Progressive Federal Party (PFP), der Vorgängerpartei der DA, und betreute später im schwarzen Township Soweto bei Johannesburg lange Jahre eine Gruppe Querschnittsgelähmter. Helens Mutter Mila setzt sich in der Bewegung „Black Sash“ ein. „Ich war 14, als Hitler an die Macht kam“, erinnert sich Mila, die sich in ihrer Jugend stark mit ihrem jüdischen Hintergrund identifizierte, aber ihre Kinder später dennoch im christlichen Glauben erzog. „Wir flohen vor dem Rassismus nach Südafrika – und sahen uns bei unserem Eintreffen dort sofort wieder mit dieser Über Rassengrenzen hinweg vereint: Auf dem Weg zur Parlamentseröffnungszeremonie in Blut-und-Boden-Geschichte konfrontiert. Ich Kapstadt begrüßt Helen Zille am 9. Februar 2012 Würdenträger des Landes. war außer mir und beschloss: Dieses Mal setzt du dich nicht einfach auf das Sofa, dieses Mal tust du was.“ nage, Rasse und Geschichte zusammenhal- dieses in Afrika nicht unbekannte Phäno- ten. Doch lange werde dieser Klebstoff nicht men gerade erst wieder in Simbabwe vorex- Weltweit beste Bürgermeisterin mehr halten: „Der ANC wird in den nächsten erziert. „2014 ist es für unsere Machtüber- Im Gespräch mit Helen Zille stellt sich un- zehn Jahren auseinanderfallen. Keine Einzel- nahme wohl noch zu früh, wir setzen auf weigerlich das Gefühl ein, es mit einer Per- person kann das Auseinanderbrechen 2019“, sagt Zille. „Aber es kann auch ganz son zu tun zu haben, die sich auf einer stoppen, das könnte nur ein starker instituti- schnell gehen. Wir müssen eine kritische politischen Mission befindet – wie schon ihre oneller Unterbau. Aber ein solcher fehlt dem Masse an Unterstützern gewinnen – und Mutter. Für die Chefin der liberalen Oppo­ ANC, es gibt keine funktionierenden Struktu- werden dabei sicher auf Koalitionspartner sition, die 2008 den Titel „Bester Bürger- ren, keine verlässlichen Regeln, nichts. Es angewiesen sein. Möglicherweise jene Teile meister der Welt“ gewann, geht es um nicht geht nur um Individuen und ihre Macht- des ANC, die eine an der Verfassung und mehr oder weniger als die politische Zukunft kämpfe untereinander“, diagnostiziert Zille. nicht an der Hautfarbe orientierte Regie- ihres Landes. Was wäre also, wenn das so Ihr Ziel ist es, nach Kapstadt und der rung wollen.“ Viel wichtiger als ihr persönli- hoffnungsvoll begonnene Experiment am ­Provinz Westkap nun auch die Wirtschafts- cher Triumph ist Zille dabei das Gemein- Ende doch misslänge? „Wenn ich mich um metropole Johannesburg, die Schlagader des wohl des Landes: „Das Experiment muss eine einzige Sache wirklich sorge, dann Landes, vom ANC zu erobern. Ein solcher gelingen. Ich will nicht, dass auch noch darüber, dass undemokratische Kräfte in Erfolg käme einem Erdbeben gleich und Südafrika eine dieser gescheiterten Demo- Südafrika am Ende die Oberhand gewinnen. würde die politische Landschaft am Kap von kratien wird, von ­denen es auf unserem Das wäre in der Tat sehr gefährlich – und Grund auf verändern – Zille hofft auf den Kontinent schon so viele gibt.“ ● hätte schlimme Konsequenzen.“ Dominoeffekt. Umso mehr verblüfft, dass sie trotz des Sie weiß, dass dies ein Wettlauf mit der Verfalls Südafrikas unter dem ANC und einer Zeit werden dürfte. Denn mit jedem Jahr, Wolfgang Drechsler lebt seit 1985 in wochenlangen Streikwelle im vergangenen das der ANC weiter regiert, betrachten die Südafrika und hat den Übergang des Landes von der Apartheid zur Demokratie Jahr, die viele Investoren entsetzte, nach einstigen Befreier den südafrikanischen zunächst als Student an der University of eigenem Bekunden so optimistisch wie noch Staat immer mehr als ihren Besitz – und Cape Town und ab 1990 als Berichterstat- nie in die Zukunft blickt. Der Grund dafür dürften sich vehement dagegen sträuben, ter für verschiedene Zeitungen begleitet, darunter das Handelsblatt und der liegt gerade im verheerenden Zustand des die Macht eines Tages freiwillig aus den Tagesspiegel. ANC, den Zille zufolge heute nur noch Patro- Händen zu geben. Robert Mugabe hat [email protected]

liberal 2.2013 39 Mierschs Mythenlese

Klima und Meinungsklima

// Text // Michael Miersch // Illustrationen // Bernd Zeller

er Kölner Dom versank 1986. Nicht wirklich, sondern auf Vergessenheit, dass diese Tiere nicht von Eis leben, sondern von dem Titelblatt des Spiegel. Als die Angst vorm Waldsterben Robben, die sie auch früher schon an eisfreien Stränden erlegten. Im die Bundesbürger noch fest im Griff hatte, trumpfte das Laufe der Erdgeschichte überlebten die Eisbären Warmzeiten, in D Hamburger Magazin mit einer neuen, noch viel schlimme- denen der Nordpol weggeschmolzen war. ren, globalen Katastrophe auf. Und wieder trug der Mensch Schuld, durch seine Fabriken, Kraftwerke und Motoren. Der überflutete Dom Ob Dom oder Bär – die Schere zwischen apokalyptischer Erwar- war in Deutschland für die folgenden Jahre das wirkmächtigste Bild tung und messbaren Fakten klafft bei der Klimaerwärmung so weit der Erderwärmung. Jeder hatte es im Kopf. auseinander wie bei kaum einem anderen Thema. Und nirgends ist dieser Abstand größer als in Deutschland. Eine überwältigende In der zugehörigen Titelgeschichte warnte der Spiegel vor einem Mehrheit der Journalisten gefällt sich hierzulande in der Rolle der Anstieg der Nordsee um 70 Meter. Tatsächlich stieg der Meeresspie- Warner und Mahner. Nachrichten, die den für wahr gehaltenen gel im 20. Jahrhundert um 17 Zentimeter. Derzeit wachsen die Ozeane Untergangsszenarien widersprechen, werden nicht durchgelassen. um einige Millimeter pro Jahr, was erdgeschichtlich betrachtet recht Damit das Publikum vom Gift des Zweifels verschont bleibt. moderat ist. Die angeblich zum Untergang verurteilten Südseeinseln schrumpfen nicht, sondern wachsen durch stetige Aufspülung von Ein typisches Beispiel für diese Informationssteuerung ereignete Korallensand. sich im September 2012. Das amerikanische National Snow and Ice Data Center (NSIDC) gab bekannt, dass sich rund um den Südpol so Nach einigen Jahren löste eine andere, bis heute diensttuende viel Eis gebildet hatte wie noch nie seit Beginn der Messungen. Klima-Ikone den Kölner Dom ab: einsamer Eisbär auf schmelzender ­Gleichzeitig vermeldete das Institut eine Rekord-Eisschmelze am Scholle. Doch auch bei diesem gefühlsstarken Symbolbild klaffen Nordpol. Doch bis auf wenige Ausnahmen berichteten die deutschen Befürchtung und Wirklichkeit weit auseinander. Während Wissen- Medien nur vom nördlichen Eisschwund und ließen die südliche schaftler in den 70er-Jahren lediglich 5.000 Eisbären zählten, liegt die Eisausdehnung weg. Das hätte die Leser und Zuschauer ja auf falsche Bestandsgröße laut jüngster Schätzung zwischen 22.600 und 32.000 Gedanken bringen können. Tieren. Etwa 1.000 davon dürfen jedes Jahr ganz legal abgeschossen werden, damit die Population nicht zu schnell wächst. Bei der ikono- Auch die schlichte Tatsache, dass die globale Durchschnittstempe- grafisch inszenierten Sorge um den Eisbären gerät nebenbei in ratur seit Ende der 90er-Jahre nicht mehr angestiegen ist, sondern

40 liberal 2.2013 stagniert, blenden die Hüter der Klimagesinnung konsequent aus. Bei Potsdam Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) und den Hambur- der jüngsten Klimakonferenz in Doha war das Ausbleiben der Erwär- ger Meteorologen Mojib Latif, der im Jahr 2000 voraussagte: „Winter mung ein großes Thema. In Deutschland ist dieser Fakt kaum bekannt. mit starkem Frost und viel Schnee wie noch vor zwanzig Jahren wird es in unseren Breiten nicht mehr geben.“ Das Publikum soll den Eindruck gewinnen, die Zeichen der Natur signalisierten eindeutig Erwärmung und die Klimaforscher seien sich Experten wie Latif bilden mit volkspädagogisch motivierten einig. Doch beides ist nicht der Fall. Die Klimaforscher sind sich Journalisten, der Strom- und der Finanzwirtschaft, die sich von der lediglich darüber einig, dass die Globaltemperatur im 20. Jahrhun- Energiewende Extraprofite versprechen, eine Allianz, die das Mei- dert um 0,8 Grad angestiegen ist. Ob jedoch das Kohlendioxid (CO2) nungsklima bestimmt. Ihr größter Erfolg war es, dem CO2 das Image tatsächlich die Hauptrolle dabei spielt oder auch andere Naturkräfte eines Giftgases anzuheften. Dabei ist Kohlendioxid der Quell des wirken, darüber besteht kein Konsens. Ob der Beitrag des Menschen Lebens. Ohne CO2 keine Pflanzen, und ohne Pflanzen könnten Tiere tatsächlich alles entscheidet, ist angesichts der Tatsache, dass 96 und Menschen nicht existieren. Ein ähnlicher Coup gelang nur der

Prozent des CO2 in der Atmosphäre aus natürlichen Quellen stam- christlichen Kirche, die es schaffte, den Menschen einzureden, dass men, ebenfalls fraglich. Und niemand weiß wirklich, ob eine Erwär- der Ursprung des menschlichen Lebens eine Sünde sei. Von der mung überhaupt so schrecklich ist, da doch im Laufe der Erdge- Verteufelung der Sexualität konnte sich die westliche Zivilisation schichte Warmzeiten für Menschen, Tiere und Pflanzen immer immerhin teilweise befreien. Im Zeitalter der Klimaangst ist bereits vorteilhafter als Kaltzeiten waren. All dies ist heute noch umstrittener das Ausatmen sündhaft. ● als 1986, als der Spiegel den Kölner Dom versenkte.

Nicht alle Wissenschaftler sind sich einig, sondern nur alle, die Michael Miersch ist Ressortleiter Forschung bei Focus, Autor, vom deutschen Fernsehen befragt werden. Es ist wie bei der Bericht- Dokumentarfilmer und Mitbegründer des Autoren-BlogsDie Achse des Guten (www.achgut.de). Website: www.maxeiner-miersch.de erstattung über das Waldsterben in den 80er-Jahren. Damals domi- [email protected] nierten zwei Experten die Berichterstattung: ein Göttinger Boden- kundler und ein Münchner Forstbotaniker. Außer diesen wurde fast Bernd Zeller arbeitet als Cartoonist, Autor, Satiriker und Maler vorzugsweise in Jena. Während des Jura-Studiums hat er sich mit der kein anderer Forscher zitiert. Doch diese beiden immer wieder. rechtsstaatlichen Verfassung und der Aufklärung angefreundet. Heute richten sich die Mikrofone vorzugsweise auf die Leiter des [email protected]

liberal 2.2013 41 Zentralmotiv

42 43 Wutprobe

Herrenrunde Jedem seine Lufthoheit

Den Schweißgeruch der Industriegesellschaft ersetzen heute Par­ BRDfumwolken in Aufzügen und Kaufhäusern. Und so gesellt sich zur Zwangsbeschallung die Zwangsbeduftung, dem Kaufhausgedudel

Neben der Tagesschau dürfte der Internationa- folgt der Kaufhausgeruch. Müssen wir das wirklich ertragen? le Frühschoppen die wichtigste Institution im Fernsehen der jungen Bundesrepublik gewesen sein. Kein Wunder also, dass seit 1953 insge­ samt über 1.800 Sendungen ausgestrahlt wur­ den. Unser Zentralmotiv stammt aus den 50er-Jahren und zeigt so einiges, was es heu­ te im Fernsehen nicht mehr zu sehen gibt: ief, so sangen es „Die Doo- Luft ließ sich schneiden. Verglichen damit Rauchen ist in einer Talkrunde mittlerweile fen“ Olli Dittrich und Wi- sind heute die Ausdünstungen eines einzel- tabu – es sei denn, Helmut Schmidt ist zu M gald Boning Mitte der nen Mitreisenden nur ein Hauch. Und sein Gast. Auch der Konsum von Alkohol ist nicht 90er-Jahre, soll ja zumindest „Döner mit alles“ ein laues Lüftchen. mehr erwünscht. Gelegentlich fielen beim über den Charakter gar nichts Aber alles ist relativ. Besonders, wenn Frühschoppen auch grenzwertige Bemerkun­ gen in Richtung der Bedienung, die den Weiß­ aussagen. Darüber kann man es durch die Nase aufgenommen wird. wein nachschenkte – und die zumeist die ein­ streiten, darüber sollte man Der Einzelne, der unverdrossen zige Frau auf dem Bildschirm war … vielleicht mal streiten. Ach seinen Weg zur Selbstverwirklichung so, Mief ist kein Grund zur beschreitet, fühlt sich gerade in der Beim Internationalen Frühschoppen waren re­ Aufregung, weil früher alles grundsätzlich verbesserten Ge- gelmäßig sechs Journalisten aus fünf Ländern zu Gast, die alles andere als leichte Kost bo­ noch viel schlimmer war? ruchsatmosphäre unserer Zeit olfakto- ten. Dennoch entwickelte sich die Sendung Damals, als Pullis und Anzüge risch von seinem Nächsten bedroht. zum allsonntäglichen Ritual. 1954 beschwer­ aus Polyester der letzte Schrei Der Smoggeruch früherer Tage wird ten sich die Zuschauer über eine mehrwöchi­ waren? Und noch früher, als heute durch Parfumwolken in Aufzü- ge Unterbrechung des Internationalen Früh­ es noch nicht für jeden selbstverständ- gen und Kaufhäusern ersetzt. Zwangsbeduf- schoppens, weil Moderator Werner Höfer im Urlaub weilte. Fortan unterbrach Höfer alle lich sein konnte, täglich warm duschen tung ist die Schwester der Zwangsbeschal- seine Urlaubsreisen, um sonntags pünktlich zu gehen und sich saubere Unterwäsche lung. Dem Kaufhausgedudel folgt der um 12 Uhr auf dem Bildschirm präsent zu sein. anzuziehen? Kaufhausgeruch. Es stimmt: Früher war mehr Gestank. Es ist übergriffig, andere mitriechen zu Der Westdeutsche Rundfunk strahlte die Sen­ Und man möchte wissen: Wie haben die lassen. In einer Welt, in welcher der Einzelne dung bis 1987 aus. In diesem Jahr warf der Der Spiegel Höfer vor, im Jahre 1943 in einem Leute das ausgehalten? Viel spannender mehr Freiheiten für sich beansprucht, muss Presseartikel die Hinrichtung eines prominen­ aber ist doch ein Blick nach vorn und die er sie auch dem anderen gewähren. Wer stin- ten Pianisten gerechtfertigt zu haben, der sich Frage: Muss man das heute auch noch ken will, soll das zu Hause tun. Die Entwick- regimekritisch geäußert hatte. Werner Höfer ertragen? lung der Freiheit und die Entwicklung der lehnte die Verantwortung für den Artikel ab; Es mag sein, dass wir empfindlicher Zivilisation sind ein- und dasselbe. Wir sind andere hätten die entscheidenden Passagen hineinredigiert. Dennoch war das Ende des In­ geworden sind, weil viele Gerüche einfach keine Tiere, die im Kampf um Aufmerksam- ternationalen Frühschoppens besiegelt. Offi­ nicht mehr zu unserem Alltag gehören. keit oder Abgrenzung Duftmarken setzen ziell hieß es: aus Kostengründen. Fließend warmes Wasser und ein eigenes müssen. Die Devise lautet also: Ich will dich Bad hat heute praktisch jeder. Schwere nicht riechen müssen. Raus aus meiner Nase. körperliche Arbeit und der damit häufig Jedem seine eigene Lufthoheit. ● verbundene heftige Schweißgeruch sind selten geworden. Wer die Pendlerzüge und Katharina Lotter ist Diplom-Wirtschaftsjuristin (FH) und S-Bahnen mit Raucherabteilen, die bis vor arbeitet als freie Journalistin unter wenigen Jahren noch die Regel waren, zu anderem für Die Welt. Seit sie ein Kind den Stoßzeiten frühmorgens und spätnach- erwartet, ist sie hormonell bedingt deutlich intoleranter geworden – mittags einmal „gerochen“ hat, der weiß, ­zumindest, was Gerüche betrifft.

wofür das Wort „Mief“ wirklich steht. Die [email protected] Paulus Sarah-Esther bpk/Benno Wundshammer; Fotos:

44 liberal 2.2013 WOLFGANG GERHARDT Herausgeber liberal

„LIBERAL IST DIE PLATTFORM FÜR FREIE, BÜRGERLICHE liberal-Abo DEBATTEN ABSEITS 4 Ausgaben im Jahr DES MAINSTREAMS.“ inklusive App

liberal bittet Freigeister wie Vince Ebert, BESTELLUNG AN: liberal-Aboservice Dienstleistungen COMDOK GmbH Jan Fleisch hauer, Wladimir Kaminer, Necla Kelek, Eifelstraße 14 • 53757 Sankt Augustin Harald Martenstein, Michael Miersch, Ulf Poschardt, per Fax: +49Œ2241/34Œ91Œ 11 | per E-Mail: [email protected] Terry Pratchett, Roland Tichy, Christian Ulmen und Online-Bestellung: www.libmag.de oder QR-Code scannen Wolfram Weimer in die Arena. Ich bestelle „liberal – Debatten zur Freiheit“ im JAHRESABO für 28 Euro (Inlandspreis inklusive Gratis-App, zzgl. 10 Euro Porto und Verpackung) liberal ist laut Leserpost ein „intelligentes und mit Ich bestelle „liberal – Debatten zur Freiheit“ als AKTUELLES EINZELHEFT für spitzer Feder geschriebenes, exquisites Magazin“. 7,90 Euro (Inlandspreis, zzgl. 2,50 Euro Porto und Verpackung) Zahlung gegen Rechnung – bitte Rechnung abwarten, keine Vorauszahlung leisten. Das Abonnement liberal verleiht der Freiheit viermal jährlich eine verlängert sich automatisch um ein weiteres Jahr, wenn es nicht spätestens vier Wochen vor Ablauf Stimme. eines Bezugsjahres bei der oben genannten Adresse gekündigt wird. (Auslandspreise auf Anfrage) liberal wird herausgegeben von der

Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Vorname Name

Straße Nr.

VIERMAL IM JAHR PLZ Ort

Telefon liberal E-Mail DEBATTEN ZUR FREIHEIT Datum/Unterschrift Autoren der Freiheit

Religion muss privat sein

Statt eine Debatte über die klare Trennung zwischen Kirche und Staat zu zur Person führen, vollzieht sich die gegenteilige Entwicklung: Zunehmend mehr Tanja Dückers ist freiberufliche Journalistin und schreibt für diverse Religionsgemeinschaften kommen ebenfalls in den Genuss besonderer Zeitungen und Zeitschriften, außer- Privilegien. Das ist nicht der richtige Weg, findetT anja Dückers, und dem seit 2008 Essays zu gesell- schaftspolitischen Themen für ZEIT wurde für ihren Beitrag von den Lesern von www.freiheit.org zur „Autorin Online. Dort erschien auch dieser Beitrag, den wir in gekürzter Fas- der Freiheit“ im Monat Oktober 2012 gewählt. sung abdrucken. Mehr zu den Autoren der Freiheit unter autoren.freiheit.org

ie Trennung von Kirche und Staat Deutschland streiten? Dies ist die entschei- „bunt“ garniert), begeistert sich vor allem für wird hierzulande auf sanfte Weise dende Frage, jenseits partikularer Streitigkei- das Wörtchen „Vielfalt“, übergeht aber das Dimmer weiter aufgehoben. Wir soll- ten über einzelne Feiertage. „religiös“. Übersehen wird dabei, dass Religi- ten eigentlich hinterfragen, welche Macht, on, und zwar unabhängig von der Konfessi- ­Privilegien und freien Rechtsräume die An dieser Stelle lohnt ein Blick in die on, fast immer ein nicht verhandelbarer christlichen Kirchen noch immer genießen USA, einem ethnisch und religiös vielfarbige- intoleranter Kern innewohnt. Sonst würde und ob sich diese aus berechtigten Ansprü- ren Land: Dort begehen verschiedenste es sich nicht um ein System zur Erklärung chen speisen. Besonders erschütternd religiöse und ethnische Gruppen Feiertage, der letzten Dinge – also um eine Religion – wurde uns diese Frage vor Augen geführt gleich ob es sich um jüdische oder muslimi- handeln, sondern nur um eine Meinung. während des Missbrauchsskandals der sche handelt, um den St. Patrick’s Day der katholischen Kirche. Das Kirchenrecht hat Amerikaner irischer Abstammung, das Dagegen ist auch gar nichts einzuwen- einen enormen Spielraum in Deutschland. Mardi-Gras-Fest in Louisiana, das einer alten den. Schließlich lieben, hassen, streiten und französischen Tradition entstammt, das trauern wir zum Teil auch auf ganz radikale, Aber statt die Macht der christlichen chinesische Neujahrsfest, das Oktoberfest kompromisslose und vor allem subjektive Kirchen zu begrenzen, werden andere Religi- der deutschstämmigen Amerikaner oder Weise. Das ist menschlich, so sind wir. Und onsgemeinschaften aufgewertet. Dass die Kwanzaa, das Erntefest der „ersten Früchte“, die Religion entspricht diesem Bedürfnis. Stadt Hamburg muslimische Feiertage nun das auf west- und südafrikanische Traditio- als nicht gesetzliche Feiertage einführen will, nen verweist und von Afroamerikanern Religion als Privatsache zu betrachten ist zwar ein positives Signal, um die verschie- gefeiert wird. Manche Feiertage werden nur heißt nicht, ihre Bedeutung für den Men- denen Religionsgemeinschaften in Deutsch- von bestimmten Bundesstaaten anerkannt. schen zu schmälern oder gar zu negieren. Es land rechtlich gleichzustellen. Schließlich Doch ob Ämter und Geschäfte geschlossen stellt auch einen Schutzraum für sie dar. können Arbeitnehmer oder Schüler auch bleiben und ob die Bürger freihaben, hängt Werden Religion und Politik getrennt, gewin- christliche Feiertage wie den Buß- und von örtlichen Gepflogenheiten ab, wird nen beide. Sie koexistieren, aber durchdrin- Bettag begehen, ohne zur Arbeit oder in die letztendlich oft privat verhandelt. gen sich nicht: Das genau ist ein Grundbau- Schule zu gehen. stein moderner Demokratien, den es mit Wer nur mit multikulturalistischer allen Mitteln zu verteidigen gilt. Ob wir nun Aber wollen wir tatsächlich für ein noch Wohlfühlattitüde die „schöne religiöse noch weitere nichtgesetzliche Feiertage

stärker religiös geprägtes Alltagsleben in Vielfalt“ bejubelt (gern noch mit dem Wort akzeptieren oder nicht. ● S. Schleyer/autorenarchiv.de Foto:

46 liberal 2.2013 Freidenker

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11

12 13 14 8 2 11 15 16 17 18 10 19 20 21 22 23 24 5 25 26 27 28 29 30 31

32 33 34 35 4 6 36 37 38 39

40 41 42 43 44 45 46

47 48 49 50

51 52 53 9 1 54 55 56 57 7 3 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11

Waagerecht: 1 Steht bei den Bee Gees im Pass, 4 Mail Senkrecht: 1 Klingt wie Google, ist aber 'ne Kapuze, mit Tippfehler, 7 wenn die Zeitung immer wieder kommt, 2 französische Hupfdohle, 3 die Vorsilbe zweimal zweimal, 9 Kriegerisches an Calamares, 12 so hießen die ersten Japaner, 4 Frühstück schweizerischer Vegetarier, 5 Eintauchgeräusch 13 Leitung, gefüllt mit Strom, Blut oder Erz, 14 Metropole ohne ohne P, 6 Idee eines Briten, 7 Argon ohne Stickstoffzusatz, U-Bahn, 15 so verfärben sich Neider, 16 genau in der Mitte 8 Abk.: Operation unter Schnellhypnose, 9 aleatorischer Wür- vom Seestern, 17 Auftakt zum Gaudeamus, 18 lt. Morgenstern fel, 10 Erinnerung an den 5. Sonntag vor Ostern, 11 damit könnten alle Möwen so heißen, 19 Kurzwort für Lipgloss, beginnen die meisten Wettkämpfe, 20 zeigt an, wo's lang- 21 ≠in- und Ausfahrt von Santo Domingo, 23 Abk.: Sportklub geht, 22 Schmieriges am Schmiergel, 24 brennbare Knete, Attraktive Inlineskater, 25 Mittelteil einer Galeere, 27 franzö- 26 ­Schwester der Nasa, 28 Lieblingswort der Egoisten, 29 der sischer Bulle, 30 Schockschwere …!, 32 Zählmaß beim Petting, Alfred plauderte und kochte, 31 Motiv ohne Megavolt, 33 36 wenn er gut sein soll, kann er teuer werden, 37 schreien Fußballmannschaft ohne Rote Karte, 34 Airege - sieht sich Engländer beim Fußball, 38 Sean Connery ist einer, 40 ver- im Spiegel, 35 verkürztes Natriumion, 36 wenn der rollt, ge- kürzte Meile, 43 unser aller Uropa war einer, 45 dafür muss hen die Geschäfte gut, 39 fotografiert stürmische Autofahrer ein Musiker bis 3 zählen können, 47 passt zwischen Schlag (sogar mit Blitzlicht), 41 Islamisches an einem Kaiman, 42 un- und Kuchen, 48 beliebter Schnaps in Rumänien, 49 Arnika – ser aller Mutter, 43 Kinderfreundliches an einer Auspuffflam- kaliumfrei, 50 ist manchmal näher als der Rock, 51 wird hin- me, 44 ein Knick in der Oberpfalz, 45 kann sehen, wer vom terhältig in die Augen gestreut, 52 das bringen nur Esel und Saturn aus zum Mond guckt. Pferd zustande, 53 ein echt heißes Ding, 54 Milz mit Latinum, 55 hält nicht immer bis zum Sensenmann, 56 den muss man draufhaben, um von 39 senkr. geknipst zu werden, 57 Farbton

der Azureelinien.

Lösungswort: Lösungswort: 26 Esa, 28 Ich, 29 Bio, 31 Oti, 33 Elf, 34 Egeria, 35 Nation, 36 Rubel, 39 Radar, 41 Iman, 42 Erde, 43 Amme, 44 Falz, 46 Rhea. Rhea. 46 Falz, 44 Amme, 43 Erde, 42 Iman, 41 Radar, 39 Rubel, 36 Nation, 35 Egeria, 34 Elf, 33 Oti, 31 Bio, 29 Ich, 28 Esa, 26 FORTSCHRITT

senkrecht: Kohle, ­ Kohle, 24 Gel, 22 Pfeil, 20 Start, 11 Reminiszenz, 10 Alea, 9 Opus, 8 Argo, 7 Idea, 6 Latsch, 5 Muesli, 4 Bibi, 3 Balletteuse, 2 Gugel, 1 Azur. 57 Zahn, 56

30 Not, 32 Streicheleinheit, 36 Rat, 37 Goal, 38 Sir, 40 Eile, 43 Affe, 45 Terz, 47 Baum, 48 Rum, 49 Arni, 50 Hemd, 51 Sand, 52 Muli, 53 Ofen, 54 Lien, 55 Ehe, Ehe, 55 Lien, 54 Ofen, 53 Muli, 52 Sand, 51 Hemd, 50 Arni, 49 Rum, 48 Baum, 47 Terz, 45 Affe, 43 Eile, 40 Sir, 38 Goal, 37 Rat, 36 Streicheleinheit, 32 Not, 30

auflösung waagerecht: : 1 Gibb, 4 Mali, 7 Abo, 9 Ares, 12 Ainu, 13 Ader, 14 Pole, 15 Gelb, 16 Este, 17 Gau, 18 Emma, 19 Lips, 21 Sago, 23 Skai, 25 Lee, 27 Flic, Flic, 27 Lee, 25 Skai, 23 Sago, 21 Lips, 19 Emma, 18 Gau, 17 Este, 16 Gelb, 15 Pole, 14 Ader, 13 Ainu, 12 Ares, 9 Abo, 7 Mali, 4 Gibb, 1

liberal 2.2013 47 GESellschaft Zukunftsprognosen

Try an Error!

Der deutschen liebste Prognosen sind finster. Und der Lust an Dystopien folgt die Lust an dirigistischen Eingriffen. Denn wer zu wissen glaubt, wie die Zukunft aussieht, der ist sich sicher, welche Leitplanken er aufzustellen hat. Eigentlich sollten wir uns also kräftig wundern, dass die Industriegesellschaft noch lebt – immerhin wurde ihr Tod schon dreimal ausgerufen.

er Versuchung, mit dem folgenden Satz in anders herantreten können als sein Kollege in diesen Text einzusteigen, kann ich wenige ­Magdeburg. Der Bayer lockt mit exzellenter Wochen nach der Niedersachsenwahl nicht ­Gastronomie, einer extrem lebenswerten Stadt und D widerstehen: Prognosen sind besonders prima Wetter. Das Kultusministerium in Sachsen- schwierig, wenn sie die Zukunft betreffen. Das gilt für Anhalt muss einkalkulieren, dass Magdeburg nicht nur die der Freien Demokraten genauso wie auch für jene eine kulturelle Diaspora ist, sondern dass die angehen- komplexer Systeme. de Lehrkraft besser nicht allzu wenig biodeutsch Der Arbeitsmarkt ist ein extrem komplexes aussieht und im Allgemeinen wenig Ansprüche an ­System. Kann sich noch jemand an die Lehrerschwem- ihre neue Umgebung stellt. Die günstigen Mietpreise me erinnern? Sie ist das Gegenteil des Lehrermangels. sind das einzige Pfund, mit dem Magdeburg wuchern Beide Aggregatzustände des bundesweit ausgedehn- kann. Und die resultieren aus dem beschriebenen ten Lehrkörpers wurden und werden regelmäßig Elend. Teufelskreis. prophezeit. Vielleicht gibt es sie gar gleichzeitig. Wir unterbrechen an dieser Stelle mal den Lese- ­Schrödingers Katze – in deutschen Kultusministerien fluss. Raten Sie bitte, woher dieser Satz stammt und ist sie daheim. wann er geschrieben wurde. Lassen Sie sich Zeit: „Der Gut: Ganz einfach sind die Flut- und Dürrewellen in Österreich geborene Halbjude, der mit einer Arbeit von Pädagogen wirklich nicht zu berechnen. In der über den deutschen Philosophen Hegel in Princeton Gleichung müssen auf der einen Seite die erwarteten promovierte, prophezeit, dass durch neue Technologi- Schülerzahlen schon einigermaßen stimmen. Allein en und neue Materialien in absehbarer Zukunft etwa daran können Statistiker scheitern. Wer weiß schon, die Hälfte der derzeit noch existierenden Arbeitsplät- wie viele Schüler eines Jahrgangs auf einem Gymnasi- ze auf dem Spiel steht.“ um und wie viele auf einer Hauptschule landen, falls Dieser Satz wurde 59 Jahre nach Inkrafttreten der die nicht im Zuge einer rot-grünen Schulreform be- „Rassengesetze“ geschrieben — von uns und jetzt aus reits beseitigt wurde? Und wie viele Familien haben gesehen in absehbarer Vergangenheit. Und der Satz wegen so einer Reform das entsprechende Bundes- erschien in einer Wochenzeitung, die hin und wieder land verlassen – oder sind gar zugewandert? als liberal bezeichnet wird. Die Zeit druckte ihn 1994 Noch komplexer ist die andere Seite unserer unter der Überschrift „Zeit für die dritte Revolution“. Gleichung: Wie viele Lehrer stehen uns zur Verfü- Die Autorin spielt einige Szenarien für die Zukunft oto: R . P lendl oto:

gung? Ein Statistiker in München wird an diese Frage durch. Sie schreibt etwa: „Keine Zukunftsmusik ist F

48 liberal 2.2013 „Deutschland steht in der Eurokrise nicht auch der Unterricht via Kabelfernsehen, mit dem zuletzt deshalb Schön wäre es jetzt nur noch, wenn die Utopisten schon heute in dünn besiedelten Gegenden der der Neuzeit die schon in Ansätzen verwirklichten ­Vereinigten Staaten Lehrer ersetzt werden. Realität als Fels in der Realitäten mit ihren U- oder Dystopien abglichen. Die sind längst Roboter, die in Hospitälern Kranken mit Brandung, Grünen haben das an einer Stelle neulich getan –­ na- freundlichem ‚Guten Morgen!‘ die Kloschüssel oder türlich stillschweigend. Biogasanlagen haben sich als das Frühstückstablett reichen.“ Auch vor Restaurants, weil es noch schwachsinnig erwiesen. Sie treiben nicht nur die in denen Gäste vorgekochte Menüs in Mikrowellen viel handfest Nahrungsmittelpreise in die Höhe, sie sorgen auch schieben, macht die Autorin nicht halt. Prognosen noch für ökologische Katastrophen. Norddeutschland sind bei der Zeit eben gerne Dystopien. produzierende ist seit dem „Erneuerbare-Energien-Gesetz“ (EEG), das Knapp 20 Jahre nach der genussapokalyptischen Industrie gibt.“ den Anbau von Energiepflanzen fördert, zu einer Weissagung der Zeit sind wir weiter und auf der Strecke Maiswüste geworden. Mittlerweile gehen die Vertreter noch unzähligen Visionen begegnet. Wir müssen uns der Ökopartei mit auf die Straße, wenn Bürgerinitiati- wundern, nicht bereits Zeuge des dritten Todes der ven gegen neue Biogasanlagen mobil machen. Industriegesellschaft geworden zu sein. Erinnern Sie Mal sehen, wann die Funktionäre der Grünen sich? Wir werden Dienstleistungsgesellschaft ­werden. begreifen, dass es nicht sinnvoll ist, Industrieriesen wie Der Industrie steht der sichere Tod bevor. ThyssenKrupp via EEG astronomische Strompreise zu Das Gegenteil erweist sich gerade jetzt als zutref- verordnen. Nicht nur, weil sie nicht wissen, ob das EEG fend. Deutschland steht in der Eurokrise nicht zuletzt ein reales Problem löst. Sondern auch, weil sie unter- deshalb als Fels in der Brandung, weil es noch viel schätzen, wie wichtig Industriearbeitsplätze sind. handfest produzierende Industrie gibt. Es wird immer weitergehen. Wahrscheinlich nach Der Lust an Prognosen folgt die Lust an dirigisti- diesem bewährten Prinzip: Try an Error! Vielleicht irre schen Eingriffen. Wer zu wissen glaubt, wie die ich mich. Dann müssen Gesetze und Verordnungen ­Zukunft aussieht, der ist sich sicher, welche Leitplan- her! Dringend! ● ken er aufstellen muss. Wer sich sicher ist, dass Deutschland in absehbarer Zeit seine Energieversor- Jan-Philipp Hein betrachtet als gung mit ­Windrädern, Fotovoltaik und Biogas Journalist die nahe Vergangenheit und ­sicherstellen wird, würde fahrlässig handeln, wenn er hält sich mit Prognosen zurück. Er lebt und arbeitet in Bremen und schreibt für diese ­Technologien nicht bis zum Sankt Nimmerleins- Focus und diverse Tageszeitungen. tag fördern würde. [email protected]

liberal 2.2013 49 GESellschaft FDP Wertekompass

UPGRADE zum Erfolg Die FDP hat als Volkspartei keine Chance, doch mit einem wagemutigen Liberalismus könnte sie zehn bis 15 Prozent des Wahlvolkes abholen. Die FDP hat ein Angebots- und Standortproblem. Beide sind in Wahrheit eines. Das Problem heißt: „Positionierung im politischen Markt“. Es ließe sich lösen, wenn die Partei erfolgreiche Modernisierer anspräche, die nach

Höherem streben als staatssubventionierter Holzklasse. // Text // Josef Joffe

as Problem lässt sich metapho- Die Liberalen müssten demnach „ange- und Kulturkampf (Gender-Mainstreaming, risch so umschreiben: Auf der botsorientierte Politik“ machen – all jene Quoten, Sprachregelungen). politischen Hauptgeschäftsstraße bedienen, die im Volkskaufhaus nicht fündig Machen wir uns nichts vor: Das ist ein D – links von der früheren Mitte – werden. Zugegeben, in diesem schwarz-rot- hochattraktives Angebot, sonst würden nicht steht ein riesiges Volkskaufhaus, wo Union, grünen Kaufhaus gibt es ein prächtiges mehr als vier Fünftel des Wahlvolks mit SPD und Grüne in etwa das gleiche Sorti- Angebot; sonst würden nicht 80 Prozent der ihren Stimmen dafür bezahlen. Doch ist die ment anbieten, derweil im Untergeschoss Kundschaft immer wieder dort einkaufen. politische Hauptstraße weitläufiger als der die Linke regiert. In das Kaufhaus wollen die Welche Produkte findet sie dort? Einen Häuserblock, in dem Union, SPD, Grüne und Liberalen immer wieder rein, mal unter dem großen, mächtigen Staat, hohe Steuern und Linke ihre Waren feilbieten. Label „sozialliberal“, mal mit dem Claim Ausgaben, Umverteilung, Schutz für privile- Die SPD: Sie hat ihren Kanzlerkandidaten „compassionate liberalism“ – aber die Regale gierte Klientelgruppen (verbrieften Kita- Peer Steinbrück buchstäblich resozialisiert. sind längst gefüllt. Daraus folgt: Die Partei Anspruch, „Herdprämie“, Subventionen für Auf ihren Fahnen „soziale Gerechtigkeit“, müsste in der breiten Brache etwas weiter Bauern und Big Business, gebührenfreie also Umverteilung, Konkurrenzschutz und rechts eine feine Boutique aufmachen. Zehn Uni …). Das Ganze wird garniert mit ein Vater Staat. Die älteste Partei Deutschlands Prozent Marktanteil wären locker drin. bisschen Klassenkampf (Bankier-Bashing) will Abbitte leisten für die Agenda 2010.

50 2.2013 liberal „Schwarz-Rot-Grün bedient jene, die sich im System eingerichtet haben!“

genden, industrie- und wachstumsfreundli- chen Arbeiterklasse, hat den Fortschrittsge- danken zusammen mit ihrem historischen Die Union: Sie war nie eine wirklich Optimismus zugunsten von Risikoabwehr liegt notabene auf dem Komparativ – auf marktwirtschaftliche Partei. Denken wir an und Berechenbarkeit verbannt. „mehr“ und „weniger“. Thatcher und Reagan das quasi-sozialistische Ahlener Programm Die CDU/CSU goutiert nur den Wandel, sind in einem Land nicht zu machen, das von 1947. In der Opposition hatte Angela der mehr Sicherheit verheißt; also hinfort schon die milden Reformen der Agenda 2010 Merkel noch auf dem Leipziger Parteitag mit Atom- und Karbon-Energie, her mit den als Bedrohung empfand (und empfindet). Marktliberalismus angeboten; nach der fast hoch subventionierten und wettbewerbsver- So wird man natürlich keine Volkspartei. verlorenen Wahl von 2005 wurden die zerrenden Erneuerbaren. Gleiches trifft für Man würde sich allerdings einen USP, ein Auslagen geräumt. Seitdem „sozialdemokra- die Grünen zu, wiewohl gepaart mit Volkspä- Alleinstellungsmerkmal, verschaffen. Die tisiert“ sich die Union – und gräbt dem dagogik, die herkömmliche Familien-, Ge- potenzielle Kundschaft umfasst zehn, fünf- Original behände das Wasser ab. schlechts- und Sprachmuster aufzulösen zehn Prozent des Wahlvolkes. Nennen wir Die Grünen: Sie sind zwar die Partei des versucht. sie die „Modernisierer“, eine Klasse, die gut situierten Neubürgertums in den großen Fazit: Die FDP kann in diesem Kaufhaus größer ist als die Wohlsituierten. Unter ihnen Städten – mittlerweile auch erfolgreich auf nichts werden – zu viele Anbieter, die – wie befinden sich junge Einwanderer, die Her- dem Land –, aber mit ihrem Hang zu Umver- im modernen Kapitalismus überhaupt – mit kunft in Zukunft verwandeln wollen, aber teilung, „identity politics“ und Paternalismus nur geringen Variationen das Gleiche produ- vor den Toren des Bildungssystems bleiben ist sie der jüngere Cousin der SPD. Gravie- zieren. Es ist wie das Rennen zwischen Hase oder an den Schutzwällen des Regulierungs- rende Unterschiede sind kaum auszuma- und Igel, bei dem das Stacheltier am Ende staates scheitern. Dito „bildungsferne“ Einge- chen, es sei denn in der Klientel: Kopfarbei- der Furche ruft: „Ick bün al dor!“ – dort, wo borene. Dito hochqualifizierte Junge, die hier ter versus Handarbeiter. Befindlichkeit und Zeitgeist regieren. nicht den breit gefächerten Kapitalmarkt Alle drei sind „konservativ“ in dem Logischerweise bietet sich eine Furche finden, der es zwei Stanford-Studenten Sinne, dass sie das Bestehende bewahren weiter rechts an. „Rechts“ heißt nicht NPD erlaubt hat, Google zu gründen. Am Kon- und großzügig ausbauen wollen. Sie bieten und all die anderen, die mit Rassismus und kursrecht lässt sich ebenfalls schrauben, vor sich als Garanten einer Ordnung an, die Ressentiment hausieren, sondern „rechts“ im allem an der Kultur, die dahintersteht. Hier Schutz bietet vor den Turbulenzen unserer angelsächsischen Sinne. Das Programm ist die Pleite eine Schande; in Amerika ein Zeit – von der Finanzkrise bis zum globalen stünde für einen kleineren Staat und niedri- Ausweis von Risikobereitschaft. Wettbewerbsdruck. Ökologie und Technik­ gere Belastungen, weniger Paternalismus Schwarz-Rot-Grün bedient jene, die sich skepsis sind grundsätzlich konservativ; und Klientelpolitik, mehr Chancen- und im System eingerichtet haben. Die FDP Wandel und Wettbewerb sind suspekt. weniger Ergebnisgleichheit, mehr Wandel- müsste es für die potenziellen Aufsteiger Die SPD, einst die Stimme einer aufstei- und Wettbewerbsbereitschaft. Die Betonung tun, die die Gussform knacken wollen, um

liberal 2.2013 51 GESellschaft FDP Wertekompass

„Zu viel Konsens führt auf Dauer zu Verspießerung und Lähmung, just, was dieses Land in Zeiten kreativer Unordnung nicht braucht.“

Neues zu erschaffen. Sie müsste Freiheits- Ihre Schützlinge waren die drei A: Apotheker, Schwarz-Rot-Grün verschmähen und lieber räume erweitern, der Tyrannei ewig wech- Anwälte, Ärzte; dazu die beiden B: Big Busi- in die Nichtwählerpartei eintreten. Ein selnder ­Minderheiten widerstehen, die im ness und Big Banking – in jüngerer Zeit auch solcher Laden wird allerdings nicht florie- Empörungswettstreit gegen die Pfeiler der die Hoteliers. Da ist das Geschäftsmodell von ren, wenn er andauernd den Geschäftsfüh- ­repräsentativen Demokratie anrennen. Schwarz-Rot schon gewinnträchtiger, deren rer und das Sortiment wechselt. Prozeduren sind heilig, Populismus ist Kundschaft ist einfach größer. Überdies ist Man darf es auch sonorer ausdrücken: Rausch. „Liberal“ heißt Toleranz und­ auf die drei As kein Verlass mehr. Sie haben Ein gut geführtes und sortiertes FDP-­ ­Gelassenheit, nicht Sprach- und Gedanken- sich im Kapitalismus gut eingerichtet, aber Geschäft erfüllte auch eine nationale kontrolle. die alten bürgerlichen Tugenden – „Familien- ­Aufgabe. Dieses Land braucht echte Liberale So weit die Bausteine eines modernen werte“ und „Traditionsmoral“ – nicht mitge- als Korrektiv und Gegengewicht. Zu viel Liberalismus. Die Geschichte der FDP aber nommen. Die Fahnenflüchtigen sind bei den Konsens führt auf Dauer zu Verspießerung zeigt, dass sie nie eine wirklich liberale Partei Grünen heimisch geworden. und Lähmung, just, was dieses Land in war. Kaum gegründet, spalteten sich die Die Schicksalsfrage der FDP lautet: Zeiten kreativer Unordnung (und Zerstö- Nationalliberalen ab, die im Namen eines Kaufhaus oder Boutique? Programmpartei rung) nicht braucht. Denken wir daran, wie starken Deutschlands einen starken Staat oder Mehrheitsbeschaffer? In der letzteren kurz Blackberry den Markt beherrscht hat. wollten. Mal ist die Partei sozial-, mal wirt- Funktion hat die FDP seit 1949 immerhin ­ Nun ist das Unternehmen das Opfer von schaftsliberal; ab und zu leistete sie sich auch 50 Jahre lang mitregiert. Dass sie neuerdings Apple und Samsung. Wer rastet, fällt zurück. einen Jürgen Möllemann, der das Ressenti- in den Umfragen mal bei vier, gar zwei Allein deshalb braucht das Land einen ment in politisches Kapital zu verwandeln Prozent herumkrebst, lässt allerdings nichts liberalen Stachel im Fleische – eine Partei, suchte. Heute findet sie in Wolfgang Kubicki Gutes für die „Zünglein-an-der-Waage“-Taktik die stört und bewegt! ● einen brillanten Rhetoriker, der jede Talk- ahnen. showschlacht gewinnt. Aber hat er auch Kiel Wenn es im Kaufhaus nicht viel zu holen Josef Joffe ist Herausgeber der Zeit und Kolumnist des Handelsblatt. und Kompass? gibt, warum nicht die Boutique mit Wachs- Er lehrt Politikwissenschaft in Durch alle Fährnisse hat die FDP einen tumspotenzial eröffnen? Boutiquen sind Stanford. verlässlichen, aber nicht unbedingt attrakti- nicht allein für die Reichen da, sondern für [email protected] ven Anker namens Klientelismus besessen. all jene, die das Einheitsangebot von

52 2.2013 liberal Ausschreibung des Preises der Wolf-Erich-Kellner- Gedächtnisstiftung

Zum Andenken an Dr. Wolf Erich Kellner Hiermit wird für das Jahr 2013, zum achtund- (Marburg), den im Jahre 1964 verstorbenen vierzigsten Male, der Preis der Wolf-Erich- damaligen­ stellvertretenden Bundesvorsitzen- Kellner­-Gedächtnisstiftung ausgeschrieben. Er den der Deutschen Jungdemokraten, ist von wird alljährlich für Arbeiten aus den verschie- seinem Vater eine Stiftung ins Leben gerufen densten Fachrichtungen (Geistes-, Sozial-, worden. Sie wird treuhänderisch von der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften) Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit verliehen, die im Sinne Wolf Erich Kellners in verwaltet. wissenschaftlich wertvoller Weise

Grundlagen, Geschichte und Politik des Liberalismus im deutschen, europäischen und außereuropäischen Raum

behandeln. Die Beiträge können theoreti- Die Verleihung findet im sche, historische und zeitgeschichtliche November 2013 statt. Fragestellungen zum Gegenstand haben Schriftliche Arbeiten von mindestens oder Gestalt und Entwicklung des 100 Seiten Umfang in deutscher, gegenwärtigen Liberalismus in Politik, englischer oder französischer­ Sprache, Wirtschaft oder Kultur behandeln. Er wird die bis zum Ende der Ausschreibungsfrist unter Ausschluss des Rechtsweges durch nicht veröffentlicht sind, müssen bis das Kuratorium verliehen, dem Dr. Sibylle zum 31. März 2013 in dreifacher Busch (Hamburg), Prof. Dr. Eckart Conze Ausfertigung bei der (Marburg), Dr. Jürgen Frölich (Gummers- Friedrich-Naumann-Stiftung bach), Prof. Dr. Dominik Geppert (Bonn). Dr. für die Freiheit­ Thomas Hertfelder (Stuttgart), Prof. Dr. Archiv des Liberalismus Hermann Hiery (Bayreuth), Peter Menke- Giückert (Bonn). Frank E. Portz (Walluf), Theodor-Heuss-Str. 26 51645 Gummersbach Prof. Dr. Angelika Schaser (Hamburg), Prof. Dr. Joachim Scholtyseck (Bonn), Thomas (Tel.: 02261/30 02-421; E-Mail [email protected]) Siekermann (Hannover) und Dr. Dr. h.c. Barthold C. Witte (Bonn) angehören. eingereicht werden.

liberal 2.2013 53 Gesellschaft Prohibition

Die große Ernüchterung Vor 80 Jahren endete nicht nur das trockenste, sondern auch eines der ­düstersten Kapitel der US-Historie: die Prohibition. Wie das Freiheit liebende Land zu dem Verbot hat kommen können, bleibt ein Rätsel. Nicht minder­ ­befremdlich ist aber die selbst auferlegte und vom schlechten Gewissen ­getriebene aktuelle Abstinenz: Denn das oberste Credo des heutigen ­Menschen ist nicht mehr der Genuss, sondern die Gesundheit. // Text // Oliver Jeges

54 Die große Ernüchterung

Die Massen fordern Bier: New Yorker Arbeiter demonstrieren am 10. November 1932 für die

Foto: Keystone-France Foto: Abschaffung der Prohibition.

55 Gesellschaft Prohibition

Illegales Whiskeylager: Während der Prohibition blüht die Schwarzbrennerei, Die Gewerkschaft macht mobil: Mitglieder der American Federation of ­gepanschte Spirituosen überschwemmen den Markt – mit verheerenden Folgen. Labor demonstrieren am 14. Juni 1919 gegen die Einführung der Prohibition.

enn sich Jack Fellure mit – landesweit. Barack Obama fast 66 Millio- ten Staaten, George Washington. Es war die seinen Mitstreitern trifft, nen. Doch warum tritt ein No-Name gegen erste Bewegung, die sich zum Ziel setzte, die weiß er, dass Alkohol wieder den Messias an? Nicht weil er glaubt, eine Menschen vor dem Alkohol zu retten. Durch W einmal ein wesentlicher tatsächliche Chance zu haben, ins Weiße den persönlichen Kontakt und mithilfe von Bestandteil des Abends sein wird. Doch Haus gewählt zu werden. Sondern weil er Gruppensitzungen sollten „Trunkenbolde“ bevor es so weit ist, diskutiert man über den einen Auftrag hat. Einen moralischen Auf- („Drunkards“, den Begriff Alkoholiker gab es unfähigen Barack Obama, der große Reden trag. Jack Fellure will Amerika aus der Geisel- noch nicht) vom Alkoholkonsum erlöst schwingt, aber nicht liefert. Über den haft des Alkohols befreien. Deswegen war er werden. Sie waren die Väter der Anonymen ­Abtreibungswahn, die geisteskranke Kandidat der „Prohibition Party“, Amerikas Alkoholiker. ­Pornoindustrie, über den sinnlosen ältester Partei neben Demokraten und Schon bald gründeten sich im ganzen ­Einmarsch in Afghanistan natürlich und Republikanern. Land zahlreiche Mäßigungs- und Tempe- darüber, dass Amerika im Begriff ist, sich Jack Fellure und seine Partei sind das renzbewegungen: die „Ritter von Jericho“, selbst abzuschaffen. Wohin man auch Überbleibsel einer Idee, die dem 19. Jahrhun- der „Unabhängige Orden guter Tempelritter“ schaut: moralisch ungefestigte Menschen, dert entstammt und Jahrzehnte später in oder die „American Temperance Union“, um die dem Sittenverfall huldigen. Die USA als einem der bekanntesten Kapitel der ameri- nur einige zu nennen. Allesamt christliche neues Soddom und Gomorrha. kanischen Geschichte münden sollte: der Reformationsbewegungen, die jener europä- So sitzen Jack Fellure, sein Kamerad Prohibition. Von 1919 bis 1933 herrschte in ischen protestantischen Leistungsethik Toby Davis und einige andere beieinander den USA Alkoholverbot. Es ist nicht nur das entsprungen waren, die fast schon asketi- und analysieren, was in ihrem Land so alles trockenste Kapitel der amerikanischen sche Züge trug. schiefläuft. Über den Grund dafür muss Geschichte, sondern auch das düsterste. Die Abstinenzler begnügten sich nicht Fellure nicht lange nachdenken, er weiß es damit, einfach selbst auf Alkohol zu verzich- längst: Schuld an allem ist der Alkohol. Und egonnen hat alles am 2. April 1840, als ten. Sie wollten auch den ganzen Rest der hier endet die Diskussion, wie jedes Mal, sich sechs befreundete Gewohnheits- Menschheit bekehren. Und Alkoholismus beim Thema Alkohol – ohne dass auch nur B trinker in einem Gasthaus in Balti- war zu jener Zeit in der Tat eines der größ- irgendwer einen Tropfen anrührt. more schworen, nie wieder einen Drink zu ten sozialen Probleme in den Vereinigten Jack Fellure ist Politiker. Er ist 81 Jahre alt. nehmen. Aus diesem Pakt gingen die Staaten. Fast jede Frau hatte einen „Trunken- 2012 wollte er US-Präsident werden. Es ist ­„Washingtonian Societies“ hervor, benannt bold“ zum Mann, der das spärlich verdiente ihm nicht gelungen. Er bekam 519 Stimmen nach dem ersten Präsidenten der Vereinig- Geld lieber in die Saloons trug als nach

56 2.2013 liberal Begonnen hat alles am 2. April 1840, als sich sechs befreundete Gewohnheits­ trinker in ­einem Gasthaus in ­Baltimore schworen, nie wieder einen Drink zu nehmen.

Entsorgung schwarzgebrauten Bieres: New York City Deputy Police Commissioner John A. Leach überwacht die Vernichtung.

Hause. Dort ertränkten die schuftenden dass der Durst der Amerikaner mehr als bildung. Eine frühe Kreuzung aus Arbeiter- Kerle ihren Frust und ihre Sorgen vornehm- gestillt wurde. Zusammen brauten die Bier- bewegung und Waldorfideologie. lich in Bier und Wein, die Besserverdiener in hersteller um 1850 knapp 40 Millionen Eine der entschiedensten und erfolg- Whiskey oder Gin. Und weil Saloons oftmals Gallonen, um 1870 war die Produktion reichsten Reformerinnen war Frances nicht nur Kneipen waren, ging der Rest des bereits auf rund 550 Millionen angestiegen. Willard. Sie war Mitbegründerin der Geldes an die Huren oder wurde am Spiel- 1822 öffnete der erste sogenannte Saloon, „Woman's Christian Temperance Union“ im tisch verzockt. Die Frauen und Kinder Ame- zur Jahrhundertwende waren es schon Jahr 1874. Fünf Jahre später war sie deren rikas waren Opfer ihrer alkoholisierten 300.000 im ganzen Land. Je mehr der Alko- Präsidentin. Und im Jahr 1890 war sie bereits Männer und Väter. holkonsum zunahm, desto heftiger wurden die bekannteste Frau der Vereinigten auch die Proteste dagegen. ­Staaten. Sie reiste durch das ganze Land und ie Straßen von großen Städten wie „Crusade Women“, Kreuzzüglerinnen, hielt öffentliche Reden. Immer mehr New York, Chicago oder Boston und zogen zu Tausenden durch die Nordstaaten ­Menschen, vor allem Frauen, schlossen sich D die gesamten Südstaaten sowieso und stürmten Saloons, setzten Whiskeyfäs- Willard und ihrer christlichen Mäßigungsbe- waren übersät mit torkelnden Männern, die ser in Brand, sangen und beteten für eine wegung an. ziellos in der Gegend herum irrlichterten. höhere Moral. Sie waren für den Weltfrie- Doch so erfolgreich Willard in ihrem Um 1830 betrug der Pro-Kopf-Verbrauch von den, für Kinderwohlfahrt und Erwachsenen- Bestreben nach einem Alkoholverbot war, es Alkohol bei jedem Mann über 15 in etwa 88 waren nicht sie und ihre Organisation, die Flaschen Whiskey pro Jahr. Das ist dreimal schließlich die Prohibition auf den Weg so viel, wie die heutigen Amerikaner konsu- brachten – dieses Verdienst darf sich die mieren. Und getrunken hat jeder: vom „Anti-Saloon League“ auf die Fahnen schrei- Kanalarbeiter bis zum Priester. Vom Penner ben. Gegründet 1893 in Ohio, wurde sie die bis zum Bürgermeister. erfolgreichste Interessenbewegung in der Für den hohen Alkoholkonsum im 19. amerikanischen Geschichte, die letztendlich Jahrhundert sorgten verstärkt deutsche als politische Organisation das Alkoholver- Einwanderer, die ihre Trinkgewohnheiten bot in die amerikanischen Parlamente trug. mit in die neue Welt brachten. Viele deutsch- Mit Sprüchen wie „Lips that touch liquor amerikanische Bierbrauer, darunter Anheu- Mugshot: Al Capone, aufgenommen bei seiner Fest- shall never touch mine“ moralisierte sie den

Fotos: Library of Congress Library Fotos: ser, Busch, Miller und Pabst, sorgten dafür, nahme 1930. Der Vorwurf: Steuerhinterziehung. öffentlichen Raum.

liberal 2.2013 57 Gesellschaft Prohibition

Fette Beute: Lieutenant O. T. Davis, Sergents J. D. McQuade und George Fowler vom Internal Revenue Service Knockin' On Heaven's Door: Mittels Codewort und H. G. Bauer am 11. November 1922 mit dem größten je beschlagnahmten Destillationsapparat Washingtons. gelangen die Trinker in die „Speakeasys“.

Um die Jahrhundertwende drehte sich Kongress ausspricht. Denn dank des neuen hochprozentiger Alkohol getrunken wie die öffentliche Debatte fast ausschließlich Gesetzes kann Nucky mit illegalem Alkohol davor oder danach. Weil er leichter herzu- um das Thema Alkohol. Sogar ein eigenes so richtig Geld machen. Mit der Prohibition stellen war als Bier oder Wein. Romangenre wurde damals begründet: die konnten beide leben – sowohl die Gangster „Temperance Novel“. Selbst der große als auch die Politiker. Die einen besser als die ebrannt wurde natürlich illegal. Und Schriftsteller Walt Whitman konnte dem anderen. das oft mit verheerenden Auswir- Zeitgeist nicht widerstehen und verfasste Obwohl in den USA plötzlich ein landes- G kungen. Schwarzbrennereien über- seinen einzigen Roman in jenem Genre. weites Alkoholverbot galt, wurde weiter schwemmten den Markt mit gepanschten Als am 3. Februar 1913 der Kongress mit heftig gesoffen. Zwar waren offiziell der Spirituosen, die teilweise mit Holzspiritus dem 16. Verfassungszusatz zum ersten Mal in Transport, der Handel, der Verkauf, der und anderen giftigen Chemikalien gestreckt der Geschichte eine bundesweite Einkom- Import und Export von Alkohol illegal – der waren. Blindheit und Lähmungen waren die mensteuer beschließt, ist das der Startschuss Konsum war es nicht. Heute würde man von Folge. Im schlimmsten Fall sogar der Tod. für die politische und juristische Umsetzung einer Grauzone sprechen, vielleicht wie Neben den Spirituosen aus Schwarzbrenne- des „noblen Experiments“, wie die Prohibiti- beim illegalen Downloaden von Medienin- reien war vor allem „Jake“ äußerst beliebt. on auch gerne genannt wird. Von nun an war halten oder dem Rauchen von Marihuana. Dabei handelte es sich um ein Ingwerextrakt der US-Haushalt nicht mehr auf die Steuer- Legal ist das alles nicht, so richtig illegal aber mit 85 Prozent Alkoholanteil, das völlig legal einnahmen von alkoholischen Getränken auch nicht. auf Rezept erhältlich war. Der Konsum angewiesen, die bis dato einen Großteil der Viele Amerikaner dachten, dass der bewirkte den sogenannten „Jake Leg“, eine Steuereinnahmen ausmachten. sogenannte „Volstead Act“ lediglich hochpro- Nervenerkrankung, die durch Trikresylphos- Im Oktober 1919 verabschiedete der zentige Spirituosen verbiete, nicht aber Bier phate ausgelöst wurde. Diese werden nor- Kongress schließlich das Prohibitionsgesetz. oder Wein. Doch tatsächlich war gesetzlich malerweise in Flammschutzmitteln oder Im Anschluss der Abstimmung, so geht die alles verboten, was über 0,5 Prozent Alkohol Weichmachern verwendet. Schätzungsweise Legende, verschwanden die Abgeordneten enthielt. Also auch Sauerkraut, manche zwischen 30.000 und 50.000 Menschen in den Hinterzimmern des Kapitols und Schokoladensorten oder Worcestersauce. Im erkrankten allein durch den Jake-Konsum. stießen auf das neue Gesetz an – mit Alkohol Grunde war es aber völlig egal, die Men- Obwohl die Problematik bekannt war, tran- natürlich. So wie in der genialen US-Serie schen tranken weiter. Und zwar so viel wie ken die Amerikaner unermüdlich weiter. „Boardwalk Empire“, wo der Gangster Nucky nie zuvor. Vor allem Schnäpse. Während der In den Großstädten etablierten sich die Thompson einen Toast auf die Sturköpfe im Prohibition wurde etwa doppelt so viel legendären „Speakeasys“, Flüsterkneipen,

58 2.2013 liberal Fotos: Bettman/Corbis; Library of Congress S bewirkte, was eigentlich es wollte. ImWinter dass einVerbot genau dasGegenteil dessen trockengelegt war, wurde allmählichklar, damitMillionen. erwirtschafteten schäfte derUSA. undKonsorten AlCapone einem dergrößten undlohnendsten Ge Handel mitAlkoholillegale zu erwuchs regelmäßigen „Geschenken“ schmierten. Der spielte siemit weil mit, dieLadenbesitzer läden völlig ungeniert DiePolizei betrieben. sem Alkohol ruhigstellen. ten, durchsetzen diees sollten, mitkostenlo worden, andererseits- ließensichdiemeis Durchsetzung Alkoholverbots des abgestellt warEinerseits vielzuwenig Polizei die für sprengten. Dochdaspassierte sogutwienie. Feiern aufmerksam wurden unddieParty Straßen draußen nicht auf dieillegalen musste, damitdieVollzugsbehörden auf den raum betreten, wo gesprochen leise werden konnte maneinenabgeschirmten Hinter che mögen's heiß“. Mithilfe Codeworts eines jeneaus in„Manwie etwa derAnfangsszene - das Familien vor denFolgen desAlkoholmissbrauchs schützen sollte, sorgte für eineKriminalitätswelle ohnegleichen. Das EndederProhibition: 1933 feiern dieamerikanischen Bürger dieAufhebung des18.Amendment. DasGesetz, liberal 2.2013 Nachdem Amerika inden20er-JahrenNachdem Amerika Midtown New York einige- Spirituosen den „goldenen Zwanzigern“ wurden in elbst zurHochzeit derProhibition in - - - heute undenkbar, einselbstauferlegtes, Ein gesetzliches Alkoholverbot zwar ist zu denken, zureden undPolitik zumachen. gelernt, affirmativsind, hat dieGesellschaft großen Abstinenzbewegungen vergangen Alkohol einstellen. ­Wohlbefinden ohne sollsichmöglichst das eigene Wohlbefinden. Und dieses kämpfte mangegen denAlkohol, heute für Wertlegt auf Früher seineGesundheit. gen. Wulff schwört nicht demAlkohol ab. Er Temperenz Dasist ein GlasSaft. auf Umwe anstrengenden Tag gönne ersichschonmal nenzgedanke hat überlebt. ein Alkoholverbot zuerwirken –derAbsti - cher Versuch mehrfruchten würde, erneut seit demEndederProhibition kein gesetzli - bot hat kommen können. Und auch wenn Vereinigten Staaten zueinemsolchenVer einem Freiheit wie den liebendenLand aufgehoben hat. gegangenen Verfassungszusatz wieder somitdereinzige,zusatz ist der einenvoran- tikel den18.wiederauf. Der21.Verfassungs- 1933 hob derKongress mitdem21.Zusatzar In den150 Jahren, dieseitdenersten WulffChristian einmal,nacheinem sagte EndebleibtdieFrage,Am in wiees - - - 342 Kisten Tee ● beruht. auf Gründungsmythos dessen einem Land, Maßstab richtiger Entscheidungen. Auch in Obama. Alkohol wird zum dannplötzlich Reagan, BillClinton, George W. Bush, Barack immer derbessere Saufkumpan: Ronald ein Biertrinken gehen würde. Esgewinnt Frage, mitwelchem Kandidaten manlieber Inhalte entschieden, sondern durch die Wahlen werden bekanntlich nicht durch nach wievor Denn die diebeste Lösung. keinen Platz. donnay, CubaLibre SingleMalt, oderGrappa Und dahat Alkohol, ob alsLight Bier, Char nicht derGenuss, sondern dieGesundheit. Credo Menschen des im21.Jahrhundert ist Verbot aber schonlängstwirksam. Oberstes vom schlechten getriebenes Gewissen überwachtes und durch dieGesellschaft Dennoch: Für dieUSA bleibtAlkohol [email protected] Leben alsR Hans Moserundmöchte imnächsten metaphysischer Hinsicht hälteres mit Errungenschaften derMenschheit.In Alkohol zudengrößten kulturellen Berliner Morgenpost. Für ihngehört für dieT Oliver Je sam Verbot getriebenes ten vom wachtes schaft die legtes selbst Heute ageszeitungen DieWelt und Gesell Gewissen . ges ist Journalist undarbeitet schlech eblaus wiedergeboren werden. ist aufer , durch über wirk und Ein -

- -

- -

59 -

Lagebericht

Trockenzonen Schmuggel, Bandenkriege, Flüsterkneipen – beim Stich- wort Prohibition scheint umgehend das Chicago der 20er-Jahre auf. Dabei ist das Verbot von Alkohol kein rein amerikanisches Phänomen. Viele Länder der Welt hatten den Verkauf und Konsum verboten oder stark reglementiert – und nicht wenige tun dies noch immer.

1 1 USA Mit der Aufhebung der Prohibition am 5. Dezember 1933 fiel das Recht zur Gesetzgebung zum Alkoholkonsum nach 14 Jahren zurück an die Bundesstaaten. Das vollständige Alkoholverbot schaffte als letzter Bundesstaat Mississippi im Jahre 1966 ab. In einzelnen Städten und Landkreisen ist es allerdings bis heute in Kraft. Diese sogenannten Dry Towns oder Dry Counties befinden sich vor allem im Süden der USA. So sind in Kentucky 90 von 120 Counties „trocken“, in Texas 44 von 254 und in Alabama 26 von 67. Einige dieser 3 Counties unterliegen jedoch lediglich Einschränkungen: In manchen Fällen ist die von Privatpersonen legal zu Skandinavien transportierende Menge begrenzt, in anderen ist Bier mit Der Norden Europas war zu Beginn des einem Alkoholgehalt von vier Volumenprozent erlaubt oder vergangenen Jahrhunderts kein gutes in Restaurants muss der Preis für die konsumierten Terrain für Freunde des Alkohols. In Alkoholika unter 70 Prozent des Betrags für die georderten ­Finnland währte die „kieltolaki“ genannte Speisen bleiben. Die wohl berühmteste Dry Town ist Prohibition von 1919 bis 1932, auf den Lynchburg, Tennessee – Sitz der Destillerie von Jack Daniels. Färöern gar von 1907 bis 1992. Die Prohibition in Norwegen begann ab 1914 2 mit dem Verbot des Verkaufs und Islamische Welt Ausschanks von Branntwein und verbot ebenso das Bierbrauen und Herstellen Auch wenn der Koran das Thema widersprüchlich behandelt, von Spirituosen aus Korn und Kartoffeln. gilt Alkoholkonsum im Islam als Kapitalverbrechen und wird Während das zusätzlich verschärfende gemäß der Scharia theoretisch mit 40 bis 80 Stockschlägen „Südweinverbot“ von 1917 bereits 1923 bestraft. In der Praxis ist dies allerdings nur selten der Fall. wieder abgeschafft wurde, hob die Auch was die weltlichen Gesetze angeht, gibt es in den Regierung das „Brennevinsforbud“ erst islamischen Ländern keine einheitliche rechtliche Regelung 1927 wieder auf. für den Verkauf und Konsum von Alkohol. In einigen Ländern ist Alkohol offiziell den Touristen vorbehalten, in anderen Durchschnittlicher Alkoholkonsum wiederum frei zugänglich. Gesetzlich verboten ist Alkohol (Liter pro Person, 2003 bis 2005) beispielsweise in Iran, Saudi-Arabien, Kuwait, Brunei, Libyen und dem Sudan. Allerdings scheint es an der Durchsetzung 12,5 und mehr 2,5 – 4,99 zu hapern: So sollen bei einer Offensive der Verkehrspolizei 10,0 – 12,49 weniger als 2,5 im Mai 2012 in Teheran 26 Prozent der kontrollierten Fahrer 7,5 – 9,99 Keine Daten alkoholisiert gewesen sein. 5,0 – 7,49 Quelle: WHO

60 3 5

2 2 2 4

2

2 5 Russland Mit Beginn des Ersten Weltkriegs führte Russland die ­Prohibition ein und erlaubte den Verkauf harter Alkoholika ausschließlich in Restaurants. Diese „suchoi sakon“ genannte Regelung blieb zunächst auch nach der Russischen Revolution bestehen. Erst im Jahre 1925 gaben die Kommunisten den Verkauf frei. In der Folge starteten die Machthaber in den Jahren 1958, 1972 und 1985 drei umfassende Anti-Alkohol-Kampagnen, die weitgehend 4 erfolglos blieben. Die letzte davon initiierte Michail Gorbatschow: Er erhöhte die Preise für Alkohol deutlich und Indien führte eine partielle Prohibition ein, die den Verkauf auf Auf dem Subkontinent gab es zwischen 1950 und 2000 bestimmte Mengen und Tageszeiten beschränkte. Wer Alkoholverbote in verschiedenen Landesteilen, unter betrunken aufgegriffen wurde, dem drohten Strafen. Der anderem in Haryana, Andra Pradesh und Gujarat. Da viele Effekt auf Volksgesundheit und Verbrechensrate war positiv, Inder gar keinen Alkohol zu sich nehmen, erhält man auch aber dem Fiskus entgingen Steuereinnahmen von heute alkoholische Getränke nur in relativ wenigen geschätzten 100 Milliarden Rubel, da die Schwarzbrennerei Lokalen und Läden. Diese benötigen für den Verkauf eine blühte. Gleichwohl hat die aktuelle russische Regierung zum spezielle Lizenz. An bestimmten Feiertagen ist auch an Jahreswechsel den Wodkapreis erneut um ein Drittel erhöht. diesen Orten kein Bier, Wein oder Hochprozentiges Abzuwarten bleibt, ob dies den Konsum eindämmen oder erhältlich. In vielen Staaten unterliegen Produktion und dazu führen wird, dass sich Russlands Trinker künftig Ausschank einem staatlichen Monopol. Ein vollständiges vermehrt mit Industriealkohol, Frostschutzmitteln oder Alkoholverbot gilt weiterhin im Bundesstaat Gujarat. anderen Ersatzstoffen berauschen.

61 Duell duett

Zwei Experten, die das Auf und Ab am südlichen und östlichen Rand des Mittelmeers seit Langem verfolgen, sind Richard Herzinger, politischer Korrespondent der Welt, sowie Hamed Abdel-Samad, deutsch-ägyptischer Politologe, Historiker und Autor. Während unseres Skype-Gesprächs befand sich Abdel-Samad in Kairo, Herzinger in unserer Berliner Redaktion. Unser Thema: Ist aus dem „Arabischen Frühling“ ein „Arabischer Winter“ geworden? „Brutstätten des Wahnsinns“

Abdel-Samad: Ich habe die Begriffe „Arabischer Frühling“ auch mit ethnischen und sektiererischen Konflikten zu tun, in oder „Arabischer Winter“ nie benutzt. Wir haben hier nichts Syrien und im Irak sehen wir reichlich explosiven Konfliktstoff, Vergleichbares zum „Prager Frühling“ oder dem europäischen der die staatliche Einheit zerreißen könnte. Frühling von 1848. Es ist schwierig, schon nach zwei Jahren zu bewerten, was hier passiert ist. Wir sehen gerade den ersten Sie könnten recht haben mit dem Gedanken, dass das 20.­­ Jahr- Akt eines Theaterstücks – und können den Ausgang nicht hundert für die arabische Welt vielleicht noch nicht zu Ende voraussehen.­ ist. In Europa wird viel darüber gestritten, ob wir es mit einer Herzinger: 1848 und auch Prag 1968 waren nur der Auftakt Revolution zu tun haben. In meinen Augen bringt eine für zunächst gegenläufige Entwicklungen. Wenn wir uns die ­Revolution die archaischen und die modernen Seiten einer Lage in Syrien und Ägypten ansehen, die Destabilisierung der Gesellschaft in Konfrontation – zwei Seiten, die einander bisher Region, dann liegt man mit „Arabischem Winter“ vielleicht gar noch nicht gekannt oder nebeneinander her gelebt haben. nicht so falsch. Auf jeden Winter folgt zwar immer wieder ein Diese Blöcke hatten in den alten Diktaturen keine Gelegenheit, Frühling, aber ein Winter kann sehr lange dauern. konfrontativ miteinander umzugehen, ja nicht einmal ­Gelegenheit, ihre Stimmen zu erheben. Dieses Tauziehen kann Diese Revolutionen haben vor allem das, was Jahrzehnte, sogar ­langfristig Demokratie etablieren, aber Gesellschaften ebenso Jahrhunderte versteckt war, an die Oberfläche gespült. Die in politische Verwahrlosung treiben – eine nicht ganz Prozesse, die hier ablaufen, sind epochal – nicht saisonal. Wenn unwahrscheinliche­ Perspektive. ich hier durch Kairo laufe, sehe ich die politischen Jahreszeiten Das befürchte ich auch. Die Entwicklung könnte auch zu Failed auf einmal. Manches, was ich sehe, macht mir Hoffnung, States führen. Was das von Ihnen erwähnte Tauziehen anbe- ­anderes frustriert. Das hat wenig mit Frühling zu tun. langt, ist das ein Tauziehen zwischen ungleichen Kräften. Be- ­„Arabischer Frühling“ ist die Projektion einer europäischen trachten Sie die mehr oder weniger schleichende Machtergrei- Erfahrung auf das, was hier passiert. fung der Muslimbrüder in Ägypten. Das Problem ist doch: Es Mit Blick auf die gegenwärtigen Umwälzungen dürfen wir nicht vollzieht sich ein gewaltiger Umbruch, das Land ist auf der vergessen: Die Grenzen der betroffenen Länder wurden am Suche nach einem neuen Gesellschaftsvertrag. Und in dieser Ende des Ersten Weltkriegs gezogen. In Europa endete das Situation ist die Religion, der Islam, und politisch der Islamis- 20. Jahrhundert friedlich mit den Umstürzen in Osteuropa. In mus die einzige Identitätskrücke, auf die man zurückgreifen der arabischen Welt dauert es noch an. Wir sehen hier nicht kann. Der nationale Gedanke ist durch die abgetretenen natio-

einfach nur einen Demokratisierungsprozess. Wir haben es nalistischen Regime diskreditiert. Krauthöfer J. Fotos:

62 liberal 2.2013 Der Islam als einzige Identitätskrücke – ein schönes Bild, das aber nicht mehr stimmt. Die neue junge Generation stößt eine Welle der Individualisierung an. Junge Menschen – selbst religiö- se – halten den politischen Islam einfach nicht mehr aus. Ich gebe Ihnen recht: Der Kampf ist asymmetrisch, die Islamisten verfügen über mehr Ressourcen, über die bessere Organisation. Doch in Zeiten von Facebook und YouTube kann eine Diktatur die Medien nicht mehr so manipulieren wie einst. Ich wünschte, ich könnte Ihren Optimismus teilen, bleibe aber skeptisch. Auch im Iran existiert seit Langem eine moderne Jugend, aber ihr fehlt die organisatorische Macht, sich durchzu- Hamed Abdel-Samad setzen. Aus Sicht Israels hat es das Land rundherum mit bedrohli- cher Gewalt zu tun, und die Israelis beobachten sehr genau den geboren 1972 bei Gizeh, ist deutsch- ägyptischer Politologe, Historiker und Versuch Ägyptens, sich als arabische Führungsmacht zu etablie- Autor. 1995 kam er im Alter von 23 ren. Die Muslimbrüder gehen das nicht plump an, indem sie etwa Jahren nach Deutschland. Nach den Friedensvertrag mit Israel aufkündigten. Sie versuchen ­Veröffentlichung seines Buches „Mein stattdessen, Fatah und Hamas zusammenzubringen und Israel Abschied vom Himmel“ in Ägypten einzukreisen. In Ägypten ist der Antisemitismus ein regelrecht (2009) sprach eine fundamentalisti- sche Gruppe eine Fatwa gegen identitätsstiftendes Element. ­Abdel-Samad aus, und er stand unter Polizeischutz. Natürlich ist der radikale Islam eine der Brutstätten des Wahn- sinns in der Welt, wie in der Vergangenheit die Inquisition, der Nationalsozialismus, der Stalinismus oder „ethnische Säuberun- gen“ in Ruanda und Bosnien. Dem radikalen Islam ist alles zuzu- trauen. Aber die jungen Menschen in Ägypten und Tunesien haben vor Augen, wie es im Iran zugeht. Sie wissen: Wenn wir es zulassen, dass die Muslimbrüder es ähnlich weit treiben, dann enden wir in einem Mullahsystem. Und deshalb wehrt sich jetzt die junge Generation – auf der Straße, in den Medien, in den Gewerkschaften und Unternehmen. Hinzu kommt, dass Ägypten weder über Öl noch Opium verfügt, durch deren Erlöse sich eine Diktatur finanzieren könnte. Die wirtschaftlichen Ressourcen des Landes sind mit dem Tourismus und dem internationalen Handel verknüpft – anders als in Iran oder Afghanistan. Die Muslimbrüder sind angewiesen auf den Westen, das müssen die dortigen Mächte besser nutzen. Leider hat nichts für den Westen eine so große Anziehungskraft wie das Wort Stabilität. Es droht Richard Herzinger die Wiederholung der Fehler, die viele Länder im Umgang mit geboren 1955 in Frankfurt am Main, Gaddafi und Ben Ali gemacht haben. Sie sollten die floskelhafte Buchautor und Journalist, ist diplomatische Sprache aufgeben und deutlicher werden. ­politischer Korrespondent der Welt- Seitens des Westens erleben wir – um es gelinde auszudrücken – Gruppe. Dem Freiheitsversprechen totale Passivität. Faktisch haben die Länder dort zwar nur wenige der „Arabellion“ traute er von Anfang an nicht, was ihm manchen Defätis- Möglichkeiten, die Entwicklung zu beeinflussen. Mit Unwillen musvorwurf eintrug. Sein Blog „Freie und Empörung sehe ich aber, dass er auch das wenige, das er zu Welt“ finden Sie unter:­­ leisten imstande wäre, nicht tut. Den Zeitpunkt, der syrischen http://freie.welt.de Opposition zu Hilfe zu eilen, hat er verpasst. Aus Sorge, dass alles noch schlimmer würde, wenn man eingreift, hat es der Westen zugelassen, dass alles immer schlimmer geworden ist. ●

liberal 2.2013 63 Wirtschaft Kartell der Guten

Nehmen ist seliger denn Geben

Die kirchlichen Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie sind die größten Arbeitgeber des Landes. Unter dem Deckmantel der Gemeinnützigkeit erfindet sich das Kartell der Guten immer neue Aufgaben. Und wo immer in den Wachstumsfeldern des Sozialstaats etwas zu holen ist, ist es dabei. Private Anbieter bleiben auf der Strecke.

// Text // Konrad Fischer Aus Die seinem Büro Sozialkonzer- hat Adolf-Leopold Krebs ne sind damit die größ- einen guten Überblick über das ten privaten Arbeitgeber in bunte Treiben unter seiner Leitung. Deutschland, wer vom Sozialstaat Links die geräumigen Wohneinheiten mit spricht, der meint eigentlich die Wohlfahrtsor- Balkon, davor das kleine, aber gut sortierte Kauf- ganisationen. Mit einigem Abstand folgen das Rote haus, ein Café und die Konferenzzone. Das Areal ist Kreuz, die einst SPD-eigene Arbeiterwohlfahrt und der gut frequentiert, rund um die schön gewachsene Kastanie Paritätische Wohlfahrtsverband, dessen dominantes Mit- in der Mitte des Platzes tummeln sich die Gäste. Überra- glied die „Volkssolidarität“, eine zu Zeiten der sowjetischen schend ist lediglich das Schildchen an Krebs' Bürotür: Diakonie Besatzungszone gegründete Hilfsorganisation der DDR, ist. In Düsseldorf, Geschäftsführer. Krebs, 60, ist einer der Provinzfürs- sechzig Jahren Bundesrepublik hat sich im politischen Betrieb ten in einem System von Sozialkonzernen, die gerne unscheinbar längst ein Modus eingespielt: Wo immer es Wohltaten zu verteilen daherkommen und in Wahrheit den deutschen Wohlfahrtsstaat gibt, werden die Wohlfahrtsorganisationen beteiligt. Ob das tatsäch- unter sich aufgeteilt haben. lich zum Wohle der Gesellschaft ist, wurde lange nicht hinterfragt. Allein das Jugendamt der Stadt gibt Jahr für Jahr fast 400 Millionen So sind die Wohlfahrer zwar steuerlich dem Gemeinwohl Euro aus, der größte Anteil davon landet bei Krebs und den anderen ­verpflichtet, doch in der Praxis kümmern sie sich vor allem darum, Wohlfahrtsorganisationen. Über einen ganzen Straßenzug erstreckt den eigenen Einfluss zu mehren. Dabei helfen alte Vorrechte, die einst sich die Niederlassung des Diakonischen Werks rund um den „Platz für die innere Organisation der Kirche erdacht waren. So müssen die der Diakonie“ in der Nähe des Düsseldorfer Hauptbahnhofes. Krebs beiden kirchlichen Organisationen keinerlei Finanzdaten veröffent- stellt gerne heraus, dass die Diakonie aufgestellt ist wie ein Unterneh- lichen und ihren Mitarbeitern ist es untersagt, zu streiken. Den ande- men. Die Führung der Geschäfte wird von einem Aufsichtsrat über- ren Wohlfahrtsverbänden stehen diese Vorrechte in Teilen ebenfalls wacht, der jedes Vierteljahr einen Quartalsbericht erhält. Die Jahres- zu, allesamt profitieren sie von einem einzigartigen Vergabesystem, abschlüsse werden nicht publik gemacht, aber vom Wirtschaftsprüfer in dem die Auftragnehmer bei allen Entscheidungen mit am Tisch testiert. Fast eine halbe Million Mitarbeiter hat die Diakonie in sitzen. Deutschland, beim katholischen Pendant, der Caritas, sind es einige Leute wie Krebs sind dabei die Machthaber. Denn die Spitzen-

Zehntausend mehr. verbände Caritas und Diakonie sind lediglich Dachorganisationen, Fotolia Chavakis/laif; Images; J. Froese/Getty F. / Mich. Bader; imagebroker.com Westend61 Fotos:

64 2.2013 liberal liberal 2.2013 65 Wirtschaft Kartell der Guten

kündbare Beamte selbst bezahlen zu müssen, küm- mern sich die gemeinnützigen Organisationen zu flexibleren Bedingungen. So kann die Politik einen Strauß von sozialen Leistungen bieten – und ein bisschen nach Wettbewerb sieht das Ganze auch noch aus.

Rechnung ohne die Oligopolisten gemacht Hans Günther Mischke entfährt ein bitteres Lachen, als er die Worte „Wohlfahrt“ und „Wettbewerb“ in einem Satz hört. Mischke, 58 Jahre alt, betreibt seit mehr als 30 Jahren seinen eigenen Betreuungsdienst für Jugendliche im Städtchen Plettenberg am westli- chen Rand des Sauerlandes. „Ich habe mit der Vorstel- lung angefangen, ich könnte einfach meine Dienstleis- tung anbieten und dann würde ich schon Kunden finden“, erinnert sich Mischke, der sich um die Ver- mittlung und Sorge für Pflegekinder in Familien küm- mert. Doch bald zeigte sich: Er hatte die Rechnung ohne die Oligopolisten gemacht. Von den Arbeitsfeldern der Wohlfahrtsverbände ist die Jugendhilfe das Feld, in dem die problematische Nähe zwischen Auftraggeber und Auftragnehmern besonders offensichtlich ist. Auf dem Papier gilt ein Dreiecksverhältnis zwischen Jugendamt, Eltern und Den Kreis der Kirche in denen sich ganz unterschiedlich aufgestellte lokale Einrichtung. Das Geld für Leistungen wie Erziehungs- verlassen: Der ehemalige Organisationen versammeln, um ihre Interessen hilfen kommt vom Amt, die Eltern entscheiden sich Diakonie-Mitarbeiter Hans Günther Mischke machte besser durchsetzen zu können. Durchgriffsrechte für einen Anbieter, der führt den Auftrag aus. In der sich vor rund 30 Jahren haben sie kaum. Aktiv sind die Wohlfahrer, deren Praxis sitzen die Wohlfahrtsverbände an den entschei- mit einem Betreuungs- gemeinsamer Umsatz sich auf rund 40 Milliarden denden Stellen und können die Mittelvergabe in dienst selbstständig. Mehr als ein Nischendasein Euro beläuft, vor allem in der Kinder- und Jugendhilfe, ihrem Interesse regeln. So gilt für kommunale Jugend- erlangte er auf diesem der Altenpflege, der Betreuung von Behinderten, im hilfeausschüsse eine einzigartige Sonderregel: Ein Wege nicht. Bildungsbereich und bei Maßnahmen für Arbeitslose. Drittel der Ausschusssitze wird nicht von Politikern, Die konkreten Angebote reichen von Schulsozialarbeit sondern den Vertretern der Wohlfahrtsverbände über Suchtberatung bis zu Sprachkursen. Die örtli- besetzt. chen Organisationen sind dabei ganz verschieden Auch auf die Entscheidung des Jugendamtes, organisiert. Viele als Vereine, immer mehr als gemein- welche Anbieter beauftragt werden, können die nützige GmbHs. Hinzu kommen große Stiftungen, die Wohlfahrer Einfluss nehmen. Im sogenannten „78er- sich historisch aus Klöstern oder Initiativen einzelner Ausschuss“, dessen Name sich aus der gesetzlichen Geistlicher und Bürger herleiten, wie die Münchner Grundlage im Jugendhilferecht herleitet, stimmen sie Augustinum-Gruppe. vor Verhandlungsbeginn ihre Preisvorstellungen ab,

Für den Staat hat die eingespielte Kooperation bei die dann dem Jugendamt mitgeteilt werden. Fast . A sbach

flüchtigem Blick einige Vorteile. Statt teure und un- immer folgt das ihren Ideen. D Foto:

66 2.2013 liberal In manchen Städten haben die Sozialkonzerne gar von Caritas und Diakonie stammen noch aus Kirchen- Lediglich fünf ein Vorgriffsrecht auf neue Leistungen. Nur wenn die steuern, der Rest sind staatliche Zuwendungen und Verbände erklären, dass sie eine Leistung nicht erbrin- ein kleiner Teil Spenden. Nachvollziehen lassen sich ­Prozent der Mittel gen können, werden weitere Anbieter einbezogen. die Dimensionen an Erzbistum und Caritas München, Gewerbliche Anbieter wie Mischke haben da nur zwei einem der wenigen Häuser, das Zahlen nennt: Von den von Caritas und Optionen: Entweder sie akzeptieren die Bedingungen 463 Millionen Euro Kirchensteuern, die das Bistum der Wohlfahrer, oder sie verschwinden bald wieder 2012 erhält, gehen gut 20 Millionen an die Caritas – das Diakonie stammen vom Markt. entspricht sechs Prozent des Gesamtbudgets von 337 Dass die Wohlfahrtsverbände hierzulande mit Millionen Euro. Diese Zahlen werfen die Frage auf, mit noch aus Kirchen- einer solchen Macht ausgestattet sind, ist historisch welchen Motiven Regeln für die innere Organisation vor allem mit dem Wachsen des Sozialstaats ab den kirchlicher Gruppierungen auf die Sozialkonzerne steuern. Sechzigerjahren zu erklären. Im Zuge dessen setzte übertragen werden – außer um Wettbewerbsvorteile das Verbändekartell zwei Grundsätze im Sozialrecht zu erringen? durch: Subsidiaritäts- und Selbstkostenprinzip. So Das kirchliche Arbeitsrecht ist beseelt von der Idee wurde festgeschrieben, dass die Wohlfahrt selbst eines fürsorglichen Herrn, der für seine Mitarbeiter entscheiden durfte, welche Aufgaben sie zu welchen besser sorgen kann als sie selbst. Es gibt keine Arbeit- Preisen übernahm. Es folgte hemmungsloses Wachs- nehmervertretung, nur eine „Mitwirkung“ in der tum. Zwar wurde das Prinzip der Kostendeckung Mitte arbeitsrechtlichen Kommission. Beim Kündigungs- der Neunzigerjahre wieder abgeschafft, doch da recht hat der Arbeitgeber volle Flexibilität: Da christli- waren die Machtverhältnisse längst verfestigt. che Vereine als Tendenzbetriebe besonderer Art gelten, bei denen vom Reinigungsdienst bis zum Staatliche Zuwendungen und Spenden Deutschunterricht für muslimische Einwanderer alles Der Einfluss muss insbesondere bei den kirchlichen Teil des „Verkündigungsauftrags“ ist, darf fristlos Verbänden verwundern, die das Sozialgeschäft öffent- gefeuert werden, wer ihren Moralvorstellungen zuwi- lich als Teil ihrer Kernaufgaben verkaufen. So rechtfer- derhandelt und beispielsweise in wilder Ehe lebt. tigen sie, dass es zwar immer weniger Kirchenmitglie- Zwar rühmt sich die Diakonie mit überdurch- der gibt, ihre Sozialverbände aber immer weiter schnittlichen Löhnen, aber die Abweichungen nach wachsen. Die Krux: Lediglich fünf Prozent der Mittel unten sind zahlreich. Neben der Arbeiterwohlfahrt

Caritas-Mitarbeiter nach Bereichen Beschäftigte bei Caritas und Diakonie Diakonie-Mitarbeiter nach Bereichen

Gesundheit 600.000 Gesundheit Kinder- und Jugendhilfe 42,6% 13,6% 12,8% 400.000 Sonstiges 5,4% Gesamt: Gesamt: Sonstiges 5,0% 559.526 453.000 Familien Familien 12,0% Mitarbeiter 200.000 Mitarbeiter 08,% 11,4% 31,6% Altenpflege 20,9% Kinder- und Behinderten- Jugendhilfe betreuung 24,7% 19,2% 0 1922 1950 1980 2000 2010 Altenpflege Behindertenbetreuung Quelle: Caritas Quelle: Universität Tübingen Quelle: Diakonie

liberal 2.2013 67 Wirtschaft Kartell der Guten

Bildung Mancherorts Kindertagesstätte

­betreiben Sprachkurse ­Gemeinde und Oener Ganztag A r it b e e Wohlfahrt Krankenhäuser Lebensmittelausgabe i h t d + n Obdachlosenheime u Suchtberatung S s o

­gemeinsame e Qualifizierungsmaß- z

i G Behinderten- nahmen für Arbeitslose a

l werkstätten e Tochtergesell- Flüchtlingsberatung s WOHLFAHRT Schuldenberatung schaften. Energieberatung

Kinderheime Pflegeheime

Schulsozialarbeit Wohnresidenzen

Schwangerschaftsberatung Haushaltshilfen

J Erziehungsberatung Ambulante Pflege u g e e g nd e hi pfl lfe en Alt

gelten einzelne Regionalvertretungen der Diakonie als fahrer trotz der Doppelzüngigkeit nichts fürchten. absolute Billigheimer unter den Wohlfahrtsorganisati- Gerade machen Verbände und Politiker aller Fraktio- onen. Viele kompensieren so ihr betriebswirtschaftli- nen gemeinsam Stimmung gegen eine EU-Initiative, ches Versagen an anderer Stelle. Rund 35.000 Mitar- die das Vergaberecht auf soziale Dienstleistungen beiter hätten allein die kirchlichen Wohlfahrtsverbän- ausweiten will – obwohl der Staat dadurch aller Vor- de in günstige Subunternehmen ausgegliedert, schätzt aussicht nach eine Menge Geld sparen könnte. der Diakoniewissenschaftler Johannes Eurich von der Universität Heidelberg. Zugleich sind die Vertreter der Politik und Wohlfahrtslobby eng verbandelt Wohlfahrtsverbände stets in erster Linie mit dabei, Dieses Bündnis müsste verwundern, gäbe es da nicht wenn es soziale Missstände anzuprangern gilt. so viele Menschen wie Jens Petring. Der Grünen- Das ist vor allem deshalb kein Wunder, da sie doch Politiker dokumentiert seine Ferne zum Establish- die obersten Profiteure aller Sozialpolitik sind. Diese ment durch verbeulte Turnschuhe und eine Frucht- Widersprüche zwischen Worten und Taten der Wohl- gummischale auf dem Konferenztisch, an der er sich fahrer bringen sie nicht nur in der Öffentlichkeit, rege bedient. Petring ist Mitglied im Jugendhilfeaus- sondern auch intern zunehmend in die Kritik. Zumin- schuss der Stadt Düsseldorf. Trotzdem empfängt er dest von der politischen Seite aber müssen die Wohl- nicht im Rathaus, sondern bei der Wohlfahrt. Denn

68 2.2013 liberal Petring ist im Hauptberuf Geschäftsführer des Kinder- und Jugendhilfeverbunds Rheinland, einer Mitglieds­ organisation im Paritätischen Wohlfahrtsverband. Oder anders ausgedrückt: Als Politiker entscheidet er über die Verteilung von Geldern, von denen er dann als Geschäftsmann profitiert. „Die Jugendhilfe funktio- niert nicht wie andere Politikbereiche, hier steht die Kooperation traditionell im Mittelpunkt“, versucht Petring sich an einer Erklärung. Auf seine Weise hat er damit recht, denn mit keiner anderen Lobby ist die Politik so eng verbunden. Rund ein Drittel aller Berli- ner Abgeordneten hat zugleich eine Führungsrolle in den Gremien der Wohlfahrtsverbände inne. Auf kommunaler Ebene sind die Verbindungen noch viel offensichtlicher, mancherorts betreiben Gemeinde und Wohlfahrt gemeinsame Tochtergesellschaften.

Noble Repräsentanzen und Dienstwagen Unter so guten Partnern sieht man es sich wohl auch schon mal nach, wenn die Wohlfahrer gar nicht so gemeinnützig wirtschaften, wie die Steuerklasse es nahelegt. Der Gemeinnützigkeitsstatus erfordert in erster Linie, dass am Ende des Jahresabschlusses nicht mehr als eine schwarze Null steht. Das heißt aber keineswegs, dass keine Überschüsse entstehen. Was sagen, „diese Zahlen habe ich nicht im Kopf“, man Im Rahmen der Kirche an Gewinn übrig bleibt, muss reinvestiert werden. Ob werde sie aber nachreichen. Es folgt Schweigen. Ir- erfolgreich: Geschäfts- führer Adolf-Leopold es aber in Armenküchen oder noble Repräsentanzen gendwann dann und ohne weitere Begründung die Krebs leitet die Düssel- und Dienstwagen fließt, ist Teil eines Ermessensspiel- Auskunft, die Geschäftsleitung der Düsseldorfer Diako- dorfer Diakonie, die von raums, den die Finanzämter bei der Wohlfahrt zu- nie habe sich „dagegen entschieden, Zahlen zu nen- Raucherentwöhnung bis Kinderbetreuung bestän- meist sehr weit fassen. Im Herbst vergangenen Jahres nen“. Dies ist die verbreitete Taktik, mit der die staat- dig neue Geschäftsfelder hat das Diakonische Werk eine neue Hauptverwaltung lich finanzierten Sozialkonzerne versuchen, ihre erschließt. für den Bundesverband in Berlin eröffnet, die Kosten mühsam erworbenen Pfründen gegen den Wandel der für den Bau beliefen sich auf 65 Millionen Euro. Auf Gesellschaft abzusichern: stillhalten und frohe Bot- lokaler Ebene wird von Dienstwagen-Fuhrparks schaften verkünden. In der Vergangenheit hat das berichtet, auf die viele Politiker neidisch sein könnten. immer funktioniert. ● Doch so dünn wie die Veröffentlichungen der Wohl- fahrer in den meisten Fällen sind, lässt sich über diese und ähnliche Dinge nur spekulieren. Konrad Fischer ist als Redakteur für die WirtschaftsWoche tätig. Seit der Recherche über Auch Adolf-Leopold Krebs, der bei der Beschrei- die Macht der Wohlfahrtskonzerne fühlt er sich bung der eigenen Wohltaten gesprächige Geschäfts- im Alltag umzingelt: Ob Beratungsstellen, führer der Düsseldorfer Diakonie, wird schnell wort- Krankentransporter oder Sozialkaufhäuser – im Minutentakt begegnen ihm irgendwo die Logos . Pietsch karg, wenn es um Finanzen geht. Zu Umsatz, von Caritas und Diakonie.

Foto: D Foto: Investitionsvolumina oder Rücklagen könne er nichts [email protected]

liberal 2.2013 69 Wirtschaft Solomon Passy Im Weltall wird es eng: Trümmerteile kommen sich in die Quere. Seit dem Start von „Sputnik 1“ am 4. Oktober 1957 wurden Tausende Raketen und Satelliten in eine Erdumlaufbahn gebracht und haben dort Unmengen von Abfall hinterlassen. In 20 Jahren wird es unmöglich sein, irgendetwas unversehrt ins All zu schießen. Ein Liberaler will jetzt Ordnung in den Weltraum bringen.

// Text // Kapka Todorova // Illustration // Ernst Merheim Himmelsstürmer

as All aufräumen! Diesmal will der bulgari- nationalen Grünen Woche in Berlin erstmals sein aus sche liberale Politiker Solomon Passy den bulgarischen Rosen produziertes Öl vorgestellt. Himmel stürmen. Der ehemalige Außenmi- Bulgarien, die Europäische Union, Afghanistan – nister und frühere Vorsitzende der OSZE hat die Erde ist dem ehrgeizigen Doktor der Mathematik zu D Zur Person mit seinen Ideen häufig zunächst Skepsis geerntet. So eng geworden. Nun will er Ordnung im Weltall schaf- etwa, als er nur ein Jahr nach der Wende zum ersten Solomon Passy wird 1956 in fen. Skeptische Blicke erntet er wieder, aber daran hat Mal das Nato-Hauptquartier in Brüssel besucht und der bulgarischen Stadt sich der überzeugte Liberale gewöhnt. Warum der im sogleich den Wunsch vorträgt, Bulgarien möglichst Plowdiw als Sohn des be- Kommunismus Aufgewachsene diese politische Philo- schnell als Mitglied in die atlantische Allianz aufzuneh- kannten Philosophie- und sophie gewählt hat? „Liberalismus bedeutet Freiheit. Ästhetikprofessors Isaak men. Im Jahr 1990 ist das ein verwegenes Ziel, denn zu Passy geboren. 1979 vollen- Ich habe immer dafür gekämpft, frei zu sein. Ich mag diesem Zeitpunkt existiert noch der Warschauer Pakt, det er sein Studium der keine politischen Dogmen. Als Liberaler kann ich mich in dem Bulgarien seit Jahrzehnten als treuer Verbün- Mathematik an der Universi- immer weiterentwickeln und stets nach vorne gehen.“ deter Moskaus agiert. tät Sofia. 1985 promoviert er Solomon Passys Büro befindet sich in einem der Wenige Jahre später entwickelt Passy eine weitere in mathematischer Logik zahlreichen ultramodernen Neubauten in Sofia, die in und Informatik. Ende der exzentrische Idee: Papst Johannes Paul II. soll Bulgari- 80er-Jahre wird er Teil der den Jahren nach der Wende wie Pilze aus dem Boden en besuchen. Die Spur des nie restlos aufgeklärten Dissidentenbewegung in schossen. Bei schönem Wetter kann man vom gläser- Papst-Attentates von 1981 hat ausgerechnet in das dem ehemaligen kommunis- nen Aufzug, der zu seinem Arbeitsraum führt, die kleine Land am Schwarzen Meer geführt. Ein Papstbe- tischen Staat und setzt sich Sterne im Winterhimmel sehen. such sollte den Verdacht gegen Bulgarien für immer für die Rechte der türkischen Bücher mit Titeln wie „Weltraumrecht“ und „Space- Minderheit ein. 1991 gründet aus der Welt schaffen. Johannes Paul II. besucht im Mai er die Nichtregierungsorga- Almanac“ stapeln sich auf dem Schreibtisch von Passy. 2002 das Land, im Jahr 2004 wird Bulgarien Mitglied nisation „Atlantischer Klub“, Er selbst steht vor seinem Laptop, tippt etwas und der Nato. die sich als Ziel einen spricht zugleich am Telefon. „Ich arbeite immer im Danach führt Passy weitere harte Kämpfe. Wie schnellen Beitritt Bulgariens Stehen, das hat auch Hemingway gemacht. So kann ich zum Beispiel zur Einführung einheitlicher Stecker für in die euro-atlantischen mich optimal konzentrieren“, erklärt der Politiker. Er Strukturen gesetzt hat. Im Handy-Ladegeräte in der EU. Oder zum Bepflanzen Zeitraum von 2001 bis 2005 zeigt auf sein zuletzt erschienenes Buch, „Contempora- von afghanischen Opium-Plantagen mit bulgarischen ist Passy Außenminister in ry Issues for National and International Space Law“,

Fotos: Chip East/Reuters/Corbis; Fotolia Chip East/Reuters/Corbis; Fotos: Rosen. Vor zwei Jahren hat Afghanistan auf der Inter- der liberalen Regierung das er zusammen mit der bulgarischen Rechtswissen- unter dem ehemaligen bul- garischen Zaren Simeon Sakskoburggotski. liberal 2.2013 71 Wirtschaft Solomon Passy

Langer Weg des Ost- blocks in die Demokra- tie: Solomon Passy fährt Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer im Trabant durch Sofia.

schaftlerin Rada Popova und dem australischen Pro- verschlimmern. Denn die schon existierenden Trüm- fessor für Internationales Recht Steven Freeland mer kollidieren im Laufe der Zeit miteinander und geschrieben hat. erzeugen immer mehr Bruchstücke. „Die Zukunft gehört denjenigen, die zu den Ster- Wohin mit diesem ganzen Abfall? Solomon Passy nen schauen. Aber nicht der Romantik wegen, sondern mag alle diese Millionen Teile gar nicht Müll nennen. aus purem Pragmatismus“, sagt der 57-jährige Visionär. Denn es geht um teure Metalle und wertvolle Stoffe, „Wir müssen uns Gedanken machen, wie wir dieses die wiederverwertet werden können. Noch wichtiger Territorium beherrschen und beschützen können und ist, dass man sich Strategien überlegt, wie neuer Müll „Der Kosmos gehört welche rechtlichen Regularien wir dazu installieren vermieden werden kann. Rein technologisch ist das der ganzen müssen“, erklärt der Politiker überzeugt und läuft noch zu kompliziert und zu teuer. Das Recht ist der Menschheit genau­ dabei energisch in seinem Arbeitszimmer hin und her. einzige Mechanismus, dieses Problem zu lösen – mit- Der Weltraum ist längst Teil unseres Alltags gewor- tels allgemeingültiger Regeln. Da es immer noch keine so wie die Hohe See den, sogar wenn wir es gar nicht bemerken. Etwa 15 bis verpflichtenden internationalen Gesetze für den oder die Antarktis.“ 20 Prozent der menschlichen Tätigkeiten laufen heute Betrieb von Satelliten gibt, kümmern sich viele Betrei- über den Kosmos: Das Telefonieren mit dem Handy, ber nicht um ihren Müll. Darum ist Passy überzeugt, der Film im Fernsehen, das Surfen im Internet, das dass sich die EU und die UN zusammentun müssen, Navigationssystem im Auto. Mit jedem Klick empfan- um gemeinsam eine rechtliche Basis zu schaffen. gen wir Signale direkt aus dem Weltraum. „Seit etwa 50 Jahren versucht die internationale Gemeinschaft, Beim ersten Besuch in Brüssel ausgelacht Regeln einzuführen. Die Probleme werden aber immer „Der Kosmos gehört der ganzen Menschheit genauso dramatischer, insbesondere die Schwierigkeiten, die wie die Hohe See oder die Antarktis. Wir sollten unse- aus dem Weltraummüll resultieren“, mahnt Passy. re rechtlichen Regelungen für die gemeinsamen Denn seit dem Start von „Sputnik 1“ am 4. Oktober Territorien auf unserem Planeten auf den Weltraum 1957 hinterlässt die Menschheit Unmengen von Abfall übertragen“, fordert Passy, der die Antarktis als Teil im All. Schätzungen zufolge ziehen schon mehr als einer bulgarischen wissenschaftlichen Mission bereist 600.000 Müllteile, die größer als einen Zentimeter hat. Der Politiker ist überzeugt, dass er auch sein sind, ihre Bahn um unseren Planeten. „Wenn wir in neues Projekt zum Erfolg führen wird. Für den Mathe- diesem Tempo weitermachen, können wir in 20 Jah- matiker war innovatives Denken stets selbstverständ- ren keine neuen Satelliten mehr unbeschadet ins All lich. Immerhin ist er der Sohn des bekanntesten schicken“, hat Passy errechnet. Und selbst wenn die Philosophen Bulgariens, Professor Isaak Passy. Der Menschheit umgehend aufhörte, Objekte ins All zu promovierte Solomon hat Mathematische Logik und

schießen, würde sich die Problematik zunächst weiter Computer Science studiert. Images A FP/Getty Fotolia; Fotos:

72 2.2013 liberal Eines von Passys großen Vorbildern ist der ehema- darum, das Leben einfacher zu machen. In der EU lige Nato-Generalsekretär Manfred Wörner. „Er war ein werden damals geschätzte 400 Millionen Mobiltelefo- großer Visionär“, sagt Passy. Und einer der wenigen, ne genutzt und jedes Jahr circa 185 Millionen neue die den Liberalen bei seinem ersten Besuch in Brüssel Handys verkauft. Zu jedem neuen Handy gehört auch im Jahr 1991 nicht auslachten. Wörner teilt seine Über- immer ein neues Netzteil, wodurch pro Jahr rund zeugung, dass nur eine schnelle Mitgliedschaft der 50.000 Tonnen an Elektroschrott und CO2 durch osteuropäischen Länder in der Atlantischen Allianz ausrangierte Ladegeräte anfallen. „Dieser Müll fällt in den Frieden in Europa sichern kann. Zukunft weg. Darauf bin ich stolz“, sagt Passy und zeigt Noch im selben Jahr besucht Wörner Sofia, wo er sein eigenes Universal-Ladegerät. Mehr hat er und statt in Panzerlimousinen in Passys Trabant durch die braucht er nicht. Gassen fährt. Damit machte er das DDR-Auto weltbe- So einen Stecker könnte es eigentlich bereits seit rühmt. Eine Runde mit dem Trabant durch Sofia zu vielen Jahren geben. Der Bulgare ist nicht der Erste, machen sahen andere westliche Politiker fortan nahe- der darauf gekommen ist – aber er ist der Hartnäckigs- „Keiner meiner zu als Pflicht an: Wörners Nachfolger George Robert- te. Die erste Antwort auf sein Anliegen kommt als son und Jaap de Hoop Scheffer fahren mit dem Trabi, knappe Absage: „Ein Gesetz wäre nur angemessen, Kollegen hatte ein und 2002 segnet sogar Papst Johannes Paul II. das wenn die Kräfte des Marktes nicht ausreichen.“ In passendes Lade­ kleine Auto. 2005 schenkt Passy das Fahrzeug dem diesem Fall benachteiligen aber die Kräfte des Marktes gerät dabei. Ich Nationalen Historischen Museum Bulgariens. „Es ist die Kunden, befindet Passy. Und schreibt weiter. Im- ein witziges Denkmal des langen Weges, den der ganze mer wieder. fragte mich: Wieso Ostblock zurücklegen musste, um in der westlichen „Meine guten Kontakte zu Günter Verheugen, sind die Stecker Demokratie anzukommen“, sagt er. damals Kommissar für Industrie und Unternehmens- nicht einheitlich?“ politik, haben sehr geholfen. Er las meine Briefe we- Niemals lockergelassen nigstens“, sagt der Bulgare lachend. Verheugen und Als Passy sein Ziel erreicht hat, Bulgarien wieder zum Passy kennen sich gut – immerhin war der Deutsche Mitglied der europäischen Familie zu machen, ist ihm für die Osterweiterung zuständig. Dies ist nicht ihr fortan kein politischer Erfolg mehr beschieden. Au- erstes Duell. Und Verheugen weiß, Passy hat oft Erfolg, ßenminister bleibt er bis 2005, sein Abgeordneten- da er eine seltene Eigenschaft besitzt: Er lässt niemals mandat verliert er bei den Wahlen 2009. Im selben locker. Zudem starten große Zeitungen in Europa im Jahr zieht Passy auch als Kandidat für das Amt des Herbst 2008 eine Kampagne gegen den Bürokratie- Nato-Generalsekretärs den Kürzeren. Seine Energie Wahnsinn in der EU. Verheugen muss handeln. widmet er seitdem nicht mehr der Politik, sondern der Der Kampf mit den Firmen erweist sich als schwie- technologischen Entwicklung. riger als vermutet. An jedem Detail wird gefeilt. Neun Diese Richtung nimmt sein Leben eher zufällig. „Es Organisationen und 14 Handyhersteller bekriegen sich war ein Frühlingsabend vor fünf Jahren. Ich war auf monatelang. 2011 ist es dann so weit. Der neue Micro- Dienstreise und wollte meine Ehefrau anrufen. Leider USB-Einheitsstecker für Smartphones ist auf dem war das Akku meines Handys leer, und keiner meiner Markt. Inzwischen verfolgt der Bulgare zwei weitere Kollegen hatte ein passendes Ladegerät dabei. Ich Projekte: einheitliche Ladegeräte für alle Laptops und fragte mich: Wieso sind die Stecker nicht einheitlich?“, Notebooks und freien Zugang zu Wi-Fi für alle Bürger erinnert sich der ehemalige Minister. in der EU. Der Weg dahin ist schon bereitet. Jetzt muss Dieser Gedanke geht ihm nicht aus dem Kopf. Zu nur noch das Weltall entrümpelt werden. ● Hause schreibt er einen Brief an die Europäische Kommission und macht den Vorschlag, Ladegeräte Kapka Todorova ist Europa-Korrespondentin künftig zu vereinheitlichen. „Das Universal-Ladegerät der bulgarischen Tageszeitung 24 Tschasa und des wird den Glauben der Völker an die Europäische Bulgarischen Nationalradios. Als sie bei der Union wieder herstellen“, behauptete Passy in seinem jüngsten Sitzung des Europarats in Brüssel mit leerem Handyakku dasaß, hat sie begriffen, wie Schreiben. Zu dieser Zeit sind mehr als 30 verschiede- beruhigend es für die Nerven ist, sich überall ein ne Handynetzteile im Umlauf. Es geht aber nicht nur Ladegerät leihen zu können. [email protected]

liberal 2.2013 73 WIRTSCHAFT Regulierungswut Absturzgefahr

eutschland scheint es gut zu gehen. Es gibt so viele Arbeits- Der Regulierungswut seiner politischen Klasse wegen plätze wie noch nie im wiedervereinten Deutschland. So droht Deutschland zum Globalisierungsverlierer zu wenige Arbeitslose wie seit Jahrzehnten nicht. Und mit drei DProzent Wachstum im Jahr 2011 war Deutschland die werden. Wie wir in Zukunft unseren Wohlstand Wirtschaftslokomotive in Westeuropa. Vielleicht geht es uns ja zu gut. ­erwirtschaften, scheint unsere von postmaterieller Wir beschließen den Ausstieg aus der Nuklearenergie, ohne dass erkennbar wäre, wie rechtzeitig neue Leitungen für den Transport Sattheit geprägte Gesellschaft nicht zu interessieren. der Windenergie von Norden nach Süden gebaut werden können, Wohin dieser Weg führen wird, zeigt sich symptoma- oder, wo der nötige Neubau von modernen Kohlekraftwerken für tisch in der Luftverkehrsbranche. unser Industrieland politisch durchzusetzen wäre. Eine bürgerliche Regierung beschließt eine Luftverkehrssteuer von einer Milliarde Euro, welche die deutschen Airlines mit fast 600 Millionen Euro belastet, während die rund 100 ausländischen Airlines den Rest tragen. Ein solcher nationaler Sonderweg im Herzen der Globalisierung legt die Vermutung nahe, dass Wachstum im Luftverkehr in Deutsch- land politisch nicht mehr erwünscht ist. Alle politischen Lager sind inzwischen für Nachtflugverbote in Frankfurt oder Köln. Man wählt inzwischen Piraten, weil die so spannende Fragen stellen. Aber nie- mand gibt mehr eine klare Antwort darauf, wie der Wohlstand der Zukunft in Deutschland erwirtschaftet werden soll. Manche Debatte hierzulande nährt den Verdacht, dass Deutschland in eine Phase postmaterieller Sattheit eingetreten ist. Oder anders gesagt: Geht es dem Esel zu gut, läuft er aufs Eis. Dabei macht die Globalisierung vor allem eins: Sie beschleunigt Veränderungen. Staaten, die gestern noch zur Dritten Welt gehörten, sind heute oft schon Schwellenländer und vielleicht morgen schon zur Ersten Welt zählend. Und umgekehrt gilt: Es gibt keine Wohl- standsgarantien in der Globalisierung. Wer sich auf den Erfolgen der Vergangenheit ausruht, den reicht der Wettbewerb nach hinten durch. Wohl am schärfsten tobt der internationale Wettbewerb derzeit im Luftverkehr. Über das Know-how, wie eine Airline gut zu betreiben ist, verfügen die Länder der westlichen Hemisphäre längst nicht mehr exklusiv. Während Asien und der Nahe Osten erfolgreiche Fluglinien aufbauen, betrachtet Europa den Luftverkehr vorrangig als Lärmpro-

blem und CO2-Emittenten. Die Folgen sind spürbar: Kein Netzwerk­ carrier in Europa arbeitet mehr profitabel. Nun könnte man sagen: Das ist Wettbewerb. Frei nach Schumpeters These der „kreativen Zerstörung“ bleiben die Besten im Markt übrig. So ist es ja, könnte man vergleichen, auch der Textilindustrie in Deutschland ergangen. Aber in der Luftverkehrsbranche wirken gar nicht die Kräfte der Marktwirtschaft, hier würgt die Regulierung – genauer gesagt die Überregulierung: Die Flughäfen werden entweder wie in Berlin verspätet eröffnet oder wie in Frankfurt abends vorzeitig dichtge-

74 2.2013 liberal Foto: Ullstein Bild -Boness-IPON; C. Kempf das. Von derPolitik ● siees. erwarten noch inderErsten Ligaspielen Airlines will.Diedeutschen wollen schutzfragen undAbgabenbelastung. Esgeht darum,ob Deutschland noch Diskussionen über dieFaszination Fliegens des gab … vorstellbar scheint heute, es alsAirBerlin gegründet dasses, wurde, amErhaltsiert von Arbeitsplätzen beiAirlines undFlughäfen. Kaum lärmbetroffenen sondernmindestens ist, sensibel genauso interes - dienicht nur gegenüberStandortfähigkeit, denBelangen von Flug derungen schützen. derGlobalisierung Wir brauchen einementale brauchen keine Schutzzäune, staatlichen dieunsvor denHerausfor Wir inanderen es ist. großen selbstverständlich Wirtschaftsnationen wie sondern nur Bekenntnis einebensolches zumLuftfahrtstandort, völlig ist. überreguliert Standort abbauen,Arbeitsplätze muss Luftfahrt diedeutsche weil derdeutsche len daherkommen, sindinWirklichkeit dieUnsozialen: Tausende undBeschränkungen.schriften Jene, diedabeiSensib alsdiepolitisch Folgepolitische neueVor ständig erwachsen Geisteshaltung dieser alsersticktenscheint, dieBedenkenträger dieLustauf Neue. alles Als sen spektakulär andenBaum kettet Es blockiert. oderdieGleise jahrelangen unddemokratischenEntscheidungsprozes juristischen - recht dassjenerpolitisch mal derEindruck, bekommt, dersichnach teiligung wird von einigen alsBürgerverweigerung missbraucht. der, Nanotechnologieandere Gentechnik, undvieles mehr. Bürgerbe sogenannte ProtestkulturBahnhöfe, findetimmerneueZiele: Windrä- das Wachstum inZukunft anderen Regionen derWelt? Und die wir unsangesichts tobender Protestgruppen zurückundüberlassen uns demWettbewerb zustellen undvorne dabei zusein? Oderziehen generell Haben wirdenEhrgeiz, Standortfähigkeit: umdiementale Vorrang vor internationaler Wettbewerbsfähigkeit? wir auf undgeben Infrastrukturmodernisierung Regulierung den Wachstum Luftverkehrs des auch Oder beiunsstattfindet? verzichten Haben wirdenAnspruch, dassdasweltweiteStandortfähigkeit: Umgang mitdemLuftverkehr spiegelt wieeinementale sichsoetwas die höchsten Flugsicherungsgebühren andere undvieles mehr. Im Hinzukommenmacht. nationale Sondersteuern (Luftverkehrsteuer), liberal 2.2013 Es geht- beimUmgang Airlines mitdeutschen ummehr alsLärm AirlinesDie deutschen wollen keine Subventionen erhalten, Wenn mandieDebatten entsteht verfolgt, inDeutschland manch- FragenDiese stellen sichnicht nur beim Luftverkehr. Esgeht [email protected] hatten unter vielenFluggästen Kultstatus.. sehr politischenE Düsseldorf biszumChefvon AirBerlin(bis2011). Seine hinter sich:vom Gepäckverlader amFlughafen Jo achim Hunoldhat einebemerkenswerte Karriere ditorials imBordmagazin derAirline - - 75 - - - liberal liberal im Abonnement: Kontakt: [email protected]; [email protected], [email protected] zur Zahlung fällig. Dienächste Ausgabe erscheint imJuni2013. Die Abonnementrechnung ist jeweils amEndedesersten Quartals Bezugsjahres. Verpackung; Kündigungsfrist: spätestens vierW zzgl. 2,50Euro Porto undVerpackung). Jeweils inklusive Porto und Porto undVerpackung); Preis desEinzelheftes 7,90 Euro (Inlandspreis, preis jährlich28Euro (Inlandspreis inklusiveGratis-App, zzgl. 10Euro Bezugsbedingungen: Erscheinungsweise vierteljährlich; Abonnement Vertrieb: DPVNetwork GmbH www.dpv.de von Herausgeber undRedaktion wieder. Namentlich gekennzeichnete Artikel gebennicht unbedingtdie Meinung G Buersche Druck- undMedienGmbH Druck: Litho: T [email protected] Anzeigendisposition: T [email protected] Anzeigenmarketing: GeorgiosGiavanoglou, T [email protected] Anzeigenleitung: RalfZawatzky,T Objektleitung: Christiane Reiners Holger L Verlagsgeschäftsführung: www.corps-verlag.de T Kasernenstraße 69, 40213 Düsseldorf ein Unternehmen der Verlagsgruppe Handelsblatt corps. Corporate PublishingServicesGmbH, Gesamtherstellung: Titelbild: Marcus Hoehn/laif Bildredaktion: Achim Meissner (corps) Art-Direktion: Ernst Merheim(corps) T Ellen Madeker, MichaelMiersch, S Oliver Jeges,JosefJoffe, Ralf Kalscheur, ­­Necla Kelek, Katharina L Peter Glaser, FlorianHartleb, Jan-PhilippHein,JoachimHunold, T Autoren dieserAusgabe: Frank Burger, W Mirko Hackmann(Redaktionsleitung), Axel vom Schemm Redaktion corps: W (Chefredakteur, v.i.S.d.P.), BorisEichler(Chef vom Dienst) Redaktion Friedrich-Naumann-Stiftung fürdieFreiheit: David Harnasch Gesamtleitung: Kirstin Balke Dr. Peter Röhlinger Axel Hoffmann,Manfred Richter, Rolf Berndt,Dr. Irmgard Schwaetzer und Herausgegeben von Dr. W Begründet von Karl-Hermann FlachundHansWolfgang Rubin Reinhardtstraße 12,10117 Berlin Friedrich-Naumann-S l 2154 770 a 2154 27-722 42 Fax 0211/5 27-700, 42 el. 0211/5 odorova, Christian UlmenundIngoW anja Dückers, Konrad Fischer, JanFleischhauer, Jürgen Frölich, abelsbergerstraße 4,46238 Bottrop •Debatten zurFreiheit. Vierteljahresheft der iMe GmbH öwe, W ilfried Lülsdorf ilfried Lülsdorf(Chefredakteur), tiftung fürdieFreiheit atjana Kampermann, T

siehe Seite 45 olfgang Gerhardt, Dr. W tefan Ruppert,S l 2154 27-662, 42 el. 0211/5 ay olfgang Drechsler, l 2154 27-663, 42 el. 0211/5 l 2154 27-671, 42 el. 0211/5 ochen vor Ablaufeines ascha T olf-Dieter Zumpfort, amm, Kapka Impressum otter, - WIRTSCHAFT Korruption

Der Papandreou-Clan: Georgios Papandreou (Pasok) war ebenso griechischer Ministerpräsident wie sein Sohn Andreas und sein Enkel Giorgos Andrea.

Orgien der Illegalität Griechenland hat viele Probleme. Neben den hohen Staatsschulden vor allem die Korruption.­ Das ist kein spezifisch griechisches Problem. Dennoch wird eine Sanierung des Landes nur gelingen, wenn der Staat die Korruption in den Griff

bekommt und aus dem Alltag der Griechen verdrängen kann. // Text // Ellen Madeker

76 2.2013 liberal Korruptionsranking In keinem Land Europas ist die Korruption nach Einschätzung von Transparency International so verbreitet wie in Griechenland. Mit nur 36 von 100 möglichen Punkten bildet das Land laut Korruptionsindex 2012 das Schlusslicht in Europa.

L and CPI 2012 Punkte Land CPI 2012 Punkte ber die Schuldenkrise wissen wir alle Bescheid. Aber 1 Dänemark 90 51 Georgien 52 Griechenland steckt auch in einer Wertekrise. Das Land 1 Finnland 90 51 Seychellen 52 verfügt über die richtigen Gesetze, aber es tut fast nichts, 1 neuseeland 90 53 Bahrain 51 um diese durchzusetzen.“ Das sagt Costas Bakouris, der Ü 4 Schweden 88 54 Tschechische Republik 49 griechische Vorsitzende von Transparency International (TI). Er 54 Lettland 49 findet deutliche Worte: Regierung, Privatwirtschaft und Verwaltung 5 Singapur 87 54 Malaysia 49 seien gleichermaßen Teil des Systems. So gebe es zahllose Vorschrif- 6 Schweiz 86 54 Türkei 49 ten im griechischen Recht, die Korruption stillschweigend duldeten 7 Australien 85 58 kuba 48 und damit begünstigten. Ohne Genehmigung gebaute Häuser könn- 7 norwegen 85 58 Jordanien 48 ten im Nachhinein legalisiert werden und selbst jetzt noch, inmitten 9 kanada 84 58 namibia 48 der Schuldenkrise, hätten viele Ministerien Geheimkonten, die sich 9 niederlande 84 61 Oman 47 der Kontrolle von außen entzögen. 11 Island 82 12 Luxemburg 80 62 kroatien 46 Brandbrief an die Kanzlerin 13 Deutschland 79 62 Slowenien 46 64 Ghana 45 Petros Markaris, in Deutschland vielerorts bekannt als Krimiautor 14 Hongkong 77 64 Lesotho 45 und Schöpfer des Kommissars Kostas Charitos, prangert eine mitglie- 15 Barbados 76 66 kuwait 44 derstarke „Partei der Profiteure“ an, die vom Klientelsystem der 16 Belgien 75 66 Rumänien 44 letzten Jahrzehnte profitiert habe. Dazu gehörten vorneweg die 17 Japan 74 66 Saudi-Arabien 44 Baufirmen, aber auch Unternehmen, die staatliche Organisationen 17 Großbritannien 74 69 Brasilien 43 belieferten – etwa jene, die öffentliche Krankenhäuser mit Pharma- 19 uSA 73 69 Mazedonien 43 produkten und Geräten versorgen. Profiteure und Steuerhinterzie- 20 Chile 72 69 Südafrika 43 her, so Markaris, spürten die Krise kaum: „Noch bevor sie über uns 20 uruguay 72 72 Bosnien und Herzegowina 42 hereinbrach, hatten sie ihre Bankkonten schon ins Ausland verlegt.“ 22 Bahamas 71 72 Italien 42 Das System geht zulasten der kleinen Leute. Dabei geht die schwei- 22 Frankreich 71 72 São Tomé und Príncipe 42 gende Mehrheit der Griechen – Markaris nennt sie die „Partei der 22 Saint Lucia 71 75 Bulgarien 41 Redlichen“ – völlig normal ihrer Arbeit nach. Markaris: „Sie widerle- 25 Österreich 69 75 Libyen 41 gen die in Europa verbreitete Ansicht, die Griechen seien bequem 25 Irland 69 75 Montenegro 41 und scheuten die Arbeit. Sie alle arbeiten hart und zahlen regelmäßig 27 katar 68 75 Tunesien 41 ihre Steuern.“ 27 Ver. Arabische Emirate 68 79 Sri Lanka 40 Seit Kurzem schließen sich nun diese Bürger in unterschiedli- 29 Zypern 66 80 China 39 chen Gruppierungen zusammen, um dem System die Stirn zu bie- 30 Botswana 65 80 Serbien 39 ten. Eine davon ist die 2012 neu gegründete Gruppierung „Dimiour- 30 Spanien 65 80 Trinidad und Tobago 39 gia Xana!“ (sinngemäß: „Lasst uns wieder schöpferisch sein!“). 32 estland 64 83 Burkina Faso 38 Dimiourgia Xana! ist eine proeuropäische Vereinigung. Für sie ist der 33 Bhutan 63 83 el Salvador 38 Kampf gegen Korruption eine Frage der Ehre. Nach eigener Auskunft 33 Portugal 63 83 Jamaika 38 ­vereint sie „anständige Griechen, die nie politisch aktiv waren und 33 Puerto Rico 63 83 Panama 38 daran glauben, dass man Erfolg nur mit harter Arbeit erreichen 36 St. Vincent + Grenadinen 83 Peru 38 kann“. 37 Slowenien 61 88 Malawi 37 Gründer der neuen Bürgerbewegung ist Thanos Tsimeros, der 37 Taiwan 61 88 Marokko 37 einer breiten Öffentlichkeit als Autor eines offenen Briefs an Bundes- 39 kapverdische Inseln 60 88 Suriname 37 kanzlerin Merkel bekannt wurde. Darin stellt er die Korruption und 39 Israel 60 88 Swasiland 37 Kriminalität in Griechenland als Kern des griechischen Übels heraus: 41 Dominikanische Republik 58 88 Thailand 37 „Wer sich niemals in einer griechischen Behörde befunden hat, um 41 Polen 58 88 Sambia 37 eine einfache Bestätigung zu erhalten, kann sich das Ausmaß der 43 Malta 57 94 Benin 36 Korruption und die Absurdität dieses kafkaesken Mechanismus nicht 43 Mauritius 57 94 kolumbien 36 vorstellen“, sagt er. Tsimeros forderte die Kanzlerin auf, „keinen Euro“ 45 Südkorea 56 94 Dschibuti 36 mehr an die Griechen zu zahlen, sofern diese nicht zusagten, Privile- 46 Brunei 55 94 Griechenland 36 gien und „unglaubliche Gehälter“ für Parteifreunde abzuschaffen. 46 ungarn 55 94 Indien 36

PR Alliance/Associated P icture Foto: Dimiourgia Xana! will bekannt machen, dass es auch ein „anderes“ 48 Costa Rica 54 94 Moldawien 36 48 Litauen 54 94 Mongolei 36 50 Ruanda 53 94 Senegal 36 liberal 2.2013 WIRTSCHAFT Korruption

Der Karamanlis-Clan: Kostas Karamanlis (Nea Dimokratia), von 2004 bis 2009 Minis- terpräsident, ist ein Neffe des früheren Premiers und späteren Staatspräsidenten Konstantinos Karamanlis.

Griechenland gibt, das von Europa nicht nur Geld verlangt und über nierenden und transparenten Bürokratie fehlt, bleiben viele Transak- die als Gegenleistung verlangten Reformen schimpft, sondern das tionen im Verborgenen (Verschwiegenheit). Thanos Tzimeros be- diese Reformen aus wohlverstandenem Eigeninteresse unterstützt. schreibt in seinem Brief an Angela Merkel eindrucksvoll, wie er die griechische Bürokratie erlebt. Er spricht von „Orgien der Illegalität“, Familienclans und „Vitamin B“ von „Gesetzeswirrwarr“ und „labyrinthischer Bürokratie“, in der die Was ist Korruption? Robert Klitgaard gilt als der weltweit führende Beamten von den Bürgern Schmiergelder einzig und allein dafür Experte auf diesem Gebiet. Der Ökonom bringt das Phänomen auf verlangten, „dass sie ihre Arbeit tun“. Und sie tun es, ohne Konse- eine einfache Formel: Korruption = Monopolstellung + Verschwie- quenzen zu befürchten. Dies ist nicht verwunderlich in Abwesenheit genheit – Verantwortung. Korruption entsteht, wenn Entscheidungs- starker staatlicher Strukturen, also einer gut funktionierenden Polizei träger exklusiv über Macht verfügen, dabei im Verborgenen tätig sind respektive Steuerfahndung und eines verlässlichen Justizsystems und voraussichtlich nicht zur Rechenschaft gezogen werden. (Verantwortung). Füllen wir Klitgaards Gleichung mit Blick auf Griechenland mit Deshalb braucht Griechenland dringend transparente und nach- Leben: Seit Jahrzehnten gibt es dort ein Netz von Entscheidungsträ- vollziehbare Verwaltungsverfahren sowie verlässliche Sanktionen für gern, die eng miteinander verwoben sind und die Geschicke des Rechtsverstöße. Dafür kämpfen liberale Parteien in Griechenland, Landes von oberster Stelle lenken (Monopol). Gemeint sind die aber auch die Europäische Union fühlt sich verantwortlich: Die starken Familienclans, eine Art Staat im Staate. So ist der Name EU-Kommission hat eine Taskforce eingesetzt, die den griechischen Papandreou auf das Engste verbunden mit der sozialistischen Partei Verwaltungsapparat transparenter und effizienter machen soll. Die Pasok. Giorgos Andrea Papandreou, der noch bis November 2011 Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit nimmt sich im Rahmen griechischer Ministerpräsident war, ist Enkel von Georgios Papandre- ihres neuen Engagements in Griechenland ebenfalls dieser Aufgabe ou und Sohn von Andreas Papandreou. Sein Vater und Großvater an. Sie will die liberalen Kräfte Griechenlands, die für mehr Eigenver- waren ebenfalls griechische Ministerpräsidenten. Der Karamanlis- antwortung und ein Ende der Klientelpolitik eintreten, nachhaltig Clan hat vergleichbare Verbindungen: der Vorgänger Papandreous, stärken. ● Kostas Karamanlis (Nea Dimokratia), der von 2004 bis 2009 Minister- präsident war, ist ein Neffe des früheren Premiers und späteren Ellen Madeker ist Vorsitzende der Auslands- Staatspräsidenten Konstantinos Karamanlis. Was die Familienclans gruppe Europa der FDP und arbeitet in Brüssel. im Großen betreiben, findet sich spiegelbildlich auf allen Ebenen der Die Europasoziologin hat 2007 die internationale Gesellschaft. Sommerakademie für griechische Sprache und Geschichte in Thessaloniki besucht und Wer in der griechischen Politik oder Wirtschaft etwas werden beschäftigt sich seither mit Griechenland. will, ist auf „Vitamin B“ angewiesen. Und da es an einer gut funktio- [email protected]

78 2.2013 liberal Steuerversenkung des Quartals

In jeder Ausgabe von liberal beleuchten wir gemeinsam mit dem Bund der Steuerzahler den Umgang mit unseren Steuergeldern. Thema diesmal: Branntweinmonopol

ranntweinmonopol – das ist der viel zu teuer, doch die BfB zahlt den überhöh- Streuobst ist und bleibt zwar teurer als Tarnbegriff für eine absurde Subven- ten Preis. Sie reinigt den Rohalkohol und ver- konventionelles Obst, das chemisch unter- tion zulasten der Steuerzahler. Wenn kauft ihn anschließend zum viel niedrigeren stützt in leicht abzuerntenden Plantagen Betwas unrentabel ist, hilft die Politik Marktpreis an Lebens- und Arzneimittelher- wächst. Aber mit einer sogenannten „Auf- schnell mit Subventionen. So auch beim Streu- steller. Die Verluste aus diesem Geschäft, also preis-Vermarktung“ gelingt es zunehmend, obst. „Erhalt von Streuobstwiesen“, „Biodiver- die Differenz aus dem Einkaufs- und dem Ver- diesen Kostennachteil auszugleichen. Die Fla- sität“ und „Existenzsicherung für landwirt- kaufspreis der BfB, trägt seit Jahrzehnten der sche Saft aus Streuobst kostet dann zwar bis schaftliche Kleinbetriebe“ lauten die deutsche Steuerzahler. Rund 80 Millionen zu 15 Cent mehr als üblich. Doch viele Ver- Schlagworte zur Rechtfertigung von Millio- Euro sind es derzeit pro Jahr, wobei der Alko- braucher sind inzwischen bereit, für diese nenzuschüssen. Dafür zuständig ist die Bun- hol aus Obst nur einen Teil ausmacht. Für Form von „Fairtrade“ freiwillig zu zahlen und desmonopolverwaltung für Branntwein (BfB). Getreide- und Kartoffelproduzenten ist der so frischen, regionalen Saft zu genießen. Für Über die BfB profitieren rund 15.000 Obst- Weg über die BfB ebenfalls lukrativ. die Bauern wird dadurch die Saftproduktion brennereien und noch viel mehr Streuobst- Schlecht für die Steuerzahler. Aber es gibt wieder rentabel. Anbieter und Konsumenten produzenten vom sogenannten Branntwein- zwei gute Nachrichten. Erstens ist mit dieser sind zufrieden. Der Markt dominiert – sehr monopol. Subventionierung Ende 2017 endgültig zum Wohle auch für die Steuerzahler. Sie wer- Konkret funktioniert das so: Von den Schluss. Und zweitens finden engagierte Bau- den auf diese Weise nicht wie beim Brannt- Streuobstwiesen kommt das Obst für die ern und Naturschützer neue Wege, um Streu- weinmonopol im Namen des Streuobstes zur Obstbrennereien. Die produzieren daraus obst sinnvoll zu nutzen – auch ohne Subventi- Kasse gebeten. ●

Illustration: Sebastian Iwohn Sebastian Illustration: Rohalkohol. Der ist zwar für den freien Markt onen. Kontakt: [email protected]

liberal 2.2013 79 Kultur Friedensrichter

Beim Barte des Propheten Bei der Streitschlichtung in der Moschee geht es angeblich nur um Familienangelegenheiten. Aber es gibt Belege dafür, dass sich sogenannte „Friedensrichter“ in Strafsachen einmischen und darum kümmern, dass den Ehrvorstellungen muslimischer Männer Genüge getan wird. Der dramatischen Folgen einer solchen Schattenjustiz scheint sich der deutsche Rechtsstaat

nicht bewusst zu sein. // Text // Necla Kelek

Mord. Er ist ein Qisas-Vergehen und gehört zu den Verbre- chen mit „Wiedervergeltung“. Im Koran (Sure 2, 178) steht dazu: „O ihr Gläubigen! Euch ist Wiedervergeltung für die Getöteten vorgeschrieben: Der Freie für den Freien, der Sklave für den Sklaven, und die Frau für die Frau!“ Und Sure or etwa zehn Jahren traf ich zum ersten Mal 17, Vers 33, sagt: „Und tötet niemand, den (zu töten) Gott einen Wali, einen „Friedensrichter“. Er war Kurde, verboten hat, außer wenn ihr dazu berechtigt seid! Wenn 37 Jahre alt, trug einen Bart und hatte das Haar einer zu Unrecht getötet wird, geben wir seinem nächsten V sorgfältig nach hinten gekämmt. Wir trafen uns in Verwandten Vollmacht zur Rache. Er soll aber dann im Töten der Justizvollzugsanstalt Hamburg-Fuhlsbüttel. Mehmet nicht maßlos sein (und sich mit der bloßen Vergeltung begnü- (nicht sein wirklicher Name) saß dort seit vier Jahren ein und gen). Ihm wird ja geholfen.“ Auch in Mehmets Geschichte: war bereit, mit mir über sein Leben zu sprechen. Die Anstalts- „Nach genau einem Jahr, es war ein glühend heißer Som- psychologin hatte ihn mir empfohlen, weil er im Gefängnis mertag, kam nach langen Verhandlungen mit den ‚Schlich- erfolgreich als Streitschlichter fungierte. Er erzählte mir, wie tern‘ eine Gruppe von Reitern. Sie setzten zwei junge Männer es dazu gekommen war. Sein Vater war in Ostanatolien der auf Stühle und zogen ihnen Leichentücher über den Kopf. Aga, der Dorfälteste, und in ständigem Streit mit dem türki- Auf ihren Schoß legte man Kernseife, Handschuhe und Hand- schen Staat und den Clans der Nachbardörfer. Bei einem tücher – alles, was man für eine Leichenwäsche braucht. Streit um Land wurde sein ältester Bruder erschossen. Das Dann wurde mein Vater gerufen. ‚Hier, das ist unser Geschenk war der Beginn einer Blutfehde. Die kurdischen Clans glau- an dich‘, sagten die Fremden. ‚Du kannst den beiden das ben, nach ihren Stammesgesetzen ihr „Recht“ auf Rache Leben nehmen, so wie wir das Leben deines Sohnes genom- ausüben zu können. men haben.‘ Es waren die Brüder des Mörders, und mein Die Agas gehen davon aus, mit Gottes Einverständnis und Vater sollte entscheiden, ob er sie umbringen wollte oder nach den Regeln des Korans zu leben. Und das gibt ihnen – so nicht. Aber ein Gast ist nach unserer Tradition unantastbar, meinen und handeln sie – das Recht auf Rache. Zur Konfliktlö- also befreite mein Vater die beiden vom Leichentuch und sung gibt es den „Schlichter“, ebenfalls einer der Agas. Nach legte ihnen die Hand auf den Kopf – das Zeichen der Versöh- der Scharia gehört die Tötung eines Menschen nicht zu den nung. Er verzieh der anderen Familie und schloss Frieden.“ Kapitalverbrechen, nicht einmal der vorsätzliche Mord, weil Mehmet war stolz auf dieses Verfahren, denn so wurde hier nicht Gottes Recht, sondern nur menschliches Recht weiteres Blutvergießen verhindert. verletzt wurde. Den Ehebruch zählt man hingegen zu den Mir kam diese Geschichte, die ja am Ende des 20. Jahr- sogenannten Hadd-Vergehen – er ist ein nicht zu verzeihen- hunderts stattfand, trotz meiner Kenntnisse der archaischen des Verbrechen, weil dabei eine „Grenze“, Gottes Recht, Stammesgesellschaften äußerst bizarr vor. Aber ich sollte verletzt wird. Die „Ehre“ des Mannes wird beschmutzt, wenn dazulernen. Denn nicht nur Mehmet war nach Deutschland die Frau sich falsch verhält. Sie selbst hat keine Ehre. Ihr gekommen. Mit ihm und seinen Landsleuten kamen auch unsittliches Verhalten ist unverzeihlich. Anders steht es mit deren Traditionen von Ehre und Schande, Ansehen und

80 liberal 2.2013 Zur Konfliktlösung gibt es den „Schlichter“, auch „Friedens- Das Wirken von „Schlichtern“ oder „Frie- densrichtern“ in den muslimischen Communitys richter“ genannt. von Kurden und arabischen Migranten wurde Hassan Allouche wie viele andere Realitäten von der Justiz und der Politik lange ignoriert und von den Islam- aus Berlin ist und Türkenverbänden geleugnet. Und auch einer von ihnen. heute noch sieht man keinen Zusammenhang zwischen den sogenannten „Ehrverbrechen“ und der schariakonformen Konfliktschlichtung. Erst als Joachim Wagner seinen profunden Bericht über die islamische Paralleljustiz „Richter ohne Gesetz“ veröffent- lichte und in der Folge in den Medien Beispiele und handeln- de Personen auftraten, tat man plötzlich überrascht, begann aber gleichzeitig zu relativieren. „Friedensrichter“ oder „Schlichter“ seien so etwas wie Mediatoren, die der Justiz die Arbeit abnehmen und zum gesellschaftlichen Frieden beitra- gen, meinte man. Da sich die Fälle von Ehrverbrechen und auch der Paral- leljustiz vorwiegend im islamischen Kulturkreis abspielen – die Täter bei Ehrverbrechen wurden zu über 90 Prozent als Muslime identifiziert – und „Friedensrichter“ nur in diesen Communitys wirken, liegt die Vermutung nahe, dass diese Praxis eng mit dem Islam in Zusammenhang steht. Das erklärt das Phänomen aber nicht ausreichend. Die Tradition der Blutrache, des Ehrenmords und der Konfliktschlichtung durch „Friedensrichter“ rührt aus vorisla- mischen Zeiten. Die islamische Rechtsauffassung hat die vorhandenen Traditionen der Stämme adaptiert und in die Scharia integriert. So lassen sich heutige archaische Vorstel- lungen nicht mehr dahingehend unterscheiden, ob sie origi- Respekt, die Clanstrukturen, die Hierarchie der Älteren, die när der Religion oder der Zivilisation zuzurechnen sind. Sie Behandlung der Frau als Besitz. gehören zum tribalen Teil der Kultur des Islam. Was in Mala- Als 2005 die junge Berlinerin Hatun Sürücü von einem tya als islamisch begründete Tradition gilt, ist vielleicht in ihrer Brüder erschossen wurde, weil sie nach seiner Auffas- Ankara bereits Geschichte. Und so bieten sich auch in einigen sung die „Ehre der Familie“ beschmutzt hatte, wurde erstmals Moscheen in Deutschland Imame als Streitschlichter an, die Öffentlichkeit auf diese Form der Selbstjustiz aufmerksam. während andere dies als Eingriff in staatliche Hoheitsrechte Die Familie verteidigte mit allen Mitteln – auch Mord – ihre ablehnen. Auf Nachfrage geht es bei der Streitschlichtung in kurdisch-islamische Tradition mitten in Deutschland. der Moschee angeblich nur um Familienangelegenheiten. In dem Prozess war eines bemerkenswert: Auf der Zu- Wir haben es in diesen Fällen mit einer parallel- oder schauerbank saß ein von der Familie Sürücü engagierter Wali, gegengesellschaftlichen Entwicklung zu tun. Alle Beteiligten ein in der muslimischen Community bekannter gehen davon aus, dass Konflikte in den muslimischen Famili- arabischer „Friedensrichter“. Zu meiner Verwunderung hatte en und zwischen Glaubensbrüdern oder Stammesangehöri- er die Prozessakten unter dem Arm und schien bereits vorher gen die deutsche Gesellschaft und Justiz nichts angehen. Sie zu wissen, wer wie oder gar nicht aussagen würde. Er organi- sagen recht offen, dass sie ihre eigenen Gesetze haben und sierte auch die Presseauftritte für die Familie, als würde sie danach leben. Sie begründen dies mit Tradition oder dem wie in Ostanatolien über einen Vermittler mit der Öffentlich- Koran, der für sie selbstredend über allen von (ungläubigen)

Foto: A. Berghäuser/laif Foto: keit verhandeln wollen. Menschen gemachten Gesetzen steht. Deshalb werden nicht

liberal 2.2013 81 Kultur Friedensrichter

Und tötet niemand, den (zu töten) Gott verboten hat, Im Februar 2012 hat der rheinland-pfälzische Justizminister Jochen Hartloff (SPD) darüber nach- außer wenn gedacht, ob in Deutschland nicht eine Schiedsge- ihr dazu richtsbarkeit auf der Basis der muslimischen Rechtsvorstellungen denkbar sei. Und die FDP- berechtigt seid! Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnar- — renberger forderte 2011 in der FAZ:, „Statt Angstde- Sure 17, Vers 33 batten brauchen wir eine vorurteilsfreie Diskussion über die Religionen und ihre Rechte“. Ich frage mich, ob nach der Änderung des Personen- standsrechts im Januar 2009, der zufolge eine Imam-Ehe zwar nicht zivilrechtlich gültig, aber auch nicht mehr strafbar ist, der islamischen Rechtsauffassung noch weiter die Tür geöffnet werden soll. Die Imam-Ehe hat den Spalt für die Polygamie und die Zwangsheirat wieder geöffnet, der vorher durch das Gesetz gegen Zwangsheirat geschlossen worden war. Und wer mit dem Postulat „jeder Religion die gleiche Chance“ argumentiert und in der Güterabwägung dem säku- laren Staat in der Argumentation gar keine Rolle mehr ein- räumt, relativiert das Recht. nur harmlose Fälle wie Streitigkeiten bei einem Autokauf Wenn „dem religiösen Leben“, also der Scharia, faktisch geregelt, sondern es wird sogar versucht, die Verfolgung von rechtliche Geltung zugeschrieben werden soll, dann wird es Straftaten zu verhindern. Es geht bei der Schlichtung nicht schwierig, sich gegen die Selbstjustiz zu wehren, auch wenn um Sühne, es geht – plakativ gesagt– um Blutgeld statt Blutra- die Gültigkeit des Grundgesetzes gebetsmühlenhaft betont che, um außergerichtlichen Interessenausgleich auf der Basis wird. Es gilt dann eben in der Praxis nicht mehr. Wenn die muslimischer Rechtsvorstellungen. Justizministerin den Eindruck vermittelt, Grundgesetz und Dass dabei erhebliche Summen gezahlt werden, um zum Scharia seien nur unterschiedliche Möglichkeiten, Recht zu Beispiel einen Messerstich oder Überfall zu entgelten, davon sprechen, dann ist das nicht nur irritierend, sondern es gehen alle Kenner aus. Joachim Wagner führt eine Reihe von erwächst daraus auch ein Argumentationsproblem gegen- Beispielen an, in denen „Friedensrichter“ massiv Zeugen über den sich nach ihren religiösen Gesetzen richtenden beeinflusst oder den Zwang zur Ehe durchgesetzt haben. „Friedensrichtern“. Sie sind dann nicht mehr illegal, sondern Täter setzen Opfer über diese „Schlichter“ massiv unter nur anders. Wenn diese Praxis nun auch noch in den inzwi- Druck, zahlen Geld, damit Anzeigen oder Aussagen vor schen über 3.000 Moscheen des Landes Schule machen Gericht zurückgenommen werden oder in Hochzeiten einge- würde, könnte der Rechtsstaat von unten aufweichen und es willigt wird. Es ist in bestimmten Kiezen ein nicht nur krimi- könnten Bereiche entstehen, die außerhalb des legitimierten nelle Kreise umfassendes, organisiertes Schattenrecht ent- Rechts stehen. Bei aller Toleranz gegenüber Religionen und standen, dessentwegen die Strafverfolgungsbehörden nicht ihren Befindlichkeiten kann es nicht angehen, dass in unse- mehr Herren der Verfahren sind. rem Land zweierlei Recht akzeptiert wird. ● Auch deutsche Anwälte agieren nicht nur als Verteidiger im Rahmen der Strafprozessordnung, sondern geben sich in Einzelfällen dazu her, Vorteile dieser Paralleljustiz für ihre Necla Kelek kam 1957 im Alter von zehn Jahren nach Deutschland. Von 2005 bis 2009 war sie Mandanten zu nutzen – selbst wenn dies eine Strafvereitelung ständiges Mitglied der Deutschen Islam Konferenz. darstellt. Die dramatischen Folgen dieser Schattenjustiz Die in Berlin lebende Publizistin wurde vielfach scheinen in der Politik noch nicht angekommen zu sein, die ausgezeichnet, zuletzt erhielt sie 2010 den Freiheitspreis der Friedrich-Naumann-Stiftung für politische Diskussion dreht sich nicht um die Durchsetzung die Freiheit.

des einen Rechtssystems, sondern um seine Öffnung: [email protected] D avids/laif Foto:

82 liberal 2.2013 Kultur buch

Die Abenteuer des Jonathan Gullible – jetzt als Buch und Hörbuch in deutscher Sprache Tyrannei der Traummaschine

er junge Jonathan Gullible wird mit seinem Segelboot von einem schweren Sturm an das D Ufer einer fremden Insel gespült. Zunächst überwältigt von der Schönheit der Insel, muss er rasch feststellen, dass seine Begegnungen mit den seltsamen Bewohnern und ihren befremdlichen Angewohnheiten ein aufregendes und nicht ganz ungefährliches Abenteuer sind. Holzfäller bringen Bäume mit Knüppeln zum Umstürzen, Menschen laufen auf den Knien durch die Straßen und im Zoo sitzen Menschen vis-à-vis von wilden Tieren hinter Gittern. Nagelneue Häuser stehen leer, obwohl Woh- nungsmangel herrscht, Friseuren droht fürs Haare- schneiden die Todesstrafe und Familien liefern ihre Großeltern gegen eine Prämie bei der Behörde ab. Die Menschen glauben an die Zauberkraft einer Traum­ maschine, kaufen begeistert Tickets für eine Show, die sie um ihr Erspartes erleichtert, und lassen ein Orakel für sie denken. Der freundliche Junge stößt auf Misstrauen und Ablehnung, Ahnungslosigkeit, Furcht und Resignation. Courage und Eigeninitiative sind dagegen bei den Menschen rar. Nur sehr schwer gelingt es ihm, auf der Insel Fuß zu fassen und Freunde zu finden. Erst mit der Zeit bemerkt Jonathan, dass nicht die Menschen auf der Insel sonderbar sind, sondern die Gesetze und Kontrollen des dort herrschen- den Hohen Rates. Die haben tiefe Spuren bei den Inselbewohnern hinterlas- sen und machen vielen das Leben zur Hölle. Als es ihm doch noch gelingt, die Das Buch und/oder das Hörbuch Insel in Richtung Heimat zu verlassen, hat er begriffen, wie wichtig Freiheit (CD-ROM mit mp3-Dateien) kön- und Eigenverantwortung für die Freude am Leben sind. nen Sie unter diesen Adressen Ken Schoollands in viele Sprachen übersetzte Erzählung der Abenteuer kostenfrei bestellen: des Jonathan Gullible liegt jetzt, mehr als 15 Jahre nach ihrer deutschen Erst- www.gullible.freiheit.org, veröffentlichung, in einer neu überarbeiteten und erweiterten Fassung vor. [email protected] Desillusioniert von den erfolglosen Versuchen seiner Kollegen, ökonomisches Grundlagenwissen mit realitätsfernen theoretischen Modellen zu vermitteln, oder per Post über das hat der Wirtschaftsprofessor an der Universität von Hawaii seine Sichtweise Liberale Institut der politischen Ökonomie des Kontroll- und Fürsorgestaates mit einer fesseln- Reinhardtstr. 12, 10117 Berlin den Abenteuergeschichte verwoben. Dadurch gelingt es ihm, die für den praktischen Alltag so enorm wichtigen Zusammenhänge von Wirtschaft und Politik sehr lebensnah darzustellen und einem großen Leserkreis nahezu­ bringen. Neben dem Buch in gedruckter und elektronischer Fassung hat das Liberale Institut der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit auch eine Hörbuchfassung produziert. Steffen Hentrich

liberal 2.2013 Kultur Chorsingen

Im Dritten Reich ideologisch missbraucht, war das Singen lange aus dem Alltag verschwunden. Jenseits von Kirchen oder althergebrachten Chören gab es kaum Angebote. Das ist vorbei. Gemeinsam singen, frei von der Leber weg, ist zu einer Bewegung geworden. Deutschland, wie

es singt und lacht. // Text // Ralf Kalscheur lust

Jetzt kommt ‚Running Up That Hill‘, habt ihr euch gewünscht“, spricht Anja Lerch ins Mikrofon und schaut ein bisschen be- sorgt zur Leinwand, auf die der Text des Songs projiziert wird. Das Publikum im Saal nimmt eine aufrechte Sitzposi- tion ein, Brillen werden zurechtgerückt, Gläser abgestellt. In der Luft liegt die Ahnung, dass in wenigen Momenten 250 ungeübte Sänger ernsthaft den Versuch unternehmen werden, das schwierige Lied wie Kate Bush zu interpretie- ren. Ein aussichtsloses Unterfangen bahnt sich an, ein „uphill battle against the sun“, sozusagen. Das Scheitern ist dann auch glorios, der schiefe Vor- trag ein einziges Ringen mit hohen Tönen und englischen Lyrics. Perfekt! Strahlende Gesichter allenthalben in der Duisburger Kneipe „Grammatikoff“. Denn die Besucher gemischten Alters, in der Mehrheit Frauen, sind nicht zu „Anjas Singabend“ gekommen, um Lieder einzustudieren. Sie möchten einfach gemeinsam singen, hier und jetzt, ohne die Verpflichtungen einer Chormitgliedschaft und ohne Angst vor Fehlern. Dafür aber gern in Begleitung eines Mut machenden Biers oder Weins. „Ich höre oft von Besuchern, dass sie Hemmungen haben, in der Öffentlich- keit zu singen“, erzählt Anja Lerch. „Wenn sie dann aber im Laufe des Abends mehr und mehr aus sich herausgehen, stimmlich fester werden, sich im Rhythmus mitbewegen – dann wirkt das Singen umso befreiender. Singen macht

glücklich!“ M. Hielscher Foto:

84 2.2013 liberal lust

Der „Berliner Kneipenchor“: Lockere Leute aus der Kreativ- branche, die gern mal zusam- men ein Bier trinken.

liberal 2.2013 85 Kultur Chorsingen

Schlückchen trinken, noch mal räuspern, eine Band aus der populären Abteilung ist an der Reihe, die die Ungezwungenheit im Namen führt. „Ohne dich“ der „Münchner Freiheit“ kennen hier alle, und der hohe Wiedererkennungswert zeigt sich in der Unbe- dingtheit, mit der sich der Kneipenchor dem Refrain widmet: „Und ich gebe offen zu / Das, was ich will, bist du“. Herzblut lassen die Sänger in das extra lang ge- dehnte „u“ beim „du“ fließen, denn es wird ja nicht irgendjemand gewollt. „Is et nich herrlich?“, fragt der Sitznachbar rhetorisch, Typ Eisenbieger mit gemütli- cher Wampe, der sich breit lächelnd und mit hektisch aufeinanderpatschenden Pranken am großen Beifall beteiligt. Der ist zwar an die prima Entertainerin auf der Bühne gerichtet, doch eigentlich beklatschen sich die Mitglieder der singenden Zufallsgemeinschaft selbst. Wir sind Chor.

Schlange stehen für den Singabend Anja Lerch studierte Jazzgesang und tritt mit diversen Bands auf. Vor sechs Jahren kam die alleinerziehende Mutter von drei Kindern auf die Idee, sich mit der „Es lohnt sich, Moderation von Singabenden in Kneipen eine weitere Einnahmequelle zu erschließen. „In Duisburg fehlte die alten Lieder ein niederschwelliges Angebot für Leute, die einfach wiederzuent­ hin und wieder mal gern singen“, erzählt die 44-Jähri- ge. Und erinnert sich an den kleinlauten Beginn ihrer decken.“ Chorleiterkarriere: Gerade mal sieben Seelen fanden – Anja Lerch – sich zum ersten Singabend ein. Doch Lerch blieb dran, und was sie kann, sprach sich herum. Mit kurzweiligen und im verbindlichen Ruhrge- biets-Slang vorgetragenen Liedankündigungen bricht sie das Eis, fordert die Verlegenen mit Zwischenrufen wie „Traut euch!“ heraus und besinnt sich ganz auf ihre Aufgabe: Sie macht die Musik, am Keyboard, und ihr engagierter Gesang gibt den Ungeübten Halt und Orientierung. An jedem Singabend stehen andere Lieder auf dem Programm, das sehr bunte Repertoire reicht von Rock und Pop über Schlager bis zum klassi- schen Liedgut. „Schöne Volkslieder wie ‚Wenn alle Brünnlein fließen‘ nehme ich immer mit rein. Es lohnt sich, die alten Lieder wiederzuentdecken. Dabei entsteht eine besondere Rührung im Saal“, erklärt die Duisburgerin. Mittlerweile kommen regelmäßig Hunderte, um mit Anja Lerch zu singen. Eineinhalb Stunden vor Beginn von „Anjas Singabend“ stehen die Leute schon

86 2.2013 liberal zunehmend aus der Erzieherausbildung und aus dem Alltag. In einer nach Erneuerung strebenden Gesell- schaft fristete das gemeinsame Singen fortan ein Randdasein in den althergebrachten Strukturen von Schlange vor dem „Grammatikoff“, in winterlichem Chor und Kirche. Nieselregen und in der für ihr abendliches Unterhal- Seit Beginn der 2000er-Jahre hat nicht zuletzt eine tungsangebot sonst gänzlich unberühmten Ruhrge- Vielzahl von Castingshows im Fernsehen dazu beige- bietsstadt. Über 50 Besucher müssen sang- und klang- tragen, dass sich das historisch belastete und schließ- los wieder abreisen: kein Platz mehr. Vielleicht haben lich unmodern gewordene Sujet des Singens erholt sie in Duisburgs Nachbarstadt Mülheim an der Ruhr hat. Das Unterhaltungskonzept der Suche nach dem mehr Glück. Auch dort gibt Lerch inzwischen ihren nächsten „Superstar“ ist zwar peinlich – das Singen an Singabend, frühe Anreise ist aber ebenfalls empfohlen. sich hingegen ist es heute nicht mehr. In den Schulen Gerade ist die Musikerin dabei, Düsseldorf zum Singen wird wieder gerne gesungen und gerappt. zu bringen. Offene Singangebote gibt es schon in vielen Städ- Heilende Kraft des Singens ten, und es werden immer mehr. Die Veranstaltungen Dennoch braucht es Ermutigung, um sich ein Herz zu heißen „Rudelsingen“ oder „Frau Höpker bittet zum fassen und in der Öffentlichkeit zu schmettern. „Das Gesang“, genießen hohen Zuspruch und man darf Singen ist eine Form der Entäußerung, durch die annehmen, dass die Wirte die Bewegung ähnlich Emotionen unmittelbar vermittelt werden können“, glücklich macht wie die partizipierenden Sänger. „Es erklärt Peer Abilgaard. Dass viele Menschen davon hat sich seit etwa zehn Jahren eine richtige Singszene überzeugt sind oder vorgeben, nicht singen zu kön- in Deutschland entwickelt“, sagt Prof. Peer Abilgaard, nen, hat mit der Furcht vor Zurückweisung zu tun, Chefarzt der psychiatrischen und psychotherapeuti- insbesondere wenn Gefühle offenbar werden. „Darum schen Abteilung in der Helios Marien Klinik Duisburg. steht und fällt ein Singkreis mit dem, der ihn anleitet“, Abilgaard studierte parallel Humanmedizin, Gesang so der Musiker und Mediziner. „Die Menschen müssen und Trompete. Sein Lebenslauf ist bemerkenswert: Als gestärkt und aus der Reserve gelockt werden.“ Die preisgekrönter Gesangssolist in den Bereichen Oper, Konzert und Oratorium gastierte der 43-Jährige acht Jahre lang als Berufsmusiker an verschiedenen Büh- nen, bevor er als Mediziner Karriere machte. „Das Singen wurde in den Schulen jahrzehntelang stiefmüt- terlich behandelt“, erklärt Abilgaard, der neben seiner Chefarzttätigkeit in Duisburg den für ihn geschaffenen Lehrstuhl für Musikergesundheit an der Hochschule für Musik und Tanz Köln bekleidet: „Die Kriegs- und Kriegskindergeneration hatte schlechte Erinnerungen ans Singen und ging befangen mit dem Thema um.“

Renaissance eines belasteten Begriffs In der NS-Zeit war das gemeinsame Singen allgegen- wärtiger Ausdruck der „gesunden Volksseele“. Die Sing- und Jugendsingbewegungen wurden zu national- sozialistischen Organisationen wie dem „Reichsbund Volkstum und Heimat“ und den „Musikschulen für Jugend und Volk“ gleichgeschaltet. Dieser Missbrauch des Singens für ideologische Zwecke führte nach dem Krieg zu einer Tabuisierung: Singen galt als rückwärts-

Fotos: M. Hielscher; D. Asbach M. Hielscher; D. Fotos: gewandt und verschwand seit den 1960er-Jahren

liberal 2.2013 87 Kultur Chorsingen

pie. In einer vermehrt mit Stress, Depression und Burn-out-Syndrom kämpfenden Gesellschaft ist es darum auch dieser medizinische Aspekt, der eine Anonymität in den Reihen des zufällig zusammenge- Herleitung für die neue Popularität des Singens dar- kommenen Kneipenchores wirke in diesem Zusam- stellt. Die Musiktherapie macht sich die heilende Kraft menhang ähnlich schützend wie die Geborgenheit, des Singens zunutze. Abilgaard sitzt im wissenschaftli- die ein organisierter Chor vermittelt. Beim Singen trifft chen Beirat des Vereins „Singende Krankenhäuser“. man sich auf nonverbaler Ebene zu einem Gemein- Das internationale Netzwerk zur Förderung des Sin- schaftserleben, bei dem die Musik intuitiv erschlossen gens in Gesundheitseinrichtungen bildet Singleiter wird. Reden ist nicht notwendig. „Das Singen ist eine aus, die mit Patienten, Senioren und auch mit Tod- Ganzheitserfahrung des Körpers vom Scheitel bis zur kranken in Hospizen singen. Gemeinsam bewegt sein, Sohle, bei der das Belohnungssystem aktiviert wird darum geht es im Kern. und Glückshormone ausschüttet“, erläutert Abilgaard. „Das Singen ermöglicht es, gemeinsam anzufangen Und jetzt alle! und gemeinsam aufzuhören. Das ist Harmonie. Das ist Peer Abilgaard erlebt das nicht nur im Job, sondern der Zauber, der im gemeinsamen Einatmen liegt. Das auch jeden Abend, wenn er zur Schlafenszeit mit geht mit Sprache nicht, denn die bedingt das Nachein- seinem sechsjährigen Sohn singt. Oder am Wochenen- ander.“ de im Fußballstadion, wenn Zehntausende Fans seines Das gemeinschaftliche Singerlebnis sei ein Schutz- Vereins Fortuna Düsseldorf zusammen einen der eher faktor, um mit geistigen Erkrankungen besser fertig zu seltenen Siege besingen. „An Tagen wie diesen“, die werden und die seelische Widerstandskraft zu stär- Fortuna-Version des hymnischen Schlagers der „Toten ken, so der Facharzt für Psychiatrie und Psychothera- Hosen“, schmettert dann auch der hartgesottenste

„Die Menschen müssen aus der Reserve gelockt werden.“ – Peer Abilgaard; Mediziner und Musiker –

88 2.2013 liberal und 40, die nach dem Proben gern noch zusammen ein Bier trinken. „Ich habe E-Mails an Bekannte ge- schickt, die Idee sprach sich recht schnell herum“, erinnert sich Hielscher. 15 Singfreudige konnten sich Kuttenträger beseelt mit. Das Band, das gemeinsames spontan mit dem Plan anfreunden und kamen zur Singen spannt, verknüpft verschiedenste Ausdrucks- ersten Probe, inzwischen ist der Kreis auf 30 Männer formen. und Frauen angewachsen. Hielscher: „Wir könnten Im Berliner Mauerpark etwa sitzen in den warmen jetzt schon 300 Sänger sein, Anfragen gibt es viele. Monaten jeden Sonntagnachmittag gut tausend Men- Aber größer wollen wir nicht werden, damit der schen im bis auf den letzten Platz besetzten Amphi- familiäre Charakter unseres Chors erhalten bleibt.“ theater. Im Zentrum stehen der Ire Joe Hatchiban und Das große Interesse am Kneipenchor hat zum sein orangefarbenes Lastenfahrrad. Das trägt eine einen damit zu tun, dass die Gruppe das Image der mobile Karaokeanlage, deren Mikrofon sich jeder Berliner Kreativbranche verkörpert und somit einen nehmen kann, der sich traut. Woche für Woche grei- größtmöglichen Gegenpol zum angestaubten Chorbe- fen überraschend viele Besucher zu. Für schamhafte griff bildet. Die Auftrittsorte, etwa beim „Torstraßen- Zurückhaltung besteht jedoch auch kein Anlass: Je festival“ oder in alternativ-szenigen Kaschemmen, ausgefallener oder windschiefer der Vortrag, desto passen in dieses Bild. Der coole Chor von mehrheit- größer ist der Jubel der Menge. Berliner und Touristen lich Künstlern und Medienschaffenden ist in Berlin ein treten auf, junge und ältere, ein Flaschensammler Publikumsmagnet. Zum anderen „ist es aber auch so, gehört zu den immer wiederkehrenden Sängern. Das dass es einfach noch nicht so viele Kneipenchöre wie Sympathische an der Veranstaltung, auf die mittler- uns gibt, in denen sich jüngere Leute wohlfühlen weile in vielen Berlin-Reiseführern hingewiesen wird, können – obwohl die Nachfrage da ist“, sagt Hielscher. ist die vom Willen zur Unterstützung der Auftreten- So ein Chor sei zwar schnell gegründet, doch den getragene Atmosphäre: Der Beifall für jeden damit er funktioniert und Bestand hat, bedürfe es Teilnehmer ist riesig, Häme verpönt, und zur Not einer musikalischen Leitung, die mehr als nur „Ah- springen der Gastgeber und ein Teil des Publikums nung“ hat, sowie eines Mindestmaßes an Disziplin und bereitwillig ein, um einen verunglückten Song zu Idealismus der Mitglieder, meint Matse. „Wir kommen einem guten Schluss zu bringen. einmal pro Woche zusammen, um gerade bei neuen Die wiedergewonnene Freude am Singen außer- Songs jede Stimme einzustudieren. Das Dirigieren halb von Rückzugsräumen wie Badezimmer oder übernimmt bei uns eine studierte Jazzsängerin. Die Auto verändert nach und nach auch die Chorland- Songtexte werden auswendig gelernt. Wir haben schaft. Der klassische Männergesangsverein etwa einen musikalischen Anspruch, und den zu erfüllen verleiht schon seit 30 Jahren immer weniger goldene ist viel mehr Arbeit, als wir anfangs dachten.“ Ehrennadeln für die langjährige Mitgliedschaft. Shan- Matse Hielscher macht übrigens nicht aktiv mit: ty-, Knappen- und Kirchenchöre schauen vielerorts „Ich singe zwar gern, aber ich kann es nicht.“ Der auch nicht glücklicher aus der farblich abgestimmten 33-Jährige organisiert lieber die Konzerte und erfreut Einheitskleidung. Stattdessen bilden sich kleinere sich still am Gesang seiner Freunde. Vielleicht spaziert Vokalensembles und alternative Chorprojekte. er nach der Probe im Michelberger Hotel mal die Warschauer Straße herunter, dann nach rechts ein Viel mehr Arbeit als gedacht paar Hundert Meter an der East Side Gallery vorbei So wie der „Berliner Kneipenchor“. Matse Hielscher zum Radial­system V. Dort trifft sich der „Ich-kann- hat ihn vor zwei Jahren gegründet, nachdem sein nicht-singen-Chor“. ● Freund Nino Strotzki vergeblich nach einem Chor in Berlin gesucht hatte, der ihm zusagte. Gemeinsam Ralf Kalscheur ist freier Autor und spielten die beiden in der 2010 aufgelösten Indie-Pop- lebt in Berlin. Selbst singen ist seine Band „Virginia Jetzt!“ Der Chor, den sie sich vorstellten, Sache nicht. Es sei denn, es wird der sollte ein zeitgemäßes Repertoire von Hip-Hop über „Stern des Südens“ besungen, in der Allianz Arena, wo gute Menschen die Pop bis Indie singen und aus einer gleichgesinnten Raute im Herzen tragen.

Fotos: M. Hielscher; D. Asbach M. Hielscher; D. Fotos: Sängerschaft bestehen: lockeren Leuten zwischen 20 [email protected]

liberal 2.2013 89 Kultur Linke Journalisten

Kein Schwein geworden Wer im Westdeutschland der 70er-Jahre aufwuchs, lernte früh, dass man zur Mehrheit gehören und dennoch als Nonkonformist gelten kann. Der Mainstream war nun mal links – und trotzdem fühlte man sich als Rebell. Diese Haltung haben sich viele Journalisten bis heute bewahrt. Unser Autor Jan Fleischhauer ist zwar beim Spiegel auch „Unter Linken“ – so der Titel seiner Kolumne –, selbst aber inzwischen konservativ.

om Wolfe stellt den Lesern seines neuen man jemanden mit Worten mindestens so wirksam ­Romans „Back to Blood“ eine Figur namens niederstrecken kann wie mit einem Faustschlag. Ich weiß Edward Topping IV vor. Angesichts eines nicht mehr genau, wann sich das Verhältnis umkehrte T ­aufstrebenden Reporters lässt der Autor den und die Starken die Dummen waren. Aber mich durch- opportunistischen Chefredakteur eine These zu dessen strömt noch heute ein warmes Gefühl, wenn ich daran Motivation entwerfen: Die Persönlichkeit eines Jungen zurückdenke. entscheide sich im Alter von sechs Jahren. Einerseits gäbe Bin ich deshalb links geworden? In meinem Fall es da die dominanten Draufgänger, andererseits die jedenfalls stimmen die Ausgangsbedingungen, die Tom Schwächlinge. „Auch sie träumen von Macht, Geld, Ruhm Wolfe als Grund für die politische Schulhofsozialisation und attraktiven Verehrerinnen. Jungs wie dieser Bengel nennt. Aber die Ohnmachtserfahrung des Sechsjährigen lernen instinktiv, dass Sprache ein Werkzeug ist, wie ein allein erklärt nicht die Hinwendung zum Ideologischen. Schwert oder ein Gewehr. Geschickt eingesetzt, hat sie Auch Bill Gates gehörte in der Schule zu den Schmächti- die Macht … na ja, vielleicht nicht Dinge zu erreichen, gen, ohne dass ihn das zu einem Linken gemacht hätte. aber Dinge zu zerstören. Einschließlich Menschen. Ein- Es kommt etwas anderes hinzu: Wer sich links einordnet, schließlich der Jungs, die auf der stärkeren Seite dieser findet Beifall. Das ist keine ganz unwesentliche Motivati- Trennlinie stehen. Hey, darum geht es Linken! Ideologie? on, sich dieser Seite anzuschließen. Wirtschaftspolitik? Soziale Gerechtigkeit? Das sind bloß Fassaden. Ihre politischen Vorlieben wurden im Alter von Es gab in meiner Klasse zwei Jungen, die nicht sechs Jahren auf dem Schulhof geprägt. Sie waren die links waren. Der eine hieß Christian, ein weizenblon- Schwachen und deshalb hassen sie seitdem die Starken. der, ­immer leicht gebeugt gehender Junge mit einer Deshalb sind so viele Journalisten Linke!“ großen Brille und einem sympathischen, aber linkischen Ich hatte immer schmale Schultern, schon zu Schul- Lächeln. Heute würde man in ihm vielleicht den zeiten. Weil ich in einer Zeit groß wurde, als man sich in ­nächsten Internetmillionär vermuten, aber damals war der Pause noch prügelte, brachte mich das in gewisse er einfach nur jemand, der sich irrsinnig gut mit Zahlen Verlegenheiten, wenn ich auf stärkere Gegner stieß. Ich auskannte. Der andere, Walter, war in der Schule eher zog regelmäßig den Kürzeren – bis ich entdeckte, dass unauffällig. Dafür hatte er ein Hobby, das ihn von allen

90 liberal 2.2013 „Wenn wir uns ­auf dem Pausenhof zusammenfanden, waren eigenartigerweise alle einer ­Meinung.”

unterschied: Er stopfte Tiere aus. Kaninchen, Mäuse und dass man zur Mehrheit gehören und dennoch als Non- kleine Echsen, am liebsten aber Vögel, alles mit Federn konformist gelten kann. und Schale. Dass viele Journalisten mit erkennbarer Verachtung Christian und Walter waren die beiden örtlichen auf Leute blicken, die es zu Ruhm und Reichtum gebracht Vertreter der Jungen Union. Das hat, wie ich zugeben haben, hat mit frühpubertärer Traumatisierung weniger muss, mein Blick auf die Jugendorganisation der zu tun als von Leuten wie Wolfe vermutet. Die Draufgän- deutschen Christdemokratie nachhaltig geprägt. Die ger der Kindheit, die bei den Mädchen so einen Schlag beiden blieben auch für die gesamte Schulzeit die hatten, trifft man später als Versicherungsvertreter oder ­einzigen Mitglieder, soweit ich das beurteilen konnte; im Getränkemarkt. Die Konkurrenten, von denen es sich Angehörige einer seltsamen Spezies, die mit Aktentasche im Nachhinein abzusetzen gilt, sind eher die Jungs mit zur Schule kamen und grauen Stoffhosen mit weicher der Brille und der Stoffhose, die es wider Erwarten an die Bügelfalte. Spitze eines Millionenunternehmens gebracht haben. Die Abwertung hat so gesehen eher psychohygienische Wir anderen trugen Parka und Jeans und das Über- Gründe. Wer mit Bill Gates zur Schule gegangen ist, hat legenheitsgefühl der rebellischen Jugend, die genau weiß, nur eine Möglichkeit zu rechtfertigen, warum es bei ihm was man tun und lassen muss, um dazuzugehören. Von lediglich zu einer Stelle im Mittelbau einer Zeitung oder meinen Lehrern habe ich immer gehört, wir sollten uns Fernsehanstalt gelangt hat. Na gut, sagt er sich: Gates ist einen eigenen Kopf bewahren, dem Gruppendruck heute sehr viel reicher als ich. Aber dafür habe ich mich widerstehen. Uns leuchtete das sofort ein. Niemand lässt nicht korrumpiert wie er. Ich bin nicht zum Schwein sich gern nachsagen, ein Anpasser zu sein. Berufswunsch geworden. ● Konformist ist eher ungewöhnlich. Aber wenn wir uns auf dem Pausenhof zusammenfanden, waren eigenarti- Jan Fleischhauer ist Redakteur beim Spiegel und Autor gerweise alle einer Meinung. Wir waren der Mainstream, des Bestsellers „Unter Linken“. Sein jüngstes Buch heißt Herren über ein gut ausgepolstertes Gruppenvertrauen, „Der Schwarze Kanal – was Sie immer schon von Linken ahnten, aber nicht zu sagen wagten“ und enthält die V-Bildefrdienst das sich bei denen, die dem linken Lebensgeist treu schönsten Texte aus seiner gleichnamigen Kolumne.

Foto: S Foto: geblieben sind, bis heute erhalten hat. Ich lernte früh, [email protected]

liberal 2.2013 91 ZITATE DER FREIHEIT

„Vernunft ist innere Freiheit.“

Stanislaw Lem

ch lese den Satz als 17-Jähriger und winke ab: Vernunft bleibt ein Rätsel. Wir einigen uns, den Pluto in Klammern ist die Antithese zur Freiheit. Vernunft kommt kariert zu setzen. und mit zwei Hemdtaschen daher, Vernunft trägt In der Zwischenzeit habe ich mich informiert. Die Um- I Spuren von Brunnen-Kreide an den Fingerkuppen, laufbahn des Pluto ist elliptisch, ein Kriterium gegen den Vernunft fordert, dass man zur Begrüßung steht, Vernunft Planetenstatus, und um ihn herum gibt es mehrere soge- achtet auf sorgfältige Mitarbeit. nannte Trans-Neptun-Objekte namens Plutinos. Seit Jah- Aber sorgfältige Mitarbeit ist die Umkehrung meiner ren tobt eine Debatte darüber, ob der Pluto ein Planet ist Freiheit, die besteht aus sorgfältiger Dekonstruktion. Ich oder irgendetwas anderes. Schließlich hat sich die Inter- lege dabei die Fingerfertigkeit eines Origamifalters an den national Astronomic Union im Jahr 2006 dafür entschie- Tag, ziehe von zu Hause aus, baue Grammatikfehler in den, dem Pluto den Planetentitel abzuerkennen und statt- mein Englisch ein, dekonstruiere die Erziehungsidee mei- dessen eine neue Kategorie zu erfinden: Zwergplaneten. ner Eltern, indem ich benutzte Teller in den Müll werfe Wir betrachten die Planeten, zeichnen sie neu auf und und mir neue im Versandhandel kaufe. Ich umkurve Ver- sortieren sie um. Wir setzen den Pluto in die Mitte. Neh- nunft. James Dean, denke ich, kann auch aus Neuwied men den Zwerg wieder auf. Ich schneide das Zitat von kommen und Pickel haben, und überall in den Kleinstäd- Stanislaw Lem auseinander und klebe es neu zusammen ten und Kinderzimmern mit PC sind es James Deans, die zu meinem Zwergsatz: Innere Freiheit ist Vernunft. Den aus Nerdbrillen heraus wirklich vernünftig Nö sagen zum stecke ich mir in eine meiner beiden Hemdtaschen. ● Karierten. Mehr Freiheitszitate: www.freiheit.org/zitate Ich lese den Satz als 37-Jähriger und habe eine Packung Brunnen-Kreide gekauft, um auf einer Kindertafel ein CHRISTIAN ULMEN ist Film- und Fernsehschaffen- ­Modell des Sonnensystems aufzuzeichnen. Dabei komme der: 2008 gewann er den Grimme-Preis als „Dr. ich durcheinander: Mein Sohn behauptet, es gebe acht Psycho“, aktuell ist er als Produzent von Planeten, ich sage, es seien neun. Ein Planet steht durch- „Stuckrad-Barre“ nominiert. Pluto begegnete ihm schon im zarten Alter von 19 Jahren: als Moderator gestrichen auf der Tafel. Der Pluto. Wir führen eine lange der RTL-Sendung „Disney & Co.“

Debatte. Der Pluto kann ja nicht verschwunden sein. Es [email protected] alliance/ZB picture Photography; Staud René Merheim; Fotos: Illustration:

92 liberal 2.2013 Bücher

Belesen Die liberal-redaktion empfiehlt

Peter Merseburger Leonidas Donskis Theodor Heuss Belletristik der Macht: Der Bürger als Präsident Von Machiavelli bis Milan Kundera DVA, München 2012, zweite, stark erweiterte Auflage 672 Seiten, 30 Abbildungen, Accedo, München 2012, 29,99 € 227 Seiten, 24 €

igentlich durchlief Theodor Heuss eine für das späte 20. Jahr- er Litauer Leonidas Donskis ist nicht nur renommierter hundert geradezu typische Politikerkarriere: Parteieintritt Philosoph und Autor zahlreicher wissenschaftlicher Bü- E im jugendlichen Alter, Mitarbeiter eines Spitzenpolitikers, D cher, sondern auch seit 2008 als Europaabgeordneter Anstellung bei parteinahen Institutionen und Firmen, Abgeordneter Mitglied der liberalen Gruppe. Bei der Lektüre seines Werks wird auf kommunaler und nationaler Ebene, Landesminister, schließlich klar, dass Donskis mehr Intellektueller als Politiker ist. Kernthema Parteivorsitzender. Allerdings wird nur sehr wenigen derart geschul- des Buches ist die Menschlichkeit. Seine These: Aus der Moralvor- ten Parteipolitikern dann wie Heuss das Glück zuteil, ins oberste stellung als einem Phänomen, das Denken und Handeln verbindet, Staatsamt aufzusteigen. Schon allein deswegen kommt der Vita des hätten sich alle modernen politischen Ideologien entwickelt. ersten Bundespräsidenten besondere Bedeutung zu. Darunter fällt auch der Totalitarismus, den er mit Verweis auf Eine umfassende Biografie zuH euss fehlte bislang – Peter Mer- Milan Kundera „als bis ins Extrem getriebene Moderne, mit all den seburger, bekannter Print- und Fernsehjournalist im Ruhestand – hat Folgen des rationalen Planens und bewussten Umbaus der Welt“ sie nun in fast monumentalem Umfang vorgelegt. Er profitiert dabei beschreibt. Gerade das „Zeitalter der Extreme“, das 20. Jahrhun- von den in jüngster Zeit entstandenen Briefeditionen und der übri- dert, bietet reichlich Anschauungsmaterial, wie leicht politische gen verdienstvollen Arbeit der Stuttgarter Heuss-Gedenkstätte. Das Einbildungskraft manipuliert oder pervertiert werden kann. Positiv Buch bringt keine neuen umstürzenden Erkenntnisse, es fasst aber gewendet zeigt Donskis aber auch, dass sich im oft verteufelten unser bisheriges Wissen zusammen und präsentiert es in gefälliger Machiavellismus ein humanistischer Kern verbirgt. Weise. Nicht nur weil es sich phasenweise an Heuss' „Erinnerungen“ Das Diabolische zeigt die Liebe und deren Gebrauch in der orientiert, ist es mit kritischer Sympathie geschrieben und urteilt Literatur selbst auf: „Die Shakespearesche Liebe ist zum Scheitern auch dort ausgesprochen fair, wo problematische Punkte im Lebens- verurteilt, weil die Liebenden aus verfeindeten, gegeneinander lauf liegen: Ermächtigungsgesetz, Mitarbeit bei NS-Medien, Zusam- kämpfenden Lagern kommen, die Orwellsche Liebe, weil sie das menarbeit mit der LDPD. einzige Zeugnis von Menschlichkeit in einer Welt des organisierten Vor allem ist die Lebensbeschreibung nicht „präsidentenlastig“, Hasses darstellt.“ In fast allen Werken über das teuflische Wesen der Bundespräsident taucht erst im letzten Viertel des Bandes auf des Totalitarismus spiele dann auch die Liebe eine Schlüsselrolle. – wenn er natürlich auch schon vorher immer mitgedacht wird. So Die menschliche Würde und die Fähigkeit zu lieben sind letzte entsteht eine fast schon populäre Gesamtdarstellung des deutschen Mittel, um menschlich zu bleiben. Liberalismus zwischen Kaiser- und Adenauerzeit, in der nicht nur Gerade der ehrgeizige Mensch, selbst jener mit liberaler Ein- der erste FDP-Vorsitzende, sondern auch die Geschichte des orga- stellung, ist vor autoritärem Denken nicht gefeit. Unser Streben nisierten Liberalismus einem breiteren Publikum dargelegt werden. nach Intensität spreche für unsere Unfähigkeit, uns selbst und die Sie erklärt eindrucksvoll, warum der liberale Bildungsbürger Heuss Realität kritisch zu analysieren. Stattdessen füllen wir die Realität der „ideale Präsident der ersten Stunde gewesen ist“ (Seite 13). Das mit ideologischer Magie, eigenen Regelwerken und Experimenten Buch sei trotz einiger Irrtümer im Detail allen an der Geschichte des auf. Mit der lesenswerten Neubewertung von Klassikern der Welt- deutschen Liberalismus Interessierten ans Herz gelegt. literatur zeigt Leonidas Donskis sein Feingefühl für Literatur und

Jürgen Frölich die Macht von Politik auf. Florian Hartleb Iwohn Sebastian Illustration:

liberal 2.2013 93 Kultur Polylux

Urbane Lebensblüten Tita von Hardenberg wird noch heute, bald fünf Jahre nach der letzten Ausstrahlung, auf das ARD-Magazin „Polylux“ angesprochen. liberal hat ihre Produktionsfirma in Berlin-Mitte besucht und sich dem Unikum unter den deutschen Magazinsendungen angenähert, dessen Markenkern es war, sich in Grenzbereiche der Freiheit vorzutasten.

igentlich hatte Tita von Hardenberg mit ihrer Produktions- gesellschaft Kobalt genau den richtigen Standort für „Poly- lux“: die Torstraße in Berlin. Mehr Zeitgeist als in Berlin-Mitte Efindet man nirgends in der Republik, jedenfalls galt das für die Jahre um die Jahrhundertwende. Es reichte aus, sich mit einer Tasse Kaffee vor die Tür zu setzen und zu warten, welcher Trend einem so in die Arme lief. Fast immer sind es echte Großstadtthemen gewesen, die „Poly- lux“ vorgestellt hat: Mountainbike-Artisten, die sich auf ihrem Weg durch die Stadt nicht von Mauern, Geländern und Mülltonnen auf- halten lassen. Oder „Coworking Spaces“: Statt zu Hause zu jobben, mieten sich Freiberufler stunden- oder tageweise ihren eigenen Arbeitsplatz – WLAN, Frühaufstehen und nette Kollegen inklusive. Die „Polylux“-Rubrik „Lexikon des Lebens“ war ein gezeichneter Schattenriss großstädtischer Lebensblüten, vom Biowahn bis zur entscheidenden Frage, wann ein Trend noch ein Trend ist. Für Groß- stadtbewohner existenziell wichtige Fragen wurden gestellt: Wo kommen eigentlich die vielen schlechten Straßenmusiker her?

Waches Auge auf Alltags-Trash „Polylux“ hat so einige Trends ausgegraben, Jahre bevor andere Medi- en davon etwas mitbekamen – das Revival des Strickens unter Groß- stadthipstern etwa. Dennoch war „Polylux“ stets mehr als nur ein Zeitgeistmagazin. Tita von Hardenberg spricht von einer „gewagten Mischung aus echter Sozialreportage und Realsatire, wir hatten auch ein waches Auge auf Alltags-Trash“. Das Publikum für diese Themen war nicht so jugendlich, wie man vermuten möchte. Das Durchschnittsalter der „Polylux“-Zu- schauer bezifferten die Quotenmesser auf 58. „Damit waren wir aber drei Jahre jünger als die anderen Sendungen im ARD-Umfeld“, sagt Tita von Hardenberg. Mit all dem war 2008 Schluss. Für Fans war damals klar: Dem bezahlenden Funkhaus, dem Rundfunk Berlin- Brandenburg, war „Polylux“ zu unangepasst; was plausibel klingt, schafft es der Hauptstadtsender doch bis heute nicht, das Faszinie- rende der Metropole Berlin auch nur an irgendeiner Stelle seines Programms zu transportieren. Doch Tita von Hardenberg stellt klar:

94 Zur Person

Tita von Hardenberg wuchs in Lüneburg und Isern- hagen bei Hannover auf. Ihr Abitur legte sie in Berlin ab und studierte anschließend in Berlin und London. Aus ihrer Filmproduktionsfirma Kobalt stammen Formate wie „Absolut“, „Tracks“ oder „Yourope“, die für Arte hergestellt werden. Har- denberg unterstützte als Testimonial die Berliner Pro-Reli-Volksentscheid-Kampagne, die den in Berlin freiwilligen Religionsunterricht zum Wahl- pflichtfach machen wollte.

„Die Quote war o.k., zwischen 800.000 und einer Million Zuschauer Extremfälle eher zurückentwickelt habe. Insgesamt jedoch habe das haben „Polylux“ gesehen. Aber die Sendung war für den späten „Polylux“-Team „sehr, sehr unterschiedliche Lebensentwürfe ken- Sendeplatz einfach zu teuer.“ nengelernt, das hat zu unserer Toleranz beigetragen“. „Polylux“ wagte sich auch an handfeste sozialpolitische Themen. Die Darstellung solch skurriler Lebensentwürfe war für viele Da waren die Wuppertaler Eltern, die für die Freigabe von Cannabis Zuschauer eine Zumutung. „Wir hatten schon Erfahrung mit Shit- auf die Straße gingen. Sie wollten dem Nachwuchs damit nicht zur storms, als es die noch gar nicht gab“, meint von Hardenberg. Die Dröhnung verhelfen, sondern den Kontakt ihrer Kinder zu Dealern Möglichkeit, über das Internet schnell, billig und anonym zu kommu- vermeiden, die auch harte Sachen parat halten. Das führte zu genera- nizieren, hält die Fernsehproduzentin jedoch auch für einen der tionenverkehrten Diskussionsaufstellungen in der Fußgängerzone: Gründe, warum es Magazine wie „Polylux“ nicht mehr gibt. Denn wer Über 50-Jährige sagten „Legalize it“ – Jugendliche hielten dagegen. den Meinungsmainstream verlässt, muss mit heftigen Reaktionen Zu „Polylux“ gehörte auch das Format „Fightclub“, in dem nicht rechnen. „Diese zerstörerische Form der Kommunikation wird dafür selten grundsätzlich staatskritische oder fortschrittsfreundliche sorgen, dass bald keiner mehr seine Meinung sagt. Meinungsäuße- Positionen zu hören waren – wo sonst im Fernsehen gab es Raum für rung mag anstrengend und mühsam sein, sie kann in der neuen Kritik an einer teils völlig irrationalen Ökologisierung des gesell- Kommunikationswelt auch Zerstörung auslösen. Früher galt ein schaftlichen Lebens? Beispiel einer „Fightclub“-Kampfaufstellung anonymer Brief als feige. Heute machen das alle so“, sagt von Harden- zum Thema Glühlampenverbot: „Pro: Solange man Steinzeit-Glühkol- berg. „Die meisten Shitstorms sind Wellen der Political Correctness, ben fast umsonst hinterhergeworfen bekommt, wird niemand auf losgetreten von Menschen, die sich auf den Schlips getreten fühlen.“ moderne Energiesparlampen umsteigen. Manchmal muss man die Je wilder die Kommunikation der Massen zu werden scheint, Bürger zu ihrem Glück zwingen! Contra: Wie man sein trautes Heim desto vorsichtiger geben sich die Medienprofis, so die These von illuminiert, ist nun wirklich Privatsache. Wird uns die EU demnächst Hardenbergs: „Es gibt bestimmte PC-Codes, abseits derer nicht auch noch vorschreiben, wann wir abends das Licht ausmachen berichtet wird. Insbesondere ist es nicht ganz leicht, sich über etwas müssen?“ lustig zu machen. Es wird kritisiert, es wird gelobt, aber Zwischentö- Die Darstellung solcher Positionen hat dafür gesorgt, dass „Poly- ne gehen nicht, Ironie schon gar nicht. Beim öffentlich-rechtlichen lux“ unter Liberalen viele Freunde fand. Wo, wenn nicht bei „Poly- Rundfunk muss es korrekt zugehen und bei den Privaten muss man lux“, wurden genuin liberale Thesen knallhart vertreten – sei es zum ganz viele mitnehmen. Da ist für so etwas wie „Polylux“ kein Platz „Inlandseinsatz der Bundeswehr“ über „Gentechnik für die Dritte mehr, das war nämlich alles andere als political correct.“ Welt“ bis hin zu „Sonntags shoppen“? Gibt es noch eine Chance für ein „Polylux“-Revival? „Aber ja, wir wären startklar. Ich habe die meisten Leute noch hier, fast das ganze Erfahrung mit Shitstorms, als es die noch gar nicht gab Team. Und es gibt genügend Leute, die „Polylux“ vermissen“, meint „Polylux“ hat sich immer wieder in Grenzbereiche der Freiheit vorge- Tita von Hardenberg. ● wagt. „Wir kamen häufiger an den Punkt zu fragen: Wo hört Freiheit auf? Wo müssen nicht doch Verbote beginnen?“, erinnert sich Tita Boris Eichler hat „Polylux“ anfangs für ein von Hardenberg und nennt als Beispiel sogenannte HIV-Partys, bei Kuriositätenkabinett gehalten und dann dank der Sendung denen Virenträger ungeschützt mit HIV-Negativen verkehrten. „Es ist gelernt: Die Welt ist noch etwas bunter, als man denkt. [email protected] sehr bequem, für alles Freiheit zu verlangen“, meint die Moderatorin

Foto: RBB/Thomas Ernst RBB/Thomas Foto: und bemerkt, dass sich ihre Freizügigkeit im Hinblick auf solche

liberal 2.2013 95 im Gespräch wolfgang gerhardt trifft ...

Gerhardt: Lieber Herr Horx, wir ­haben eine freiheitliche Verfassung: das Grundgesetz. Aber die Gesellschaft ­versteht das Thema „Freiheit“ gar nicht mehr als kulturelles Thema. Das ist eine Herausforderung für den politischen Liberalismus, die Diskussion über die Position „Freiheit“ breiter zu führen. Wir müssen der Gesellschaft immer wieder vermitteln, dass Freiheit sich im Alltag nicht von selbst einstellt und ohne das Zutun eines jeden von uns an Vitalität verliert. Horx: Das Freiheitsbewusstsein hängt stark von Erfahrungen der Unfreiheit ab, gegen die sich jemand wehren musste. Wenn wir uns die Geschichte des Liberalismus in Deutsch- land anschauen, dann war die Idee der Freiheit früher an einen starken Staat gebun- den, einen Nationalstaat, der vor feudaler Willkür schützte. Nach dem Krieg erkämpf- ten sich die Menschen Freiheit, indem sie kulturelle Bürgerrechte durchsetzten: Befrei- ung der Frau, Emanzipation der Familien, Diversifizierung von Lebensmodellen. Heute existiert eine gesellschaftliche Mehrheit für die Homosexuellen-Ehe. Und die Menschen haben das Gefühl, dass ihnen sämtliche Möglichkeiten, so zu leben, wie sie möchten, bereits umfassend gegeben sind. Hinzu kommt, dass sich in den letzten zehn Jahren – nicht zuletzt in Ihrer Partei – ein polemisier- ter Freiheitsbegriff etabliert hat, der Freiheit ... diesmal: Matthias Horx als einen primär wirtschaftlich konnotierten Begriff geprägt hat. Matthias Horx' Geschäft ist die Zukunft, Trends und Zeitgeist sind seine Themen. Der ehemalige Journalist und Inhaber eines Beratungs- Nahezu alle anderen Parteien bieten unternehmens für Zukunftsfragen analysiert den Wandel gesellschaftlicher hingegen paternalistische Staatsbetreu- Werte und Lebensformen. Mit Wolfgang Gerhardt diskutiert er, welche ungsprogramme an. Da tobt ein Wettbe- Rolle der Liberalismus bei diesen Transformationen heute noch spielt. werb zwischen der SPD und einer sozial- // Fotos // REGINA SABLOTNY demokratisierten CDU nach dem Motto: „Wer bietet mehr?“ Frau von der Leyen ist täglich auf der Suche nach neuen zu

96 2.2013 liberal … was diese Parteien ja ebenso diskutieren. … und das liberale Element, das kommt hinzu, sickert auch in alle anderen Parteien ein: Bei den Grünen gibt es einen großen Anteil liberal denkender Menschen – eine Restmenge staatsfixierter Vertreter ist natür- lich weiterhin vorhanden.

» Erfolgreiche Parteipolitik Die Grünen kommen mir vor wie gespal- gab es immer dann, wenn Parteien tene Modernisierer … … wie die FDP auf einer anderen Ebene. Teil gesellschaftlich wirksamer Milieus waren.« Matthias Horx … jedenfalls haben sie inzwischen das komplette Sozialstaatsprogramm der alten SPD übernommen. Mich beschäftigt betreuenden Gruppen, denen sie flugs ungen. In diesen recht großen und deu- seit Längerem, dass eine Partei, die im- einen Benachteiligtenstatus zuerkennen tungsmächtigen Kulturen erwachsen Vor- mer fest in der jungen Generation veran- kann. Wo ist da ein emanzipatorischer stellungen eines neuen Freiheitsbegriffs, an kert war, diese konservative Haltung Gedanke zu erkennen? Der politische den die FDP kulturell noch keinen Anschluss zeigt und nicht bereit ist, sich mit den Liberalismus in Gestalt der FDP ist her- gefunden hat. In anderen Ländern jedoch gegenwärtigen Problemen des Sozial- ausgefordert zu sagen, ob er diesen Weg bilden diese Milieus die Grundlage für neue staats auseinanderzusetzen. Zum Beispiel des sich ausbreitenden Staates – und liberale Parteien, etwa die Grünliberalen in mit dem Umstand, dass er Fehlanreize damit hin zu einer „Gesellschaft mit der Schweiz oder die neue israelische Partei aussendet. beschränkter Haftung“ – mitgehen will. „Es gibt eine Zukunft“. Die Erfahrung der Menschen ist eine andere. Am Ende dieses Weges steht ja, dass Der Sozialstaat funktioniert an den meisten Individuen die Konsequenzen ihres Wir müssen uns in der Tat selbst neu Stellen enorm gut. Der Staat hat durch seine Handelns nicht mehr tragen und verant- beschreiben. Wir können nicht verlan- Aktivität den Menschen viele ihrer – zugege- worten müssen. gen, dass andere uns so porträtieren, wie benermaßen zum Teil hysterischen – Ängste Horx: Das Motto „Möglichst wenig Staat“ wird wir das gerne hätten. Man muss den nehmen können. Denken wir nur mal an die aber nicht genügen … Menschen erklären, wohin man will – Kurzarbeit: Das war ein Staatstriumph in der und das nicht nur in Hochglanzbroschü- Krise. Arbeit wurde flexibilisiert – und erhal- Nein, aber das betreiben wir so schlicht ren oder Rechenschaftsberichten. auch nicht. Erfolgreiche Parteipolitik gab es immer Jedenfalls ist es ein Fehler, sich allein durch dann, wenn Parteien Teil gesellschaftlich die Abgrenzung von seinen Gegnern zu wirksamer Milieus waren. Die Sozialdemo- definieren. Das nicht zu tun, darin liegt die kratie hat ihren Aufstieg damit begonnen, eigentliche Herausforderung. Die Liberalen dass sie ein vor allem in der Bildung auf- müssen die in der Tat nicht sehr großen, wärtsmobiles Arbeitertum geprägt hat. Das aber spannenden neuen kreativen und wurde in der sozial-liberalen Zeit auch freiheitsliebenden Milieus entdecken und geschichtsmächtig. Diese Milieufragen sind damit einen neuen Freiheitsbegriff für das 21. heute schwieriger. Auch CDU und SPD Jahrhundert. Es gibt eine neue kreative haben die selbstverständliche Unterstützung Klasse, wenn Sie so wollen: einen kreativen ihrer Stammmilieus verloren … Kapitalismussektor. Das ist eine kleine, aber sehr kulturprägende Avantgarde, die ver- sucht, den Freiheitsbegriff – auch in wirt- » Die Grünen haben schaftlicher Hinsicht – neu zu definieren. inzwischen das komplette Diesen Menschen ist der Begriff der Kreativi- Sozialstaatsprogramm tät näher als der Begriff der Liberalität. Und der alten SPD übernommen.« in diesen Milieus mischen sich liberale, sozial-liberale, aber auch grüne Weltanschau- Wolfgang Gerhardt

liberal 2.2013 im Gespräch

beschimpfen. Die großen Strukturentschei- dungen hingegen, die aus den Krisenzwän- gen geboren werden, fallen in Brüssel.

In der Tendenz gebe ich Ihnen recht. Dennoch sind die Menschen immer noch überzeugt, dass ihre Angelegenheiten beim Nationalstaat am besten aufgeho- ben sind, dass der Nationalstaat die Hülle ihres gesellschaftlichen Lebens ist. Ich hätte mit einem früheren Ableben der Nationalstaaten gerechnet. Wir Deut- » Dass die digitalen Medien eine schen hatten nie besonders große Prob- neue Wirklichkeit erzeugen, leme, zugunsten der EU auf Souveräni- lässt mich zumindest auf eine tätsrechte zu verzichten. Da tun sich andere Nationen schwerer, das ist nicht Aushöhlung des klassischen jedermanns Cup of Tea. Wenn Sie heute Erregungsjournalismus hoffen.« die Diskussionen in Bulgarien und Rumä- Matthias Horx nien verfolgen, wo die Parteien eine sehr unterentwickelte politische Streitkultur pflegen, entdecken Sie, dass viele Mitglie- der der EU den Nationalstaat noch längst ten. Oder die Hartz-Gesetze, die am meisten ge politische Gegenseite durchgesetzt: Am nicht abgeschrieben haben. Und was die verrufene Reform in Deutschland: Sie ist Ende wird die CDU die Schwulenehe einfüh- kommunale Ebene anbelangt: Wir haben noch in keiner Talkshow zutreffend beschrie- ren und die Linke harte Sozialreformen jetzt in Hessen eine Reihe direkt gewähl- ben worden. Und auch ihre Weiterentwick- verabschieden. Die wirkliche Zukunftspolitik ter Bürgermeister, sehr gute Persönlich- lung kann dort kaum diskutiert werden … ist immer Crossover-Politik. keiten. Es wundert mich nicht, dass die gewählt worden sind. … obwohl wir eine Agenda 2020 drin- Die FDP hat den Reformen von Schröder … und fragt man sie, ob sie nicht nach Berlin gend bräuchten. damals zugestimmt. Sie entsprachen den in die Politik gehen wollen, werden sie Richtig. Reformen müssen immer weiterent- Forderungen, die wir selbst formuliert ­antworten: Um Gottes Willen! Das war früher wickelt werden. Die Gesellschaft führt aber hatten. Gegenwärtig sehe ich jedoch ganz anders. Ich beobachte in meinen Netz- keine Reformdebatten mehr. kaum die Bereitschaft, so etwas wie werken von Unternehmern und Intellektuel- Crossover-Entscheidungen herbeizufüh- len einen Effekt: die Ermüdung an der medi- Das liegt auch an dem Umstand, dass ren. Über eine Agenda 2020 ist ange- alen Wirklichkeit. Früher hat man noch jene, die die Reformen angestoßen ha- sichts des anstehenden Wahltermins interessiert verfolgt, wenn bei Jauch Politiker ben, sich inzwischen davon abgewendet nicht einmal öffentlich zu diskutieren. Es aufeinandertrafen. Heute wendet man sich haben. Die Sozialdemokraten gehen bei gibt keine Debatte über die Entwicklung gleichgültig ab und seinen Geschäften zu „Rente mit 67“ und vielen anderen Fra- unserer Zivilgesellschaft und unseres – Geschäfte auch im kulturellen Sinn. Diese gen weg von der Reformagenda. Sozialstaats, auch nicht über Maßnah- sind heute alle europäisch geprägt, jedenfalls Es war dennoch eine interessante Beobach- men, mithilfe derer wir die Marktwirt- bei den Menschen, die zu den informellen tung zu sehen, wie Schröder damals eine schaft revitalisieren könnten. Eliten zählen. Dass die digitalen Medien ­eine gesellschaftliche Teilmehrheit mobilisiert Oft verhindert gerade Öffentlichkeit den neue Wirklichkeit erzeugen, lässt mich hat, die quer zu den Parteien lag. In der Diskurs. Eine unserer Thesen aus der syste- zumindest auf eine Aushöhlung des modernen Erregungsdemokratie nehmen mischen Politikbetrachtung lautet: Politik ­klassischen Erregungsjournalismus hoffen: die Parteien vielleicht eine ganz andere Rolle wird sich zunehmend auf die Ebene der durch Boykott und Migration, durch ein als die traditionelle, in der wir sie kennen. Gemeinde zurückverlagern, weil dort unmit- ­stummes Verweigern. Die am häufigsten Vielleicht müssen sie in Zukunft vermehrt telbare demokratische Rückkoppelung gestellte Frage bei meinen Vorträgen lautet: Allianzen schmieden und weniger Program- möglich ist: Der Bürger sieht es, wenn eine Was kann man gegen diesen medialen Wahn me verabschieden. Die wichtigsten Reformen Straße oder ein Bahnhof gebaut wird, er machen? Ich habe darauf nur eine Antwort: der vergangenen Jahre hat immer die jeweili- kann den Bürgermeister anfassen oder ausschalten! ●

98 2.2013 liberal Früher an Später denken.

Wer im Alter sein Leben genießen möchte, denkt frühzeitig an eine Fast 6 Millionen Kunden vertrauen auf die Beratung unserer mehr als private Vorsorge. Als einer der größten eigenständigen Finanzvertriebe 37.000 Vermögenberater. Wir ermitteln für Sie genau das Vorsorge- mit mehr als 35 Jahren Erfahrung in Vermögensaufbau und -absicherung konzept, das am besten zu Ihnen passt. begleiten wir unsere Kunden langfristig.

Informieren Sie sich bei unserer kostenlosen Kundenhotline unter: 0800 3824000 oder finden Sie Ihren persönlichen Vermögensberater unter: www.dvag.de gürtlerbachmann gürtlerbachmann

„Eine Gesellschaft braucht Regeln – die Frage ist nur wie viele?“

DR. REGINE WOLFGRAMM General Manager Qualitätsmanagement bei Reemtsma

Wir bei Reemtsma sind der Ansicht, dass jede Gesellschaft Regeln für den Umgang miteinander braucht. Zu viele Regeln führen jedoch schnell in eine Verbotskultur. Wir sollten nicht vergessen: Die Selbstbestimmung des Einzelnen ist ein hohes gesellschaftliches Gut. Reemtsma leistet hier seinen ganz eigenen Beitrag. So unterstützen wir zum Beispiel mit dem Reemtsma Begabtenförderungswerk die Ausbildung junger Menschen aus sozial schwachen Umfeldern. Denn Bildung ist der Schlüssel zu einem selbstbestimmten Leben. Nur so hat unsere Gesellschaft eine Zukunft. www.reemtsma.de

WERTE LEBEN. WERTE SCHAFFEN.

gürtlerbachmann REEMTSMA - Wolfgramm (Regeln) Format: 210 x 260 mm + 5 mm Liberal (ISOcoated_L39) DU: 6.8.2012